Ein splitterndes Krachen von Holz, als der Bug des Segelschiffes die Seite einer Galeere rammte. Airar gab ein Trompete...
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Ein splitterndes Krachen von Holz, als der Bug des Segelschiffes die Seite einer Galeere rammte. Airar gab ein Trompetensignal und war mit einem Satz auf dem feindlichen Deck. Aus einer Luke der Vorschiffkabine tauchte ein verblüfftes Gesicht auf und glotzte schlaftrunken ins Licht der Fackeln. Der Herzog von Os Erigu sprang laut brüllend vor. Airar sah, wie er seine Streitaxt auf den Kopf des Permandeners niedersausen ließ, der wie vom Blitz gefällt zu Boden ging. Ein Mann mit einer Fackel sprang über den Leichnam hinweg um den Bug des Schiffes in Brand zu stecken. Airar landete mit beiden Füßen auf nassem Strandkies. »Hierher!« schrie er. Nene von Busk, der dichtauf folgte, stieß den gellenden Kriegsruf der Wildkatze aus. Dies ist die abenteuerliche Geschichte des jungen Airar Alvarson aus der Provinz Dalarna. Durch grausame Steuereintreiber der herrschenden Vulkinger von Haus und Hof vertrieben, beginnt er seine phantastische Odyssee als Rebell des »Eisernen Rings«. Mit Glück und listenreicher Tapferkeit bringt Airar es bald zum Anführer der Aufständischen. In magischer Ferne vom kriegerischen Geschehen befindet sich das Reich mit seinem Heiligen Gral, der Einhornquelle. Allen, die aus ihr trinken, verheißt sie seelischen Frieden und inneres Glück. Inmitten dieser Welt voller Magie und Intrige lernt Airar Argyra kennen, die schöne Prinzessin der Quelle, die sein Herz bezaubert. Der Roman Fletcher Pratts, 1948 erstmals erschienen, vereint alle abenteuerlichen und märchenhaften Elemente epischer Fantasy in sich. Wenn ein Buch den Titel eines klassischen Fantasy-Romans verdient, dann dieses.
Vom gleichen Autor erschien außerdem als Heyne-Taschenbuch Der blaue Stern · Band 3570
FLETCHER PRATT
DIE EINHORNQUELLE Ein klassischer Fantasy-Roman Deutsche Erstveröffentlichung Mit einem Nachwort von Dr. Franz Rottensteiner
E-Book by »Menolly«
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3671 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe WELL OF THE UNICORN Deutsche Übersetzung von Joachim Pente Die Karten auf den Seiten 8/9 zeichnete Erhard Ringer Die Innenillustrationen schuf Klaus D. Schiemann
Redaktion: F. Stanya Copyright © 1948 by William Sloane Associates, Inc., erneut 1976 by John Clark Copyright © des Nachworts by Franz Rottensteiner Copyright © 1979 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1979 Umschlagbild: Maroto/Norma Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-30588-4
INHALT Anmerkungen des Autors – Bevor die Geschichte beginnt ..............................................
10
1 Ausgesteuert ..................................................................
15
2 Die Kate: Ein Zauberspruch ..........................................
27
3 Naaros: Ein neuer Freund im »Alten Schwert« ..........
37
4 Naaros: Zusammenkunft in der Nacht ........................
51
5 Unterwegs: Verwandlung und Entwandlung ............
71
6 Die Iulia: Die erste Mär von der Quelle .......................
84
7 Noch einmal die Iulia: Geschenke werden ausgetauscht ...................................................................
99
8 Die Gentebbi-Inseln: »Es ist nicht anständig« ............. 116 9 Schiffe kommen nach Salmonessa ................................ 132 10 Salmonessa: Jetzt sind wir Lehnsleute ......................... 147 11 Salmonessa: Der Herzog plant ..................................... 161 12 Eine Nacht in Salmonessa ............................................. 173 13 Der Dammweg: Schlacht ............................................... 182 14 Eine Nacht in Mariola .................................................... 200 15 Hestinga: Morgen ist auch noch ein Tag ..................... 217 16 Ein Urteil in Hestinga .................................................... 232 17 Das Grafenkissen: Die zweite Mär von der Quelle ..... 246 18 Der Ausgang des Passes: Die Hauptleute beraten sich ..................................................................... 268 19 In den Weißflußtälern: Speer und Schild ..................... 291 20 In den Weißflußtälern: Debatte mit dem Deserion ..... 305 21 Die Hügel von Froy: Sie reiten ..................................... 323
INHALT 22 Shalland: Streit in der Schenke ..................................... 339 23 Shalland: Debatte mit Meliboë ..................................... 357 24 Die See des Nordens: Ein Band wird zerrissen ........... 373 25 Die See des Nordens: Die dritte Mär von der Quelle . 391 26 Os Erigu: Der Kelch des Krieges .................................. 411 27 Os Erigu: Ein Geschenk wird zurückgewiesen ........... 427 28 Os Erigu: Die Katze erhebt sich zum Sprung .............. 444 29 Os Erigu: Verrat ............................................................. 469 30 Der Bärenfjord: Das Feuerschwert ist erhoben ........... 488 31 Os Erigu: Leb wohl ........................................................ 509 32 Hrakamündung: Große Neuigkeiten ........................... 525 33 Die Küste von Skogalang: Die vierte Mär von der Quelle ................................................................ 547 34 Rückkehr vom Meer ...................................................... 565 35 Naaros: »Ich bin frei!« ................................................... 585 36 Naaros: Pflicht ................................................................ 601 37 Naaros: Hochzeitstag .................................................... 620 38 Die Weißflußtäler: Hochzeitsnacht .............................. 643 39 Die Weißflußtäler: Kein Ende ....................................... 661 Nachwort – Fletcher Pratts Einhornquelle und die phantastische Literatur von Dr. Franz Rottensteiner ........ 668
Anmerkung des Autors Bevor die Geschichte beginnt Dieses Buch ist das Buch des Lesers. Er mag daher alle Namen so aussprechen, wie es ihm beliebt, es sei denn, er unterhielte sich mit einem anderen Leser. In diesem Falle müssen die beiden sich auf eine Aussprache einigen; denn eine Regel gibt es nicht. Es mag dem Leser hier und da vorkommen, als habe er einen Schlachtruf vernommen, der ihn an etwas erinnert, das er schon einmal in einer anderen Welt als jener, um die es sich hier dreht gehört hat. Und dennoch wird er bemerken, daß es vielleicht doch nicht ganz dasselbe ist Und er hat damit völlig recht; die vielleicht faszinierendste Eigenschaft von historischen Darstellungen, seien sie nun wahr oder erfunden (was nicht heißen soll, daß man hier unbedingt eine Trennungslinie ziehen muß), liegt wohl darin, daß sie sehr häufig nach einem schon bekannten Muster ablaufen ohne diesem jedoch jemals völlig gleichzukommen. Man kann es vergleichen mit dem Muster eines Mosaikfußbodens, das an einer Stelle in ein anderes, ganz ähnliches übergeht. Dies ist vielleicht einer der Gründe, warum es so interessant ist, ein solches Mosaik zu betrachten oder wirkliche oder fiktive Geschichte zu verfolgen wenn man anderer Dinge müde ist. Voller Spannung wartet man auf das unvermeidlich erscheinende, immer wiederkehrende Ereignis, das dann doch nicht ganz so eintritt, wie man es erwartet hat. In unserer realen Welt wandelt Augustus-Napoleon nicht in den Spuren von CäsarNapoleon, sosehr die Menschen auch erwarten, daß
er das tue, und Hitler-Bonaparte wiederum hat nicht dasselbe Los wie sein Vorbild. In der Welt, um die es sich hier dreht, bedarf es eines Einblickes, der so groß ist, daß er die gesamte Spannbreite unserer Geschichte umfaßt, sei sie nun fiktiv oder real. Ein gewisser irischer Chronist namens Dunsany erfuhr von einigen Ereignissen aus diesem Nirgendwo und schrieb sie nieder unter dem Titel »König Argimenes und der unbekannte Krieger«. Aber die Ereignisse, die er beschreibt, spielten sich Generationen vor denen ab, um die es hier geht. Außerdem war er nur an einem bestimmten, sehr begrenzten Teil dieser Ereignisse interessiert, nämlich an der Revolte des König Argimenes. So läßt uns der irische Chronist zum Beispiel nicht erfahren, daß diese Revolte sich gegen die Heiden aus Dzik richtete, die zu jener Zeit in das Gebiet der Dalekarlier einbrachen, um ihnen mit dem Schwert ihre Religion aufzuzwingen, während die Menschen dort in Frieden lebten und alle ihre Probleme gelöst zu sein schienen. Wir erfahren von dem Chronisten lediglich, daß diese Eroberer den Weg aller Eroberer vor ihnen und nach ihnen gingen: sie gaben sich der Schwelgerei und dem Wohlleben hin und verweichlichten. Dieser Argimenes war einer der größten Könige, über die jemals geschrieben wurde; sein Sohn Argentarius stand ihm an Größe kaum nach. Sie herrschten über die Dalekarlier, welche vor der Invasion durch die Heiden ein Volk mit denen waren, die man später Vulkinger nennen sollte (und zwar, weil alle ihre Grafen den Namen ›Vulk‹ trugen). Schon die offenkundige Ähnlichkeit ihrer Institutionen deutet darauf hin, daß es sich einstmals um ein Volk han-
delte. Die Grafschaften im Hochland, wie Acquilème und die Lacias, der Osten und der Westen, waren dalekarlische Gebiete, in die die Heiden aus Dzik niemals vorgedrungen waren. Die Menschen, die dort lebten, hatten schwarze Haare, während die Dalekarlier, die die Küstengegenden bevölkerten, in der Mehrzahl blond waren wie die Heiden selbst. Aus diesem Grunde hielten sich die Vulkinger für die einzig echten Dalekarlier und versuchten, nachdem die Heiden aus dem Land gejagt worden waren, Dalekarlien so wiederherzustellen, wie es vorher gewesen war, oder genauer gesagt: so, wie sie glaubten, daß es vorher gewesen sei, was ja durchaus nicht dasselbe ist. Es kam sehr bald zu Feindseligkeiten, da die Vulkinger im Gegensatz zu den Dalekarliern niemals unter dem Joch der Fremdherrschaft gelitten hatten und somit sehr viel intoleranter waren. Beide Parteien jedoch respektierten immer noch die Oberherrschaft des Kaisers. Zu jener Zeit handelte es sich nämlich um ein Kaiserreich, da König Argimenes, damals schon in relativ hohem Lebensalter, die Prinzessin von Stassia geheiratet hatte. Dieses Land befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Südlichen Meeres; man nennt es auch das ›Blaue Meer‹. Und es war einige Zeit vor dieser Vereinigung, daß man die Einhornquelle entdeckt hatte, jene Quelle des Friedens, von der diese Erzählung handelt, das Wunder jener Welt. Die unruhigen Zwölf Städte, die bis dahin niemals einen Herrscher gekannt hatten, unterwarfen sich dem Reich, um an dem Segen der Quelle teilhaben zu können; sie befinden sich südöstlich von Stassia, zwischen einer Ansammlung von Inseln und Halbinseln. In ihrem Hinterland leben
Männer, die Röcke tragen, Vielweiberei treiben und nicht die wahre Religion haben. Selbst die grausamen Heiden aus Dzik achteten den Frieden der Quelle... nachdem sie auf dem Schlachtfeld eine empfindliche Niederlage erlitten hatten; und zwar gegen Argimenes, Argentarius und vor allem Aureolus, der das Königreich in ein Kaiserreich verwandelte und seinen Namen von Silber in Gold. Östlich von Dalekarlien liegt Salmonessa mit seinen hitzköpfigen Grafen (aber das können Sie ja auf den Landkarten sehen); ganz im Süden liegen Uravedu und die Gewürzinseln. Sie sind sehr wohlhabend, aber ihre Bewohner sind blaugesichtige Heiden, die nur einen Lendenschurz tragen; im Norden von Dalekarlien befindet sich Micton, das sich bis in den ewigen Dunst der unbekannten Welt erstreckt. Dort leben kurzbeinige Zaubergnome. Zu der Zeit, da unsere Geschichte spielt, haben die Grafen Vulk ihren Anspruch angemeldet, ganz Dalekarlien zu beherrschen..., und der Rest ist unsere Geschichte.
1 Ausgesteuert Airar hörte die Pferde schon, bevor sie noch die Stelle der Hecke erreicht hatten, wo die große Platane stand. Es waren ihrer sechs; schweigend kamen die Männer auf ihn zugeritten. Der Alte in schmutzigem Blau mit dem Zwirbelbart war wohl der Landvogt; ihn begleiteten drei Bogenschützen. Einer von ihnen war ein dunkelhäutiger Mictonier, der seinen Bogen schon gespannt hatte. In der Mitte befand sich der verfluchte Fabrizius, der sein breites, plattes Gesicht und die Nase hoch erhoben trug, fest eingehüllt in eine pelzbesetzte Jacke. Unmittelbar hinter ihm folgte ein Knecht auf einem hinkenden Pferd. Airar stand auf. Die tief im Süden stehende Wintersonne schien ihm zwischen den Zweigen hindurch ins Gesicht. Einer der Bogenschützen half seiner Lordschaft dem Landvogt vom Pferd. Die Siegel, die aufgereiht quer über den Bauch des Vogtes hingen, schlugen dabei aneinander und klangen wie gesprungene Bratpfannen. Er zog ein Pergament aus dem Ärmel. »Ich habe im Namen des Grafen einen Auftrag bei Alvar Airarson zu erfüllen.« »Er ist nicht da. Ich bin Airar Alvarson.« Airar sah, wie Fabrizius, der ein paar Schritte weiter hinten stehengeblieben war, den Kopf schüttelte... er trug wieder jenen Ausdruck sittsamen Bedauerns zur Schau, der seine Niederträchtigkeit übertünchen sollte. »So seid Ihr also sein Stellvertreter und damit ord-
nungsgemäßer Erbe des Hauses?« fragte der Landvogt. Es war eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage. »Gemäß dem Erlaß aus dem vierten Herrschaftsjahr des Grafen Vulk, des vierzehnten Trägers dieses Namens, über die Regelung und Verwaltung von Liegenschaften, welcher bestätigt wurde von Kaiser Auraris, erhebe ich hiermit in aller Form Anspruch auf diesen Grundbesitz aufgrund eines Zahlungsrückstandes der Wallsteuer von zwei Jahren. Darüber hinaus dient diese Beschlagnahmung als Rückzahlung gewisser Summen, mit denen das Anwesen bei Herrn Leonce Fabrizius beliehen wurde. Die besagte Anleihe wurde ordnungsgemäß beim Kanzleigericht in Västmanstad registriert und mit der Unterschrift von Alvar Airarson versehen.« Airar schluckte und trat zögernd einen Schritt vor, aber der Landvogt behielt ihn mit dem teilnahmslosen, unbeweglichen Blick eines Fisches im Auge, während der mictonesische Bogenschütze leise kicherte und einen Pfeil einkerbte. »Ich habe das Geld nicht«, sagte Airar. »Dann erkläre ich hiermit im Namen des Gesetzes und des Grafen diese Stätte mit Namen Trangsted zum Eigentum des Reiches. Da jedoch in den Statuten des Königreiches festgelegt ist, daß kein Anwesen umsonst an das Reich fällt, sondern nur durch ordnungsgemäß abgewickelten Handel von ihm erworben werden kann, biete ich Euch die Summe von einem Goldaura, die der Graf Euch in seiner edlen Großzügigkeit zugesteht. Die hier Anwesenden sind Zeugen für den ordnungsgemäßen Ablauf dieses Handels. Somit seid Ihr nun aller Ansprüche gegen Eure Person ledig und dürft gehen, wohin es Euch
beliebt.« Mit diesen Worten nestelte er das Papier aus seinem Ränzel, mit der gelangweilten und teilnahmslosen Miene dessen, der diese Handlung schon viele Male vollzogen hatte. Einen Moment lang schien es, als wollte Airar ihm das Dokument aus der Hand schlagen; als er jedoch das gierige Glitzern im Auge des Mictoniers sah, besann er sich eines Besseren und streckte die Hand nach dem Papier aus. »Somit ist nun dieses Stück Land mitsamt dem dazugehörigen Haus Eigentum unseres Grafen. Ich fordere Euch hiermit auf, diesen Grund und Boden nun zu verlassen. Ihr dürft dabei nur soviel mitnehmen, wie Ihr auf dem Rücken tragen könnt, ohne das Bündel innerhalb von fünftausend Schritten abzusetzen.« Mit diesen Worten wandte er sich von Airar ab; seine Mission hier war erfüllt. Erwartungsvoll wandte er seinen Blick auf Fabrizius. Dieser jedoch winkte Alvarson zu sich, welcher regungslos dastand, die Hand auf seinem Bündel, die Lippen in innerem Aufruhr zu einem schmalen Strich zusammengepreßt, jedoch immer noch wohlerzogen genug zuzuhören, was der Fürst der Hölle höchstpersönlich ihm zu sagen hatte. »Einen Augenblick noch, Sohn des Alvar!« Airar bemerkte, wie die kleine Pelzquaste über seinem Ohr auf- und abwippte, als sich sein breiter Mund öffnete. »Du bist wirklich alles andere als gut behandelt worden, und – auch wenn du es mir nicht glaubst – ich habe große Achtung vor dir. Und hat nicht unser Graf gesagt, daß wir alle miteinander leben müssen, Dalekarlier wie Vulkinger, und daß beide ihr Bestes tun müssen, damit wir wieder ein Volk in einem Land sind? Also habe ich dafür Sorge getragen, daß du
wieder einen Platz einnehmen kannst, an dem es dir mehr als wohl ergehen kann. Wenn du nach Naaros kommst, dann gehe dort zum Hafen und sage deinen Namen dem Führer der Kogge Einhorn. Und er wird dich mitnehmen auf eine lange Reise, die dir großen Gewinn bringen wird. Komm her, mein Junge, schlag ein!« »Meine Hand werde ich Euch nicht geben!« sagte Airar kurz angebunden. Dann schwang er sein Bündel auf den Rücken und wandte sich entschlossen dem Weg zu, der zwischen den Hecken hindurchführte. Er überlegte, ob er den Männern zum Abschied noch einen Zauberspruch entgegenschleudern sollte. Aber nein: Sicherlich waren sie dagegen gewappnet. Fabrizius wandte sich mit einem Achselzucken wieder dem Landvogt zu. Dieser war gerade damit beschäftigt, jenem hochgewachsenen Bogenschützen, der die ganze Zeit über auf seinem Pferd gesessen hatte, durch Zeichen verständlich zu machen, daß er den jungen Mann begleiten sollte... vielleicht fürchtete er einen heimtückischen Racheakt, das plötzliche Auftauchen Airars im Schutze der Hecke und ein zielsicher geworfenes Messer – eine andere Waffe hatte Airar nicht bei sich. Als Airar den Weg entlang der Hecke einschlug, die hier allmählich niedriger wurde, hob ein altes braunes Pferd mit grauen Schläfen seinen Kopf und kam langsam auf den Pfad zugetrabt. Sein Name war Pil. Airar gab sich alle Mühe, dem Pferd nicht in die Augen sehen zu müssen. Sein Blick schweifte am Haus vorüber, aus dessen Schornstein nun kein Rauch mehr emporstieg. Seine Augen folgten dem langgestreckten braunen Hügelland, das wellenförmig a n-
stieg, hier und da unterbrochen von mit Sträuchern bewachsenen Kämmen und ganz allmählich überging in die sanft geschwungenen Gipfel des Schweinerükkens. In der Ferne wurde der schwarze Wald immer dünner, bis nur noch hier und da einzelne Fichten standen, die abgelöst wurden von einem Saum weißglänzenden Schnees, der die höchsten Gipfel bedeckte, die nur noch verschwommen am Horizont zu erblicken waren. Das scharfe Knallen einer Tür zerriß die Stille, Leonce Fabrizius hatte sein neues Haus betreten. Leb wohl, Transted... leb wohl, Pil. Airar schüttelte traurig den Kopf und schlenderte weiter. Der lange Bogenschütze beugte sich zu ihm herab: »Kopf hoch, Junker! Die ganze Welt steht dir noch offen. Was dir jetzt guttut, sind ein paar heiße Nächte mit einem von Madame Korins Frauenzimmern in Naaros. Das wird dich schon wieder aufrichten!« Die Hufe des Pferdes hallten hohl auf dem gefrorenen Pfad wider. Airar schwieg. »Wirst drüber hinwegkommen. Meine Familie wurde auch ausgesteuert, als ich noch ein junger Bursche war... droben in West-Lacia, noch zu der Zeit des alten Grafen Ich wurde damals zum Dienst gezwungen: durfte in Briella Rüstungen wienern. Mein Vater verdingte sich als Koch auf dem Schloß. Damals führte der Graf noch Krieg gegen die Heiden.« Airar sagte kein Wort. Der lange Bogenschütze tätschelte den Hals seines Pferdes mit dem Handschuh. »Ha! Wieviel besser stehst du doch da: bist ein lediger Mann, hast keine Schulden, brauchst niemandes Knecht zu sein, und besitzt einen Körper, nach dem so manch eines der scharfen Weiber bei Hofe sich die Finger leckt. Und sicherlich läßt dich jeder
Baron mit Kußhand ein, wenn du vor seinem Tore auftauchst. Die Welt ist nun mal nicht vollkommen. Aber ein junger Bursche wie du wär' ein Narr, würde er nicht versuchen, das Beste aus dem zu machen, was sie ihm in die Wiege gelegt hat. Versuch, dich als Bogenschütze zu bewerben, Junker, oder als Dienstmann, das ist noch leichter. Wirst bestimmt angenommen, glaub mir. Ich hab' mich in Briella bewährt, und nun steh' ich hier mit einem Gesicht mit dem ich Mäuse verjagen kann. Doch du bist ein Dalekarlier, stimmt's? Dann versuch's doch mal in Salmonessa. Herzog Roger hält sich dort ein Rudel hübscher Dinger. Soviel ich weiß, hat er einen Vermittler in Naaros, der Männer anwirbt. Wenn du willst geb' ich dir eine Empfehlung mit. Nun, was sagst du dazu?« »Nein und damit basta! Dieser Lumpenherzog Roger kann mir gestohlen bleiben!« »He, du Rotzbengel, du grüner Junge, wenn...« Mit einem heftigen Ruck zog er den Zügel an, und Airar starrte wütend in ein Gesicht, das ganz untypisch für das eines Vulkingers war: lang und schmal, und von Nase zu Mund zogen sich tiefe Kerben. »Oh, Herr«, rief er, als sein Zorn verraucht war kaum daß er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den anderen zu treffen. »Ich bitte um Vergebung! Es muß ein Fluch auf mir lasten, daß ich immer die treffen möchte, die mir freundlich gesonnen sind! Doch haltet mir zugute, daß ich Hab und Gut verloren habe ohne Aussicht, etwas Neues zu gewinnen. Ich bin ein Schüler der Magie, doch das Gesetz verbietet mir, sie anzuwenden. Nicht einmal Waffen darf ich tragen in Dalekarlien, das doch meine Heimat ist, und ein Dach über dem Kopf habe ich auch nicht.«
Der lange Bogenschütze ließ Zügel und Hand wieder sinken. Die Worte des jungen Mannes hatten ihn besänftigt. »Schon gut, Junker, vergessen wir's. Hast recht; wäre in der Tat ein armseliges Leben, für Herzog Rogers Metzen den Kater zu spielen. Herzog, ha! Ein Heckenherzog ist der, ein Herzog über Kaninchen, nicht würdig, zu Füßen eines einfachen Grafen zu sitzen! Nun...« Er ließ die folgenden Worte unausgesprochen, und eine Weile zogen die beiden Männer schweigend dahin. Bald kamen sie an dem Anwesen vorbei, auf dem die drei Söhne des Viclid gewohnt hatten. Auf dem Scheunenhof waren ein paar mictonesische Sklaven damit beschäftigt, einen Ochsen an die Arbeit zu treiben, was ihm jedoch offenbar widerstrebte. Mit viel Lärm und Geschrei rannten sie ratlos umher, während das Tier stur wie eine Eiche dastand, und so sehr sie auch zogen und zerrten, es wollte sich nicht von der Stelle rühren. Der junge Mann stellte sich vor, wie diese tolpatschigen Narren bald mit ihren lehmigen Schuhen die Flure von Trangsted verschmutzen würden. Bald darauf war das Anwesen außer Sichtweite, und der Lärm in der Ferne verklungen. »Ich heiße Pertuit«, sagte der Bogenschütze. »Willst du nach Naaros?« »Mir bleibt kein anderes Ziel.« »Hast du Verwandte dort?« Airar stieß ein kurzes, hartes Lachen aus; es klang eher wie ein Bellen. »Einen... einen... Onkel... genannt Tholo.« »Keiner meiner Freunde. Aber wie sagt man doch: Lang ist die Straße, an deren Ende kein Verwandter sitzt.«
»Das hast du trefflich bemerkt! Tholo Airarson sitzt in einer Straße, in der Leonce Fabrizius' Haus steht, und spielt seinen Verwalter.« Pertuit pfiff durch die Zähne. »Das ist ja ein vertrackter Zufall! Nicht, daß ich was gegen Fabrizius hätte, aber unter diesen Umständen wärst du ein Narr, dich auf seine Seite zu schlagen, selbst im zweiten Verwandschaftsgrad. Doch was willst du tun? Verdammter Hexentrank, es ist, als ob du in die Hände der Heiden von Dzik gerätst und sie dir ein Pferd geben... entweder du reitest hinter ihnen her in die nächste Schlacht oder vor ihnen her zum Galgen. Ich war mal dort, stieß aber auf ein schwarzhaariges Hürchen, und die wollte lieber mit mir zusammen auf der Matratze hüpfen als allein am Ende eines Taus tanzen. So entkam ich.« Er schüttelte den Kopf; dieses Problem war ihm ein wenig zu verzwickt. Bald darauf erreichten sie die Anhöhe eines weiteren Ausläufers des Schweinerükkens. Die Bäume am Wegesrand fielen allmählich ab, und nach einer Weile waren sie ganz verschwunden, so daß sie in der windstillen, klaren Luft einen weiten, ungehinderten Ausblick nach Westen hatten. Ganz hinten am Horizont tauchte die untergehende Sonne den Wald in rötlich schimmerndes Licht. Davor erstreckten sich lange Felder, ein paar davon waren bereits frisch gepflügt und wirkten aus der Ferne wie ein kariertes Muster. Der größte Teil jedoch war braunes Weideland, und die Rinder, die sich gemächlich darauf bewegten, glichen Spielzeugtieren. Mitten durch die Felder floß der große Strom, der Naar. Im immer matter werdenden Licht des zur Neige gehenden Tages hatten seine Fluten ein dunk-
les Blau angenommen; hier und da blitzten weiße Eisschollen auf, die langsam in Richtung Naaros trieben. Pertuit, der Bogenschütze, zügelte sein Pferd. »Halt an! Wir sind jetzt die vorgeschriebenen fünftausend Schritt entfernt«, sagte er. »Außerdem steht mir der Sinn nach einer Mahlzeit. Hör zu, Junker. Ich werd' die Nacht in deinem Haus verbringen... Dingsted oder Frogsted, oder wie immer du es nanntest. Aber morgen bin ich in der Stadt. Frag' in der Kaserne der Bogenschützen nach mir. Sie steht am Fuß der Zitadelle. Am besten kommst du gegen Abend. Wir heben einen zusammen und überlegen, was wir für dich tun können. Bist nämlich schwer in Ordnung, Junker.« Er beugte sich herab und bot Airar die Hand. Diesmal schlug der junge Mann ein. »Abgemacht... an der Kaserne der Bogenschützen.« Der Mann wendete sein Pferd, setzte es mit dem Ausruf »heh, Nonnine« in Trab, und bald war er wieder in der Dunkelheit des Tales verschwunden, aus dem sie gerade gekommen waren. Alvar setzte seinen Weg in die andere Richtung fort. Nun war er also allein auf der Welt, allein mit seinem einen Goldaura, seinem Bündel und seinem Messer. Nachdenklich schritt er weiter auf dem Weg in die Stadt. Da wurde ihm zum erstenmal bewußt, daß eine Stadt etwas Riesiges war, etwas Unheimliches, das nicht so anheimelnd hingestreckt lag, wie die freundlichen Höfe in den Hügeln. Bestimmt würde er Naaros erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen, und dann waren die Tore geschlossen, und die Wache ließ niemanden mehr ein. Egal – schließlich übernachtete er nicht zum erstenmal im Freien. Er hatte schon oft zur Winterszeit die Nächte
draußen verbracht, oben auf dem Schweinerücken, als er die Fuchsfallen überprüft hatte. Bequem war es natürlich nicht... In Gedanken versunken wanderte er weiter und kam bald ins nächste Tal, aus dem sich ein weiterer Ausläufer des Schweinerückens erhob, um den Weg nach Naaros zu versperren. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, aber die Bergränder glänzten noch immer hell. Plötzlich tauchte im fahlen Licht über ihm eine große Eule auf. Sie ließ sich auf einem langen Zweig nieder, der in den Pfad hineinragte. Airar blickte zu dem Vogel hinauf. Die Eule streckte einen Flügel aus, legte ihre Krallen um den Zweig und sagte ganz plötzlich: »Airar Alvarson.« Vielleicht hätte manch einer seinen eigenen Ohren nicht getraut. Doch Airar war da anders. Schon lange zuvor war ihm bewußt geworden, daß die Welt nicht nur aus Materie besteht. Er blieb stehen, starrte das Tier an und fragte mit fester Stimme, ohne auch nur die Spur von Verblüfftheit an den Tag zu legen: »Was willst du von mir?« »Airar Alvarson«, wiederholte die Eule. »Lira-lira-bekki«, sagte Airar. Dann wuchtete er mit einem Ruck sein Bündel, das ihm langsam zu schwer wurde, ein wenig höher auf die Schulter, senkte den Blick und schritt weiter. Er war vielleicht hundert Meter gegangen, als die Eule im Dämmerlicht wieder dicht an ihm vorüberflog und sich auf einem Zweig am Wegrand niederließ. »Airar Alvarson«, schnarrte sie. Ein Stück weiter voraus, etwa an dem Punkt, wo das Tal seine tiefste Stelle erreichte, tauchte ein Pferdewagen auf, der aus der Stadt kam. Es war das er-
stemal, daß ihm jemand auf seinem Weg begegnete. Er nahm die Gestalt auf der Karre nur verschwommen wahr, konnte aber deutlich hören, wie der Hufschlag des Pferdes den Klang änderte, als das Tier die hölzerne Brücke unten im Tal passierte. Einem der Räder fehlte offensichtlich Talg. Ein paar Minuten noch, dann war das Gespann auf gleicher Höhe mit ihm. Auf dem Wagen hockte ein alter Mann mit weißem Haar. An seinem Rücken lehnte ein schläfrig aussehender Junge, der Airar freundlich grüßte. Als Airar den Gruß erwiderte, nickte er mit dem Kopf. Kaum war der Wagen vorbei und Airar überquerte selbst die hölzerne Brücke, kam die Eule angeflogen und setzte sich auf das Geländer am anderen Ende des Stegs. Und wieder sprach sie: »Airar Alvarson.« Da kann nur Fabrizius dahinterstecken, dachte Airar und sah sich wütend nach einem Stein um, mit dem er den Vogel vertreiben wollte. Doch gleich darauf wurde ihm klar, daß man einen derartigen Spuk nicht mit einem Steinwurf los wurde. Deshalb zog er zunächst einmal sein Wissen über die Magie zu Rate. Waren die Sieben Mächte im Spiel?... dann benötigte er einen Zweig des virginischen Zauberstrauches, der auf eine bestimmte Weise gekrümmt sein mußte. Aber wie sollte er einen solchen Zweig in der Dunkelheit finden? Steckten die drei Gottheiten dahinter?... dann konnte er sich des Zaubers nur entledigen, indem er eine bestimmte Seite aus dem Buch vorlas. Doch dazu war es ebenfalls zu finster und die Stelle zu lang, als daß das kurze Aufflackern eines Stückchens Zunder ihm ausreichend Licht hätte spenden können. So blieb ihm also nichts anderes übrig, als die Begleitung des Vogels zu ertragen, und in
sein Schicksal ergeben schleppte er sich mit seinem Bündel weiter auf dem Weg nach Naaros. Mittlerweile war es stockfinster geworden, und soeben ging hinter den Bäumen die weiße Sichel des Mondes auf. Ach was! Im Grunde war der Spuk zu harmlos, um sich darüber aufzuregen – schließlich war da nichts als ein großer Vogel, der stets ein Stück vorausflog, sich auf einen Zweig setzte und mit närrisch anmutender Beharrlichkeit seinen Namen krächzte. Was Airar lediglich ärgerte, war, daß das Tier ihn daran hinderte, sich schlafen zu legen. So überquerten sie gemeinsam, Mann und Eule, die letzten Anhöhen vor der Ebene. Am Ende des Hügels stand ein Haus, halb verdeckt von Büschen. Aus dem Fenster drang Licht; jemand sang. In einer anderen Stimmung hätte er angeklopft und um Herberge gebeten, aber nach all den trüben Ereignissen, die der Nachmittag ihm gebracht hatte, war ihm nicht danach zumute. Er hatte das Gefühl als sei für ihn die Welt untergegangen. Zu allem Überfluß flatterte auch noch ständig diese Eule um ihn herum. Also legte er einen Schritt zu. Bald hatte er die Ebene erreicht. In der Ferne tauchten die Lichter und Türme von Naaros hinter dem großen Bogen des Naar auf, der unter seinen Brücken matt im Licht der Sterne funkelte.
2 Die Kate: Ein Zauberspruch Der Weg führte nun hügelab und mündete in einen langen Pfad, der zu beiden Seiten von Bäumen begrenzt war, die den Blick auf die Stadt wieder verbargen. Hier und da standen üppig wuchernde Stechapfelsträucher, deren Nadeln abwehrend in den Nachthimmel ragten. Der Boden war holprig und uneben. Airar blieb stehen und schaute nach dem seltsamen Vogel, der ihm noch immer folgte. Zwischen den Bäumen und Sträuchern huschten kleine Lebewesen hin und her. Sie kamen an eine Stelle, an der ein Pfad nach links abbog. Er war schmal und kurvig; zu schmal für einen Wagen. Airar kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen; etwas Langes, Graues huschte soeben quer über den Pfad. Durch den Vorhang aus blattlosen Zweigen glaubte er kurz ein Licht aufflackern zu sehen. Es blitzte auf und verschwand wieder. Es war kein warmes, gelbes Licht, sondern ein blauer Schimmer, wie der eines Blitzes. Die sprechende Eule flog dicht an seinem Kopf vorbei und landete mitten auf dem abzweigenden Pfad. »Airar Alvarson«, rief sie wieder, diesmal einen Ton höher. Es schien dem jungen Mann, als wolle die Eule ihn dazu bewegen, dem abzweigenden Pfad zu folgen. Und wenn ich es nicht tue..., dachte Airar und schickte sich an, weiter geradeaus zu gehen. Doch plötzlich spürte er den vermaledeiten Vogel im Gesicht. Er versuchte, ihn zu packen, aber er entwich dem Zugriff seiner Hand und wischte ihm mit der Spitze des Flügels übers Ohr. »Airar!« schrie er,
diesmal in beschwörendem Ton. Im selben Moment drang schwach das Klirren von Rüstungen an Airars Ohr. Das Geräusch schien aus der Richtung des Weges zu kommen, der nach Naaros führte. Kurz hinter der Stelle, an der der schmale Pfad abzweigte, machte jener eine Biegung. Nun lachte jemand, und dann erklang das häßliche Grölen betrunkener Männer, die versuchten, ein Lied anzustimmen – eine Gruppe von Zechern, die aus irgendeinem Wirtshaus von Naaros kam und nun auf dem Heimweg war. Da er nicht gerade seine Ehre aufs Spiel setzte, ein Dach für die Nacht in Aussicht stand und er außerdem ein Zusammentreffen mit den Betrunkenen vermied, schlug Airar nun doch jenen Weg ein, auf den die Eule ihn drängen wollte. Und gleich darauf stand er schon vor der Tür eines Hauses, das mit solch dichtem Buschwerk umgeben war, daß man kaum sehen konnte, wie von Zeit zu Zeit ein kaltes, blaues Licht hinter den Fenstern aufblitzte. Die Tür hatte weder Pfosten, noch war ein Name in das Holz eingeschnitzt. Airar hob die Hand, um anzuklopfen, aber noch bevor er sie überhaupt berührt hatte, sprang sie auf. Im Rahmen stand ein Knabe, oder besser gesagt, ein Zwerg (denn die Gesichtszüge waren im Gegensatz zur Größe des Körpers die eines Erwachsenen), der ihm ins Gesicht kicherte. »Airar Alvarson«, kam von oben die Stimme der Eule. »Ihr werdet schon erwartet«, sagte der Zwerg und machte eine Verbeugung. Airar bemerkte, daß dieser ihn dabei spöttisch angrinste. Dann wandte er sich um und führte Airar auf weichbeschuhten Füßen durch einen Raum, der größer war, als es von außen den Anschein erweckte, in ein weiteres Zimmer, das
mit reichem Mobiliar ausgestattet war. An den Wänden hingen alte Teppiche mit furchterregenden Tieren und angstverzerrten menschlichen Gesichtern, die in dem Licht der einzigen Kerze nur schemenhaft zu sehen waren. »Wartet«, sagte der Zwerg. Dann kicherte er, tauchte unter einem der Wandbehänge hinweg und war verschwunden. Neben einem Tisch, auf dem ein Destillierkolben mit abgebrochenem Hals auf einem Stoß von Pergamenten stand, befand sich ein pompöser Stuhl. Airar ging um ihn herum, setzte mit einem Schwung sein Bündel ab und ließ sich auf einem Schemel nieder. Hinter dem Wandbehang direkt rechts von ihm erklang ein Geräusch, das er als Waldbewohner sofort als das Geräusch eines Kaninchens erkannte, das sich leise durch Unterholz bewegt. Der Wandbehang vor ihm teilte sich, und ein Mann betrat den Raum. Er war mittelgroß, hatte graues Haar und einen Vollbart. Er trug ein ziemlich zerknittertes Gewand, das vorne fleckig war und einen Riß hatte. Das dünne weiße Haar bildete im Schimmer der Kerze einen Glorienschein um sein Haupt. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und wurden von buschigen Brauen überschattet aber das Gesicht trug doch einen freundlichen Ausdruck. Der Mann ließ sich in dem Stuhl nieder. »Ihr seid Airar Alvarson«, sagte er, ohne die Hand zum Gruß auszustrecken, »und ich bin Meliboë.« Airar kannte diesen Namen; er verband nicht allzuviel Gutes damit. Der andere verzog keine Miene, als der junge Mann leicht zusammenzuckte. »Ich habe nach Euch schicken lassen, da wir uns einander einen Dienst erweisen können.« »Die Eule...«
Meliboë hob mißbilligend die Hand. »Sie ist freundlich und harmlos. Wenn ich den Wunsch gehabt hätte, Euch zu zwingen hierherzukommen...«, er sprang mit einer für sein Alter bemerkenswerten Gelenkigkeit auf und sprach dabei weiter, »... darum will ich Euch sogleich etwas zeigen zum Beweis dafür, daß ich es gut mit Euch meine, Euch ein Bündnis anbiete und keine Unterwerfung von Euch verlange.« Der Wandteppich zu Airars Seite schwang zurück, und dahinter kam ein riesiger, abscheulicher Wurm zum Vorschein, der in einem Käfig steckte. Von ihm also war das raschelnde Geräusch gekommen! Die Kreatur war bestimmt so groß wie ein Hahn und schimmerte grün und gelb. An der Stelle, wo sein gelenkiger Rückenpanzer den Boden berührte, befand sich ein Paar mit langen Krallen versehene Klauen. Der Wurm starrte den jungen Mann aus verschwommenen Facettenaugen an und gab einen leise wimmernden Laut von sich, wobei sich vor seinem sechseckigen Maul Schaumblasen bildeten. Airar wurde so übel, daß er sich fast übergeben hätte. »Ihr seht, ich verfüge über gewisse Kräfte«, sagte der Zauberer gelassen. »Leichter könntet Ihr den Biß einer Natter überleben als auch nur einen einzigen Zugriff dieser Klauen... Tsa, bibé!« Er ließ den Wandteppich wieder fallen. »Aber warum ausgerechnet ich? Es gibt so viele Männer in Dalekarlien«, brachte Airar mit einem Würgen hervor. »Ha!« Meliboë hob den Finger. »Soviel ich weiß, hattet Ihr heute einen Besuch von Leonce Fabrizius.« Wider Erwarten hielt er inne, so als warte er auf eine Antwort.
»Ja«, erwiderte der junge Mann. »Wohin wollt Ihr also gehen? Nach Naaros wohl. Wollt dort Euren Vater treffen, Sohn des Alvar.« »Mein Vater...« »Lebt bei Tholo Airarson als Mietling des nämlichen Fabrizius. Ich verstehe schon, junger Mann. Ihr seid ein Mann von Ehre, seid von hoher Geburt. Wäre dem nicht so – ich hätte nicht nach Euch geschickt.« »Warum aber ausgerechnet ich? Ihr verfügt über Zauberkräfte und ich bin allein auf der Welt, habe nicht einmal Freunde.« Meliboë drehte den Kopf und blickte ihn voll an, so als sei er sehr überrascht. »Ich habe nichts anderes erwartet, als in Euch den klarsichtigen, scharfsinnigen Mann zu finden, den ich suche«, sagte er, »und ich sehe mein Urteil bestätigt. Nun, und da ich weiß, daß Ihr nichts weniger als die ganze Wahrheit hören wollt, kann ich sie Euch sagen: Es gibt nicht wenige – und einer davon bin ich –, die gar nicht traurig wären, wenn sich in der Herrschaft unseres verehrten Grafen Vulk, des vierzehnten seines Namens, eine Wandlung abzeichnete. Und nun stehe ich hier – Hofdoktor und Astrologe –, kein Dalekarlier von Geburt... Brauche ich da nicht einen glaubwürdigen, unbescholtenen Botschafter beim Eisernen Ring?« Einen Moment lang herrschte Schweigen; kein Laut war zu hören außer einem tiefen Atemzug von Airar bei den letzten Worten des Zauberers. O ja, er wußte von dem Eisernen Ring – dem Abzeichen, das die mictonesischen Sklaven und alle jene Männer trugen, die für eine bestimmte Zeit von den Gerichten der Vulkinger zur Sklaverei verurteilt wurden. Er konnte sich noch gut der Worte erinnern, die er damals auf-
geschnappt hatte, als er in seinem Bett lag und aus dem Nebenzimmer die Stimme seines Vaters drang, in jener Nacht, als der Fremde mit dem abgetragenen blauen Mantel auf Trangsted zu Gast war. »Nein, nein, und nochmals nein«, waren die Worte seines Vaters gewesen. »Was? Mein Haus und die Zukunft meines Sohnes der... (die folgenden Worte hatte er nicht hören können) ... des Eisernen Ringes ausliefern?«... Dann das Ereignis des Tages, als der alte Tyel, der sich in der Scheune des Bauernhofs in Gräntraen erhängt hatte (so sagte man jedenfalls), mit einem um seinen Hals geschmiedeten Eisenring... Aber auf dem Markt in Naaros, da wollte keiner davon sprechen... »Ich verstehe nicht, was Ihr mit dem Eisernen Ring meint«, sagte Airar mit fester Stimme, aber Meliboë lachte bloß. »Ihr seid genau, wie ich es mir gewünscht habe: ein Muster an Verschwiegenheit. Ich möchte es einmal so formulieren: Es existiert ein gewisser Kreis von Männern in Naaros, mit dem ich gerne in Verbindung treten möchte, aber es ist mir nicht möglich, dies persönlich zu tun. Ihr sucht doch eine Anstellung; ich möchte Euch als meinen persönlichen Bevollmächtigten zu diesen Männern entsenden. Ich bezahle Euch gut. Sie werden Euch entweder zu mir zurücksenden mit einer neuen Botschaft, was eine zweite Bezahlung bedeutet, oder sie werden ihrerseits genügend Beschäftigung für Euch finden. Das ist nicht ganz ungefährlich, wie ich zugeben muß. Kommt Ihr ohne Hilfe besser zurecht?« Das Angebot klang so übel nicht, wiewohl der Hinweis auf die Gefährlichkeit des Unternehmens (Airar schmunzelte innerlich) mehr als Anstachelung
denn als wohlmeinende Warnung gedacht war. »Wie hoch ist der Lohn?« »Habt Ihr das Goldstück des Grafen angenommen? Ich vermute, ja. Macht nichts; Ihr sollt drei weitere für diese eine Botschaft bekommen.« Das war eine wahrhaft fürstliche Belohnung; dennoch fragte Airar: »Mehr nicht?« Meliboë blitzte ihn aus schmalen Augenschlitzen an. »Also gut, dann vier. Die Sache ist mir zu wichtig, als daß ich lange feilsche.« Sein Ton hatte etwas Endgültiges. »Und die Botschaft?« »Lediglich diese: daß Meliboë, ein armer Doktor der Philosophie, ihnen wohlgesonnen sei. Und als Beweis für seinen guten Willen: daß er genau wisse, was die Vertreter der Gilden von Mariupol vorschlügen, aber daß niemand anderes am Hofe etwas davon wisse; daß ein Skorpion ohne Kopf stechen, aber nicht beißen könne, aber daß man durch gewisse philosophische Künste eine Hand finden könne, die ein Banner zu tragen vermag.« »Und wem soll ich diese Botschaft überbringen?« Meliboës Lippen zuckten, aber er war klug genug, sich lieber deutlich als verschwommen auszudrükken: »Einer Gruppe von Männern, die sich in der Taverne ›Zum Alten Schwert‹ trifft. Dieses Wirtshaus trägt das Emblem der Waffen der Argimeniden, so als wäre sie kaiserliches Eigentum. Aber das Emblem hat eine andere Farbe. Die Taverne befindet sich in der Straße des Einhorns, dicht bei der Kapelle. Die Männer treffen sich dort eine Stunde nach Sonnenuntergang.« »Das riecht sehr nach Verschwörung... Und woran
sollen die Männer mich erkennen?« Der Doktor der Philosophie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, legte den ausgestreckten Zeigefinger über die Wange und rieb sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln auf seinem Kinn. »Eure Vorsicht ist bewundernswert.« Er wandte sich um, öffnete eine Schublade, deren Fugen im Schnitzwerk des Tisches verborgen geblieben waren, und holte einen kleinen, sehr fein gearbeiteten Silberring hervor. »Dies ist Euer Paß.« Airar ließ den Ring durch die Finger rollen. Er fühlte sich völlig glatt an. Verdutzt blickte er auf. Über Meliboës Gesicht huschte ein Lächeln. »Ein kleiner Zaubertrick«, sagte er. »Schaut her!« Meliboë schob mit einer kurzen Handbewegung den Stoß Pergamente und die übrigen Dinge beiseite, die den Tisch bedeckten. Eine kleine Schale mit Wasser kam zum Vorschein. Der Zauberer bat Airar, ihm den Ring zu halten. Dann besprenkelte er ihn mit ein paar Wassertropfen. Da bestand er plötzlich aus reinem Eisen, mit rechtwinkligen Kanten. Als Airar den Ring jedoch am Saum seines Wamses trockenrieb, sah er wieder aus, als sei er aus Silber. Die feinen Verzierungen erschienen ebenfalls wieder. »Streift ihn Euch über!« Der Zauberer machte eine umfassende Geste mit dem Arm. »Ihr geht also zu dieser Schenke Wenn man Schwierigkeiten machen sollte, bittet um ein paar Tropfen Wein oder Wasser und führt den Trick erneut vor. Was haltet Ihr davon?« »Famos. Aber ein Ring ist nicht immer an der Hand des Besitzers.« »Daran ist auch gedacht. Es gibt da ein bestimmtes
Lied in einer der alten Sprachen, aus der Zeit vor den Heiden. Wie weit seid Ihr mit der Magie vertraut?« »Ein wenig; aber ich habe keine Übung.« Der Zauberer lachte kurz auf. »Nicht genug für die Zulassung bei Landvögten, ich weiß. Also, man wird Euch folgendes Lied vorsummen oder leise singen: Geme, plange, moesto mori... Und Eure Antwort auf dieses Lied lautet: Dolorosa Dalarna. Ihr könnt diese beiden Zeilen auch vertauschen und die erste als Anruf benutzen.« Airar nahm die Weise auf und wiederholte sie sofort zur Probe, aber Meliboë hob die Hände und stand auf. »Genug des Geschäftlichen; nun zu etwas anderem: Habt Ihr schon zu Abend gegessen?« »Nein«, antwortete Airar, der plötzlich so hungrig war, daß er sich vorstellen konnte, sogar den widerlichen Wurm zu schlachten und sich einen fetten Brokken aus seinen Rippen zu schneiden. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung.« Der Zauberer zog einen anderen Teil des Vorhangs beiseite als den, den der Zwerg benutzt hatte. »So folgt mir, junger Herr und Partner.« Hinter dem Tuch befand sich ein Gang und an dessen Ende ein Raum, in den Meliboë ihn hineinführte. Das ganze Gelaß war, wie schon das erste, von einer einzigen Kerze erleuchtet, die oberhalb eines Bettes brannte. Der Zauberer klatschte in die Hände. Airar bemerkte, daß die Tür ein Schloß hatte, und war froh
darüber. Das Männlein trat herein, es lächelte noch immer spöttisch vor sich hin. Meliboë hieß den Zwerg, etwas zu trinken zu bringen. Da der Zauberer stehenblieb, setzte sich Airar aus Höflichkeit ebenfalls nicht. So verging eine kurze Weile. Plötzlich rollte der Zauberer mit den Augen. »Ihr seid ein Glückspilz und werdet viel erreichen«, sprach er, »aber ich glaube nicht, daß Euer Glück gegen das des dreifingrigen Lords standhalten kann, obwohl er selbst nicht mehr glücklich ist. Ein Rätsel.« Airar starrte ihn an. Gleich darauf kam der Zwerg (den man vielleicht eher einen zu klein geratenen Mann hätte nennen können, war er doch völlig normal proportioniert, nur eben winzig) mit einem Tablett voller Fleisch, Brot und Getränke. In jenem Augenblick jedoch, als er den Raum betrat, wurde das ganze Haus von einem entsetzlichen Todesschrei erfüllt, der Airar das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der kleine Mann stellte das Tablett ab und kicherte. »Der Leopard ist tot«, sagte er. »Bei allen Furien!« schrie Meliboë und verschwand durch die Tür. Airar schob den Riegel vor. Erst dann machte er sich heißhungrig über die Speisen her.
3 Naaros: Ein neuer Freund im ›Alten Schwert‹ Airar war schon oft in Naaros gewesen, aber noch nie mit fünf Goldstücken in der Tasche und soviel Zeit zur freien Verfügung. In dieser Hinsicht war es also ein völlig neues Erlebnis für ihn. Er schlenderte durch die Geschäftsstraßen, wurde von Scharen fliegender Händler bestürmt, irgendwelchen Tand zu kaufen, aß in einer Garküche zu Mittag, wo er auch sein Bündel zur Aufbewahrung gab, und war ständig der Versuchung ausgesetzt, Geld auszugeben – bis er schließlich ein Geschäft in der Straße der Buchhändler betrat. Doch da fiel ihm ein, daß er ja, gleichsam wie eine Schildkröte, seine ganze Habe auf dem Rücken trug. So kaufte er dann doch nicht das, was er sich gewünscht hätte, wäre er in einer anderen Stimmung gewesen: ein kleines Zauberbuch, das in seine Tasche paßte. Er kam weder in die Nähe der Straße, wo der Bruder seines Vaters Haus und Werkstatt im Namen von Fabrizius führte, noch in die Nähe der Docks, wo laut Auskunft des letzteren die Kogge Einhorn lag... nein, nur wenn alle Stricke rissen, würde er dorthin gehen. Vom Hafendamm aus jedoch konnte er sehen, wie die hohen Schiffsmasten in den Himmel ragten, und der scharfe Geruch der Gewürze von Uravedu und den südlichen Inseln wehte zu ihm herüber. Ein Jammer, daß er erst unter den jetzigen traurigen Umständen die Möglichkeit hatte, diese Länder kennenzulernen! Ohne Schwierigkeiten fand er die Straße des Einhorns, die Kapelle und die Taverne ›Zum Alten
Schwert‹. Er prägte sich die Lage genau ein, um den Ort am Abend leicht wiederfinden zu können. Die Kneipe war ein düsteres Gemäuer mit vorstehendem Obergeschoß. Vor dem schmalen Eingang lungerte ein mürrisch dreinblickender riesiger Kerl mit verfilztem Haar herum, der niemanden einließ. Als das geschäftige Treiben der Stadt langsam verebbte – bald würden die Stadttore geschlossen werden –, kam der Sohn des Alvar in eine Straße am Fuße der Halbinsel, wo der Naar um die große Felszunge herumfließt, die sich scharf vor der Zitadelle von Naaros abhebt. Es war eine alte Straße, aus einem früheren Burggraben entstanden, den man später aufgefüllt hatte. Sie verlief daher im Zickzack. In den Erdgeschoßfenstern der zahlreichen Läden waren Waffen und bunter Flitterkram ausgestellt, wie Soldaten ihn gerne kaufen. Wäre Airar nicht so müde gewesen von seiner ausgedehnten Bummelei, wäre er nicht hier und da stehengeblieben, um sich die Auslagen anzuschauen; und hätte er sich nicht so viele Dinge angeschaut, die er ja gar nicht zu kaufen beabsichtigte, wäre ihm der juwelenbesetzte Dolch, der da im Licht der untergehenden Sonne vor seinen Augen blitzte, nicht so unschätzbar wertvoll vorgekommen. Aber er konnte nicht widerstehen; sein Herz tat einen Sprung, als er endlich etwas gefunden hatte, das er kaufen und auch bei sich tragen konnte, und flugs betrat er den Laden. Ein dicker Mann mit schielenden Augen holte mit der Behutsamkeit des gewieften Handelsmannes den Dolch aus dem Fenster und gab ihn Airar, damit dieser ihn prüfen konnte. Ein herrliches Stück, beteuerte er, und der Preis betrug nur vierzig Solvar. Die Waffe war wirklich wunderbar gearbeitet; als Airar sie in
der Hand hielt, drängte es ihn so sehr, die Waffe zu erwerben, daß er sie nur auf dreißig herunterhandelte (mit etwas mehr Geduld hätte er sie auch für weniger bekommen). Er zog eines seiner Goldstücke aus der Tasche. Der Händler wog es mit nachdenklicher Miene auf den Fingerspitzen und musterte den jungen Mann gleichzeitig von Kopf bis Fuß. »Seid Ihr nicht ein Dalekarlier?« fragte er schließlich. »Ja; doch was soll diese Frage?« erwiderte Airar barsch. So etwas passierte ihm nicht zum erstenmal. »Wir sind doch hier im Land der Dalekarlier, oder etwa nicht?« Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Darf ich Eure Genehmigung sehen?« »Ich weiß nicht, was Ihr damit meint«, antwortete Airar, der jedoch insgeheim befürchtete, nur zu gut verstanden zu haben, was der Händler mit ›Genehmigung‹ meinte. »Die Ausnahmegenehmigung. Ein Schreiben mit dem Siegel unseres Oberbürgermeisters mit der Erlaubnis, Waffen zu kaufen, die den höheren Ständen vorbehalten sind. Ich habe die Anordnung, solche Waffen nicht an Personen von dalekarlischem Blut abzugeben.« Airar hatte also doch richtig verstanden. Er spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht schoß. »Wenn das Eure Anordnung ist«, schrie er wutentbrannt, »dann nehmt doch Euer dreckiges Küchenmesser und rammt es dem verehrten Herrn Oberbürgermeister in seinen feisten Wanst! Vergeßt nicht, ihm dabei einen freundlichen Gruß von mir auszurichten!« Empört griff er nach seinem Goldstück.
Das schielende Auge blinzelte ihn an. »Junger Herr, ich bin für die Regeln, nach denen Ihr zu leben habt, ebensowenig verantwortlich wie für die Tatsache, daß Ihr sechs Fuß groß seid. Mich selbst trifft es doch am härtesten. Nun muß ich Euch nach Eurem Namen fragen, und dann muß ich zur Kaserne der Bogenschützen um mir Löcher in den Bauch fragen zu lassen, warum Ihr Mordwerkzeug kauft. Und wenn ich es nicht tue und es stellt sich heraus, daß Ihr ein Abgesandter des Oberbürgermeisters seid, was wird dann aus mir?« Die Worte des Mannes erweckten in Airar nicht nur Mitgefühl sondern sie riefen auch wieder Gedanken und Erinnerungen hervor, die ihm über den Ereignissen der vergangenen Nacht schon fast entfallen waren. »Mein Name gehört mir«, sagte er, »aber wenn es so wichtig ist, dann werde ich Euch sogar begleiten. Ich kenne einen Bogenschützen; der wird die Sache sofort klären.« Schielauge starrte ihn lange an. Er fühlte sich jetzt in seinem Verdacht bestätigt. »Ich danke Euch, junger Herr. Ihr seid sehr gnädig. Aber leider kann ich nicht mitkommen. Wer paßt in der Zwischenzeit auf mein Geschäft auf? Ihr wißt doch sicher, wie Ihr zur Kaserne gelangt. Die erste Straße zu Eurer Rechten; dann immer geradeaus.« Er verbeugte sich mit einem boshaften Lächeln. Airar hatte nicht übel Lust, ihm die Faust mitten in seine hämische Fratze zu setzen. Aber er besann sich eines Besseren, drehte sich auf dem Absatz um und verließ ohne ein weiteres Wort das Geschäft. Die Straße führte auf einen großen kopfsteingepflasterten Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes
begann eine Einfriedung. Von dort aus wand sich der Pfad zum Burgfelsen hoch. Er war noch nie dort oben gewesen. Der Mann am Tor der Ummauerung hielt eine Pike in der Armbeuge und betrachtete gerade aufmerksam einen kleinen Flecken auf seiner Hand. »Was willst du?« »Zum Bogenschützen Pertuit.« Der Wächter musterte Airar von Kopf bis Fuß, genau wie der Händler es getan hatte, jedoch weniger freundlich, da diesmal kein Geld im Spiel war. Er stellte die Pike gerade, wandte den Kopf um und schrie: »Louche! Louche! Sag der alten Kuhschnauze, hier wär' so ein Rotzlümmel, der ihn sprechen will!« Das also war Airars erste Bekanntschaft mit der Wachmannschaft, einmal abgesehen von Pertuit und dem freundlichen Tölpel, der auf dem Marktplatz für Ruhe und Ordnung sorgte. Kurz darauf kam Pertuit angeschlurft. Er trug Kappe und Schwert, gähnte heftig und kratzte sich ausgiebig. Sein Kinn war mit Bartstoppeln übersät. Er schämte sich ein wenig wegen des spöttischen Blickes und Pfiffes, den sein Kamerad ausstieß, weil er sich von einem gutaussehenden jungen Dalekarlier herausrufen ließ. »Was ist denn?« schnaubte er gereizt, und Airar war drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Aber dann blieb er doch stehen. Es gibt keine größere Einsamkeit als die eines Landbewohners in der Stadt. »Ich hatte gedacht, Ihr helft mir vielleicht, ein Wirtshaus zu finden, wo wir miteinander ein Hühnchen rupfen könnten«, sagte Airar. »Ich habe etwas Geld.« Er ließ einen seiner Goldaurar auf der Handfläche hüpfen.
Die schlechte Laune verschwand jäh aus dem Gesicht des Bogenschützen. »Sei gegrüßt, Junker!« rief er. »Holla, wir werden noch einen echten Vulkinger aus dir machen. Wirklich nobel von dir, einen alten Kämpen einzuladen, der sein ganzes Leben in Ehren gedient hat. Schon lange nicht mehr vorgekommen. Das letzte Mal hat uns Prinz Aurareus einen ausgegeben, als er im Gefolge des kaiserlichen Vizekönigs vorbeikam und jedem Mann der Burgwache mal eben sechs Flaschen hochschickte, damit wir auf sein Wohl einen heben konnten.« Er hatte Airar beim Arm genommen und führte ihn mit raschem Schritt über den Platz. Der Torwächter schaute dem Paar mit weit offenen Augen und wäßrigem Mund nach. »Nicht daß...« Pertuit blickte sich schnell um und stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ha, diese stinkenden Kaiserlichen! Du erlebst es nie, daß der alte Rotbart der Bogenschützengarde mal einen ausgibt! Ist mir egal, wenn das einer mitgekriegt hat. Da drüben ist 'ne gute Schenke.« Airar kam der Schankraum unendlich lang vor. O hrenbetäubendes Stimmengewirr erfüllte die Schenke, und die Luft war zum Schneiden vom Rauch der Stocklaternen. Überall drehten sich Bratspieße; der köstliche Geruch stieg Airar in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er spürte, wie seine Lider flatterten, als der Wirt auf sie zutrat. Doch er lächelte beim Anblick des roten Dreiecks auf Pertuits Schulter. Aber dann bekam er einen etwas ängstlichen Gesichtsausdruck, als der Bogenschütze sagte: »Für uns 'nen Sitzplatz 'nen Vogel und Carrhoene... aber nicht den geharzten, klar? Keine Angst, der junge Herr ist reich. Zeig ihm dein Geld, Elair.«
»Mein Name ist Airar«, erwiderte der junge Mann, aber dann klimperte er ein wenig mit seinen Goldstücken, um den Mann zu beruhigen. Beim Anblick des Geldes wurde dessen dünnes Lächeln zu einem breiten Grinsen. Er führte die beiden Männer ins hintere Ende des Schankraums und wies ihnen einen Platz an, wo sie nebeneinander sitzen konnten. Die Bank ähnelte einem Kirchenstuhl; die Armlehnen bestanden aus den einstmals kunstvoll geschnitzten Köpfen von Fabeltieren, die jedoch mittlerweile durch allerlei Einritzungen bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet waren. Ein Bursche brachte die Flasche; Pertuit nahm einen kräftigen Schluck und schaute den jungen Mann freundlich an. »Das Wichtigste ist jetzt eine gute Stellung, stimmt's, Junker?« meinte er gutgelaunt. Er war offensichtlich gewillt, die Bewirtung auf seine Weise zu bezahlen. Airar spürte, wie er rot wurde. »Nun, was das anbetrifft, das eilt nicht so sehr... das heißt, ich möchte noch ein oder zwei Tage hierbleiben, um zu sehen... ich meine...« »Hoho! Hat's also schon geklappt? Ist sie denn schön? Laß dir von einem erfahrenen Veteranen einen guten Rat geben: Achte auf die Brüste. Schließlich mußt du ja auf denen liegen. Das Gesicht ist nicht so wichtig; ist bloß die Schindel über dem Dach. Ist der Ring, den du da trägst, von ihr?« Er lachte laut, und Airar wurde puterrot im Gesicht, denn er war ein unerfahrener Bursche. »Nein, er ist nicht von ihr«, gab Airar zur Antwort. Er überlegte fieberhaft, wie er Pertuit von dem Ring ablenken konnte. Da fiel ihm das Ereignis mit dem
Dolch ein, und er berichtete dem Bogenschützen ausführlich von den Schwierigkeiten, die er damit bekommen hatte. Pertuit pfiff durch die Zähne und nahm erneut einen tiefen Schluck. »Meiner Treu, Junker, du stößt ja wirklich mit dem Gesetz zusammen wie ein Hund, der Enten auf'm Bauernhof jagt. War dir die Verordnung wirklich nicht bekannt?« »Für Langwaffen war es mir klar, aber daß es auch für einen läppischen Dolch gilt, wußte ich wirklich nicht.« »Ein Dolch gilt in Naaros laut Edikt seiner Exzellenz, des Barons Vanette-Millepigue, als Langwaffe. Was machen wir denn da?« Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Das Beste wäre, du kommst einer möglichen Strafverfolgung zuvor, indem du zu einem Richter gehst und deine Verfehlung bekennst. Aber dazu brauchst du drei Bürgen, die bezeugen können, daß du wirklich von der Verordnung nichts wußtest. Ich bin gern bereit, mich als Zeuge zur Verfügung zu stellen... würde jeden Eid drauf schwören, niemals ein harmloseres Küken als dich gesehen zu haben. Aber woher willst du die restlichen zwei nehmen? Glaubst du, daß Fabrizius für dich sprechen würde?« »Bestimmt.« Airar stieß ein kurzes, grimmiges Lachen aus. »Aber der Preis dafür wäre, daß ich auf seinem verdammten Schiff mitfahren müßte.« »Wenn die Reise nach Dzik oder Uravedu ginge, könntest du 'ne Menge Zaster machen. Aber ich vermute, daß dieser Fabrizius nur mit den Zwölf Städten Handel treibt – und besonders mit Carrhoene. Da ist deine Chance, auch nur einen Solvar zu verdienen, genauso groß, als wolltest du Wein aus 'nem Brunnen
ziehen. Aber zerbrich dir jetzt nicht den Kopf drüber! Morgen ist auch noch ein Tag.« Er nahm erneut einen tiefen Schluck, warf den Kopf in den Nacken und sang: »Einst war ich jung, ein Bursch' voller Freud', ich dachte ans Alter, ans Ende der Zeit, doch nun bin ich alt, und grau ist mein Bart, und ich weiß, daß das Ende der Zeit bald naht. Es gibt noch sieben weitere Strophen, aber sie laufen alle auf dasselbe hinaus.« Der Wirt brachte den gebratenen Vogel. Er war köstlich zubereitet, in einer Soße aus kleinen Krabben. Aber es behagte Airar gar nicht, daß sein Begleiter so schnell trank und immer redseliger wurde, auch wenn er dabei in bester Stimmung war. Denn die Gäste von den anderen Tischen schauten schon herüber und spöttelten, und der junge Mann überlegte besorgt, wie er es wohl bewerkstelligen sollte, die Botschaft von Meliboë an einem Ort loszuwerden, an dem Pertuit sicherlich kein willkommener Gast war. Es war dumm von ihm gewesen, den Bogenschützen einzuladen. Zu allem Überfluß begann der Raum allmählich vor seinen Augen zu verschwimmen. Er kannte dieses Gefühl. Schließlich gab er sich einen Ruck und sagte: »Herr Bogenschütze und Freund, es war ein sehr schöner Abend, doch seid mir nicht böse, wenn ich mich jetzt verabschiede. Ich habe da noch etwas zu erledigen...« »Aha!« grölte der Bogenschütze, bevor Airar noch die Gelegenheit wahrnehmen konnte, sich zu erheben. »Der junge Hahn ist brünstig!« Er beugte sich
vor und wedelte scherzhaft drohend mit dem Zeigefinger. »Hör, Junker, ich komme mit. Jedes Mädchen braucht zwei Liebhaber... einen, der an der Tür Wache hält...« »Ich versichere Euch...« »Du versicherst mir einen feuchten Dreck. Im Gegenteil: Ich versichere dir was: nämlich dich vor allen unliebsamen Überraschungen zu schützen. Was? Schließlich bin ich nicht umsonst Bogenschütze der Garde seiner Lordschaft des Roten Barons, dieses räudigen Bastards! Gurion!« Er winkte nach dem Wirt. »Die Rechnung! Los, Junker, hol dein Geld raus! Ich zahle das Trinkgeld für den Burschen. Und dann hau'n wir ab.« Vielleicht war es der Wein, der Airars Wahrnehmungsvermögen ein wenig trübte. Aber was blieb ihm anderes übrig, als mit dem so herrisch und bestimmend auftretenden Bogenschützen mitzukommen? Er hatte gar keine andere Wahl und konnte bloß hoffen, daß die Männer, die er treffen wollte, so klug waren, Warnposten aufzustellen, um nicht von Bogenschützen überrascht zu werden. Er zahlte und erhob sich. Pertuit nahm ihn beim Arm, klopfte dem Burschen auf die Schulter, warf den Leuten vom Nachbartisch einen Gruß zu und bugsierte Airar mit viel Aufhebens und großsprecherischem Gehabe zur Tür. Draußen atmete Airar tief die würzige Nachtluft ein. Sie roch salzig. Er erinnerte sich, daß die Luft in Trangsted auch manchmal dieses würzige Aroma hatte, jedoch nur, wenn ein scharfer Wind von Süden her wehte. »Wohin geh'n wir jetzt?« fragte der Bogenschütze lallend.
»Ich muß zur Straße des Einhorns. Solltet Ihr nicht zu einer bestimmten Zeit wieder in der Kaserne sein?« »Ach, papperlapapp! Das ist nicht so wichtig! Bin ich nicht Wächter von Beruf? Und wen gibt's Besseres zu bewachen als einen alten Freund bei seinen Abenteuern? Hat sie 'ne hübsche Schwester?« In die Stadt war nun Stille eingekehrt, und die Schritte der beiden Männer hallten laut in den Straßen wider. Der Mond stand tief am Himmel und warf lange Schatten. Hier und da sahen sie ein erleuchtetes Fenster. Die friedvolle Ruhe bewirkte, daß sogar Pertuit bald verstummte. Sie begegneten nur wenigen Menschen die tief vermummt waren und eilig vorüberhuschten. Als sie jedoch die Kapelle erreichten, schien sich etwas in der Dunkelheit zu bewegen, und als sie vor der Taverne ›Zum alten Schwert‹ angelangt waren, tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihnen auf und hielt ihnen ein Talglicht vors Gesicht. »Wohin wollt ihr?« fragte der Mann barsch. Airar glaubte, im trüben Licht der Kerze den grobschlächtigen Kerl wiederzuerkennen, der schon am Nachmittag dort herumgelungert hatte. »Ich gehe dahin, wo es mir paßt; bin niemandem Rechenschaft schuldig«, sagte Pertuit. Seine Stimme hatte plötzlich einen metallenen Klang. Er deutete mit dem Finger auf das Abzeichen auf seiner Schulter. »Ich bin Bogenschütze der Garde.« Im Innern der Taverne ging plötzlich ein Licht an und erlosch gleich darauf wieder. »Du kannst durch, Bogenschütze«, sagte der Bursche. Er senkte die Kerze und trat einen halben Schritt zurück. Airar vernahm aus dem Augenwinkel eine
rasche Bewegung. Er spürte, daß Gefahr in der Luft lag. Pertuit hatte die Bewegung ebenfalls wahrgenommen. Mit einer Schnelligkeit, die Airar dem noch immer halb betrunkenen Mann nicht zugetraut hätte, wirbelte er herum, riß blitzschnell sein Kurzschwert aus der Scheide und stieß zu, wobei er laut »Wache! Wache!« rief. Der große Mann glitt wie Rauch vor dem Hieb zurück, Airar horte das Geräusch zerreißenden Stoffes. Etwas berührte ihn leicht; er zuckte mit dem Kopf zur Seite. Im selben Moment zischte eine lorbeerblattförmige Speerspitze dicht an seiner Schulter vorbei. Er sah sie nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ihre Form war für immer in sein Gedächtnis eingebrannt Sie neigte sich und bohrte sich voll in den Rücken seines Begleiters direkt unter dem Schulterblatt. Der letzte Schrei erstarb in einem blubbernden Ton. Airar fühlte, wie warmes Blut über seine Hand spritzte. Dann traf ihn ein derber Schlag hinter dem Ohr, und er ging zu Boden, zusammen mit der Leiche von Pertuit, dem Bogenschützen.
4 Naaros: Zusammenkunft in der Nacht »Halt!« Wie aus weiter Ferne drang eine hohe Männerstimme an Airars Ohr. »Der hier trägt den Ring!« »Dann frag ihn nach dem Losungswort!« erwiderte jemand. Die zweite Stimme klang rauh. Es war die des grobschlächtigen Kerls. »Keiner von uns ist sicher, bevor wir nicht wissen, wie er daran gekommen ist.« Jemand hielt eine Laterne vor Airars Gesicht. Obwohl er die Lider geschlossen hatte, steigerte die plötzliche Helligkeit den dumpfen Schmerz in seinem Kopf ins Unerträgliche. Seine Hände fühlten sich klebrig an; er bezweifelte stark, sich überhaupt bewegen zu können. »Nein, Gallil«, sagte eine dritte Stimme, »der hier ist kein Vulkinger. Schau dir nur seine Haare an. Und sieh doch, wie lang er ist!« »Bei der Quelle! Du hast recht! Aber wie ist es dann zu erklären, daß er mit dem Laffen des Roten Hundes hier auftaucht?« Airar öffnete die Augen und schloß sie sofort wieder, als eine Welle von Licht und Schmerz ihn überflutete. In dem Bruchteil einer Sekunde jedoch, in dem er seine Augen geöffnet hatte, konnte er sehen, daß eine Gruppe von Männern im Kreis um ihn herumstand und daß er auf dem Fußboden eines Raumes mit einer niedrigen Decke lag. »Der Kerl ist aufgewacht«, knurrte der Mann, der offenbar Gallil hieß. »Schnell, die Frage, bevor der Syndikus kommt, sonst ist der alte Dummkopf noch
zur Tür hinaus und hinterläßt nichts als einen üblen Geruch.« Airar versuchte, sich aufzusetzen. Sofort tanzten sämtliche Sterne des Himmels vor seinen Augen. Er hob einen Arm, sah, daß seine Hand blutverschmiert war, und wäre sogleich wieder zurückgesackt, hätte ihn nicht einer der Männer, ein langnasiger, glattrasierter Bursche in der Kleidung eines Bergjägers, festgehalten. »Schnell!« rief er. »Etwas Wasser... oder Branntwein!« Die Stimme gehörte dem dritten Mann, dem, der die Bemerkung über seine Haare und seine Größe gemacht hatte. »Hier«, sagte ein Mann mit einem Kahlkopf und einem Bart, dessen Stoppeln aus seinem Gesicht ragten wie die Borsten eines Stachelschweins. Er reichte eine Flasche herüber. Die Flüssigkeit brannte Airar auf den Lippen. »Mal hören, was für ein Liedchen er uns zu singen hat, bevor wir ihn nach unserem eigenen tanzen lassen.« Airar verschluckte sich an der Flüssigkeit, hustete und zerrte sich von der Hand, die ihn festhielt, los. Unter Aufbietung aller Kräfte stand er auf. Ein Schwindelgefühl erfaßte ihn, und er mußte sich an der Wand abstützen. Als er sich umwandte, blickte er in die skeptischen, mißtrauischen Gesichter von nahezu zwanzig Männern. »Los, Bursche, pack aus – was hast du hier zu suchen? Nun red schon!« rief einer der Männer voller Ungeduld. »Laßt ihn erst einmal zu sich kommen«, warf der Jäger ein. »Damit er Zeit hat, sich ein paar passende Lügen auszudenken«, sagte Gallil barsch.
Der Sohn des Alvar starrte auf seine Hand. »Sie ist ganz voll Blut«, sagte er mit fast kindlichem Erstaunen in der Stimme. »Ihr habt meinen Freund umgebracht.« Dann wurde er sich wieder der Gefahr bewußt, in der er schwebte, und er riß sich zusammen. »Ihr vom Eisernen Ring begrüßt ja wirklich auf eine sehr rauhe Art jene, die mit einer Botschaft zu euch kommen.« Schlagartig kam Bewegung in die Gruppe. »Eine Botschaft von wem?« schrie einer. »Beweis das!« schrie ein anderer. Gallil schob seinen Umhang zur Seite, um zu zeigen, daß er die Hand am Griff seines Schwertes hatte, und eine weitere Stimme fragte, ob der Abgesandte aus Korosh schon gekommen sei. Airar schaute jedem einzelnen aus der Runde fest in die Augen; schließlich hatte er einige Erfahrungen mit Volksversammlungen aus Västmanstad. Er schaute die Männer eine Weile an, und dann sang er: »Geme, plange, moesto mori...« Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte er: »Wenn ihr mir nur etwas geben könnt, womit ich mich saubermachen kann, sollt ihr auch noch den Rest hören. Meine Herren, wenn ich wirklich in feindlicher Absicht zu dieser Versammlung gekommen wäre, hätte ich dann nur einen einzigen Bogenschützen mitgebracht? Einer ist entweder zuviel oder viel zuwenig.« Der Bergjäger antwortete lachend: »Nun, Gallil, da hast du deinen Beweis! Er ist ein echter Dalekarlier... schlechte Beweisführung, aber gutes Herz. Warum er überhaupt einen Bogenschützen mitgebracht hat, sagt er nicht, wie du bemerkt haben wirst. Aber dazu
können wir dem Herrn Bedingungensteller ja Gelegenheit geben. Erst aber soll er sich säubern und erfrischen.« Er faßte Airar beim Arm und führte den noch immer wankenden jungen Mann durch einen zweiten Raum, in dem sich ein langer Tisch befand, in eine Kammer, in der er sich waschen konnte. Während er vor der Tür auf den jungen Mann wartete, sagte er nicht unfreundlich: »Sag ihnen sofort deinen Namen und den Ort deiner Herkunft; du kannst frei und unbefangen reden und brauchst keine faulen Tricks anzuwenden. Wir sind auch ehrlich gegenüber allen Männern dalekarlischen Blutes. Ich bin Rogai aus Mariola.« Er bot ihm die Rechte als Zeichen der Freundschaft und führte ihn in den Raum mit dem langen Tisch. Die Männer hatten inzwischen an dem langen Tisch Platz genommen. Airar, dessen Kopf allmählich wieder klar wurde, bemerkte, daß sie alle die verschiedensten dalekarlischen Trachten trugen. Dieser Gallil zum Beispiel war, wie er jetzt in dem helleren Licht erkannte, aus der Bauernschaft von Västmanstad selbst. Ein anderer, der asthmatisch aus seinem Bart schnaufte, war mit dem Lederwams der Fischer bekleidet. Der große Mann dort mit dem vom Wind geröteten Gesicht trug ein Wams, das mit Sicherheit nirgends anders gefertigt war als in den endlosen Ebenen von Hestinga. Und der Mann mit den zierlichen, bleichen Händen und dem kantigen, dreieckigen Kinn konnte sehr wohl jener Ludomir Ludomirson sein, von dem Airar schon so viel gehört hatte. Der junge Mann faßte mit beiden Händen die Lehne eines Stuhles. »Meine Herren«, begann er, als er
sah, daß ihn alle gespannt anschauten, »ich möchte Euch nun alles Wichtige über meine Person erzählen, ohne etwas zu verbergen oder wegzulassen. Ich bin Airar Alvarson, habe jetzt keinen Wohnsitz mehr, da ich erst gestern aus dem Haus meines Vaters von Leonce Fabrizius vertrieben worden bin.« Ein Gemurmel erhob sich, und der Fischer schrie: »Genau das wollen wir endlich beenden!« »Und als ich nun gestern abend auf dem Wege hierher, in die Stadt, war«, fuhr Airar fort, »da hatte ich eine Begegnung mit einem Doktor der Philosophie, einem gewissen Meliboë. Er sagte mir, daß Ihr heute abend hier eine Zusammenkunft hättet; er gab mir diesen Ring und das Lied als Erkennungszeichen und beauftragte mich, Euch eine Botschaft zu überbringen.« Nun geriet die Gruppe vollends in Bewegung. Gallil sprang so ungestüm auf, daß sein Stuhl umfiel, und schrie: »Habe ich es nicht gesagt? Stellt ihm sofort die Frage!« Und Rogai, der unter dem wettergegerbten Braun seines Gesichtes ganz bleich geworden war, rief: »Wie ist dieser alte Aasgeier an unser Lied und unser Erkennungszeichen gekommen?« Alle riefen wirr durcheinander, bis der Mann mit dem eckigen Kinn, der wie ein Ritter angezogen war, sich erhob und beschwichtigend die Arme hob. Sogleich erstarb der Tumult. »Haltet ein, Freunde!« Er schaute Airar an. »Junger Mann«, sagte er, »was wir da von Euch hören, ist für uns eine verblüffende und zugleich sehr erschrekkende Neuigkeit, denn unter allen Feinden unseres Volkes gibt es in der Tat keinen schlimmeren als eben diesen Meliboë, und wenn er von unseren geheimen
Zusammenkünften Kenntnis hat, dann sind wir so gut wie verloren. Deshalb...« »Hier ist meine Botschaft. Ich...« »Ihr habt still zu sein, bis wir Euch zu sprechen auffordern, junger Mann. Schließlich bringt Ihr hier nicht gerade die beste Empfehlung mit. Und noch etwas: Ihr habt mich gefälligst mit ›Sir‹ anzureden; ich trage den ordnungsgemäßen Titel eines Ritters. Ich fahre fort: Es würde uns genügen zu wissen, daß Ihr in der Tat der Bevollmächtigte dieses Hexenmeisters und Dämons seid. Wo habt Ihr ihn getroffen?« »In einer Hütte am Fuß eines Hügels, wo ein schmaler Pfad von der Straße nach Naaros abbiegt, ungefähr acht- bis zehntausend Schritte hinter der letzten Brücke, wenn man auf die große Anhöhe kommt, die zu den zwei Lacias führt... Sir.« »Gallil, du bist unser Abgesandter von Västmanstad. Könnte das stimmen?« Der große Mann nickte düster hinter seinem Bart. »Es ist wahrscheinlich sogar die Wahrheit, Sir Ludomir. Nur wenige wissen das, aber Meliboë hat dort eine verborgene Hütte, in der er seine widerlichen Hexereien betreibt, und zwar zusammen mit einem Zwerg namens Cobbo, einer Mißgeburt, die aus der Paarung eines Seedämonen mit einer mictonesischen Metze entstanden ist.« Sir Ludomir wandte sich wieder an Airar. »Nehmen wir einmal an, Ihr habt diesen Doktor Meliboë tatsächlich getroffen. Habt Ihr irgendeinen Beweis dafür, daß Ihr eine Botschaft von ihm bringt?« Statt einer Antwort trat Airar an das Fenster der kleinen Kammer, in der er sich gewaschen hatte, hielt die Hand in den Eimer und streckte sie dann für alle
sichtbar hoch. »Sir und Ihr anderen Herren«, rief er, »ich bitte Euch, genau herzuschauen. Jeder von Euch kann sehen, daß dieser Eisenring, den ich hier an meinem Finger trage, genau der gleiche ist wie der, den einige von Euch tragen. Doch nun schaut!« Er rieb den Ring trocken und warf ihn auf den Tisch, und sogleich spiegelte sich das Licht in dem feinen Silberdrahtgeflecht wider. Rogai, der Bergjäger, lachte. »Hexerei!« schrie einer. »Ich könnte den Zauber selber aufheben, wenn ich ein Buch hier hätte«, gab Airar zur Antwort. Der Ritter nahm den Ring, ließ ihn durch die Finger gleiten, betrachtete ihn ausgiebig und schaute Airar mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und die Botschaft?« »Sir, Doktor Meliboë findet, daß die Welt übel dran ist unter der Herrschaft des Grafen Vulk. Er möchte sich gerne mit Euch zusammentun, um diesen Zustand zu ändern. Und als Beweis für seinen guten Willen gibt er an, daß er wisse, was die Vertreter der Gilden von Mariupol vorschlügen. Aber ein Skorpion ohne Kopf, so sagt er, könne zwar stechen, aber nicht beißen; doch durch gewisse philosophische Künste vermöge er, Euch eine Hand zu beschaffen, die ein Banner erheben könne.« Erneut erhob sich ein Geraune, und Sir Ludomir starrte Airar unter seinen buschigen Augenbrauen wie ein Falke an. »Und was glaubt Ihr...« begann er, aber bevor er zu Ende gesprochen hatte, pochte es von draußen dreimal an die Tür. Der Ritter warf Airar rasch den Ring zu, Rogai, der Bergjäger, gab dem jungen Mann ein Zeichen, er solle sich hinsetzen, und dann öffnete man die Tür. Ein Mann trat ein. Er
war von Kopf bis Fuß in Pelze gehüllt. Beim ersten Hinsehen hätte man vor lauter Pelzen diese Person leicht übersehen können, jedoch brachte auch der zweite Blick nichts Bemerkenswertes an den Tag. Es war ein alter Mann. Er war so bleich und farblos, daß man fast hätte annehmen können, er existiere überhaupt nicht. Sein Gesicht war hager und trug einen feierlichen Ausdruck, fast wie das eines Priesters. Rogai von Mariola sprang auf. »Dies ist Wigrak«, rief er, »Abgesandter der berühmten Gilden von Mariupol, welchen anzuhören wir heute hier versammelt sind.« Der alte Mann dankte mit einem Lächeln, als Sir Ludomir ihm einen Stuhl anbot, und sagte mit silberheller Stimme: »Mit Eurer Erlaubnis will ich mich nun hinsetzen und das Wort ergreifen.« »Wir sind hier im Eisernen Ring alle gleichberechtigt«, sagte der Ritter in einem Ton, als wiederholte er eine schon oft gesagte Floskel, »wir haben keine Regeln darüber, ob jemand steht oder sitzt.« »In gewisser Hinsicht ist das genau der Grund, weshalb ich hier bin«, erwiderte der andere. »Wie lange müssen wir Dalekarlier noch unter der Last des Berges ausharren? Ich werde Euch darauf eine harte Antwort geben, und ich hoffe, Ihr seid Manns genug, sie Euch anzuhören – so lange nämlich, bis es endlich Regeln darüber gibt, ob jemand steht oder sitzt und wir endlich einen Führer haben.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Schließlich brach der Mann mit dem Stachelbart das Schweigen: »Dasselbe sagte uns auch gerade Meliboë durch den Mund jenes Jünglings dort, den er als Botschafter zu uns sandte.« Wigrak würdigte ihn keines Blickes. »Wenn Friede
und Freundschaft herrschen, können wir von niemandem besser sprechen als dem Nachbarn. Aber meine Herren, ich sage Euch, wir sind inmitten eines höchst grimmigen Krieges, auch wenn keine Standarte erhoben ist. Und dieser Krieg wird erst dann beendet sein, wenn wir alle Vulkinger sind oder die Sklaven der Vulkinger. Aus keinem anderen Grunde seid Ihr hier versammelt. Sonst würdet Ihr nicht jenes eiserne Band tragen, bei welchem Graf Vulk proklamiert, daß Dalekarlien und das barbarische Micton eins sind.« Wieder machte er eine Pause. Auf irgendein geheimes Signal, das Airar nicht wahrgenommen hatte, kam ein pausbäckiges Mädchen aus der Speisekammer in den Versammlungsraum und servierte Met, während der eine oder der andere miteinander tuschelte. Keiner jedoch trank, bis auf einen Mann mit gebeugten Schultern, der neben Sir Ludomir saß. Er trug die bunte Tracht der Männer aus den Hügeln von Korsor. Schließlich ergriff Rogai, der allem Anschein nach als eine Art Bürge für den alten Mann galt, wieder das Wort: »Und weiter?« Wigrak hob seine weiße, pergamentene Hand. »Geduld«, sagte er. »Das bedeutet Blut und Geld, mehr als genug, und wir tun gut daran, jeden Schritt reiflich zu überlegen. Doch jetzt kurz und knapp, worum es geht... heute in einem Monat wird die Stadt Mariupol dem Grafen Vulk die Lehns- und Untertanenpflicht aufkündigen und sich bewaffnet gegen seine Herrschaft erheben. Und Euch, den Männern des Eisernen Ringes, rufen wir zu: Schließt Euch uns an; die Stunde des Schwertes ist gekommen!«
Der Tumult, der sich nun erhob, stellte den Aufruhr, der auf Airars Botschaft gefolgt war, völlig in den Schatten. Fast alle waren aufgesprungen und redeten wild durcheinander; einige ereiferten sich so sehr, daß das Mädchen neugierig den Kopf zur Tür hereinsteckte. Als die Männer sich endlich halbwegs beruhigt hatten und ihre Plätze wieder einnahmen, blieb der Mann mit dem stacheligen Bart stehen und sagte, an den Syndikus gewandt: »Dies ist eine erfreuliche Nachricht für alle, die dafür eintreten, daß der Berg endlich weggeräumt wird. Aber ich möchte daran erinnern, daß unser Gast etwas von Regeln und Führern gesagt hat. Bevor wir unsere Herzen und unsere Schwerter verpfänden, würde ich gern wissen, an wen.« »Ha!« knurrte der schwarze Gallil. »Eine Ratte und ein Bewohner des Weißflußtals gehen immer erst dann über eine Brücke, wenn sie mit Käse gepflastert ist.« Dem Stachelbart schoß die Zornesröte ins Gesicht, und er wollte etwas erwidern, aber Wigrak brachte ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung zum Verstummen. »Das ist eine berechtigte Frage; sie ist in aller Offenheit gestellt worden, und ich werde sie ebenso offen beantworten. Sagt mir – besitzt Dalekarlien einen Führer, der vor den Vulkingern und ihren Hauptmännern in einer Schlacht bestehen könnte... vor Bordvin Wildfang oder gar dem verruchten Roten Baron von Naaros? Unsere Niederlage damals bei den Roten Hügeln kam daher, daß wir keinen Führer hatten. Und da es früher oder später wieder zur Schlacht kommen wird, haben sich die Gilden von Mariupol darum bemüht, tapfere Kämpen zu suchen,
wo immer es welche gibt. Und daher haben wir die Sternenhauptmänner von Carrhoene als Führer angeworben, zusammen mit zahlreichen Speeren aus ihren Reihen.« Airar hatte schon einmal von jenen fünf Sternenhauptmännern gehört. Sie galten fürwahr als Berühmtheiten, und hätte sich einer aus der Runde erhoben, um einen Jubelschrei auszustoßen, so hätte auch er mit eingestimmt, so sehr erfüllte ihn der Gedanke, daß diese berühmten Männer für Dalekarlien kämpfen sollten, mit Freude. Aber nur zwei oder drei der Männer zeigten überhaupt eine Reaktion; der Rest saß da und schaute alles andere als begeistert drein. Sir Ludomir trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum, Gallil brütete mit finsterem Gesicht vor sich hin, und der Mann aus Korsor rief: »Wie hoch ist der Sold, und wer bezahlt ihn?« Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. Doch Wigrak fuhr so unbeirrt fort wie jemand, der an solche Hindernisse gewöhnt ist: »Ich gebe zu, es gibt ein paar Bedenken. Ich habe selbst mit ihnen die Verhandlungen geführt. Sie sind nicht von unserem Blute und sie haben eingestandenermaßen etwas Verschlagenes, Listiges an sich. Als Preis fordern sie bestimmte Herrschaftsgebiete in Dalekarlien; darüber hinaus forderten sie sogleich so viel Bargeld, daß sich ein paar unserer Gildenmänner Bedenkzeit erbaten. Hinzu kommt, daß sie mit dem Kaiser nicht gerade auf bestem Fuße stehen; das könnte noch Unannehmlichkeiten geben; vergessen wir nicht, daß Vulk den loyalen Vasallen des Kaisers mimt. All dies will ich gern gestehen, meine Herren, und noch vieles andere auch. Aber beklagt einer, der
hilflos auf dem offenen Meer treibt, daß die Fische, die er fängt, zu wenig gewürzt sind? Der Teufel von Briella ist nur allzu froh darüber, daß wir ihm höflich, devot und in gehöriger Form entgegentreten. Wir verlieren nichts weiter als unser Leben, wenn wir es tun. Das Schlechteste, was man über diese Sternenhauptmänner sagen kann, ist gleichzeitig auch das Beste – daß nämlich in Dingen des Krieges und der Verschlagenheit und List sie es sind, die all die Bäume angepinkelt haben, an denen die Hunde von Vulkingern schnüffeln.« Gellendes Gelächter erscholl. Als es verebbt war, ertönte die Stimme des dunklen Gallil: »Als Gesandter der Dalekarlier von Västmanstad sage ich, daß mir diese Sache nicht gefällt. Aber schließlich ist dies kein Spiel für kleine Jungen, die nach Hause rennen, wenn die Spielregeln ihnen nicht passen. Was anders sollte auf lange Sicht das Ziel unserer Verschwörung gegen Vulk sein, wenn nicht der Krieg? Und darum sage ich: Vorwärts! Hoch das Banner des Geflügelten Wolfes, heraus mit den Waffen, auch wenn wir dabei den verfluchten Hunden aus Carrhoene folgen müssen! Wer macht noch mit?« »Ich!« schrie einer. »Ich für Hestinga!« Der Mann, der dies gesagt hatte, blickte stolz in die Runde; desgleichen Rogai, der Bergjäger. Airar sah jedoch an den Mienen der anderen, daß sie nicht überzeugt waren. Ein wohlgenährter Mann, bei dem weder Tracht noch Dialekt die Herkunft verrieten, erhob sich mühsam von seinem Stuhl, so als sei er geschwächt. »Gallil, jeder von uns weiß, daß du ein großmütiges Herz hast, und auch Ihr, Herr Syndikus, sprecht voller Inbrunst und Güte; doch was mich betrifft, so
muß ich gestehen, daß ich nicht sehr erbaut von dem Wort ›Verschwörung‹ bin. Wir aus Shalland haben uns dem Eisernen Ring angeschlossen, um uns unter dem Schutz des Kaiserreiches alte Freiheiten bewahren zu können, für die unsere Väter im Gefolge von König Argimenes in harten Schlachten ihr Blut vergossen haben. Wie soll uns das gelingen, wenn wir zusammen mit den Geächteten des Reiches gegen den Grafen des Kaisers rebellieren? Denn welchen Schutz haben wir gegen die Heiden, wenn nicht das Reich und die Quelle?« Der alte Wigrak hob den Finger, um zu antworten, aber ein anderer kam ihm zuvor – sein Aussehen und die goldene Kette ließen auf einen Kaufmann schließen. »Ihr habt gar nicht so unrecht«, sagte er, »aber die Sache hat auch noch einen anderen Haken. Mariupol liegt direkt an der Grenze, in gewisser Hinsicht unter der Hand des mächtigen Herzogs von Salmonessa, der niemals zulassen wird, daß es fällt. Aber wer soll uns von Stavorna schützen? Wir liegen gewissermaßen eingeklemmt zwischen Briella, der Feste des Grafen selbst, und den Piraten des Nordens. Nein, nein, da sehen wir diesen Vulk schon als das kleinere Übel an. Aber was wir gerne tun wollen, ist, uns dafür einsetzen, daß er sich mäßigt; dafür tritt unser Eiserner Ring ja ein.« »Dafür haben wir es in Naaros schon ein bißchen zu weit getrieben«, rief ein anderer mit grimmigem Lachen. »Schließlich metzeln wir hier neuerdings schon Bogenschützen.« Wigrak schaute ihn verblüfft an und wollte etwas sagen, doch wieder kam ihm ein anderer zuvor. Es war ein junger Mann, etwa in dem Alter von Rogai oder Airar, mit langem, lockigem Haar.
»Ich komme aus Norby. Ihr möget verzeihen, daß ich nicht so gut über die neuesten Dinge informiert bin wie ihr hier im Süden. Aber da ist noch etwas, das ich nicht so recht verstehe. Ich selbst war zwar noch nicht geboren, als die Schlacht bei den Roten Hügeln stattfand, aber wie mein Vater mir erzählte, waren es seinerzeit Mariupol und seine Gilden, die als erste den Vulkingern die Stadttore öffneten, ohne auch nur ein einziges Schwert zu erheben. Wie kommt es, daß ausgerechnet Mariupol jetzt so wild auf Kampf und Blutvergießen ist?« »Weil es für sie nur zwei Möglichkeiten gibt«, warf der Mann aus Korsor ein. »Nämlich Kampf oder der Bettelstab. Habt ihr noch nichts von der neuesten Inspiration des Lordkanzlers Lannoy gehört? Er hat vor, Fabriken zu errichten, in denen mictonesische Sklaven arbeiten sollen. Damit will er den Gilden von Mariupol auf dem Wollmarkt ihrer eigenen Stadt Konkurrenz machen.« Alle Augen richteten sich auf Wigrak. »Ich streite das nicht ab«, sagte der Alte. »Aber auch ihr werdet zugeben müssen, wenn ihr die Dinge klar seht, daß das, was heute auf Mariupol zukommt, morgen schon für Naaros – ja, und auch für Stavorna und alle anderen Städte zutreffen kann. Der Graf hat doch ganz eindeutig die Absicht, uns alle auf die eine oder andere Art durch seinen eisernen Ring zu zwängen! Warum sonst alle diese Steuern und Verkäufe auf dem Land? Warum sonst läßt er überall die Männer aus den Häusern ihrer Väter werfen und nimmt ihnen ihr Land weg, um ganze Horden von Sklaven darauf arbeiten zu lassen, und zwar für Besitzer, die auf dem Schloß sitzen?«
Er wandte den Blick auf Gallil. »Ihr, mein Herr, seid alt genug Euch noch an die ersten Tage der Vulkingherrschaft erinnern zu können. Wie viele freie Bauern gab es damals in Västmanstad, und wie viele gibt es heute noch? Und daß die Vulkinger sich auch in den Städten breitmachen könnten, daran wollten damals viele von uns nicht glauben, einer davon war auch ich. Nun, wir haben uns darin eben getäuscht. Aber ich frage euch: Hat keiner von euch jemals einen Fehler gemacht, und hat man ihm diesen nicht verziehen? Dies ist die Stunde, da wir alle unseren Freunden ihre Fehler von früher verzeihen müssen; ist es doch jetzt geboten, einig zu sein im Kampf gegen den mächtigen Feind!« Airar hörte, wie das Gemurmel und Getuschel um den Tisch herumliefen; er glaubte, daß der Syndikus sie jetzt überzeugt hatte. Aber da war noch dieser Mann mit dem Fischerwams, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Jetzt erhob er sich und sprach. Er hatte einen eigenartigen Akzent: Er sprach alle scharfen ›S‹ stimmhaft aus; außerdem hustete und schnaufte er ständig wegen seines Asthmas. »Ich kann nicht so gedrechselt daherreden«, begann er, »daß es sich so anhört, als wollte ich euch die Füße küssen, wenn ich eigentlich sagen will, daß ihr mich am Arsch lecken könnt (wuff, wuff). Ich rede also, wie mir das Maul gewachsen ist. Wir freien Fischer sind das eben so gewohnt. Tolle Sache für einen freien Fischer zu hören, daß die dicken Bonzen aus den Gilden von Mariupol unsere Freunde sind (puff); aber das sind sie erst jetzt, wo sie was von uns wollen. Aber der olle Graf hat uns den Doktor Meliboë rübergeschickt, als wir Ärger mit den Seedämonen
hatten (wuff, puff). Doch der Graf will auch was; er nimmt so hohe Steuern von uns, daß wir kaum noch japsen können. Wir würden ja gern mitmachen, ihn im Naar zu ersäufen, wenn uns das was helfen würde – bestimmt. Aber was dieser Syndikus da will (wuff) – weg mit dem einen Graf und dafür fünf neue, die alle nach Jauche aus Carrhoene stinken... Pah, dazu sagen wir nein! Wir wollen keinen!« Er setzte sich wieder. Jetzt meldete sich der Dicke zu Wort: »Shalland wird sich nicht erheben Ich könnte sie nicht überzeugen.« »Korsor auch nicht.« »Und ich fürchte, die Weißflußtäler auch nicht.« Rogai, der Jäger, warf die Hand hoch und ließ sie langsam wieder sinken. »Das alte Lied«, sagte er resigniert. »Fünf Dalekarlier in einem Raum... und worüber sind sie sich einig? Darüber, wie sie sich gegenseitig übers Ohr hauen können mit Hilfe eines Vulkingers, der zufällig am Fenster vorbeigeht.« Er schaute Wigrak an. »Da habt Ihr Eure Antwort, Herr, und wenn es eine bessere wäre, dann wäre ich jetzt glücklicher.« Der Syndikus zog mit seiner bleichen Hand den Pelzmantel über der Brust zusammen, nahm einen Schluck aus seinem Becher und sagte mit seiner hellen, durchdringenden Stimme: »Dann bleibt uns aus Mariupol eben nichts anderes übrig, als uns aus jeglicher Verbindung mit unseren eigenen dalekarlischen Blutsverwandten zurückzuziehen und uns unter den Schutz des mächtigen Herzogs Roger zu begeben. Wir haben getan, was wir konnten, aber leider sind wir zu keiner Einigung gekommen.« Er wollte sich erheben, aber Sir Ludomir legte die
Hand auf seinen Arm. »Nein!« schrie er und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Nein! Ich, der ich hier der Ranghöchste von euch allen bin, habe geschwiegen, damit alle ungehindert ihre Meinung darlegen konnten. Aber jetzt will ich nicht länger zuhören müssen, wie ihr euch hier herumstreitet. Hört, was ich euch zu sagen habe: Ich bin Gallils Meinung; auch ich hätte lieber einen anderen Zeitpunkt und einen anderen Führer gewählt und auch eine andere Methode denn ich bin der festen Überzeugung, daß dieser Graf Vulk, wenn er so weitermacht, eines Tages mit dem Kaiser aneinandergerät. Aber das kann noch lange dauern; und während wir untätig warten, richtet er Dalekarlien mit seinen Steuern und seinen Sklaven zugrunde. Wir müssen zuschlagen, bevor die alte Klinge verrostet ist, und eine Chance wie diese kommt so bald nicht mehr – mit dem Geld aus Mariupol und den Söldnern aus Carrhoene.« »Aber Ihr, Herr Syndikus, ich bitte Euch, bedenkt doch, welche Abgesandten es sind, die nein gesagt haben zu Euren Vorschlägen – es sind die von den Weißflußtälern, aus Shalland, Norby, der Stadt Stavorna und Korsor – alle aus dem Norden. Nehmen wir an, der Kriegspfeil wäre abgeschossen und die Leute hätten sich erhoben – überlegt, Mann, und dann sagt mir, was Eure Sternenhauptmänner unten in Mariupol tun könnten, wenn Vulk oder sein Marschall Bordvin die Pässe des Schweinerückens schlössen und sich dann mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Truppen auf die kampfunerfahrenen Truppen würfen, die sich jenseits des Naar erhoben hätten? Wären aber Västmanstad und Mariola in unserer Hand, und hätten wir eine starke Armee mit einem
guten Führer, die den Strom hinaufmarschiert, dann sähe unser Feldzug doch schon ganz anders aus. Meinst du nicht, Vard?« »Ich kann es nicht leugnen«, antwortete der Mann aus Shalland. »In Gottes Namen, Herr Wigrak, überlegt es Euch gut, bevor Ihr alle Bande zu uns zerreißt! Der Eiserne Ring hat Euch alles gegeben, was Ihr wolltet – außer Rudr hier und seine freien Fischer, und ihm sage ich, daß dieser Doktor Meliboë, von dessen Hilfe er so beeindruckt ist, ganz offensichtlich ein Verräter an seinen eigenem Herrn ist, wie wir aus dem Munde dieses Boten hier erfahren haben, so daß er wohl bald wieder von den Seedämonen heimgesucht wird, wenn er weiter dem Berg treu bleibt. Nicht daß wir uns deshalb davon abhalten lassen sollten, uns seiner zu bedienen – ich meine, jeder Spaten, mit dem man den Vulkingern ein Grab schaufeln kann, soll uns nur recht sein –. Und ich beauftrage dich, Gallil, damit, auf diesen Zauberer zu warten und herauszufinden, was er wirklich im Sinn hat. Aber vor allem sage ich: Krieg! Aufstand! Jetzt müssen wir zuschlagen, im Süden und entlang der Küste; aber laßt Hestinga sich zurückhalten, bis wir sicher sind, ihm Unterstützung geben zu können. Sind alle damit einverstanden?« Er blickte in die Runde und ergriff seinen Becher: »Der Ring!« rief er. Er hob ihn hoch, und alle standen auf und schrien: »Der Eiserne Ring!« Dann stießen sie an und tranken. Danach strömten alle zur Tür, und in dem allgemeinen Durcheinander nahm keiner mehr Notiz von Airar. Dieser ging zu Sir Ludomir, der sich gerade mit dem Fischer unterhielt, und sagte: »Sir mein ganzes Leben lang habe ich den Wunsch
gehegt, gegen die Vulkinger zu kämpfen, die meiner Heimat und meinen Verwandten übel mitgespielt haben. Habt Ihr in Eurer Gruppe nicht einen Platz für mich?« Der Ritter musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ich denke schon daß wir einen finden könnten. Habt Ihr irgendeine besondere Fähigkeit?« »Ich verstehe mich ein wenig in der Magie.« »Dies werden wir in Mariola brauchen, wenn Bordvin Wildfang gegen uns zu Felde zieht – einen Mann, der sich auf Zauberei versteht. Schließt Euch Rogai an.«
5 Unterwegs: Verwandlung und Entwandlung Sie verbrachten die Nacht auf dem Fellmarkt, wo Rogai noch einiges zu erledigen hatte. Das war auch der offizielle Grund, warum er in Naaros war. Airar Alvarson stellte bald fest, daß sein Begleiter ein netter, freundlicher Mann war, unter dessen freundlicher Schale sich jedoch auch ein herrischer Eigensinn verbarg, wie eine Ader, die sich durch Marmor zieht – so zum Beispiel, als Airar erzählte, wo er sein Bündel zurückgelassen hatte, und als er davon sprach, wie sehr er sich das Zauberbuch und den Dolch gewünscht hatte. Das Bündel konnte Rogai nicht wiederbeschaffen; er sagte, die Bogenschützen der Wache hätten es sicherlich inzwischen aufgespürt, zumal Pertuit nicht wieder zu ihnen zurückgekommen war. Den Dolch jedoch und das Zauberbuch versprach er Airar zu besorgen. Er nahm eines von seinen Goldstücken und hieß Airar, sich nicht aus der Unterkunft zu entfernen, damit ihn die Schergen des Roten Barons nicht doch noch aufspürten. Es wurde ein langweiliger Tag für Airar; er zählte bestimmt ein dutzendmal die ehernen Beschläge auf der Tür und bemühte sich in Gedanken, sie zu verschiedenartigen Mustern zu formen, was jedoch nicht gelang. Dann versuchte er, sich an den Zauberspruch zu erinnern, mit dem man Seedämonen abwehrte. Er bekam aber nur Kopfschmerzen davon. Also gab er es schließlich auf und schlief voll angezogen auf dem Bett ein. Kaum war er eingeschlafen, hatte er einen wirren Traum; mitten in einem Wald lag ein Tümpel.
Es herrschte gelbes Zwielicht. Weiße Einhörner kamen plötzlich aus dem Wald hervor, um an dem Tümpel zu trinken. Es schien Airar, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Kostbares gesehen wie diese Einhörner. Doch dann kam von irgendwo ein Pfeil hergeflogen und traf eines der Einhörner in die Seite. Es fiel zuckend zu Boden und stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Eine Welle von Schmerz erfaßte ihn, und er erwachte. Rogai stand über ihn gebeugt und rüttelte ihn. Der Mariolaner hatte sowohl das Buch als auch den Dolch bei sich. Außerdem brachte er Brot, Wein und Zwiebeln mit. Er erzählte, daß in der Stadt eine ungemütliche, gespannte Atmosphäre herrsche; er habe gehört, man wolle für einen Tag alle Tore zusperren – nicht etwa, weil man vielleicht den Bogenschützen Pertuit vermißte; dieser konnte ja ebensogut desertiert sein. Nein, man hatte Gerüchte von einem Aufruhr gehört. Einige sprächen davon, daß die Heiden wieder Raubzüge auf See unternähmen, und wieder andere redeten von Krieg zwischen Barbixana und Carrhoene. »Aber das sind bloße Ablenkungsmanöver«, fuhr Rogai fort. »In Wahrheit sieht es nämlich so aus: Unser Freund, der Rote Baron, hat Wind vom Eisernen Ring bekommen, und nun streut er solche Gerüchte aus, um uns um so leichter auf die Spur kommen zu können. Der Mann ist nämlich nicht auf den Kopf gefallen.« Airar war erstaunt darüber, wie jemand, der kaum älter war als er selbst, solche komplizierten Dinge durchschauen konnte. Er selbst hätte nämlich beide Geschichten geglaubt, oder er wäre vollkommen
verwirrt gewesen; denn bei den einfachen Bauern in der Umgebung von Trangsted war es verpönt, Geschichten herumzuerzählen, die nicht bewiesen waren, und wenn es trotzdem mal einer tat, konnte er sicher sein, kein zweites Mal eingeladen zu werden. »Werden sie dann nicht solche Versammlungsorte wie diesen hier durchsuchen?« fragte er. »Höchstwahrscheinlich. Vanette-Millepigue braucht nur den geringsten Verdacht zu schöpfen, und schon ist er hier...« Er schaute Airar an. »Du bist doch Magier; könntest du nicht unsere äußere Erscheinung verändern?« Airar blickte ihn erstaunt an. Er war noch ganz benommen vom Schlaf und von seinem Traum. Wie sollte er das diesem jungen Mann, für den alle Zaubersprüche offensichtlich ein und dasselbe waren, bloß erklären? Er hatte jetzt zwar ein Buch, aber es fehlten ihm alle anderen notwendigen Requisiten, dazu kam, daß der Zaubertrick, mit dem man die Gestalt veränderte, ihn jedesmal so viel Kraft kostete, daß er noch zwei Tage später schwach wie ein neugeborenes Lamm war. »Wozu?« fragte er nach langem Schweigen. »Suchen sie nach dir oder nach ganz bestimmten Männern oder nach jedem, der nicht dem Grafen ergeben ist? Sollte das letztere der Fall sein, dann ist doch unsere äußere Erscheinung nicht so wichtig.« »Glaub mir: Wenn der Baron auch nur das Geringste erfahren hat, dann dauert es nicht mehr lange, und er weiß alles. Zu viele sind eingeweiht; Bland aus Skogalang ist ein sehr unsicherer Kandidat, und auch Siccald aus Korsor darf man nicht über den Weg trauen – er trinkt zuviel und gerät zu schnell ins
Plaudern. Ein geübter Verhörer hätte ihn sehr schnell ausgequetscht. Und was mich betrifft, so bin ich jetzt für die Vulkinger der fetteste Happen, da ich aus Mariola bin, dem Zentrum der ganzen Sache. Ha!« Er stand auf, schnallte seinen Gürtel ab und warf sein Messer in die Ecke des Raumes, wo es klirrend zu Boden fiel. »Halte dich aus Verschwörungen und Politik heraus, Sohn des Alvar. Du verseuchst alles, traust niemandem mehr über den Weg und verdirbst dir dein Gemüt auf alle Zeiten. Ich könnte nicht weniger an den Menschen glauben oder mehr an den Teufel, wenn ich neunzig wäre.« Es fiel Airar wieder ein, daß er selbst ja noch längst nicht alles Mißtrauen gegen seine Person ausgeräumt hatte, und er sprach den Jäger darauf an. »Wenn du schon einmal diesen Wurm ans Tageslicht ziehst, dann will ich auch offen dir gegenüber sein: Was wissen wir von dir? Deine Geschichte mit dem Buch und dem Dolch ist wahr; hier sind die Beweisstücke. Was du ansonsten über deinen Aufenthalt in Naaros erzählt hast, stimmt auch; meistens stolpern Lügner ja über Kleinigkeiten. Die beiden Söhne deines Großvaters habe ich auch bei Leonce Fabrizius gesehen – in dem Punkt hast du also auch die Wahrheit gesagt. Aber ob du dich wirklich auf die Magie verstehst, ist noch immer nicht erwiesen; der einzige Anhaltspunkt dafür ist der Ring an deinem Finger, und wie du sagst, hat ihn ein anderer verzaubert. Also komm, beweis mir nun, was du kannst, und verwandle unser Aussehen, damit wir von hier fort können. Damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe, so wie der Jäger, der mit einem Pfeil einen Bären und einen Vogel erlegte.«
Es blieb kein Ausweg mehr. Airar sah sich gezwungen, hier und jetzt den Verwandlungszauber vorzuführen, obwohl er Rogai davor warnte, daß der Zauber nur vierundzwanzig Stunden anhielt. Er mußte das Pentagramm mit Staub auf den Boden malen; als sie sich bei den Händen griffen und die blauen Flammen zu leuchten begannen, fing Rogai zu seiner Überraschung an, wie eine halbertrunkene Katze zu zittern, und er mußte das Buch zwischen ihre beiden Oberkörper klemmen. Aber selbst so konnte er nur unter größter Mühe den Zauberspruch lesen. Da Airar alles andere als ein erfahrener, sicherer Zauberer war, hatte er es für das beste gehalten, für sich die Gestalt einer alten Frau zu wählen und für seinen Gefährten die eines alten, ergrauten Bauern. Kaum begann der Zauber zu wirken, als sie auch beide der Länge nach auf den Fußboden fielen. Im selben Moment klopfte es an der Tür. Airar hatte gerade noch die Kraft, den Arm auszustrecken und mit der Hand das Pentagramm halb zu verwischen. Rogai erhob sich schwankend, stolperte aber sogleich wieder über seinen am Boden liegenden Gefährten, als im selben Moment auch schon die Tür nach innen aufging und ein Bogenschütze mit einem brutalen, roten Gesicht im Rahmen stand. Er hielt ein Kurzschwert in der Hand. Hinter ihm stand der Aufpasser des Gasthauses vom Fellmarkt und rang die Hände. »Verdammt!« knurrte der Bogenschütze gereizt. »Du Trottel, warum hast du mir nicht gleich gesagt, daß du hier bloß zwei alte Murmelgreise beherbergst?« Er verpaßte dem Aufpasser eine Maulschelle, warf einen angewiderten Blick auf die Weiberge-
stalt Airars und knallte die Tür hinter sich zu. »Da haben wir ja noch einmal Glück gehabt«, seufzte Airar während Rogai ihm mit letzter Kraft auf das Bett half. »Ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß sie uns schon so dicht auf den Fersen sind.« »Ich auch nicht.« Die Stirn des biederen alten Bauern legte sich in Falten. »Es muß schon ein paar wichtige Neuigkeiten geben daß der Rote Baron zu solchen Maßnahmen greift. Den Händlern aus den Zwölf Städten wird das gar nicht gefallen, und sie werden auch nicht zögern, das zu sagen. Alles spricht dafür, daß unser Vorhaben in größter Gefahr ist.« Er blickte an sich herunter. »Und ich kann in dieser Verkleidung unmöglich losgehen, um Neuigkeiten zu erfahren.« Es stand jedoch jetzt außer Frage, daß sie Naaros gleich am nächsten Morgen verlassen mußten. Nachdem sie noch eine Weile über dieses oder jenes geredet hatten und Rogai nicht mit Worten des Lobes für seinen Gefährten, den er den Fürsten der Hexer und Zauberer nannte, gespart hatte, gingen sie zu Bett. Airar war zu ermattet, um tiefen Schlaf finden zu können. Im Morgengrauen machten sie sich wie geplant auf den Weg. Rogai half Airar auf einen Esel, während er selbst das Pferd nahm, mit dem er auch gekommen war. Das Reiten bereitete ihm einige Schwierigkeiten als er feststellen mußte, daß seine alten Beine nicht mit der Schnelligkeit gehorchen wollten, mit der ihnen sein junges Gehirn die Befehle gab. Man hatte die Wache am Stadttor verdoppelt, aber die Posten würdigten das alte Paar kaum eines Blikkes. Rogai mußte innerlich lachen, als er den Esel
über die Brücke traben sah. Er zügelte sein Pferd ein wenig, und als er auf gleicher Höhe mit dem alten Weib war, flüsterte er: »Wenn die wüßten! Die scheinen der festen Überzeugung zu sein, nur sie wären imstande, einen Mühlstein wie ein Käserad aussehen zu lassen.« Aber Airar, der noch immer ganz benommen von der Wirkung seines Zauberspruches war, stieß nur ein leises Grunzen aus, als sie den Küstenweg einschlugen, der am Fuße des SpanhävidGebirges verläuft. Die ersten Sonnenstrahlen kamen hervor. Sie froren. Rogai war ein wenig ungeduldig. Da weder Markttag war noch überhaupt Marktsaison, würde ihnen wahrscheinlich unterwegs kaum jemand entgegenkommen. Und in der Tat begegneten sie fast niemandem, abgesehen von einem struppigen Bauern aus dem Hochland, der eine Karre voll Bucheckern bei sich hatte für die Nußbutter, für die Naaros so berühmt ist. Einmal überholte sie jemand. Es war ein südmariolanischer Schäfer mit seinem typischen langen Mantel und seiner gekräuselten Kappe. Er ritt an ihnen vorüber, gefolgt von seinem Hund, und rief ihnen einen mürrischen Gruß zu wie jemand, der lieber allein sein möchte. Ein anderes Mal kam ein Kaninchen ganz dicht an sie heran und beäugte sie neugierig, aber als ein Kiesel unter dem Huf des Pferdes hervorsprang, hoppelte es gleich wieder davon. Das war von Land her das einzige Lebenszeichen dessen sie gewahr wurden, ausgenommen die beiden verwandelten Männer. Es schien fast, als sei eine dunkle Ahnung vom Zorn des Herrschers von Naaros oder einer sonstigen drohenden Gefahr durch das Land geeilt und habe Menschen und Tiere in ihre Hütten getrieben, wo sie nun ängstlich ge-
spannt der kommenden Dinge harrten. Es herrschte völlige Stille; nur das Rauschen der kalten blauen See war zu hören, die weiß schäumend gegen die Felsen unter ihnen und zu ihrer Rechten anbrandete. Bisweilen schrie eine Möwe. Weit und breit sah man nichts als das Meer und die Bäume, Fichten und Buchen, die einander abwechselten und die Hänge des Spanhävid-Gebirges zu ihrer Linken emporklommen und sich dunkel gegen den Himmel abhoben. Dann und wann platzte Rogai mit einer Bemerkung heraus: »Vard ist ein Dummkopf, aber er ist gefährlich mit seinem Gerede von Vernunft. Hast du gemerkt, wie sie sich gleich alle auf seine Seite schlugen, als er davon sprach, wie wertvoll das Reich für uns sei? Eigentlich war er es, der die ganze Sache in Frage gestellt hat – viel mehr als dieser stinkende Fischer. Und dann hatte Sir Ludomir alle Mühe, sie wieder zu beruhigen. Er stellt sich vor, Kriege mache man so, daß sich eine Gruppe von Richtern in einer langen Reihe auf ein Otterfell setzt und eine weise Entscheidung trifft.« Oder: »Wenn ich nur wüßte, was den roten Hund zum Bellen gebracht hat. Was glaubst du, Airar, ob dein alter Hexenmeister wohl ein falsches Spiel treibt?« Aus Airar war jedoch kaum eine Antwort herauszulocken, er war noch immer ganz matt, und außerdem kannte er sich ohnehin in solchen Problemen nicht aus. An einer Stelle, wo ein Bach vom Bergrükken herunterrauschte, machten sie Rast und aßen zu Mittag – Brot und Fleisch aus Rogais Satteltasche. Als sie mit dem Essen fertig waren, stand Rogai mit einem entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht auf.
»Dein Esel ist ein lahmes Vieh«, sagte er. »Du mußt ihn fester antreiben. Es ist noch ein weiter Weg bis zur nächsten Herberge, und dieser Pfad wird des Nachts häufig von Seedämonen heimgesucht.« Airar war zwar guten Willens, schnell voranzukommen, aber mit dem Esel war das eine schwierige Sache. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er seiner Erschöpfung nachgab und sich in Gedanken verlor, wo er eigentlich alle Aufmerksamkeit unentwegt auf das Tier hätte richten müssen. Immer wieder jedoch schweiften seine Gedanken ab, und der Esel bewegte sich kaum noch von der Stelle. Airar betrachtete gedankenverloren den Flug einer Möwe oder die ständig wechselnde Form des Berges, und bald war er ganz in Tagträume versunken. Er malte sich aus, wie er sich wohl in den bevorstehenden Kämpfen schlagen würde, er erinnerte sich daran, wie man einen Schwerthieb ansetzte oder einen Bogen spannte (den linken Daumen krümmen!), er überlegte ob es ihm wohl helfen würde, eine Lanze in der Schlacht zu handhaben, daß er früher immer aus dem Sattel des alten Pferdes Pil heraus mit dem Speer nach Äpfeln gestoßen hatte, die von den Zweigen herabhingen – natürlich mußte er noch fleißig üben – das wichtigste war, das Ziel so anzuvisieren, daß er die gedachte Linie zwischen der Speerspitze und dem Ohr des Pferdes nur zu verlängern brauchte – so hatte Sumarbo Bukson aus Ivigsted es ihn gelehrt, als sie es zusammen versucht hatten. Er hatte das Bild noch genau vor Augen: Es war ein warmer Sommertag, und sie waren im Obstgarten. Am Rande des Obstgartens stand Sumarbo und rief ihm zu, wie er den Speer halten sollte, und Aslar, das dunkelhaarige
Mädchen, rief: »Jetzt gebe ich dir einen Kuß als Trophäe!« Ganz rot war er vor Scham geworden; er hatte doch immer gedacht, man dürfe sich nur küssen, wenn... »Beeil dich; wir kommen ja kaum voran!« riß ihn Rogais Stimme aus seinen Träumen. »Wenn du wirklich der König der Magier wärst, würde es mir ja nichts ausmachen. Nicht, daß du nur bummelst – jetzt bleibst du auch noch stehen! Dabei haben wir wirklich guten Grund, uns zu beeilen! Ich habe kein Verlangen danach, von Seedämonen angefaßt zu werden; lieber möchte ich sterben. O ja, du fühlst dich sicher sehr waghalsig und tollkühn, aber denk immer daran, daß ich ein Führer bin und daß von mir das Leben anderer Männer, ja in gewisser Weise sogar die ganze Sache selbst abhängt.« Airar erwachte wie aus tiefem Schlaf. Sie befanden sich jetzt genau in der Mitte einer großen Bucht. Zu ihrer Linken erhob sich steil das Gebirge und verdunkelte den Weg. Rechts drohte der Abgrund, übersät mit Felsbrocken. Das Meer in der Tiefe schien spiegelglatt. Einige Fischerboote lagen dort unten; sie hatten die Netze ausgeworfen, und die Segel hingen in roten und gelben Haufen über ihre Decks. Der Nachmittag war schnell vergangen. »Es ist meine Schuld«, krächzte Airar mit der Stimme eines alten Weibes, »aber...« »Da hast du wohl recht.« Rogai stieß ein gereiztes Schnauben aus und zerrte so heftig an seinem Zügel, daß sich das Pferd hoch aufbäumte. »Nun höre, junger Freund Airar; ich werde jetzt bis zur nächsten Biegung vorausreiten, und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, wie ich sie für angemessen halte.
Dort werde ich eine Weile auf dich warten. Kommst du nicht, dann sieh zu, daß du mit deiner Zauberkraft, die dich vor bösen Mächten schützt, auf dem schnellsten Wege zu dem Gasthaus ›Der Stern von Carrhoene‹ gelangst.« Er beugte sich vor und gab seinem Pferd die Sporen. Da, wo die Hufe des Pferdes die Erde berührten, flogen kleine Staubwölkchen auf. Airar fühlte sich mißbraucht. Wessen Schuld war es denn, daß er so ermattet dahintrottete, wenn nicht die Rogais, der ihn so sehr gedrängt hatte, einen Zauber anzuwenden! Und jetzt machte ihn das Ergebnis dieses Zaubers wütend. Nach allem, was er gehört hatte, waren die Seedämonen solch garstige Wesen auch nicht; eher eine Art schädlichen Ungeziefers. Einen Augenblick war er geneigt, der Versuchung nachzugeben, Rogai allein weiterreiten zu lassen. Aber dann überlegte er es sich anders und hieb seinem störrischen Reittier die Absätze in die Seiten, um es zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Der Esel legte die Ohren an, setzte sich dann aber in Trab. Er spürte ein taubes Gefühl in den Beinen. Er hatte den Zauberspruch zur Verwandlung von Gestalten erst dreimal zuvor angewendet, einmal davon aus reinem Zufall, als er übte; aber er wußte, was dieses taube Gefühl zu bedeuten hatte: der Zauber verlor seine Wirkung. Er beugte sich nach vorn und umschlang den Hals des Esels fest mit beiden Armen. Das taube Gefühl kroch jetzt von den Beinen her langsam durch den ganzen Körper. Zu seinem Unglück war der Esel ein intelligentes Tier. Airar spürte, wie er den Kopf herumwarf, um einen Haselnußstrauch, der am Weges-
rand blühte, abzuweiden. Airar schwanden die Sinne. Halb bewußtlos glaubte er noch wahrzunehmen, wie jemand schrie, »Da ist er!«, dann sah er wie durch einen Schleier, daß von der Seite und von vorn Männer auf ihn zugerannt kamen, die hinter den Felsen auf ihn gelauert hatten. Sein einziger Trost war, daß Rogai jetzt dasselbe fühlen mußte; wenn er seine Geschwindigkeit beibehalten hatte, dann war er sicher vom Pferd gefallen. Zwei der Gestalten waren jetzt herangekommen; sie sahen sehr behaart aus. Sie griffen dem Esel in die Zügel und warfen dem Reiter eine Art Decke, die entsetzlich nach Fisch stank, über den Kopf. »Das ist bestimmt der Zauberer«, rief einer. »Schaut doch, wie sehr er sich verändert hat!« Man zerrte ihn vom Esel auf die Erde hinunter. Er strampelte mit Armen und Beinen. Die Männer verhielten sich dabei sehr ungeschickt; sie taten es mit einer Art roher Sanftheit. Wäre er nicht so schwach gewesen, hätte er sich ohne weiteres losreißen und die Flucht ergreifen können. »Keine Angst, wir tun dir nichts«, sagte einer der Männer. Vier an der Zahl packten ihn an Armen und Beinen und trugen ihn den Abhang zum Strand hinunter. Dort ließen sie ihn nicht gerade gefühlvoll mit dem Hinterteil voran auf einen Felsen plumpsen. »Keine Angst, junger Herr, wir tun dir nichts«, wiederholte der Anführer und zog ihm die Decke, die ohnehin fast völlig zur Seite gerutscht war, vom Kopf. »Du siehst ja nun, daß wir dich nicht verletzen wollen, ebensowenig wie den anderen; du kannst mir nichts Böses nachsagen.« Airar spie eine Fischschuppe aus und verzog das
Gesicht zur Grimasse. Er versuchte, sich zu erheben. Die Männer halfen ihm auf die Beine, hielten ihn aber an den Armen fest. »Warum nehmt ihr mich gefangen?« schrie er. »Ich werde nicht in die Dienste von Fabrizius eintreten!« (Er hatte keine andere Erklärung für diesen Vorfall, als daß es ein Trick dieses elenden Schurken war, ihn auf See zu bekommen, wie er es ja von vornherein beabsichtigt hatte.) »Mag es sein, wie es will«, sagte der andere und schüttelte seinen bärtigen Kopf, »aber wir bringen niemand zu Herrn Fabrizius oder zu irgendwelchen anderen Herren, besonders keinen, der das da trägt.« Er berührte Airars Hand, und als der Erbe von Trangsted hinunterblickte, stellte er fest, daß Meliboës Ring, sei es durch seinen eigenen Zauber oder durch eine andere geheimnisvolle Kraft, wieder zu Eisen geworden war. »Wir sind freie Fischer, und unser Anführer will dich sehen. Steig jetzt in das Boot.« Airars Gedanken waren jetzt wieder ganz klar, aber seine Muskeln fühlten sich noch immer so schlaff wie trockenes Gras. Er blickte sich um und schaute in Gesichter, die ihn mit einem Ausdruck respektvoller Bewunderung anstarrten. Er mußte unwillkürlich darüber nachdenken, was Erziehung bei einem Menschen alles bewirken kann. Er grinste. »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.« Mit Hilfe eines der Männer kletterte er in die Schaluppe, die unmittelbar neben einem Felsen festgemacht war.
6 Die Iulia: Die erste Mär von der Quelle »Dort unten hinein«, sagte der bärtige Mann, wobei er auf ein Loch zeigte, dem ein Geruch entströmte, der einer Landratte den Magen umstülpen konnte. Airar hätte nicht gedacht, daß das Boot auf Deck so sauber war und unter Deck so muffig. Es war von einem Typ, den man Iulia nannte. Unten gab es einen Gang mit einer offenstehenden Tür, hinter der er im Schein des Lichtes, das durch ein Fenster im Heck fiel, einen Tisch erkennen konnte. Airar trat ein und stand, wie er schon erwartet hatte, vor Rudr, dem freien Fischer. Dieser erhob sich von einer Bank, streckte Airar die Hand zum Gruß hin und deutete auf einen Platz gegenüber seinem eigenen. »Seid willkommen, Herr Magier.« »Es heißt, Gefangene sind dem, der sie gefangen hat, immer willkommen«, entgegnete Airar. Ein gereizter Ausdruck trat auf das Gesicht des Fischers. »Ihr könnt es nennen, wie Ihr wollt, jedenfalls kommt Ihr mit, um zu sehen, wie wir Leben gerettet haben. Diese Betrüger aus Mariupol haben ihre Mäuler immer offenstehen wie Karpfen, und sie werden noch lernen (whuff), daß man das mit dem alten Grafen nicht machen kann. Man nennt ihn unvernünftig, und das ist er auch, aber dumm ist er nicht. Und darum will ich nichts mit diesem kläglichen Aufstand zu tun haben, und ich will auch nicht zulassen, daß Ihr was damit zu tun habt (gruff).« »Ich danke Euch zutiefst«, sagte Airar, wobei er sich bemühte, seinen Worten einen möglichst ironi-
schen Klang zu geben. »Viel Aufhebens wegen eines Fremden.« Rudr richtete den Blick auf einen Punkt oberhalb von Airars Kopf, trat zur Tür und brüllte mit einer bemerkenswert voluminösen Stimme: »Anker lichten! Ruder klarmachen!« Bald darauf ertönte rhythmisches Schlagen, und Airar spürte, daß sich das Schiff vorwärts bewegte. Rudr setzte sich wieder hin. »Wir freien Fischer sagen, daß der Wind auf alle blasen muß, um einen anzupusten (mmf). Nun... um ehrlich zu sein: Wir wollen was von Euch, nämlich, daß Ihr uns von der Seedämonenbrut befreit. Bis jetzt war Doktor Meliboë unser Mann dafür, aber dem trauen wir nicht mehr über den Weg, nachdem wir gehört haben, was Ihr da vor zwei Nächten erzählt habt, und nach dieser Sache mit dem geplanten Aufstand von Mariupol (puff). Wenn Ihr das für uns tut, soll's Euer Nachteil nicht sein, und außerdem haltet Ihr Euch aus diesem Aufstand heraus, der sowieso baden geht. So, das wäre es, was ich Euch zu sagen habe – klar und deutlich und rundheraus, wie bei uns freien Fischern üblich. Was meint Ihr dazu?« Airar konnte sich noch gut daran erinnern, daß der Fischer gar nicht so klar und deutlich gewesen war in jener Nacht, als er einen ganz anderen Grund dafür angegeben hatte, warum er sich der Revolte nicht anschließen wollte. »Ich sage, Schande über alle, die zusehen, wie sich der Geflügelte Wolf mit gezogenem Schwert erhebt, und nicht mitmachen wollen.« »(Whuff) Wir haben junge Männer, wie Ihr einer seid, auf unseren Inseln, die ziehen bei Wind und Wetter auf Walfang, und dann muß ich hingehen und ihren Mädchen sagen, daß sie ertrunken sind. Habt
Ihr ein Mädchen?« »Nein.« »(Grmff) Dann seid auf der Hut. Ihr seht aus wie einer, der Glück hat, und glückliche Männer sollten Obacht geben; das nämlich macht ihr Glück aus Nur die völlig Selbstsüchtigen können sich's leisten, tapfer zu sein.« Airar schien dies ein törichtes Argument, aber er gab keine Antwort darauf, sondern saß einfach da und schwieg, während Rudr ihn anstarrte und in regelmäßigen Abständen geräuschvoll durch die Lippen blies. »Freilich«, fuhr er schließlich fort, »ich will nicht versuchen Euch zu überreden. Wir freien Fischer sagen immer, ein Mann soll seine eigenen Gedanken haben, und die Welt und Kaiser Auraris können ihm den Buckel runterrutschen. Es hat wohl auch nicht viel Sinn zu versuchen, Euch Zauberer zu was zu zwingen. Ihr braucht bloß Hokuspokus-Fidibus zu sagen, und schon habt ihr unsereins mit euren Zaubertricks gefangen wie einen Krebs im Topf (wmff). Aber ich will Euch einen fairen Handel anbieten, von Mann zu Mann, auch wenn Ihr nicht glaubt, daß ich Euch meinerseits was bieten kann. Ich bin ein alter Mann, der einige Könige hat kommen und gehen sehen, und ich weiß, daß diese Sache mit Mariupol unter einem schlechten Stern steht. Es kann Euer Leben bedeuten, daß Ihr da raus seid. Steht uns bei in der Sache mit den Seedämonen, bis der nächste Neumond kommt. Wenn diese Zeit um ist, setze ich Euch an einer Stelle Eurer Wahl an Land, zusammen mit einer Gruppe von fünfzig meiner Leute, voll bewaffnet, die Eurem Befehl unterstellt sind und vom lan-
gen Erb angeführt werden. Was sagt Ihr dazu?« »Daß dies fürwahr ein wundersamer Sinneswandel ist. Gerade noch sah die Mariupol-Sache so hoffnungslos aus, daß es sich nicht lohnte, auch nur einen Mann dafür zu opfern, und jetzt wollt Ihr gleich fünfzig davon ins Feuer werfen!« »So ist es (whuff, whuff). Ich sagte, Ihr seid ein Mann von Glück, und das sage ich noch immer. Kein Zweifel; wenn Mariupol sich den Schädel einrennt, dann wird der alte Herzog Roger das Banner erheben und Kämpen um sich scharen.« Er lehnte sich zurück und Airar sah zu seinem großen Erstaunen, daß ihm eine Träne über die runzlige Wange rollte. »Unser Land – unser Meer – sie sind nichts wert, wenn Dalekarlien unter der Last des Berges ächzt. Ha, und mit den Gilden von Mariupol und den TingeltangelSchwerttänzern aus dem Süden schafft man diesen Berg nie aus dem Weg; und meine Leute hier kriegen das ganze Elend zu spüren, wenn Mariupol zusammenbricht, denn es ist die Angst vor der Revolte, die Graf Vulk in gewissen Schranken hält. Aber der alte Graf wird nicht wagen, zu weit zu gehen, wenn wir ein Bündnis mit Herzog Roger haben, aus Furcht, daß alle freien Fischer sich anschließen. Fünfzig Mann, um die anderen zu retten...« Seine Stimme sank zu einem unverständlichen Murmeln herab. Airar ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, wie man einen Bissen Fleisch im Mund hin und her schiebt, und er konnte keinen anderen Geschmack feststellen, als den von echtem Fleisch. Ein ganz leichter, bitterer Beigeschmack war jedoch zu spüren, als ihm wieder einfiel, wie Rudr vor der Versammlung des Eisernen Rings nicht so ganz den wahren Grund angegeben
hatte. Fünfzig Leute, und er ihr Befehlshaber! Er hatte Selbstbewußtsein genug zu glauben, daß er ein guter Führer war, und der Gedanke daran verscheuchte auch seinen letzten Zweifel. Er wußte genau, daß sein Gesicht ihn verriet, als er fragte: »Warum ich?« Ihm fiel ein, daß er dieselbe Frage auch schon dem Zauberer Meliboë gestellt hatte. Draußen ertönten Rufe; die Iulia begann nun, da sie die schützende Bucht verlassen hatte und in die offene See hinausglitt, sanft zu schaukeln. Der Führer der freien Fischer blinzelte dreimal, wie jemand, der aus einem Tagtraum erwacht, dann schaute er Airar mit einem so breiten Gesichtsausdruck an, daß es schon fast ein Grinsen war. »Weil Ihr keiner von uns seid, junger Herr. Wenn es darum geht, herauszufinden, welches die richtigen Fischgründe sind, oder wenn es sich um den Bootsbau handelt, dann läuft alles zum besten, wenn wir freien Fischer uns an unseren alten Brauch halten, daß jeder genausoviel weiß wie alle anderen; aber nicht, wenn es gilt, das Schwert zur Schlacht zu erheben. Und die freien Fischer wollen ebensowenig von jemandem geführt werden, der nicht besser ist als sie selbst, wie ihr Bauern aus Västmanstad das wollt. Eure Aufgabe, junger Mann, ist es, Euch zu ihrem Herrn zu machen, indem Ihr mehr wißt als sie.« Er erhob sich, stellte sich breitbeinig hin, um das Schwanken des Schiffes auszugleichen, und holte aus einem Schrank hinter sich eine schwarze Flasche und zwei Zinnbecher. »Wir sind uns also einig. Auf den Ring!« Er hob den Becher, und Airar stand auf, um mit ihm anzustoßen. Diese Fischer waren, fand Airar, gar nicht so anders als sein eigenes Volk; vielleicht waren sie nicht
ganz so gastfreundlich und ein wenig wortkarger, aber vielleicht nur deshalb, weil sie wegen seiner magischen Fähigkeiten respektvoll zu ihm aufschauten. Das war zu Hause, in Västmanstad, nie der Fall gewesen, wo es nur wenige Kobolde gab und viele Leute, die sich auf einfachere Zauberei verstanden. Vielleicht lag es auch daran, daß das ständige Schwanken des Schiffes ihn schwindeln machte, so daß er nicht so jungenhaft, sondern gesetzter erschien als sonst. Eine leichte Brise kam nun von den Bergen her, nicht genug, um das kleine Schiff oder seine Schwestern kräftig voranzutreiben, doch Airar war beeindruckt von deren Schönheit, und wie sie so sanft auf und ab wogten, schienen sie ihm wie erhabene Damen in ihren leuchtendhellen Kleidern aus Segeltuch, und das Kronsegel war ihr Mieder. Es ging nun auf Sonnenuntergang zu, und das Spanhävid-Gebirge war jetzt nur noch ein Schatten tiefdunklen Blaus am Grunde des kaltblauen Himmels. Der Wind wurde stärker, und die Damen wurden zu stattlichen Matronen mit wogenden Brüsten und Hinterteilen aus schwellenden Segeln. Die Lichter wurden gelöscht; Airar war froh, daß er hinuntergehen und sich auf eine Bank räkeln konnte. Auf einem Rundstein flackerte ein wärmendes Feuer. Die Fischer schenkten zu seinen Ehren von dem süßen Wein ein, den sie aus den Zwölf Städten importierten. Dieser wurde mit einem heißen Eisen erhitzt; er spendete herrliche Wärme. Bald waren die Zungen gelöst, und man sprach über dieses und jenes, Airar wollte wissen, wie die Fischer zu ihrem ungewöhnlichen Freibrief gekommen waren. »... Ein Erbe aus dem Silbernen Zeitalter (sagte ei-
ner, und niemand widersprach ihm), als Argentarius König war, vor der Zeit, als das Haus sich golden oder kaiserlich nannte. Das war, als die Heiden noch das Land heimsuchten, und von ganz Dalekarlien hatte der König nur die Herrschaft über Mariola und Västmanstad – mehr nicht; der siebente Vulk hielt sich in seiner Feste Briella tapfer wie ein Adler gegen den Feind, und er und die Männer aus den nördlichen Provinzen waren gute Freunde. Dieser Argentarius war ein wackerer Soldat, sonst wären wir jetzt nicht hier... keiner von denen, die an der Quelle trinken! Er schlug die Heiden mit eiserner Hand nieder und entriß ihnen ganz Skogalang, aber man muß sagen, daß seine Taten mit einem Fluch behaftet waren; gewann er hier eine Schlacht, verlor er dort eine andere, kaum hatte er den Rücken gedreht. Zu jener Zeit war Stavorna eine freie Stadt, die von drei alten Syndizi regiert wurde: Astli, Bekar... und wer war der dritte?... Derrivont, das war sein Name. Sie waren die weisesten Männer in Korsor, vielleicht sogar in ganz Dalekarlien; von diesen dreien wiederum war Astli eindeutig der weiseste; so klug war er, daß er sogar die Sprache der Vögel verstand. König Argentarius erhielt den Rat, ihn nach Stassia zu holen, als Berater an den großen Hof. Astli aber wollte das nicht, und mitten in den größten Kriegswirren machte sich Argentarius selbst auf den Weg nach Stavorna, um ihn um Rat zu bitten – ein großes Wunder, war er doch ein gekrönter König.« »Ich glaube, ich kenne diese Geschichte«, sagte Airar. »In Västmanstad erzählt man schon den Kindern die Geschichten vom Königshaus und von der Quelle.«
»... Nein, nein, bestimmt nicht so, wie wir sie kennen, die wir alles selbst erlebt haben«, riefen sie. »Hör nur weiter zu.« Der Erzähler fuhr fort. »... Dieser Astli lebte in einem kleinen Haus nahe beim Stadttor. Er empfing den alten König freundlich, so wie jeden anderen auch, der zu ihm kam und ihn um Rat bat, und er bewirtete ihn mit Nüssen und Wein. Argentarius trug ihm die ganze Sache vor, ohne etwas zu verheimlichen – so, wie er zum Beispiel eine Stadt an der Grenze zu Skogalang einnahm und die Heiden einen Einfall in die Weißflußtäler machten oder wie er von einem noch nicht beendeten Kriegszug zurückgerufen wurde, um sich mit Piraten aus den Zwölf Städten herumzuschlagen. Als er geendet hatte, schaute ihn der Weise lange an und sagte: ... Es gibt ein Heilmittel für all dies. Es ist eine beschwerliche Reise dorthin, aber ich habe gehört, daß, wenn ein gekrönter König zur rechten Stunde von der Einhornquelle trinkt, sein Königreich und er selbst auf immer Frieden haben werden. ... Aber was für eine Art Friede? schrie da Argentarius: Kann ich es Frieden nennen, wenn halb Dalekarlien, welches das Königreich meines Großvaters war, unter dem Joch der elenden Heiden schmachtet und junge Mädchen als Tribut zahlen muß? ... Da fragte der alte Astli: Ist das schlimmer als der Tribut an jungen Männern, den du jetzt zu zahlen hast; die du sterben läßt in Schlachten, die niemals ein Ende haben? Der Mensch gewöhnt sich an vieles, und es ist das klare Versprechen der Quelle, daß du bis ans Ende deiner Tage in Ruhe und Frieden leben sollst... Dann wird dieses Ende eher früher als später sein, antwortete da der König; denn ich werde weder Ruhe noch Frieden haben, solange Dalekarlien unter
der Fremdherrschaft leidet. Ich bin nicht hierhergereist, um mir sagen zu lassen, was ich selbst schon wußte. ... Aber es ermangelt dir an der Macht, eine bessere Lösung zu finden; es fehlen dir sowohl Männer als auch Führer dazu, war Astlis Antwort. Nun, dann kann ich dir nur raten, dich mit deinem Nachbarn, Damastétil von Scroby, zu verbünden. Er kann fünfzig Barone ins Feld führen, von denen ein jeder große Scharen von Reitern mit Lanzen im Gefolge hat, ganz zu schweigen von seinem Hauptmann, Graf Mikal, der ein ebenso tapferer Recke ist wie du und der dir wie ein Bruder den Rücken stärken könnte. ... Ich habe es versucht; er fordert mein Herz als Preis, sagte Argentarius und schaute betrübt zu Boden. Nur zu gut kannte er Damastétils Preis für ein Bündnis: die Heirat mit dessen einzigem Kind, Kry, nicht jung und auch keine Schönheit, mit dunklem Gesicht und schwarzem Haar, was sie immer so erscheinen ließ, als habe sie sich nicht gewaschen. Es war dies die Hinterlassenschaft ihrer Mutter, einer Prinzessin aus Uravedu. Es hieß, daß Graf Mikal in Liebe zu ihr entbrannt war; warum, verstand niemand, aber es mußte wohl wahr sein, denn welchen anderen Grund hätte es für einen bewährten Hauptmann wie ihn geben sollen, bei Hofe zu verweilen? Der alte Herzog Damastétil war ein wenig töricht zu jener Zeit; er hatte nichts anderes im Kopf als seine Tochter und die Ehe, die sie eingehen sollte. Eine königliche Ehe sollte es sein, war sie doch seine einzige Erbin. Er hatte schon Mikal und vielen anderen die Hand seiner Tochter verweigert, obwohl er ihr in allen anderen Dingen jeden Wunsch von den Lippen ablas. Er hielt niemals einen Rat ab, ohne daß sie ne-
ben ihm saß, und am Ende pflegte er mit einem Lächeln zu sagen: Und was denkt meine kleine Prinzessin darüber? Beide Männer wußten das; der Weise schwieg noch immer, und nach einer Weile sagte Argentarius mit gequälter Stimme:... Wenn man sein Wort gibt, muß man es halten, und die Ehe ist der höchste Ausdruck der Liebe; so hat es mein Vater mich gelehrt. ... Ich habe gehört, daß du an das Volk gedacht hast, antwortete Astli, woraufhin König Argentarius ihn ohne Wort verließ. Später jedoch sandte er ihm Geschenke, was als eine königliche Geste betrachtet wurde; und Tholo Langkinn warb für König Argentarius bei Herzog Damastétil um die Hand von Kry. Was aber nicht in der Geschichte enthalten ist, wie die meisten Leute sie gehört haben: als König Argentarius den Raum des Syndikus verließ, stieß er mit einem Mädchen zusammen, das gerade neuen Wein hereinbringen wollte. Die Kanne mit dem Wein fiel zu Boden und zerbrach. Da er ein sehr höflicher König war, entschuldigte er sich bei dem Mädchen und half ihm mit, die Scherben aufzusammeln. Dabei blickte er ihr zum erstenmal ins Gesicht und sah, daß sie blond, groß und von wunderbarem Liebreiz war. Es war Astlis Tochter, Lanheira. Es besteht in Dalekarlien kein Mangel an ebenso schönen Mädchen; vielleicht kam sie ihm nur deshalb so besonders schön vor, weil er eben noch an die kleine, dunkle, krummbeinige Kry gedacht hatte. Seine Hand berührte die ihre, als er sich niederbückte, um eine Scherbe aufzuheben, und in diesem Augenblick war ihm, als liefe Feuer durch seine Adern und begänne eine Flamme in ihm zu lodern.
Aber er riß sich zusammen und eilte davon. Bald darauf nahm er Kry zur Frau. Er lehnte es jedoch ab, bei der Hochzeit mit ihr an der Quelle des Einhorns zu trinken, was damals Brauch war bei den Königen von Stassia. Denn er fürchtete, daß dies seinen Tugenden als Krieger schaden würde. Sicher glaubt Ihr, junger Zauberer, daß Ihr die Geschichte des Königshauses gut kennt, aber wir hier von den Gentebbi-Inseln kennen sie besser, denn Königin Kry kam hierher, um ihre Niederkunft zu erwarten; sie lebte in dem alten Haus hinter dem Hügel von Vagai. Wie alle von uraveduschem Blut besaß auch sie magische Kräfte. Sie war eine kurzangebundene, wortkarge Frau, und oft sah man sie des Nachts am Strand. Es hieß, sie spräche dort mit den Fischen, und manche wollen auch gesehen haben, daß blaue Flammen in ihrer Umgebung flackerten. Das war, nachdem Argentarius mit ihr die Nacht verbracht hatte, um für den Fortbestand des Hauses zu sorgen... Ihr versteht schon... und sie war irgendwie verändert; zwar noch immer herrisch, aber auf ganz andere Art als vorher. So, wie sie einst Scroby im Namen ihres Vaters regiert hatte, so regierte sie nun den Haushalt in Vagai; sie überwachte persönlich jede noch so kleine Ausgabe und paßte auf, daß nicht ein Kupferainar zuviel bezahlt wurde; und ständig hielt sie die Leute an, das Haus mit neuen Bäumen und Sträuchern zu verschönern. Die Menschen von Gentebbi waren glücklich in jenen Tagen; sie war trotz all ihrer seltsamen Eigenschaften und Geheimnisse freigebig und freundlich. Etwa eine Woche – nicht mehr – war vergangen, seit die letzten Heiden bei Lectis Maxima von den Klippen geworfen wurden, als König Argentarius
seinen Fuß wieder nach Stavorna setzte, wo er das Haus von Astli betrat. Der erste Mensch, dem er begegnete, war Lanheira; sie stand da und lehnte am Tor. Sie sah aus, als sei sie eben erst aus dem Haus gekommen, nachdem sie mit ihm zusammen die Scherben weggeräumt hatte. Selbst das Kleid, das sie trug, war dasselbe. Vielleicht hatte sie eine Vorahnung gehabt, daß er in eben jenem Moment kommen würde. Wer weiß? Jedenfalls zeigt dies, daß selbst ein König einer Frau, die einen bestimmten Wunsch hat, nicht gleichkommen kann an Witz und Verstand... Seid willkommen, sagte sie; drei Jahre sind vergangen, seit wir uns zuletzt sahen... Zu lange, erwiderte er und schritt ins Haus, um mit dem Syndikus zu sprechen. Und als sie zusammensaßen:... Wann endlich kommt der Tag, rief der König, da meine Pflicht erfüllt ist? Bin ich der einen Verpflichtung nur entkommen, indem ich eine andere eingegangen bin? Astli sagte nichts, sondern saß sinnend da und trank aus seinem Becher. Nach einer Weile sprach er: ... Vagai ist so günstig in der Blauen See gelegen, genau zwischen Stassia und Dalekarlien, daß es hervorragend dazu geeignet ist, die Hauptstadt beider Reiche zu sein, es ist ein wunderschöner Ort, an dem zwei, die von der Quelle getrunken haben, in Frieden und Eintracht leben könnten. ... Aber was für ein Friede? rief da Argentarius, dieselben Worte gebrauchend wie schon beim letztenmal. Mit der Hexe da habe ich nur Frieden, wenn ich ihr das gebe, was ich ihr schon lange nicht mehr geben kann; nämlich die Liebe meines Herzens. Als er sah, daß der alte Mann noch immer schwieg, schrie
er: Gibt es denn keinen anderen Ausweg, wie beim letztenmal?... Wir reifen dadurch, daß wir immer härtere Probleme lösen, sagte Astli, aber ich kann dir das nicht sagen. Vielleicht kannst du die Frage selbst beantworten, wenn du dich entschieden hast, ob du mehr König oder mehr Mann bist. ... Eine Königswürde kann man ablegen, sagte Argentarius; Graf Mikal... und dann, als er sah, daß Astli lächelte:... Nein, du hast recht, er wollte in jeder Hinsicht ihr Mann sein. Ist denn nichts rein auf der Welt? Astli, der Syndikus, gab immer noch keine Antwort, und König Argentarius ging fort; aber als er hinunterging nach Lectis Minima, da nahm er Lanheira mit. Die beiden lebten dort mehr als ein Jahr in Prunk und Frohsinn zusammen und waren einander sehr zugetan. Sie schenkte ihm einen Sohn, den sie Morkar nannten. Doch schon bald erreichte den König die Nachricht, daß Permandos mit Baboi im Krieg lag und Schiffe beider Seiten die der beiden Königreiche kaperten, um sich Geld für ihre Schlacht zu beschaffen. Argentarius traf blitzschnell wie immer seine Entscheidungen: Er stach sofort mit allen zur Verfügung stehenden Männern in See und hinterließ eine Nachricht für die Barone von Stassia, sich mit ihm auf See zu treffen. Lanheira sollte nachkommen; er wollte mit ihr im Hohen Hause von Stassia zusammentreffen, sobald der Feldzug beendet war. Kry wußte von alledem, denn die Schiffer von Gentebbi mußten Schiffe liefern, um die Mariolaner in das Kriegsgebiet zu bringen. Kry scharte ihre Gefolgsleute um sich, größtenteils blaugesichtige Männer aus Uravedu, und stach in See, als Lanheiras Schiff fällig war. Wohl mit Hilfe ihrer magischen Kräfte gelang es ihr, das Schiff
bei den Riffen vor der Naarmündung aufzuspüren. Etwas Schreckliches geschah: Sie ließ alle, die auf dem Schiff waren, töten, außer Lanheira und ihren Sohn, die man ins Meer warf. Dann ließ sie das Gerücht in Umlauf setzen, Piraten von Permandos hätten die Tat begangen, so daß die Schuld auf jene geschoben wurde, die ohnehin schon mit dem König in Fehde lagen. Bei den Riffen vor der Naarmündung liegen die besten Fanggründe. Und so kam es, daß einige unserer Männer aus Vagai, die dort gerade fischten, auf das treibende Schiff mit den toten Männern stießen. Ein wenig von dem Schiff entfernt trieb etwas Helles im Wasser: Lanheira. Es war ihr gelungen, sich über Wasser zu halten; das Kind hatte sie in ihren Mantel gewickelt. Es war Winter, und sie starb bald darauf. Vor ihrem Tod erzählte sie jedoch die ganze Geschichte. Es heißt, daß König Argentarius, als ihm diese Kunde überbracht wurde, mit niemandem mehr sprach. Er kam bald darauf nach Vagai und hielt dort auf dem großen Platz Gericht. Er fragte die Königin, warum sie eine solch schlimme Tat begangen hatte. ... Meine Liebe war dir gleichgültig, mein Haß aber soll dir nicht gleichgültig sein. Es ist ein guter, ein starker und abgrundtiefer Haß; du, der du nicht mit mir an der Quelle trinken wolltest, sollst Könige und Kaiser als Nachkommen haben, aber sie werden alle hohl und wertlos sein; sie sollen auf einen Frieden trinken, den sie niemals erlangen, und auf einen Ruhm, der niemals der ihre ist! Und diese Fischer hier, die mich verraten haben trotz meiner Güte, die ich ihnen habe zukommen lassen, sie sollen die lachende Furcht von der Hand der Seedämonen zu spüren bekommen.
Sie ließen sie noch ihr Haar kämmen, und dann schnitten sie ihr die Kehle durch. Uns freien Fischern aber garantierte Argentarius auf alle Zeiten besondere Freiheitsrechte. Graf Mikal zog sich vom Hofe zurück und baute sich ein Schloß an der Grenze von Micton; von ihm stammt die Linie von Os Erigu ab. Und dies ist die wahre Geschichte, so wie mein eigener Großvater, Gyior der Graue, sie mir überliefert hat.« »Und Morkar?« fragte Airar. »Oh, das war eine schlechte Linie. Er und sein Sohn wurden als Piraten von den Kaufleuten von Lothai gehenkt, zu Aurunculeius' Regierungszeit. Laßt uns an Deck gehen; dem Lärm nach nähern wir uns Vagai.«
7 Noch einmal die Iulia: Geschenke werden ausgetauscht Der Mond war aufgegangen. Sie glitten in die Hafeneinfahrt, über der sich die Front von Vagai wie eine schlafende Sphinx erhob, die mit ausgestreckten Klauen das Hafenbecken umspannte Das Wasser im Innern des Hafenbeckens war glatt wie ein Spiegel, nicht der leiseste Wind kräuselte die Oberfläche. Die Fischer legten sich wieder in die Riemen. Das bleiche Mondlicht fiel auf die Vorderseiten der Häuser, die unmittelbar hinter der Kaimauer steil in die Höhe ragten, und ließ sie zweidimensional erscheinen, so daß es aussah, als trüge jene schlummernde Sphinx eine Schürze. »Dort hinter dem Hügel«, sagte der Mann, der die Geschichte erzählt hatte und machte eine Handbewegung. »Das Haus ist jetzt nicht mehr bewohnt.« Airar antwortete nicht. Er begann langsam wieder, sich wie er selbst zu fühlen; die Wirkung des Zaubers war verflogen, aber die späte Stunde und der Übergang von warmer Plicht zu kaltem Deck bewirkten, daß er gähnen mußte. Die Ruder klatschten auf das Wasser, die Männer hatten die Kronsegel herunter, und am Kai erblickte er mehrere Gestalten, die offenbar die Ankunft der Fischer erwarteten. Sie standen völlig unbeweglich da und redeten nicht miteinander; im trügerischen Licht des Mondes wirkten sie wie kleine Kinder. Airar deutete auf die Gestalten und öffnete d e n Mund, um etwas zu sagen; im selben Moment erblickte
sie auch Rudr. »Seedämonen!« schrie er mit gellender Stimme. »Ruder hart Backbord! Riemen raus! Riemen raus!« Airar hörte, wie der Steuermann sich fluchend auf das Ruder warf; erregtes Stimmengemurmel wurde laut, als die Mannschaft das Segel herunterholte. Im selben Moment waren die kleinen Gestalten schon von der Kaimauer gesprungen und schwammen auf das Schiff zu. Sie kamen blitzschnell voran, die Köpfe hoch aus dem Wasser gereckt, fast ohne eine Wellenbewegung zu machen. Airar tastete nach seinem Zauberbuch. Mit Schrecken stellte er fest, daß es unter Deck war – in seinem Bündel. Eine Luke schlug mit lautem Knall zu, und jemand schrie wie von Sinnen: »Nein, nein, laßt mich rein!« Gleich darauf kam auch schon ein Seedämon über eines der ins Wasser hängenden Ruder an Bord geklettert und sprang mit ausgestreckten Armen auf den Unglücklichen zu, den man gerade ausgesperrt hatte. Der Mann versuchte wegzulaufen, aber die Gestalt hinter ihm war schneller und bekam ihn auf dem Vorderdeck zu fassen. Der Fischer stieß einen entsetzlichen Schrei aus und verfiel dann in ein irres Lachen. »Komm rein!« rief Rudr aus dem Innern der Kabine Airar zu. Dieser aber ergriff statt dessen einen der Fischspeere aus einem Gestell am Mast und warf sich dem zweiten Seedämonen entgegen, der gerade über die Reling geklettert kam. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte er eine platte, niedrige, triefendnasse Stirn, glühende Augen, ein Paar ausgestreckter Arme mit schwimmflossenartigen Händen, die nach ihm greifen wollten – dann stieß er den Speer in den Hals des Monsters, wobei er schrie (das
war alles, was ihm in dem kurzen Moment noch einfiel): »Ia ada; ada perdidi! Hinfort mit dir!« Die kurzen Arme schafften es nicht mehr, ihn zu umklammern, und Airar trieb seinen Speer mit aller Kraft tief in die Kehle der Bestie. Doch ihre Hände berührten ihn noch ein wenig am Ellbogen, und eine Welle so entsetzlicher Todesangst raste durch Airars Körper, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Gleichzeitig begannen seine Gesichtsmuskeln wie wild zu zucken. Mit einem eher unwillkürlichen als bewußt gesteuerten Ruck zog er den mit Widerhaken besetzten Speer aus dem Körper des Scheusals heraus; eine schwarze Fontäne kalten Blutes schoß aus der Wunde und bespritzte ihn über und über; im selben Moment sackte das Monster in sich zusammen. Airar schaute sich um. Die Seedämonen schienen verschwunden zu sein; weit und breit war nichts zu sehen als das kleine Geschwader, das steuerlos, mit hängenden, halb eingeholten Segeln im Schein des Mondes dahintrieb. Auf dem Vorderdeck stand der Fischer, den der erste Dämon zu fassen gekriegt hatte. Er hielt die Arme um den Mast geklammert, seine Füße trommelten in wildem Tanz auf die Decksplanken. In rasch aufeinanderfolgenden Abständen brach er in schallendes Gelächter aus, das jedesmal in einen grausigen Angstschrei überging. Von einem der anderen Schiffe ertönten wie Echos ähnliche Schreie; Airar blickte hinüber und sah, wie der Mann auf dem anderen Schiff in wildem Veitstanz über das Deck hüpfte und schreiend ins Wasser sprang. Sofort erstickte sein Schrei, und die Wellen schlugen über ihm zusammen. Den Mann, der den Mast umklammert hielt, packte
jetzt ein neuer Lachkrampf, er ließ los und begann, wie ein Wahnwitziger auf die Reling loszuhüpfen. Airar zögerte keinen Augenblick und sprang ihm nach, besudelt wie er war mit dem schwarzen Blut des Dämonen. Er nahm noch halb wahr, wie der alte Rudr ihm aus der halbgeöffneten Luke zurief: »Nein, nein, laß ihn! Es ist besser so!« Als der Mann gerade im Begriff war, über die Reling zu springen, bekam Airar ihn zu fassen; sofort schlang er seine Arme von hinten um den Oberkörper des Mannes. Er spürte, wie die Muskeln des anderen sich zu knotigen, zukkenden Wülsten zusammengezogen hatten; er hatte Bärenkräfte, und Airar mußte einen Arm um seinen Hals legen, um ihn zu bändigen. Plötzlich durchfuhr erneut ein heftiges, konvulsivisches Zucken den Körper des Fischers, so daß Airars Arm wie ein Schraubstock quer über Mund und Nase gepreßt wurde. Ein erneutes Zucken, und dann spürte Airar, wie der Körper des Mannes mit einemmal ganz schlaff wurde. Habe ich ihn erdrosselt? durchfuhr es Airar, und er ließ den Körper auf die Planken des Decks sinken. Erleichtert stellte er fest, daß sich die Barthaare des jungen Mannes um den Mund herum bewegten. Das Gesicht war von Airars Arm ganz mit dem schwarzen Blut des Dämonen beschmiert, das zu stinken begann. Der Mann hielt die Augen noch immer geschlossen. »Es ist Visto«, sagte eine Stimme hinter Airar. Er blickte über seine Schulter und rief wütend nach einem Eimer Wasser. Er war zutiefst empört, daß die Fischer ihren Kameraden so einfach im Stich gelassen hatten. Aus dem Hintergrund ertönte jetzt Rudrs Stimme, der seine Leute wieder an die Ruder befahl.
Als das Schiff drehte, fiel Mondlicht auf die kleine Gruppe an Deck. Airar drehte sich um und blickte Rudr an. »Hat wenig Zweck, junger Mann«, sagte der Anführer der Fischer mit ruhiger Stimme. »Wir haben schon mehrmals versucht, die Gefingerten zu retten, aber jedesmal wird ihr Körper taub, und sie sterben... aber es ist großartig, daß es dir gelungen ist, eine der Bestien zu töten. Das hat auf den Gentebbi-Inseln seit den Tagen von König Aurunculeius keiner mehr geschafft.« Airars Wut legte sich ein wenig, als er die Traurigkeit in der Stimme des alten Mannes bemerkte. »Mit Eurer freundlichen Erlaubnis«... (sein Ton geriet ihm ob seiner noch immer nicht verrauchten Wut recht bissig)... »mit Eurer freundlichen Erlaubnis will ich dennoch versuchen, ihn und mich wenigstens ein bißchen zu reinigen.« Er spritzte Wasser auf seine beschmutzten Kleider und formte seine Hände zu einer Schale, um Visto einen Schwall ins Gesicht zu schütten. Der Mann gab zwei rasselnde Atemzüge von sich, seine Augen flackerten, und er lachte zweimal bellend, fast hysterisch, bevor er erneut so zusammenzuckte, als müsse er sich übergeben. Airar stützte den Oberkörper des Mannes mit dem Arm ab und brachte ihn mühsam auf die Knie. Er übergab sich. Im selben Moment legte die Iulia mit einer leichten Erschütterung am Kai an. Airar fühlte, wie der Körper des Mannes sich entspannte und zitternd in seine Arme sackte. »Abgestorben soll er sein und tot?« schrie da der Sohn des Alvar. »Der Mann ist ganz einfach unterkühlt! Rasch, einen Mantel.« Doch bevor Mantel oder
Decke zur Stelle waren, preßte Visto die Handflächen gegen die Augen, ließ sie wieder sinken und kam taumelnd auf die Beine. Seine heftig schlotternden Glieder und klappernden Zähne gaben Airar recht: er war völlig unterkühlt. »Ich... ich bin wohlauf«, murmelte er leise, »gefingert zwar, aber wohlauf.« Er spannte sich und ließ die Hände über seinen Leib gleiten, als müsse er erst wieder ein Gefühl für seinen Körper bekommen. Bald darauf schritten sie die steilen, grob gepflasterten Straßen zur Stadt hinauf. Der Mond warf noch immer sein weißes Licht auf die Häuserfronten, die die Bucht umschlossen wie die Sitzplätze eines Amphitheaters. Nicht ein Fenster war geöffnet, und keine Menschenseele ließ sich auf der Straße blicken. An der Spitze der kleinen Gruppe schritt Visto, auf der einen Seite gestützt von Airar, auf der anderen von einem Mann mit schwarzem Bart – nach Airars Dafürhalten war es der Mann, der die Luke vor Visto zugeschlagen hatte. Leise raschelten die weichen Schuhe der Seeleute auf dem Pflaster; dann und wann fiel ein leises Wort. Nach einer Weile überholte Rudr die Spitze der Gruppe und blieb vor einem Haus stehen; er klopfte zweimal an der Tür, wartete einen Augenblick und klopfte dann erneut. Die Tür schwang mit einem Quietschen auf. Ein Mädchen stand im Rahmen. Es hielt eine der Bootslampen, wie sie aus den Zwölf Städten importiert werden, in der Hand. Das Mädchen, das stark nach Fischtran roch, war von dem seltenen Typ mit hellblondem Haar und dunklen, fast pechschwarzen Augen unter ebenso dunklen Augenbrauen. Kurz darauf saßen alle auf Schemeln und Strohhaufen um ein Feuer herum:
Rudr, Airar, Visto, der Mann mit dem schwarzen Bart und ein weiterer, den Airar noch nicht kannte. Er war hoch aufgeschossen und hatte einen riesigen Adamsapfel, der ständig nervös auf und ab hüpfte. Der Größe nach zu urteilen, konnte es der lange Erb sein. Das Mädchen brachte Met. Es war Rudrs Tochter Gython. Sie und Airar gaben sich die Hand; sie eher scheu und zurückhaltend, er kühn und selbstbewußt. Nach seinem Sieg über den Seedämon fühlte er sich stark genug, es mit Königen und Riesen aufzunehmen, und Rudr pries ihn in Gegenwart aller unaufhörlich als den größten Zauberer der Welt. Alle drängten ihn, noch einmal seine Heldentat zu erzählen. »Eigentlich hatte es gar nichts mit Zauberei zu tun« schränkte er ein. »Ich stieß ihm einen Fischspeer durch den Hais, und er fiel tot um.« »Aber dennoch packte Euch nicht die lachende Furcht!« rief Rudr. »Mann! Ich hörte, wie Ihr Zaubersprüche in den alten Sprachen der Heiden rieft.« »Woher wollt Ihr wissen, daß sie mich nicht packte, als das Monster mich am Arm berührte?« begehrte Airar auf und erschauderte. »Es war, als hätten alle Furien der Hölle mich gepackt, bis dann plötzlich...« Er verstummte abrupt und starrte die Umsitzenden mit offenem Mund an. »Bis plötzlich was? So sprecht doch weiter!« »Der Zauber! Es war überhaupt kein Zauber im Spiel! Im selben Moment, als das Blut des Ungeheuers mich berührte, war die lachende Furcht wie weggeblasen; und genauso war es bei Visto; denn als ich mich über ihn warf, beschmierte ich auch ihn damit. Schaut, Meister Rudr, da habt Ihr Euer Heilmittel...« Airar sah aus dem Augenwinkel, wie Visto zur Zu-
stimmung so heftig mit dem Kopf nickte, daß es aussah, als schwanke ein Apfelbaum im Winde. »Laßt einfach jeden, den noch einmal ein Seedämon fingert, mit dem Blut eines ihrer Kadaver bestreichen. So ist es bei allen Dämonen: ihre böse Macht wird durch ihren Tod vernichtet. Die finstere Zauberkraft ist so sehr wider alle Ordnung der Natur, daß sie ständig aufrechterhalten werden muß von jenen, die sie anwenden. Ich tat nichts anderes, als jene Worte zu rufen, die gegen Hexen schützen. Doch nun sollt Ihr Eurem Volk sagen, daß Königin Krys Fluch besiegt ist.« Rudr nahm einen Schluck von seinem Met. »Fürwahr; und Baron Vanette-Millepigue schickt uns allen Zuckerplätzchen, damit wir seinen Geburtstag feiern können, ha! Ihr macht es Euch ein bißchen zu einfach, Junker. Wer soll denn diesen Bestien ihren Saft abzapfen? Oder meint Ihr, sie lassen sich melken wie Milchkühe?« »Ihr braucht bloß einen klugen Führer und ein paar Leute, die gut mit dem Bogen umgehen können«, gab Airar bissig zurück. »Dann ist es ein leichtes, eines oder zwei dieser Ungeheuer aus sicherer Entfernung zu töten. Und wenn Ihr nur ein wenig von dem Blut habt, braucht ihr sie nie mehr zu fürchten.« Rudr antwortete nicht, sondern stieß nur ein ärgerliches Grunzen aus, und der lange Erb erklärte, es sei nicht üblich bei den freien Fischern, mit dem Bogen zu schießen, weder zur Jagd noch zur Verteidigung. Der freie Fischer sei dazu geboren, mit dem Handspeer zu kämpfen. Darauf mischten sich auch die anderen in die Unterhaltung ein, und bald redeten sie alle kunterbunt durcheinander über dieses und jenes. Da nun Airar alle die Männer, von denen die Rede war, nicht
kannte, verstummte er bald und begann, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Schräg gegenüber von ihm hockte Gython auf dem Fußboden. Der Saum ihres blauen Kleides lag wie ein Reif um sie herum und verdeckte ihre Beine. Der Widerschein des flackernden Feuers auf ihrem blonden Haar ließ sie wie eine köstliche Blume erscheinen. Fast die ganze Zeit über ruhte der Blick ihrer kohlschwarzen Augen auf Visto, und Airar wünschte sich, er wäre es, den sie so anschaute. Er schwelgte noch in dieser Vorstellung, als sie ganz leicht den Kopf wandte und ihr Blick den seinen traf. Und obgleich sie die Augen sofort wieder senkte, glaubte er, trotz der spärlichen Beleuchtung wahrgenommen zu haben, daß sie errötete. Er wandte sich für einen Augenblick dem Mann mit dem schwarzen Bart zu, der gerade etwas sagte, und wieder sah er aus dem Augenwinkel, daß sich ihr Kopf leicht bewegte und sie ihn anblickte. Aber es war wohl nur das flackernde Licht des Feuers und aus der Müdigkeit geborene Einbildung. Dazu tat die späte Stunde ein übriges, und der Zauber des Momentes würde verfliegen, wenn man nur den Finger hob. Bald darauf hieß es auch gute Nacht sagen, und alle begaben sich zur Ruhe. Als Airar mit dem Licht des neuen Tages erwachte, stellte er fest, daß Visto die Nacht vor seiner Tür verbracht hatte, in einen Mantel gehüllt. Im Laufe des Vormittags kam Rudr wieder zu ihm; er wollte seinen Zauberspruch gegen die Seedämonen haben und war nicht davon abzubringen. Airar versuchte zwar ihm klarzumachen, daß durch den Zauber jeweils nur ein Schiff gefeit war, und das
vielleicht nicht einmal auf Dauer, »... denn ich bin keiner von Euren mächtigen Magiern, nur ein kleiner Zauberer vom Oberland, den der Vater unterrichtet hat und der niemals einen solchen Spruch anwenden mußte, außer vielleicht einmal gegen kleine Kobolde, die uns manchmal ängstigen, wenn wir draußen im Walde schlafen. Es wäre besser, Eure Männer lernten, wie man mit einem Bogen umgeht oder mit einem Wurfspeer; so können sie sich sicherlich besser gegen die Quälgeister schützen.« »Abgemacht ist abgemacht«, erwiderte der Alte gelassen. »Da brauchen wir nicht mehr groß zu feilschen. Den fünfzig Männern, die ich Euch gebe, könnt Ihr meinetwegen das Bogenschießen oder das Lautespielen oder was immer Ihr wollt, beibringen. Ihr seid der Hauptmann – aber erst, wenn Ihr Eure Arbeit getan habt. Ich hätte nichts dagegen, wenn Ihr meinen Burschen gleich noch ein paar Zaubersprüche für ihren eigenen Bedarf beibringt.« Das Ergebnis dieser Unterredung war zwangsläufig, daß Airar kurz darauf mit seinem Buch auf Deck der Iulia erschien und sich an die Arbeit machte. Mit einiger Schwierigkeit kriegte er die Besatzung vom Schiff herunter (alle waren natürlich höchst neugierig und schimpften, Doktor Meliboë hätte sie nie so behandelt), dann stellte er seinen Drudenfuß auf den Stein, auf dem die Nacht zuvor ein Feuer gebrannt hatte. Kaum hatte Airar die ersten Zauberworte gesprochen, als er auch schon spürte, wie sich ein übler Zaubergeruch auf dem ganzen Schiff ausbreitete, stärker und tödlicher, als er ihn jemals erlebt hatte. Die magischen Gerüche schnürten ihm fast die Kehle zu und zerrten so sehr an seinen Eingeweiden, daß er
das Gefühl hatte, eine frisch geworfene Drachenbrut verschluckt zu haben. Er war nicht sicher, ob er das lange würde ertragen können, und mehrmals wollte er schon aufgeben. Aber es war ihm klar: Entweder stand er dies durch, oder es hieß zurück nach Naaros und sich Fabrizius unterwerfen. Er erhob jetzt den Zauber auf die zweite Stufe, und sogleich waren sie alle um ihn herum, entsetzliche Gestalten, die abscheulich jammerten und schrien. Sie standen direkt hinter der schützenden Figur und starrten ihn mit ihren garstigen Fratzen an, aus denen abgrundtiefe Bösartigkeit leuchtete. Mit Drohungen und Versprechungen versuchten sie, ihn einzuschüchtern und von seinem Vorhaben abzubringen. Zwar schützte ihn der Drudenfuß, aber das entsetzliche Gewimmer, das klang, als schabe jemand mit der Klinge eines spitzen Messers über Marmor, ging ihm durch Mark und Bein und trieb ihn fast zum Wahnsinn. Aber irgendwie schaffte er es, sich dagegenzustemmen und die Kraft des Zaubers noch zu verstärken. Die Angstschreie, die sich den garstig verzerrten Fratzen entrangen, wurden schriller und lauter, aber gleichzeitig spürte er, wie auch der Schutzwall um ihn herum sich verstärkte und das Schiff wie in einen schweren, grauen Vorhang gehüllt erscheinen ließ. Er konnte diesen Vorhang fast physisch wahrnehmen. Aus der Finsternis, die sich dahinter ausbreitete, drangen die Wut- und Angstschreie der Erscheinungen jetzt nur noch wie dumpfes Gemurmel zu ihm vor. Sein Körper war schweißüberströmt. Er konnte sich nun nicht mehr auf den Beinen halten und sank ermattet zu Boden. Er mußte lange in diesem erbarmungswürdigen Zustand dagelegen haben, denn als
man ihn an Deck trug (allein hatte er nicht mehr die Kraft dazu; es war ihm unter Aufbietung aller Kräfte gelungen, sich schließlich durch Klopfzeichen bemerkbar zu machen), stand die Sonne schon im Zenit. Halb bewußtlos nahm Airar wahr, wie ihn starke Arme an Deck trugen. Ein paar Fischer saßen an der Reling und ließen die Beine über Bord baumeln, wobei sie sich angeregt unterhielten; drei oder vier Kinder spielten laut lärmend Ritter; als Schilde benutzten sie die Schalen der Königskrabbe. Airar fühlte, wie sich die Haut über seinem Gesicht spannte, dann schwanden ihm erneut die Sinne. Als er erwachte, lag er in einem Bett. Neben ihm saß die schöne Gython; sie hielt eine Schale mit Fischbrühe auf dem Schoß. Als sie sah, daß er die Augen aufschlug, reichte sie ihm aus einem Hornlöffel ein wenig von der Brühe. Sie war heiß und scharf gewürzt. Airar bedankte sich und fragte sie nach ihrem Vater. »Er ist fort.« Sie schaute ihn an. »Es ist halb so schlimm. Ich verlor auch die Besinnung, damals, als ich das Fieber hatte. Leidest du an Fallsucht?« »Nein, ich leide an keiner Krankheit. Das Zaubern hat mich so geschwächt, es ist normal.« »Meliboë der Zauberer ließ sich immer einen heißen Branntwein machen, wenn er mit seiner Zauberei fertig war. Einmal gab er dem kleinen Affen davon, den Erb mir von den Gewürzinseln mitgebracht hatte. Er wurde ganz zahm, aber er starb.« »Wo ist dieser Erb?... Ach nein, das ist jetzt nicht so wichtig. Wenn ich versuche, mich zu bewegen, schmerzen mir alle Knochen im Leib. Ich werde heute nicht mehr arbeiten.« »Genau wie Meliboë. Meine Mutter kann ihn nicht
ausstehen, und als sie erfuhr, daß schon wieder ein Zauberer da sei, ist sie meine Tante in Linkoffing besuchen gegangen.« »Meinst du, deine Mutter würde immer noch so denken, wenn sie den neuen Zauberer erst einmal sehen würde?« Diesmal täuschte er sich nicht; Gython wurde puterrot im Gesicht. »Ich – ich weiß nicht. Meine Mutter ist grundsätzlich gegen alles, was mit Zauberei zu tun hat. Sie streitet sich immer mit Vater darüber. Sie wollte sogar Visto das Haus verbieten, als er Meliboë bat, ihn ein wenig in der Magie zu unterweisen. Als ich geboren wurde, muß ein altes Weib prophezeit haben, daß einmal großes Übel über mich kommen würde, das mit Schwarzer Magie zu tun hätte.« »Ganz ähnlich war es bei mir. Mein Vater Alvar, der sich in der Astrologie auskennt, machte bei meiner Geburt ein Horoskop und fand heraus, daß mir etwa zu dieser Zeit meines Lebens große Gefahr durch böse magische Kräfte drohen werde; sollte es mir aber gelingen, dieser zu entgehen, dann werden die Sterne mir für den Rest meines Lebens günstig sein. Bevor er aber das Horoskop genauer ausarbeiten konnte, erließ Graf Vulk sein Dekret, in dem er uns Dalekarliern strikt untersagte, uns mit der Zauberei zu beschäftigen, welcher Art auch immer. Und so kam es, daß ich weder die Natur noch die Stunde der Gefahr jemals erfuhr.« »Es gibt einige auf unseren Inseln, die der Ansicht sind, es wäre ein leichtes, dieses Gesetz zu brechen, wenn es um das Leben eines Verwandten geht.« »Freilich... Bist du Visto versprochen?« »Nein. Er ist mein Sprechfreund und mein Tisch-
nachbar bei Gastmählern. Aber nun wird er mit dir in den Krieg ziehen.« »Ich habe keine Sprechfreundin und auch keine Tischnachbarin. Alle, die dazu in Frage kamen, wurden schon vor Jahren von unserem Ort vertrieben.« Wieder errötete sie. »Ich möchte neben dir sitzen, wenn ein Gastmahl ist. Ich – ich finde es nämlich nicht anständig, daß sie so schlecht über dich reden, wo du doch nur deshalb so matt und krank bist, weil du ihnen einen Dienst erwiesen hast.« Das war ja etwas ganz Neues für Airar; nicht gerade eine angenehme Neuigkeit. »Sie reden schlecht über mich?« Er reckte sich mühsam in seinem Bett auf. »Wer denn und warum?« »Oh, mein Vater, Ové Ochsenmaul – alle eigentlich.« Sie hob die Hände, und fast wäre die Schale aus ihrem Schoß geglitten. »Sie machen Scherze darüber, wie leicht es gewesen wäre, dich unterwegs zu fangen, und wie schnell du wegen ein bißchen Zauberei in Ohnmacht fällst. Sie wollen keinen Schwächling als Anführer, wenn sie in den Krieg ziehen. Einige wollen sich weigern, mit dir zu gehen, und Visto muß sich schon mit ihnen herumstreiten, und...« »Der Teufel soll sie holen! – Verzeih, ich vergaß, daß sie von deinem Volke sind.« »Bitte, sei nicht zornig. Du hast recht; es ist an uns, dich um Verzeihung zu bitten; schließlich warst du es, der den Seedämonen getötet hat. Sie meinen es nicht böse... es ist nur, daß sie alle nicht sonderlich von deinem Plan angetan sind, die Bestien mit dem Pfeil oder dem Wurfspeer zu töten. Erb und Visto sind nämlich ganz begeistert von dieser Idee.« Sie kicherte. »Da kann ich noch besser mit dem Bogen um-
gehen als sie alle zusammen. Willst du noch etwas Fischbrühe?« »Ja«, sagte Airar mit einem Stirnrunzeln. Doch dann glättete sich seine Stirn wieder, und ein Lächeln flog über sein Gesicht, als er sagte: »Aber Sprechfreunde müssen sich etwas schenken.« Er wühlte in seinen Kleidern am Kopfende des Bettes. »Hier, ich schenke dir diese kleine Brosche. Sie ist von meiner Mutter. Ein Zwerg soll sie gefertigt haben, aber ich glaube das nicht so ganz.« »Oh, und ich habe gar nichts für dich – doch, warte – möchtest du einem alten Brauch von uns folgen und dir eine Locke von meinem Haar abschneiden?« Airar nahm sein Messer. Das sei das herrlichste aller Geschenke, beteuerte er. »Aber jetzt sollst du mir erzählen, wie und wann du als Tochter eines Fischers die Kunst des Bogenschießens erlernt hast.« »Oh, daran ist überhaupt nichts Geheimnisvolles. Hier bei uns auf den Gentebbi-Inseln ist es Brauch, daß junge Mädchen, wenn es kalt ist, Mäntel tragen, die mit Schneehuhnfedern gefüttert sind; und da ich keinen Bruder habe, blieb mir gar nichts anderes übrig, als selbst ein paar Schneehühner zu erlegen, um einen solchen Mantel zu bekommen.« »Damit hast du das Warum erklärt, aber noch nicht das Wie.« So plauderten sie über dieses und jenes und besonders über sich, bis der Abend dämmerte. Als Gython die Dunkelheit bemerkte, sprang sie mit einem kleinen Schrei auf und rief, sie müsse ganz schnell das Abendessen für den Vater herrichten, sicher sei er schon vom Fischen zurückgekehrt. Airar ließ den Kopf auf das Kissen sinken und schloß die Augen. Er
dachte darüber nach, daß er doch recht lange bewußtlos auf der Iulia gelegen hatte – und wie herrisch und anmaßend Rudr und seine Leute doch waren! Aber dieser vergeudete Tag hatte auch etwas Gutes gebracht...
8 Die Gentebbi-Inseln: »Es ist nicht anständig.« Als Airar am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich schon wieder recht erholt, wenn auch immer noch ein wenig matt und nicht wieder ganz er selbst. Der Wind war über Nacht aufgefrischt und wirbelte vor einem grauverhangenen Himmel Schneeflocken an seinem Fenster vorbei, er schaute hinunter auf den Hafen, wo die Schiffe lagen. Sie schaukelten heftig in dem aufgewühlten Wasser und zerrten an ihren Ankerketten. Rudr, der gerade sein Frühstück aus Bier und Austern eingenommen hatte, kam zu ihm und erklärte, sie würden heute nicht zum Fischen hinausfahren; deshalb hätte er, Airar, Gelegenheit, ein weiteres Schiff gegen die Seedämonen zu feien. Airar lehnte rundweg ab, worauf der alte Mann wortlos und übelgelaunt davonstapfte. Doch dann bewahrte ihn das Kommen von Visto, Erb und ein paar anderen vor Rudrs schlechter Laune, die ihm ein solcher Tag des Nichtstuns bereitete. Die Männer trugen Köcher auf dem Rücken. Anscheinend waren sie inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß die Idee, Seedämonen mit Pfeil und Bogen statt mit dem Zauberbuch zu vertreiben, doch nicht ganz so unsinnig war. Erb sagte, sie hätten sich gedacht, daß Airar, der ja vom Oberland käme, welches bekannt sei für seine guten Bogenschützen, ihnen vielleicht ein paar Kniffe in der Bedienung dieser Waffe beibringen könne. »Es ist zu windig zum Bogenschießen«, erwiderte Airar. Aus der Gruppe kam ein halbunterdrücktes
Kichern, und Visto errötete, aber das Gesicht des langen Erb war weiß wie ein Käse, als er sagte, daran hätten sie schon gedacht. Unten am Kai sei jedoch ein großer Schuppen, der normalerweise zum Trocknen von Fischen benützt werde; man könne doch darin üben. Gython begleitete sie; sie war gut gelaunt und schwatzte aufgeregt. Draußen herrschte klirrende Kälte. Bald hatten sie den Schuppen erreicht, und Airar sah sich wieder einmal in der Erfahrung bestätigt, daß es oft die kleinen Schwierigkeiten sind, die große Pläne zum Scheitern bringen. Nicht nur, daß in dem Fischschuppen ein solcher Gestank herrschte, daß sich davon der Magen eines Festlandbewohners schier umstülpte; mit knapp hundert Meter Länge war er auch viel zu kurz zum Bogenschießen. Außerdem war er vollgestopft mit allem möglichen Kram, und Zielscheiben gab es auch nicht. Airar war drauf und dran, das ganze Unternehmen wieder abzublasen. Nicht so jedoch Gython: Lachend kletterte sie mit Visto in dem Gerümpel herum, bis sie einen Haufen alter Fischkörbe gefunden hatten, die man als Zielscheibe benutzen konnte. Sie selbst schoß den ersten Pfeil ab. Sie traf sicher und genau in die Mitte des Korbes. Als aber der erste der Männer antrat, machte Airar große Augen. Nicht etwa, weil der Pfeil das Ziel beträchtlich verfehlte – das war zu erwarten gewesen. Doch statt sich hinzustellen und die Sehne bis ans Ohr zu ziehen, kniete der Mann nieder und zog die Kerbe seines Pfeils nur bis zur Brust, wobei er die linke Hand, die den Bogen hielt, immer weiter nach vorn schob, so wie Gython oder auch jede andere Frau es getan hätte. Und so bemerkte Airar erst jetzt,
was er schon vorher gesehen hätte, wäre er nicht so verwirrt gewesen: daß nämlich die Bögen alle viel zu kurz waren, etwa wie die aus Horn, die die Heiden von Dzik benutzten. »Laß mal sehen«, sagte er zu Visto und nahm dessen Bogen und einen Pfeil, um es selbst einmal auszuprobieren. Das Ding war so stark gespannt, daß er das Gefühl hatte, er müsse den Mond vom Himmel herunterziehen. Dadurch fing seine Hand im falschen Moment an zu zittern, und sein Pfeil trudelte kraftlos zu Boden. Einer lachte, und ein anderer schubste ihn beiseite. »Laß ihn«, sagte Erb. »Der Mann weiß, wie man mit dem Bogen umgeht, das sieht man. Diesmal hat es nicht geklappt, aber ich glaube, das lag daran, daß Vistos Bogen für ihn zu stark gespannt ist. Er soll Gythons nehmen und es noch einmal versuchen.« »Gern«, sagte Airar. »Diese verdammte Zauberei macht einen so schlapp wie ein altes Weib.« Dieses Mal nahm er sorgfältig die richtige Fußstellung ein, zielte genau und ließ den Pfeil im rechten Moment von der Sehne schnellen. Wie von einer Schnur gezogen zischte der Pfeil längs durch den Schuppen und blieb dicht neben dem des Mädchens stecken. Ein erstauntes, beifälliges Murmeln erhob sich. Gython klatschte in die Hände, als Airar sich umwandte. »Ich habe gehört, sie schießen so wie du im Norden, in Korsor und Stavorna«, sagte Visto. »So ist es; im ganzen Oberland halten sie den Bogen so«, antwortete Airar. »Die Jäger, die über den Schweinerücken von Mariola her kommen, habe ich nie anders schießen sehen. Sieh her – die Art, in der du den Bogen spannst, hart und straff, dazu noch das
Niederknien, das ist vielleicht dann nützlich, wenn man kleine Tiere des Waldes, vielleicht auch des Meeres erlegen will; denn dort kommt es darauf an, daß man sich so nahe heranpirscht, daß genaues Zielen nicht so wichtig ist. Aber wenn du Keiler oder Bären jagst, dann kann oft dein Leben davon abhängen, daß du aus großer Distanz schießen kannst. Erst recht natürlich, wenn du es mit Menschen oder gar Seedämonen zu tun hast.« »Aber wieso soll deine Art, mit dem Bogen zu schießen, besser sein?« wollte einer wissen. »Beständigkeit und Findigkeit machen den Lehrling zum Meister.« »Aber Beständigkeit in der Torheit läßt einen Lehrling auf alle Zeiten Lehrling bleiben. Schau.« Airar legte einen Pfeil auf die Sehne und hob ihn an die Wange. »Pfeil und Ziel bilden eine Linie; du mußt lediglich die Pfeilspitze ein wenig höher halten, um die Entfernung auszugleichen oder sie etwas nach links oder rechts halten, je nach Wind.« Er ließ die Sehne los. Der Pfeil schoß singend in das Ziel, wo er zitternd direkt neben den anderen beiden steckenblieb. »Ich will es einmal versuchen«, sagte Visto und trat einen Schritt vor, den Bogen in der Hand. Es sah recht ungeschickt aus, wie er die Füße stellte, und als er schließlich die Sehne losließ, hatte er den Kopf, um auf die Pfeilspitze zu schauen, viel zu weit zur Seite geneigt, so daß die Sehne ihm fast das Ohr abriß. Der Pfeil ging fast senkrecht in die Höhe, und etwa in der Mitte des Schuppens trudelte er wirkungslos zu Boden. Alle lachten, aber es war ein anderes Lachen als vorher, und Gython sagte: »Nun aber Schluß mit diesen Kinderspielen! Komm her, Freund Airar und zeig
mir, wie ich mich richtig hinstelle.« Er mußte um ihre Schultern greifen, um ihre Hände an die richtigen Stellen zu legen. Die Berührung mit ihrem Körper empfand er als sehr angenehm, und ihr Pfeil, bei weitem nicht so gut gezielt wie der Airars, traf immerhin noch so genau, daß man den Versuch als gelungen bezeichnen konnte. Der Reihe nach traten nun auch die anderen an, um sich von Airar die richtige Technik zeigen zu lassen. Es machte den Männern viel Spaß, und bald erzielten sie erstaunliche Fortschritte. Bei seinem dritten Versuch dehnte Erb jedoch die Sehne seines Bogens so stark, daß er brach und der Pfeil weit daneben ging. »Was nun, junger Meister?« fragte er und betrachtete die beiden Hälften seines Bogens, die von der Sehne baumelten. »Welches war der Fehler, der mich einen guten Bogen kostet?« »Du hast keinen Fehler gemacht, der Fehler liegt bei dem Bogenmacher, der dir eine Waffe gegeben hat, die für unsere Zwecke zu kurz ist.« »Ah.« Erb legte den Kopf schief, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »So etwas dachte ich mir schon. Hör nun, junger Freund; ich stehe voll und ganz auf deiner Seite, was dieses Bogenschießen anbetrifft. Es wird unserem Volk nicht schaden, die neue Kunst zu erlernen, besonders jenen Männern nicht, die mit dir unter dem Banner des Geflügelten Wolfs marschieren sollen da ihnen diese Kunst vielleicht das Leben retten kann. Aber Bögen, die eine solche Behandlung aushalten, wie du sie ihnen angedeihen läßt, haben wir in Vagai nicht, und bei diesem Wetter können wir auch kein Holz schneiden, um welche herzustellen. Mein Vorschlag ist: Warten wir,
bis ein paar Schiffe nach Naaros oder Mariupol segeln und abgelagertes Holz oder fertige Bögen mitbringen, wie wir sie für unsere Zwecke brauchen. Und während wir darauf warten, feist du die Schiffe wie bisher, so gut du kannst, gegen die Seedämonen.« So ist das also: ein fauler Trick, um mir doch noch Rudrs Willen aufzuzwingen, dachte Airar grimmig, als er zusammen mit Gython und Visto die steile Straße hinaufstapfte. Das Schneetreiben war jetzt heftiger geworden, und vor den Häuserwänden hatten sich knöcheltiefe Wehen gebildet. Gython und Visto waren in ausgelassener Stimmung, und Gython stieß einen entzückten Schrei aus, als sich eine Schneeflokke auf ihre ausgestreckte Hand setzte und sie die seltsame Struktur des Kristalls betrachtete. Als Visto sah, wie Airar so trübsinnig vor sich hin starrte, trat er neben ihn und sagte: »Komm, mein Freund, Schluß jetzt mit dem Murren! Schließlich giltst du hier als ein ebenso großer Zauberer wie Meliboë, und man hält dich für den besten Magier, der je seinen Fuß auf Vagai gesetzt hat!« »Ja, und gleichzeitig verspottet man mich für die Folgen, die die Zauberei auf mich hat. Zauberei, ha! Hat sich schon einmal einer durch Zaubertricks und Hexerei wahren Ruhm erworben?« Gython beugte sich über Vistos Schulter vor. »Zum Beispiel Doktor Meliboë. Er wird von allen hier hoch geschätzt und besitzt ein goldenes Herz. Während vieler Jahre hat er uns immer so freundlich die Seedämonen vom Leib gehalten.« »Ein Herz aus Blei, würde ich eher sagen.« Sie hatten jetzt die Tür erreicht und standen im Rahmen. »Er hat eure Seedämonen zwar ferngehalten und abge-
schreckt, aber nur, indem er noch viel schlimmere Dinge heraufbeschwor, an die sich die Bestien in gewisser Hinsicht gewöhnten, gleichsam davon ernährten, so daß sie nach jeder Vertreibung stärker als je zuvor wiederauftauchten.« Er gestikulierte mit beiden Händen. »Seine Kuren sind wie der Gesang der Sirenen; man muß immer mehr davon haben. Und doch führen sie schließlich nur zu einem Ziel: zum Tod. Ich selbst war schon nahe daran.« »Verzeih mir.« Visto nahm seine Hand. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann...« »Nein, danke, es hat keinen Zweck. Es bleibt mir jetzt nichts anderes übrig, als es durchzustehen. Bogen haben wir ja keine.« Er folgte Gython ins Haus. Rudr war übelgelaunt, weil sein Mittagessen noch nicht fertig war. Airar war es peinlich, daß der Alte seinen Zorn an Gython ausließ, und er versuchte, ihn ein wenig abzulenken, indem er von magischen Kräften, Seedämonen und den anderen Schiffen der Flotte erzählte. Was bei dieser Unterhaltung herauskam, war vorauszusehen gewesen: daß Meliboë die Fischer betrogen hatte, indem er ganze Scharen von bösen Geistern an Bord der Schiffe gelockt hatte. Das war Airar erst klargeworden, als er schon angefangen hatte, davon zu sprechen. Das Ende vom Lied war, daß Airar dem Fischer hoch und heilig versprechen mußte, alle Skoronärschiffe der Flotte mit ebensolchem Schutz zu versehen wie schon die Iulia. Der Gedanke daran war nicht gerade angenehm. Zu allem Überfluß erschien auch noch am Nachmittag eine Frau mit ernstem Gesicht, die unaufhörlich schwatzte und Airar erzählte, ihr Haus werde seit einiger Zeit von einer Horde Ratten heim-
gesucht, und er solle ihr einen Zauberspruch geben, der sie wieder vertreibe. Je mehr er versuchte, sie loszuwerden, desto ausschweifender und lauter schwatzte sie. Um endlich Ruhe vor dem Weib zu haben, schrieb Airar auf einen Fetzen Pergament bestimmte unheilvolle Namen, wie Angat, Huard, Utesitorion. Dazu zeichnete er das Bild der unseligen Bergamotteblume und trug der Frau auf, diese um Mitternacht im heißen Fett eines Schweins quellen zu lassen und sie in eine Falle zu legen. Als die Alte weg war, schnitt Gython eine Grimasse hinter ihr her und streckte die Zunge heraus. Der Meisterfischer, der inzwischen wieder bei bester Laune war, lachte über Airars angewidertes Gesicht. »Jetzt könnt Ihr Euch wohl denken, warum der lange Erb so wild darauf ist, in den Krieg zu ziehen.« »Seine Frau?« wollte Airar wissen. »Seine Schwester. Sie paßt wie ein Luchs darauf auf, daß er sich keine Frau oder Buhle sucht. Boff, fürchterlich, solche Weiber... lassen sich auf dem Markt jeden einzelnen Fisch vorführen, und wenn du deinen ganzen Korb vor ihnen ausgeleert hast, kaufen sie eine Sprotte. Frauen sind nun mal so, selbst die, die du im eigenen Haus hast. Meine Tochter Gython hier, die ist auch keinen Deut besser als die Dame Ervila; sie geht mir pausenlos mit dieser Bogengeschichte auf die Nerven, und ich mußte ihr schon versprechen, ein Schiff nach Mariupol zu schicken, um Bogen zu besorgen.« »Warum nicht nach Naaros?« »Für meinen Geschmack zu dicke Luft im Augenblick; Kontrollen, Hausdurchsuchungen und so weiter. Der Rote Baron kommt bestimmt nach Vagai und
schnüffelt hier herum, wenn er herausbekommt, daß wir Kriegsgeräte kaufen. Ich will es nicht auf die Probe ankommen lassen, ob er unseren Freibrief respektiert oder nicht.« Der nächste Morgen brachte klaren Himmel und starken Frost. Airar ging schon früh mit Rudr zum Hafen. Alle Schiffe der Flotte lagen bereit, bis auf einen der Skoronäre, auf dem es wieder besonderen Ärger gegeben hatte, da mehrere Männer von Seedämonen gefingert worden waren. Es war eine abscheuliche Arbeit kaum weniger schlimm als vorher auf der Iulia, nur daß er inzwischen durch die Übung mehr Geschick entwickelt hatte und es ihm viel leichter gelang, die schnatternden und schreienden Gestalten, die sich um ihn drängten, abzuwehren. Auch schwanden ihm diesmal nicht die Sinne, als sich der graue Schutzvorhang um ihn herum hob. Dennoch wurde ihm hundeelend, und am Ende hatte er das Gefühl, als schmölzen seine Muskeln. Er fiel zu Boden und blieb lange Zeit wie ein Betrunkener dort, bei völlig klarem Bewußtsein, aber ohne jedes Erinnerungsvermögen, unfähig, einen eigenen Gedanken zu fassen. Er lag nur da und hörte, wie das Wasser gegen die Planken spritzte; ab und zu hörte er Schritte über sich; er nahm die dumpfen Geräusche auf wie weicher Lehm den Abdruck eines Schuhs. Ein paar der Männer der Besatzung des Skoronärs kamen trotz des strikten Verbotes herunter, um nach ihm zu sehen. Er war zu schwach zu widersprechen, und als sie ihn durch die Lukenöffnung zerrten, fiel das Licht so schmerzhaft in seine Augen, daß er sie schloß, und so konnte er die ganze Unterhaltung der Männer mithören.
»Sollen wir diesen schlaffen Lappen zu Gython tragen, oder sollen wir ihn hierlassen, bis er sich wieder erholt hat?« fragte einer. »Bringen wir ihn weg, wir wollen ihn nicht an Bord«, sagte ein anderer. »Warst du auch mit ihm beim Bogenschießen, Seewald?« »Ja. He, paß auf das Bein auf! Mit dem Bogen des Mädchens war er ganz gut, aber Vistos konnte er nicht spannen.« »Es gibt einen, der zieht hier das schlechte Los... mit der Jungfrau, und Rudr ist so wild darauf, seine Tochter mit einem der Magier vom Festland zu verheiraten. Falls sie überhaupt noch Jungfrau ist.« »Du redest wie eine übelriechende Kloake, Ové! Würdest du nicht tausend Solvar dafür geben, daß Königin Krys Fluch gebannt wird, nachdem du gesehen hast, wie dein eigener Bruder gefingert wurde?« (Ové – das konnte nur Ové Ochsenmaul sein, der Kerl mit den wulstigen Lippen, der beim Bogenschießen keine Sekunde seine Augen von Gython abgewendet hatte und der ständig versucht hatte, sich an sie heranzumachen. Sie aber hatte augenscheinlich nichts von ihm wissen wollen.) »Und du bellst wie ein Seehund, dem es zu heiß geworden ist. Soll der alte Rudr doch mit seinem Weibsstück machen, was er will! Was mich ärgert, sind die fünfzig Mann. Da können wir auch gleich die Seedämonen zu uns rufen und sie zu Einwohnern von Vagai machen. In den letzten zehn Jahren sind keine fünfzig gefingert worden.« »Oh, was das betrifft, da ist der Alte ganz schön gerieben. Der weiß genau: Hat er seinen Hexenmeister
erst mal mit dem Weib im Bett, dann ist der Krieg vergessen.« »Hoffentlich! Was kümmert uns der Krieg, wo wir den Freibrief der freien Fischer haben und zwischen uns und Naaros fünfzig Seemeilen liegen!« Noch eine Woche schuftete Airar wie ein Berserker. Doch je länger es dauerte, desto mühseliger wurde die Arbeit, auch wenn ihn die Geister nie wieder so heftig bestürmten wie an jenem ersten Tag, als er die Iulia gegen die Dämonen gefeit hatte. Inzwischen bekam er allerdings ein Gespür dafür, welche Form die Geister annehmen und auf welche Weise sie versuchten, seinen Drudenfuß außer Gefecht zu setzen. Ja, es versetzte ihn bisweilen in regelrechtes Jagdfieber, sie erfolgreich abzuwehren, wenn sie ihn besonders hart bedrängten; es glich dem Vergnügen, Wild im Sprung blitzsauber mit dem Pfeil zu treffen, auch wenn er danach jedesmal ein bis zwei Stunden hilflos und erschöpft am Boden lag manchmal bewußtlos, manchmal in einem Dämmerzustand zwischen Ohnmacht und Wachsein. Und tags darauf fühlte er sich jedesmal so ermattet, daß er kaum wahrnahm, was um ihn herum vorging, und er das Gefühl hatte, in einem engen Raum zwischen Sonne und Schatten zu leben. Gython bemutterte ihn mit aufrichtiger Sorge seit dem Tag, an dem er den ersten Skoronär gefeit hatte. Er war völlig zerschlagen und kaum in der Lage, auf ihr munteres Geplapper einzugehen. Reglos lag er da und fragte sich, ob Rudr tatsächlich die Absicht hatte, sie beide zusammenzubringen, und er stellte sich vor, wie es wohl wäre, eine solche Frau zu lieben und mit ihr zusammenzuleben. Bei dem Gedanken liefen ihm
angenehme Schauer über den Rücken. Er dachte nicht weiter über die Sache nach, sondern zog es vor, sich ganz diesem wonnigen Gefühl hinzugeben. Erst am nächsten Tag, als er sich schon ein wenig von seinen Anstrengungen erholt hatte, war er wieder in der Lage, das Ganze etwas nüchterner zu betrachten. Er erschrak fast, als er darüber nachdachte, welches der Preis für dieses wunderschöne und gutherzige Mädchen sein würde – nämlich auf immer bei diesen Fischern zu leben, sich mit ihren kleinlichen Sorgen und Nöten beschäftigen zu müssen, Ratten zu vertreiben und von allen, außer den Frauen über die Schulter angeguckt zu werden. Oder würde es ihm gelingen, sie zu überzeugen, mit fortzugehen – vielleicht würde sie einwilligen, wenn der erste Schritt getan war – vielleicht verband sie mit Visto doch mehr als nur ein rein formales Verlöbnis... »Die Hügel von Västmanstad sind ganz anders als eure hier«, sagte er, während er im Bett lag, nachdem er den zweiten Skoronär gefeit hatte. Sie saß wieder bei ihm, und sie plauderten darüber, wie die Bergfront von Vagai im Winter aussah und wie blau die Krähen sich dagegen abhoben. »Unsere Hügel steigen in sanften Wellen an, und an Tagen wie heute fuhren wir immer mit Skiern hinunter. Der Schnee dampfte, und oft nahmen wir Wurfpfeile mit, um Wild zu jagen. Würdest du das auch gern einmal versuchen?« »O ja, gern. Aber ich finde, mit Pfeil und Bogen ist es noch schöner.« »Vielleicht kann ich dich eines Tages dorthin zum Jagen mitnehmen.« Airar spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß, und um seine Scham zu verbergen, beugte er sich vor und ergriff ihre Hand. Sie sträubte
sich nicht dagegen, und für eine Sekunde erwiderte sie seinen Händedruck, zog aber dann ihre Hand wieder zurück. »Aber du ziehst ja in den Krieg und kommst sicher nach Mariupol und in viele andere schöne und große Städte. Und wenn du dort erst all die hübschen Frauen siehst, dann sind dir, wenn du zurückkommst, die armen Fischer von Gentebbi bestimmt keinen Kupferaina mehr wert – wenn du überhaupt zurückkommst.« »Ja, wenn ich überhaupt zurückkomme... Schon bessere Männer als Airar, der Sohn des Alvar, sind im Krieg gefallen, weil sie nicht die Kraft hatten, den Bogen zu spannen oder das Schwert zu heben, als es notwendig war.« Der schwarze Vorhang über ihm schien sich zu schließen; trotzig kämpfte er gegen die Wellen unendlicher Müdigkeit an, die über ihm zusammenzuschlagen drohten; zwei dicke Tränen quollen aus seinen Augen und rollten ihm über die Wangen. »Welche Frau, sei sie nun groß oder klein, schön oder häßlich, wird schon einen wie mich anschauen, nutzlos wie ich bin? Vielleicht wäre es besser, ich lasse Visto und Erb nach Mariupol gehen, und ich bleibe hier und braue wie eine alte Hexe Zaubertränke in irgendeinem Nebengebäude von Königin Krys Haus.« »Ja, das wäre vielleicht besser«, sagte sie gedehnt. Dann stand sie mit einemmal auf, so heftig, daß der Schemel, auf dem sie gesessen hatte, umfiel. »Und vielleicht wäre es noch besser, du würdest dich auf die Anfertigung von Unterröcken beschränken! Visto sagt mir, du wärst ein Mann von unerschrockenem Wagemut, einer, der im rechten Moment zuschlägt
und nicht lange fackelt. Aber nun sehe ich, daß er unrecht und meine Mutter recht hatte, als sie sagte, alle Magier seien feige Memmen, die höchstens dazu taugen, kleine Kinder das Gruseln zu lehren. Da ist mir sogar ein Kerl wie Ové Ochsenmaul lieber.« Sie warf trotzig den Kopf in den Nacken und rauschte stolz wie eine Königin zur Tür hinaus. Airar kämpfte sich aus dem Bett und wollte ihr nach. Aber während er ihr noch zurief, sie solle bleiben, wußte er schon, daß ihn seine Beine höchstens bis zur Tür tragen würden; seine Muskeln waren weich und bebten wie ein Fisch am Angelhaken. Tags darauf ging er nicht zu den Schiffen, sondern versuchte, Gython zu finden. Aber schon nach dem Frühstück entwischte sie ihm, und als er nach Visto fragte, stellte sich heraus, daß der ebenfalls verschwunden war. Airar vermutete, daß die beiden zusammen waren. Warum auch nicht, dachte er, aber dieser Gedanke erleichterte ihn nicht im geringsten. Er verbrachte den Tag einsam, untätig und trübsinnig. Zum Herumwandern in der Stadt oder in den Hügeln war es viel zu kalt, und so entschloß er sich, zu Rudrs Haus zurückzugehen und auf Gythons Rückkehr zu warten. Kurz vor dem Abendessen tauchte sie denn auch auf. Sie hatte jemand mitgebracht, ein Mädchen mit dicken Backen, das auch ansonsten keine Schönheit war. Es nahm Airar beiseite und langweilte ihn mit albernem Gekicher und Getuschel, bis es schließlich mit seinem Ansinnen herausrückte: Airar sollte der Frau einen Liebestrank brauen, mit dem sie ihren widerspenstigen Liebhaber, irgendeinen Bauernlümmel, wieder auf Trab bringen wollte.
Als sie bei Tisch saßen, hatten sich Airars Trauer und Ärger die er den ganzen Tag über immer wieder heruntergeschluckt hatte, so gesteigert, daß er sich nicht mehr zusammennehmen konnte und wollte. In Gegenwart der andern brüllte er Gython quer über den Tisch an, warum sie ihm ständig aus dem Weg ginge und was er denn verbrochen hätte. Wenn er sie mit irgendwelchen Worten beleidigt habe, dann sei er bereit, es zu bereuen und sie um Verzeihung zu bitten. Der alte Rudr lachte herzlich und bemerkte vergnügt, der einzige Fehler bei Frauen sei es, recht zu haben. Dann aber schaute er Gython strafend an, und am nächsten Morgen traf Airar, der etwas zu spät zum Frühstück erschien, Vater und Tochter in eisigem Schweigen an; sie biß sich fortwährend auf die Lippen, und er kaute geräuschvoll auf seinem Fladenbrot herum, wobei er sich alle Mühe gab, möglichst unbeteiligt an die Wand zu starren. An dem Tag mußte Airar einen weiteren Skoronär von bösen Geistern befreien. Das Übliche geschah: Als er wieder zu sich kam, stand ein Krug mit heißem Branntwein und Honig neben seinem Bett auf einem Schemel; von Gython jedoch keine Spur. Er verbrachte den ganzen Nachmittag im Bett und fühlte sich einsam und hundeelend. Der kurze Wintertag war schnell vorüber, und als es dunkel wurde, fiel er in leichten Schlummer. Ein unangenehmes Gefühl von Kälte weckte ihn wieder auf; das Feuer in der Ekke des Raumes war heruntergebrannt. Hinter der angelehnten Tür hörte er Stimmen – die eine gehörte Rudr und die andere unzweifelhaft Gython. Sie sprach schnell und erregt, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Jetzt wurde ihre Stimme lauter:
»... verlasse dich und Vagai und alle anderen!« schrie sie plötzlich wutentbrannt. Dann war einen Moment Stille. Als nächstes hörte Airar ein Knallen, einen Schrei, und dann folgte Stimmengewirr. Eine Außentür ging auf, und ein Schwall kalter Luft drang in Airars Kammer. Männer mit Fackeln kamen herein; in ihrer Mitte einer mit einem Lappenverband um den Kopf; sein Wams war mit getrocknetem Blut besudelt. Es war Rogai. »Der verdammte Baron hat uns eins übergezogen! Wigrak ist tot, seinen Kopf haben sie vor dem Stadttor von Mariupol auf einen Pfahl gespießt. Sir Ludomir konnte entfliehen; er hält sich versteckt.«
9 Schiffe kommen nach Salmonessa Unterbrochen von tiefen Schlucken aus dem Metbecher erzählte Rogai den Männern, die sich um das Feuer geschart hatten, die ganze Geschichte von Anfang bis Ende. Durch Vorahnung oder Verrat – wobei Rogai eher an das letztere glaubte – hatte VanetteMillepigue von der geplanten Verschwörung von Mariupol erfahren. Kaum hatten Airar und Rogai Naaros verlassen, als auch schon Boten in die bedrohte Stadt unterwegs waren, um den dortigen Statthalter des Grafen zu warnen. Eine halbe Tercia schwerbewaffneter Soldaten hatte sich von Briella aus in Marsch gesetzt; eine weitere war von der Zitadelle in Naaros losmarschiert. Und als Rogai schließlich in Mariupol eintraf, wimmelte die ganze Stadt von bewaffneten Vulkingern. Überall stöberten Patrouillen herum und nahmen Verhaftungen vor, und die Wachen an den Stadttoren hatten Order, jeden herein-, aber niemand herauszulassen. »Was machtest du dann?« »Ich tauchte bei einer Dame unter, deren Etablissement nicht gerade den besten Ruf besitzt – verzeiht mir dieses offene Wort beste Dame –, die aber dem Eisernen Ring treu ergeben ist. Dann versuchte ich, Wigrak zu finden. Ich fand ihn auch – ha! Am zweiten Tag nach meiner Ankunft erschollen in allen Straßen und Plätzen der Stadt Trompeten, und Herolde kündigten ein öffentliches Spektakel auf dem großen Platz an, zu dem alle Bürger erscheinen sollten. Ich wagte nicht, bei diesem grausamen Schauspiel weg-
zubleiben; ihr müßt nämlich wissen, daß sie in Mariupol ein Verzeichnis über bestimmte Quartiere führen, in dem mein Name als der Liebhaber besagter Dame aufgeführt ist. Sie hatten ein Gerüst aufgestellt, das einen Berg darstellen sollte. Es war über und über mit den Farben der Vulkinger geziert...« Er hielt inne und nahm einen tiefen Schluck aus dem Metbecher. Einer der Anwesenden sagte: »Da muß jeder brave und anständige Mann kotzen, wenn er sich das vorstellt, wie sich diese verfluchten Rotweißen selbst beweihräuchern.« »Ja, das kannst du wohl sagen. Überhaupt: Der verdammte Rote Baron ist in der Tat ein Mann, der sich auf Symbole und große Spektakel versteht – das wurde jedenfalls sehr bald deutlich. Als wir nämlich alle versammelt sind, taucht plötzlich VanetteMillepigue höchstpersönlich aus der Spitze dieses Spielzeugberges auf; daneben befindet sich auch noch Vicomte Iselé, der Gouverneur von Mariola. VanetteMillepigue nimmt seinen Helm ab und hält eine Rede. Ihm sei zu Ohren gekommen, so sagt er, daß es einige unter seinen lieben Dalekarliern gebe, die sich anheischig machten, den Gipfel eines Berges zu erklimmen. Er wolle ihnen dieses Privileg nicht verweigern, nur wolle er sie daran erinnern, daß der Berg das Symbol der Vulkinger sei, und daher bedeute er eine Gefahr für alle, die nicht vom Geblüt der Vulkinger seien. Im Anschluß daran erscholl eine Trompete, und dann trieb man paarweise eine Gruppe von Leuten auf das Gerüst. Ein Dutzend davon waren Syndizi aus Mariupol, unter ihnen auch Wigrak, der Rest deren Frauen und Kinder. Es waren wohl an die zwanzig Personen. Als sie alle die Platt-
form erreicht hatten, mußten sie paarweise antreten, die Frauen und die Kinder zuerst, und dann wurden sie geköpft. Ihre bluttriefenden Köpfe wurden dem Publikum zur Schau gestellt. Einige der Kinder weinten und schrien und versuchten wegzulaufen.« Er würgte und nahm erneut einen tiefen Schluck. »Dolorosa Dalarna«, sagte einer der Männer leise, und Airar sah, wie Gython die Hände vors Gesicht schlug. Er selbst fühlte, wie Tränen in seine Augen traten. Um die anderen davon abzulenken, rief er laut: »Aber die Sternenhauptmänner von Carrhoene? Gingen sie auch in die Falle?« »Ha!« schnaubte Rudr. »Diese schlüpfrigen Aale doch nicht! Eher tragen sie jetzt selbst das Abzeichen des Berges an ihren Uniformen!« »Herr, Ihr seid hart und ungerecht; sprecht nicht so!« entgegnete Rogai m i t ernster Stimme. » S i e konnten nicht eher kommen; außerdem wißt Ihr ebensogut wie ich, daß kein Feldherr der Vulkinger Söldnertruppen in Dienst nimmt. Man wird sie auf See gewarnt haben – wahrscheinlich eines Eurer eigenen Schiffe, und zwar jenes, das mich auffischte, als ich in Mariupol mit blutigem Kopf und einem toten Wachtposten unter dem Arm über die Hafenmauer sprang.« »Ah, hmf, und jetzt, wo sie gewarnt sind, werden sie wahrscheinlich nach Os Erigu fahren und sich dort den Piraten anschließen.« »Nein – Salmonessa. Das war so vereinbart, falls etwas schiefgehen würde. Wir werden den Krieg von dort aus wieder aufnehmen.« »Dann ist noch nicht alles verloren?« fragte Airar ein wenig erstaunt. »Verloren? Pah! Wir haben ein Komplott verloren;
die Schlacht fängt jetzt erst richtig an!« Rudr erhob sich und ging ein paar Schritte im Raum umher, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Kopf nachdenklich gesenkt. »Was ist mit den jungen Grünschnäbeln von Västmanstad? Sind sie auch dem Roten Hund in die Falle gegangen?« »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber soviel ich weiß, nein! Der Schwarze Gallil wollte sie bis zu unserem Signal zurückhalten, und auf ihn kann man sich verlassen.« »Hm, wmf. Und Herzog Roger, was sagt der dazu?« »Oh, er hat schon Herolde zu Iselé gesandt. Er pocht nämlich auf seinen uralten Vertrag, das Privileg von Mariola, das ihm Oberlehnsherrlichkeit garantiert sowie das Recht, in der Stadt in Fällen von Hochverrat selbst zu Gericht zu sitzen. Iselé wird sich nicht daran halten. Das bedeutet, daß es Krieg gibt. Ich habe schon die Parole ausgegeben, daß sich alle Männer der Provinz, die sich freiwillig bei mir gemeldet haben, unter seinem Banner versammeln sollen. Jetzt geht es erst richtig los.« »So also stehen die Dinge.« Der Führer der freien Fischer holte tief Luft und stieß sie geräuschvoll wieder aus. »Wir machen mit. Erb, Powry, trommelt sofort die fünfzig Männer zusammen, die ausgewählt wurden. Holt sie notfalls aus dem Bett. Sie müssen noch heute nacht nach Salmonessa segeln. Ihr, Meister Airar fahrt mit. Ich würde Euch lieber noch mehr sagen und wünschte, Ihr wäret froheren Mutes, aber nun müssen wir eben bessere Zeiten abwarten. Meister Rogai, Ihr geht ebenfalls mit!« Der lange Erb starrte ihn ungläubig an. »Heute nacht noch?«
»Ja, unverzüglich«, fuhr Rudr ihn unwirsch an. »Ist dir nicht klar, Dummkopf, daß, wenn schon nicht der Rote Baron von Naaros, so aber doch Vulk, sein Herr, wissen wird, daß Mariola nicht allein an dieser Verschwörung beteiligt ist? Ich wette, daß sie spätestens im Morgengrauen mit ihren Kriegskoggen hier auftauchen, falls sie nicht in einen Sturm geraten.« Ein Raunen ging durch den Raum. Der lange Erb stand auf und wollte schon aufbrechen, als sich aus der Gruppe eine Stimme erhob: »Aber unsere Charta! Wir haben doch einen Freibrief, der uns gegen solche Übergriffe schützt!« Rudr lachte trocken. »Ein Fetzen Papier! Der Rote Baron wird sich einen Dreck darum scheren.« Sie standen jetzt alle auf, um zu gehen. »Aber was ist nun mit den Seedämonen?« fragte der Mann mit dem schwarzen Bart, dessen Namen Airar noch immer nicht kannte. »Darum müssen wir uns später kümmern; jetzt hat diese Sache erst einmal Vorrang.« Visto half Airar beim Ankleiden. Unser Held hatte noch immer weiche Knie und fühlte sich benommen. Er schaute sich nach Gython um, aber sie war verschwunden. So würden sie nun also auseinandergehen, ohne einander Lebewohl zu sagen; er würde mit zittrigen Knien, auf Vistos Schulter gestützt, in die von Sturm und Schnee geschüttelte Nacht hinausgehen. Vom unteren Ende der steilen Straße her erschollen jetzt Rufe, jemand tauchte mit einer Fackel auf, und Funken wie Worte wurden von dem eisigen Wind davongetragen, hinaus in die dunkle Nacht. Der Sturm war so heftig, daß er den Männern schier den Atem abschnitt. Unten am Hafen herrschte schon
emsiges Treiben; es war so kalt, daß ihre Mäntel kaum Schutz boten. Die Männer kamen zu zweit und zu dritt. Manche hatten Fackeln bei sich, in deren rötlichem Schein hier und da ein Helm oder die Silhouette einer Speerspitze aufblitzte. Rufe flogen hin und her: »Wo ist Vardomil?« – »Er ist schon im Skoronär Nedils Gallai.« Als am Nachmittag der Sturm heraufgezogen war, hatte man die Schiffe alle in den Hafen gebracht, wo sie nun dicht nebeneinander an der Hafenmauer lagen und knirschend und polternd gegeneinanderschlugen, wenn wieder eine schwere See durch die Hafeneinfahrt zwischen den beiden Klauen der Sphinx hereinrollte. Airars Herz begann, heftig zu pochen, als er im Dunkel den Spalt sah, der sich jedesmal, wenn eine Woge gegen die hölzernen Leiber der Schiffe rollte, zwischen der Reling und der rutschigen mit gefrorener Gischt überzuckerten Kaimauer auftat. Aber an Vistos Arm und mit Hilfe eines freundlich vorgestreckten Arms gelangte er sicher hinüber auf das Schiff. Auf dem Rundstein flackerte schon ein Feuer. »Sorgt dafür, daß es nicht erlischt, junger Herr«, sagte einer der Männer, die ihm auf Deck geholfen hatten. »Wir müssen oben bleiben und auf die Takelage achten.« »Kann ich mich nicht irgendwie dabei nützlich machen?« »Nein, Ihr müßt unten bleiben; Ihr seid Fracht.« So blieb er unter Deck zurück. Die Luke wurde über ihm zugeschlagen, und er hörte über sich das Stampfen von Füßen und gedämpfte Rufe. Kurz darauf endeten das Knirschen und Poltern an der Au-
ßenseite des Schiffes mit einem Schlag, woraus Airar den Schluß zog, daß das Schiff, das neben ihnen gelegen hatte, abgefahren war. Dann spürte er, daß auch sie ausliefen; mit unregelmäßigen, wilden Stößen stampfte der Skoronär durch die aufgewühlten Fluten und wurde wie eine Nußschale von den Wellen emporgehoben und wieder fallengelassen. Das Stampfen wurde stärker, als sie die äußere Hafenbarre passiert hatten und ins offene Meer hinausliefen. Airar legte sich, fest in seinen Mantel eingewickelt, auf eine Bank dicht beim Feuer, und da er in dem heftig schwankenden Schiffsbauch keinen Schlaf finden konnte, verfiel er ins Grübeln und dachte darüber nach, was ihn wohl am Ziel der Reise erwartete. Auch an Gython dachte er und an ihren plötzlich aufflammenden Zorn, für den er keine Erklärung fand. Er war tief betrübt bei dem Gedanken, daß ausgerechnet sie, der er bedingungslos vertraut hatte, ihn so im Stich ließ und nicht merkte, daß es bloß einer kleinen Ermunterung und ein wenig menschlicher Wärme bedurft hätte, ihn in den dunklen, schweren Stunden nach dem Zaubern wiederaufzurichten. Doch dann dachte er: Vorbei und vergessen all das nun, denn sie war ohnehin für immer aus seinem Leben verschwunden, und er konnte jetzt, aus der Entfernung, die Sache wieder mit klarem Blick betrachten. Natürlich hatte sie gewisse Gründe, sich so zu verhalten, um so mehr, als Rudr geplant hatte, sie beide zusammenzubringen. Keine Frau liebt es, wenn ein Mann ihr am Rockzipfel hängt, wenn Kraft und Heldenmut gefragt sind – zumindest kaum eine, verbesserte er sich und erinnerte sich daran, wie sein Vater, Alvar, oft geweint hatte und wie ihn seine Frau
getröstet hatte, damals, bevor sie starb und Alvar mit gebrochenem Herzen nach Naaros zu Tholo ging. Aber diese Gython war von einem anderen Schlag – er wälzte sich ruhelos herum und dachte daran, wie anmutig sie aussah, wenn der Wind in ihren Kleidern spielte und der Stoff den sanften Rundungen ihres Körpers folgte. Aus und vorbei; nun würde wahrscheinlich Visto sie bekommen und mit ihr eine Schar von Fischerlümmeln in die Welt setzen und großziehen. Nun, ihre Schuld und nicht seine, daß sie eine bessere Zukunft ausgeschlagen hatte; aber seine Schuld war es, daß er sich von Rudr zum Zaubern hatte überreden lassen. Aber das war nun einmal der Preis gewesen für die fünfzig Männer, in denen all seine Hoffnung für die Zukunft lag – aber was hatte er ihnen voraus, jenen fünfzig Männern, abgesehen vom Bogenschießen (was sie ohnehin verachteten) und von seinen Kenntnissen im Bereich der Magie? Airar hielt sich an einem Schiffsbalken fest, legte neue Holzscheite auf den Rundstein und beschloß, nur noch dann seine magischen Fähigkeiten anzuwenden, wenn kein anderes Mittel mehr half. Als nächstes fiel ihm Pertuit ein, der Bogenschütze, und nicht ohne gewisse Eitelkeit dachte er daran, was dieser wohl gesagt hätte, wenn er ihn jetzt so hätte sehen können, wie er nach Salmonessa segelte; nicht als Mietling, sondern als Hauptmann über fünfzig Männer. Eine ganze Weile gab er sich dem Vergnügen dieses Gedankens hin und verfiel schließlich in einen Tagtraum, in dem ihm inmitten einer großen Stadt unter dem Geläut von Glocken von den Bürgern gehuldigt wurde. Ein Geräusch von oben riß ihn unliebsam aus dieser Träumerei; die Luke öffnete sich, und ein paar
Männer kamen herunter, um einen Schluck heißes Getränk zu sich zu nehmen. Mit Tagesanbruch ließ das heftige Stampfen des Schiffes ein wenig nach. Airar ging auf Deck. Das Schiff flog, von einer frischen Brise getrieben, rasch in nordöstlicher Richtung dahin. Die Ruderpinne hatte man festgebunden. Unter strahlendem Himmel erklomm das Schiff riesige Berge von Wasser und glitt, sobald es den Gipfel erreicht hatte, sanft in das nächste Wellental. Den Bug bedeckte eine wahre Märchenpracht fantastisch anmutender Figuren aus Eis. Einer der Fischer stand dort; er hatte sich an der Reling festgebunden und versuchte, sich durch rhythmische Körperbewegungen warm zu halten. Es war bitterkalt. Airar packte ein Tau und ließ den Blick schweifen, dicht neben ihnen glitt ein weiterer Skoronär durch die Wellen, und in der Ferne sah er kurz einen hellen Fleck auftauchen, der von der nächsten Woge gleich wieder verdeckt wurde: ein weiteres Schiff. Die eiskalte Gischt stach ihm ins Gesicht; der Schiffsführer trat neben ihn und starrte ihn mit mürrischem Gesicht an. »Guten Morgen«, brummte er. »Sieht ganz so aus, als sollten wir statt mit fünfzig nur noch mit zwanzig Mann in Salmonessa ankommen.« »Wieso denn das?« »Die Braihed ist an der Hafeneinfahrt von Vagai auf einen Felsen gelaufen; keiner weiß, wieviel Mann überlebt haben. Nur die Gulring ist noch bei uns. Wahrscheinlich ist also auch die Nedils Gallai gesunken. Das wird eine traurige Rückreise nach Gentebbi, junger Herr.« Er beendete den Satz mit einem schrä-
gen Seitenblick und betonte das letzte Wort besonders stark. »Was ist denn dann das für ein Schiff dort hinten?« fragte Airar und zeigte auf den Punkt in der Ferne. Statt zu antworten, blickte der Schiffsführer ihn scharf an; dann trat er an die Reling, und während er sich mit der einen Hand festhielt, legte er die andere wie einen Schirm über die Augen und spähte in die Ferne. »Potztausend!« schrie er und drehte sich zu Airar um. »Ihr habt recht! Holt die Schoten ein! Ruder hart Steuerbord!« Er wandte sich zum Mast um und formte die Hände zu einem Trichter. »Ové, du bist ein ausgemachter Dummkopf! Der... der junge Herr hier sieht besser als du dort oben vom Ausguck. Setzt alle eure Helme auf und nehmt eure Speere zur Hand; vielleicht handelt es sich um ein feindliches Schiff.« Es war kein feindliches Schiff; als es näherkam, stellte es sich schnell heraus, daß es die vermißte Nedils Gallai war. Und als man hörte, daß sie alle Besatzungsmitglieder von dem untergegangenen Schiff bis auf einen aufgefischt hatte, war der Jubel groß. Die Männer lobten Airar in höchsten Tönen für sein scharfes Auge und priesen ihn als einen großen Führer; denn er war von allen der einzige gewesen, der das verloren geglaubte Schiff erspäht hatte. Die See beruhigte sich jetzt mehr und mehr, und sie machten gute Fahrt. Als der Abend des dritten Tages ihrer Reise dämmerte, tauchte am Horizont eine feine Linie auf, die bald darauf zu einer breiten Flußmündung wuchs, über der sich eine befestigte Brücke erhob. Und weiter hinten, kaum noch erkennbar vor dem
schnell dunkler werdenden Himmel, ragten Türme empor, die, so wußte Airar, zu der Festung des Bastards von Salmonessa gehörten. Die Wolken hatten sich jetzt vor die sinkende Sonne geschoben und die Farbe des Flusses war in ein tiefes Schiefergrau übergegangen. Die Segel wurden gerefft, und die Männer begaben sich an die Ruder, als sie in die Flußmündung einliefen. Nach Westen und Norden erstreckten sich ausgedehnte Ebenen, die aussahen wie Felder, auf denen überreif und braun die Frucht stand. Mitten durch diese Felder zog sich die Straße hin, die zur Stadt führte. »Salmonessa ist spät dran mit der Ernte«, sagte Airar. Visto lachte. »Ja, aber nur, wenn die Ernte aus Fröschen und Fischen bestünde. Was du dort siehst, sind die Sümpfe von Salm. Sie erstrecken sich bis an die Grenze von Mariola.« Die Nedils Gallai schloß jetzt zu ihnen auf. Der lange Erb schrie herüber, es wäre das beste, wenn Airar für alle spräche; die Salmonessaner legten großen Wert auf Titel und Zeremoniell. Es war Ebbe; der Fluß wälzte sich träge dahin. An beiden Ufern zog sich ein breiter Streifen von Schlamm hin, der mit Reif bedeckt war. In der Mitte des Flußbettes hatte man Pfähle eingerammt so daß nur jeweils ein Schiff die Brücke passieren konnte. Aber selbst das war im Augenblick unmöglich, denn eine rostige Eisenkette, quer über den Fluß gespannt, verhinderte ein Weiterkommen. Als sie bis an die Kette herangefahren waren, schob sich ein behelmter Kopf über den Rand der Brücke. »Wer da?« Airar winkte mit einem weißen Speer. »Freie Fischer aus Gentebbi, die gekommen sind, um im Dien-
ste des Herzogs zu kämpfen.« »Kehrt wieder zurück. Seine Hoheit hat angeordnet, daß niemand seinem Banner folgen darf, außer jenen, die einem Führer von hoher Geburt folgen. Nicht aber solche, die ihrem eigenen, unbeherrschten Willen folgen wie die stolzen und hochmütigen Dalekarlier aus dem Westen. Oder wie jene rohen, ungebildeten Vulkinger, die einen Mann an einem Tag zum Lord erheben und ihn am nächsten Tag schon einen Schurken schimpfen.« »Ich bin der Führer dieser Männer, und ich bin von ebenso hoher Geburt wie jeder beliebige Salmonessaner. Ich bin Airar Alvarson von Trangsted.« Ein zweiter Kopf tauchte jetzt auf. »Ha!« schrie der Mann. »Dem Klange Eures Namens nach seid Ihr also ein Dalekarlier aus Västmanstad. Was habt Ihr denn für ein Wappen, Dalekarlier?« Der Ton war ziemlich spöttisch, und Airar geriet einigermaßen in Verlegenheit, denn sein Vater war kein Ritter. Zwar gab es vage Hinweise darauf, daß seine Mutter irgendwann einmal adlige Vorfahren gehabt hatte, aber darüber war zu Hause niemals gesprochen worden. Aber er besaß genug Kühnheit, die Nerven zu behalten: »Unser Wappen ist ein Pfeil auf azurblauem Untergrund.« »Von einem solchen Wappenschild haben wir noch nie etwas gehört«, brummte der zweite Wachtposten, und dann zogen sich beide zur Beratung zurück. Nach einer Weile tauchten die Köpfe wieder auf. »Haben diese Fischer schon in aller Form den Treueid geschworen?« Bei diesen Worten sprang ein Mann an Bord der Nedils Gallai auf und schüttelte die Faust. »Treueid?«
schrie er. »Wir freien Fischer sind gemäß unserer Heiligen Charta niemandem untertan, der unter dem Kaiser steht!« Erb zog ihn zurück und rief: »Es ist das erste Mal, daß das Volk von Gentebbi dies tut, aber ich schwöre hiermit bei der Quelle, Airar Alvarson, den Scharfäugigen, als meinen Lehnsherrn anzusehen, solange dieser Krieg dauert.« »Auch ich schwöre es!« rief Visto, und dann schlossen sich weitere Männer an. Einen Moment lang war Airar mit Stolz erfüllt. Er dankte gerührt. Die beiden Wächter zogen sich erneut zurück, tun sich zu beraten. Schon bald darauf trat einer der beiden wieder vor und rief: »Dies ist eine zu wichtige Angelegenheit, als daß wir darüber entscheiden können. Hier soll der Kanzler seiner Hoheit selbst befinden. Wir müssen erst eine Botschaft hinauf zum Schloß senden. Auf keinen Fall aber dürft Ihr nach Sonnenuntergang das Tor passieren.« Von diesem Standpunkt war er durch kein Argument abzubringen; ja, er ließ sich nicht einmal dazu bewegen, ihnen zu gestatten, die Schiffe über Nacht an den Pfählen zu vertäuen. Es blieb ihnen daher nichts anderes übrig, als wieder ein Stück stromabwärts zu fahren und am Rande des stinkenden Marschlandes vor Anker zu gehen. Die Stimmung hob sich jedoch wieder, als Rogai in einem kleinen Boot von seinem Schiff zu ihnen übersetzte und ihnen die Zeit mit der lustigen Anekdote über einen der Hauptmänner des Vicomte Iselé vertrieb. Dieser Hauptmann war bei der besagten Dame, bei der der Mann aus Mariola sich verborgen hielt, aufgetaucht, um ebenfalls an den Freuden teilzuhaben, die sie zu
bieten hatte. Den mictonesischen Sklaven, der den Hauptmann begleitete, hatten sie mit gewissen Getränken und fantastischen Geschichten von bösen Geistern traktiert; dann hatten sie mit Hilfe eines Blasebalgs in einem Nebenraum ein solch schauerliches Stöhnen erschallen lassen, daß der arme Sklave es nicht mehr aushielt und wie von Furien gehetzt in das Zimmer stürzte, in dem der Hauptmann soeben den Gipfel aller Wonnen erreichte. »Schwert und Helm!« schrie er mit blankem Entsetzen in der Stimme. »Sie sind hinter uns her!« Darauf gaben beide in panischer Angst Fersengeld – halbnackt und ohne Wams. »... von welchem ich dann als Trophäe das Hauptmannszeichen entfernte und als Beweisstück mitgebracht habe«, beendete Rogai seine Geschichte, worauf alle in schallendes Gelächter ausbrachen.
10 Salmonessa: Jetzt sind wir Lehnsleute Am Morgen blies ein starker Wind vom Land her, der das Schilf auf der Marsch nahezu waagerecht bog und das Rudern zur Brücke zu einer mühseligen Plackerei machte. Inzwischen war die Nachricht von Herzog Roger eingetroffen. Sie erhielten die Erlaubnis, das Tor zu passieren unter der Bedingung, daß sofort bei ihrem Eintreffen in der Stadt alle fünfzig Männer in Anwesenheit des Herzogs höchstpersönlich schworen, Airar als ihren Lehnsherrn zu betrachten; einen ähnlichen Eid sollte dann Airar dem Herzog leisten. Airar merkte, daß der größte Teil der freien Fischer die zu erwartende Prozedur zutiefst verabscheute; mehrere von ihnen maulten und schimpften wie die Rohrspatzen, während sie auf Deck standen und von einem Fuß auf den anderen traten um sich warm zu halten. Aber Erb hatte die Gemüter bald wieder beruhigt, indem er erklärte, daß es denjenigen, die sich weigerten, den Eid abzulegen, freistünde, mit einem der Schiffe wieder nach Vagai zurückzukehren; es war klar, daß daraufhin alle lieber ihren Stolz hinunterschluckten, als dem alten Rudr unter die Augen zu treten, ohne seinen Anordnungen Folge geleistet zu haben. Der Strom Viverrida fließt sowohl durch Salmonessa hindurch als auch um die Stadt herum. Außerhalb der Mauern trennt er einige Vororte von der Stadt, in denen sich hauptsächlich Hütten befinden. Im Sommer (so Visto) kamen Händler dorthin, meist aus Mariupol und den Zwölf Städten, um auf dem Markt des
Herzogs ihre Waren feilzubieten. Diese Hütten standen jetzt, da es Winter war, alle leer; sie waren so planlos auf dem Gelände verstreut wie achtlos fortgeworfene Schalen von Früchten. Hinter ihnen, aus dem trübe dahinfließenden Wasser des Stadtgrabens, stiegen die großen Mauern empor, die leicht nach innen gekrümmt waren. Die Krümmung ließ sie nur noch mächtiger und höher erscheinen. Die steinerne Woge brach sich ganz oben in einem kunstvollen Maßwerk aus Zinnen und vorspringenden Türmchen. Das Stadttor war die vordere Öffnung eines riesigen Tunnels, der mitten in das Herz eines mächtigen Berges zu führen schien. Ein gewaltiges Fallgatter aus Eisen hing über ihren Köpfen, als Airar und seine Männer durch das Tor in die Stadt hineinglitten. Am anderen Ende des Tunnels kam ein weiteres Gatter. Sie sahen nichts als eine kahle Wand aus Mauerwerk, hier und da von Schießscharten unterbrochen. Als sie aus dem niedrigen Tunnel wieder herauskamen, sahen sie, daß dieser innere Wall gleichsam aus der Haupt-Stadtmauer hervorsprang und sich quer über den Strom wölbte, just an der Stelle, wo er eine Biegung machte, um sich durch die Mauern und von dort aus weiter in Richtung Meer zu wälzen. Dieser innere Wall endete in einem riesigen Turm. Weder am Fenster noch an einer der Zinnen zeigte sich ein Gesicht, obwohl man bei näherem Hinsehen das Augenpaar entdeckt hätte, das aus dem Dunkel nach ihnen spähte. Die Schiffe glitten weiter voran, Airars fuhr an die Spitze. Als sie den Turm passiert hatten und aus der Flußbiegung herauskamen, lag das äußere Salmonessa vor ihnen. Längs des Flusses, der hier wieder breiter wurde, standen die Kaimauern, hinter
denen sich bunt angestrichene Holzhäuser erhoben. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Dahinter erhoben sich auf einem Hügel weitere Türme und Häuser: die innere Stadt. Sie galt als uneinnehmbar. Airar nahm all dies nur nebelhaft und zerstreut auf; denn sofort richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die nahe Kaimauer zu seiner Linken. Etwa zwanzig Männer in voller Rüstung standen dort, in einer Reihe aufgestellt, den Blick nach vorne gerichtet, und warteten. Alle trugen Hellebarden, hatten ein Kurzschwert umgeschnallt, und jeder von ihnen hatte einen Schild mit dem Wappen von Salmonessa, dem Turm und dem Delphin, an der Schulter befestigt. Das erste jedoch, was ihm an den Männern auffiel, war ihre enorme Körpergröße. Airar lachte, stieß einen Pfiff aus und drehte sich zu dem Schiffsführer um denn alle anderen Männer waren an den Rudern. »Das sind ja in der Tat riesige Burschen«, rief er erstaunt aus. »Ich selbst bin ja schon kein Zwerg, aber selbst der kleinste von den Kerlen überragt mich sicher um eine Elle.« »Das sind die berühmten Kahlköpfe. Habt Ihr noch nie von ihnen gehört? Sie sind die Leibgarde des Bastards und haben das Vorrecht, immer als erste plündern zu dürfen, wenn er eine Stadt erobert hat.« Seine Stimme nahm einen geringschätzigen Ton an. »Aber ich glaube kaum, daß sie im Schlachtgetümmel so beweglich sind wie kleinere Männer; denn sie sind aus allen Rassen außer der mictonesischen, zusammengewürfelt und werden gemästet und verhätschelt wie Schweine auf einem Jahrmarkt.« Sie hatten jetzt den Kai erreicht, und zwei Fischer sprangen ans Ufer, um den Skoronär an einen der
Ringe zu ziehen die dort in die Kaimauer eingelassen waren. Ein Mann kam mit zierlichen Trippelschritten an der Leibwache vorbei auf sie zu. Er trug kunstvoll gearbeitete Schuhe aus Samt. Sein gelbes Wams war aus demselben Material gearbeitet. Er trug keine Kopfbedeckung; tiefschwarzes, wundervoll glänzendes Haar fiel ihm in dichten Locken auf die Schultern. Von seiner rechten Hand, die auf dem Griff eines mit funkelnden Juwelen besetzten Dolches ruhte, baumelte eine Parfümkugel herab. Er blieb vor Airar stehen und machte eine schwungvolle, tiefe Verbeugung. »Prinz Urdanezza«, stellte er sich vor. Seine hohe Stimme klang affektiert. »Ich gehe wohl recht in der Annahme daß Ihr der hochwohllöbliche Airar seid. Ich erkannte sogleich an Eurem edlen Dolche, daß Ihr der Mann von noblem Blute seid. Ich bitte Euch tausendmal um Verzeihung für die abscheulichen Gerüche, die diesem Kai entströmen.« Er hob die Hand und schnupperte affektiert an seiner Duftkugel. »Ich versichere Euch, im Palast werden wir uns um ein Vielfaches wohler fühlen. Seine Hoheit, Herzog Roger, brennt schon darauf, Euch endlich zu empfangen und mit eigenen Ohren zu hören, wie Ihr es bewerkstelligt habt, diese sturen Stockfische aus Gentebbi so weit zu bändigen, daß sie einen Lehnsherrn über sich anerkennen. Ebenso geht es der verehrten Lady Malina.« Er hakte sich bei Airar unter und bevor der letztere mehr tun konnte, als ein paar Laute zu murmeln, von denen er glaubte, daß sie nach Höflichkeit klangen, schnatterte er auch schon weiter. »Ihr habt die große Ehre, von einundzwanzig Säulen von Salmonessa zum Schloß geleitet zu werden, mehr, als der Bischof von Moran-
go bei seiner letzten Visite hatte. Wollt Ihr bitte Eure Männer folgen lassen?« Der Geck führte Airar an den riesigen Kerlen vorbei zu einer kunstvoll geschmückten Sänfte, deren Troddeln und Behänge jetzt im Straßenkot lagen. Er trat einen Schritt zur Seite und forderte Airar mit einer Geste auf, das ungewohnte Gefährt zu besteigen. Als Airar Platz genommen hatte, stieg auch er hinein und setzte sich neben ihn. Acht Männer mit glänzenden schwarzen Gesichtern, nicht ganz so groß wie die Hellebardenträger, hoben die Sänfte auf ihre Schultern, und als Airar seinen Kopf hinaussteckte, um nach Erb zu rufen, reihten sich die Gardisten auf beiden Seiten auf, riefen gleichzeitig »Ey-jah!«, und leicht schwankend setzte sich das luftige Gefährt in Bewegung. Durch die Vorhänge sah Airar die Blicke der Zuschauer und fand, daß sie nicht ganz so stolz aussahen wie ihre Gebäude, aber dann bewegte sich die Sänfte unter dem rhythmischen Ruf der kahlköpfigen Leibgardisten rasch vorwärts, und Prinz Urdanezza fuhr mit seinem Geplauder fort: »... eine Verschwörung, zweifelsohne. Vulk will um die Hand von Prinzessin Aurea bitten, aufgrund der Tatsache, daß die alte Verbindung zum Hause von Mariola die älteste Tochter Seiner Majestät dort zur Oberlehnsherrin macht; und dies trotz der Tatsache, daß ihre Hand seiner Hoheit versprochen wurde, vor sieben Jahren schon, bei der Kapitulation von Lectis. Als nächstes findet dieser Vulkinger dann irgendwelche Mittel und Wege, um Prinz Aurareus auszuschalten, oder er schickt ihm schlicht und einfach den Schwarzen Wein, und dann wird er selbst als Vulk der Erste zum Kaiser proklamiert, und wir alle müs-
sen uns nach diesem tödlich langweiligen Rat in Briella mit seinen Abstimmungen und Gesetzen über die Anzahl der Juwelen, die ein Mann tragen darf, richten.« Er gähnte demonstrativ. »Aber ich erzähle Euch da nichts Neues; diese Dinge sind schon Stadtgespräch in Salmonessa.« Airar gab keine Antwort, und Prinz Urdanezza lächelte mit solch erlesenem Charme, daß es ihn schon fast physisch berührte. »Gibt es denn mittlerweile in Vagai Gesellschaft, für die es sich lohnt, seine Zeit zu opfern? Ich habe es nur einmal besucht; als ich auf dem Weg zum Hofe nach Stassia war – ein nach Fisch stinkendes, von Fledermäusen heimgesuchtes Kaff. Nicht ein Haus, das zu betreten wert gewesen wäre, außer vielleicht das Sommerhäuschen, in dem der Ritter von Bremmery Brunnen zu trinken pflegte.« »Ich weiß es nicht. Ich war nur kurze Zeit dort – ich wohnte bei Rudr, dem Führer der freien Fischer.« »Meine tiefe Anteilnahme, werter Airar. Ihr werdet sehen; in Salmonessa ist es anders Seine Hoheit speist niemals mit weniger als zwölf Herren von adligem Geblüt und ebenso vielen Damen obwohl ich nicht verhehlen will, daß er ein paar der letzteren selbst in den Adelsstand erheben mußte. Sagt...«, er beugte sich – plötzlich vertraulich werdend – zu Airar hinüber, und die Sänfte geriet ob seiner abrupten Bewegung für einen Moment ins Wanken, »... sagt, ganz im Vertrauen, seid Ihr persönlich der Ansicht, daß diesen Hauptmännern aus Carrhoene ein Platz am Speisetisch seiner Hoheit gebührt? Dieses Problem macht uns sehr zu schaffen, und es interessiert mich brennend, was ein Mann von Stand aus Västmanstad dazu meint. Da so wenige aus Eurem Land von wahr-
haft nobler Herkunft sind, hat Eure Meinung zu diesem Problem für mich besonderen Wert.« Ein lauter Trompetenstoß enthob Airar einer Antwort. Die Sänfte wurde abgesetzt; Prinz Urdanezza sprang elegant hinaus und bot Airar die Hand zum Aussteigen. Sie befanden sich am Fuße einer Treppenflucht, die zu einem hohen Portal führte. Auf jeder Stufe stand ein Trompeter. Auf den Fähnchen der Trompeten war ebenfalls das Emblem Salmonessas, der Turm und der Delphin, eingestickt. Als Airar aus der Sänfte stieg, bliesen die Trompeter erneut einen Tusch. Über seine Schulter hinweg sah der junge Mann, wie sich die Säulen von Salmonessa in zwei Reihen teilten, die sich links und rechts am Rande der Treppenflucht aufstellten. Hinter ihnen folgten die freien Fischer; einige kicherten, die meisten jedoch schauten von Ehrfurcht ergriffen zu Boden. Auf Erbs Gesicht spiegelten sich deutlich die Seelenqualen der Verlegenheit wider, und Visto bemühte sich, eine möglichst kühne, aber doch freundliche Miene zur Schau zu tragen. »Seine Hoheit achtet peinlich darauf, in aller Form hofzuhalten«, flüsterte Prinz Urdanezza Airar ins Ohr. »Er wird die vollen drei Verbeugungen erwarten.« Am Ende der Treppe war eine Eingangshalle. Als sie den Mosaikfußboden der Halle betraten, verbeugten sich zu beiden Seiten Diener vor ihnen. Dahinter befanden sich zwei große Türflügel, die auf ein Trompetensignal hin aufschwangen. Zwei Hellebardisten hielten vor dieser Tür Wache. Dahinter erstreckte sich fast ins Unermeßliche der Audienzsaal. Über ihnen waren in das feine Maßwerk aus Glas von
Permandos Fackelhalter eingelassen, die nun jedoch leer waren, da durch die bunten Glasfenster Licht im Überfluß ins Innere des Raumes flutete. Prachtvoll gekleidete Lords und Hofdamen bewegten sich, von farbigem Licht umschmeichelt, gedämpft hinter vorgehaltenen Fächern tuschelnd, gemessenen Schrittes auf den Thron zu. Der Prinz machte eine tiefe Verbeugung und flüsterte Airar zu, er möge seinem Beispiel folgen. Airar registrierte, daß der Fußboden schmutzig war. Die dritte Verbeugung dann führte sie vor den Fuß des Thrones selbst. Ein großer Mann räkelte sich nachlässig darauf; neben ihm saß eine Frau, deren Kleid einen derart tiefen Ausschnitt aufwies, daß man fast ihre Brüste sehen konnte. Sie hatte volle Lippen, und ihr Gesicht verriet, daß sie gern lachte. Er trug eine Krone aus Erdbeerblättern auf seinem von schwarzem Bartgestrüpp umrahmten Kopf. Sein speckig glänzendes Gesicht zeigte einen mürrischen Ausdruck. Als er sprach, war seine Stimme viel höher, als Airar erwartet hatte. »Seid willkommen auf Unseren Besitzungen, Lord Airar; dies um so mehr, da mir schier Unglaubliches über Euch berichtet wurde; nämlich, daß Ihr die Fischer von Gentebbi dazu gebracht habt, Euch ihre Lehnsdienste unter meiner Oberherrschaft anzubieten, wodurch Ihr das traditionell freundschaftliche Verhältnis, das seit jeher zwischen Dalekarlien und dem Haus von Salm geherrscht hat, vertieft habt. Wie Unsere Gelehrten Uns berichten, besitzen Wir einen gültigen Rechtsanspruch auf die Oberlehnsherrschaft über jene Inseln; sie waren niemals rechtmäßig unter der Herrschaft jenes König Argentarius, auf dessen
Charta sich diese Leute aus Gentebbi berufen. Doch sehet, welch große Milde Wir walten lassen: Wir erklären hiermit, und jeder Mann kann dies bezeugen, daß sie, wenn sie Uns durch Euch, ihren Baron, den Lehnseid leisten, von allen anderen Ansprüchen, die Unsererseits bestehen, entbunden sein mögen. Ist das nicht ein hochherziges Angebot, meine hochverehrten Lords und Herren?« Aus dem Augenwinkel sah Airar, wie zwei oder drei neben dem Podium sich in stummer Ehrfurcht verbeugten; Rufe wie »Oh, superb!« und »Welch unerhörte Milde!« wurden laut, und an den Wänden des Salons brach sich der Beifall, als die Damen ihre Fächer für einen Moment losließen und in die Hände klatschten. Er selbst wußte nicht so recht, was er sagen sollte, da ihm unklar war, wie seine fünfzig Männer dieses Angebot aufnehmen würden. Andererseits jedoch wollte er es auch nicht wagen, einem solch hohen Herrn wie dem Herzog zu widersprechen. »Ich bin kein Baron«, sagte er schließlich. »Ich bin lediglich zum Führer dieser Männer ernannt worden, die gekommen sind, unter Eurer Standarte das Schwert gegen die tyrannischen Vulkinger zu erheben.« Der Herzog schlug die Beine übereinander. »Wir haben zur Zeit weder die Absicht noch einen Anlaß, das Schwert gegen Vulk von Briella zu erheben«, erwiderte er. »Und Wir werden auch fürderhin keine Veranlassung dazu haben, wenn er sich an seine gesetzlichen und vertraglichen Pflichten hält.« Er wandte sich zur Seite und lächelte einem Mann zu, der rechts vom Thron stand; seiner Erscheinung nach war er kaiserlich; seine Augen blickten glanzlos, und
um seinen Mund kräuselte sich ein spärlicher Bart. »Dies ist lediglich eine Frage des Dienstes. Und was die Baronswürde anbetrifft, so dürft Ihr damit rechnen, daß bei Uns treue Untertanen immer fürstlich belohnt werden. Und nun kommen Wir zu den Eiden.« Airar drehte sich unsicher zu den Fischern um, die dichtgedrängt ein paar Schritt hinter ihm standen und aufgeregt miteinander tuschelten. Erb stand in vorderster Front; sein Blick verriet Bestürzung, und sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. Aber Visto, der neben ihm stand, nickte ihm kaum merklich zu und trat einen Schritt vor. »Ich will schwören.« Von irgendwoher tauchte ein Türsteher auf, auf dessen Livree Turm und Delphin prangten. »Dann müßt Ihr Euch vor Euren Herrn knien«, sagte er, an Visto gewandt. »Ihr müßt beide Hände in die Seinigen legen und die Worte nachsprechen, die ich jetzt verkünden werde.« Am Rande des Salons erhoben sich wieder das Getuschel und Gemurmel der Höflinge, als Visto der Aufforderung nachkam und sich vor Airar niederkniete, aber er sprach die Eidesformel laut und deutlich bis zum Ende, wo die Worte kamen, mit denen der Schwörende erklärte, daß er seinem Herrn in jede Schlacht folgen werde. An dieser Stelle hielt Visto einen Augenblick inne, schluckte und fügte mit eigenen Worten hinzu: »... jedenfalls so lange, wie dieser Krieg gegen die Vulkinger dauert.« Airar nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Herzog Roger irritiert die Stirn runzelte und sich nach vorn beugte, aber einer der Lords, die hinter ihm standen, flüsterte ihm etwas zu. Der Herzog lehnte sich wieder zurück, als Visto zur Seite trat und ein anderer sich
an die Stelle kniete. »Ich, Vardomil von Vagai, schwöre hiermit...« – »Ich, Ové von Vagai...« – »Ich, Nene von Busk...«, so ging es der Reihe nach weiter. Einige sprachen ziemlich laut und barsch, als während der Zeremonie das Getuschel im Saal immer ungehemmter wurde und schließlich in lautes Geplapper überging. Hier und da flammte Gelächter auf. Der Herzog selbst betrachtete das Zeremoniell schweigend, abgesehen von einer gelegentlichen Bemerkung zu der Dame, die neben ihm saß. Airar, der die ganze Szene ein wenig ungläubig betrachtete, nahm gedankenverloren, wie er war, die Gesichter der Männer, die sich da der Reihe nach vor ihm niederknieten, kaum wahr, bis plötzlich – etwa vierzig hatten bis zu diesem Zeitpunkt den Eid schon abgelegt – irgend etwas an der Gestalt mit dem hellen Haar, die da jetzt vor ihm kniete, seine Aufmerksamkeit anzog. War es die Art, wie sie sich bewegte? Irgend etwas jedenfalls kam ihm sehr bekannt vor. Eine helle Stimme sagte: »Ich, Eythor von Vagai...« In diesem Augenblick lief es ihm heiß und kalt über den Rücken, und er zuckte so heftig zusammen, daß er die vor ihm kniende Gestalt beinahe umgestoßen hätte. Ungläubig und voller Bestürzung starrte er in die Augen von Gython. Ihm blieb keine Zeit, nach dem Wieso und Warum zu fragen, denn die Eidesformel näherte sich jetzt dem Ende, und Gython, die ganz in der groben, einfachen Tracht der Fischer gekleidet war, zog ihre kleinen, kühlen Hände aus seinen und ging wieder an ihren Platz zurück. Airar bemerkte jedoch, wie Roger, der Bastard von Salmonessa, aufmerksam den Blick von dem Mädchen zu Ové Ochsenmaul, der ne-
ben ihm stand, wandern ließ, und er spürte eine heftige Woge grundloser Wut in sich aufbranden. Doch im selben Moment kniete schon der nächste vor ihm, um den Eid abzulegen, und gleichzeitig erschien ein zweiter Türsteher vor dem Herzog, machte eine Verbeugung und überreichte eine Botschaft, worauf der Herzog über das Geplapper der Anwesenden und die feierliche Deklamation des Schwures hinweg schrie, der Bote solle warten, er habe gerade zu tun. Inzwischen war auch der letzte mit dem Eid fertig. Der Türsteher geleitete Airar zum Fuß des Throns, wo er sich, wie vorher die Fischer vor ihm, niederknien mußte. Er hatte etwa die Hälfte der Eidesformel gesprochen, als ihn der zweite Schock während dieser Zeremonie ereilte: Eine der mit Ringen bedeckten Hände, die seine Hand ergriffen, besaß nur drei Finger. Seine Stimme versagte ihm fast den Dienst, als er sich schlagartig wieder an die Nacht in der Hütte des Zauberers erinnerte und an die Worte Meliboës, als dieser von dem Glück des dreifingrigen Mannes gesprochen hatte. Das Gefühl drohender Gefahr schnürte ihm die Kehle zu, doch er riß sich zusammen und sprach die Eidesformel zu Ende. Herzog Roger hielt ihm eine Hand zum Kuß hin und ließ sich lächelnd in seinen Thronsessel zurücksinken. »Lord Airar, Ihr habt die Ehre, heute abend mit Uns zu speisen.« Dann forderte er mit einer Handbewegung die Fischer zum Verlassen des Saales auf. »Es ist nicht unwahrscheinlich... nein, halt, wartet! Wir wollen erst hören, was der Herold zu berichten hat.« Prinz Urdanezza nahm Airar beim Arm und geleitete ihn an die Seite des Saales, nicht weit von der
Stelle, wo ein dunkeläugiges Mädchen ihm in der vordersten Reihe Platz machte, wobei es ihn vielversprechend anlächelte. Aus den Reihen der Herren und Damen des Hofes trat jetzt ein Herold hervor. Er war ganz in schlichtes Weiß gekleidet, aber auch ohne den stilisierten Roten Berg von Briella, der auf seinem Heroldsrock prangte, war er an seiner Hakennase und an dem breiten Gesicht, aus dem diese hervorsprang, leicht als Vulkinger zu erkennen. Er machte am Fuß des Podestes halt, auf dem der Thron stand, und ohne auch nur einmal den Blick von Herzog Roger abzuwenden, sprach er mit lauter und klarer Stimme: »Herr von Salmonessa, im Auftrag meines Herrn, des Grafen Vulk von Briella, des Herrn von Os Erigu, des Kaiserlichen Statthalters aller dalekarlischen Provinzen, verkünde ich hiermit folgendes: daß es meinem Herrn, dem Grafen, in Anbetracht seiner Stellung im Kaiserreich unmöglich ist, hinzunehmen, daß einer, der außerhalb des Reiches steht, Rechtsansprüche auf Oberlehnsherrschaft oder Jurisdiktion innerhalb der Grenzen des Reiches geltend macht, sei es unter Berufung auf das sogenannte Privileg von Mariola, sei es unter Berufung auf irgendein anderes, längst ungültig gewordenes Dokument; das er in seiner Stadt Mariupol nach eigenem Gutdünken zu verfahren sich nicht streitig machen läßt; daß er Euch auffordert, unverzüglich Eure Soldateska und andere räuberische Elemente aus Markshaun und anderen Gebieten auf dalekarlischem Territorium abzuziehen; daß er Euch darüber hinaus auffordert, für den Schaden, den Ihr auf seinem Territorium angerichtet habt, eine angemessene Buße zu zahlen, deren genaue Hö-
he noch vom Hofe in Stassia festzusetzen ist, und daß er Euch dringend ersucht, den Hochverräter Rogai von Mariola zusammen mit anderem Gesindel ähnlichen Schlages, das sich zur Zeit in Eurer Stadt aufhält, unverzüglich an ihn auszuliefern.« Die Mundwinkel des Herzogs zuckten unter seinem Bartgestrüpp. »Fordert er mich vielleicht nicht auch noch auf, mit einem Ring durch die Nase nach Briella zu kommen und Kratzfüße vor ihm zu machen?« Bei diesen Worten brauste eine Woge wahren Spottgelächters durch den Saal, aber der Herold verzog keine Miene, als er mit mächtiger Stimme den Lärm übertönte: »Herr von Salmonessa! Welches ist Eure Antwort?« »Hier hast du meine Antwort!« Herzog Roger beugte sich auf seinem Thron vor, richtete sich halb auf, räusperte sich und spie den Herold an. Gelber Speichel rann über den Rock des Herolds. Die Halle schrie und tobte vor Vergnügen. Der Bote zerbrach seinen weißen Stab, warf Herzog Roger die Bruchstücke vor die Füße und schrie: »Dann also Krieg!« Außer Airar und vielleicht ein paar in seiner unmittelbaren Nähe sah niemand bei all dem Tumult, wie der Herold den besudelten Rock seines Gewandes mit beiden Händen hochhob und sagte: »Er ist grau, aber er wird rot sein, wenn er im Blute Salms gewaschen ist.«
11 Salmonessa: Der Herzog plant Mitten in der Nacht wurde Airar wach. Irgend etwas hatte ihn berührt. Er schlug die Augen auf. Gleich darauf spürte er wieder den leichten Druck eines Fingers direkt unter seinem linken Ohr. »Was ist?« fragte er leise. Dann richtete er sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und zog sofort die Decke fest um seinen Leib; denn es war eisig kalt. Im fahlen Licht des kalten Mondes, der zu seinem Fenster hereinschien, erkannte er die scharfen Gesichtszüge von Rogai, dem Mariolaner. »Was ist los?« fragte er noch einmal. Der Jäger lachte kaum hörbar in sich hinein. »Gefällt's dir hier?« Er machte eine verächtliche Geste mit der Hand. »Ich meine, das ganze Theater um seine Hoheit herum... Küßchen hier, Küßchen da, und gleichzeitig rümpft er verächtlich die Nase über die Sternenhauptmänner von Carrhoene, die ja schließlich – wer sonst – unsere Führer in dem bevorstehenden Kampf sein werden. Ich bezweifle stark, daß seine Hoheit in der Lage ist, einen ordentlichen Schlachtplan aufzustellen.« »Ich dachte, es wären bloß fünf«, sagte Airar. Er dachte wieder an jenen Tag zurück, als die Schiffe aus Carrhoene einliefen und die Männer in ihren glänzenden Rüstungen durch die Stadt ritten. Die Helme hatten klirrend an ihren Seiten gehangen; dahinter die Speere, und in den Straßen hatten die Menschen, geblendet von der kriegerischen Pracht, begeistert gejubelt. Auf jedem ihrer schwarzen Köpfe hatte jene
strahlend weiße Strähne geleuchtet, deretwegen man ihnen den Namen »Hauptmänner des Sterns« gegeben hatte. Wieder lachte Rogai in der Dunkelheit leise vor sich hin. »Wußtest du nicht, daß das letzte Kind jener zwei Drillingsgeburten ein Mädchen war... Evadne? Sie kleidet sich wie ein Mann und nennt sich Evander. Sie folgt ihren Brüdern auf Schritt und Tritt, außer auf das Schlachtfeld. Dein Unterführer Erb könnte dir das genausogut erzählen – er verehrt sie heiß und innig und betet sie aus der Ferne an. Aber du wirst genug damit zu tun haben, deine eigenen Weiber zu verstecken, als daß noch Zeit bliebe zu bemerken, daß auch andere das tun.« »Wer hat dir das gesagt?« »Psst, nicht so laut! Wir können diese Unterhaltung nicht zu einer öffentlichen Plauderstunde machen. Zu deiner Frage: Alcides von Carrhoene, der Baron Basale von... hab' ich wieder vergessen. Der ganze Hof weiß ja schon von deinen liebeskranken Blicken, mit denen du diesen angeblichen Fischer bei der Bogenschießübung angehimmelt hast. Da wir gerade beim Bogenschießen sind – du wirst aus deinen Fischern nie richtige Schützen machen. Sie haben zwar ein gutes Auge und eine ruhige Hand dafür, aber sie lehnen es innerlich ab; und in dem Augenblick, wo es mitten im Schlachtgetümmel darauf ankommt, eine Waffe geschickt zu handhaben, vergessen sie alles wieder!« »Ich – ich weiß nicht...« »Was für ein braves Kerlchen er doch ist! Leg mal deine Hochlandmanieren hier in Salmonessa schleunigst ab, lieber Freund Airar, sonst zweifeln die Leute
hier bald daran, daß du adlig bist. Liebe treibt man hier wie einen Sport – nur keine falsche Scham; trau dich ruhig! Du sinkst gewiß um keinen Deut in unserer Achtung, wenn du jemanden liebst, auch nicht, wenn du es heimlich tust, außer, wenn deine Heimlichtuerei kindisch wirkt. Schau dir doch Urdanezza an und Lady Irene, oder Alsander und Dalmonea; sogar ich habe inzwischen schon ein Auge auf jemand geworfen, auf Lady Malina von Deidei. Es heißt, der Herzog werde ihrer allmählich überdrüssig und schaue sich schon nach was Neuem um. Nun sei mal nicht bischöflicher als der Bischof selbst. Uns bleibt nur noch eine Woche Zeit für Liebesschwüre, und die sollten wir nutzen, wer weiß, was dann kommt! Danach blasen die Trompeten zur Schlacht, und wir müssen alle marschieren. Und weißt du, ob wir jemals wieder zurückkehren? Aber ich bin eigentlich nicht gekommen, um dir dies zu sagen...« Er hielt inne, als Airar, der glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, erschrocken eine Hand auf sein Knie legte. Aber es war bloß eine Ratte, die durch den Raum gehuscht war. Roger fuhr fort, noch leiser als bisher: »Ich frage mich, was der Herzog wohl beabsichtigt. Zum Beispiel diese Sache, daß er dich als Adligen aufgenommen hat; dadurch ist ihm ein legaler Rechtsanspruch auf Gentebbi erwachsen.« »Meine Mutter...«, begann Airar. »... aus Västmanstad? Ich lache gleich.« (Doch er lachte nicht.) »Aber du bringst mich vom Thema ab. Höre – mit welchen Mitteln hält er wohl diese Hauptleute aus Carrhoene bei der Stange?« »Aber du sagtest doch selbst, daß Alsander und die
Gräfin Dalmonea...« »Ja, und Alcides und seine mictonesische Hure, die er immer beim Essen im Arm hält: Salmonessas wichtigster Sport, wie ich schon sagte. Aber sie sind Söldner, und seine Hoheit ist arm wie ein Heidenprophet. Laß dich von seinem prunkvollen Hof nicht täuschen. Seit Vulk Mariupol besetzt hält, sind alle seine Geldquellen verstopft; was hält unter diesen Umständen die Männer aus den Zwölf Städten hier?« Airar blieb still; ihm fiel dazu nichts ein. Das Strohbett, auf dem sie saßen, erzitterte leicht unter Rogais erregten Gesten, als er sprach: »Ich sag' dir eines: Die ganze Sache stinkt verdammt gefährlich nach Verrat. Warum wohl zögert er so offensichtlich, nach Mariupol zu marschieren und Vanette-Millepigue zur Schlacht zu stellen, bevor dieser die Zeit hat, die gesamte Armee der Vulkinger an der Grenze zu massieren? Warum läßt er sich so viel Zeit damit, die salmonessanischen Barone zu benachrichtigen? Man sollte normalerweise annehmen, daß es in und außerhalb der Stadt nur so von bewaffneten Männern wimmelt. Aber Malina hat mir gesagt, daß noch keines der vier Truppenkontingente aufmarschiert ist. Und von Deidei, der großen Baronie ihres Vaters oben in den Bergen, ist bisher nicht ein einziger Mann gekommen.« Airar murmelte, dieses Zögern sei vielleicht so zu erklären, daß der Herzog erst einmal alle verfügbaren Kräfte sammeln wollte, bevor er losschlüge. Aber Rogai hatte sich schon zu sehr in seine Idee verliebt, als daß er noch eine andere Meinung gelten ließ: »Da ist Verrat im Spiel, glaub mir; bestimmt hat er die Absicht, sich mit den Vulkingern zu verbünden
und dann gemeinsam mit ihnen einen Eroberungszug gegen die Zwölf Städte oder Os Erigu zu unternehmen, und wir stecken mittendrin.« »Schön und gut; was sollen wir also tun? Fliehen vielleicht?« »Wo alle Tore streng bewacht sind – und ich mit meinen fünfhundert mariolanischen Geächteten? Hah! Aber hör mal – du bist doch ein Meister der Zauberkunst. Kannst du diesen Herzog nicht durch einen Zauber dazu bringen, daß er sich an seine Verpflichtungen hält?« »Einen solchen Zauberspruch habe ich nicht, und selbst wenn es ihn gäbe, würde ich ihn niemals anwenden. Diese Zauberei schwächt mich jedesmal entsetzlich.« »Und erst recht Dalekarlien, wenn du nicht mitspielst. Sag mir doch, Freund Airar, gibt es wirklich keinen Zauberspruch, mit dem du einen Mann gefügig machen und ihn deinem Willen unterwerfen kannst? Ich hab' so etwas schon mal gehört.« Airar dachte an den Unterwerfungsspruch und an das, was sein Vater ihm über dessen Anwendung gesagt hatte. »Ja, es gibt einen solchen Zauberspruch«, sagte er gedehnt. »Aber seine Wirkung ist nur von sehr kurzer Dauer, und der Mann, der unter seinem magischen Bann steht, kann auch nicht dazu gebracht werden, etwas zu tun, das er nicht zumindest schon einmal in Gedanken hat tun wollen. Außerdem brauche ich dazu irgend etwas von seinem Körper – ein Stück Fingernagel oder so etwas.« »Hah! Wenn das alles ist – um die Details mach dir keine Sorgen, darum werde ich mich schon kümmern. Und wenn sich herausstellt, daß er tatsächlich
ein falsches Spiel mit uns treibt, dann bring ihn an einen vereinbarten Ort; die Verbannten von Mariola werden schon ein Wörtchen mit ihm reden.« Er stand auf, drückte kurz Airars Hand und verschwand ohne Abschiedsgruß. Die Tür öffnete sich geräuschlos zu einem Spalt durch den kurz ein Streifen Mondlicht in den Raum fiel, dann schloß sie sich wieder. Airar legte sich hin und versuchte einzuschlafen, aber zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er überlegte, ob Rogai nicht vielleicht ein wenig zu voreilig war, dem Herzog Verrat zu unterstellen. Waren seine Argumente wirklich so zwingend, daß er, Airar, wieder seine magischen Fähigkeiten anwenden mußte, die er sich ja nur noch für den äußersten Notfall hatte vorbehalten wollen? Würde es tatsächlich zur Krise kommen, wenn Herzog Roger sich als Verräter entpuppte? Die, die nicht wissen, was eine Arznei ist, und die Heilkunde nicht kennen, wollen sie für jeden Schnupfen anwenden – und welchen Sinn hätten Folter oder Tod eines im Grunde bedeutungslosen Feudalherren? Während ihm noch all diese Gedanken durch den Kopf gingen, überkam ihn der Schlaf, und als er aufwachte, graute schon der Morgen des Tages, an dem der Herzog auf den Wiesen vor der Stadt die Parade seiner Armeen abnehmen wollte und die Hauptmänner ihre Anweisungen entgegennehmen sollten. Seine Hoheit saß zu Pferd auf einem kleinen Hügel direkt jenseits des Brückentors, umringt von seinen Hofadligen. Die Säulen von Salmonessa marschierten als erste in Gardeformation los. Airar, der sich mit seiner eigenen Truppe in der Azagastraße aufgestellt hatte, sah, wie sie vorbeimarschierten. Mit ihren
glänzenden Helmen, deren lange Schweife bis über die in der Sonne aufblitzenden Schulterplatten fielen, gaben sie ein beeindruckendes Bild ab, wie sie da, jeder einen riesigen Schild über dem linken Arm haltend, im Takt ihres regelmäßigen Marschgebrülls einhermarschierten. Er wandte sich um, in der Hoffnung, einen Blick von Gython zu erhaschen, aber sie hatte sich schon in ihrer Soldatenkleidung unter die anderen gemischt, um, wie üblich, seinen Blicken zu entgehen. Jemand berührte seinen Ellbogen. Er drehte den Kopf und schaute in Vistos Gesicht. »Meister Airar!« »Was gibt's denn, Visto? Ist etwas nicht in Ordnung?« »Nicht alles. Ich möchte mit dir sprechen.« »Worüber?« »Nicht hier vor all den anderen, es wird etwas länger dauern.« Airar überlegte: Nach der Truppeninspektion würde nach alter salmonessanischer Sitte ein Bankett stattfinden. »Also gut; heute abend, wenn sich alle zurückziehen. Du weißt, wo meine Unterkunft ist? Im runden Nordturm des oberen Schlosses; dritte Etage.« »Wie gelange ich dort hinein? Der Herzog paßt auf wie ein Luchs, daß das gemeine Volk nicht mit denen, die er als Noble bezeichnet, zusammenkommt. Überall sind Wachtposten aufgestellt.« »Das ist eine Sache, die wir wohl oder übel akzeptieren müssen, solange wir auf seine Hilfe in diesem Krieg angewiesen sind. Warte mal; du erinnerst dich doch an diesen eigenartig gekrümmten Heidenbogen, den Steen Rotznase uns gestern gezeigt hat, nicht?
Bring ihn mit und sag dem Wachtposten, du hättest den Auftrag, ihn mir zu bringen.« Als nächstes kamen jetzt die Verbannten von Mariola unter tosendem Gebrüll die Hauptstraße zum Stadttor heruntermarschiert, nicht gerade in exzellenter Marschordnung, die Bewaffnung uneinheitlich, und ihre Kettenhemden waren rostig vom Marsch quer durch die Sümpfe, bei dem sie die Vulkinger dicht auf den Fersen gehabt hatten. Aber es waren durchweg riesige Kerls von furchterregendem Aussehen, über fünfhundert an der Zahl. Danach kamen die Fischer von Gentebbi, gefolgt von den Lanzenträgern der Stadt Salmonessa. Den Schluß bildeten die Einheiten aus den Provinzen der verbündeten Barone, an deren Spitze die Ritter, Sergeanten und andere, die für den Kampf zu Pferde ausgerüstet waren, mit klirrenden Stahlrüstungen einhermarschierten. Als schließlich alle mit höflichem Salut am Herzog vorbeidefiliert waren, stieg dieser vom Pferd und hielt auf der Kuppe des Hügels Kriegsrat, indem er mit der Spitze seiner Degenscheide einen Schlachtplan auf die Erde zeichnete, so daß auch alle sehen konnten, was er meinte. »Meine verehrten Lords und Edelmänner!« begann er mit seiner hohen Stimme. »Ihr alle wißt – oder solltet wissen –, daß es zwischen Unserer Stadt und Mariola zwei Wege durch das Sumpfgebiet gibt; der, den Wir nun hier einzeichnen, verläuft bis zur Mündung des Viverrida und folgt dann der Küste. Der zweite verläuft geradewegs über den Damm, nach Norden, Richtung Markshaun, und biegt dann nach Süden ab, wo er sich mit der Hauptstraße, die der Küste folgt, vereinigt. Nun erwarten diese Vulkinger
natürlich, daß Wir die Straße entlang der Küste wählen, da die, die über den Damm führt, so schmal ist, daß nur wenige darauf nebeneinander marschieren können, zumal zu beiden Seiten tiefer Sumpf ist. Lord Moraë, mein Gouverneur in diesen Gebieten, hat Mir darüber hinaus berichtet, daß Vogelfänger ihm meldeten, Vicomte Iselé und seine Halbtercia seien schon an der Küstenstraße aufmarschiert, während am Ende des Dammweges lediglich ein paar dieser leichtbewaffneten Reiter, die sie Gentauren nennen, Stellung bezogen hätten. Nun vernehmt Unseren Plan: Wir marschieren in einer Woche los, nehmen aber den Weg über den Damm und überlisten sie so. Euch, Basale, übertragen Wir die Aufgabe, mit ein paar Männern Eurer Truppe die Küstenstraße zu nehmen und diesen Iselé eine Weile zu beschäftigen, bis wir ihm in den Rücken fallen können.« An dieser Stelle machte er eine Pause, um auf Applaus zu warten. Dieser stellte sich dann auch tatsächlich ein, und zwar in allen möglichen Formen, vom zustimmenden Gemurmel bis zum begeisterten Jubelschrei. Aber einer der Hauptmänner aus Carrhoene sagte: »Wozu eine Woche warten? Hier stehen wir, bewaffnet und zum Kampf bereit. Was hält uns davon ab, sofort loszuschlagen?« Der Bastard von Salmonessa hob den Finger, und seine vollen Lippen verzogen sich zu einem listigen Lächeln. »Die Frage, kleiner Mann, ist: gegen wen kämpfen Wir? Iselé? Der ist doch nur ein kleiner Fisch. Nein, der Mann, dessen Kopf Wir rollen sehen wollen, ist doch der Rote Baron, Vanette-Millepigue höchstpersönlich! Nicht wahr, Meine Herren aus Dalekarlien?« Er schaute Airar, Rogai und die anderen
zwei Dalekarlier beifallheischend an, die er für wert befunden hatte, zu dieser erlesenen Gesellschaft zu gehören, und sie brummten oder murmelten verlegen ihre Zustimmung. »Nun vernehmt folgendes: Unsere Späher haben Uns gemeldet, daß dieser hochverehrte Baron erst heute mit einer vollen Tercia von Mariola aus aufbricht. Mit welchem Ziel? Mit ziemlicher Sicherheit Markshaun; die Stadt hat sich gegen ihn erhoben, hat Uns um Hilfe ersucht und die Flagge mit dem Turm und dem Delphin gehißt. Er wird die Absicht haben, sie zu bestrafen – o ja, im Bestrafen ist er ein wahrer Meister, Euer Roter Baron. Nun hört: Er wird eine Woche brauchen, um vor den Stadttoren angelangt zu sein. Sobald er dort eintrifft, brechen wir über den Dammweg hervor, greifen ihn mit einem Teil unserer Truppen an, marschieren mit dem anderen Teil in Richtung Iselé und vernichten ihre beiden Tercias. Bevor sie Verstärkung aus Briella herbeigeholt haben, haben wir ganz Hestinga unter Waffen; Deidei und die Barone aus den Nordprovinzen Salmonessas werden uns unterstützen; so können wir der ganzen Welt Trotz bieten. Ihr, werter Lord Urdanezza, werdet die Vorhut anführen und den rechten Flügel übernehmen – mit allen verfügbaren Rittern und Sergeanten; dahinter kommen die Speere von Carrhoene. Ihr werdet mit jenem Flügel die Hauptschlacht austragen; die Gentauren bilden kein ernst zu nehmendes Hindernis. Ihr brecht einfach durch ihre Reihen hindurch. Auf den Fersen von Carrhoene folgen Gentebbi und Mariola, angeführt von den jungen Edelmännern Airar und Rogai; eure Aufgabe ist es, die übriggebliebenen
Gentauren und das elende Bauernpack, welches die Vulkinger als Verbündete bezeichnen, in die Flucht zu schlagen. Wir selbst folgen mit den Säulen von Salmonessa und den Stadttruppen, um Euch zu unterstützen, werter Lord Urdanezza, sollte Euer erster Angriff abgewehrt werden. Sollte sich das nicht als notwendig erweisen, werden wir nach Süden schwenken und uns Iselé vornehmen. Auf diese Weise werden wir sie zersplittern, aufreiben, ja, am Boden zerstören. Was meint Ihr dazu, verehrte Lords und Edelmänner?« »Hoch lebe der Turm!« rief Urdanezza, zog mit einem Schwung ein ganz in Gold ziseliertes Schwert aus der Scheide und küßte im Angesicht des Herzogs seinen Griff. Andere folgten seinem Beispiel. Aber es war kein dalekarlischer Schlachtruf, und Airar bemerkte inmitten des Tumultes, daß die Hauptmänner von Carrhoene, fünf an der Zahl, ein wenig abseits standen und sich wort- und gestenreich miteinander berieten. Herzog Roger bemerkte es ebenfalls. »Heda, Ihr fremdländischen Hauptmänner, gefällt Euch Unser Plan nicht?« rief er mit schriller Stimme. Einer der fünf wandte sich um. »Wir würden vorher gerne hören, was unser Bruder Alcides dazu meint. Er ist derjenige unter uns, der sich am besten in solchen Dingen auskennt, so wie Pleiander es von uns allen am besten versteht, eine Belagerung gegen eine mit Steinwällen befestigte Stadt zu führen, und Evides der Geschickteste ist, wenn es darauf ankommt, die Männer aufzumuntern, wenn sie die Speere sinken lassen.« »Und wo ist dieser Alcides?« Bevor sie eine Antwort geben konnten, rief einer
der salmonessanischen Edelmänner: »Alcides? Haha! Im Palast und vergnügt sich mit seiner mictonesischen Hure!« Herzog Roger verzog keine Miene. »Daran kann man einmal mehr sehen«, sagte er spöttisch, »daß man einen Baum immer noch am besten mit seiner eigenen Axt fällt. Ihr kennt nun Unseren Plan. Werter Basale, Ihr brecht morgen auf!« Er gab den Trompetern das Zeichen zum Einsatz, und unter dem donnernden Ruf der kahlköpfigen Garde ließ er sich in die Steigbügel helfen und ritt vorneweg wieder in die Stadt zurück. Airar konnte sich vorstellen, daß die Hauptmänner von Carrhoene nicht allzu glücklich darüber waren, daß man sie so gänzlich von aller Planung ausgeschlossen hatte, und er hätte gerne mit ihnen darüber gesprochen. Aber dazu war jetzt keine Möglichkeit, bei all dem Trompetengeschmetter, dem Hufgetrappel, dem rhythmischen Geschrei der Garde, mit dem der riesige Zug jetzt in die Stadt einrückte. Airar war gezwungen, in einem gewissen Abstand zu Rogai zu reiten; gern hätte er auch mit diesem ein paar Worte gewechselt. Im Anschluß daran fand ein großes Festessen statt, streng nach dem Brauch der Salmonessaner. Die zahlreichen Gänge des Mahles wurden halb im Liegen eingenommen, und Airar, der als einer der wenigen Gäste keine Frau hatte, mußte ein Liegebett mit der ziemlich unansehnlichen Tochter irgendeines kleinen Barons aus den Hügeln bei Hestinga teilen. Mit den Augen war er ganz woanders und mit den Gedanken bei Visto; aber zwischen Auge und Gedanken bemerkte er, daß Roger, der Bastard, zum ersten Mal niemand auf seiner Liege hatte.
12 Eine Nacht in Salmonessa Airar war schon fest eingeschlafen, ein wenig benommen von dem Wein, den es zu dem Mahle gegeben hatte, als das Geräusch des zur Tür hereintretenden Mannes aus Vagai an sein Bewußtsein drang. Visto warf ärgerlich den Bogen zu Boden und rief: »Zur Hölle mit ganz Salmonessa, daß Menschen eines Blutes in dieser Stadt nicht ohne Vorwand miteinander sprechen können!« Er sah sehr wütend aus. »Sei nicht ergrimmt«, sagte Airar besänftigend. »Man muß den Stock nehmen, den man findet, wenn man ein Schwein schlagen will, auch wenn er ein wenig dünn ist; und ich habe das Gefühl, daß sich dieser Herzog noch als ein gar nicht so dünner Stock erweisen wird.« »Ja, wenn der Stock nicht zerbricht und einem die Hand durchbohrt.« Airar setzte sich in seinem Bett auf und versuchte, die Benommenheit von Wein und Schlaf aus seinem Kopf zu schütteln und auch den Gedanken, daß er nun schon zum zweitenmal zu mitternächtlicher Stunde eine Warnung mit demselben Inhalt erhalten hatte. Aber was konnte man denn mehr verlangen von Herzog Roger, als daß er die Truppenparade abnahm? »Was ist los?« Visto schaute rasch nach links und rechts. Er hatte eine dieser kleinen Lampen mitgebracht, Chrysma genannt, eine Spezialität von Phyladea, einer der Zwölf Städte. Und als er, die Lampe erhoben, argwöhnisch unter ihr her in alle vier Ecken des Raumes
spähte, warfen seine Augenbrauen in ihrem Licht große, flügelförmige Schatten auf seine Stirn, die ihm ein fast dämonisches Aussehen verliehen. Er rückte näher an Airar heran. »Um zur Sache zu kommen, Meister Airar, eine Frage, welche zu stellen mir nicht leicht fällt. Sei mir bitte nicht gram, wenn ich sie dir stelle: Liebst du Rudrs Tochter?« Airar spürte, wie ihm die Schamröte heftig ins Gesicht stieg; er hatte alle Mühe, Vistos Blick standzuhalten. »Heißt das, daß zwischen uns beiden nun Streit herrscht?« »Oh, nein. Wir sind Freunde von Kindesbeinen an und haben unsere ganze Jugend miteinander verbracht, aber...« Er hielt inne; offenbar fehlten ihm jetzt selbst die passenden Worte. Airar, der diesen kleinen Vorteil nutzen wollte, fragte: »Aber du bist anderweitig festgelegt?« Visto wand sich vor Verlegenheit; das Licht der Lampe und die Schatten auf seiner Stirn flackerten, so daß Airar seinen Gesichtsausdruck nicht ablesen konnte. »Nein; aber das ist mein Problem. Deines hingegen ist es, daß dein Liebchen in einer bösen Klemme steckt, aus der es nur der Geliebte retten kann.« »Ich und ihr Geliebter? Sie kann sich ja kaum dazu überwinden, mich zu grüßen; und das auch nur als Soldat.« »Das zeigt nur, daß du ihr nicht gleichgültig bist; sonst wäre sie nicht so wütend auf dich. Hör mal: Weißt du eigentlich, warum sie diesen Herzog Roger den Bastard nennen?« »Weil er wahrscheinlich einer ist, vermute ich. Das
ist noch kein Grund, ihn zu verachten.« »Wenn er nur der einzige wäre!« schnaubte Visto verächtlich. »Aber ich habe erfahren, daß es bei diesen salmonessanischen Herzögen Sitte ist, niemals zu heiraten. Und so folgt eine Generation von Bastarden auf die andere. Der Kirche gefällt das am allerwenigsten.« Er schnaubte wieder. »Und wie ich hörte, gefällt das dem Baron Deidei ebensowenig. Seine Tochter ist bekanntlich die augenblickliche Favoritin des Herzogs oder war es zumindest. Der Baron betrachtet das als eine große Schmach.« Allmählich begann Airar zu ahnen, was kommen würde, und er fuhr mit einem unbehaglichen Gefühl in seinem Bett hoch. »Willst du damit andeuten...?« schrie er. »Red weiter, red weiter!« »Hm – also, nun, dieser Herzog hat meiner Freundin und deiner Angebeteten, Gython, übermitteln lassen, daß sie aufgrund ihrer Lehnspflicht ihm gegenüber heute nacht in seinem Gemach zu erscheinen und mit ihm die Nacht zu verbringen hat.« Ein heftiger Schmerz krampfte Airars Brust zusammen, und einen Moment lang hatte er Mühe, Luft zu bekommen. »Ich bring' ihn um«, ächzte er und rang in ohnmächtiger Wut die Hände. Dann war er mit einem Satz aus dem Bett. »Das wird nicht gerade einfach sein mit all den baumlangen Kahlköpfen um ihn herum.« »Will sie denn hingehen? Sie muß es ihm einfach abschlagen, und ich als unser Führer werde sie mit den Speeren unserer Fischer bis zum letzten verteidigen! Dieser Bastard von einem Herzog wird nicht mehr so große Töne spucken, wenn er erst hört, wie wir mit unseren Schwertern in seinen eigenen Hallen
die Köpfe rollen lassen!« »Wir haben schon darüber diskutiert. Erb war auch dabei. Sie will nichts davon hören. Sie sagt, das würde bedeuten, daß Dalekarlien verloren ist, und außerdem würde es ihr Vater nicht überleben.« »Aber das ist völliger Unsinn! Dieser Herzog wird niemals seine ganze Politik auf den Kopf stellen, nur um ein hübsches Mädchen ins Bett zu kriegen. Hat ihr das denn keiner gesagt?« Visto zuckte mit den Schultern, und die Schatten tanzten in seinem Gesicht. »Nicht der lange Erb. Wir haben auch ihn um Rat gefragt; er sagt, sie hat recht. Sie am Hof zu haben, würde ein Bündnis bedeuten, das Salmonessa auf immer verpflichtet, treu zu dem Vorhaben des Kriegs zu stehen. Er ist der Ansicht, wenn die Männer ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Berg zum Einsturz zu bringen, dann soll eine Frau auch ruhig ihren Körper einsetzen. Ich bin da nicht so überzeugt, aber ich bin auf seiner Seite; dachte mir jedoch, daß auch du die Gelegenheit haben sollst, dich dazu zu äußern.« »Aber Visto, was sollen wir tun? Wir müssen fliehen, fort aus dieser verdammten Stadt, heute nacht noch – nein, das geht nicht, alle Brücken sind hoch, und seit uns ist kein Schiff mehr von Gentebbi gekommen; die Vulkinger haben sie sicherlich schon in ihre Gewalt gebracht. Verstecken – das ist es! Wir müssen uns verstecken! Aber wo?... Oder sie noch in dieser Nacht heiraten... nein, nein... sie würde mich nicht nehmen wollen, und außerdem wäre das für den Bastard ohnehin kein Hindernis in seiner Geilheit.« Airar lief verzweifelt in dem Raum auf und ab, bar-
fuß und von Seelenpein erfüllt. Visto starrte ihn im trüben Schein seiner Chrysma an. Nach langem Schweigen sagte er: »Ich bin keiner von diesen Gesetzeskundigen, Meister Airar, aber ist es nicht so, daß sie nur dir gegenüber zum Lehnsgehorsam verpflichtet ist? In unserem Eid haben wir nicht mit einem einzigen Wort diesen Herzog erwähnt.« Airar wirbelte herum. »Ja! Sag ihr das, Visto! Bitte, sag ihr das! Vielleicht hilft es. Geh schnell und sag es ihr! Er ist lediglich der Oberherr, und er kann ohne meine Zustimmung keine solchen Anordnungen treffen.« Er rang ungeduldig die Hände, kaum daß sich die Tür hinter seinem Besucher geschlossen hatte. Hastig rannte er zum Schrank und holte ein Talglicht und sein Zauberbuch hervor. Ihm war vollkommen klar, daß sich Herzog Roger von Salmonessa nie und nimmer durch solch lächerlichen Gesetzeskram von seinem Vorhaben abbringen ließ, sollte Gython überhaupt von dem Gesetz Gebrauch machen wollen. Bei der Tochter des Barons von Deidei hatte er sich ja auch mit einem Lächeln darüber hinweggesetzt. Nein – das Mädchen hatte recht; jeder Streit würde nur dazu führen, daß Roger sich mit den Vulkingern zusammentat, und das würde den Untergang Dalekarliens bedeuten, wie Rogai es schon vorausgesagt hatte. Nein – dies war genau der Moment des äußersten Notfalls, für den er sich die Anwendung seiner magischen Künste hatte vorbehalten wollen; jetzt war die Stunde gekommen, in der er das, was sein Vater ihn gelehrt hatte, anwenden mußte: Er mußte Mächte rufen, die stärker waren als er.
Er fand etwas Holzkohle im Kamin, und, halbnackt wie er war, malte er mit fliegenden Fingern den Drudenfuß. »Ia, Ia, Sabachthani...«, murmelte er den Zauberspruch; dann legte er in die Mitte des Drudenfußes die Haarlocke, die sie ihm geschenkt hatte. Der trübe Tag draußen war zu pechschwarzer Nacht geworden, schwarz und kalt, nur hier und da ein Lichtpunkt von einem der Fenster unten in der Stadt. Es war kaum wahrscheinlich, daß jemand von dort das Blau seiner eigenen Teufelsflämmchen bemerken würde, die jetzt, umringt von bleichen, verzerrten Dämonenfratzen aufflackerten. »So befehle ich euch denn im Namen der Sieben Mächte, die meine Diener sind und eure Herren, die, von deren Körper dieses Zeichen ist, zu mir zu bringen und ihren Willen dem meinigen völlig untertan zu machen!« Die blauen Flammen erloschen wieder, und Airar blies hastig die Kerze aus und begann, sich im Dunkeln anzukleiden. Sie kam so leise, daß er kaum ihre Schritte wahrnahm, als sie sich der Tür näherte; im trüben Licht einer fast erloschenen Fackel, die in einem Wandhalter vor der Tür steckte, sah er, daß sie wieder Frauenkleidung trug. »Gython«, flüsterte er, als er ihre Hand ergriff und sie rasch hereinzog. Ihre Hand fühlte sich weich und kraftlos an. »Soll ich ein Licht anzünden?« »Wie du es wünschst, Herr«, antwortete sie. Er schlug zwei Feuersteine gegeneinander; zweimal mißlang es ihm, den Docht zu entzünden, doch beim dritten Versuch hatte er Erfolg und schon stand sie in all ihrer Schönheit vor ihm. Aber was für ein Kleid sie trug! Es war ein abscheulicher rosa Fetzen mit einem solch tiefen Ausschnitt, daß ihre Brüste fast unbedeckt waren. Sicher ein Geschenk von Herzog Roger.
»Hier bist du in Sicherheit«, sagte Airar. »Aber setz dich doch.« (Langsam machten sich schon die Nachwirkungen des Zaubers bemerkbar, und seine Knie wurden weich.) »Ich danke dir«, sagte sie. Dann nahm sie auf dem Stuhl Platz auf den er gedeutet hatte, ließ ihre Hände in den Schoß fallen und schaute unbewegt, wenn auch keinesfalls mit unfreundlichem Blick, geradeaus. »Hier bist du in Sicherheit«, wiederholte er. »Nicht einmal Salmoness selbst wird in dieses Zimmer eindringen können – wenn er weiß, wo du bist. Du darfst dich solange hier verborgen halten, wie du willst.« Sie antwortete nicht, ihr Gesicht blieb unbeweglich. Nach einer Weile sagte Airar: »Gython, ich bitte dich tausendmal um Entschuldigung, bitte, verzeih mir. Ich verspreche dir, ich werde nie wieder zaubern, noch sonst irgend etwas tun, ohne daß du es wünschst, aber ich bitte dich inständig, sei wieder meine Freundin und Kameradin.« »Dein Wunsch sei dir erfüllt. Habe ich nicht geschworen, dir zu dienen?« »Das war Eythor, ein Lanzenträger der freien Fischer.« »Aber es war Gython, die vor dir niederkniete und den Eid sprach.« Die Worte waren warm und freundlich, so, wie er es sich nicht anders hätte wünschen können, aber der Klang ihrer Stimme war kalt, sehr kalt, ihre Hände verharrten unbeweglich in ihrem Schoß, und ihr Blick blieb so unbeteiligt wie zuvor. Da schrie Airar voller Verzweiflung: »Wärst du wirklich heute nacht zu diesem Herzog
Roger gegangen?« »Wenn es dein Wille gewesen wäre – ja, Herr.« »Herr, Herr – ich bin nicht dein Herr, sondern dein Freund, mit dem du dich in Vagai immer unterhalten hast; das weißt du so gut wie ich!« Er schritt ruhelos im Raum auf und ab. Alle Schwäche und Müdigkeit waren vergessen. »Wie können wir uns bloß diesen wollüstigen Herzog vom Leibe halten? Dich hier zu verbergen, wird nicht viel nützen; er wird bald durch seine Diener erfahren, wo du bist, und erneut nach dir verlangen.« »Ich werde niemals zu ihm gehen, wenn du es nicht willst.« Er war jetzt auf der Seite des Raumes angekommen, wo sich der Kamin befand. Als er sich umdrehte, blieb sein Blick auf ihr ruhen. Sie saß noch immer völlig unbeweglich auf ihrem Stuhl, schön und passiv. »Warum sagst du denn nichts?« schrie er verzweifelt, und bevor sie antworten konnte, war er schon mit einem Satz bei ihr, schlang seine Arme um ihren Körper und küßte sie auf den Mund. Zuerst ließ sie es steif und unbeteiligt über sich ergeben, doch dann wurden ihre Lippen weich, und mit einem tiefen Seufzen sank sie in seine Arme und drückte ihn an sich. »Gython«, flüsterte er, als sie für einen Moment voneinander abließen, um Atem zu holen, und dann küßte er sie auf den Hals und ließ seine Lippen langsam immer weiter hinuntergleiten. Sie machte eine vage Bewegung in Richtung der Kerze, und er ließ ihren Körper gerade so lange los, daß sie Zeit hatte, sie auszublasen. Sie gab sich ihm voller Leidenschaft hin, doch in
dem Moment als die Wogen der Wonne über ihm zusammenschlugen und alles um sie herum in einem Meer von Glückseligkeit versank, spürte er plötzlich, daß sie zitterte. Und da konnte sie sich nicht länger zurückhalten und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. »Liebste«, sagte er und wollte ihr einen sanften Kuß auf die Lippen drücken, doch sie wandte ihr Gesicht ab: »Wenn es doch Visto wäre, wenn es doch nur Visto wäre«, sagte sie mit plötzlich veränderter Stimme. Am folgenden Tag ließ sich Herzog Roger nur einmal außerhalb seiner Gemächer blicken, und sein grimmiger Gesichtsausdruck sprach Bände.
13 Der Dammweg: Schlacht Die Trompeten bliesen Tiralira, als die Armee zum Brückentor marschierte, diesmal in genau umgekehrter Reihenfolge wie am Tag der Truppenparade: Vornweg die Ritter und Barone von Salmonessa, deren Fahnen lustig im Südwind flatterten. Während der vergangenen zwei Tage hatte es ein wenig geschneit, doch nun taute es, und das Pflaster war gefährlich glatt. Mehr als einmal glitt ein Pferd aus, stürzte und mußte von schwitzenden Reitern in klirrender Rüstung wieder auf die Beine gebracht werden. Urdanezza ritt vorbei in seiner prachtvollen Rüstung, die eher für ein Turnier als für eine Schlacht geeignet zu sein schien, doch konnte Airar ihm nicht absprechen, daß er seine Truppe wie ein echter Heerführer dirigierte, als er jetzt seine am schwersten bewaffneten Männer mit vielen »Hehs« und »Hohs« und zahlreichen Gesten an die Spitze der Schar brachte, von wo aus sie den Hauptstoß zu tragen hatten, sobald sie auf den Feind trafen. Der Herzog hatte den längsten Kerlen seiner Garde das Privileg gewährt, mit der Fahne des Königreiches vor seiner Kompanie herzumarschieren; seine persönliche Standarte kam weiter hinten, dort wo er selbst ritt, umringt von seinen Kahlköpfen. Vor dem Abmarsch mußte noch dieses und jenes geregelt werden – Nene hatte ein paar gebrochene Ringe an seinem Kettenhemd entdeckt, und erst auf Airars persönliche Intervention erklärte sich die Gilde der Schmiede bereit, es unentgeltlich zu reparieren;
Berni hatte einen Streit mit einem Händler aus der Unterstadt – so daß Alvars Sohn nicht eine Sekunde Zeit hatte nach seiner unglücklichen Liebe Ausschau zu halten, die sich irgendwo – so war es vereinbart worden – unter den Lanzenträgern aufhielt. Sie war die meiste Zeit über in seinem Zimmer gewesen, aber nach jener Nacht hatten sie kaum noch ein Wort miteinander gewechselt, und er hatte, in seinen Mantel eingewickelt, den Rest der Nacht auf dem Fußboden zugebracht. Doch nun schmetterten erneut die Trompeten. Jetzt, da sie von weitem kamen, hatten sie in der milden Winterluft einen fast traurigen Klang. Die Tore wurden geöffnet, und die Speere von Carrhoene ritten hindurch. Alcides war diesmal an der Spitze; Airar glaubte zu bemerken, daß er hinter seinem Visier ein mürrisches Gesicht machte, als er vorbeiritt; sein Haar mit der weißen Strähne war unter dem Helm verborgen. Der lange Erb zupfte seinen Führer am Arm: »Meister Airar, einer unserer Männer fehlt! Ové Ochsenmaul; er ist wie vom Erdboden verschwunden, und keiner kann ihn finden.« Nun wurde Gentebbi aufgerufen. Airar schwang sich in den Sattel und hob einen Arm; die Fischer stießen ihren Schlachtruf aus und setzten sich hinter ihm in Marsch. Sie waren bewaffnet mit ihren eigenen Speeren, die eher kurz als lang waren und zum Werfen geeignet. Dazu trugen sie stählerne Kappen, Schilde und Bogen – ein Geschenk von Herzog Roger, der von Airars Plan, den Männern das Schießen beizubringen, Feuer und Flamme war, da er selbst nur über wenige Bogenschützen verfügte. So marschierten sie durch die engen Straßen, und an den tristen,
dunklen Mauern hallten ihre Schritte und ihre Rufe wider. Bald hatten sie das Stadttor erreicht, und die kraftlose Wintersonne spiegelte sich matt in ihren Helmen. Sie kamen an den Hütten der Kaufleute vorbei und marschierten weiter durch übermannshohes Schilfrohr in Richtung des Dammweges. Ab und zu mußten sie anhalten, wenn irgend etwas die Reiter vorne am Weiterkommen hinderte. Immerhin war eine Armee von über siebenhundert Mann aufgeboten. Ein Sergeant, auf dessen Umhang das Wahrzeichen Carrhoenes, der Schlußstein, gestickt war, ließ sich jetzt zurückfallen und murmelte, es wäre immer dasselbe mit diesem Baronsvolk; sie wären schon eine Wache im Verzug auf ihrem Marsch, und die Sonne würde im Westen stehen, noch bevor sie die Felder von Mariola erreicht haben würden... »und wie soll diese Zeit ausreichen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Sieg zu erringen?« Beim nächsten Halt war es Visto: »Wo mag denn nur Gython sein?« rief er. »Im Trupp ist sie nicht.« Airar packte eine entsetzliche Angst. »Du hattest die Aufgabe, sie zu führen und auf sie zu achten!« schrie er wutentbrannt. »Ich werde dich zur Rechenschaft...« »Nein, Airar, das wirst du nicht. Ich hatte den Auftrag, sie in meine Obhut zu nehmen, sobald sie sich uns angeschlossen hätte. Aber ich kann keinen finden, der gesehen hat, daß sie das auch getan hat.« Bevor Airar noch etwas erwidern konnte, erscholl das Trompetensignal von Carrhoene an der Spitze, und die Schar setzte sich wieder in Bewegung. Airar hatte gerade noch Zeit, Visto über die Schulter zuzurufen, er solle sich zurückfallen lassen und sie unter den Geächteten von Mariola suchen, vielleicht wäre
sie dort zu finden, bevor er wieder nach vorn schauen mußte und mit sorgenvollem Herzen und nagendem Argwohn weiterritt. Es gab keine Möglichkeit, daß er sich selbst zurückfallen ließ. Zu beiden Seiten des Dammweges war die rote, schilfbedeckte Marsch jetzt schwarzen, gurgelnden Sümpfen gewichen, auf denen stellenweise Gras wuchs. Es hätte unweigerlich den Tod bedeutet, diese Schlammwüste zu betreten, und auf dem Dammweg hinter ihm drängten sich dicht an dicht die Leiber der Männer. Die Fischer um ihn herum waren zum größten Teil bester Stimmung; sie lachten laut, trieben ihre Späße und sangen, obwohl die meisten von ihnen, wie ja auch er selbst, zum erstenmal in ihrem Leben in die Schlacht zogen. Einer rief ausgelassen: »He, du Meister der Magie, hast du keinen Zauberspruch, der Schwertern Einhalt gebietet?« Aber er konnte ihre gute Laune nicht teilen, und obwohl er deutlich spürte, daß sie ihn für einen Hasenfuß hielten, vermochte er sich nicht zu überwinden, in ihr lustiges Lachen und Treiben mit einzufallen. Die fahle Wintersonne näherte sich dem Zenith und begann wieder zu sinken. Das einzig Bemerkenswerte, das sich währenddessen ereignete, war die Tatsache, daß sowohl die rote Marsch als auch die schwarzen Sümpfe zu ihrer Linken und Rechten einer Lagunenlandschaft Platz gemacht hatten. Fast am Horizont erhob sich eine kleine Insel aus dem Wasser mit einem Haus darauf. Vor dem Haus stand eine Frau und winkte, als die Kompanien vorbeizogen. Kurz darauf wurde von hinten der Befehl des Herzogs durchgegeben, man solle rasten und das Brot
brechen. Airar kletterte mit steifen Gelenken vom Pferd und setzte sich zu dem Sergeanten aus Carrhoene, der bei einer halben Flasche sauren Weines aus seinem Land schon wieder brummte: »Das wäre alles ganz anders, wenn unser Hauptmann Evimenes zu befehlen hätte. Ein Marsch ist ein Marsch und hat zum Ziel, daß man so schnell wie möglich ankommt, um den Feind zu überrumpeln. Ha, ich erinnere mich noch, wie wir damals im Krieg gegen Poliolis einen Tag und eine Nacht durchritten, bis wir kaum noch im Sattel sitzen konnten – ja, und als wir endlich ankamen, ging es auch sofort los, und wir...« Er verstummte und blickte auf; Visto stand neben ihnen. »Sie ist nirgends zu finden. Von den Mariolanern hat sie auch keiner gesehen, aber das muß nichts besagen; es kennt sie ja kaum einer von ihnen.« »Aber es könnte sein«, fuhr der Sergeant aus Carrhoene fort, »daß diese Vulkinger gar nicht so beweglich sind. Ich habe noch nie gegen sie gekämpft. Merkt Euch, ihre Fußtruppen haben diesen großen runden Schild mit dem Dorn in der Mitte, der lang und scharf genug ist, um einen Mann damit aufzuspießen. Seid auf der Hut, wenn einer von ihnen mit dem Schwert nach Euch schlägt; der nächste Hieb kommt mit dem Dornenschild, aber von der anderen Seite. Der Schild eignet sich ebenfalls sehr gut dazu, Pfeile abzuwehren. Sie rücken paarweise vor, und während einer beide mit dem großen Schild abdeckt, wirft der andere den Speer. Dabei rücken sie unaufhörlich alle so lange vor, bis sie die Reihen der Bogenschützen gesprengt haben. Diese müssen also unbedingt zusammenbleiben; nur so können sie bei diesen großen Schilden Wirkung erzielen.«
Visto war bei ihnen stehengeblieben. »Meister Airar, was soll ich tun?« »Such weiter, frag überall nach«, antwortete Airar achselzuckend. Dann stand er schwerfällig auf. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke. »Ové Ochsenmaul – wo ist er?« Ein Bote kam jetzt von vorn und rief, Alcides von Carrhoene dränge auf raschen Aufbruch, da die Zeit knapp werde. Rufe ertönten, und alles machte sich wieder zum Aufbruch fertig. Wie eine Welle lief die Nachricht zum Abmarsch durch die Reihen und verebbte irgendwo weit hinten. Airar selbst nahm sie kaum wahr; seine Gedanken kreisten fast ausschließlich um Gython und ihren Verbleib. Jetzt waren alle abmarschbereit, und das Trompetensignal ertönte – nicht mehr so zackig wie noch am Morgen: Musik und Menschen waren gleichermaßen ermüdet. Die Lagunen zu beiden Seiten des Dammes verschwanden jetzt wieder, und soweit das Auge reichte, war nichts zu sehen als kalte Marsch, hier und da von Schilfrohr oder Grasbüscheln aufgelockert. Beides war kein Anblick, der einen in Hochstimmung geraten ließ, und so starrte Airar auf den Rücken des Vordermannes und widmete seine Gedanken voller Trübsinn den Plänen des Herzogs von Salmonessa. Weiter vorn hörte er jetzt Rufe, gemischt mit Pfiffen, und gleich darauf sah er, wie sich ein weißgekleideter Mann in entgegengesetzter Marschrichtung mühsam einen Weg entlang der Männer am äußersten Rand des Dammweges bahnte. Als er näherkam erkannte Airar, daß er eine lange weiße Robe trug und ein goldenes Band um den Kopf geschlungen hatte. Vor sich auf dem Sattel hielt er einen ge-
schnitzten Kelch. Hinter ihm kam ein zweiter Reiter in feierlicher Robe, in dem Airar den scharfgesichtigen Kaiserlichen zu erkennen glaubte, den er am ersten Tag in Salmonessa bei Hofe gesehen hatte. Der Führer hielt vor Airar an, machte eine Verbeugung im Sattel und fragte ihn, ob er der Anführer einer Kompanie sei. Als Airar bejahte, hob er den Kelch und hielt ihn dem jungen Mann hin: »Dann heiße ich dich im Namen des Friedens des Kaiserreiches, welcher der Friede Gottes ist, von diesem Wasser zu trinken, welches von der Einhornquelle stammt, als Beweis dafür, daß du von der Quelle selbst trinken willst mit keinem geringeren als dem Grafen Vulk, dem Bevollmächtigten seiner Kaiserlichen Majestät Auraris. Auf diese Weise soll diesem frevelhaften Krieg und dem Blutvergießen ein Ende gesetzt werden. Willst du jedoch nicht von diesem Wasser trinken, dann wirst du von nun an unter dem Bann des Reiches stehen und vom Glück seiner Quelle ausgenommen sein.« Airar wollte weder ja noch nein dazu sagen, sondern bat die Gesandtschaft, weiterzuziehen zu Herzog Roger als seinem Lehnsherrn, worauf der Gesandte mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, daß er auch nichts anderes erwartet hatte, sein Pferd wieder vorantrieb. Der scharfgesichtige Mann drehte sich im Sattel um, legte die Zeigefinger zu einem Kreuz übereinander und schrie: »Bann, Bann!« Der lange Erb schloß zu Airar auf und sagte, dies sei das größte Unglück, das einen treffen könne. Aber unser junger Held hatte genug mit seiner eigenen Betroffenheit zu tun, und er antwortete, daß es in Anbetracht der Tatsache, daß sie sich der Schlacht näherten, wohl Wich-
tigeres gebe. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Das Scherzen hatte aufgehört; nur noch selten fiel ein Wort, und um Airar war nur noch der dumpfe Schritt der Marschierenden zu hören. So hatte Airar genügend Muße, darüber nachzudenken, wie er und seine Männer sich wohl im Kampfe schlagen würden. Aber auch dieser Gedanke trat nicht rein und klar in sein Bewußtsein, sondern vermengte sich in seinem Geist irgendwie mit dem Gedanken an Gython. Wäre er nicht so geistesabwesend gewesen, hätte er deutlicher wahrgenommen, daß links und rechts des Pfades kleine Stellen festen Bodens und Kanäle auftauchten, die so aussahen, als wären sie von Menschenhand angelegt worden, und ein baldiges Ende ihres trostlosen Marsches versprachen. Diese Stellen festen Landes wurden immer zahlreicher, als ihn der Schall der Trompeten aus seiner Träumerei riß. Sie bliesen alle auf einmal, schrill und disharmonisch, und dahinter glaubte Airar aufgeregte Schreie zu hören. Er sah, wie die Männer aus Carrhoene ihre Visiere herunterklappten. Erb kam zu ihm. »Sag ihnen, sie sollen die Bogen bereithalten«, rief Airar ihm zu. Er merkte, wie seine Stimme kurz vorm Überkippen war. Jetzt war er also gekommen, der lang erwartete Augenblick. »Und schwärmt auf die Flanken aus; denn wir sind die Deckung für die Mariolaner, so wie sie es wiederum für den Herzog sind.« Er hatte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde im Sattel umgedreht, um das Kommando zu geben, aber als er wieder nach vorn blickte, war er allein. Weiter vorne, wo der Dammweg plötzlich aufhörte,
Dammweg zu sein, sondern sich zu einem Weg verbreiterte, der nach Nordwesten abbog und über einen Hügel führte, sah er den Rücken von ein paar Reitern aus Carrhoene. Er hörte Schreie und das Klirren von Waffen; ein einzelner, verirrter Pfeil tauchte vor dem roten Abendhimmel auf. Ein aufgescheuchter Marschvogel flog mit einem langgezogenen, schrillen Schrei so dicht an seinem Kopf vorüber, daß er den Luftzug der Schwingen spüren konnte. Jemand stieß an seinen Fuß. Er blickte sich um und sah, wie die Fischer nach links hinüberrannten, wo verstreut ein paar Büsche standen. Einige blieben unterwegs stehen und versuchten voller Hast, ihre Bogen zu spannen. »Da! Um Himmels willen! So seht doch!« schrie Erb. Vom Hügel her tauchte zwischen einem Weidengehölz am Rand der Marsch und der Wegbiegung eine Gruppe von Reitern auf. Auf ihren Helmen prangten bunte Federbüsche: die Gentauren. Airar griff hinter sich nach seinem Bogen. »Bleibt stehen«, erscholl Erbs Stimme. »Und jetzt schießt!« Jemand riß an Airars Zügel und zog ihn auf die Büsche und das Schilf zu. Aus dem Augenwinkel sah er, wie auf der anderen Seite die Mariolaner in Stellung gingen und unter lautem Rufen ihre Speere warfen. Die Gentauren zogen sich nicht zurück, sondern schwärmten aus, wobei sie blitzschnell in Galopp verfielen. Erst im letzten Moment schwenkten sie herum, beugten sich im Sattel zurück und warfen ihre Speere ab. Airar schaffte es nicht, sein Pferd herumzulenken und gleichzeitig die Kerbe des Pfeils auf die Sehne zu legen. Er sah, wie aus der Richtung seiner Fischer ein ungleichmäßiger Schwall von Pfeilen aufstieg; sie waren schlecht geschossen und lagen viel zu tief.
Gleichzeitig kam aus der entgegengesetzten Richtung ein wahrer Hagel von Speeren über sie, und er hatte es weniger seinen eigenen Reflexen als denen seines Pferdes zu verdanken, daß er nicht getroffen wurde. Neben sich hörte er einen erstickten Schrei, und dann preschten die Gentauren schon wieder zurück. Eines ihrer Pferde bäumte sich dabei auf, als ihm ein Pfeil in die Seite fuhr. Der Mann, der so geschrien hatte, war Vardomil; ein Speer war ihm genau in die Kehle gedrungen, und nun versuchte er verzweifelt, ihn wieder herauszuziehen. Er war über und über mit Blut bespritzt, und sein Gesicht war zur Maske erstarrt. Eine Woge von Übelkeit erfaßte Airar; zum erstenmal wurde ihm in aller Deutlichkeit bewußt, daß Krieg kein eleganter Sport war, wie man es ihn gelehrt hatte, sondern daß er Grauen, Schmerz und den Verlust von Freunden bedeutete. Aber jetzt hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken; von den Fischern, die sich im Schilf und in den Büschen verborgen hatten, drangen laute Schreie zu ihm herüber. Als er sich wieder umwandte, sah er eine Tercia der Vulkinger vom Hügel her kommen. Ein Schauer des Entsetzens lief über seinen Rücken. Etwas Furchterregenderes hatte er noch nie gesehen. Die Tercia näherte sich nicht im Laufschritt, sondern rückte im Marschtempo an, absolute Siegesgewißheit ausstrahlend. Kleine Flöten bliesen im Takt ihrer Schritte, als sie sich nun langsam der Stelle näherten wo der Dammweg in den breiten Pfad überging. Rogais Mariolaner lösten die Marschordnung auf und stellten sich in breiter Linie auf, um dem Angriff der Tercia zu begegnen. »Verrat!« schrie eine junge, sich
fast überschlagende Stimme. Die Schlachtlinie der Vulkinger war lang, aber so perfekt ausgerichtet, daß es den Anschein hatte, als folgten alle in ihren Bewegungen einem einzigen Willen. Ihre Helme mit den kurzen Federbüschen, die geformt waren wie die Mähne eines Pferdes, blitzten in der Abendsonne. Ihre Schilde und Schwerter waren exakt ausgerichtet. Aus dem Hintergrund ergoß sich jetzt eine wahre Flut von Leichtbewaffneten über den Hügelkamm, die rasch auf die Seiten ausschwärmten, um der Tercia Flankenschutz zu geben. Einige davon waren Bogenschützen, die ein paarmal kurz stehenblieben, um einen Pfeil abzufeuern. Doch schnell setzten sie sich wieder in Bewegung und kamen mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die freien Fischer zugerannt. »Zurück!« schrie Erb. »Es sind zu viele!« Airar sprang vom Pferd. Im gleichen Moment fuhr ein Pfeil direkt neben ihm in den Boden und blieb zitternd stecken. Das durfte er nicht ungestraft hinnehmen; eine ohnmächtige Wut packte ihn und erstickte für einen Moment sein Entsetzen. Er zielte sorgfältig auf den Mann an der Spitze und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der Mann fiel wie vom Blitz getroffen zu Boden, aber im selben Moment waren die Hilfstruppen der Vulkinger schon über ihm. Von der Seite hörte er Schreie und das Klirren von Metall, als die Speere der Mariolaner auf die Schilde der Tercia prallten. Er spürte, wie jemand an seinem Arm zerrte. Es war Visto. »Zurück, zurück, es sind zu viele«, schrie er. Airar lief halb stolpernd auf die Büsche zu. Ein Mann aus Gentebbi wurde von einem Pfeil getroffen, aber das Geschoß konnte nicht mehr sehr viel Kraft
gehabt haben, denn es prallte nahezu wirkungslos an seinem Brustpanzer ab. Er geriet lediglich ins Stolpern und fiel mit einem klatschenden Geräusch in den Matsch. Visto blieb stehen und bot ihm die Hand zur Hilfe. Airar fing sich und wirbelte herum. Ein halbes Dutzend der verbündeten Vulkinger war ihnen dicht auf den Fersen. Der Mann vorneweg hatte einen Speer mit einer breiten Spitze, und als er einen Moment anhielt, um die unhandliche Waffe auf Airar werfen zu können, gab dies dem jungen Mann Gelegenheit, den Pfeil, den er schon aufgelegt hatte, abzuschießen. Es war nicht gerade ein Meisterschuß, aber er erfüllte seinen Zweck; er traf den Mann im Gesicht und riß ihn zu Boden. Der nachfolgende stolperte über seine Beine, und die anderen gingen rasch hinter den Büschen in Deckung und hielten schützend die Schilde hoch, um nicht von einem weiteren dieser verheerenden Pfeile getroffen zu werden. »Willst du nicht stehenbleiben und kämpfen?« schrie Airar, aber Visto erwiderte: »Nein, nein, es sind zu viele! Komm!« Und er rannte zusammen mit den anderen weiter, ohne zu wissen, wohin. Der Boden vor ihnen wurde jetzt so morastig, daß sie nur noch mit Mühe vorankamen. Doch bald sahen sie weiter vorne auf der rechten Seite eine Stelle, die mit hohem Schilf bewachsen war und einen Trampelpfad säumte. Dahinter war ein kleiner Hügel. An seinem Fuß standen schon sechs der freien Fischer; ein weiterer lag flach auf dem Rücken, und ein anderer saß auf der Erde und hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Keiner von ihnen hielt noch seinen Bogen, und der Mann, der auf dem Boden saß, besaß weder Helm noch Speer.
»Die Verfolger sind abgehängt«, sagte Visto und kniete sich vor Airar hin. »Mein Freund, ich verdanke dir mein Leben.« »Und meines auch«, sagte der zweite Gefährte, in dem Airar jetzt den Mann wiedererkannte, den sie Svarlog Langarm von Mjel nannten. Aber einer der anderen brummte mürrisch: »Wir verdanken ihm nicht unser Leben; ohne seinen weibischen Bogenfirlefanz hätten wir sie leicht niedergekämpft.« »Ja«, schrie Airar erbost, »wenn ihr nicht die Herzen von Hasen hättet, wäre euch das auch ohne weiteres gelungen! Zweimal nun schon habe ich euch Fischer davonlaufen sehen, und beide Male vor etwas, das sich mit ein wenig Mut und einem Pfeil leicht hätte aufhalten lassen. Wenn ihr jetzt nach euren Waffen greift – ich habe noch immer einen oder zwei Pfeile übrig.« Er nahm Verteidigungshaltung ein, aber im selben Moment hob der Mann, der am Boden saß, den Kopf: »Der Scharfäugige hat recht, Sewald«, sagte er, »und wir sollten besser wieder zurückgehen, statt den zu beschimpfen, der gewollt hat, daß wir dort bleiben. Was sagt ihr dazu?« Keiner antwortete, und als Airar ihnen reihum in die Augen blickte, sah er hinter jedem einzelnen Gesicht die Angst, die er selbst nicht minder verspürte. Aber keiner von ihnen hatte ja auch damit gerechnet, ausgerechnet hier am Dammweg auf eine Tercia zu stoßen. »Ich habe schreckliche Angst«, sagte einer. »Hört doch!« In der Ferne und doch irgendwie ganz nah erscholl ein Schrei und verebbte wieder, aber es war nicht das »Ullu-ullu!«, das die Männer, die dem Geflügelten
Wolf von Dalekarlien folgten, bei einem Sieg anzustimmen pflegten; es war aber auch nicht das rhythmische Brüllen der Hellebardisten des Herzogs. Betroffenheit legte sich auf die Gesichter der Männer. »Tun wir unser möglichstes!« sagte Airar. »Ich werde zurückkehren und sehen, was geschehen ist. Hört, ihr Männer von Gentebbi; ich bin nur dem Namen nach euer Führer, gewissermaßen nur ein Strohmann, und ich habe nicht solche Fähigkeiten wie Erb, euer Landsmann, aber in meiner Eigenschaft als Hautmann, dem ihr euch durch einen Eid verpflichtet habt, befehle ich folgendes: daß Sewald, der ein kühner und behender Mann ist, vorauseilt, während ich als bester Bogenschütze ihm in einem Abstand von zwanzig Schritt folge und Rückendeckung gebe; Svarlog und Visto schützen mich mit ihren Speeren vor einem Angriff aus der Nähe, und die anderen kommen in einem gewissen Abstand nach. Dadurch, daß wir hierbleiben, gewinnen wir nichts.« Er ließ den Blick in die Runde schweifen, und als er sah, daß keiner widersprach, gab er sofort den Befehl zum Aufbruch. Sewald, der sich noch immer mächtig schämte, übernahm die Führung. Sie schlichen behutsam am Rande des Schilfs entlang auf den Dammweg zu. Zu ihrer Linken herrschte bereits Zwielicht. Rechts von ihnen tauchte jetzt eine schwarze sumpfige Stelle auf. Sewald duckte sich und schlich lautlos voran; Airar hielt den Bogen schußbereit im Anschlag, aber weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ein Stück weiter rechts lag eine Gestalt auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Als sie näherkamen, sahen sie, daß es ein Mariolaner war. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht im Wasser. Ein Pfeil
ragte aus seinem Rücken. Der Anblick war alles andere als erbaulich. Links, wo irgendwo die Verbündeten der Vulkinger stecken mußten, war nichts zu sehen. Ab und zu drang von dort her, wie aus weiter Ferne kommend, ein gedämpfter Laut zu ihnen herüber. Erneut tauchte eine mit übermannshohem Schilf bewachsene Stelle vor ihnen auf. Etwas raschelte. Airar spannte den Bogen und zielte genau auf die Stelle, woher das Rascheln gekommen war. »Wer da?« rief eine Stimme im Akzent der GentebbiFischer. »Der Ring!« rief Airar zurück, und gleich darauf kamen drei Fischer völlig durchnäßt aus dem Schilf gekrochen. »Habt ihr Erb gesehen?« »Nein; aber ein Mariolaner ist an uns vorbeigerannt.« Sie schlichen weiter. Es war nun schon fast dunkel, und allen wurde klar, daß die Schlacht verloren war. Wenig später stöberte einer der Männer, die den Flankenschutz bildeten, einen weiteren Versprengten hinter einem Busch am Rande eines schwarzen Tümpels auf. Es war ein Mariolaner namens Tholkeil, der berichtete, daß Rogai beim ersten Angriff in die Schwerter der Vulkinger geritten und gefallen sei; der Herzog sei geflohen, und Evimenes und Pleiander von Carrhoene seien beide im Kampf getötet worden. Von dieser Nachricht waren alle zutiefst betroffen. Airar kam es allerdings höchst unwahrscheinlich vor, daß der Mann soviel auf einmal gesehen haben konnte. Inzwischen war es völlig Nacht geworden, und Sewald kam zurück und sagte, er könne den
Weg nicht mehr erkennen. Es wäre wohl das beste, sie gäben die Suche auf und zündeten ein Feuer für die Nacht an. Ein Dutzend Männer war jetzt wieder zusammen; alle beschworen Airar, kein Feuer anzuzünden, es würde nur den Feind anlocken. Er gab ihnen recht. Eine Durchsuchung ihrer Taschen förderte drei Flaschen Aquaviva zutage, mit dem sie ihren Kummer herunterspülen konnten. Als sie so zusammensaßen und sprachen, hörten sie plötzlich das Geräusch von Hufen. »Wer da?« rief eine Stimme. Die Männer griffen nach ihren Speeren. »Der Ring«, rief Airar in die Stille hinein. Im gleichen Moment sah er die Silhouette eines Reiters vor sich, die sich deutlich gegen den Nachthimmel abhob. »Der Eiserne Ring!« erwiderte die Gestalt auf dem Pferd. Airar kam die Stimme irgendwie bekannt vor. Der Fremde klappte seine Sturmhaube hoch, ließ die Hände sinken und beugte sich aus dem Sattel, damit sie ihn sehen konnten. Airar hatte sich nicht geirrt: Das Gesicht, in das er blickte, war das des Zauberers Meliboë.
14 Eine Nacht in Mariola »Ich habe Euch gewarnt«, sagte der Zauberer, als Airar die Zügel hielt und er sich aus dem Sattel schwang. Die anderen stießen sich gegenseitig an und tuschelten miteinander. »Euer Glück schwindet in Gegenwart des Mannes mit den drei Fingern. Was glaubt Ihr, wie Eure Aussichten jetzt sind?« »Gar nicht so schlecht. Die Sternenhauptmänner...« »Sind auf der Flucht in die Berge von Hestinga. Alcides ist tot und Evides Gefangener von Marschall Bordvin.« »Bordvin Wildfang?« rief einer der Fischer und starrte Meliboë mit offenem Mund an. »Ja, Bordvin Wildfang. Dachtet ihr etwa, Vulk würde einen solchen Krieg dem Roten Baron, diesem Hänfling, überlassen? Nein, dazu steht zuviel auf dem Spiel. Der Marschall hat nicht weniger als drei Tercias aufgeboten; eure Armeen sind vernichtet, und der Herzog von Salmonessa wird wohl erst am Sankt Nimmerleinstag wieder Herzog auf seinem eigenen Schloß sein, hahaha!« Als Antwort hieb Sewald mit einem Speer nach ihm, aber die Waffe glitt wirkungslos von dem Brustpanzer des Magiers ab. »Nicht so ungestüm, lieber Fischer! Edler Lord Airar« (in seinem Ton lagen Spott und Drohung zugleich) »wollt Ihr bitte so freundlich sein und Euren Untergebenen sagen, sie sollen nicht mit ihren Sticheln nach mir hauen; sonst könnte es leicht passie-
ren, daß ich etwas Schlimmeres als Seedämonen auf sie loslasse.« »Edler Lord Airar«, erwiderte Sewald in demselben spöttischen Ton, »wollt Ihr bitte so freundlich sein und diesem aufgeblasenen Frosch mitteilen, daß er Zeit hat zu verschwinden, bis ich bis sieben gezählt habe; sonst könnte es passieren, daß ich mal ausprobiere, ob man ihn nicht aus seinem Panzer löffeln kann wie eine Muschel aus der Schale, haha.« »Ich bin auch der Ansicht, daß er uns endlich erklären sollte, ob er in freundlicher Absicht gekommen ist oder nicht«, sagte Airar und dachte mit Unbehagen an die abscheulichen Seedämonen. »Tz, tz, junger Mann, ich hätte Euch eigentlich für ein wenig scharfsinniger gehalten. Wäre ich in feindlicher Absicht gekommen, hätte ich wohl ein paar Soldaten der Tercia mitgebracht oder eine Abteilung Gentauren! Aber wie Ihr seht: Ich bin allein.« »Vielleicht hat er seine Leute bloß im Dunkeln verloren«, brummte Svarlog aus dem Hintergrund, aber das hielt der Magier nicht einmal einer Antwort für würdig. »Nun hört her«, sagte er, »ich werde euch beweisen, daß ich in freundlicher Absicht gekommen bin. Welchen Plan habt ihr jetzt, und wohin wollt ihr euch wenden?« »Selbst wenn wir einen Plan haben, warum sollten wir ihn dann ausgerechnet einem Diener der Vulkinger auf die Nase binden?« erwiderte Airar und griff nach seiner Waffe. Aber dann wurde ihm klar, wie wenig ein Rätselspiel in solch einer Situation brachte. »Allerdings verrate ich kein Geheimnis, wenn ich gestehe, daß wir keinen haben. Wir waren auf dem Weg zum Dammweg, um auszuspähen, wie sich die Dinge
entwickelt haben. Erst dann wollten wir eine Entscheidung treffen.« »Sehr weise, o mächtiger Führer, aber...« »Hier in der Marsch wohnen Leute, die uns freundlich gesonnen sind«, warf einer der Fischer ein. »Die helfen uns sicher dabei, zur Küste zu gelangen.« Meliboë schaute ihn an. »Und wohin dann, Dummkopf? Wollt ihr vielleicht nach Gentebbi schwimmen?« Airar, dessen Gedanken schon wieder bei Gython waren, sagte: »Am besten versuchen wir, uns nach Salmonessa durchzuschlagen. Auf dieser Stadt ruhen noch immer unsere Hoffnungen.« »Zieht es Euch nicht vielmehr wegen der Frauen dorthin?« fragte der Magier spöttisch. Airar fühlte einen Stich in der Brust. »Das solltet Ihr euch besser aus dem Kopf schlagen. Die Stadt ist zu einer Mausefalle für alle Feinde des Berges geworden. Oder wollt Ihr noch einmal vom Glück des Herzogs trinken, das Euch heute in diese mißliche Lage gebracht hat?« »Wohin denn dann? Ihr versperrt uns ja alle Wege!« »Nicht ich, sondern Marschall Bordvin. Aber wenn Ihr auf mich hört, dann gibt es noch immer einen Schlupfwinkel aus dieser Falle. Doch jetzt laßt zuerst einmal ein paar Eurer Männer trockene Schilfrohrspitzen sammeln, damit wir ein Feuer machen können. In meinem Alter friert man leicht in solch einer Eisenrüstung.« »Aber die Vulkinger...« »Bah, habt Ihr sowenig Vertrauen in meine magischen Künste, junger Freund? Ich übernehme gern die volle Verantwortung dafür, daß sie Euch nicht
aufspüren. Solltet Ihr daran zweifeln, dann postiert doch einen Mann mit einem Dolch in der Hand hinter meinen Rücken; wenn es schiefgeht, bin ich der erste, der fällt.« Airar blickte dem Zauberer sekundenlang in die Augen. Dieser wich seinem Blick nicht aus. Dann gab er den Befehl, trockenes Schilf zu suchen. Bald brannte ein kleines Feuer und tauchte die gespannten und mürrischen Gesichter der Männer in flackerndes rotes Licht. Tholkeil von Mariola und Svarlog zitterten vor Kälte und Nässe. Die Männer suchten in ihren Taschen nach Eßbarem und flüsterten leise miteinander, während sie es sich bequem machten. Airars Freund brachte die Unterredung wieder in Gang: »Herr, ich bin Visto von Vagai, der Mann, der Euer Schüler sein wollte, und habe wie alle anderen hier geschworen, Airar zu gehorchen, so daß seine Entscheidungen für alle gelten. Ich würde Euch gern eine Frage stellen, wenn es erlaubt ist: Welches Interesse habt Ihr an uns armen Flüchtlingen, die unter dem Banne des Reiches stehen?« »Ha, und das schöne Fräulein hielt Euch damals davon ab, mein Schüler zu werden. Ich erinnere mich wieder. Lebt die Dame noch?« Das Feuer knisterte und zischte in den vom Schnee noch halbfeuchten Schilfrohrspitzen. Für einen Moment trat Schweigen ein, während der Magier durch den Rauch starrte. Es schien Airar (obwohl er sich in dem flackernden Licht auch täuschen konnte), daß Meliboës Augen wieder denselben kalten Ausdruck hatten wie in jener Nacht, als er die Worte vom Glück des Herzogs gesprochen hatte. »Eure Frage ist nicht ganz richtig gestellt«, entgegnete er gedehnt. »Ihr
wollt wissen, wie es zu erklären ist, daß ein Mann wie ich, der die Behaglichkeit schätzt und der eine Stellung bei Hofe hat, sich Gejagten wie Euch anschließt. Erklärt es Euch einfach so – daß ich ein treuer Sohn des Kaiserreiches bin, dem Blute nach kein Vulkinger, und daß ich mein Teil dazu beitragen will zu verhindern, daß die Macht des Grafen so wächst, daß er eines Tages in Versuchung kommt, das Haus der Argimeniden zu stürzen.« Inmitten der Schatten wurde Kichern laut, und obwohl Visto den Blick senkte, gab er ein Geräusch von sich, als räuspere er sich. »Ihr glaubt mir nicht?« fuhr Meliboë fort. »Nun gut. Dann legt es doch einfach so aus: Ich hege persönlichen Groll gegen Vulk, weil er das Studium und die Anwendung der magischen Künste verbietet, es sei denn, sie dienen unmittelbar seinen Herrschaftsinteressen. Das Schlimmste, was die Götter einem Menschen des Geistes antun können, ist, ihn von einem solchen Einfaltspinsel abhängig zu machen... Oder denkt folgendes: Ich habe es satt, mich immer nur mit vertrackten Problemen auseinandersetzen zu müssen, ähnlich wie ein Schlemmer, der irgendwann einmal der ewigen Aalpasteten überdrüssig wird. All dies sind Gründe, dazu kommen noch ein paar weitere. Jeder Mensch hat viele verschiedene Motive für sein Verhalten; und bei mir ist es nicht anders. Begnügt euch einstweilen mit der Erklärung, daß ich hier bin, um euch aus der Klemme zu helfen. Ich will keinen Dank dafür. So und nun laßt uns über wichtigere Dinge sprechen.« »Erachtet Ihr es für gut«, fragte Airar, »wenn wir uns auf den Weg machen zu jenem mächtigen Baron
Deidei, der zu spät zu dem Treffen kam, der aber noch immer über eine große Truppe verfügen muß?« »Ihr würdet nur euer Leben und euren Krieg verlieren, wenn ihr das tätet. Deidei ist der gerissenste Spitzbube im ganzen Herzogtum, und darum wird er wohl auch über kurz oder lang der erste Mann dort sein. Er ist ein erbitterter Gegner von Herzog Roger und wird es wohl niemals verwinden können, daß dieser seine Tochter als Hure mißbraucht hat. Er hat sich an Marschall Bordvin und die Bischöfe verkauft, die die Absicht haben, ihn auf den Thron von Salm zu heben und der Bastardlinie ein Ende zu setzen. Die Zustände dort waren der Kirche schon immer ein Dorn im Auge.« »Damit ist uns ein weiterer Weg versperrt. Ihr führt uns herum wie die Esel an einem Nasenring. Wohin zum Teufel sollen wir denn ziehen?« »Ein steifer Hals bringt jeden leicht zum Stolpern. Aber ich sehe keinen Grund zu verheimlichen, daß es um eure Sache so schlecht steht, daß es im ganzen Land nördlich des großen Meeres nur eine einzige Macht gibt, die in unversöhnlicher Feindschaft mit diesen Vulkingern liegt: Mikalegon von Os Erigu.« »Hohoho!« Schallendes Gelächter brauste um das Feuer auf. »Ein närrischer Gedanke!« rief einer. Aber noch bevor sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, sprang plötzlich einer auf, der etwas außerhalb des Kreises gesessen hatte, hob einen Arm und deutete mit dem anderen auf etwas draußen. Wie auf ein Kommando fuhren alle herum. Hinter dem dichten Vorhang aus Schilf flackerte kurz das Licht einer Laterne auf; dann war es wieder verschwunden. Kurz darauf tauchte es wieder auf, jetzt schon ein ganzes
Stück näher. Sofort waren alle auf den Beinen. »Nun, Herr Zauberer...«, raunte Sewald drohend, aber Meliboë schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Dann beobachtete Airar, daß er mit den Fingern der anderen Hand auf den weichen Boden trommelte. Es sah aus, als bewege sich ein Tänzer in wirbelndem Schritt zu einem komplizierten Takt. Nun begann er, dazu eine seltsame Melodie zu pfeifen. »Psst, Ruhe jetzt!« rief er, sein Pfeifen für einen Augenblick unterbrechend. »Kein Wort und keinen Laut, wenn ihr wollt, daß eure Schädel auch in Zukunft als Behälter für eure Gehirne dienen statt als Metbecher für die Vulkinger!« Airar forderte sie mit einer stummen Geste auf, dem Magier zu gehorchen, eine Aufforderung, der es in der Tat nicht bedurfte; denn alle verhielten sich jetzt mucksmäuschenstill. Einen solchen Zauber, wie ihn Meliboë vollbrachte, hatte Airar noch nie gesehen, und er beobachtete den Magier fasziniert. Jetzt war deutlich zu hören, wie sich Schritte näherten. Hinter dem Vorhang aus Schilf hielten sie plötzlich inne. Jemand flüsterte. Mit einemmal schrie jemand: »Nein! Das werde ich nicht! Verdammt! Dieser Ort ist unheimlich: Gerade noch habe ich das Lagerfeuer und die Männer, die daran saßen, mit eigenen Augen gesehen, und jetzt ist es mit einemmal verschwunden! Sieh doch – all die kleinen blauen Flammen! Hörst du nicht das unheimliche Stöhnen? Komm, nichts wie fort von hier!« Sie vernahmen ein oder zwei Schritte, dann einen ohrenbetäubenden Schrei – »Nein! Nein!« –, und dann hörten sie die Männer in wilder Flucht davonrennen. Der Zauberer hatte seinen Mund zu einer
Grimasse verzerrt, die zu grimmig war, um sie als Lächeln zu bezeichnen. Alle atmeten befreit auf, im Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein. Keinem war jetzt mehr danach zumute, noch einmal auf Meliboës Vorschlag, den sie eben noch mit schallendem Spottgelächter kommentiert hatten, zurückzukommen. Die meisten von ihnen waren jetzt geneigt, Airar die Entscheidung darüber zu überlassen, sie waren erschöpft von dem langen Marsch, der Schlacht und der anschließenden Flucht. Zu essen hatten sie auch nichts mehr, und sie wußten, daß Schlaf noch immer das beste Mittel gegen den Hunger ist, wenn es nichts zu beißen gibt. Sie begannen, es sich auf dem morastigen Boden so bequem wie möglich zu machen. Airar ließ Wachtposten aufstellen, und dann schnürte auch der Zauberer wie alle anderen seine Rüstung auf, um sich schlafen zu legen. Airar selbst konnte keine Ruhe finden. Seine Gedanken rasten im Kreis wie eine Ratte im Käfig. Erst, als schon der Morgen zu dämmern begann, verfiel er in einen leichten, unruhigen Schlaf. Alpträume plagten ihn, immer wieder hörte er das Klirren von Waffen; Speere brachen mit lautem Krachen entzwei, und die Erde bebte unter seinen Füßen. Es schien ihm in diesem Traum, als dränge ihn etwas, immer wieder zu versuchen, seine Gedanken auf Gython zu konzentrieren, was ihm jedoch nicht gelang – selbst während er träumte, war ihm irgendwie bewußt, daß dies ein Traum war. Schließlich gelang es ihm unter großer Anstrengung, ihren Namen in des Zentrum seines Bewußtseins zu rücken, aber das Bild, das mit dem Namen verbunden war, schien widersinnig: ein wei-
ßes Einhorn, das schnüffelnd zwischen grünen Blättern umherlief. Schließlich erwachte er mit verkrampften Muskeln aus seinem Traum und versuchte, sich vorzustellen, wie seine Geliebte ausgesehen hatte, als er zum letztenmal mit ihr zusammengetroffen war. Der Morgen senkte sich mit kalten blauen Wolken auf die Marsch. Ein unangenehmer Wind blies durch das rötlich-graue Schilf. Einer der Männer hatte zwei Enten gefangen, die man jetzt zu einer Mahlzeit zubereitete. Meliboë der Zauberer stand mit dem Rücken an seinen Sattel gelehnt, in einen Mantel gehüllt. Der Wind spielte in seinem Bart. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Sein Pferd schnüffelte und knabberte mißmutig an dem trockenen, stinkenden Marschgras, das ihre kleine Insel festen Bodens überwucherte. »Neuer Tag, neuer Mut, Meister«, rief Visto, der gerade dabei war, ein Feuer in Gang zu bringen, gutgelaunt. Irgendwo hatte er ein paar Zweige aufgetrieben. Meliboë hob den Kopf; sein Blick war wie aus einer anderen Welt. Und dann – als sei das ein Signal, auf das er gewartet hätte – hockte er sich hin und begann, einen Drudenfuß auf die Erde zu malen. Als nächstes holte er einen Beutel hervor und ließ farbiges Pulver durch seine Finger auf den Drudenfuß rieseln. Er hatte offensichtlich die Absicht, eine Wahrsagung zu machen – zu welchem Zweck, das konnte Airar nicht erraten; denn es bildete sich kein Rauch. Die Männer von Gentebbi setzten sich dicht an das Feuer, um sich zu wärmen. Sie blickten über ihre Schultern hinweg zu Meliboë hinüber und sprachen leise miteinander, während der köstliche Duft der ge-
bratenen Vögel in ihre Nasen stieg. Zauber und Mahl fanden gleichzeitig statt; als sie sich gemeinsam um die Waidmannskost scharten, fragte Airar den Zauberer, welchen Weg sie seiner Meinung nach einschlagen sollten. »Ich habe im Samen gelesen. Heute besteht für Euch keine Gefahr, es sei denn, Ihr wendet Euch gen Salmonessa. Wollt Ihr Euren eigenen Gedanken folgen, dann wendet Euch dorthin. Folgt Ihr aber lieber meinen Vorstellungen, dann haltet Euch südwestlich, fort von dem Dammweg, in Richtung Küstenmarsch von Mariola. Von dort aus weiter in nordwestlicher Richtung, bis Ihr die merillanischen Höhen erreicht, etwa an der Stelle, wo sie vom Schweinerücken abzweigen. Ihr nehmt den Paß und marschiert weiter in Richtung Hestinga.« Während er sprach, ritzte er mit der Spitze des Schenkelknochens einer der Enten einen groben Plan in den Erdboden. »... Meidet um jeden Preis Markshaun; die Stadt wird unter Belagerung stehen, und die Gentauren durchkämmen das ganze umliegende Gebiet.« Airar glaubte, aus dem Augenwinkel zu bemerken, wie eine Bewegung durch die Gruppe ging. Aber keiner der Männer sagte ein Wort, als Meliboë mit melancholischem Blick auf seine Zeichnung starrte. »Oh, Gott – welchen Preis ein Mann doch dafür bezahlen muß, daß er diesen Drang nach Ruhm und Ehre in sich verspürt!« Er drehte sich zu Visto herum: »Lieber Herr Zauberlehrling, sucht Euch ein liebes, dummes Weib, heiratet es, gründet eine Familie, baut Kohl an und werdet glücklich. Ihr könnt nur eines sein: ein zufriedener Mann oder ein Held; beides zusammen geht nicht. Aber es hat wohl keinen
Sinn zu versuchen, das auch diesem jungen Heißsporn klarzumachen. Er ist einer von der Sorte, die Kriege führen und Königreiche gewinnen müssen. Wenn jemand wie er nicht immer wieder Anhänger fände, wäre uns allen ein langes Leben beschert.« Sewald brummte, der Zauberer habe zuwenig Erfahrungen mit Damen, um so etwas sagen zu können. Bald darauf brachen sie auf und setzten ihren Marsch fort, wieder in derselben Formation wie in der Nacht zuvor. Meliboë ritt bei der Hauptgruppe. Er hatte die Fahne von der Spitze seiner Lanze entfernt. Ein paar Schneeflocken trieben durch die kalte Luft, und es war angenehmer zu marschieren, als unbeweglich auf einem Pferderücken zu sitzen. Sie waren auf diese Weise etwa eine Stunde gegangen, als Airars scharfes Auge auf einem Hügel links vor ihnen etwas bemerkte, das sich in entgegengesetzter Windrichtung bewegte. Das konnten unmöglich feindliche Soldaten sein. Er gab sofort den Befehl zum Anhalten und schickte vier Männer vor, um herauszufinden, ob es sich um Freunde handelte oder um irgendein Tier, das dort nach Futter suchte. Ein paar Männer murrten ob der unerfreulichen Verzögerung, doch dann war die Freude groß, als sich herausstellte, daß es kein Geringerer als der lange Erb war, den sie da aufgespürt hatten. Er wurde von einer Anzahl weiterer Fischer begleitet, so daß sie inzwischen schon wieder eine Gruppe von zweiundzwanzig Mann bildeten. Als Erb Airar sah, strahlte er über sein ganzes häßliches Gesicht; Tränen liefen ihm über die Wangen, als er Airars Hand mit beiden Händen griff und heftig drückte. »Es ist meine Schuld, daß alle wegrannten. Nie zu-
vor haben freie Fischer sich so feige benommen. Mach mich meinetwegen zu deinem Bogenträger oder zu irgendeinem anderen gemeinen Knecht.« »Nein«, erwiderte Airar. »Du trägst genausowenig Schuld wie alle anderen. Es waren einfach zu viele Feinde, und ihre Hauptleute verstanden es besser, eine Schlacht zu führen, als dieser dreifingrige Bastard von einem Herzog, der sich hinter seinen Kahlköpfen versteckt hielt. Und was das Bogenschießen betrifft, so habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen...« (was nicht den Tatsachen entsprach; es war ihm einfach so über die Zunge gerutscht, weil er das Gefühl hatte, irgend etwas sagen zu müssen) »... und bin zu der Überzeugung gekommen, daß ein Mann zwar dazu geboren ist wie ein Vollbluthengst zur Zucht, daß er sich die meisterhafte Beherrschung dieser Waffe aber erst im Verlauf vieler Jahre aneignet. Und daher sollt ihr freie Fischer, solange dies Abenteuer dauert und solange ich euer Führer bin, wieder mit euren gewohnten Speeren kämpfen, auch wenn ich nicht umhin kann, ihn für die schlechtere Waffe zu halten.« Nach diesen Worten priesen ihn alle als den besten und großmütigsten aller Führer und riefen begeistert, sie würden ihm bis ans Ende der Welt, und wenn es sein müßte, auch wieder zurück, folgen. Als nächstes begrüßte Erb Meliboë; man kann nicht gerade sagen, daß es eine überschwengliche Begrüßung war, da beide sich nicht mochten. Sie beäugten einander wie mißtrauische Jagdhunde. Erb bestätigte, daß Airar gut daran getan habe, eine Feldwache vor der Gruppe aufzustellen, daß aber eine zweite Deckung nicht notwendig sei, wenn die Feldwache drei oder vier
Mann stark war. Nachdem man die Marschordnung gemäß seinem Vorschlag geändert hatte, zogen sie weiter. Das Schneetreiben war jetzt stärker geworden; dikke Flocken trieben über das Land. Glücklicherweise war die Marsch durch das Tauwetter der vergangenen Tage noch so feucht, daß der Schnee nicht haften blieb. So brauchten sie bloß dem Pfad zu folgen. Es wurde jedoch immer schwieriger, die richtige Richtung einzuhalten, und die Luft wurde immer eisiger. Airar marschierte in der Nähe des Zauberers, fest in seinen Mantel gemummt und trübseligen Gedanken nachhängend, während die freien Fischer alles mit Humor trugen, indem sie einem imaginären Burschen zuriefen, ihnen gefälligst einen Topf Glühwein zu bringen. Airar wurde es nicht müde, mit Verwunderung darüber nachzudenken, mit welcher Bereitwilligkeit die Männer ihm in dieses ungewisse Abenteuer folgten. Er sprach Erb darauf an. Dieser antwortete, das sei nicht verwunderlich: Der gute alte Rudr habe für das Unternehmen lediglich fünfzig Männer ausgewählt, die durch keinerlei verwandtschaftliche Bande an zu Hause gebunden waren. »Die einzige Ausnahme bin ich selbst; ich mußte als Hauptmann mitziehen, obwohl ich zu Hause eine Schwester habe, die sehr auf die Hilfe ihres Bruders angewiesen ist.« Airar fiel die alte Vettel Ervila ein, die ihm mit ihren Ratten auf die Nerven gefallen war, aber er verkniff sich das Lachen, als er sah, daß Erb sich verdächtig heftig schneuzte. Der Boden wurde jetzt härter; immer häufiger tauchte dorniges Marschgestrüpp auf, hier und da
auch Wacholder und gelegentlich eine Eibe. Es wurde immer kälter. Airar ließ die Feldwache zurückholen, und sie berieten sich, wie es weitergehen sollte. Einige waren dafür, angesichts des stärker werdenden Schneesturms Rast zu machen und an einer geschützten Stelle ein Lager aufzuschlagen, Erb jedoch wies warnend darauf hin, daß, sobald das Wetter wieder aufklaren würde, Gentauren-Abteilungen die ganze Gegend nach Waffen und anderen brauchbaren Überresten der Schlacht absuchen würden. Er hielt es aus diesem Grunde für besser, in dichterer Formation weiterzumarschieren. Aber als es auf Mittag zuging und das Wetter immer schlechter wurde, war es allen klar, daß ein Fortsetzen des Weges aussichtslos war, zumal Svarlog inzwischen an heftigem Schüttelfrost litt. Bald darauf stießen sie auf einen von Kuhhufen ausgetretenen Pfad. Airar entschloß sich kurzerhand, dem Pfad zu folgen, obwohl er seiner Schätzung nach genau entgegengesetzt zu ihrer ursprünglich geplanten Richtung verlief und in wildem Zickzackkurs auf eine Anhöhe führte. Sie hatten Glück: Nach kurzer Zeit kamen sie an einem Kuhstall vorbei und als es hinter der Anhöhe wieder abwärts ging, kamen sie an eine kleine Hütte, vor der sich auf dem alten Schnee schon wieder eine Decke aus Neuschnee gebildet hatte. Sie klopften. Keine Antwort. Aber als Erb mit bewußt gehobener Stimme rief, es wäre wohl am besten, man sollte die Tür aufsprengen, da die Hütte ja augenscheinlich leerstünde, dauerte es keinen Wimpernschlag, und die Pforte sprang auf. Ein breitschultriger, untersetzter Mann stand im Rahmen und schaute sie nicht gerade freundlich an. Er hatte eine
Hakennase und war ziemlich klein für einen Dalekarlier. Als er die vielen bewaffneten Männer sah, verfinsterte sich sein Blick noch mehr. Er stellte sich als Britgalt vor und ließ die Männer mit verdrießlicher Miene eintreten. Als Airar durch die Tür schritt und dicht an dem Mann vorbeikam, sang er mit gedämpfter Stimme, so daß der Mann ihn gerade noch hören konnte: »Geme, plange, moesto mori...«, aber er erhielt keine Antwort. Die Hütte verfügte über einen einzigen Raum, der sofort voll war, als alle eingetreten waren. Im Haus lebten außer dem Mann noch seine beiden Söhne, die ebenso mürrisch dreinblickten wie ihr Vater, als sie die Gäste sahen. Von einer Frau war nichts zu sehen. Airar bugsierte Svarlog sofort in eine der Kaminekken und setzte heißes Wasser auf. Meliboë ließ sich unaufgefordert in der anderen Ecke nieder, warf seine Sachen auf einen Haufen, setzte sich daneben, den Mantel um den Kopf geschlungen, und stocherte mit dem Finger in der Asche herum, wobei er kaum hörbar vor sich hinmurmelte, während Airar und Erb Britgalt überredeten, ihnen für eine Handvoll Silberainar ein Schwein zu verkaufen, und Sewald und Visto zusammen mit einem der Söhne losschickten, um es zu schlachten. Es wurde nicht viel gesprochen. Bald war das Fleisch im Topf, und sein würziger Geruch vermischte sich mit dem Dunst feuchter Kleider, als Visto plötzlich verdutzt in die Runde blickte und fragte, wo denn einer der beiden Söhne geblieben sei, der mit ihm und Sewald zum Schweinestall gegangen war. »Er ist doch mit dir reingekommen, als ihr das Schwein gebracht habt«, sagte Sewald.
»Nein, ich war allein; er ist noch einmal zurückgegangen.« »Wohin denn? Ob er sich im Sturm verlaufen hat?« Visto stand auf, und es sah aus, als spiele ein Lächeln um Britgalts Mund. Da hob mit einemmal Meliboë seinen Kopf in der dunklen Ecke und sagte: »Er ist losgegangen, um die Gentauren über eure Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.« Die Hand ihres mürrischen Gastgebers zuckte zum Gürtel, aber bevor sie am Messer war, hatte der lange Erb ihm schon von hinten einen Arm um die Gurgel gelegt und mit der anderen Hand den Kerl beim Handgelenk gepackt. Ein gellender Schrei, und gleich darauf erhob sich ein Tumult; der andere Sohn griff nach einem Sauspieß; sofort waren die Männer mit wildem Brüllen über ihm, und der Spieß landete mit lautem Klirren zwischen einem Haufen anderer Gegenstände in einer der Ecken des Raums. Der Zauberer hob die Hände und rief die erhitzten Gemüter zur Ruhe: »Keine Angst, ihr könnt euer Mahl ungestört zu euch nehmen. Nicht umsonst habt ihr einen Zauberer in eurer Gesellschaft. Ich hatte diese Männer vom ersten Moment an als Verbündete der Vulkinger durchschaut, und als der eine an mir vorbeikam, habe ich ihm schnell etwas Asche an die Kleidung geworfen und dabei leise einen Zauberspruch gemurmelt, der auch eurem jungen Anführer bekannt ist. Nun wird er sich bei diesem Wetter verlaufen, und man wird seine Leiche oder – falls die Wölfe ihn finden – seine Knochen erst im Frühling entdecken.« Als der Alte das hörte, quollen ihm fast die Augen aus dem Kopf; er holte röchelnd Luft und würgte einen Fluch heraus, wobei ihm der Geifer aus dem
Mund lief. Die Wut schien ihm Bärenkräfte zu verleihen, und wäre Erb nicht ein zweiter Mann zu Hilfe gekommen, hätte er sich losgerissen und auf Meliboë gestürzt. »Wir können zwar ungestört das Essen einnehmen«, sagte Erb schwer atmend, »aber es fehlt noch ein wenig Unterhaltung dabei. Wie wäre es, wenn wir unser Mahl dadurch auflockern, daß wir diese beiden falschen Dalekarlier am Firstbalken ihres eigenen Kuhstalls aufhängen?« Die Begeisterungsrufe, die auf den Vorschlag folgten, waren so überschwenglich und stürmisch, daß Airar, der noch jung genug war, um ein gutes Herz zu haben, gar nicht erst protestierte; es wäre ohnehin erfolglos gewesen. Als das wild zappelnde Paar zur Tür hinausgeschleift wurde, schaute Meliboë den jungen Mann an und sagte: »Ich habe schon öfter von Männern gehört, die so weichherzig sind, daß sie keiner Fliege was zuleide tun können; meistens werden sie irgendwann einmal bigotte Eiferer und leben davon, Frauen zu prellen.« In jener Nacht lag Airar lange wach, dachte an Gython, während die Männer um ihn herum schnarchten, und fragte sich, ob es das gab: an gebrochenem Herzen zu sterben... und dann erinnerte er sich an Rudrs Leute, die unter dem eisernen Joch von Briella schmachteten.
15 Hestinga: Morgen ist auch noch ein Tag Stern um Stern funkelte am Himmel auf, und der Mond war noch nicht aufgegangen, als der junge Airar ans Fenster trat, um den letzten dünnen Streifen blassen Lichts am westlichen Horizont zu betrachten. Den ganzen Tag über hatten sie das alte Gras vom Brachland abgebrannt, um Korn anpflanzen zu können; der Rauch hing noch immer in der windstillen Luft, und sein Geruch vermischte sich mit dem Duft frischen Grüns. Draußen bei den Heuschobern tollte ein Fohlen an der Seite seiner Mutter herum. Er nahm einen tiefen Atemzug und ließ seinen Blick schweifen; im Norden und im Westen erhoben sich die steilen, schneebedeckten Gipfel des Drachengrates, die in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne blitzten. Sie schienen so nah, daß man glauben konnte, ein nicht besonders schnellfüßiger Mann könne sie in einer guten Stunde erreichen. »Was glaubst du«, fragte plötzlich der lange Erb, »wer wohl jene Reiter sind, die dort in der Ferne hinter dem Ulmengehölz auftauchen? Du hast den besseren Blick als ich, Meister Scharfauge, aber soviel ich sehen kann, sind es zu viele, als daß es Holmund und seine Männer sein können.« Airar drehte sich langsam und träge um, ohne die Arme vom Fensterbrett zu nehmen. »Wahrscheinlich die Männer aus jenem Ort namens Hrappsted, der zwanzig Meilen südlich von hier gelegen ist; als sie das letztemal bei uns zu Gast waren, versprachen sie, bei Anbruch des Frühlings zu uns zu kommen und
sich unserer Reise über die Berge anzuschließen. Wie du siehst, ist der Frühling gekommen – und da sind sie!« Er kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen und spähte hinaus. »Nein, Erb, du hast recht! Es sind viel zu viele, und sie tragen anscheinend auch ganz andere Kleidung; außerdem sehe ich Waffen blitzen. Komm, beeil dich, ruf die Männer zu den Waffen!« Erb wollte gerade los, als auch schon der Alarmruf des Mannes erscholl, der, wie auf den Bauernhöfen von Hestinga üblich, seinen Spähposten auf dem Dachfirst bezogen hatte. Sogleich herrschte geschäftiges Treiben; eilig wurden die Türen verriegelt und sogar der Koch, ein mictonesischer Sklave, vom Töpfeschrubben weggeholt. In der Tat: Als die Gruppe näherkam, wurde schnell deutlich, daß es sich um einen stattlichen Trupp handelte, wenn auch vielleicht die nun rasch hereinbrechende Dunkelheit das ihrige tat, die Anzahl größer erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit war. Alle Männer der Gruppe waren voll bewaffnet. Die Bogenschützen hinter den Fenstern spannten die Sehnen, als der vermeintliche Feind sich näherte, und auch die Speerwerfer in den Wachhütten längs der Einfriedung waren bereit, ihre Waffen den Angreifern entgegenzuschleudern. Plötzlich löste sich der Anführer der Truppe von seinen Männern und kam mit erhobenem Arm angeritten. »Heda!« rief er, »ist dies der Hof, den man Sedu nennt?« Als man seine Frage bejaht hatte, sang er an Stelle einer Antwort laut: »Geme, plange, moesto mori – ist einer bei euch, den man Airar den Scharfäugigen von Västmanstad nennt?«
»Dolorosa Dalarna«, rief Airar zurück, und dann rannte er nach draußen, um Rogai den Jäger zu umarmen. Atemlos vor Freude sprudelte es aus ihm heraus: »Was gibt es für Neuigkeiten?« und »Was hast du da für einen Riesentrupp mitgebracht?« und »Ich dachte schon, du wärest tot oder stündest zusammen mit Herzog Roger unter Belagerung!« »Ach, sprich nicht von dem! Der schlimmste Kerl auf der ganzen Welt, doch jetzt ist er tot und begraben, und Tote soll m a n ruhen lassen; also, reden w i r nicht mehr davon. Aber jetzt laß uns erst mal rein; später können wir uns noch genug Neuigkeiten erzählen.« Da Holmund, der Pferdemeister, nicht zur Verfügung stand war es an Airar, den Vorsteher von Sedu zu vertreten und Rogai und sein Gefolge hereinzulassen. Als die Männer, wohl dreißig an der Zahl, durch das Tor geströmt kamen, geriet sogleich der ganze Hof in geschäftiges Durcheinander, hilfreiche Hände eilten mit Fackeln herbei, und Sklaven rannten umher, um die Pferde zu versorgen. Im großen Flur des Hauses wurde inzwischen der Tisch gedeckt. Die ersten, die in Begleitung Rogais hereinkamen, waren vier Männer, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Sie hatten lange, hagere Gesichter, und aus ihrem schwarzen Haar hing ihnen eine dicke weiße Strähne widerspenstig über die Braue. Airar spürte sogleich einen Kloß im Hals, als er sich so unvermittelt jenen sagenumwobenen Hauptmännern aus Carrhoene gegenübersah, die er bisher nur aus der Ferne hatte bewundern können. Rogai stellte sie vor: Alsander, Pleiander, Evimenes und Evander. Der letzte, dessen Gesicht ganz glatt und haarlos war, mußte das Mädchen sein.
»Sehr erfreut«, murmelten sie, als Airar ihnen vorgestellt wurde, und wollten sogleich auf den Stühlen Platz nehmen, die den Sessel am Kopf des Tisches flankierten. Aber auf einem davon hatte schon Meliboë Platz genommen, und hinter einem zweiten stand bereits Erb, und so mußten sie Rogai um den ganzen Tisch herum folgen und mit den Stühlen auf der anderen Seite vorlieb nehmen, was die drei Männer mit unwilligem Stirnrunzeln und Evander mit mürrisch verzogenem Mund quittierten. Airar ließ sich als letzter von allen auf seinem angestammten Platz zur Rechten des Stuhls am anderen Ende des Tisches nieder, auf dem sonst Holmund zu sitzen pflegte. Als sie endlich alle saßen und die Diener geschäftig mit ihren Tabletts umherliefen, sagte Rogai: »Und nun, Meister Airar, erzähl uns doch einmal die tolle Geschichte, wie du zuerst mit deiner kleinen Gruppe eine ganze Abteilung Gentauren vernichtet hast und dann wie ein Holzwurm in der Borke wieder verschwunden bist. Das muß ja wirklich ein toller Streich gewesen sein; jedenfalls haben sie in den Lagern der Vulkinger diesen und letzten Winter kaum über was anderes gesprochen.« »Kein Vergleich zu dem, was du erlebt hast, da es dir anscheinend gelungen ist, soweit in die Lager der Vulkinger vorzudringen, daß du hören konntest, was sie sich erzählten.« »Ach, das ist bloß eine ganz bescheidene Begebenheit. Evimenes hat da eine weit aufregendere zu berichten...!« »Mmgrr-uff«, ertönte es aus der Ecke des soeben beim Namen genannten Sternenhauptmanns. Er hatte gerade einen Bissen im Mund und schluckte ihn ge-
räuschvoll hinunter, bevor er sprach: »Ich habe einen Vicomte der Vulkinger gargekocht, hoho. Beine, rot wie ein Krebs, hoho.« »Wie wir nun schon des öfteren gehört haben«, sagte Rogai, wobei er die Mundwinkel herabzog und die Augen verdrehte, aber der Hauptmann aus Carrhoene knallte den Becher auf den Tisch, so, als wolle er sich Aufmerksamkeit erbitten, und legte los: »Es war damals, nach der verdammten Schlacht. Ich war bei der Gräfin Dalmonea untergeschlüpft, oben an der Grenze von Deidei. Ich hatte mir das Gesicht mit Nußsaft eingerieben und das Haar kurzgeschoren, um als mictonesischer Sklavenbastard durchzugehen. Nach dem Fall Salmonessas kam nun dieser Vicomte, um sich den Landsitz der Gräfin für Vulk unter den Nagel zu reißen. Ihr Mann, müßt ihr nämlich wissen, war in der Stadt gefallen. Dieser Vicomte brauchte nicht zweimal hinzugucken, um zu merken, daß die Frau eine wackere Bettgenossin abgeben würde, was sie, wie ich euch versichern kann, in der Tat war. Sie tat, als würde sie bei seinem Anblick nur so dahinschmelzen, sagte ihm aber, er müsse vorher erst einmal ein Bad nehmen. Nun hatte ich in meiner Eigenschaft als Haussklave natürlich die Aufgabe, das Bad vorzubereiten. Und kaum war dieser vertrottelte Bastard im Badehaus, da verriegelte ich auch schon die Tür von außen und warf ein paar heiße Steine mehr ins Becken, als ihm lieb sein konnte. Ihr hättet ihn hören müssen; er quiekte wie ein Schwein in der Sonne, bevor der Dampf ihm den Garaus machte, ho-ho-ho-ho!« »Naja«, brummte Rogai u n d verzog erneut den Mund, und Airar hätte an dieser Stelle merken können,
daß in der Gruppe nicht nur eitel Harmonie herrschte. »Und wenn ich mich nicht irre, machtest du dich dann aus dem Staub und ließest sie das, was danach kam, nämlich Folter und Verhör, allein ausbaden.« »Glmpf«, kam es von Evimenes, der schon wieder kaute. »Hätte ich sie vielleicht mitnehmen sollen? Eine Dame, die in der Stadt großgeworden ist, taugt nichts für eine Flucht, bei der du ständig die Gentauren im Nacken hast. Die Stärke einer Frau liegt in ihren Beinen, aber nicht, wenn sie sie zum Laufen braucht.« »Ach ja, die Gentauren; genau darüber wollten wir ja etwas hören«, warf Rogai ein. »Nun erzähl schon die Geschichte, Airar!« Einer der Hauptmänner, der, den sie Alsander nannten, ließ die ganze Zeit über nicht die geringste Regung auf seinem Gesicht erkennen; Airar hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend: Was war schon sein kleines Abenteuer im Vergleich zu dem, was diese erfahrenen Haudegen, die da mit ihren kalten, harten Gesichtern teilnahmslos auf ihren Stühlen saßen, alles erlebt hatten! Außerdem lag ihm etwas ganz anderes auf der Seele; am liebsten wäre er laut herausgeplatzt: ›Rogai, du warst in Salmonessa; was ist mit Gython?‹ Statt dessen starrte er verlegen auf die Tischplatte und stotterte: »Es war so, daß Doktor Meliboë wußte, daß sie kommen würden; nur so konnten wir ihnen in einem Hohlweg einen Hinterhalt legen.« Bei diesen Worten hob der Zauberer den Kopf. »Meine Herren, bitte legt nicht jedes Wort dieses jungen Hauptmanns auf die Goldwaage; er ist nicht nur ein Vorbild in dem, was er tut, sondern auch ein wahres Muster an Bescheidenheit. Ich bin zwar nur ein
kleiner Doktor der Philosophie, der sicherlich nicht viel von den kniffligen Dingen des Kriegshandwerks versteht. Doch ich möchte in aller Bescheidenheit meine Meinung zum Ausdruck bringen, daß es wohl ehrenhafter ist, fünfundzwanzig Feinde in der Schlacht zu töten als einen im Bad.« »Du, alter Mann...«, begann Pleiander, aber Evander-Evadne, die neben ihm saß, legte ihre Hand auf seinen Arm und mahnte: »Keinen Streit, Bruder – ich möchte zu gern die Geschichte dieses hübschen jungen Hauptmanns hören.« Airar schaute sie verstohlen an. Ihre Stimme war kehlig und tief, fast wie die eines Mannes. »Sprecht weiter, Herr Doktor; anscheinend ist ja der junge Herr zu scheu, die Geschichte selbst zu erzählen.« »Nun, es war folgendermaßen«, fuhr Meliboë fort. »Als wir die merillianischen Hügel in Richtung Norden auf dem Wege nach Hestinga überqueren, entdecke ich mit Hilfe gewisser Künste, die ich beherrsche, daß diese Gentauren uns auf den Fersen sind Wir haben zwar Pferde, aber unsere besten Männer sind nicht so gut beritten wie die schlechtesten von Ihnen, so daß mir klar ist, daß sie uns über kurz oder lang einholen werden. Wir Männer der Philosophie sind immer eher dazu geneigt, solche Probleme mit dem Kopf statt mit dem Schwert zu lösen. Ich bin also daher dafür, sie durch einen Zauber von unserer Fährte abzulenken und in die Irre zu leiten. Nicht so unser junger Anführer hier. Ihm fällt ein, daß wir kurz zuvor durch einen Hohlweg gekommen sind, der auf merkwürdige Art gekrümmt ist, etwa so wie das Hinterbein eines Hundes. Ich weiß seinen Namen nicht mehr.«
»Der Steinerne Paß«, rief Tholkeil, der Mariolaner, vom anderen Ende des Tisches herüber. »Fürwahr, ein treffender Name, ist doch der ganze Paß mit Felsbrocken übersät, von denen viele unter dem Schnee verborgen sind. Unser junger Herr läßt die ganze Abteilung kehrtmachen, postiert eine Gruppe hinter den Felsblöcken am oberen Ende des Passes, eine weitere mehr am unteren Ende vor der Biegung, da, wo der Paß am engsten ist, und den Rest verteilt er auf die beiden Seiten. Und als die Gentauren in wildem Galopp in den Hohlweg hineingesprengt kommen, prasseln Steine und Speere auf sie herunter; sie versuchen, am oberen Ende auszubrechen, aber dort werden sie vom Speerhagel der Männer hinter den Felsblöcken empfangen, und am anderen Ende ist der Durchgang schon von toten Pferden blockiert, die Airar mit Pfeil und Bogen erledigt hat. Und als die Gentauren in wilder Panik versuchen, an den Seiten hochzuklettern, rutschen sie auf den steilen, schneebedeckten Felsen wieder ab. Als fünfundzwanzig von ihnen getötet sind, winselt der Rest um Gnade.« »Es war Erb...«, wollte Airar gerade einwenden, als Pleiander seine Faust auf den Tisch hieb. (Wenn man die vier zusammen sah, wirkte sein Gesicht etwas grobknochiger als die der anderen, aber er hatte dieselbe Nase und dasselbe merkwürdig geformte Kinn – im Profil sah es rund aus, von vorn hingegen wie ein spitzes Dreieck.) »Ganz gut, aber nichts Besonderes, nichts weiter als eine miese kleine Mausefalle. Ihr hättet dagegen sehen müssen, wie unser Bruder Alcides damals im Krieg gegen Poliolis...« »Ha!« rief Erb über den Tisch; sein Adamsapfel
hüpfte aufgeregt auf und ab, als er den Arm hob, um sich Gehör zu verschaffen. »Erst durch das, was er nach dem Hinterhalt tat, erwies sich unser Meister Airar so richtig als Hauptmann. Ihr Herren aus Carrhoene müßt wissen, daß ich ein freier Fischer bin; ich war schon häufig in euren Zwölf Städten, und ich lag sogar damals am Kai von Poliolis vor Anker, als Hauptmann Alcides jenen großen Hinterhalt legte, von dem ihr sprecht. Aber nachdem die Falle zuschnappte, war alles vorbei, und es gab nichts mehr zu tun. Am Steinpaß aber war das ganz anders; nachdem wir gewonnen hatten, ging es erst so richtig los. Wir mußten uns entscheiden, ob wir entweder mit allen Gefangenen – fast so viele wie wir selbst – durch ganz Hestinga ziehen oder ihnen mit dem Schwert den Garaus machen sollten. Hätte ich zu entscheiden gehabt, ich hätte sie auf der Stelle erledigt; die haben jetzt schließlich größtenteils Heiden von Dzik in ihren Gentauren-Abteilungen. Nicht so unser Hauptmann Airar: Er behielt sie zwei oder drei Tage bei der Gruppe, was mit großer Gefahr für uns verbunden war, währenddessen taten wir so als wollten wir mit ihnen nach Deidei und sie dort dem Hohen Gericht überantworten. Und eines Nachts ließ er sie dann entkommen, damit sie die Nachricht verbreiten konnten. Und wie sie sie verbreiteten, ha! Drei Tage, nachdem wir in die andere Richtung weitermarschiert waren, hatten wir schon einen Mann aus Hestinga vom Eisernen Ring bei uns, der uns hierher führte, wo wir uns verbergen konnten, nachdem sich die Meldung verbreitet hatte. Hat sie auch Salmonessa durch den Belagerungsring hindurch erreicht?« »O ja«, antwortete Rogai, »kurz vor der Jahreswen-
de, nicht lange nachdem der Herzog an seiner eigenen Speisetafel von Lady Malina von Deidei erdolcht wurde, weil er sie abschieben wollte, um sich eine neue Mätresse zu nehmen – übrigens jenes blonde, gutaussehende Mädchen, das als Bursche verkleidet war, jene Dame, die du so angebetet hast, Freund Airar. Damals ahnte ich daß der Fall der Stadt kurz bevorstand, und machte mich aus dem Staub. Mit Hilfe der Abzeichen, die ich den Vulkingern in Mariupol gestohlen hatte, gelang es mir, unerkannt als einer der Ihren durchzugehen und die Stadt zu verlassen. Marschall Bordvin soll sich damals vor Wut die Haare gerauft haben; nicht so sehr, weil er am Steinernen Paß eine halbe Abteilung Gentauren verloren hatte, sondern deshalb, weil ihm Doktor Meliboë durch die Lappen gegangen war, den er jetzt für seinen ärgsten Widersacher hält. Bordvin Wildfang ist selbst kein Unbekannter als Magier, und er hatte bis dahin geglaubt, gegen alle Arten von Hexerei gefeit zu sein. Und jetzt ist er der festen Überzeugung, daß Ihr einen neuen Zauber ausgeheckt habt, gegen den er bis jetzt kein Gegenmittel weiß.« »Es war weniger Zauberei – genaugenommen war gar keine im Spiel – als vielmehr das geschickte Verhalten unseres jungen Hauptmanns«, erwiderte Meliboë, »obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, es wäre besser gewesen, einen Zauber anzuwenden. Denn jetzt wissen die Burschen, daß sie lediglich übertölpelt wurden; wäre ihre Niederlage aber durch das Wirken geheimnisvoller, übermenschlicher Mächte zustande gekommen, dann hätten sie gar keine andere Wahl, als sich zu ergeben.« Airar hielt die Tischkante so fest umklammert, daß
die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. Als er sich wieder halbwegs in der Gewalt hatte und tief Luft geholt, fragte er so laut, daß es fast wie ein Aufschrei klang: »Wohin ist sie gegangen?« »Malina?« fragte Rogai, an den die Frage gerichtet war. »Sie steinigten – oh, du meinst das Mädchen! Ich weiß nicht genau; man sagt, sie habe gebeten, nach Stassia gehen zu dürfen, um dort an der Quelle zu trinken. Euren Mann, diesen Uffa – Ové – haben sie übrigens aufgeknüpft. Man warf ihm vor, er sei schuld daran, daß das Unglück über Salm kam, indem er das Mädchen zu seiner Hochzeit gebracht und so Deidei in die Arme der Vulkinger getrieben habe.« »Meine Herren«, sagte Airar und stand so ungestüm auf, daß sein Stuhl hintüberkippte. Seine Stimme klang fremd, selbst für seine eigenen Ohren, so daß er nicht überrascht war, als schlagartig Totenstille einkehrte und ihn alle erschrocken anstarrten. »Meine Herren, ich habe einen langen Tag hinter mir und möchte mich jetzt zurückziehen. Ich wünsche Euch noch einen schönen Abend; langt tüchtig zu und laßt es Euch gut munden. Morgen früh werden wir dann sehen, wie es weitergeht.« Alle schauten ihm betroffen nach, als er, fast im Laufschritt, zur Tür strebte. So war denn nun alles zu Ende; eine Welt brach in ihm zusammen. Heftiges Schluchzen schüttelte seinen Körper. Er selbst fand es unmännlich, aber er konnte nicht länger an sich halten. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er fuhr in seinem Bett auf. Vor ihm stand Meliboë und schaute ihn mit freundlichen Augen an. Lange Zeit stand der alte Mann schweigend vor ihm. Schließlich konnte Airar die Stille nicht mehr
ertragen. »Wißt Ihr einen Zauber, der gegen gebrochene Herzen hilft?« »Herzen zerbrechen nicht; und wenn, dann wachsen sie schnell wieder unter dem heilsamen Balsam neuer Taten zusammen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat Euch dieses kriegerische Mädchen aus Carrhoene mit sehr wachen Augen angeschaut, und mir entging auch nicht, daß seine Stimme eine Saite zum Klingen brachte in jenem Herzen, das Ihr zerbrochen nennt.« Airar streckte die Hand aus und ließ sie langsam wieder sinken. »Wenn ich meinem Willen statt Eurem Rat gefolgt und nach Salmonessa gegangen wäre, hätte ich sie vielleicht retten können.« »Retten? Wovor? Sie geht zur Quelle und wird ihren Frieden finden. Eure Liebe zu ihr ist nichts weiter als Eigennutz, wenn Ihr ihr nicht das Beste wünscht. Und was meine Weissagung betrifft, so lügt sie nicht; sie sagte klar und deutlich, daß Euren Hoffnungen und Plänen in Salmonessa tödliche Gefahr drohte.« »Rogai hat es ja auch geschafft, sich zu befreien!« »Richtig. Aber er war nicht in dieses Durcheinander von Liebe Haß und Mordplänen verwickelt. Es gibt nur zwei Männer, die Eurer Rache wert wären, und die sind beide tot; nämlich dieser Ové und der Herzog selbst. Alle Rechnungen, die Ihr dort zu begleichen hattet, sind beglichen. So ist es nun an der Zeit, daß Ihr endlich ein ganzer Mann werdet und Euch den Kopf über wichtigere Dinge zerbrecht als eine anschmiegsame Bettgenossin.« Airar verspürte plötzlich den Impuls, ihn zu schlagen, aber er verschwand ebenso plötzlich wieder bei dem Gedanken: Warum? Sein Gesicht verzerrte sich,
und er schrie wie ein Rasender: »Ihr seid so ungerecht, Ihr seid nicht... Nein, ich werde es niemals tun, ich werde nach Stassia gehen und sie suchen und...« Der Magier setzte sich. »Wie Ihr wollt... vorausgesetzt, Ihr erreicht einen der Häfen, Naaros oder das kleinere Lectis... Junger Mann, Ihr seid doch ein kluger Kopf; eines Tages werdet Ihr sicher erkennen, daß man das Rennen dieser Welt am ehesten gewinnt, wenn man allein läuft. Läuft man es zu zweit, dann zeigt sich sehr schnell, daß man einen äußerst hinderlichen Klotz am Bein hat... O ja, natürlich, Verlust tut immer weh. Aber war es denn eigentlich ein Verlust?... Wieviel habt Ihr eigentlich voneinander gehabt, sie von Euch und Ihr von ihr? Diese Frage mögt Ihr Euch selbst beantworten... Ein wirklicher Verlust ist es, einen Gefährten zu verlieren, dessen Schicksal man über lange Jahre geteilt hat... Ich könnte Euch auf der Stelle eine Gestalt herbeizaubern, die Euch ebenso kurzfristige Freude oder Trauer bringen würde; aber wirklich nur kurzfristige Freude. Lang anhaltende Freundschaften oder Liebesbeziehungen kann man nicht auf diese Weise aus dem Ärmel schütteln... Was Ihr verloren habt, ist das Vergnügen, etwas zu besitzen, wie ein Pferd etwa oder einen kostbaren Stein, weiter nichts... Doch nun schaut her!« Er zog aus seinem Beutel etwas hervor, das in dem Licht der einzigen Wandfackel, die der Raum besaß, hell aufblitzte. Er schnippte mit den Fingern, murmelte ein paar unverständliche Worte, und dann bewegte er beide Hände so wie etwa ein Weber, der einen Webstuhl bedient. Vor seinen Augen sah Airar eine schattenhafte Gestalt aus dem Nichts entstehen,
die sich schimmernd gegen die Wand anhob. Der Schatten wurde immer fester. Er traute seinen Augen nicht Es war Gython, Gython aus Fleisch und Blut. Aber ihr Gesicht war genauso starr und teilnahmslos wie an jenem Morgen, als er in Rudrs Haus im Bett gelegen hatte und sie ihn so heftig angefahren hatte. In diesem Augenblick kam ihm die Erkenntnis, daß sie ihm gegenüber wohl immer so sein würde, falls er nicht die Hilfe magischer Kräfte in Anspruch nahm. Und der einzige Grund, weshalb sie sich den fünfzig Männern unter seinem Oberbefehl angeschlossen hatte, war die Flucht vor der aufgezwungenen Heirat... »Wenn es doch nur Visto wäre!« Das Trugbild zerrann wieder vor seinen Augen, und in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß er selbst es gewesen war, der diese Worte laut hinausgeschrien hatte. Ein Lächeln das ihn für einen kurzen Augenblick wie einen Teufel erscheinen ließ, huschte über Meliboës Gesicht. »Gute Nacht, schöner junger Mann. Morgen ist auch noch ein Tag, und über den Hügeln lauert der Krieg.«
16 Ein Urteil in Hestinga Holmund, der Pferdemeister, kam am folgenden Tag wieder heim. Man darf sagen, daß er nicht gerade begeistert darüber war, sein Haus mit einer solch großen Anzahl von Gästen, noch dazu kriegerischen, vollgestopft zu sehen. Aber er war ein überaus ruhiger und vernünftiger Mann, hochgewachsen, mit einem offenen, wettergegerbten Gesicht, der sich sofort hinsetzte und so gelassen und kühl über die zu ergreifenden Maßnahmen diskutierte, als ginge es nicht um Krieg, sondern um den Kauf eines Pferdes. Rogai saß ebenso in der Runde wie Airar in seiner Eigenschaft als Anführer einer zahlenmäßig so großen Gruppe. Natürlich hatte man auch Meliboë wegen seiner unschätzbar wertvollen Weissagungen hinzugezogen. Ebenfalls dabei waren die Sternenhauptmänner mit ihrer Schwester; nicht jedoch Erb, obwohl Airar, der nicht auf seine Erfahrung hatte verzichten wollen, darum gebeten hatte. »Wir sind von Feinden umgeben«, sagte Rogai, »und ich verspüre nicht die geringste Lust, sie mit unseren Plänen vertraut zu machen, wie Herzog Roger es tat. Oh, gewiß, dein Erb ist ein treuer und zuverlässiger Mann. Aber er bedarf wie alle anderen eines Zungenzügels, und je weniger Zungen wir zügeln müssen, desto besser.« Es erschien Airar ein wenig zu hart, einen Mann, der soviel Verantwortung zu tragen wußte, aus dem Kreis der Eingeweihten auszuschließen. Aber er verzichtete auf einen Protest, als er sah, daß Holmund mit seinem eigenen Sohn nicht anders verfuhr: »Erst,
wenn du gewählter Pferdemeister bist, wirst du in diesem Raum sitzen; bis dahin unterscheidest du dich in nichts von jedem beliebigen anderen auf dem Hof.« Was das weitere Vorgehen betraf, so waren die Sternenhauptmänner nicht weniger unentschlossen als Rogai. Sie hatten sich während der vergangenen zwei Winter an den verschiedensten Stellen des wilden Hestinga aufgehalten (mit Ausnahme von Evimenes), bis sie schließlich von Männern des Eisernen Ringes, die wußten, wo sich Airar mit Meliboë und der stärksten Gruppe aufhielt, die sich aus der Schlacht am Dammweg gerettet hatte, nach Sedu gebracht worden waren. Aber auch dort wurde der Boden jetzt langsam heiß, wie Holmund sagte; mit Sicherheit würde Marschall Bordvin, sobald die Wege wieder frei waren, mit seinen Truppen das Land durchkämmen und sie suchen. Aber es war ebenso gefährlich, mit einer so großen Gruppe loszuziehen. »Ihr seid zu viele oder zu wenige«, gab der Pferdemeister zu bedenken. »Zu viele, um wie die Ausgestoßenen zu leben, die irgendwo in den Schluchten und Spalten des Drachengrates hausen und unsere Herden überfallen; zu wenige, um Hestinga um eure Fahnen zu sammeln und es mit den Tercias aufzunehmen, die schon Salmonessa zerbrochen haben.« »Wir könnten uns auch alle ergeben und an das Reich um Schonung und Gnade wenden«, schlug Rogai vor und schaute dabei die Männer von Carrhoene an, um zu sehen, wie sie darauf reagierten. »Ohne uns, die wir unter seiner Acht stehen«, rief Pleiander entschlossen, und Alsander fügte hinzu: »Graf Vulk ist der kaiserliche Bevollmächtigte. Und
ihm würde die Aufgabe zufallen, über uns zu Gericht zu sitzen. Nichts wäre ihm lieber als dies. Er würde unsere Eingeweide um einen Baum wickeln lassen, da könnt Ihr sicher sein. Ihr redet fast so, als wäre er ein gutmütiger Schäfer und Ihr ein braves Lamm, Sir Rogai.« »Merkst du nicht, Bruder«, raunte seine Schwester Evadne mit ihrer kehligen Stimme, »daß er das nur gesagt hat, um dich zu reizen? Er will doch bloß herauskriegen, ob diese Halbkastraten von Dalekarliern uns trauen können oder nicht. Hört!« Sie wirbelte herum und blitzte Rogai an. »Keine Geheimnisse jetzt! Unsere gemeinsame Sache ist zu wichtig, als daß wir ihr mit gegenseitigem Mißtrauen einen Dienst erweisen könnten. Wir Brüder kämpfen für Ruhm und Ehre; darüber hinaus für Geld. Auf beides besteht in diesem schon fast verlorenen Krieg nur sehr wenig Aussicht. Wir wollen auch gar nicht abstreiten, daß wir versucht haben, mit Graf Vulk einen Handel abzuschließen: nämlich dahingehend, daß wir uns für alle Zeiten von seinem Besitz zurückziehen und er dafür unseren Bruder Evides freiläßt. Aber diese Vulkinger sind von der starrköpfigen Sorte; sie lehnten das Angebot ab; völlige Unterwerfung oder gar nichts – das war ihre Antwort. Und daher kämpfen wir jetzt auf eurer Seite ohne jede Bezahlung; denn es gibt im ganzen Reich keine Stelle mehr, wo wir uns ungestört zeigen dürfen, und in das Land der Heiden wollen wir nicht... Aber einen Plan darüber, was wir nun tun sollen, habe ich auch nicht.« Rogai grinste vergnügt; er wußte nun alles, was er wissen wollte. Dann schüttelte er den Kopf. »Laßt uns
unsere Helme mit Lappen umwickeln und die grüne Flagge von Dzik erheben; was Besseres weiß ich nicht.« Nun warf Meliboë seinen Vorschlag in die Debatte, man solle versuchen, sich nach Os Erigu durchzuschlagen, wie er es auch schon in jener Nacht in der Marsch vorgeschlagen hatte. »Nein, nein«, kam die einhellige Antwort, der Vorschlag sei nicht gut, Mikalegon nichts weniger als ein Herumtreiber und Seeräuber und seine Festung viel zu weit von Hestinga entfernt. Aber einen Alternativvorschlag hatte keiner parat. Schließlich sagte Alsander: »Wie es heißt, soll Mikalegon ein sehr großzügiger Mann sein; nach der Schlacht bekommen alle, die unter seiner Fahne gekämpft haben, den gleichen Anteil an der Beute.« Die anderen Carrhoener nickten zustimmend, und nach und nach willigten alle Anwesenden mit Ausnahme von Airar, wenn auch widerstrebend, in den Plan ein. Der junge Mann hatte sein Urteil schon lange vorher gefällt. Er saß schweigend da, in seinen Mantel gehüllt, und dachte nach. Zwar war Meliboës Vorschlag bei ihm von Anfang an auf taube Ohren gestoßen, aber nun war ja die Entscheidung zu seinen Gunsten ausgefallen. So hieß es denn nun: auf nach Os Erigu und das Glück mit Herzog Mikalegon versuchen Dieser würde sie sicherlich mit offenen Armen empfangen, denn, wie Rogai sagte, sprachen die Vulkinger kaum noch über etwas anderes als Marschall Bordvins Plan, sobald in Salmonessa wieder Ruhe eingekehrt war, mit den Tercias nach Norden zu ziehen, um gegen Mikalegon loszuschlagen und
große Eroberungsfeldzüge in Micton zu unternehmen, da die Vulkinger für die in jüngerer Zeit okkupierten Güter dringend Sklaven benötigten. Doch nun erhob sich die Frage, wie sie es anstellen sollten, mit einer solch großen Truppe das Land oben im Norden zu erreichen. Jetzt hatte Holmund, der Pferdemeister, das Wort: »Alle Wege von Sedu aus führen nach Osten oder Süden, wo sie auf die Hauptstraße münden, die von Briella hinunter nach Markshaun und Mariupol führt. Es gibt jedoch einen Weg, der in nordöstliche Richtung abbiegt und zu einem Paß über den Drachengrat zum Oberlauf des Weißen Flusses führt. Aber das Flußtal ist an dieser Stelle sehr eng; außerdem verläuft längs des Flusses eine weitere Hauptstraße. Sie führt von Briella in die Weißflußtäler und weiter nach Naaros hinunter. Dort wimmelt es nur so von Vulkingerkastellen und Patrouillen; und ist man einmal in diesem Tal, sitzt man darin wie in einer Falle, denn im Norden wird das Tal von den Bergen von Korsor begrenzt.« »In westlicher Richtung«, fuhr er fort, »gibt es noch einen anderen Paß über den Drachengrat. Die Hestingerner benutzen ihn nicht sehr häufig, da er so steil ist, daß es schier unmöglich ist, ihn beritten zu überqueren, und wie ihr wißt, stehen wir Hestingerner ja im Ruf, von den Zentauren abzustammen, so verwachsen sind wir mit unseren Pferden. An der höchsten Stelle des Passes steht ein einzelnes kleines Landhaus. Es ist nicht sehr bekannt und nennt sich ›das Grafenkissen‹; denn es heißt, der neunte Vulk solle sich dort zur Ruhe gesetzt haben. Man erzählt sich auch, er habe dort einst einen Schatz vergraben.
Der Paß trägt übrigens denselben Namen wie das Landhaus. Er führt geradewegs in die Weißflußtäler und stößt dort auf die Straße, die von Briella nach Naaros führt. Aber das Land ist dort immer wieder unterbrochen von Schluchten und Wäldern, und ein Stück weiter westlich gibt es zahlreiche Schlupflöcher zwischen den Hügeln von Froy, wo man Verfolger leicht in einen Hinterhalt locken kann, so wie es dieser junge Hauptmann hier am Steinernen Paß tat.« (An dieser Stelle hielt Holmund inne und schaute Airar an; es schien ihm Spaß zu machen, den jungen Dalekarlier in Anwesenheit der berühmten Sternenhauptmänner aus Carrhoene zu loben.) »Haben wir erst die Berge überwunden und sind in Shalland, dann können wir uns zur Küste durchschlagen und auf dem Seeweg nach Os Erigu fahren. Eine andere Möglichkeit wäre, scharf nach Norden abzubiegen, in Richtung Stavorna, jener Stadt hoch oben im Brenderhai. Der Eiserne Ring ist in jenen Provinzen sehr stark; wir hätten keine Schwierigkeiten, durchzukommen.« »Mit sechzig Mann?« fragte Pleiander in recht skeptischem Ton. »Seid ihr nicht auch hierher mit sechzig Mann gekommen?« fragte Holmund. Aber bevor der andere antworten konnte, hatte sich schon Evimenes (derjenige unter den Brüdern von Carrhoene, der auf Märsche und Truppenbewegungen spezialisiert war) zu Wort gemeldet und stellte präzise Fragen über Entfernungen und Verpflegungsmöglichkeiten. Airar bemühte sich, konzentriert zuzuhören, aber immer wieder schweiften seine Gedanken ab... nie wieder
würde er eine Frau lieben, außer, er traf Gython erneut... Madame Korins Mädchen in Naaros, hatte der Bogenschütze nicht davon gesprochen... damals als seine Wanderschaft begann?... So war man sich denn bald einig; die Männer erhoben sich, und man beschloß, da es Vollmond war, gleich nach dem Essen die kleine Schar zu versammeln und aufzuteilen. Sechsundsechzig Mann waren es, die da gegen ein ganzes Kaiserreich standen: davon zwanzig freie Fischer, zweiundzwanzig Sergeanten aus Carrhoene, einschließlich der Brüder, der Rest zum größten Teil Mariolaner, die natürlich Rogai zu ihrem Anführer wählten, oder Männer, die in Hestinga geboren waren und ihm als dem bekannteren Dalekarlier zugeteilt wurden, da sie nicht unter einer fremden Flagge dienen wollten. Drei jedoch wurden Airars Gruppe zugeschlagen, und in derselben Nacht kamen noch drei weitere aus Hrappsted dazu, kräftige Burschen, die seine Gruppe zur größten machten. Am nächsten Morgen brachen sie auf. Es war der erste Tag im Monat des Wolfsjungen, das denkbar beste Omen nach altem dalekarlischen Glauben, auch wenn es regnete. Airar und Rogai ritten zusammen an der Spitze der Schar, begleitet von einem Führer von Holmunds Leuten, der pausenlos schwatzte, während die Pferde im strömenden Regen durch eine Landschaft dahintrotteten, die so konturlos war wie ein wogender Ozean. Sie ließen die Pferde nur im Schritt gehen; dennoch mußte jeder Reiter höllisch aufpassen, daß sein Roß nicht über die Bauten und Höhlen kleiner Tiere stolperte und ausglitt. Die freien Fischer waren trotz der langen Übung noch immer recht unbeholfene Reiter. Meliboë hatte sich ein we-
nig von ihnen abgesondert; wie immer, wenn der Himmel finster dreinblickte, brummte er mißmutig vor sich hin und zitterte vor Kälte. Als sie ein Hünengrab aus aufeinandergehäuften Steinen passierten, blickte der Führer auf und deutete mit ausgestrecktem Arm darauf. »Unter jenen Steinen dort liegt der Abt von Stavorna begraben; er wurde an dieser Stelle von Graf Vulk dem Neunten getötet.« Airar kannte die Geschichte noch nicht, und er hätte sich gerne damit ein wenig die Zeit vertreiben lassen. Aber bevor er eine Frage stellen konnte, hörte er von hinten einen lauten Schrei. Im selben Moment kam ein Pferd ohne Sattel und Reiter an ihnen vorbeigeschossen. Er und Rogai drehten sich gleichzeitig im Sattel um und sahen durch einen Vorhang von Regen, wie sich weiter hinten eine Gruppe in wirrem Durcheinander zu einem Klumpen zusammendrängte. Als er jedoch wenden wollte, um zu sehen was los war, blieb Airars Pferd plötzlich mit der Vorderhand in einem Loch stecken, das zum Bau irgendeines Tieres gehörte, und er flog im hohen Bogen aus dem Sattel und blieb benommen auf der Erde liegen. Einen Moment später war Visto bei ihm und half ihm auf die Beine. Während er noch etwas benebelt den Kopf schüttelte und seine Gliedmaßen befühlte, ob noch alles heil war, erscholl der Tumult lauter als vorher. Airar glaubte, jemanden zwischen den Beinen der Pferde liegen zu sehen. »Was ist los?« rief er. »Die Männer aus dem Süden haben irgendwelchen Krach miteinander.« Sie beeilten sich, zu der streitenden Gruppe zu ge-
langen. Just in dem Moment, als sie ankamen, sahen sie, wie Rogai sein Schwert aus der Scheide riß und wutentbrannt schrie: »Wenn das so ist, dann nimm deinen Mut zusammen und kämpf mit mir wollen sehen, ob du dann auch noch so tapfer bist.« Der hagere Pleiander griff nach der Keule, die von seinem Sattel baumelte, und Erb sprang mit einem Satz nach vorn, als wolle er Evadne mit erhobenem Speer schützen. Mit einem Sprung war Airar dazwischen, griff mit beiden Händen in die Zügel ihrer Pferde und schrie: »Um Himmels willen, haben wir nichts Besseres zu tun, als uns auch noch untereinander zu bekämpfen?« Glücklicherweise war der Streit noch nicht so heftig entbrannt, daß nicht beide noch soviel klaren Kopf behalten hätten, ihre Wut hinunterzuschlucken und Airar einen Moment zuzuhören. Zwar knurrten beide wie bis aufs Blut gereizte Hunde, aber sie gehorchten. Der Mann, der am Boden lag, setzte sich jetzt auf und hielt sich den Kopf. Zwischen seinen Fingern rann Blut hervor, das sich mit dem Regenwasser vermischte. Er war aus Micton; seiner Kleidung nach ein Leibeigener. »Worüber habt ihr euch gestritten? Können wir nicht versuchen, uns friedlich zu einigen und...«, begann Airar, aber im selben Moment lenkte Evadne ihr Pferd ein paar Schritte vor. »Er hat recht, Bruder!« sagte sie laut. »Er ist nicht in diesen Streit verwickelt, und wir wissen, daß er einen wachen Verstand und ein gutes Herz hat. Ich schlage vor, wir lassen ihn einen Schiedsspruch treffen. Und wenn wir mit seinem Wort nicht einverstanden sind, dann wollen wir uns von den anderen trennen und unsere eigenen Wege gehen.«
Pleiander knurrte erneut etwas vor sich hin und grinste halb wütend, halb spöttisch, aber Airar sah, daß er seine Hand sinken ließ. Rogai steckte sein Schwert wieder in die Scheide. »Komm«, sagte Evadne und beugte sich aus dem Sattel, um Airars Hand zu ergreifen. »Als einer der sechs Brüder von Carrhoene schwöre ich hiermit, das Urteil Airars des Scharfäugigen anzunehmen oder widrigenfalls mit meinen Leuten von den Dalekarliern wegzugehen und sie nie wieder zu behelligen.« Alsander wollte gerade nach vorn treten und dasselbe tun, als Airar tief schluckte (denn dies waren große und berühmte Leute, auch wenn die Sache, um die es hier ging, vergleichsweise geringfügig war) und mit fester Stimme sagte: »Kein Urteil mit Bedingungen! Entweder haltet ihr mich für rechtschaffen, oder ihr tut es nicht; wenn ja, dann will ich auch ein voll gültiges Urteil ohne Wenn und Aber abgeben dürfen; wenn nicht, schön, dann sucht euch einen anderen.« »Grünschnäbeliger Winkeladvokat«, knurrte Pleiander bissig, doch Evadne entgegnete sogleich: »Bruder, du bist ein Arschloch! Er hat völlig recht, sage ich dir. Haben wir uns denn von dir getrennt, als du damals gegen unseren Willen befahlst, uns unter dem Außenturm von Phyladea durchzugraben? Ich für mein Teil bin jedenfalls dafür, ihm das volle Urteilsrecht zu übertragen, und zwar in der Form, in der er es sich erbeten hat.« Evimenes schloß sich ihr an, dann auch Alsander und als letzter Pleiander, der noch immer vor sich hinknurrte. Als nächstes kamen Rogai und einer der Männer aus Hestinga; auch sie waren in den Fall
verwickelt, wie Airar auf Befragen feststellte. Alle redeten sofort wild durcheinander, während ein weiterer Mann sich um den Mictonier mit dem blutigen Kopf kümmerte. »Der Reihe nach!« rief Airar. Alle verstummten. Als erster sprach Evimenes für die Partei der Carrhoener: »Es geht um die Pferde; wir haben nicht genug für unsere Männer und das ganze Gepäck, falls wir auf diesem Paß welche verlieren sollten, was ja leider wahrscheinlich ist. Mit anderen Worten: Wir haben keine Reserve. Nun sahen wir einige Tiere frei herumlaufen und wollten sie einfangen, wie schon ein dutzendmal zuvor in diesen Ebenen. Und schon kommt dieser gemeine Leibeigene angetrabt, quiekt und jammert was in einer Sprache, die kein Mensch verstehen kann, und greift unserem Bruder Pleiander in den Zügel, was er sich natürlich von einem Sklaven nicht gefallen läßt – wurde ich auch nicht. Da gab ihm unser Bruder eins über, wie jeder Mann von Ehre es getan hätte, ja, hätte tun müssen. Und da kommt dieser andere, dieser Meister Rogai, ergreift Partei für den Sklaven und brüllt was von Diebesbande. Wir haben zuviel Stolz, als daß wir uns das ungestraft gefallen lassen!« Airar schwang zu Rogai herum. »Stimmt diese Behauptung, Rogai?« »Ja, aber wenn man nicht mehr schwarz schwarz nennen darf und einen Dieb einen Dieb, dann...« Pleiander stieß einen Wutschrei aus und fuhr wieder mit der Hand zur Keule, doch Airar hielt ihm den ausgestreckten Arm entgegen und schrie Rogai an: »Schluß jetzt mit den Verleumdungen, oder ich lasse dich auf der Stelle bestrafen! Nun, und Ihr dessen
Name ich nicht kenne, was habt Ihr dazu zu sagen?« Holmunds Mann rieb sich sein vom Regenwasser glänzendes Stoppelkinn. »Nun, Meister, es ist so, wie dieser ausländische Herr gesagt hat, aber er hat verschwiegen, daß Ruzi, der Sklave ihm erklärt hat, daß dies keine Wildpferde sind, die jedermann fangen darf, sondern solche, die zur Arbeit gezähmt wurden und auch entsprechend an den Ohren markiert sind. Ruzi hat nichts weiter getan, als den Besitz des Hofes verteidigt, was seine Pflicht ist.« Airar wandte sich wieder an die Sternenhauptmänner: »Und Ihr wußtet wirklich nicht, daß es in Hestinga üblich ist, zahme und somit an den Ohren gekennzeichnete Pferde frei herumlaufen zu lassen?« Evimenes zog finster seine schwarzen Brauen zusammen, und entgegnete: »Mein Ehrenwort als Soldat.« Alsander streckte drei Finger seiner Rechten empor. »Ich stelle hiermit fest, daß das erste Vergehen aus Unkenntnis geschah, obwohl es sicher ein Unrecht gegenüber jenen darstellt, die uns in ihrem Hause aufgenommen und bewirtet haben. Dieses Vergehen entfällt somit. Habt Ihr Geld?« »Ein wenig«, antwortete Evimenes. »Die Pferde benötigen wir also, wie Ihr sagt, und Ihr habt eine Menge Erfahrung in solcherlei Dingen. Aber für jedes dieser gezähmten Tiere, die Ihr einfangt, sollt Ihr Holmunds Mann nicht ein halbes Goldstück zahlen. Ist das ein gerechter Preis?« Als der Mann nickte, fuhr er fort: »Für den verwundeten Kopf des Leibeigenen hingegen sollt Ihr eine Geldbuße von dreißig Ainar entrichten, und zwar an ihn selbst.«
»Es ist in unserem Lande nicht Brauch, Geldbußen an Sklaven zu bezahlen«, warf Evadne ein, wobei sich ihre schmalen Lippen spöttisch kräuselten. »Aber in Dalekarlien. Wir betrachten einen Sklaven als Mann, der nicht aus eigener Schuld, sondern durch unglückliche Umstände auf einen Hof verschlagen wurde. Es ist andererseits aber auch nicht Brauch bei uns, einen Mann ohne triftigen Grund bis aufs Blut zu reizen, und somit besteht auch eine Schuld Rogais gegenüber Euch; hiermit erlege ich ihm auf, dreißig Ainar an Pleiander zu zahlen, und zwar mit den gebührenden Worten der Entschuldigung. Mein Urteil ist hiermit verkündet.« Alle waren damit einverstanden, und die ganze Schar pries Airar für seine Klugheit und seinen Gerechtigkeitssinn, als man sich wieder auf den Weg machte. Wie schon vorher ritt er zusammen mit dem Führer und Rogai an der Spitze. Am Abend bezogen sie Quartier in einer der steinernen, grasbedeckten Hütten, die überall in den weiten Ebenen von Hestinga von den Pferdemeistern errichtet waren. Bald brannte ein Feuer aus geflochtenem Gras, gerade warm genug, daß sie nicht vor Kälte zittern mußten. Meliboë rückte so nah wie möglich an das Feuer heran und sagte leise zu Airar, der neben ihm hockte: »Nun hat sich gezeigt, junger Mann, wie weit wir es zusammen bringen können; ich mit meiner Philosophie und Ihr mit Euren Fähigkeiten. Wie recht hatte ich doch, als ich an dem Tag, wo wir uns zum erstenmal begegneten, sofort feststellte, daß Ihr ein Glückspilz seid. Ich habe Euch nun vor allen auf die Probe gestellt, und sie haben gesehen, welch ein Führer Ihr seid, wenn Ihr nur Eure jugendliche Unbe-
kümmertheit und Einfachheit bewahrt.« »Ihr stelltet mich auf diese Probe?« »Gewiß. Wer, glaubt Ihr, war es, der Euch straucheln ließ, so daß Ihr an dem Zwist nicht beteiligt wart und daher als Schiedsrichter hinzugezogen wurdet? Und was meint Ihr, hat es wohl eingerichtet, daß dieser Streit überhaupt zustande kam? Diese Carrhoener können ihrem Drang, alles, was sich bewegt, zu stehlen, ebensowenig widerstehen, wie ein Adler seinem Drang widerstehen kann, ein Kaninchen zu reißen, und so mußte lediglich ein frei umherlaufendes Pferd her.« Airar gab darauf keine Antwort. Er dachte darüber nach, wie schön das Leben hätte sein können, wäre Gython so freundlich gewesen wie die derbe Evadne von Carrhoene.
17 Das Grafenkissen: Die zweite Mär von der Quelle Am nächsten Tag regnete es noch immer, aber inzwischen aus sehr hoch stehenden Wolken, die aussahen, als würden sie bald aufreißen. Die Gruppe überquerte einen Fluß, der zwischen steilen Uferbänken dahinschoß, und begann mit dem Aufstieg. Zu beiden Seiten erhoben sich Hügel, die hier und da von Baumgruppen, meistens Robinien oder Kiefern, bedeckt waren. Evimenes schloß zu Airar auf, der immer noch an der Spitze der Schar ritt, und brachte seine Schwester mit. Airar bemerkte, daß er sie mit ›Bruder‹ und ›Evander‹ anredete. Sie waren gut gelaunt und schwatzten fröhlich miteinander; Airar kam der Gedanke, daß die vier Hauptmänner vielleicht am Abend zuvor Rat miteinander gehalten und ihn für wert befunden hatten, sich mit ihm auszusöhnen und zu versuchen, ihn für sich zu gewinnen. Aber ihr Gespräch drehte sich hauptsächlich um irgendwelche Kriege und politischen Einzelheiten im Gebiet der Zwölf Städte, und man kam zu dem Schluß, daß alle Mitglieder der Volkspartei, die die Interessen des Kaisers vertrat, Verräter und Schufte waren. »Die stinkenden Hunde – so nennen wir sie nämlich – herrschen jetzt überall außer in Phyladea«, erklärte Evimenes, »aber davon haben wir auch nichts, weil Phyladea nämlich das schöne Carrhoene nicht ausstehen kann und voller Schadenfreude zusieht, wie es unter dem Joch der stinkenden Hunde schmachtet.«
»Aber da ist noch Permandos«, warf Evadne ein. »Unsere Hoffnung für ein besseres Morgen. Ja, sie werden es auch nicht ewig ertragen können.« »Was werden sie nicht ertragen können?« wollte Airar wissen. »Die Tyrannenherrschaft des schurkischen Sthenophon, den sie zu ihrem Führer machten, als sie die rechtmäßige Regierung stürzten, und der sich zu einem blindwütigen Despoten und Totengräber entwickelt hat. Todesurteile sind dort an der Tagesordnung, und es herrscht völlige Gesetzlosigkeit...« Er blickte zum Himmel und legte die Hand wie einen Schirm über die Augen. »Ha, sieht ganz so aus, als sollte es bald aufklaren. Ihr müßt wissen, Meister Airar, seine Herrschaft ist ein einziger Wahnsinn. Es begann damit, daß er die Besitztümer der Gilden beschlagnahmte, die Permandos zur Blüte gebracht hatten und mit ihrer. Schiffen und Karawanen seinen Reichtum ständig mehrten. Sie waren es doch, die mit dem Seeräubertum fertiggeworden waren und mehr als alle anderen das Sinnbild ehrbarer Kaufleute verkörperten. Aber es war schon immer das besondere Kennzeichen der Herrschaft der stinkenden Hunde, anderen Leuten in die Taschen zu greifen. Was diesen Sthenophon jedoch über die anderen hinaushebt, ist die Tatsache, daß er nun auch noch dazu übergeht, außer dem Besitz das Leben zu beschlagnahmen. Er läßt jeden Verdächtigen entsetzlichen Foltern aussetzen. Selbst die, die ihm einst zur Macht verholfen haben, sind nicht mehr vor ihm sicher. Es reicht schon aus, daß er nur die Vermutung hegt, jemandes Sympathien lägen auf der Seite der Partei der Gilden. Eine unachtsame Äußerung bei Tisch kann einen schon an
den Galgen bringen.« »Solche Tyrannei hat es nie zuvor in den Zwölf Städten gegeben«, pflichtete Evadne ihm bei. »So schlimm geht es nicht einmal bei den rüden Vulkingern zu«, sagte Airar. »Die lassen wenigstens noch jeden glauben, was er will, damit er dann um so williger ihren Befehlen folgt. Ich weiß nicht, wie dieser Sthenophon wissen will, was sich in den Köpfen der Leute abspielt.« »Das weiß er auch nicht. Aber ich bin ganz sicher: Lange wird sich seine Herrschaft in Permandos nicht mehr halten können. Die Menschen erinnern sich noch allzugut an die schönen Zeiten unter der milden Herrschaft der Gilden. Sie werden sich erheben; und dann, mein lieber Evander, werden wir in Permandos wieder einen Bündnispartner haben und eines schönen Tages die Olivenbäume von Carrhoene wiedersehen.« »Sie sehen aus wie grüner Rauch, der über den Hügeln hinter der Stadt an der Küste aufsteigt«, murmelte Evadne schwärmerisch. »Die Hügel von Carrhoene sind gar nicht zu vergleichen mit diesen rauhen, einsamen Bergen hier; ihre Gipfel sind sanft gerundet, und überall gibt es stille Winkel mit kleinen Lauben und Quellen, wo man die Hitze des Tages mit einer Flasche Wein und mit Musik vertreiben kann. Vielleicht können wir sie Meister Airar eines Tages einmal zeigen.« Bei diesen Worten zuckte Airar leicht zusammen; sie rührten etwas in ihm auf, das mit einer unangenehmen Erinnerung verbunden war. Er entzog sich schnell diesem unbehaglichen Gefühl, indem er fragte: »Ich bitte Euch, Herr, erklärt mir doch, wie es
kommt, daß das Reich die Herrschaft dieser Volkspartei in Euren Zwölf Städten unterstützt, während die Kaiserlichen hier in Dalekarlien alle für die Vulkinger sind und niemanden duldet, der geringerer Herkunft als die Grafen ist?« »Eine gute Frage«, warf Rogai ein. »Sir Ludomir Ludomirson ist der einzige Dalekarlier, den sie überhaupt bei Hofe empfangen. Der Eiserne Ring überbrachte mir übrigens eine Nachricht von ihr, Airar – er hält sich irgendwo in Skogalang auf und wartet auf bessere Zeiten; er steht mit dem Ring in Naaros in Verbindung. Die Vulkinger haben eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt.« »Um noch einmal auf Eure Frage zurückzukommen – ich weiß es auch nicht«, sagte Evimenes achselzuckend. »Habe noch nie darüber nachgedacht. Diese Eunuchen, die ständig das Wasser der Quelle saufen, haben nur vier Dinge im Kopf: Ordnung, Ordnung, Frieden und Frieden. Sie sind gegen jede Veränderung, ausgenommen die der Steuerrate. Die darf sich verändern, aber nur nach oben.« »Kann ich auch etwas dazu sagen, Bruder?« fragte Evadne. »Ich glaube nämlich, ich kann das Rätsel lösen, indem ich behaupte, daß du die Zielscheibe nur am Rande getroffen hast. Hör zu – wenn es wirklich nur Frieden und Ordnung wären, woran diesen speichelleckenden Kaiserlichen gelegen ist, erreichten sie dies nicht viel leichter, wenn sie den Gilden von Carrhoene oder den Dalekarliern in ihrem eigenen Land freie Hand ließen? Wären die nicht die besten Garanten für einen echten Frieden ohne Unterdrükkung? Nein, nein, Bruder, es geht ihnen nicht um Frieden und Ordnung schlechthin, sondern nur um
einen ganz bestimmten Frieden und eine ganz bestimmte Ordnung – nämlich die, welche keinerlei Konflikt und keinerlei Veränderung zulassen, die keinerlei Würde zulassen außer der des Kaiserreiches selbst. Die Herren in Stassia wissen sehr wohl, lieber Bruder, daß Menschen, denen ihr tägliches Brot sicher ist, selten Veränderungen erstreben, selbst wenn sie mit Ketten an die Mühlsteine gefesselt sind, die das Mehl für dieses Brot mahlen. Worin liegt denn der Unterschied zwischen den stinkenden Hunden und den Vulkingern? Doch nur in der Form ihrer Unterdrückung. Im Grunde ihres Herzens sind sie sich doch einig.« »Ha!« rief Evimenes. »Bruder, du redest schon so wie dieser räudige Philosoph mit dem mottenzerfressenen Bart!« Da lief Evadne puterrot an und überschüttete ihren Bruder mit solch unflätigen Schimpfwörtern, daß Airar vor Peinlichkeit am liebsten weggeritten wäre, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Aber das ging nicht; er war auf dem engen Pfad hoffnungslos eingekeilt. Der Aufstieg wurde immer beschwerlicher, da der Paß an Steigung mehr und mehr zunahm. Die Pferde quälten sich mit hängenden Zungen und gebeugten Köpfen bergauf, als hätten sie gewaltige Lasten zu schleppen. Hinter ihm erklangen die Rufe der Männer, die ihre Tiere antrieben. Den Wegrand bildeten zu beiden Seiten kantige Felsvorsprünge, die mit schmutzigen Schneeresten bedeckt waren, auf die das Wasser von den Bäumen heruntertröpfelte. Der Baumbewuchs wurde dichter; es gab fast nur noch Kiefern. Sie überquerten einen Kamm, und als sie auf der Rückseite wieder herunterkamen, sahen
sie sich zwischen Felswand und einem steilen Abhang eingeklemmt, in dessen Tiefe ein reißender Gebirgsfluß dahinschoß. Ihr Führer stieg an dieser Stelle vom Pferd, desgleichen Rogai; als Airar sah, was der erfahrene Bergjäger tat, zog er es vor, ebenfalls abzusteigen, obwohl Evadne mit einem Lächeln, das man als Spott über solche Vorsicht hätte auslegen können, im Sattel sitzen blieb. Der Mariolaner nahm ein paar Pfeile aus seinem Sattelbogen, da er es für durchaus möglich hielt, zu dieser Jahreszeit auf einen Bären zu stoßen, der, rasend vor Hunger, von den Menschen angelockt würde, oder daß vielleicht eine der großen Bergkatzen ihre Pferde witterte und sie angriff. Airar schnallte sich seinen Köcher über die Schulter, nahm in die eine Hand seinen Bogen und griff mit der anderen den Zügel seines Pferdes. An jenem Tag begegneten sie jedoch keinem Tier. Nach langem, beschwerlichem Aufstieg – der Abend hatte schon zu dämmern begonnen – kamen sie an eine Stelle, wo sich der Weg plötzlich wieder verbreiterte. Kurz darauf erreichten sie ein Talbecken das ringsum von schneebedeckten Gipfeln umgeben war. Die Bäume wichen zurück, und vor ihnen lag eine Wiese, in deren Mitte ein paar Bäume standen. Aus den Bäumen ragte ein Haus hervor, das sich scharf gegen den dunklen Fichtenwald des gegenüberliegenden Berghanges abhob: das Grafenkissen. Es war im Stile eines Bauernhauses aus ausländischem Holz erbaut und bunt bemalt. Dazu gehörten noch zwei oder drei Scheunen. Alsander und Pleiander schlossen zu den an der Spitze Reitenden auf. Eine Ziege blökte, ein Glöckchen bimmelte, und dann tauchte aus dem trockenen Gras ein Mann vor ihnen auf.
Als sie näherkamen, sahen sie, daß er das rote Abzeichen der Vulkinger trug, die Gruppe tauschte rasche Blicke aus. Aber der Mann war sehr alt und sein Blick ausdruckslos. Er begrüßte sie im Namen des Friedens der Quelle und bot ihnen an, ihre Pferde zu versorgen; die Männer könnten in den Scheunen übernachten. »Aber ich weiß nicht, ob meine Vorräte für so viele Männer ausreichen«, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf. Evimenes bedeutete ihm, sich darüber keine Sorgen zu machen, und nachdem er Evadne einen Wink gegeben hatte, den Mann im Auge zu behalten (für den Fall, daß er irgendeine Heimtücke plante), machten sie sich daran, den Männern die nötigen Instruktionen für das Abendessen und die Übernachtung zu geben. Bald brannten mehrere Lagerfeuer unter den rasch dunkler werdenden Bäumen, und alle saßen in fröhlicher Runde beisammen. Bald erschollen freudige Hochrufe, denn die Männer aus Hestinga hatten getrocknetes Rindfleisch mitgebracht, eine geschätzte Spezialität ihres Landes. Bevor Airar, Rogai oder die Carrhoener darüber nachdenken konnten, wie und wo sie selbst die Nacht verbringen sollten, kam Evadne und meldete, der alte Hauswächter, der im übrigen viel zu einfältig wäre, als daß von ihm Gefahr drohte, habe ihr gesagt, nach altem Brauch sollten die Hauptleute im Haus selbst übernachten. Er sei schon dabei, das Essen vorzubereiten. »Hoffentlich vergiftet er es nicht«, sagte Rogai, und Evadne lachte. Bald darauf traten sie ein; Meliboë hatten sie mitgenommen. Der Vulkinger bewirtete sie schweigend. Das Mahl war vorzüglich: Es gab Ziegenbraten mit Knoblauch. Als sie mit dem Essen fer-
tig waren, setzten sie sich alle vor das behaglich knisternde Feuer. Der Alte gesellte sich zu ihnen und blickte mit seinen glanzlosen Augen in die Runde. »Meine Herren, ich würde mich freuen, wenn Ihr die Güte besäßet, Eure Aufmerksamkeit auf die kleine Geschichte zu richten, die ich nun erzählen möchte. Ich hüte dieses Haus schon seit langen Jahren, wie vor mir mein Vater und mein Großvater und ich bitte jeden, der hierherkommt, diese Geschichte anzuhören. Sie handelt von dem seligen Grafen Vulk, dem neunten dieses Namens. Leider habe ich keinen Sohn oder Enkel; ich bin der letzte der den Namen der Boulards trägt, so daß ich nicht weiß, wer die Geschichte nach meinem Tode weiter überliefert; und doch...« »Nun erzählt schon die Geschichte, alter Mann«, unterbrach Pleiander ihn ungeduldig, »und macht es kurz, denn wir müssen bald schlafen gehen. Müde Männer marschieren nicht gern.« Der Alte hob beide Hände vor die Augen, ballte sie zur Faust als greife er nach etwas Unsichtbarem, dann ließ er sie wieder sinken. Sie zitterten leicht. »Ich bitte um Verzeihung, meine Herren, ich wollte nicht mit meinen eigenen Angelegenheiten die Geschichte unterbrechen, welche eine sehr moralische Erzählung ist, aus der man viel lernen kann, wie Ihr sehen werdet. Und eben aus diesem Grunde ist es nicht ohne Wichtigkeit, daß sie vielleicht mit meinem Ableben der Welt verlorengeht. Und dies ist nun die Geschichte von Graf Vulk dem Neunten – Gott hab ihn selig –, der zu der Zeit lebte, als die ruchlosen Heiden noch im Lande waren, gegen welche er mit dem Segen der Kirche zu Felde zog und die er, so
wird es überliefert in den Tälern des Weißen Flusses entscheidend vernichtete. Aber darum geht es nicht in dieser Geschichte...« Die Tür ging auf, und Erb trat ein; er wollte etwas sagen, aber Evadne bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen und rückte ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. Er errötete wie ein schüchterner Junge und nahm Platz, ohne ein Wort zu sagen. »Nun müßt Ihr wissen, daß Graf Vulk zu jener Zeit noch ein junger Mann war; schon in seinem achtzehnten Lebensjahr war er in sein hohes Amt gewählt worden – ein bis dahin noch nicht dagewesenes Vorkommnis, für das auch nur sein unerhörter Heldenmut und der berühmte Name seines Vaters verantwortlich waren. Darüber hinaus sagt man, daß er der schönste aller Vulkinger war, ein Mann groß wie ein Baum, mit Haaren so weich und schwarz wie der Himmel um Mitternacht, mit wachen, fröhlichen Augen, einem ständigen Lächeln auf den Lippen und einer Stimme, hell wie der Klang einer Glocke; kurz, ein vom Glück überreichlich bedachter, vollkommener Prinz. Nach der großen Schlacht in den Tälern ging er nach Stavorna, wo man ihm zu Ehren einen Gottesdienst in der Kirche abhielt; danach fand ein Festmahl in der Halle der Syndizi statt. Oh, es war ein herrliches Festmahl; auf glänzenden Platten aus Silber wurden köstliche Gerichte aufgetragen, die Tische mit ihren blütenweißen Decken erstrahlten im Glanze von tausend Kerzen, dazu spielte herrliche Musik. Der junge Vulk war der fröhlichste von allen; im schäumenden Überschwang seiner Jugend stimmte er ein Lied an.«
Der Alte räusperte sich und sang mit zittriger Stimme: »Laßt uns singen, laßt uns trinken, Laßt nicht denken uns an morgen, In den Arm der Liebsten sinken Und vergessen alle Sorgen... Meine Herren, Ihr könnt euch denken, daß die anwesenden Männer der Kirche nicht allzusehr erfreut waren, Lieder solcher Art zu hören, ist es doch seit eh und je die Pflicht der Heiligen Kirche gewesen, die losen, frevelhaften Leidenschaften, die durch solcherlei Lieder geweckt werden, zu zügeln. Nun wollte es der Zufall, daß zur Linken des Herrn von Briella eine Nonne saß, war es doch zu jenen Zeiten üblich (heute hat die Kirche hier weit strengere Regeln), daß die Bräute Gottes anläßlich solcher Festlichkeiten in die Welt hinausgingen, auf daß sie die Natur der Sünden und Versuchungen, gegen die sie kämpfen sollten, und all die Listen und Künste des Teufels aus eigener Anschauung kennenlernten, um seine Argumente um so besser widerlegen zu können. Darüber hinaus gab es für diese Nonne gleich doppelten Grund, dem Bankett beizuwohnen, handelte es sich doch um Egonilla, die Tochter des großen Grafen von Os Erigu. Ihr Vater hatte sie wegen des hervorragenden Rufes und der außerordentlichen Frömmigkeit des Abtes von Stavorna in das dortige Kloster gebracht. Bis zu jenem Augenblicke war sie ebenso fröhlich wie alle anderen Anwesenden gewesen, das Herz voller Freude und erfüllt von der Liebe zu Gott, wenngleich
sie sich natürlich des Trunkes enthalten hatte. Doch als sie das schwelgerische Lied des jungen Grafen vernahm, bekreuzigte sie sich und schlug die Augen züchtig nieder. Es heißt, daß Graf Vulk sie in seinem Taumel von Lust und Tollheit anschaute und bemerkte, wie anmutig ihre wunderschön geschwungenen Wimpern ihre geröteten Wangen bedeckten. ›Ho! Bei der Quelle!‹ schrie er. ›Hier ist eine, in deren Arme ich sinken möchte, die ich lieben möchte bis zum Morgengrauen! Nun, Liebchen, was meinst du, sollen wir zwei das Lied Wahrheit werden lassen?‹ Und dann schlang er seinen Arm um ihre Hüfte – eine frevelhafte Tat, meine Herren, aber er war jung und gedankenlos. ›Herr‹, sagte sie da, ›ich liebe immer; die ganze Nacht liebe ich und den Tag dazu, in vollkommener Liebe zu Gott. Und da Ihr mich nun umschlungen habt und so meine Seele, wenn auch nur ein wenig und gegen meinen Willen, mit einer Liebe ganz anderer Natur berührt habt, muß ich niederknien. Und daher bitte ich Euch, Euren Arm zurückzuziehen.‹ ›Je größer die Versuchung, desto größer der Sieg‹, erwiderte Vulk, aber er nahm seinen Arm von ihr und wandte sich um, um einem anderen Gast zuzuprosten. Doch als er seinen Blick vom Boden des leeren Bechers hob, sandte ihm der Teufel einen Gedanken, und er wandte sich erneut Schwester Egonilla zu. ›Hört‹, sprach er, ›Ihr vom Kloster kommt von Zeit zu Zeit hinaus in die Welt, um zu lernen, was Ihr fortwerft. Das nenne ich wahre Philosophie; niemand ist so gut wie der, der all das kennt, womit uns der Teufel in Versuchung führt, und der sich dann zu ei-
nem höheren Preis verkauft. Aber Euer Tun hat einen großen Fehler: Wenn Ihr von weltlicher Liebe so wenig versteht, als daß die Berührung mit ihr Sünde ist, dann behaupte ich, Ihr seid nicht gut, sondern unwissend. Oder wollt Ihr mir sagen, daß Ihr aus der Sünde Eurer Eltern geboren wurdet? Die Vereinigung von Mann und Frau ist ein Sakrament und keine Sünde.‹ ›Herr‹, antwortete sie, ›die Sünde unserer ersten Eltern, in die wir alle hineingeboren werden, erfährt durch das heilige Sakrament die Absolution.‹ ›Wenn aber das Sakrament zu erneuter Sünde führt, dann ist die Absolution keine echte‹, erwiderte er. Und so debattierten sie weiter wie Doktoren, inmitten des fröhlichen Banketts, abgesondert von allen anderen, bis schließlich ihr Gespräch seiner Lordschaft, dem Abt, hinterbracht wurde. Dieser runzelte die Stirn, machte ein ernstes Gesicht und sagte, der junge Graf sei nicht weit davon entfernt, entsetzliche Ketzerei zu begehen. Aber war es richtig – mit dem Schwert der heiligen Kirche einen Streit vom Zaun zu brechen? Also erteilte er Egonilla die Erlaubnis, Graf Vulk von seinen theologischen Irrtümern abzubringen, war sie doch von allen Damen des Klosters diejenige, die andere auf höchst liebevolle Art zu überzeugen vermochte; darüber hinaus stand sie auch in ausreichend hohem Range.« Meliboë der Zauberer lachte. »Ich kann mir schon denken, was jetzt kommt«, sagte er, aber der Alte ging nicht darauf ein, sondern sah den Zauberer nur mit einem gequälten Blick an... ähnlich wie das Pferd Pil, dachte Airar, mich damals angeblickt hat, als ich Trangsted verließ. »Meine Herren, die Wege Gottes sind oft rätselhaft
und von unseren armseligen Geistern nicht zu durchschauen. Der Graf und die Nonne trafen sich alsbald im Empfangsraum des Klosters, wie es sich geziemte, und sprachen vor dem großen Fenster der Halle. Seine Lordschaft, der Abt, der die Absicht hatte, ebenfalls an der Diskussion teilzunehmen, trat unangemeldet ein, und was sah er, o tirili-tirila und tandaradei? Durch das Fenster sah er, wie sie sich inniglich umschlungen hielten und einander mit geröteten Wangen herzten und küßten! In ihre Zelle sandte er sogleich Schwester Egonilla, wo sie Buße tun sollte. Er selbst aber suchte mit Nachsicht und Liebe den Grafen Vulk von der Frevelhaftigkeit seines Tuns zu überzeugen. Aber vergebens; zwar sagte der Graf ja, ja, doch bald darauf war er verschwunden – und mit ihm Schwester Egonilla, die er davon überzeugt hatte, daß sie zuerst einmal sündigen müsse, bevor ihr Vergebung zuteil werden könne – als hätte nicht schon der Sündenfall unserer Ureltern uns für immer schuldig gemacht! Der Graf ließ dieses Haus errichten, so wie es noch heute hier zu sehen ist, und genau an dieser Stelle, wo wir jetzt sitzen, hier vor dem Feuer, saß der selige Graf Vulk, der Zähmer der Heiden, unselig zu jener Zeit jedoch, mit der schönen Nonne Egonilla. Meine Herren, es waren schwere Zeiten damals für das Land; zwar waren die Heiden in die Schranken gewiesen, doch nicht so der Graf von Os Erigu. Der alte Mann war von tiefem Gram erfüllt, daß seine Tochter geraubt und große Schande über sein Haus gebracht worden war, so wie die Bischöfe und Äbte beklagten, daß große Schande über die heilige Kirche gekommen war. Und so kam es, daß Os Erigu den
Handel mit den zwei Städten, die da Lectis heißen, einstellte und mit Krieg drohte. Und es war Feuer auf dem Dachfirst in Norby, wo er die Mictonier losließ, jene Barbaren, die weder für Gott sind noch für den Menschen. Oh, meine Herren, es war eine schwere Zeit; aus den Weißflußtälern und von Briella kamen Boten über die lange Straße hierher, mit Protestbriefen gegen dies und gegen das, und dann kamen Gesandte von Os Erigu und vom Kaiser, bis schließlich die Liebenden keine Nacht mehr allein verbringen konnten. Und schließlich kam der Kanzler des Reiches persönlich und sagte, entweder bekäme der Herr von Os Erigu seine Tochter zurück, oder es gäbe Krieg. Als Egonilla, die mit Graf Vulk beim Feuer saß, das hörte, da rang sie die Hände und sagte: ›Mein Herr und Geliebter, das würde seinen Tod bedeuten denn mein Vater ist ein alter Mann, und ich weiß, wenn du gegen ihn zu Felde ziehen mußt, dann wird er es sein, der fällt.‹ Und dann weinte sie – oh, die bitteren Tränen Egonillas! Über diese Planken und Steine sind sie geflossen! ›Tod und Leben und wir zwei!‹ sagte er. ›Ich habe meine Hoffnung auf Größe und Ruhm dahinfahren lassen, um mit dir Frieden zu finden. Soll mir dieser nun verwehrt sein? Nein, ich werde die Grafenwürde ablegen.‹ ›Das ändert auch nichts‹, entgegnete Egonilla. ›Glaubst du, mein Vater könnte gegen den bestehen, den sie zum zehnten Vulk wählen?‹ Vulks Gesicht verdüsterte sich, und er ließ die Arme sinken. ›Da ist der neunte Vulk, und der bin ich.‹ Aber der Lordkanzler räusperte sich. ›Ich bin der neunte Vulk‹, sagte er erneut, ›und ich werde nicht
gegen den Vater meiner Liebsten zu Felde ziehen. Ich werde das Banner erheben!‹ ›Gegen wen?‹ rief sie und entwand sich seinen Armen. ›Nun werde ich dich vor die Wahl stellen. Ich werde mich nicht durch Küsse davon abbringen lassen. Ich stelle dich vor die Wahl; einen dritten Weg gibt es nicht. Entweder kehre ich sogleich zurück und ertrage die Strafe, wie hoch auch immer sie sein mag, die man mir für meine wollüstige Sünde auferlegt; oder wir gehen zusammen zu jener Quelle der Wunder, der Einhornquelle, und erlangen so ihren ewigen Frieden.‹ ›Ich bin Krieger und von Amts wegen der Anführer der vulkingischen Tercias.‹ ›Noch vor einer Minute sprachst du davon, du habest um meinetwillen alle Hoffnung auf Ehre und Ruhm freiwillig fahrenlassen...‹ Nun war sie es, die die besseren Argumente auf ihrer Seite hatte, und so sehr er auch tobte und raste oder vor ihr auf die Knie fiel oder den Kühnen spielte, es fruchtete nichts; am Ende mußte er nachgeben. Die vulkingischen Herren waren erzürnt, als sie erfuhren, daß er von der Quelle trinken wollte, und es gab nicht wenige unter ihnen, die dafür plädierten, ihn zu stürzen und Os Erigu ins Meer zu fegen. Aber es gab auch genügend unter ihnen, die anderer Ansicht waren und sie diesmal noch davor zurückhalten konnten, zumal auch die Heiden sogleich wieder darauf bedacht waren, aus den inneren Streitigkeiten des Landes ihren Vorteil zu ziehen, und wieder damit begannen, Zwietracht im Lande zu säen. Man erzählt, daß die beiden Pilger mit allen Ehren in Stassia empfangen wurden und wie schon andere vor ihnen vom
Wasser der Quelle tranken. Als sie jedoch den letzten Schluck getrunken hatten, bemerkten sie keinerlei Veränderung bei sich, so daß auf der Rückreise eine gedrückte Stimmung auf ihnen lastete sowie die gespannte Erwartung, welcher Art wohl dieser Frieden sein würde, den sie da gewonnen hatten. Nur wenige waren gekommen, Vulk zu begrüßen, als er von der Reise zurückkehrte, und als er hierher, zum Grafenkissen, kam, da waren nur mein Großvater und ein einzelner Gast anwesend, nämlich der Abt von Stavorna, jener erwähnte heilige Mann. Keiner weiß, was sie zunächst miteinander sprachen, aber es fiel nicht einmal ein Wort über Egonillas Rückkehr ins Kloster. Der Abt beglückwünschte die beiden zu ihrem neuen Frieden, worauf sich auf ihrer beide Gesichter ein Schatten legte. ›Es war eine lange Reise‹, sagte die schöne Egonilla und Vulk: ›Und ein kühler Empfang. Wo ist der versprochene Friede nun? Os Erigu droht noch immer mit Krieg, doch nun haben die Herren des Rates alles in die Hand genommen, und ich bin so gut wie entmachtet.‹ ›Und dennoch ist das Versprechen, das die Quelle gibt, klar und eindeutig‹, erwiderte seine Lordschaft, der Abt. ›Fandet Ihr nicht schon auf dem Schiff, das Euch hierherbrachte, den Frieden und das Glück, das Ihr erstrebtet?‹ ›O ja‹, antwortete Vulk, und es schien, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann ließ er seine Stimme wieder sinken. ›Die Verheißung der Quelle wird sich erfüllen, aber Ihr sollt nicht sagen, welcher Art dieser Friede sein wird, denn das würde bedeuten, Gott diktieren zu
wollen, wie Er, dessen Ziele unergründlich sind, sie zu verwirklichen habe. Es ist vielmehr an uns, zu erforschen, welchen Weg Er für uns vorgesehen hat.‹ Egonilla hatte die ganze Zeit über schweigend zugehört. Doch nun blickte sie auf, und ein Leuchten trat auf ihre Züge. ›Nun kann ich es deutlich erkennen‹, rief sie, ›und ich weiß, woran es unserer Liebe mangelte, auf daß sie sich in Überdruß und Asche verwandelte. Es gibt keinen Frieden und keine Liebe auf der Welt denn die vollkommene Liebe Gottes! Ohne sie verwandelt sich alles in Staub! Vater, vergib mir!‹ Und mit diesen Worten sank sie vor dem heiligen Abt auf die Knie. Meine Herren, mein Großvater (der ja ebenfalls im Raume anwesend war) erzählte mir, daß Vulks Antlitz in jenem Augenblick in wildem Zorn errötete; er riß seinen Dolch aus der Scheide und schrie wie ein Rasender: ›Wenn du Egonilla von mir wegnimmst, werde ich euch beide töten!‹ ›Still!‹ sagte der Abt. ›Es gibt keine Egonilla mehr.‹ Er nahm ein Fläschchen geweihten Wassers und besprengte damit die vor ihm kniende Egonilla. ›Ich gebe dir einen neuen Namen‹, sagte er. ›Von nun an sollst du Deodata, die von Gott Geschenkte und Gott Geweihte, heißen. Und Ihr, Herr Graf, Ihr möget uns nun töten; aber vergeßt nicht, daß Ihr vom Wasser der Quelle getrunken habt und Frieden gesucht habt. Ihr sollt diesen Frieden auch bekommen; doch wenn Ihr ihn nicht haben wollt, dann werdet Ihr solange mit Ruten und Peitschen geschlagen werden, bis Ihr das Geschenk annehmt.‹ Bald darauf ging er fort und mit ihm Deodata, so wie einst Egonilla mit dem Grafen vom Kloster fort-
gegangen war. Vulk blieb allein zurück. Es wird überliefert, daß er nach einer Weile seine Heftigkeit bedauerte und den beiden nachritt, um ihr zur Erinnerung ein kleines Abschiedsgeschenk zu überreichen. Nun war der gute Abt ein alter Mann und der Weg hinunter durch die Weißflußtäler stellenweise durch Erdlawinen blockiert. Aus dem Grunde hatten er und die Nonne den weniger beschwerlichen Weg gewählt, der ostwärts nach Hestinga führte. Als Vulk nun die ersten kleinen Pachtgüter in den Tälern erreichte und alsbald feststellte, daß die beiden dort nicht vorbeigekommen waren, flammte sogleich wieder teuflische Wut in ihm auf, diesmal doppelt so heftig wie beim erstenmal. ›Sie haben mich schändlich hintergangen!‹ schrie er wie ein Besessener. ›Und nun glauben sie, mir mit einer neuen List entkommen zu können! Aber da haben sie sich verrechnet!‹ Er wendete sein Pferd und sprengte wie ein Wahnsinniger über den Drachengrat, quer durch das Dickicht und hinunter auf den anderen Weg, den die beiden genommen hatten. Am Ausgang des Passes erreichte er sie. Ohne ein Wort stach er den heiligen Mann nieder. Oh, meine Herren, es war ein entsetzlicher Anblick, wie der Abt tot in seinem Blute lag! Aber die Nonne Deodata schwieg nur und schaute ihn mit kalten, ach, so kalten Augen an. Man hat nie erfahren, was die beiden dort miteinander sprachen und ob er versuchte, sie zur Rückkehr zum Grafenkissen zu bewegen. Sollte dies jedoch der Fall gewesen sein, so war ihm kein Erfolg beschieden, denn sie ritt auf und davon. Und schon bald kam großes Unheil über den Grafen Vulk und sein Reich, denn der Kaiser belegte ihn mit dem Bann, da er den
Frieden der Quelle gebrochen hatte, und die Kirche exkommunizierte ihn, weil er den Abt ermordet hatte, und bald darauf erhoben sich auch die nichtswürdigen Dalekarlier gegen ihn, und viele Vulkinger fielen von ihm ab und schlossen sich den Dalekarliern an. Und als Graf Vulk wieder seinen Harnisch anlegte, zeigte sich bald, daß er, der einst so stark und mächtig gewesen war, nicht mehr das Herz und die Hand für den Krieg hatte, und so geschah es, daß er schließlich bis zu seinem Stammsitz zurückgedrängt wurde. Kurz darauf fand die Entscheidungsschlacht im Norden von Hestinga statt. Er verlor diese Schlacht und floh in die Hügel von Korsor. Unterwegs fiel von seinen verbliebenen Getreuen einer nach dem andern den Verfolgern, die ihm dicht auf den Fersen waren, in die Hände. Schließlich war nur er noch übrig, und die Feinde kamen immer dichter heran. Es ging schon auf den Abend zu, als er mit einemmal eines schmalen Pfades gewahr wurde, der von seinem Wege abzweigte. Er folgte diesem Weg, und bald kam er an eine Höhle, neben der eine kleine Quelle floß. Sein Pferd war völlig erschöpft. Er stieg aus dem Sattel, nahm das Tier beim Zügel und schritt auf die Höhle zu, in der Absicht, sich dort zu verbergen. In just diesem Augenblick, als er vor dem Eingang der Höhle stand, schob eine weiße Hand von innen ein paar Zweige, die den Eingang verdeckten, beiseite. Vor ihm stand die Nonne Deodata. Es heißt, sie soll noch lieblicher und anmutiger ausgesehen haben als zu der Zeit, da er sie zum ersten Male gesehen hatte. Doch war nun, da sie dieses bewaffneten Mannes gewahr wurde, den sie schon einmal in einer anderen Welt gesehen hatte, der Aus-
druck von Freude und Ruhe auf ihrem Gesicht getrübt. ›Kannst du mich nicht mein Leben leben lassen, so wie ich dich das deinige habe leben lassen?‹ fragte sie, aber er lachte nur bitter. ›Du bist wie immer zu eitel‹, sagte er. ›Würde ich deinetwegen kommen, verwundet und allein, von einer verlorenen Schlacht? Tritt zur Seite und laß mich um mein Leben kämpfen. Gibt es noch einen anderen Eingang zu dieser Höhle?‹ In dem Moment hallten schon die Rufe der Häscher aus dem Tal zu ihnen herauf. Sie blickte ihn lange an und sagte: ›Willst du Frieden haben?‹ Auch er schaute sie an und sagte schließlich ja. Dann fiel er vor ihr auf die Knie und in dieser Haltung fanden die Verfolger, die im selben Moment die Höhle erreicht hatten, die beiden vor. ›Herrin‹, sagten sie (denn jeder im Lande hatte große Achtung vor der heiligen Nonne), ›laßt uns den Grafen Vulk, diesen übelsten aller Verräter im Lande, aus Euren Augen entfernen.‹ ›Schweigt‹, erwiderte da die heilige Frau, ›es gibt keinen Grafen Vulk mehr‹; und mit diesen Worten schöpfte sie eine Hand voll Wasser aus der Quelle und benetzte den vor ihr Knieenden damit. ›Ich gab ihm einen neuen Namen‹, sagte sie, ›Theophilon soll er von nun an heißen. Das ist ein Name aus einer der alten Sprachen, und er bedeutet: der Mann, der Gott liebt.‹ Die Männer waren von der Truppe des Bischofs und wagten daher nicht, der heiligen Frau zu widersprechen. Und so ritten sie denn wieder davon und ließen den Grafen bei der Nonne zurück. Es heißt, daß Graf Vulk, nachdem er wieder in die Arme der Heiligen Kirche zurückgekommen war, nicht weniger berühmt wurde als die Nonne, und bald war er
in aller Munde als ein leuchtendes Beispiel von Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit wie einer der seligen Heiligen. Dieses Haus aber, so wurde verfügt, sollte auf immer als Stätte der Erinnerung bestehen bleiben, und jeder, der über den Paß mit Namen Grafenkissen hierherkäme, sollte in diesem Haus als Gast empfangen werden und die Geschichte erfahren. Und dies ist das Ende meiner Geschichte.«
18 Der Ausgang des Passes: Die Hauptleute beraten sich Der Abstieg war wie erwartet schwieriger als der Aufstieg, galt es doch, nicht nur den Höhenunterschied zwischen Berg und Tal wettzumachen, sondern auch noch jenen zum Hochplateau von Hestinga, das viel höher lag als die Weißflußtäler, auf die sie jetzt zustrebten. Einige Pferde gingen auf dem halsbrecherischen Abstieg verloren, wie es Evimenes vorausgesehen hatte. Rogai der Bergjäger, der natürlich hier in seinem Element war, ritt von da an jedesmal voraus, um die Begehbarkeit des Pfades zu prüfen, und an einer Stelle, wo der Pfad eine Biegung machte, rammte er vorher Stangen ein, die er durch Buschwerk miteinander verflocht, damit ein zufälliger Fehltritt nicht sofort dazu führte, daß die Männer den schwindelnden Abhang hinunterstürzten. Er konnte jedoch nicht voraussehen, daß Evadne, als sie einmal umschwirrt von geisterhaft wirkenden Eulen, in einer Felsspalte übernachteten, plötzlich aufstand und Airar ein Zeichen machte, ihr zu folgen. Sollte er ihr nachgehen? Er überlegte. Gut; warum nicht? Er murmelte den anderen etwas von ›Beine vertreten‹ zu und ging hinter der Carrhoenerin her, die zwischen den Bäumen verschwand. Im schwachen Widerschein des Lagerfeuers sah er sie auf einem Baumstumpf sitzen. Er setzte sich zu ihr. Es war nicht sehr kalt; den ganzen Tag über war der Himmel klar gewesen, und selbst in dieser Höhe verhießen die Knospen an den Zweigen der Bäume den nahen Frühling.
»Sag, Freund Airar«, begann Evadne, »was suchst du in Dalekarlien?« »Nun«, erwiderte Airar ein wenig verblüfft, »die Befreiung von diesen Vulkingern. Sie sind nicht von unserem Blute, und doch herrschen sie über uns mit eiserner Hand. Als ich noch klein war, da schienen alle Leute bei uns auf dem Land glücklich in ihren schmucken Höfen; alle lebten zufrieden als gute Nachbarn und Freunde zusammen, und oftmals trafen wir uns, feierten Feste und tanzten. Doch was ist daraus geworden? Unser Hof war der letzte; überall hockt jetzt irgendein fetter vulkingischer Bonze auf dem Besitz, lebt wie die Made im Speck und läßt die Ländereien von mictonesischen Sklaven bewirtschaften.« »Pah! Du predigst daher, als wärst du einer der stinkenden Hunde. Ich wollte wissen, was du persönlich für Pläne hast. Wohin zieht es dich?« Es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete. »Um ganz ehrlich zu sein, darüber habe ich noch nicht nachgedacht, und...« »Versuch nicht, mir weiszumachen, daß du aus purer Hochherzigkeit und für das Wohl deiner Mitmenschen in den Krieg gezogen bist, wie ein Priester oder ein Kaiserlicher! Nur keine scheinheiligen Reden; heraus mit der Sprache! Bist du auf eine Adelskrone scharf – vielleicht als tapferer Krieger, der den Heiden furchtlos ins Auge blickt –, oder bist du in den Krieg gezogen, um irgendeine unglückliche Liebe zu vergessen, so wie dieser vertrottelte Graf in der Geschichte, die uns der alte Tattergreis erzählt hat?« Airar fühlte, wie erst Hitzewellen in ihm aufstiegen und dann kalte Schauer, so als würden ihm die
Schweißtropfen in der Kühle der Nacht zu Eiszapfen gefrieren. »Für mich gibt es keine Liebe« brachte er mit halberstickter Stimme hervor. »... Und in Dalekarlien machen wir uns nicht allzuviel aus Adelskronen, bei uns ist es üblich, daß Männer sich zu jedem Unternehmen frei zusammenschließen und einen Anführer aus ihren eigenen Reihen wählen.« Ihr Lachen klang wie das Bellen eines Fuchses. »Eine gute Regelung, wenn alle Bauern wären. Und du, du bist wie der General; denkst nicht weiter als bis zum nächsten Morgen.« Es war hell genug, um erkennen zu können, daß sie ihren Blick ein wenig von ihm abwendete. »Vielleicht gibt es jemand, der dir helfen könnte, ein höher gestecktes Ziel zu finden.« Ihr Knie berührte seines; diese Berührung und ihre tiefe, heisere Stimme ließen ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Allerdings war der Schauer nicht so heftig, daß er ihn hinderte, darüber nachzudenken, ob es, hätte er sich ein wenig mehr mit Frauen ausgekannt, in jenem Moment ratsam gewesen wäre, sie einfach in den Arm zu nehmen. Gleichzeitig aber sagte er sich, welch ein Dummkopf er war, wenn er es nicht tat. Aber dann traute er sich doch nicht; zum einen, weil er fürchtete, zornig abgewiesen zu werden, zum anderen ging ihm der Gedanke nicht aus dem Kopf, wenn er es tat, dann hatte er sein Schwert für einen Aina an Carrhoene verschachert. All diese Gedanken schossen ihm fast gleichzeitig durch den Kopf, verwirrten ihn und lähmten ihn zugleich. Er stieß einen Seufzer aus. Evadne von Carrhoene schaute ihn an und lachte erneut. »Du scheinst wirklich von Menschen nicht halb soviel zu verstehen wie von Schweinen, Meister
Airar.« Der halb geformte Gedanke, eine günstige Gelegenheit verpaßt zu haben, schoß ihm durch den Kopf, und er beugte sich vor, um sie mit den Armen zu umschlingen. Doch der richtige Moment und die passende Stimmung waren vorbei; sie schlüpfte behende aus seinem Arm und stand auf. Airar hockte da wie ein dummer Junge, halb über den Baumstumpf gebeugt, die Arme geöffnet. »Wir reden ein andermal darüber, mein...« Evadne kam nicht mehr dazu, das letzte Wort auszusprechen. Mit einem Satz war die riesige Katze über ihr. Aus dem Augenwinkel hatte das Mädchen noch die jähe Bewegung des großen schwarzen Schattens wahrgenommen, und so gelang es ihm, der Wucht des Ansprunges so weit auszuweichen, daß nur die Hinterpranke traf. Evadne stürzte zu Boden und rollte ein paar Schritt zur Seite. Gleichzeitig stieß sie einen gellenden Schrei aus. Airar sprang entsetzt auf und riß den Dolch aus der Scheide, den er in Naaros gekauft hatte. Im selben Moment, als die Bestie erneut zum Sprung ansetzte, um der am Boden liegenden Frau den Todeshieb zu versetzen, tauchte wie der Blitz ein Schatten zwischen den Bäumen auf. Im flackernden Licht des Feuers sah Airar die Umrisse eines Kopfes, ein Arm mit einem Speer hob sich, und noch ehe die Bestie heran war, bohrte sich der Speer tief in ihre Flanken. Der schaurige Todesschrei der Katze vermischte sich mit Evadnes zweitem Schrei. Die Bestie bäumte sich in zuckendem Todeskampf auf und hieb wild mit den Vordertatzen um sich, doch nun war auch Airar heran. Er spürte das glatte Fell und bekam einen stählernen Muskel zu fassen; mit aller Kraft stieß er den Dolch bis zum Heft in die
Kehle des Tieres. Warmes Blut spritzte über seine Hand; er ließ sich fallen und rollte sich blitzschnell außer Reichweite der Bestie. Gleich darauf hörte er aus der Richtung des Lagers Rufe und sah, daß Männer mit Fackeln kamen. Airar erhob sich. Vorneweg kam Alsander. Als er seine Schwester am Boden liegen sah, rief er: »Bruder, bist du verwundet?« In seiner Stimme lag echte Angst, was Airar bei dem hartgesottenen und erfahrenen Hauptmann nicht übel erstaunte. Evadne, die sich noch immer mit einer Hand den Kopf hielt, antwortete: »Nein, es ist nur ein Kratzer.« Nun erkannte Airar auch den Mann, der den Speer in die Katze gestoßen hatte: Es war der lange Erb. Er machte ein ganz verlegenes Gesicht und schneuzte sich unablässig mit Daumen und Zeigefinger, um die Tränen der Erregung nicht zu zeigen. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Evadne zu Erb und gab ihm die Hand, während die Männer das Tier mit viel Hallo und Hurra wegschleppten, um ihm das Fell abzuziehen, das sie als Trophäe behalten wollten. Airar hingegen würdigte sie keines Blickes, und er fühlte sich mehr als je zuvor wie ein tolpatschiger Bauernlümmel, als er sich wieder auf seinem Platz am Feuer niederließ und die Decken zurechtzog für den Schlaf, der, das fühlte er, heute erst spät zu ihm kommen würde. Der Zauberer Meliboë hatte seinen Schlafplatz dicht neben Airar. Er war schon in seine Decken gehüllt, als dieser kam. Jetzt hob er den Kopf und fragte leise: »Hast du wenigstens mit ihr geschlafen, bevor du sie zurückbrachtest?« Airar hatte nicht übel Lust, ihm die sechs Zoll lange Klinge des Dolches zwischen
die Rippen zu stoßen. Aber der Zauberer drehte ihm sogleich den Rücken wieder zu und begann zu schnarchen – ob echt oder gespielt, konnte Airar nicht beurteilen. Im Morgengrauen machten sie sich wieder auf den Weg. Der Abstieg war nach wie vor beschwerlich; mehr als einmal gerieten sie dem Abgrund sehr nahe. Gegen Mittag kamen sie an ein kleines Pachtgut. Es lag am oberen Ende eines Tales; auf einer Wiese vor dem Haus weideten ein paar Ziegen. Es wies ein Strohdach und einen Hausherrn mit nichtssagendem Blick auf, der sie verdutzt anstarrte, als da eine ganze Schar bewaffneter Krieger so plötzlich vor ihm auftauchte. Er stand stumm da und glotzte. Auch auf das Geme, plange, moesto, mori, das Airar sogleich anstimmte, wußte er nichts zu sagen. Aber er sah wie ein ehrlicher Kerl aus, und noch dazu war er blond. Auf Evimenes' Rat hin schlugen sie, obwohl es noch sehr früh war, ihr Lager auf (denn der Führer aus Hestinga wußte jetzt nicht mehr, wie es weiterging), und ein paar von Rogais Männern wurden, da sie sich in solchem Gelände am besten auskannten, losgeschickt, um die Umgebung auszukundschaften. Sie sprachen über dieses und jenes, insbesondere natürlich über den Zwischenfall mit der Wildkatze, und Meliboë nahm Airar für einen Augenblick beiseite. »Sagt, muß ich denn immer noch für Euch den Schulmeister spielen? Tut Euch mit dem Mädchen zusammen, und Eurem Glück steht nichts mehr im Wege; ich habe die Weissagung vollzogen. Schon wieder habt Ihr die Gelegenheit nicht genutzt, die ich für Euch arrangiert hatte. Ich kann nicht ständig das Interesse einer Frau auf einen Mann lenken, der sich
immer so ziert wie Ihr!« »Ich will sie nicht!« Es klang fast wie ein Schrei. Airar mußte plötzlich wieder an die Geschichte der stolzen Königin Kry und des unglückseligen Königs denken, die er damals an Bord der Iulia gehört hatte. »Pah! Ihr sollt sie ja auch nicht gleich zur Frau nehmen, sondern mit ihr ins Bett gehen, sie ist eine Carrhoenerin. Ein bißchen Beharrlichkeit, bis sie das übliche Geziere aufgibt, ein bißchen angenehme Zerstreuung, und schon könnt Ihr der Dienste jener Hauptmänner und ihrer gesamten Mannschaft sicher sein. Sie werden Euch nichts abschlagen, wenn ihre Schwester auf Eurer Seite steht.« Wie konnte er bloß diesem zynischen Doktor der Philosophie klarmachen, daß er sich selbst als Betrogener fühlen würde, wenn er auf solche Weise betröge daß er, auch wenn er die Schwerter von Carrhoene für sich gewönne, immer das Gefühl in sich trüge, seine Seele verkauft zu haben? Gewiß würde Meliboë solcherlei Einwände leicht mit seiner Metaphysik zu einem Nichts zerreden, genauso wie es damals dieser Ratgeber Astli bei dem König getan hatte. Er mußte also einen anderen Grund finden. Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Nicht, daß ich die Richtigkeit der Weissagung in Frage stellen will; schließlich seid Ihr ein Meister in jener Kunst. Aber es könnte doch sein, daß eine Allianz, die so leicht zustande kommt, auch ebenso leicht wieder zerbricht.« »Was wollt Ihr denn sonst machen? Euch eine bessere suchen? Nach oben gelangt man immer nur über Stufen, die wanken und einem unter dem Fuße zerbrechen! Wenn Ihr unbedingt Sicherheit wollt, dann geht zur Quelle und trinkt – oder kehrt meinetwegen
zurück zu Leonce Fabrizius und tretet wie Euer Vater in seine Dienste.« Der Zauberer wandte sich recht ungehalten ab und wollte sich schon entfernen. Doch Airar konnte es sich nicht verkneifen, ihn am Ärmel festzuhalten und zu sagen: »Also gut. Aber eines will ich Euch noch sagen: Hört endlich auf mit dieser ewigen Zauberei und all diesen Tricks, die aus mir einen mächtigeren Mann machen sollen, als ich in Wirklichkeit bin! Wollt Ihr, daß ich nichts weiter bin als der Spielball der Sieben Mächte und überhaupt nichts aus mir selbst heraus zustande bekomme?« »Ihr müßt selbst wissen, was Ihr für richtig haltet«, warf Meliboë bissig über die Schulter zurück. »Ich kann nicht mehr tun, als Euch günstige Gelegenheiten verschaffen.« In diesem Augenblick kamen die Kundschafter zurück, und die Hauptleute wurden zusammengerufen, um ihrem Bericht zu lauschen. Die Menschen lebten in jenem Teil der Weißflußtäler, der direkt an den Drachengrat grenzte, in Ruhe und Beschaulichkeit, ganz so wie in den alten Zeiten. Es gab in jener Gegend kaum etwas, das die Begierde der Vulkinger hätte erwecken können, abgesehen von den Silberminen im Nordteil der Provinz. Die Nachrichten, die die Kundschafter brachten, waren recht dürftig. Die Gruppe, die in südwestliche Richtung ausgezogen war, hatte den Weg verfolgt, auf dem sie sich jetzt befanden. Sie waren bis zu einem Hügel gelangt, von dessen Gipfel aus man einen kleinen Marktflecken übersehen konnte. Sie wußten nicht viel mehr zu berichten, als daß sie, hinter den Bäumen versteckt, die Leute beobachtet hatten, die dort ihrem gewohnten Tagwerk nachgingen. Evimenes lobte die Kundschafter dafür, daß sie nicht weiter vorgedrun-
gen waren und somit die Leute auf die Anwesenheit der Truppe aufmerksam gemacht hatten. »Dort gibt es mit Sicherheit Vertrauensleute der Vulkinger, und im Augenblick, da wir nicht wissen, wohin wir uns wenden sollen und so weit von der rettenden Küste entfernt sind, wäre eine Entdeckung das Schlimmste, was uns zustoßen könnte.« Die Gruppe, die in westliche Richtung gegangen war, hatte die größten Schwierigkeiten gehabt; sie hatte sich fortwährend über Felsspalten, Grate und abschüssiges Geröll vorwärtsarbeiten müssen. Zwar war es genau die richtige Richtung, aber auf diesen Weg konnten sie höchstens im äußersten Notfall zurückgreifen, schon der Pferde wegen. Im Norden stiegen die Berge steil an; die drei, die diese Richtung genommen hatten, brachten lediglich auf einem Tragegurt etwas Wild mit, das sie unterwegs erlegt hatten. Die Kundschafter, d i e in nordwestliche Richtung vorgedrungen waren, kamen als letzte zurück; sie brachten einen Mann mit, seiner Tracht nach einen Bewohner der Weißflußtäler, eine stämmige Gestalt mit einem dichten Bart. Er musterte die Männer der Reihe nach und blickte genauso argwöhnisch drein, wie Rogai es getan hatte, als er die Carrhoener in ihrer exotisch anmutenden Rüstung sah. A n seinem Daumen trug er den Eisernen R i n g . Tholkeil von Mariola, einer der Kundschafter, berichtete, der Mann habe sie zuerst angesprochen, und zwar mit dem bekannten Losungswort aber das Losungswort sei nicht alles gewesen. Nachdem sie seinen anfänglichen Argwohn zerstreut hätten, indem sie ihm von der Schlacht von Salmonessa und von Airars Hinterhalt am Steinernen P a ß erzählten, habe er ihnen als Gegenleistung berichtet, was es in
den Tälern an Neuigkeiten gab. Er habe gesagt, die Leute in den Tälern wüßten, daß sich im Süden irgend etwas zusammenbraue. Leider gebe es keine genauen Hinweise, da alle Neuigkeiten sich nur sehr langsam in den abgeschlossenen kleinen Tälern verbreiteten. Hauptinformationsquelle seien die Händler aus Naaros und Stavorna, die zweimal im Jahr zum Wollmarkt kämen. Der Wollmarkt im vergangenen Herbst sei wie üblich abgelaufen, und der Frühlingsmarkt fände erst in einer Woche statt. Die Vulkinger hätten jedoch das traditionelle Volksfest zur Wintersonnenwende kurzerhand untersagt. Sie hätten riesige Mengen von mictonesischen Sklaven herangeschafft, um neue Kastelle längs der großen Straße bauen zu lassen, die von Briella aus durch die östlichen Täler führt und dann nach Süden abzweigt, wo sie den Naar auf seiner Reise durch Västmanstad begleitet. Und dann sei noch etwas bisher nie Dagewesenes beobachtet worden: In einem der Täler, dem Godmanstal, hätten die Vulkinger alle Leute dalekarlischen Blutes mit allerlei juristischen Winkelzügen aus ihren angestammten Höfen vertrieben und an ihre Stelle Siedler gesetzt – meistenteils Kriegsveteranen, aber auch merkwürdige andere Männer, die mit ihren Frauen gekommen wären. Sie seien von ziemlich gedrungener Statur und hätten dunkles oder sandfarbenes Haar, und ihre Haut sähe so aus, als wüschen sie sich niemals. Sie hätten abstoßende Tischmanieren, äßen im Liegen und sprächen mit einem merkwürdigen Akzent, der sich anhöre wie das Miauen einer Katze. Die Männer blickten sich vielsagend an. »Salmonessaner.«
»Als ich zum letztenmal an Vulks Hof war«, sagte Meliboë, »diskutierte der Rat gerade über diese neue Politik, in den besetzten Provinzen Ruhe zu schaffen, indem man dort Menschen aus den anderen Provinzen ansiedelt. Diese sind dann natürlich den Vulkingern bis ans Ende ihrer Tage treu ergeben und ein vorzüglicher Garant für Ruhe und Ordnung. Warum sonst, wenn doch alles in diesem Reich zum Nutzen und Frommen der Vulkinger geschieht, schicken sie wohl ständig dalekarlische Handelsschiffe zu den Zwölf Städten und lassen dort Handelsniederlassungen gründen, die unter Vulks Schutz stehen? Es wird noch der Tag kommen, an dem er die Dalekarlier für sich in Carrhoene kämpfen läßt – ja, und in Permandos, Babixana, Poliolis und den restlichen Städten.« »Das sollen sie besser nicht versuchen«, sagte Alsander trocken, doch dann, als ihm das soeben Gesagte in seiner ganzen Tragweite bewußt wurde, drängte er darauf, mehr von dieser Absicht der Vulkinger zu erfahren. Aber die anderen bedeuteten ihm, den Mund zu halten und dem Bericht des Mannes zuzuhören. »Wie ich höre«, sagte dieser, »wollt ihr entweder nach Stavorna oder an die Küste von Shalland. Ich rate euch, den ersten Weg einzuschlagen. Zwar ist es nicht gerade ein leichtes, mit einer so großen Gruppe ungesehen an der Stadt Stavorna mit ihrer Burg und der vulkingischen Garnison vorbeizukommen, zumal es nur einen Weg durch das Hochland von Korsor gibt. Aber die Hügel von Froy, die ihr im anderen Falle überqueren müßtet, sind so gut wie unpassierbar. Gegen Shalland spricht auch, daß der Eiserne Ring dort keinen großen Einfluß hat, da Vulk dem
Land eine gewisse Sicherheit bietet gegen die Piraten, die seit jeher, vom Land der Heiden und von Os Erigu kommend, die Küstengegend verunsicherten.« »Aber nach Os Erigu wollen...«, platzte Pleiander heraus, doch ein Tritt seiner Schwester gegen das Schienbein ließ ihn jäh verstummen. Zum Glück fiel dem Mann in der Dunkelheit und unter dem allgemeinen Geplapper und Getuschel nichts auf. »Wieviel Proviant ihr habt, weiß ich nicht, und in Anbetracht eurer großen Zahl kann ich auch nicht sagen, wie lange ihr euch noch in den Tälern aufhalten könnt, ohne entdeckt zu werden. Wahrscheinlich seid ihr sogar schon entdeckt worden; die Leute hier sind alle erfahrene Waldbewohner, und es dürfte ihnen nicht schwerfallen, eure Fußspuren zu lesen. Unter denen, die euch wahrscheinlich schon gesehen haben, können durchaus Verbündete der Vulkinger sein. An eurer Stelle würde ich mich mehr als fürchten; denn hinter jenem bewaldeten Kamm« (er wies dabei mit dem Arm auf eine nicht sehr weit entfernte Anhöhe) »verläuft schon die Hauptstraße mit ihren Kastellen und Wachtürmen, und wie uns der Eiserne Ring meldete, ist eine Abteilung Vulkinger unterwegs. Sie muß morgen schon hier vorbeikommen. Wenn jemand sie davon unterrichtet, daß ihr in dieser Gegend steckt, werden sie sich die Gelegenheit, ein paar dalekarlische Rebellen zu jagen, nicht entgehen lassen.« Rogai pfiff durch die Zähne. »Was ist das für eine Abteilung?« wollte Pleiander wissen. »Eine volle. Sie haben sie erst gerade in Briella z usammengestellt. Fünfundvierzig bewaffnete TerciaReiter, dazu die üblichen Hilfstruppen aus Verbündeten.«
»Und wir haben nicht mehr als zwanzig. Pest und Schwefel auch!« schimpfte Pleiander mit düsterer Miene. »Das sind zu viele für uns«, entschied Rogai. »Am besten, wir tauchen zwischen den Hügeln und im Wald unter, wenn nötig, sogar wieder zurück auf die Seite, die Hestinga zugekehrt ist. Meine Männer sind größtenteils erfahrene Bergbewohner, und sie bieten ihren Kopf als Pfand, daß uns nichts zustößt, da wo sie uns führen.« »Und was wird aus unseren berittenen Sergeanten mit ihren schweren Rüstungen?« fragte Alsander. »Sollen sie sie doch fortwerfen; ein Leben ist mehr wert als ein eisernes Hemd oder ein Pferd.« Pleianders scharfgeschnittenes Gesicht lief rot an, und er brüllte: »Das ist zuviel von einem mariolanischen stinkenden Köter! Immer dasselbe in diesem Dalekarlien, Brüder – wieder ein neues Mittel, um uns weichzukriegen. Nach dem, was der alte Hexenmeister hier gesagt hat, sehe ich allmählich, daß da ein Plan dahintersteckt. Was haben die Hunde von Phyladea euch für die Leichen der Hauptmänner von Carrhoene geboten?« Mit einem Wutschrei sprang Rogai auf, die Hand schon am Dolchgriff. Aber bevor er die wütende Erwiderung, die schon auf seiner Zunge lag aussprechen konnte, hatte ihn Airar am Zipfel seines Mantels erwischt und zerrte ihn mit einem Ruck wieder auf den Boden, und Alsander sagte: »Bruder, beruhige dich; er ist kein Verräter, er hat lediglich die Lage beurteilt wie ein Dummkopf, der es nicht besser weiß. Ich halte es für gut, wir bleiben hier und hoffen, daß sie uns nicht bemerken. Vielleicht können wir ja auch versuchen, ihnen einen Hinterhalt zu legen. Doch warte!« Er schwang zu Meliboë her-
um. »Herr Zauberer, könnt Ihr sie nicht mit Blindheit oder Geistesabwesenheit schlagen, so daß sie an uns vorüberziehen, ohne uns zu bemerken?« Der Magier schüttelte düster den Kopf. »Wenn es Tercia-Soldaten sind, dann sind sie voll dagegen gefeit. Ich selbst habe es Bordvin Wildfang beigebracht, und was auch immer gegen seine Leute versucht wird, es prallt von ihnen ab und richtet sich gegen den Absender selbst.« »Wenn bloß Alcides hier wäre!« Evadne strich mit der Hand ihr Haar aus der Stirn, das nur wenig länger war als das ihrer Brüder. »Wir haben doch einen unter uns, der den Vulkingern schon einmal am Steinernen Paß einen Hinterhalt gelegt hat. Ich würde gern einmal hören was unser langbeiniger Frosch hier zu sagen hat. Er führt die größte Gruppe von uns allen an und hat bisher überhaupt noch nichts geäußert.« »Weil ich, verglichen mit allen anderen, die hier anwesend sind, in solchen Dingen nicht mehr als ein Kind bin«, erwiderte Airar. »Was kann ich schon groß dazu meinen?... Doch laßt mich zwei Dinge sagen: Das erste ist, daß alles Gerede sich immer wieder im Kreise dreht, und zwar um den einen Punkt – kämpfen oder rennen.« »Rennen«, sagte Rogai. »Das ist keine Schande bei solch einer Überzahl, zumal sie auch noch besser bewaffnet sind.« »Das ist meiner Meinung nach auch ratsamer, als es auf einen Zusammenstoß ankommen zu lassen«, warf der Einheimische ein. Doch er blinzelte dabei verdächtig mit den Augen, und alle merkten, daß es ihm in erster Linie darum ging, die streitenden Parteien
von den friedlichen Tälern fernzuhalten, besonders wohl in Anbetracht der bedrohlichen Aussicht, was alles an Verhören und Racheakten auf die Bevölkerung zukommen würde, sollte das Tal Schauplatz einer Schlacht werden. Alsander sagte gedehnt: »Was den ersten Punkt anbetrifft, so habt Ihr recht, Meister Airar. Was aber ist das zweite, was Ihr sagen wolltet?« »Daß wir den langen Erb hinzuziehen müssen; er ist der fähigste Planer, den es gibt.« Die Carrhoener machten ob dieser Bemerkung mürrische Gesichter, und Pleiander murmelte etwas von Bauernvolk, aber Evadne war sogleich Feuer und Flamme, und als Erb kam, zog sie ihn auf den Platz neben sich und erwähnte in bewunderndem Ton seine Tapferkeit, worauf er wie ein Junge über das ganze Gesicht strahlte. Alsander rieb sich nachdenklich sein scharfgeschnittenes Kinn. »Es ist falsch davonzulaufen. Wir sind bisher jedesmal vor ihnen weggerannt, und was hat uns das gebracht? So kann man keinen Krieg gewinnen. Diesmal sind wir vor die entscheidende Probe gestellt. Ihr könnt sicher sein: Wenn wir wieder fliehen, weiß das über kurz oder lang jedes Kind hier in den Weißflußtälern. Dann glaubt man ein für allemal, wir seien Feiglinge und würden diesen Vulkingern nur entgegentreten, wenn wir in der Überzahl sind. Die meisten Menschen neigen dazu, dem Starken zu folgen und werden, ungeachtet dessen, ob euch Dalekarliern nun die Herrschaft des Berges von Briella gefällt oder nicht, mit der Zeit schon einen Weg finden, sich mit ihrem Los abzufinden. Und sie werden den Vulkingern treu ergeben sein, bis ihre
Kinder es einst gar nicht mehr anders kennen. Das wird unausweichlich eintreten wenn wir hier und jetzt wieder davonlaufen und den Kampf nicht wenigstens versuchen. Uns vieren ist das letztlich einerlei, wir sind Carrhoener und folgen der Kriegstrommel nur so lange, bis wir den Fuß wieder auf unser eigenes schönes Land setzen. Euch Dalekarliern aber sage ich: Die Probe, auf die ihr jetzt gestellt seid, betrifft weniger die Stärke eurer Waffen als die eurer Herzen.« Airar hörte, wie Meliboë leise schnaubte, das Kinn im Mantelkragen vergraben. Evimenes rief: »Es zeigt sich einmal mehr, daß du der beste von uns bist, Bruder, wenn es auf lange Sicht zu planen gilt. Aber es bleibt immer noch eine kleine Frage offen – wie sollen wir gegen eine solch gutgerüstete Übermacht eine Schlacht gewinnen?« »Was haltet ihr denn von folgendem Plan?« meldete sich Pleiander zu Wort. »Ein paar dieser Dalekarlier pflanzen sich auf der Straße auf und warten, bis die Abteilung herangekommen ist. Sie tragen zum Zeichen ihrer friedlichen Absichten weiße Fahnen halten aber ihre Waffen unter den Mänteln verborgen Sobald die Abteilung anhält, tun sie so, als wollten sie sich den Hilfstruppen als Verbündete anschließen. Wenn die Vulkinger dann ihre Formation geöffnet haben und sich neugierig zu einem Haufen um die Dalekarlier scharen, ziehen alle auf ein vorher vereinbartes Signal ihre Dolche und töten den ihnen am nächsten stehenden Vulkinger. Wir halten uns währenddessen hinter den Bäumen versteckt, brechen hervor, sobald der Tumult losgeht, und töten sie mit unseren Lanzen, bevor sie Zeit haben, sich wieder
neu zu formieren.« Meliboë hob den Kopf und wollte gerade etwas sagen, als Rogai begeistert rief: »Ein vorzüglicher Plan! Wirklich, du bist doch nicht so ein Einfaltspinsel, wie ich dachte.« Irgendwie paßte Airar der Plan nicht, obwohl er im Moment auch nicht hätte sagen können, warum. Er sah, daß der Mann aus den Weißflußtälern die Stirn runzelte und Erb sich räusperte, um etwas zu sagen. Er gab dem Fischer einen Wink zu sprechen. »Wir sind bloß freie Fischer«, begann der Lange, »und wir sind einfache Männer, nicht so klug und gebildet wie die Dalekarlier vom Festland, aber ich sage euch: Wenn einer auf den Gentebbi-Inseln einen solchen Plan hätte, dann würden wir ihn ablehnen. Weil der Plan nämlich ein heimtückischer Verrat ist und dem, der ihn anwendet, alle Bischöfe und Söhne der Quelle auf den Hals bringt.« »Wahr gesprochen...«, begann der Mann aus dem Tal, aber Pleiander schnitt ihm bissig das Wort ab: »Potztausend! Ihr Bauern taugt nicht für den Krieg; ziert euch wie eine Kirchenjungfer! Ihr würdet wohl auch noch Pisse abkochen, bevor ihr sie zum Feuerlöschen benutzt!« Jetzt meldete Airar sich mit erhobener Hand zu Wort. Er hatte fieberhaft nachgedacht. »Es gibt noch einen anderen Grund, der dagegen spricht: Der Plan hängt zu sehr von Kleinigkeiten ab. Was passiert, wenn einer das Signal zum Losschlagen verpaßt oder wenn einer zu früh das Schwert zieht, was mit ziemlicher Sicherheit geschehen wird. Dann stehen wir Dalekarlier nämlich da, ohne Rüstungen und nur mit unseren Dolchen bewaffnet, und um uns herum
schwergepanzerte, erfahrene Soldaten mit langen Schwertern. Ich befürchte, daß die Vulkinger den größten Teil unserer Männer schon getötet haben, bevor ihr mit euren Lanzen zur Stelle seid. Mir wäre ein Plan lieber, der uns eine größere Überlebenschance einräumt.« »Dann schlagt doch einen besseren vor«, erwiderte Pleiander gereizt und verzog beleidigt den Mund. »Das werde ich auch«, sagte Airar und überlegte. Evadne lachte, und Alsander meinte: »Aber er muß von dem Prinzip ausgehen, daß unsere stärkste Waffe die Reiter sind, weil sie am beweglichsten sind.« Genau das war der Fingerzeig, der Airar auf den entscheidenden Gedanken brachte. Er schnellte herum und fragte den Einheimischen: »Gibt es noch eine Stelle weiter oben am Weg mit überhängenden Felsen oder einem bewaldeten Kamm?« Der Angesprochene kämmte sich den Bart mit den Fingern. »Ich glaube, ja; an einer Stelle namens Krähenturm, etwa acht oder neuntausend Schritt von hier. Die Straße verläuft dort s-förmig zwischen zwei solchen Vorsprüngen hindurch, und auf dem einen davon, aber ein ganzes Stück weiter hinten, steht ein Kastell der Vulkinger.« »Das Kastell stellt natürlich ein Problem dar, und die Entfernung ist auch ziemlich groß, aber ich denke, wir könnten es schaffen. Ich schlage folgendes vor: Rogai bricht sofort mit allen Mariolanern auf, die Bergbewohner sind. Beim Kastell angekommen – etwa heute nacht –, verstecken sie sich. Die Mariolaner sind alle gute Bogenschützen. Wenn die Abteilung erscheint, empfangen sie sie mit einem Hagel von Pfeilen. Sie sollen möglichst auf die Hilfstruppen der
Verbündeten zielen. Es kommt aber nicht so sehr darauf an, ob sie nun viele oder wenige treffen. Die anderen werden es jedenfalls nicht sanft wie die Lämmer hinnehmen – und genau darauf baut der Plan auf. Die leichtbewaffneten Verbündeten werden sich nämlich sofort wütend auf die Suche nach den Angreifern machen, und auf der Straße bleiben nur die Tercia-Männer zurück. Laßt euch also von den Hilfstruppen verfolgen, lockt sie möglichst tief in den Wald hinein. Sobald sie aber Anstalten machen, zum Haupttrupp auf der Straße zurückzukehren, setzt sofort wieder nach und schickt ihnen wieder ein paar Pfeile hinterher. Die Gefahr für euch ist nicht sehr groß. Ich wette, daß unter den Verbündeten kaum welche sind, die sich in solchem Gelände auskennen, ob es sich nun um Salmonessaner, Mictonier oder dalekarlische Verräter handelt – aber ihr werdet ortskundige Führer benötigen.« »Die wird der Eiserne Ring zur Verfügung stellen; wir können sie unterwegs beschaffen«, meinte der Einheimische. Airars zuversichtliche Miene hatte seine Skrupel verscheucht, und er schnippte vor lauter Aufregung mit den Fingern. »Abgemacht also. Hier an diesem Kamm werden wir Aufstellung nehmen, vorne die Fischer mit ihren Speeren. Sobald die Tercia auftaucht, reizen wir sie erneut. Ich meine, schon einmal gehört zu haben, daß sie bei einem Angriff mit Wurfgeschossen sofort paarweise ausschwärmen: Einer deckt beide Männer mit seinem Schild ab, der andere wirft seinen Speer. Dabei rücken sie unaufhaltsam vor, bis der Angriff zurückgeschlagen ist. Sobald sie also nach unserem Angriff ihre Marschformation wie beschrieben geöff-
net haben, greifen die Sergeanten von Carrhoene die inzwischen um den Vorsprung herumgeritten sind, von hinten an. Sollten sie aber ihre Formation wieder schließen, nun, dann stellen sie eben ein um so besseres Ziel für uns dar.« Evadne klatschte begeistert in die Hände. »Sagte ich nicht schon, Alcides ist wieder unter uns? Wir müssen ihn in unsere Familie aufnehmen; und wenn er nicht für sich selbst sprechen will, Brüder, dann will ich eben für ihn das Wort ergreifen und ihn zu meinem Partner machen!« Pleiander machte ein Gesicht, als hätte er sich gerade auf die Zunge gebissen. Er schwieg. Alsander sagte: »Und wenn wir verlieren?« »Dann sind noch immer Rogais Leute da. Treffpunkt am Grafenkissen!« Der Carrhoener wischte sich über den Mund. »Der Plan ist gut. Er stützt sich genau auf unseren stärksten Punkt – aber auf euch Mariolanern lastet auch eine große Verantwortung; alles hängt davon ab, ob ihr die Hilfstruppen ablenken könnt oder nicht.« »Ich stimme dem Plan ebenfalls zu«, sagte Evimenes, »denn selbst wenn die Feinde gewarnt worden sind und in geschlossener Formation an uns vorbeimarschieren, ohne uns in eine Schlacht zu verwickeln, büßen sie auf jeden Fall eine Menge von ihrem Ruhm ein, indem sie unsere Beleidigung hinnehmen müssen. Und was sie verlieren, das ist unser Gewinn!« Nun mußte auch Pleiander wohl oder übel seine Zustimmung geben, aber vorher meldete sich der lange Erb zu Wort: »Vergebt, Meister Airar, und auch ihr, Hauptmänner von Carrhoene – obwohl ich meine, dieser Plan ist der Plan eines Meisters, wie König Ar-
gimenes in den silbernen Jahren –, ein Mann wäre nicht ein Mann, fände er nicht irgend etwas, das man vielleicht noch verbessern könnte, und ich möchte mit Verlaub...« »Nun schieß schon los«, rief Rogai ungeduldig. »Also, dies eine nur. Du hast doch zwei oder drei Mariolaner bei dir, die beritten sind und aus den Bergen stammen; dazu kommen noch ein paar aus Hestinga, die ebenfalls zu Pferde sind. Warum sollen sie nicht bei uns bleiben und für die Reiter aus Carrhoene Flankenschutz bilden, so wie diese Gentauren, die einzelnen Versprengten nachsetzen?« »Ein guter Vorschlag«, sagte Airar. »Ich nehme ihn an, vorausgesetzt, daß Evimenes, der sich am besten auf schnelle Vorstöße versucht, die Führung dieser Gruppe übernimmt.« Damit war die Beratung beendet. Rogai rief sofort seine Leute zusammen und brach kurz darauf zusammen mit dem Mann aus den Weißflußtälern auf, denn ein Marsch von achttausend Schritt ist keine Kleinigkeit, und sie mußten vor dem Morgengrauen ihr Ziel erreicht haben. Mittlerweile brach schon die Nacht an. Airar wies Erb an, die Wache aufzustellen, und legte sich hin. Kaum hatte er seine Decken zurechtgezogen, als auch schon Meliboë ihn ansprach: »Das habt Ihr wirklich gut gemacht, junger Mann. Oh, ich meine nicht Euren Plan; der gelingt entweder oder nicht, ganz wie das Schicksal es will. Aber Ihr habt das Zeug zu einem guten Philosophen. Es war mir ein Vergnügen zu sehen, wie Ihr das moralische Argument gegen Pleianders Plan ablehntet und gleichzeitig denselben Plan mit einem Einwand zerstörtet, der auf reinen Vernunftgründen
basiert. Es ist zwar philosophisch betrachtet falsch, denn Ihr begannt mit dem, was Ihr beweisen wolltet, und arbeitet Euch dann empirisch zum Beweis vor; aber methodisch exzellent, wirklich exzellent!«
19 In den Weißflußtälern: Speer und Schild »Steh auf«, sagte Visto, »heute ziehen wir in die Schlacht.« Airar hob blinzelnd den Kopf. Er war sofort hellwach, obwohl er die halbe Nacht damit verbracht hatte, mit seinen Fischern zu reden. Er hatte sie in kleinen Gruppen zu sich kommen lassen und ihnen klargemacht, wieviel von dem bevorstehenden Gefecht abhing. Dann hatte er sie instruiert, wie sie sich aufstellen sollten. Sein Trupp bestand nur noch aus einundzwanzig Mann, nachdem der Hestingerner mit Rogai fortgeritten war; ein weiterer wurde einer Gruppe zugeteilt, die sich um die Pferde kümmerte. Erb hatte eine Wache aufgestellt; eilig schlangen sie ihr mageres Frühstück herunter; dann brachen sie auf und marschierten längs des Hügelkammes an den Reitern vorbei, von denen ein großer Teil schon gerüstet und aufgesessen war für den Fall, daß der Feind sie überraschen sollte, indem er zu früh kam. Die übrigen aßen noch. Meliboë war weiter hinten bei den Pferden; Evadne kam, um ihnen Lebewohl zu sagen. Als sie Erb sah, umarmte sie ihn; Airar hingegen drückte sie nur ganz kurz die Hand. Obwohl er sie nicht begehrte, spürte er einen heftigen Stich von Eifersucht. Er wunderte sich über sich selbst. Aber es gab jetzt wichtigere Dinge zu tun, so daß er keine Zeit hatte, weiter darüber nachzugrübeln. So stand ihm nun also seine dritte Schlacht bevor. Auch wenn er nicht mehr die verwirrende Erregung verspürte, die ihn in dem wüsten Getümmel des er-
sten Kampfes befallen hatte, so verspürte er doch noch immer dieses eigenartig aufregende Gefühl, als sänke er in die Arme einer schönen Frau, und jenes Lied fiel ihm ein, das der Harfner damals gesungen hatte, dem er auf dem Wege nach Sumarbo begegnet war, wo er vom Sattel des alten Pferdes Pil aus nach den Äpfeln gestochen hatte: Schon zieh'n wir wieder hinaus in die Schlacht, Sammeln für andre die Früchte des Morgen Und glauben, das Leben sei ein Pfand der Zeit... »Verflucht!« schrie einer, als ein Zweig ihm den Ärmel aufriß Der Himmel war wolkenverhangen und verhieß baldigen Regen, der Ansteig war steil. Die Bäume ringsum bestanden hauptsächlich aus Buchen, die noch die braunen, welken Blätter vom Vorjahr trugen, und solchen, an denen schon das Grün des jungen Frühlings leuchtete. Jenseits des Kammes, auf der Westseite, gab es dichtes Unterholz; hohe Büsche reckten ihre Arme hoch und hielten frische junge Blätter in ihren Händen (denn hier unten hatte der Frühling schon viel eher begonnen als auf dem Hochplateau von Hestinga). Vögel flatterten aufgeregt zwitschernd auf, als die Männer vorbeikamen. Airar spähte durch den Vorhang von Zweigen nach Norden; in der Ferne sah er die Straße, die in einem langen Bogen nach Südwesten verlief, nun konnte er auch den Marktflecken erkennen, von dem die Kundschafter gesprochen hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein dichtbewaldeter Hügel, ähnlich dem, auf dem sie sich jetzt befanden. An seinem Fuß flog der Strom dahin. Die Vulkinger hatten
in weiser Voraussicht auf beiden Seiten etwa hundert Schritt des Waldes abgeholzt, um gegen einen plötzlichen Überfall aus dem Dickicht geschützt zu sein. »Verteilt euch, verteilt euch«, rief der lange Erb und befahl den Männern, sich hinter die Büsche zu legen. »Wenn wir sie jetzt von weitem heranrücken sehen, richtet euch vorsichtig auf, aber nur bis auf die Knie, nicht weiter, das kann uns das Leben kosten. Bleibt in dieser Stellung, bis die Sehne von Meister Airars Bogen schnappt. Das ist das Signal. Dann brecht hervor und werft eure Speere. Eilt sofort wieder zurück, denn es ist unsere Absicht, daß sie ihre Formation öffnen und uns nachsetzen.« All dies war schon vorher genau besprochen worden. »Ich will, daß ihr euch jetzt alle flach auf die Erde legt«, befahl Airar. »Kniet euch erst hin, wenn Erb euch das Zeichen dazu gibt, und verharrt in dieser Stellung, während ich vom Weg aus den Feind beobachte. Alles hängt davon ab, daß sie uns nicht zu früh erspähen.« Es war nur gut, daß er selbst noch einmal nachprüfte, ob auch alle gut versteckt waren; der dicke Sewald hatte sich einen viel zu kleinen Busch ausgesucht, der bedenklich zitterte, als der stämmige Kerl sich schwerfällig erhob. Und Nene von Busk trug einen knallroten Rock, den man schon aus hundert Schritt Entfernung deutlich durch sein Kettenhemd schimmern sah. Als diese Dinge erledigt waren (nicht ohne heftigen Protest von Nene, der steif und fest behauptete, der rote Rock bringe ihm Glück), fiel Visto plötzlich ein, daß sie ja überhaupt kein Banner hätten. Airar fand zwar, dies sei nicht sonderlich wichtig, und außerdem gab es ohnehin keine Möglichkeit,
jetzt noch etwas zu beschaffen, das sie als Zeichen des Geflügelten Wolfes von Dalekarlien verwenden konnten; als er aber sah, welchen Wert die Fischer auf ein solches Symbol legten, schlug er vor, sie sollten doch den Kopf der nachts zuvor getöteten Katze auf einen Pfahl spießen und dies als Kriegszeichen benutzen, dem sie nachfolgen konnten. »Denn wie die Katzen werden wir sein, wenn wir ihnen entgegenspringen.« Alle waren begeistert von diesem Vorschlag, und nun gab es nichts weiter mehr zu tun als warten. Hier und da raschelte es, wenn einer seine Stellung veränderte, aber sie sprachen kaum miteinander, denn alle erinnerten sich nur zu gut daran, wie sie zum erstenmal eine vulkingische Tercia vor Augen gehabt hatten, damals am Dammweg. Und es gab wohl keinen unter den Männern, der nicht jetzt wieder das unrühmliche Ende jener Schlacht vor Augen hatte, der nicht an die Kameraden dachte, die damals gefallen oder in die Sklaverei verkauft worden waren. Bald darauf war Visto wieder mit dem Pfahl und dem Katzenkopf zurück. Airars scharfe Augen sahen plötzlich in der Ferne, wo sich der Weg wie ein Band durch die Hügel zog, eine Bewegung. »Runter!« brüllte er, aber es war nur ein einzelner Reiter, der in leichtem Galopp herankam und rasch größer wurde. Airar ließ ihn vorbeireiten, in der Hoffnung, die carrhoenischen Reiter würden ihn weiter hinten schon abfangen, denn die Eile, die er an den Tag legte, und der Schnitt seiner Kleidung ließen vermuten, daß es sich um einen Boten der Vulkinger handelte, der wahrscheinlich unterwegs war, die Posten über Rogais Angriff auf die Abteilung in Kenntnis zu setzen. Doch sofort kamen ihm Zweifel, ob es richtig
gewesen war, den Mann passieren zu lassen, und er robbte vorsichtig ans andere Ende der Linie, um Erb nach seiner Meinung zu fragen. »... diesmal anders...«; »... reiste er nach Uravedu; doch als er zurückkam, wollte nicht einer aus der Familie...«; »... wirfst du am besten mit der linken Hand...«, hörte er die Gesprächsfetzen der Männer, als er an ihnen vorbeiglitt, und ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er merkte, daß die freien Fischer in guter Stimmung waren. Doch als er bei Erb ankam, sah er, daß der lange Kerl traurig auf dem Hintern saß, die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf gesenkt. Airar stieß ihn an. Als Erb aufblickte, sah er, daß ihm dicke Tränen über die Wangen rollten. »Bist du niedergeschlagen?« fragte Airar, dem nichts Passendes einfiel. »O ja. Aber nicht wegen der Schlacht, und darum bitte ich dich inständig, junger Meister, erniedrige mich nicht wieder zum einfachen Speermann, denn dieses Mal, das schwöre ich dir, wird sich dein Hund eher die Beine abhacken, als daß er wieder davonrennt, wie damals am Dammweg von Salmonessa.« »Ich will nicht, daß du von dir als meinem Hund sprichst«, sagte Airar, dem Erbs Unterwürfigkeit unangenehm war, »und nun sag mir, was dich bedrückt.« »Diese...« Er schneuzte sich und blickte sich um, ob keiner zusah. »Diese Frau, oder besser: Hexe. Ich meine die Carrhoenerin. Meister Airar, du bist in einem Alter, wo du leicht eine Frau ins Bett kriegst, aber was soll so ein alter Knochen wie ich bloß tun, der noch nie in seinem Leben was mit einem Mäd-
chen hatte? Schon als ich sie zum erstenmal in Salmonessa sah, fand ich sie einfach schön und begehrenswert wie eine Königin oder Märchenfee; ich hätte sieben Leben dafür gegeben, ihr dienen zu dürfen. Und als sie mich heute morgen umarmte und ihre kleinen runden Hügel an mich drückte, da ist mir ganz weich in den Knien geworden, und jetzt hab' ich das Gefühl, als hätte sich mein Blut in Wasser verwandelt, und ich vergehe fast vor lauter Sehnsucht nach ihr und muß immerzu daran denken, daß ich vielleicht schon bald tot bin, ohne sie jemals auf meinem Schoß geschaukelt zu haben... und das Schlimmste dabei ist: Sie meint das alles ja gar nicht so.« Airar schaute ihn von der Seite an und spürte, daß er selbst ganz rot wurde, und um seine eigene Verlegenheit zu verbergen, sagte er: »Aber sie ist eine Carrhoenerin, und wie ich hörte, haben die Frauen aus jenem Volke nichts dagegen, ihre Gunst aus purem Vergnügen zu verschenken.« »Aber dann wohl lieber einem jungen Mann wie dir, mit dem das Bumsen auch richtig Spaß macht«, seufzte der lange Erb unglücklich. Im selben Moment wurde Airar bewußt, daß er genau das wiederholt hatte, was der Zauberer Meliboë ihm schon gesagt hatte, und er konnte es kaum ertragen, Erb in die Augen zu sehen. »Oh, nimm doch...«, begann er, aber im selben Augenblick stieß jemand einen Ruf aus, und als er in die Ferne spähte, sah er die Vulkinger kommen. Zwar waren sie vorerst nur als verschwommene Masse zu erkennen, aber es war zu spät, wieder auf seinen Posten am anderen Ende der Linie zurückzukehren. Er mußte also wohl oder übel da bleiben, wo er war. Er nahm ein Bündel Pfeile
aus seinem Köcher und steckte sie in einer Reihe vor sich in den Boden. Sie kamen schnell näher; in dichter Marschformation rückten sie heran, jeweils sechs Mann Brust an Brust nebeneinander, den Schild über den linken Arm geschnallt, den Vulkingerspeer mit der leicht abgerundeten Spitze in der Rechten. Da der Boden feucht war, wirbelte kein Staub auf. Das rote Dreieck, das Emblem der Vulkinger, baumelte an einer Stange im Zentrum des Marschblocks. Hinter dem Trupp ritt der Deserion, den roten Umhang über die Schulter geworfen, den Helm unter dem Arm, so als sei er unverwundbar. Hinter ihm folgten zwei weitere Männer zu Pferde vermutlich Boten oder Soldaten, die zum Stab gehörten. Aber ihre Pferde waren nur durchschnittliche Tiere, und es gab Airar einen leichten Stich ins Herz, als er überlegte, worauf er zuerst zielen sollte, und zu dem Schluß kam, daß das herrliche braune Tier, auf dem der Deserion ritt, das Ziel für seinen ersten Pfeil abgeben würde. Doch jetzt war nicht der Augenblick für solche Gedanken. Es mußte sein. Längs der Linie hockten, soweit der Blick reichte, die Fischer auf einem Knie, hinter die Büsche geduckt. Die Vulkinger kamen jetzt die lange Biegung herunter. Sie schauten weder nach links noch nach rechts. Ihr Marschtritt hallte dumpf, und ihre Waffen klirrten, während sie voranschritten. Ein paar rotbraune Tupfer im Zentrum des Blocks deuteten darauf hin, daß noch immer ein paar Verbündete bei ihnen waren. Als sie jetzt abbogen und Airar ihre linke Seite darboten, stand er langsam auf, gleichsam wie eine Maschine, stellte einen Fuß vor und zog die Sehne bis zum Kopf. In dieser Stellung
wartete er, bis der Deserion und das Pferd genau in Schußlinie waren. Dann ließ er die Sehne los, und während er losließ, stieß er, halb unbewußt, einen Schrei aus. Der Pfeil traf genau ins Ziel; als er sich bückte, um einen neuen Pfeil aufzuheben, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Pfeil fast bis zur Feder in der Flanke des Tieres steckte; er sah, wie das Blut aus der Wunde schoß und das Pferd sich laut wiehernd aufbäumte. Airar legte die Kerbe des zweiten Pfeils auf die Sehne, spannte und ließ los. Fast gleichzeitig brachen die Fischer aus ihrem Versteck hinter den Büschen hervor; verblüfft blieben die Vulkinger stehen und wandten die Köpfe. Der Pfeil prallte auf den Rand eines Schildes und glitt nach oben weg; ein Fehlschuß. Er schoß den dritten Pfeil ab; doch nun stürmten die Fischer über das üppig wuchernde Gras nach vorn und warfen ihre Speere. Einer der Vulkinger, der auf der Flanke marschierte, fiel mit lautem Klirren zu Boden, als einer der Speere ihm durch beide Waden drang. Airar konnte nichts erkennen; zu dicht war das Getümmel vor ihm. Er ließ den Bogen fallen und rannte mit gezücktem Schwert nach vorn. Die Trompete der Vulkinger gab zwei schmetternde Töne von sich, dann kamen schon die ersten Speere angeflogen. Airar sah wie sie ihre Marschformation auflösten und paarweise auszuschwärmen begannen, genauso, wie er es vorausgesagt hatte. Er duckte sich, um einem Speer auszuweichen; im selben Augenblick war schon einer der Männer über ihm. Er hieb mit der Rückhand seines Schwertes nach dem Alm des Burschen, um Platz zu gewinnen, aber der Hieb prallte an der eisernen Kante des großen kreisförmigen Schildes ab, und Airar verlor den Halt unter den
Füßen. In einem Augenblick fürchterlicher Angst sah er, wie der andere seinen Speer hob und zum Todesstoß ausholte. Aber bevor der Vulkinger zustoßen konnte, hieb ihm jemand von der Seite einen Speer in den Arm, und er ging mit einem gellenden Schrei zu Boden. Sein Gefährte geriet ins Taumeln, und Airar erinnerte sich wieder daran, daß er ein Führer war. Er rannte ein paar Schritte zurück; da erscholl die Trompete erneut, und er sah, daß er ganz allein in der Senke des Abhangs und am Ende des Dickichts stand. Vor ihm lagen Tote und Sterbende. Einem Mann aus Gentebbi stand ein Speer senkrecht aus der Brust; ein anderer lag mit zerschmettertem Gesicht, das entsetzlich von dem kurzen Schwert seines Gegners entstellt war, und mit eigenartig verdrehten Beinen am Boden. Auch zwei oder drei Vulkinger waren unter den Toten und ein paar Verbündete in ihren rotbraunen Bauernkleidern. Links und rechts von ihm sah er die Fischer rennen, die Vulkinger paarweise hinter ihnen her. Doch nicht ihretwegen war die Trompete erschollen; das Signal galt den Sergeanten von Carrhoene, die dichtgestaffelt mit eingelegten Lanzen herangesprengt kamen. Die Vulkinger waren hervorragend ausgebildete Soldaten nicht mehr als die Hälfte von ihnen schwärmte nach dem Angriff der Fischer aus. Diejenigen, die sich noch auf der Straße befanden wandten sich sofort um, als das Trompetensignal erklang, und formierten sich blitzartig wieder zu einem Block, während jene, die die Flanke bildeten, vorausstürmten, um dem dichten Pulk von Reitern in die Flanke zu fallen.
»Ullu! Ullu!« schrie Airar. »Mir nach!« Und ohne sich umzuschauen, ob jemand seinen Schlachtruf gehört hatte und ihm folgte, rannte er vorwärts; er wollte um jeden Preis den Vulkingern in den ungeschützten Rücken fallen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Pferd sich am Boden wälzte und die Vulkinger vorwärtsstürmten, um über den Reiter herzufallen. Gleich darauf erklang ein ohrenbetäubendes Krachen, als die Lanzenmänner mit voller Wucht direkt in die Abteilung hineinpreschten. Ein Speer bohrte sich in die Flanke eines Pferdes, und gleichzeitig versuchte einer der Tercia-Männer, mit seinem Speer zwischen die Beine eines anderen zu stechen, um es zum Straucheln zu bringen. Aber sie waren schon zu nahe heran, als daß dieser verzweifelte Hieb noch von Nutzen sein könnte. Pferd und Reiter stürzten über die vordere Doppelreihe kniender Vulkinger und zerschmetterten sie wie ein Stein aus der Schleuder eines Riesen; die Lanzen der Carrhoener besorgten den Rest. Einen Moment lang bot sich Airars Augen ein heilloses Wirrwarr von Pferden und Menschenleibern, blitzenden Lanzen und spritzendem Blut, und dann sah er, wie die Vulkinger in alle Himmelsrichtungen davonstoben oder ihre Schilde fortwarfen und ihre Speere zum Zeichen der Aufgabe emporstreckten. Airar sah, wie einer der carrhoenischen Sergeanten seine Lanze fallen ließ und einen der stehengebliebenen Vulkinger mit der Keule, die an seinem Sattel baumelte, erschlug; er sprang vor und schaffte es gerade noch, sich über einen anderen, der am Boden lag, zu werfen, bevor auch diesem die Keule den Garaus gemacht hätte. »Ich ergebe mich!« schrie der Mann, der unter ihm lag, mit erstickter
Stimme; um ein Haar wären beide von den Hufen eines herrenlos vorbeigaloppierenden Pferdes getroffen worden. Airar rollte sich blitzschnell auf die Seite, war mit einem Satz hoch und zerrte den Burschen aus der Gefahrenzone. Ein Blick auf die silbernen Abzeichen verriet ihm, daß es der Deserion höchstpersönlich war, den er da geschnappt hatte. Er schaute sich um, um nachzusehen, ob er noch mehr von ihnen vor den Keulen der Sergeanten retten konnte. Aber er hatte keine Möglichkeit, diese zur Besinnung zu rufen; ihr carrhoenisches Blut kochte, und wo er auch hinsah, überall metzelten sie die übriggebliebenen Vulkinger gnadenlos nieder, bis auf ein paar, die sich rechtzeitig den Fischern ergeben hatten – um genau zu sein: Es waren drei Mann, wie sich herausstellte, als sich alle versammelten, um Bilanz zu ziehen, welche Verluste der Sieg gebracht hatte, um die Toten zu sammeln und sich einander zum errungenen Sieg zu beglückwünschen. Die Carrhoener hatten zwei Gefallene zu beklagen; es waren die beiden, die vom Pferd gestürzt waren. Dazu kam einer mit einem gebrochenen Bein. Die Männer waren so ungestüm in die Abteilung hineingeritten, daß die Vulkinger kaum Gelegenheit gehabt hatten, sich wirksam zur Wehr zu setzen, und so kam es, daß der größte Teil der Sergeanten lediglich ein paar Schrammen abbekommen hatte. Von Airars Trupp hatten vier ihr Leben lassen müssen, jedoch nur zwei von den Fischern. Von den restlichen waren ein paar mehr oder weniger schwer verwundet, einer jedoch so stark, daß er nicht mehr stehen konnte; ein Schwerthieb hatte ihm die Knieflechsen durchtrennt. Alle Führer waren sich darin einig, daß sie nicht lan-
ge an jenem Ort bleiben konnten, schließlich wußte keiner, welchen Entsatz der Feind noch gegen sie aufbieten konnte und wie weit das nächste Kastell entfernt war. Und in der Tat stellte sich heraus, daß die Reiter schon vor der Schlacht zwei oder drei Reisende aufgehalten hatten, die den Marktflecken in Richtung Norden verlassen hatten. Doch zunächst einmal mußten sie ihre eigenen Toten ordentlich und ehrenvoll bestatten und die Leichen nach brauchbaren Dingen durchsuchen, hauptsächlich natürlich nach Waffen. Alle lobten jetzt Evimenes für seine kluge Voraussicht, zusätzliche Pferde mitgenommen zu haben, auf die man nun die Beute packen konnte. Die Schilde der Vulkinger wurden zerhackt und daraus eine Trage für den Verwundeten gebaut. Den Gefangenen band man die Hände an der Trage fest und zwang sie so, den Mann zu schleppen. Die von Wolken verdeckte Sonne hatte inzwischen schon ihren Zenit überschritten, und noch immer gab es keine Nachricht von Rogai. Auf Alsanders Vorschlag hin wurden zwei der Hestingerner, die aufgrund ihrer Kleidung ohne weiteres als Einheimische durchgehen konnten, nach Norden vorausgeschickt. Ihre Waffen trugen sie verborgen. Dann brachen sie alle in dieselbe Richtung auf, da keine andere zur Auswahl stand; zwei weitere Kundschafter folgten in gewissem Abstand. Sie waren noch nicht lange unterwegs, als es wieder zu nieseln begann, und Evimenes fluchte wie ein Roßtreiber, daß der Regen seiner Rüstung schaden würde, die er eigens für die Schlacht entfettet hatte. Sie hatten nicht viel mehr als die zweitausend Schritt zurückgelegt, die sie zum Scheitelpunkt der nächsten
größeren Biegung der Straße brachten, als plötzlich ein herrenloser Hund vor ihnen auftauchte und sie neugierig beschnupperte. Airar, der auf dem Lande großgeworden war, wußte, daß ein Schäfer nicht weit war. Und richtig: Sogleich hörten sie von weitem einen leisen Pfiff; der Hund spitzte ein Ohr, sprang geschickt von einem Stein zum anderen über das Wasser und lief dann den links von ihnen liegenden Abhang hinauf, wo er zwischen Bäumen verschwand. Airar rief seinen Gefährten zu, sie brauchten dringend einen ortskundigen Führer, und war mit einem Satz aus dem Sattel und dem Hund hinterher. Schnell war er den vom Regen schlüpfrigen Rain hinaufgeklettert. Oben angekommen, folgte er den Lauten des Hundes. Er rannte zwischen den Bäumen her, brach durch knisterndes Unterholz, bis er einen Kamm erreichte, und befand sich unvermittelt über einem kleinen offenen Tal. Auf der anderen Seite sah er zwischen den Bäumen die buschigen grauen Rücken der Schafe – vom Schäfer jedoch keine Spur. Er bekam auch keine Antwort, als er leise sein Geme, plange, moesto mori pfiff. Er lief die Anhöhe hinunter und rief laut: »Ich komme in friedlicher Absicht!« Kurz darauf tauchte der Mann zwischen seinen Tieren auf. Es war ein mürrisch dreinblickender, etwas tölpelhaft wirkender Bursche, von dessen lederner Kappe Regenwasser tröpfelte. In der Hand hatte er einen mit Nägeln beschlagenen Knüppel. Airar grüßte ihn freundlich und erzählte ihm, was sich zugetragen hatte. Als er berichtete, wie sie die feindliche Abteilung vernichtet hatten, grunzte er bloß und sagte, erst wenn sie am Krähenturm angelangt wären, gäbe es einen sicheren Pfad über die Hügel von Froy nach Shalland;
das Tal, das er dort vor sich sähe, führe zu einem falschen Paß. Dann, mit einemmal, wurde sein Gesicht etwas freundlicher; erst jetzt schien die Nachricht, daß Airar mit seinen Leuten die Söhne von Briella besiegt hatte, in sein Bewußtsein gedrungen zu sein. Und sofort schlug er vor, sie sollten doch in dem kleinen Tal ihr Nachtlager aufschlagen; es wäre, da man es von der Straße aus nicht einsehen könne, ein günstiger Platz. Darüber hinaus erklärte er sich bereit, gegen einige Silberstücke ein paar von seinen Schafen einzutauschen, damit die Leute etwas zu essen hätten. Man kann sich gut vorstellen, daß die Carrhoener bei Airars Rückkehr nicht gerade begeistert waren, als sie hörten, daß er auf eigene Faust die Marschroute geändert hatte. Aber von Rogai war noch immer keine Nachricht eingetroffen, und sie spürten selbst, daß in Anbetracht des Nieselregens über alle der große Katzenjammer gekommen war, so daß ein Gefühl vorherrschte, als habe man statt eines rauschenden Sieges eine Niederlage eingesteckt. Man stellte Posten an der Straße auf, die die Hestingerner bei ihrer Rückkehr abfangen sollten; dann stieg der ganze Trupp mit schweren Beinen die Anhöhe hinauf und suchte sich für das Nachtlager einen günstigen Platz im Tal aus. Mit einiger Mühe bekamen sie ein Feuer in Gang und rösteten das Hammelfleisch. Für die Pferde blieb kaum etwas übrig.
20 In den Weißflußtälern: Debatte mit dem Deserion Sprach Pleiander: »Wie wär's, wenn wir den Bastard von Deserion holten und ihn als Nachtisch verspeisten?« Airar hätte am liebsten widersprochen, da er es wenig edelmütig fand, so mit einem Gefangenen zu verfahren, Evadne jedoch klatschte begeistert in die Hände. Meliboë kaute auf seinen Bartspitzen herum, und Erb rief: »Keine schlechte Idee! Vielleicht können wir was aus ihm herausbekommen.« Sie ließen den Mann holen. Er stellte sich im Schein des Lagerfeuers aufrecht vor sie hin; der Regen prasselte auf seinen unbedeckten Kopf und tropfte aus seinen schwarzgelockten Haaren. Er war recht klein von Wuchs, hatte eine hakenförmige Nase und einen wohlgeformten, kräftigen Körper, so wie die meisten Vulkinger der Oberschicht. In seiner Haltung lag etwas Würdevolles und Trotziges. Pleiander musterte ihn von oben nach unten. »A pax, à pax!« äffte er mit schnarrender Stimme den Schlachtruf der Vulkinger nach. »Es wird sicherlich einen rauschenden Empfang für dich i n Briella geben, wenn d u m i t der Nachricht über deinen stolzen Sieg auftauchst. Macht Spaß, eine Abteilung zu führen, he?« Der Deserion schwieg. »Keine Antwort? Der gute Mann hat wohl keine Ader für unsere Art von Humor, wollen mal ein ernstes Wort mit ihm reden! Warst du auf dem Weg nach Naaros? Wie stark ist die Besatzung des Kastells vom Krähenturm?«
Der Deserion schwieg beharrlich, und der carrhoenische Hauptmann starrte ihn eine Weile intensiv an, bevor er sagte: »Dein Leben und deine Freiheit hängen davon ab, was du sagst und wenn du das Maul nicht bald auftust, mache ich kurzen Prozeß mit dir, verstanden, du Bastard?« Der Deserion zuckte lediglich mit den Achseln, um zu zeigen, daß Tod oder Leben, Freiheit oder Unfreiheit ihm einerlei waren. »Mich kannst du wohl umbringen«, sagte er, »doch alle Vulkinger wirst du nicht ermorden können; außerdem habe ich mich nicht dir ergeben, und aus dem Grunde bin ich überhaupt nicht dazu verpflichtet, auf deine Fragen zu antworten.« Airar sah, wie Pleiander seinen Körper straffte, um aufzuspringen, und stellte sich sofort zwischen den Carrhoener und den Gefangenen. »Ich bin es, der dich gefangen hat. Wie heißt du?« »Luronne der Jüngere, aus Anné in Ost-Lacia; Deserion der zwölften Abteilung.« Die zwölfte war die neue Tercia, die erst jüngst zusammengestellt worden war. »Du bist Kriegsgefangener und kannst somit als Sklave verkauft werden, wie ein Mictonier. Und nun sprich: Wie stark ist die Besatzung des Kastells vom Krähenturm?« Die Haut um die Augen des Mannes legte sich in Falten, während er angestrengt nachdachte; das flakkernde Licht des Feuers warf tiefe Schatten in sein Gesicht. »Das werde ich nicht tun. Es würde meinem militärischen Eid zuwiderlaufen.« Nun war es an Airar, verblüfft zu sein. Er wollte es jedoch auf keinen Fall Pleiander gleichtun und den
Mann mit Drohungen einschüchtern. Aus Evadnes Richtung kam ein unterdrücktes Kichern, der Zauberer hingegen hob sein ergrautes Haupt und sagte: »Ihr irrt Euch. Ich kenne den Eid; er verpflichtet Euch dazu, treu dem Wohle des vulkingischen Reiches zu dienen. Wie aber könnt Ihr diese Verpflichtung einhalten, wenn Ihr tot seid? Nun, was Ihr macht, ist mithin nichts anderes als Untreue und Verrat; ganz zu schweigen davon, daß Ihr das Leben der anderen drei ebenfalls aufs Spiel setzt. Wäre ich noch in Briella, könnte ich Euch damit vor das Standgericht bringen.« »Ihr irrt. Ich habe strikten Befehl, weder die Stärke unserer Streitkräfte noch ihren Standort preiszugeben. Diesen Befehl zu mißachten, wäre in der Tat Verrat, erst recht, weil die Informationen, wie in diesem Fall, sofort an sattsam bekannte, verräterische dalekarlische Elemente weitergegeben würden.« Airars Zornesader schwoll bei dem Wort »verräterisch« an, und er hatte nicht übel Lust, dem Vulkinger eine beleidigende Erwiderung entgegenzuschleudern; auch der hitzköpfige Pleiander war schon wieder kurz davor, auf den Deserion loszugehen, doch Meliboë bedeutete ihnen mit einer knappen Geste zu schweigen. In gelassenem Ton, so als habe der Deserion lediglich einen kleinen Scherz zum besten gegeben, fragte er: »Die Dalekarlier und Verräter? An wem denn, wenn ich fragen darf?« »Nun, an Graf Vulk, der unter kaiserlicher Oberhoheit dieses Reich regiert.« Der Zauberer zog seinen Umhang fester zusammen, um sich gegen den Regen zu schützen. »So soll es also die höchste Pflicht sein, Vulk Gehorsam zu lei-
sten? Hat der Mensch nicht auch Gott und der Heiligen Kirche gegenüber eine Pflicht? Oder seiner eigenen Seele gegenüber, die doch das Spiegelbild Gottes ist? Ihr seid Euch gewiß im klaren darüber, daß Euer wohlgeformter Körper, der in diesem Moment seiner Vernichtung gefährlich nahe ist wohl kaum in der Lage ist, ohne die Hilfe der Seele in Verbindung mit dem Ewigen und dem Unendlichen zu treten. Und trotzdem beschimpft Ihr hier die Dalekarlier als Verräter, nur weil sie der Stimme ihrer eigenen Seele gehorchen und nicht irgendwelchen Befehlen aus Briella. Ihr selbst seid nicht bereit, diese Befehle, oder als was Ihr sie auch immer anseht, zu mißachten, um Euren eigenen Leib und Eure eigene Seele zu retten. Wollt Ihr behaupten, daß der Mensch nur dem Grafen gegenüber eine Pflicht hat?« Luronne der Deserion hob die Hand, als wolle er sich am Kopf kratzen, dann ließ er sie schnell wieder sinken. »Nun, mein Herr« sagte er gedehnt, »ich weiß nicht, ob ich eine Seele habe; aber wenn die Priester es sagen, dann wird es schon stimmen. Nur – ich habe sie noch nie gesehen. Aber eines weiß ich ganz bestimmt: daß ich in meiner Seele oder in meinem Herzen niemals sicher sein kann, solange ich nicht herausgefunden habe, was alle anderen denken, und mich durch Gedanken oder Taten so gut wie möglich der Allgemeinheit angepaßt habe. Denn schaut, werter Herr Sophist, der Mensch ist ein Tier, das in der Herde lebt, allein auf sich gestellt ist er ebenso hilflos wie ein Schaf; oder er ist ein Ausgestoßener, den jeder, der des Weges kommt, töten kann, wenn er will.« »Und daher«, warf Alsander in verächtlichem Ton ein, »muß er wohl auch Befehlen gehorchen wie ein
Schaf dem nächstbesten Hund. Richtig?« »Nein«, erwiderte der Deserion ernst. »Was wollt Ihr denn – soll einfach jeder sagen können: Meine Seele sagt mir, ich soll ihm seinen Besitz wegnehmen! – wenn er gerade auf einem Feldzug ist? Soll jeder nach eigenem Gutdünken schalten und walten können? Daß dies nicht der Fall ist, liegt doch nur daran, daß der all gemeine Wille des Reiches dies nicht zuläßt; damit will ich sagen, unter der Herrschaft der Vulkinger sind wir sicher vor solcher Gesetzlosigkeit. Alle, die etwas anderes wollen, sind im Grunde ihres Herzens nur darauf aus, Anarchie und Gesetzlosigkeit zu schaffen, damit sie sich ungehindert bereichern können.« Airar konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Schreckliches gehört zu haben wie aus dem Munde dieses Mannes, der da um sein Leben redete. Und dennoch: Es war so fest und überzeugend vorgetragen, daß er es in keinem Punkte hätte widerlegen können, und er mußte zugeben, daß alles, was der Mann sagte, stimmte. Aber der Zauberer Meliboë grinste sich bloß in den Bart und sagte: »Ihr seid ohne Zweifel ein guter Rhetoriker und Philosoph, wie es bei einem, der das Lyzeum von Anné besucht hat, nicht anders zu erwarten ist. Dennoch möchte ich Euch eine Frage stellen: Wer bestimmt nun, wie der Volkswille der Vulkinger auszusehen hat? Ihr könnt doch nicht selbst vom einen zum anderen gehen und ihn bei jedem Thema, das die Allgemeinheit betrifft, fragen, wie er es denn gern hätte.« »Nun, natürlich Graf Vulk selbst. Denn er wird vom gesamten Volkswillen auserwählt, und somit muß er Ausdruck dieses Volkswillens sein.«
»Ha! So einfach ist das also. Und wenn er seinen Willen durch seine Beamten und Stellvertreter nach unten hin durchsetzt, dann ist es noch immer der Wille des ganzen Volkes, da er von allen auserwählt wurde. Richtig? Und wenn das vielleicht alles Schwindel ist? Wenn sich vielleicht bloß finstere Elemente des Staates zusammengetan haben, um einen aus ihrer Mitte aus reiner Machtgier und Ruhmsucht auf den Thron zu heben?« Der Deserion schaute ihn ungläubig an. »Nun, mein Herr, wer sollte sich denn z u diesem Zwecke zusammentun? Wer hätte denn ein Interesse daran? U n d wenn es so wäre – was dann? Der Ruhm und die Macht des Grafen sind der Ruhm und die Macht der ganzen vulkingischen Rasse, existiert doch jegliche Vereinigung nur nach dem Willen des Grafen und ist dazu da, seine Wünsche zu erfüllen und seinen Willen durchzusetzen, der doch mit dem des gesamten Volkes dekkungsgleich ist. Keiner will etwas daran ändern außer gewissen Elementen unter den Dalekarliern. Sie würden nichts lieber sehen, als daß unsere Kraft zerfiele und wir zu nichts anderem mehr fähig wären, als die Quelle anzubeten und den Kaiser, daß wir uns untereinander bekämpften, während die Mictonier und die Heiden über unser Land herfallen. Pfui! Große Reiche haben niemals Atempause; entweder gewinnen sie, oder sie gehen unter. Wir Vulkinger aber gewinnen deshalb, weil wir einen einzigen festen Willen verkörpern, weil wir allen, die sich uns anschließen, diese kostbare Vereinigung zuteil werden lassen.« »Und was ist mit denen, die von anderem Blute sind?« fragte Meliboë und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Die Carrhoener zum Beispiel –
gehören sie auch zu dieser ›kostbaren Vereinigung‹, von der Ihr da sprecht?« »Vereinigung mit ihnen? Mit denen? Das würde das Blut unseres Volkes vergiften und den Volkskörper zum Verfaulen bringen. Wo auch immer Ihr Niedertracht und Schmutz findet, da steckt bestimmt einer aus den Zwölf Städten dahinter, wie eine Made in einem stinkenden Kadaver. Wißt Ihr, mein Herr...« Weiter kam er nicht. Mit einem unartikulierten Wutschrei sprang Pleiander auf. Ehe ihn jemand aufhalten konnte, hatte er sich auf den Deserion geworfen. Mit einem Arm umklammerte er den Hals des Vulkingers, und dann stach er ihm dreimal tief in die Seite. Mit einem Röcheln sackte Luronne der Jüngere in seinem Blut zusammen. Für einen Moment sah Airar das Weiße in seinen Augen aufleuchten. Pleiander stand bebend über ihm, den blutigen Dolch in der Hand. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Diades! Bringt diesen Haufen Unrat fort. Wo ist der junge Visto?« Meliboë lachte, während die anderen betroffen schwiegen. Bald darauf war es an der Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Alvars Sohn jedoch war weit davon entfernt, Schlaf zu finden. Ihn überfiel die Mattigkeit nach der Schlacht, die die anderen in tiefen Schlaf wiegte, dergestalt, daß alle seine Sinne hellwach und überreizt waren. Er fühlte sich wie von Giften aufgeputscht. Der Wind seufzte über ihm in den Baumwipfeln, dikke, schwere Wassertropfen sammelten sich an den Blatträndern und fielen mit einem leisen und regelmäßig wiederkehrenden ›Platsch‹ auf den Mantel, mit dem er sich zugedeckt hatte, während er vor seinem inneren Auge noch einmal die Ereignisse des
Tages ablaufen ließ und sich das Gehirn zermarterte, warum er dieses Gefühl der inneren Krise weitaus intensiver empfand als das Gefühl, im Kriege zu sein und eine Schlacht gewonnen zu haben. Warum? Warum? Da war Evadne, die Carrhoenerin, die ihm ganz offen zu verstehen gegeben hatte, daß sie in ihm ihre Zukunft sah. Während der hastigen Vorbereitungen vor der Schlacht war er viel zu sehr abgelenkt gewesen, als daß er sich damit tiefer hätte auseinandersetzen können. Doch jetzt, zu mitternächtlicher Stunde, drang der Gedanke an sie wieder an die Oberfläche seines Bewußtseins und bereitete ihm Qualen. Sie war älter als er, ja; aber ihre herrliche, olivfarbene Haut – und dieser gertenschlanke Körper... er stellte sich vor, wie wunderbar es sein würde, diesen Körper an sich zu ziehen... doch würde es wirklich so wunderbar sein? Etwas, tief in seinem Innern, ließ ihn erschauern. Irgendwie hatte er das Gefühl, als läge ein Bann auf ihr, der sich aller Begierde widersetzte – nicht der, den Meliboë auf sie gelegt hatte, um sie auf ihn zu ziehen. Bei dem Gedanken verspürte er einen stechenden Schmerz: er erinnerte sich wieder eines Zaubers, den er selbst heraufbeschworen hatte, um jemand an sich zu ziehen (er wehrte sich mit aller Macht dagegen, daß seine Gedanken versuchten, den Namen jener Person zu formen). Er ließ seinen Geist an all diesen Bildern vorüberwandern. Wie unbefriedigend doch all diese Magie am Ende war – und wie gefährlich dazu – sein Zauber, mit dem er Rogais Gestalt verändert hatte, hätte diesen beinahe das Leben gekostet, damals, in Mariupol; und dann Meliboës Zauber, der mit Brigalts Tod endete und dessen Söhne im Schneesturm
umkommen ließ; seine eigenen üblen Erfahrungen, die er gemacht hatte, als er die Schiffe gegen die Seedämonen gefeit hatte; dann jene Nacht im Turm von Salmonessa (ein weißer Blitz flammte vor seinen Augen auf – nur nicht daran denken!)... war auch nur einer dieser Zaubermaßnahmen zu etwas nütze gewesen? Die Nacht in der Marsch, wo er sie im letzten Moment vor den Vulkingern gerettet hatte – nein: auch da nicht. Denn das war nichts als ein Verrat, den Meliboë an jenen begangen hatte die ihm vertrauten; und das Orakel, das der Alte noch in derselben Nacht befragt hatte – auch nicht; denn sein Rat hatte ihn davon abgehalten, nach Salmonessa zu gehen, wo er sie hätte retten können. Airar wälzte sich ruhelos herum und begann sich zu fragen, ob nicht auch in jener Debatte vor dem Tod des Deserion die Magie irgendeine Rolle gespielt hatte. Es war nicht auszuschließen. Aber wenn es so war: Was für ein schlimmes Ende hatte sie einem Mann gebracht, der – ein schwarzer Vulkinger zwar, der es hundertmal verdient hatte – letztlich sterben mußte, weil Pleiander auf seine Schmähungen keine andere Antwort fand als Gewalt. Er war mein Gefangener, dachte Airar, und er spürte, wie bitterer Groll gegen dieses ganze carrhoenische Pack in ihm hochstieg. So unrecht hatte der unglückselige Luronne gar nicht gehabt, als er verächtlich Roheit und Niedertracht gesprochen hatte – Evadnes rüde Sprache oder die Art, in der sie dem armen Erb den Kopf verdrehte; wie sonst hätte man das bezeichnen sollen? Oder Evimenes: Wie leichtfertig und rücksichtslos er die Pferde hatte stehlen wollen, deren Besitzer ihn so freundlich in seinem Hause bewirtet hatte. Und was
ihm am wenigsten gefiel: die Art und Weise, in der Pleiander den jungen Visto angefahren hatte, nachdem er die Bluttat begangen hatte, und wie er überhaupt mit dem Burschen umsprang! Und Visto – er war wohl doch nicht der Mann, für den Airar ihn anfangs gehalten hatte (Groll und Bedauern vermengten sich an dieser Stelle unterhalb der rationalen Ebene von Airars Bewußtsein) – oh, er war gewiß treu und hilfsbereit, das konnte man ihm keinesfalls absprechen! Aber wenn es hart auf hart ging, war er wie ein Pudel: Es brauchte bloß jemand mit dem Finger zu schnippen, und schon war er zur Stelle; er selbst brachte aus sich heraus kaum etwas auf die Beine. Auch besaß er nicht das Format oder die Fähigkeit zum gleichwertigen, partnerschaftlichen Gedankenaustausch (hier ähnelte er in seiner Unterwürfigkeit eher einer Frau), die ihn zu dem Freund hätten machen können, den Airar anfangs in Rogai gefunden zu haben glaubte. Rogai hatte irgend etwas Eigenartiges an sich – nein, man konnte es nicht als Kälte bezeichnen, das traf nicht den Kern der Sache – eher war es eine Art Unrast, so als hätte er keine Zeit für Freundschaften. Das also war es wohl, warum Visto kein ernsthafter Rivale für ihn war. Airar erinnerte sich wieder an jenen leicht sarkastisch gefärbten Ton, in jener Nacht in Salmonessa, als er ihn mit ›mein Freund‹ angeredet hatte. Darum also hatte er es auf die leichte Schulter genommen, daß sie zum Herzog ins Bett gerufen werden sollte. Und doch war er gekommen, ihn, Airar, zu warnen. O nein, keine echte Freundschaft bei Visto; nur dieses – dieses Verlangen, beherrscht zu werden. Ich habe keine Freunde, dachte Airar trübsinnig. Keine Freunde, keine wahren
Freunde jedenfalls; sie lieben mich nicht – sie wollen mich lediglich benutzen. Muß ich für immer ohne Freunde bleiben? Und wieder wälzte er sich ruhelos von einer Seite auf die andere, bis ihm mit einemmal bewußt wurde, daß er auf dem besten Wege war, wieder in dieses Selbstmitleid zu verfallen, das ihn schon Gythons Liebe gekostet... Nein – nur jetzt nicht daran denken! Nun gut, wenn Visto auf diese Art glücklich werden wollte, dann war es sein gutes Recht. Aber nicht doch! So zu leben, das war verabscheuenswürdig. Luronne der Deserion hatte recht: Der Mensch lebt in einer Gemeinschaft und muß sich in seinem Denken und Handeln am Willen der Allgemeinheit orientieren. Wenn nicht, dann kommt so etwas dabei heraus wie dieser zügellose Pleiander, der sich rücksichtslos über alle Gesetze hinwegsetzt und sich nicht scheut, sinnlos einen Menschen zu töten. Oder dieser Herzog Roger: Auch er stellte sich außerhalb der Gesetze und ließ sich nur von seinem eigenen Willen leiten. Nein, nein, das stimmt nicht ganz – auch für ihn galt eine Art von Gesetz, das ihn schließlich auch zu Fall brachte, kein geschriebenes Gesetz zwar, aber nichtsdestoweniger eines, das ihm natürliche Grenzen setzte gegen den Hochmut, die Ungerechtigkeit und die Hartherzigkeit, mit denen er seine schändlichen Taten soweit trieb, daß am Ende seine eigenen Getreuen von ihm abfielen und ihn ins Verderben stürzten, indem sie ihm erst die Waffen Briellas und schließlich Malinas Dolch an den Hals setzten, der seinem verderbten Leben ein Ende setzte. Eine Zeitlang hing Airar dem erregenden Spiel der Spekulation nach – bestrafte dieses eherne Gesetz wirklich mit
unerbittlicher Härte schon einen einzigen Fehler? Hätte der dreifingrige Herzog nicht mit einer von beiden Heimsuchungen Glück haben können? Entweder mit seinem Krieg oder mit seiner Buhle? Oder hätte, wenn dies mißlungen wäre, vielleicht das unglückliche Zusammentreffen irgendwelcher anderer Ereignisse seinen Fall bewirkt? Aber dann, so ging es ihm durch den Kopf, ist dieses Gesetz übermenschlich, und unsere Gesetze vermögen nichts weiter, als dieses universelle Gesetz wie ein irdischer Abdruck widerzuspiegeln – dieses ÜberGesetz, das nicht zuläßt, daß sich irgendeine menschliche Gesetzesvorschrift in Gegensatz zu ihm stellt. Das Gesetz, das Herzog Rogers Haus regierte, war, Salm am Leben zu halten, indem Bastard auf Bastard folge, und eben dieses Gesetz brachte schließlich sein Haus zum Einsturz. Bei diesen Gedanken erreichte Airar den Höhepunkt seines Zweifels; denn eines war gewiß: Luronnes Wunsch nach einem einheitlichen festen Willen, nach kostbarer Einheit in Dalekarlien zwischen Dalekarliern und Vulkingern, stand in keinerlei Widerspruch zu irgendeinem natürlichen oder göttlichen Gesetz. Aber wie ist das möglich? fragte er sich. Haben sie recht und wir mit unserem Wunsch nach Freiheit unrecht? Macht uns das nicht auch eins mit dem kriegerischen Volk der Zwölf Städte? Sosehr er auch nachgrübelte, er fand keinen Ausweg aus dem Dilemma. Der Gedanke beunruhigte ihn dermaßen, daß er mit einem Satz aufsprang (wobei er an einen Zweig stieß und sofort wieder tropfnaß war, was ihn zu einem derben Fluch hinriß), um Meliboë zu suchen und ihn zu bitten, dieses verwirrende Problem für ihn zu lösen.
Am Horizont kündigte schon ein hauchdünner, blasser Streifen das Herannahen des Morgens an Der Himmel war noch immer bedeckt. Unter den Bäumen jedoch blieb es noch immer stockfinster, und kaum hatte Airar den ersten Schritt getan, als er gegen etwas Weiches stieß. »Wer da?« ertönte eine schnarrende Stimme die er unschwer als die Alsanders erkannte. Der Carrhoener war augenblicklich auf den Beinen, und als Airar sich zu erkennen gegeben hatte, brummte er gereizt, er wisse nicht, wo der alte Mann wäre, und fragte Airar wütend, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als mitten in der Nacht herumzurennen und andere aus dem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Airar gab ihm recht und entschuldigte sich; und noch während der Carrhoener sich fluchend wieder auf der feuchten Erde einrichtete, sah Airar auf der anderen Seite des Tales einen Lichtpunkt auftauchen, der mit Sicherheit nicht vom Himmel kam. Es war die Außenwache, die sie an die Straße postiert hatten; der Mann trug eine Laterne. Bei ihm waren die Kundschafter, die sie zum Krähenturm vorausgeschickt hatten. Als die Gruppe näherkam, sah Airar, daß noch ein weiterer Mann dabei war. Wie die Angekommenen berichteten, hatten sie den Abend und einen großen Teil der Nacht damit verbracht, in unmittelbarer Nähe des Krähenturms herumzuwandern. Sie hatten jedoch kaum Spuren einer Schlacht entdeckt, und auch von Rogai war weit und breit nichts zu sehen gewesen. Sie hatten darauf achtgeben müssen, nicht allzu dicht an das Kastell der Vulkinger heranzukommen, auf dem Wachfeuer leuchteten und in dem rege Betriebsamkeit herrschte. Schließlich hatten sie beschlossen, am Turm selbst zu
lagern, einem alten, halb zerfallenen Bauwerk, das die Heiden einst dort errichtet hatten. Dort hatten sie pausenlos Wache gehalten. Schließlich war dieser Mann zu ihnen gestoßen, ein Einheimischer, der zum Eisernen Ring gehörte. Er hatte eine Botschaft von Rogai. Rogai war wohl davon ausgegangen, daß Airar – wenn mit seiner Schlacht alles nach Plan lief – versuchen würde, an jenem Turm Kontakt mit ihm herzustellen. Sein eigener Angriff war ganz nach Plan verlaufen, jedoch waren die Verbündeten, die die Desa der Vulkinger begleiteten, weit mehr gewesen als vermutet. Sie waren ausgeschwärmt, um Rogais kleinen Trupp von der Südflanke her aufzureiben, so daß er keine Möglichkeit gehabt hatte, zu Airar zu kommen. Statt dessen hatte er seine Feinde in den Paß gelockt, der über die Hügel von Froy führt. Und da er nun schon einmal so weit auf jenem Wege gekommen war, hatte er sich entschlossen, die Richtung beizubehalten, und den Boten zurückgeschickt. In der Schlacht selbst hatte er nur zwei Mann verloren, und ein paar waren leicht verwundet worden. Der Hilfstrupp der Desa hatte zum größten Teil aus Salmonessanern bestanden, die sehr schnell aufgesteckt hatten, nachdem es Rogais Männern gelungen war, ihre Führer unschädlich zu machen. Als der Mann mit seinem Bericht fertig war, erhob sich Alsander: »Wieviel Mann sind in der Garnison des Kastells?« »Nicht mehr als ein Zug; das ist weniger als eine halbe Desa. Meister Rogai – ha! Das ist ein Hauptmann! Überlegte doch tatsächlich, ob er sie angreifen solle. Wenn ihr, wie ich gehört habe sogar über voll ausgerüstete Reiterei verfügt, dürfte es für euch ein
Kinderspiel sein, sie fertigzumachen.« »Ich habe Euch nicht um Euren Rat gebeten. Wie stark sind die Vulkinger insgesamt in den Weißflußtälern?« Im Schein der Laterne sah Airar, daß der Mann ein mürrisches Gesicht machte. »Das können wir nicht genau sagen. Ein großer Teil der achten Tercia ist auf die einzelnen Kastelle verteilt worden, und in jüngster Zeit sind mehrere Desas von der zwölften auf der Hauptstraße gesichtet worden; die, die ihr angegriffen habt, war die dritte; wir vermuten, daß sie nach Naaros unterwegs war. Der größte Teil der vierten soll sich zur Zeit in Stavorna aufhalten aber das können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, da die Wollhändler, die uns sonst immer mit Neuigkeiten versorgen, bisher noch nicht eingetroffen sind.« Alsander drehte sich um. »Meister Airar, wir sollten so schnell wie möglich die Männer wecken und noch vor Tagesanbruch aufbrechen, sonst sitzen wir in der Falle.« »Warum denn das?« »Es gefällt mir ganz und gar nicht, daß in dem Kastell die ganze Nacht über so rege Betriebsamkeit herrschte; ich glaube nicht, daß das normal ist – außerdem Rogais Rückzug über den Paß! Es ist durchaus möglich, daß ein paar der Verbündeten, diesen feigen Bastarden, zurückgekommen sind und die Besatzung des Kastells alarmiert haben. Wenn das der Fall ist, können wir sicher sein daß sich die Nachricht wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat – wie, das weiß ich nicht. Jedenfalls werden sie aus allen Himmelsrichtungen ihre Leute zusammentrommeln, um uns den Weg abzuschneiden. Diese achte Tercia wird sofort
ihre Posten verlassen und die vierte auf schnellstem Wege von Stavorna aus anrücken und sie werden's drauf anlegen, uns sämtliche Fluchtwege abzuschneiden.«
21 Die Hügel von Froy: Sie reiten Der einheimische Führer ritt voran, und das war sehr wichtig, denn es sollte sich bald zeigen, daß der Paß, der am Krähenturm vorbeiführte, gar kein richtiger Weg war, sondern ein Trampelpfad, der durch dichten Wald führte. Zwar gab es hier nicht mehr diese schwindelnden Abhänge und schroffen Felsvorsprünge wie in den östlichen Tälern, aber der Pfad schlängelte sich kurvenreich und ermüdend zwischen runden Hügeln hindurch. Evimenes ließ sich ein Stück zurückfallen, um die Packtiere, die den Marsch erheblich verlangsamten, anzutreiben. Alsander und Meliboë befanden sich im Haupttrupp. An der Spitze ritten Airar und Pleiander. Der letztere stimmte angesichts des heranbrechenden Tages gutgelaunt ein Lied an und forderte Airar auf, mitzusingen; aber als er sah, daß aus dem Sproß von Trangsted keine zwei Töne herauszulocken waren, verfiel er bald darauf, eines jener unmelodischen carrhoenischen Lieder zu pfeifen, wobei er in die Hände klatschte und jedesmal, wenn er am Refrain anlangte, eine Art Kläffen oder Bellen ausstieß. Sie überquerten einen kleinen Bach; die Pferde tänzelten geziert wie Ballerinen hinüber. Drüben angelangt, wühlte sich Evadne mit ihrem Pferd durch die Gruppe und schloß zu Airar auf. »Ihr habt doch ein Lied«, sagte sie lachend, »in dem die Stelle ›dolorosa Dalarna‹ vorkommt; in der Tat ein zutreffender Begriff, würde ich sagen, d e n n dieses Land des Eises und des Windes, dieses Land ohne Sonne ist wirklich traurig. Wann kommt der Frühling?«
»Nun, wir haben bereits Frühling«, antwortete Airar, der nach seiner schlaflosen, zergrübelten Nacht so gar nicht dazu aufgelegt war, ihre heitere Stimmung zu teilen. »Wie hättest du es denn gerne? Nur zwei Jahreszeiten – die eine mit klirrendem Frost, die andere mit sengender Sonne? Hier bei uns im Norden wächst die Liebe vielleicht ein bißchen langsam, dafür aber dauert sie für immer und verbrennt nicht wie ein Bündel Stroh.« Sie klatschte in die Hände. »Oh, wie galant! Du könntest es nicht besser machen, wenn du im Palast von Permandos säßest, umringt von Sthenophon und seinen Damen! Findest du nicht auch, Pleiander?« Ihr Bruder war jedoch ein wenig zurückgeblieben und antwortete nicht. Und so fuhr sie fort: »Im Ernst; dies ist wirklich ein trauriges Land, und du mußt so schnell wie möglich von hier fort, wenn dieser Krieg beendet ist. Schau, was mein Bruder Alsander macht, dieser Streithammel und fröhliche Geselle: reitet da hinten mit deinem rauschebärtigen Doktor und redet sich den Mund fusselig darüber, ob dieser Krieg wohl mehr eine Kunst sei wie die eines Malers oder eine Wissenschaft wie die Astrologie oder die Mathematik. Als ob es nichts Wichtigeres oder Schöneres gäbe!« »Das ist aber eine sehr wichtige Frage, über die...«, begann Airar, nun schon wieder ganz nachdenklich. Evadne aber lachte fröhlich auf und erwiderte: »Meister Airar, du argloser Frosch, wirst niemals im Leben ein Philosoph und solche Fragen beantworten können, genausowenig wie ich. Gib es auf, sei fröhlich und genieße dein Leben. Ich habe gestern abend sehr wohl bemerkt daß du schon auf dem besten Weg
warst, alles hinzuwerfen und dich dieser vulkingischen Laus anzuschließen, bis dann Langbart das Wort wieder ergriff. Vielleicht ist es noch immer so.« »Das ist nicht wahr!« schrie Airar, und er hatte plötzlich das Gefühl, sein Geist spalte sich, als er bemerkte, wie sehr die Art und Weise, in der sie mit ihm sprach, in Wort und Tonfall jener ähnelte, in der er Gython angesprochen hatte (diesmal versuchte er nicht, den Namen zu unterdrücken). Evadne jedoch schloß aus seinem wütenden Ausbruch, daß sie nun wohl offenbar seine volle Aufmerksamkeit erregt hatte, und fuhr fort: »Es ist genauso, wie ich es dir schon unter dem Baum gesagt habe, als du und Erb die Katze erlegten: Ihr Dalekarlier würdet am liebsten auf zwei Weisen zugleich leben, wie ein Fischmensch oder wie diese Seedämonen von Gentebbi. Ihr wollt keine Privilegien und keine festen Führer – o nein! Und was kommt dabei heraus? Nun, diese Vulkinger werden euch immer mit ihrer wohlorganisierten, auf blinden Gehorsam gegründeten Einigkeit überlegen sein, schon allein deshalb, weil sie immer mit hervorragend ausgebildeten Truppen in voller Stärke in den Kampf ziehen, während ihr nur mit der Hälfte eurer verfügbaren Kräfte aufkreuzt, weil mal wieder ein paar zu Hause geblieben sind, die gerade keine Lust haben, mitzumachen.« »Ist es denn wirklich so? Ich meine, daß das sehr übertrieben ist.« »Meister Frosch, o Meister Frosch, dich kann man wohl erst überzeugen, wenn man dich mit der Nase in den Kot stößt. Schau dir doch nur die Vulkinger an; wie hervorragend ausgebildet und wie erstklassig bewaffnet sie zum Kampf antreten, dazu noch mit
Verbündeten aus eurem eigenen Volk! Sie sind euch in dieser Hinsicht ganz eindeutig überlegen.« »Ich hätte nicht von dir gedacht, daß ausgerechnet du Lobeshymnen auf die Vulkinger anstimmst.« »Lobeshymnen – pah, wer redet denn davon? Ich spreche mit Hochachtung von ihnen, wie wenn ich die riesigen Pranken einer Raubkatze beschreibe. Jeder Dummkopf oder Frosch weiß, was an diesem Volk schlecht ist; zum Beispiel verachten sie die Musik und jegliche Art von Genüssen und Vergnügungen, und selbst ihre Barone sind niemals ihres Ranges sicher, sondern müssen jedes Jahr erneut vom Rat bestätigt werden. Ihre Herrschaft ist um keinen Deut besser als das Regime der stinkenden Hunde in unseren Städten! Doch wenn du einen mächtigen Feind hast, ist es immer von Nutzen, die Länge seines Arms genau zu kennen. Und ich sage dir, diese Männer sind hervorragende Soldaten, tapfer und gehorsam bis in den Tod. Was macht sie so überlegen?« Airar dachte eine Weile nach, während er zwischen den Bäumen dahinritt. Von hinten drang ein dumpfer Schlag an sein Ohr, gefolgt von schallendem Gelächter. Einer der freien Fischer, die trotz ihres endlosen Ritts durch ganz Hestinga noch immer erbärmliche Reiter waren, war vom Pferd gefallen. Ein Vogel flog an ihnen vorüber; Evadne machte mit der Hand eine Bewegung, die seiner Flugbahn nachempfunden war, und begann leise ein Lied zu summen. Schließlich sagte Airar: »Ich meine, das ist eine Frage für Doktor Meliboë, glaubst du nicht auch? Erst gestern nacht hatte ich vor, sie ihm zu stellen. Es ist ein sehr schwieriges, doch außerordentlich wichtiges Problem. Aber wenn du schon meine Meinung wissen
willst: Der größte Teil von ihnen ist hirnloser Mob, ohne eigenen Willen, ohne jeglichen Geist; er strebt weniger nach Ruhm als... als...« »Als wer, mein lieber Frosch?« Airar dachte ganz plötzlich an die Worte seines Vaters und erinnerte sich, wie der alte Mann die Vulkinger als ehrbares, zuverlässiges Volk gepriesen hatte. ›Jeder hat dort gleiches Recht‹, das waren seine Worte gewesen, ›jeder hat die gleiche Chance, höchste Posten im Herzogtum zu erringen; und sie achten darauf, daß ihre Rasse gesund und rein erhalten wird, nicht so wie diese Mictonier oder Carrhoener mit ihrer Inzucht und Blutschande.‹ – ›Ihnen gehört die Zukunft‹, pflegte der Alte immer zu sagen, ›und wir müssen ihrem Beispiel folgen, wenn wir nicht untergehen wollen; unsere Rasse darf genausowenig stehenbleiben wie die Sterne auf ihrer Bahn am Himmelsgewölbe.‹ »Mir fällt nichts Besseres ein, als daß diese Vulkinger eben träges Gesindel sind«, endete er zaghaft. Evadne lachte. »So willst du also zum Vulkinger werden – willst du das damit sagen?« Und während er noch empört »Nein, nie und nimmer!« schrie, fuhr sie fort: »Nun hör zu, was ich dir jetzt zu sagen habe. In den Zwölf Städten erzählt man sich die Geschichte der stinkenden Hunde, die sich mit einem Schiff aufmachten, um zur Quelle zu segeln und dort zu trinken. Aber da sie nun mal stinkende Hunde waren, konnten sie sich nicht auf einen Anführer einigen, der mehr Macht haben sollte als die anderen; und so hielten sie denn schließlich alle Tag und Nacht Wache und bedienten alle gemeinsam die Segel. Nun gab es jedoch einen unter ihnen, der ein erprobter Schiffs-
führer war und die Sterne lesen konnte. Doch als schließlich ein Sturm losbrach, war er todmüde von der ewigen Wache und schlief ein. Keiner wollte ihn wecken, weil man das für ungerecht hielt. Die Folge war, daß das Schiff schließlich auf ein Riff lief, alle den Tod fanden und keiner von ihnen jemals die Quelle erreichte.« »Wenn du damit sagen willst, daß jedes Schiff einen Kapitän haben muß – nun, niemand würde das jemals bestreiten. Wir Dalekarlier bestimmt nicht. Aber wie du siehst: Alles steht und fällt mit der Frage nach dem Anführer, und ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß diese Vulkinger die beste Methode herausgefunden haben, wie man solche Führer auswählt.« Wieder lachte Evadne. »Na, wer stimmt denn diesesmal Lobeshymnen auf Briella an? Mein lieber kleiner Frosch, ich sagte dir doch: Aus dir wird nie ein Philosoph. Und ein richtiger Galan auch nicht; du mußt erst noch lernen, daß man mit einer Frau nie debattieren sollte, es sei denn über Fragen, die das Herz betreffen. Der springende Punkt ist, daß der Kapitän eben als Kapitän auf das Schiff kam; einen anderen gab es nicht. Und die stinkenden Hunde hätten ernennen können, wen sie wollten Genauso ist es bei uns sechs Geschwistern: Das einzige, was wir von unserem Vater geerbt haben, sind unsere Sitze in den Gilden und unsere Kriegskunst. Ist es nicht einleuchtend, daß der Sohn eines Schuhmachers, der mit dem Geruch von Leder in der Nase großgeworden ist, später einmal besser Schuhe zusammenflicken kann als einer, dessen Vater Köhler war? Und nun hast du als Dalekarlier, der du noch jung bist und un-
erfahren in der Politik, die Wahl – entweder dem Pfad Briellas zu folgen oder dem Carrhoenes.« »Ich werde niemals zustimmen«, erwiderte Airar – und sie: »Ah, er ist also doch nur ein dummer Junge, und ich hatte schon einen Mann in ihm gesehen.« Mit diesen Worten wendete sie ihr Pferd und ritt zurück zu den anderen, worauf Airar der Tag noch trostloser vorkam als vorher. Als sie eine Weile weitermarschiert waren, stießen sie auf eindeutige Spuren des Krieges. An einer Stelle, wo ein Pfad vom Weg abzweigte, sahen sie durch die Bäume auf einer kleinen Lichtung ein Haus. Es war abgebrannt; lediglich die verkohlten, gabelförmigen Giebelbalken standen noch. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den Brand erstickt, doch dem verkohlten Gebälk entstiegen noch immer kleine blaue Rauchwölkchen. Airar und ein paar der Männer ritten zu dem Gebäude; nirgends war ein Lebenszeichen zu entdecken, und als er schon wieder zu den anderen zurückreiten wollte, vernahm er mit einemmal ein leises Miauen. Er schaute hinab und sah zu seinen Füßen ein Kätzchen, das ihn aus seinem rosafarbenen, dreieckigen Mäulchen traurig anwimmerte. Doch schien es keine Angst vor ihm zu haben. Er stieg aus dem Sattel, um das kleine Tier zu streicheln. Es hatte ein seidenweiches, gestreiftes Fell, und als es sich an seine Hand schmiegte, spürte er, daß es unter den Rippen anstelle eines Bäuchleins eine tiefe Mulde hatte. Anscheinend hatte es lange nichts mehr gefressen. »Armes Kätzchen«, flüsterte Airar und hob das Tierchen auf. Es begann zu schnurren, und Airar dachte daran, welch böses Schicksal es erwartete, allein in dem dunklen, nassen Wald, nun, da sein Her-
rchen von den Verbündeten der Vulkinger getötet oder verjagt worden war. Da hob er es kurzentschlossen zu sich in den Sattel und kniff in seinen Mantel eine kleine Falte, in die sich das Kätzchen sichtlich zufrieden hineinkuschelte und voller Behagen an seinen Bauch schmiegte. Es ging noch immer bergan; hier und da plätscherte ein Bach, um sich dann weiter südlich oder östlich in einen der zahlreichen Zuflüsse des Naar zu ergießen. In der Nähe eines dieser reißenden Bergflüsse machten sie Rast, um zu Mittag zu essen. Sie scharten sich an einer Stelle, die, von Felsvorsprüngen halbwegs geschützt, nicht so viel vom Regen der vorausgegangenen Nacht abbekommen hatte, und packten ihren Proviant aus. Airar schnitt von seiner Fleischration ein paar Stücke für das Kätzchen ab, die es sofort heißhungrig verschlang. Evimenes trat zu ihm. »Mir gefällt das gar nicht«, sagte der Sternenhauptmann mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Bestimmt haben sie uns beobachtet, als wir am Kastell vorbeikamen. Wenn der Kommandant sein Geschäft nur halbwegs versteht, haben wir früher oder später die Gentauren auf den Fersen. Sie reiten viel schneller als wir mit unseren Verwundeten und den Packpferden. Und wenn sie uns erreicht haben, werden sie versuchen uns solange aufzuhalten, bis die Schwerbewaffneten kommen.« »Sollen wir es nicht noch einmal mit einem Hinterhalt versuchen?« fragte Pleiander in leicht ironischem Ton. »Wir haben doch nicht umsonst den berühmtem dalekarlischen Spezialisten für so etwas bei uns.« Airar lief puterrot an, aber Alsander erwiderte ernst: »Nein; denn das würde uns zu lange aufhalten;
und genau das ist ja ihre Absicht – vergiß nicht: Im Krieg wie in jedem anderen Wettstreit gilt immer die Regel, was dem einen Vorteil verschafft, bedeutet für den anderen Verderb. Weißt du keinen anderen Plan, Bruder?« Evimenes' Stirn war noch immer sorgenvoll gerunzelt. »Ich wünschte, wir hätten mehr Bogenschützen; oder wenn wenigstens diese mariolanischen Bergziegen bei uns wären – die wissen am besten, wie man sich in solchem Gelände unsichtbar macht. Die Pest könnte ich ihm an den Hals wünschen, diesem ruhelosen Rogai, der immer so wild darauf ist, seine eigene Zuverlässigkeit herauszustellen, aber sich einen Dreck drum kümmert, ob andere in unvorhergesehene Schwierigkeiten geraten! Und die Hestingerner, die können zwar reiten wie die Teufel, aber was nützt uns das hier, wo alles voller Bäume ist? Nein, Brüder, ich sage euch, dieser Meister Airar und seine Speermänner sind in unserer augenblicklichen Lage unser bester Schutz. Wenn ihr wollt, werde ich sie bitten, zusammen mit einem halben Dutzend unserer Sergeanten ein Stück hinter dem Haupttrupp zurückzubleiben. Die Packpferde treiben wir dann ganz nach vorn. Sobald die Gentauren auftauchen, sitzen die Fischer ab und kämpfen zu Fuß.« Airar war einverstanden, und kurz darauf ging es weiter. Die Hügel von Froy wurden jetzt immer runder; es war eine sehr dünn besiedelte Gegend; nur ein paar Köhler und ähnlich menschenscheues Volk hausten hier. So war kaum zu erwarten, daß sie vielen Menschen begegnen würden; trotzdem war es ein wenig beunruhigend, keinerlei neue Nachricht von Rogai zu haben. Sie schlugen das Nachtlager am er-
sten der zahlreichen Seen auf die nahezu alle Mulden und Senken im Hügelgebiet von Froy füllen, besonders auf der Westseite, die dem regenreichen Shalland zugewandt ist. Nachdem sie besonders starke Wachtposten auf dem Weg, den sie gekommen waren, aufgestellt hatten, begaben sich alle zur Ruhe und schliefen schnell ein. Am nächsten Morgen blieb der größte Teil zunächst im Lager, während der Rest in der näheren Umgebung auf die Jagd ging, da der Proviant inzwischen knapp geworden war. Airar gelang es, ein Wildschwein zu erlegen. Es war jedoch noch lange nicht Mittag, als Evimenes schon wieder ungeduldig zum Aufbruch drängte. Tagesmitte und Paß trafen zusammen; nun waren sie in Shalland, und ein Stück weiter voraus bog der Weg nach links ab, zwischen zwei Hügelkuppen hindurch, um direkt an einen See zu führen. Neben dem See lag eine Wiese, und mitten auf der Wiese stand ein kleineres Haus. Airar war weiter hinten bei der Nachhut, als sie die Stelle erreichten. Als man ihm meldete, daß Rogai in dem Haus einen Boten mit weiterer Nachricht zurückgelassen hatte, eilte er schnell nach vorn. Der Mariolaner selbst (so berichtete der Bote, ein Mann aus den Weißflußtälern) sei mit seinen Männern weiter vorausmarschiert, im Vertrauen darauf, daß die anderen ihre Marschroute beibehielten. Er habe vor, zunächst einmal seine Leute in der Umgebung zu verteilen, nach Westen und Norden, also in Richtung Stavorna, um die Stimmung der Bewohner zu erkunden und um herauszufinden, welche Truppen die Vulkinger dort konzentriert hätten, er würde sie alle bei einer Schenke namens Gäspelnith treffen, die
an der Straße lag, die von Stavorna aus nach Süden bis an die Grenze von Skogalang führte. Alsander war nicht sonderlich erbaut über Rogais eigenmächtige Vorkehrungen, aber es blieb ihnen unter den gegebenen Umständen gar nichts anderes übrig, als zu dieser Taverne zu ziehen. Die sich anschließende Besprechung war nur kurz; die Vorhut und die Packtiere waren schon wieder unterwegs mit dem einheimischen Führer, der sie zu der Schenke bringen wollte, als Airars Männer aus dem Wald auftauchten. Sie blieben noch eine Weile an dem Haus, während sich der Haupttrupp nun ebenfalls auf den Weg machte. Sie kamen an jenem Tag nur sehr langsam voran; auch Proviant hatten sie weniger, als die Männer satt machte. Airar überließ wieder ein bißchen von seinem Fleisch seinem Kätzchen, das in seiner Falte unter dem Mantel bis dicht an sein Kinn kroch, als der Abend dämmerte, und ihn mit seinem Gekrabbel wachhielt, bis es sich schließlich selbst in den Schlaf geschnurrt hatte. Airar überlegte, welchen Namen er wohl seinem neuen Freund geben sollte, dem ersten, den er je gehabt hatte. Am Morgen begann der typische Shalland-Regen zu fallen: senkrecht vom Himmel herab und ausdauernd. Man konnte fast zusehen, wie sich das zarte Grün der Bäume unter ihm entfaltete und die Blüten am Wegesrand sich öffneten. Aber nur wenige der Männer hatten noch ein Auge für die Schönheiten der Natur; zu sehr plagte sie der Hunger und hatte sie der beschwerliche Marsch ermüdet. Alle paar Meilen tauchte ein See oder Tümpel vor ihnen auf, jedesmal mit einem kleinen Bach als Abfluß. Um diese Seen
herum sahen sie mehr und mehr flache Stellen, die wie mit einem riesigen Löffel aus dem Hügelgelände ausgeschabt zu sein schienen. Auch wurde der Weg jetzt breiter und wieder deutlicher zu erkennen; hier und da sahen sie Wagenspuren, die vom Wege abzweigten und über Flachsfelder liefen. Manchmal entdeckten sie auch in der Ferne ein Bauernhaus. Die Gegend hatte etwas Merkwürdiges an sich, das Airar unter der Oberfläche seiner Gedanken (die sich noch immer um das Carrhoene-Vulk-Dilemma drehten, nur hin und wieder abgelöst von Tagträumereien) auf seltsame Weise berührte. Nach einer Weile erreichten sie eine Stelle, an der drei dieser Kotten dicht aneinandergedrängt zusammenstanden. Ein feistgesichtiger Mann stand auf eine Hacke gelehnt am Wegesrand und glotzte sie an, als sie vorüberritten, ohne jedoch ihren Gruß zu erwidern. Und nun wurde Airar schlagartig klar, was ihn so seltsam berührt hatte: Alle Häuser, die sie seit dem Morgen gesehen hatten, schienen wie ausgestorben zu sein! Sie hatten weder Menschen noch Vieh gesehen, nicht einmal Hunde, so als wären alle Bewohner Hals über Kopf vor einer plündernden und mordenden Soldateska geflohen. Dies kam ihm so merkwürdig vor, daß er bei der nächsten Rast die sie einlegten (wieder eine trostlose, hungrige Rast, kurz nachdem sie über eine schmale Furt einen Fluß überquert hatten und alle bis auf die Haut durchnäßt waren), nach vorn ritt, um sich mit den anderen darüber zu beraten. Den Sternenhauptmännern war ebenfalls aufgefallen, daß die Gegend wie ausgestorben war vor allem, nachdem sie mehr als einmal versucht hatten, auf den Höfen etwas zu essen aufzutreiben, aber bloß in einer Scheune etwas
Pferdefutter entdeckt hatten. »Das Schlimmste dabei ist« sagte Alsander, »daß wir nicht wissen, ob dieser Trottel von Rogai dahintersteckt oder die Shalländer selbst – oder vielleicht die Vulkinger, um uns irgendwie in die Falle zu locken. Mir paßt dieser blinde Marsch ins Ungewisse ganz und gar nicht. Wir Brüder führen unsere Unternehmungen immer nach sorgfältiger Planung durch, aber planen kann man nur, wenn man weiß, was los ist. Aber hier haben wir einen, der uns alle herumkommandiert, ohne uns nach unserer Zustimmung zu fragen, und gleichzeitig seine Absichten vor denen verbirgt, die als erste ein Anrecht darauf hätten zu erfahren, was er überhaupt vorhat.« »Der Blinde beklagt sich darüber, daß er von einem Lahmen geführt wird«, bemerkte der Zauberer Meliboë, was ihm einen wütenden Blick einbrachte, doch Evimenes sagte: »Ich erinnere dich an die alte Regel, Bruder: Vergiß das Vergangene und denk an die Gegenwart. Mit Rogai werden wir sicher noch ein Wörtchen zu reden haben, aber das kann warten. Jetzt gilt es zu überlegen, wie es weitergehen soll; wir haben noch einen langen Weg vor uns, und unsere Männer sind so erschöpft und hungrig, daß ich bezweifle, daß wir noch einmal eine solche Schlacht durchstehen könnten wie die vor vier Tagen.« »Es wäre das beste«, sagte Alsander, »hier zu warten und ein paar Kundschafter loszuschicken, die was zu essen besorgen und diese voreiligen Mariolaner an dem vereinbarten Treffpunkt erwarten. Was meint Ihr, Meister Dalekarlier?« »Ich sage...«, begann Airar, doch dann hielt er inne:
»Nein, ich sage dazu überhaupt nichts, solange wir nicht mehr wissen. Wo ist der einheimische Führer?« Schnell wurde der Mann geholt. Airar forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und, nach Gäspelnith gefragt, antwortete er: »Der Flecken, der eigentlich nur aus der Schenke selbst besteht, liegt mehr als fünfzehntausend Schritt von hier entfernt; die Schenke befindet sich mitten in einem Gebiet, in dem hauptsächlich Milchwirtschaft betrieben wird, und ist ein beliebter Treffpunkt für die Viehtreiber, so daß man leicht alles, was es an Neuigkeiten in der Umgebung gibt, dort erfahren kann (›Ja, und dann pfeifen es ja wohl auch gleich alle Spatzen von den Dächern, wenn wir dort auftauchen‹, brummte Pleiander mürrisch); das Haus ist aus Holz gebaut, und auch die Dachschindeln sind aus Holz, es liegt in einer Mulde und ist daher im Falle eines Angriffs nur schwierig zu verteidigen (die Frage danach war von Pleiander gekommen); aber nicht weit vom Haus befindet sich ein Gehölz, und das Gelände drumherum ist offen, so daß sich Angreifer nicht gut nähern können, wenn das Haus von Lanzenreitern verteidigt wird (diese Frage hatte Airar gestellt).« Über die Gesinnung des Wirtes wußte der Mann nichts zu sagen; das war zu erwarten gewesen, sind doch die Bewohner der Weißflußtäler eine sehr dem eigenen Haus verbundene Rasse, die nur selten in Wirtshäuser geht. »Wenn ihr meine Meinung hören wollt«, sagte Airar, »ich bin dafür, daß wir sofort aufbrechen und versuchen, diese Schenke so schnell wie möglich zu erreichen; denn da bekommen wir Proviant und treffen auf Rogai und seine Männer, was eine erhebliche Verstärkung bedeutet. Sollten wir ihn aber nicht er-
reichen, dann sind wir dort jedenfalls sicherer als hier, da wir schnell gewarnt werden können, wenn Gefahr heraufzieht.« Ein kurzes Palaver schloß sich an; zu Airars Überraschung unterstützte Pleiander seinen Vorschlag; nur Evimenes war entschieden dagegen; Evadne machte ein mürrisches Gesicht und kaute auf ihrer Unterlippe herum, während Alsander sich einsichtsvoll zeigte. Sie wollten gerade beschließen, nach allem Für und Wider auf Airars Plan einzugehen, und die Männer auf einen schnellen Aufbruch und harten Marsch vorbereiten, als Meliboë, der sich auf der anderen Seite der Gruppe befand, aufstand. Er hatte die ganze Zeit über wieder mit seinen Fingern in diesem seltsamen Rhythmus, den schon Airar schon einmal beobachtet hatte, auf dem moosigen Boden herumgetrommelt; Airars Katze war, als es zu regnen aufgehört hatte, aus dem Mantel hervorgekrochen und hatte die trommelnden Finger des Zauberers als willkommenes Spielchen betrachtet. Nun nahm Meliboë das Tierchen auf den Schoß. »Von allen Kreaturen«, sagte er, »kommen die Katzen dem Geist des Menschen am nächsten. Junger Mann, ich bin weder ein Feldherr noch ein Stratege, und ich kann Euch nicht vorschreiben was Ihr tun sollt. Aber ich habe soeben das Orakel befragt, und ich kann mit Sicherheit sagen, daß Euch bei diesem Gäspelnith höchste Gefahr droht. Ihr solltet daher besser einen anderen Weg wählen.« Betroffenes Schweigen machte sich breit. »Und was ist mit uns? Droht uns auch dort Gefahr?« fragte Pleiander. Seine Stimme bebte dabei so stark, daß Airar ihn überrascht anstarrte.
Der Zauberer rollte mit den Augen, und seine Stimme klang ein wenig schrill, als er sagte: »Gefahr, ja, aber keine so große. Euer Schicksal ist ein anderes. Die Weissagung bezieht sich nur auf die Person dieses jungen Mannes hier.« Airar fühlte, wie sich die Haut über seinem Gesicht spannte. »Wenn es nur mich betrifft, dann sage ich: Marschieren wir trotzdem! Schon einmal folgte ich dieser Weissagung, und damals kostete mich das... mehr, als ich verlieren wollte.« So war es denn beschlossene Sache. Meliboë verließ seinen Platz, um mit Airar zusammen dorthin zurückzukehren, wo er bei den freien Fischern schlafen würde, und unterwegs tadelte er den jungen Mann, daß er zu vorlaut sei: »Nicht, daß Ihr die Weissagung in den Wind geschlagen habt; Männer wie Ihr tun das immer wieder, da sie doch mit der Welt und jeder Art von Zwang im Krieg liegen. Der Fehler lag vielmehr darin, daß Ihr es laut und öffentlich tatet, unmittelbar nachdem Pleiander ganz offen seine Furcht gezeigt hatte. Dieser Evadne gefällt es zu glauben, daß Ihr nicht so rauh und barsch seid wie sie; doch ist sie zartbesaiteter, als man glaubt, nur kann sie es gut verbergen, wie das so häufig bei tapferen und wagemutigen Frauen der Fall ist. Wenn Ihr Euch rauh und herrisch gebt, werdet Ihr sie verlieren. Tut, was Ihr wollt, aber macht es ein wenig schlauer und feinfühliger.«
22 Shalland: Streit in der Schenke Sie ritten weiter, hungrig und mit wundgerittenem Hinterteil; nur selten einmal wurden ein paar Worte gewechselt, und wenn, dann waren es Worte des Streits. Einmal mußte Airar sogar eingreifen, um eine Schlägerei zwischen einem seiner Leute und einem carrhoenischen Sergeanten zu verhindern. Es hatte an jenem Tage aufgeklart, und so wurden sie wenigstens einmal vom Regen verschont, der ihnen tags zuvor noch so sehr zu schaffen gemacht hatte. Aber auch ohne Regen war der Marsch anstrengend genug, und die einzige Abwechslung, die jener graue, öde Tag mit sich brachte, war der Augenblick, als die Katze sich unter Airars Mantel zu winden begann und er sie absetzen mußte, damit sie ihr Geschäft verrichten konnte. Wie der Blitz war das Tierchen zwischen einem Grasbüschel verschwunden, und Airar hatte alle Mühe, es wiederzufinden, während die carrhoenischen Sergeanten sich mit derben Späßen über ihn lustig machten. Wäre er in anderer Stimmung gewesen, hätte er sicherlich bemerkt, daß die Bäume jetzt seltener wurden und die Bauernhöfe zahlreicher; hier und da sah man einen Menschen oder ein paar Kühe. Aber er schenkte der Umgebung kaum Beachtung, und deshalb war er ziemlich überrascht, als er nach einer Wegbiegung auf der Anhöhe der nächsten sanften Steigung die anderen zu einer Gruppe versammelt sah; sie waren von den Pferden gestiegen und standen wartend oben am Berg. Hinter der Anhöhe, am
Fuße eines Wiesenabhangs, lag Gäspelnith. Es war ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude. Große Eichen, die um das Haus herumstanden, verdeckten es ein wenig. Selbst aus dieser Entfernung konnte man die Saatkrähen erkennen, die auf den Ästen der Eichen saßen. Neben dem Haus lagen große Ställe für das Vieh. Als Airar über die Scheunen und Bäume hinwegschaute, entdeckte sein scharfes Auge in der Ferne, weit hinter der sanft geschwungenen Ebene, einen silbrig glänzenden Streifen. Das mußte Vällingsveden sein, der große Strom, der ganz Shalland durchfloß – und der eigentliche Grund, warum sich an dieser Stelle ein Wirtshaus befand, denn flußaufwärts kamen die Schiffe aus den Ländern des Südens und flußabwärts die Boote aus dem von Hügeln umgebenen Stavorna. Es war ein so reizvoller Anblick, der sich seinen Augen darbot, daß er die Bemerkungen der Männer (die sich ohnehin um nichts Wichtiges drehten) nur geistesabwesend beantwortete, während sie auf Gäspelnith zuritten. Die Aussicht auf ein baldiges Ende der Strapazen des Marsches verdoppelte mit einemmal seine Erschöpfung. Ein paar Männer kamen aus dem Haus, um ihr Näherkommen zu beobachten; von weitem sahen sie aus wie nußbraune Mariolaner ohne ihre Kettenhemden, ein Eindruck, der sich sehr bald bestätigte, als sie auf Rufweite herangekommen waren. Einer von ihnen war Tholkeil, den Airar vor langer Zeit vor Kälte zitternd in der Marsch gesehen hatte; er hatte einiges zu berichten, mußte sich damit aber erst einmal gedulden, bis die Ankömmlinge mit steifen Gliedern von ihren Pferden gestiegen waren und sich, so gut es ging, dichtgedrängt in der Schenke versammelt hat-
ten, wo der Wirt schon mit zwei oder drei Weibern und ein paar mictonischen Mädchen dabei war, Schinken und frischgezapftes Bier auf die Tische zu stellen. Schon auf den ersten Blick war Airar dieser Mann höchst unsympathisch. Der Bursche war ziemlich feist, hatte ein aufgeschwemmtes Gesicht und kurzgeschorene Haare, die auf der Stirn wie eine Bürste senkrecht in die Höhe standen, und rannte zwischen den Stühlen herum wie ein Hund, abwechselnd seine Bediensteten ankläffend und zu Füßen seiner Gäste herumwinselnd. Der Kerl wurde ihm noch unsympathischer, als Tholkeil erzählte, daß er weder zum Eisernen Ring gehörte noch Verbündeter der Vulkinger war, sondern den Rang eines Priesters eingenommen hatte, damit er unbehelligt seine Kneipe führen konnte. »Er nennt sich Vindhug«, fuhr Tholkeil fort. »Das ist mir ein feiner Priester – verkuppelt dich mit jedem von seinen Weibern, ohne sich was bei zu denken.« »Viele Leute aus dem Lande«, fuhr Tholkeil fort, »haben sich schon über ihn beim Bischof von Shalland beklagt, aber da dieser Herr ein Vulkinger ist, sieht er es gar nicht mal so ungern, wenn die Dalekarlier mit ihren Pfaffen im Hader liegen. Denn das bedeutet, daß sie – zum Beispiel wenn sie heiraten wollen – zu den Gerichtshöfen der Vulkinger kommen müssen, und wenn sie seelischen Beistand benötigen, müssen sie sich zur Quelle begeben. Deshalb unternimmt der Bischof natürlich nichts, und Vindhug kann sich ungestört weiter bereichern.« Nun, da sie ihren Hunger und Durst gestillt hatten, konnten die Anführer erst einmal auf die Dienste dieses Heckenpriesters und seiner Dirnen verzichten,
und so versammelten sie sich in einer Ecke des Schankraums, um sich Tholkeils Geschichte anzuhören. Vieles von dem, was er ihnen berichtete, wußten sie schon: daß Rogai, nachdem er die Hilfstruppen der Vulkinger am Krähenturm vernichtet oder in die Flucht geschlagen hatte, am Ausgang des Passes seinen Trupp in Gruppen zu drei oder vier Mann aufgeteilt hatte, damit sie sich im Lande umsahen. Neu war jedoch die Nachricht, daß diese Männer Befehl hatten, frank und frei zu sagen, wer sie waren; Rogai hatte sie beauftragt zu erklären, sie seien lediglich die Vorhut einer riesigen Armee von Hestingernern und Salmonessanern, die eine Entscheidungsschlacht gewonnen hätte und jetzt auf Shalland zumarschiere, um es zu befreien. »Was gab diesem Dummkopf diese mehr als törichte Eingebung?« platzte Alsander heraus und hieb dabei mit der Faust auf den Tisch. »Aber...«, erwiderte stotternd der Mariolaner und starrte den Carrhoener verblüfft an. »Sie haben eine komplette Tercia in Stavorna, mit Gentauren und Verbündeten und allem, was dazugehört. Meister Rogais Absicht war es, sie dazu zu bringen, in ihrer Garnison zu bleiben, indem wir vortäuschten, wir waren in der Überzahl. War das denn kein guter Einfall?« Das also war der Grund, warum in halb Shalland die Bauernhöfe leerstanden! »Wahrhaftig nicht!« sagte Alsander gereizt, »aber sprich weiter.« »Ich schlug mich also mit meiner kleinen Gruppe Richtung Westen durch, nach Glos, der befestigten Stadt, die an der Stelle liegt, wo der Vällingsveden sich in mehrere Arme teilt. Wir verbreiteten unsere
falsche Nachricht bis kurz vorm Stadttor, übernachteten dort und kehrten hierher zurück, um die anderen zu treffen.« Es stellte sich heraus, daß die Übernachtung um ein Haar ihre letzte gewesen wäre; ihr Gastwirt hatte sich nämlich als Verräter entpuppt und des Nachts den alten Heuschober, den er ihnen zum Schlafen angewiesen hatte, in Brand gesteckt. »Und das Schlimmste: Der Schuft ging uns durch die Lappen! Aber da er so großen Spaß an Freudenfeuern zu haben schien, zündeten wir ihm, bevor wir verschwanden, wenigstens noch sein Haus an.« »Du kannst jetzt wieder zu den anderen gehen«, sagte Alsander recht barsch und wandte sich den Anführern zu. »Da hat Rogai uns eine schöne Suppe eingebrockt. Ich kenne die vulkingische Kriegsführung nicht allzu genau. Doch nach allem, was ich bisher davon kennengelernt habe, bin ich fast sicher, daß der Kommandeur dieser Tercia dasselbe tun wird wie ich in einem solchen Fall: mit allen verfügbaren Kräften losmarschieren, um den Ausgang des Passes zu besetzen und dieser Geisterarmee den Weg zu verlegen. Mit dem Rest seiner Truppe kann er uns ungestört fertigmachen. Wir sitzen wie die Maus in der Falle.« Evimenes meinte: »Eine ordentliche Mütze voll Schlaf wird aus uns allen wieder neue Männer machen, so daß ich glaube, wir können einen neuen Gewaltmarsch wagen. Wie wir allerdings mit den Schwerbewaffneten und diesen Fischern, die nicht mal richtig reiten können, den Feind abhängen sollen, weiß ich auch nicht.« »Wir müssen eben versuchen, auf dem Seeweg zu entkommen, wenn irgend möglich. Doch woher die
Boote nehmen? Wenn wir bloß einen zuverlässigen Mann aus Shalland hätten, der uns ein paar Ratschläge geben könnte. Diesem Schlitzohr von einem Wirt hier Vertrauen schenken? Da könnten wir uns ebensogut dem Drachen von Phyladea anvertrauen.« Nun meldete sich Airar zu Wort: »Rogai ist doch vom Eisernen Ring. Wenn er kommt, kann er uns vielleicht jemanden nennen, der weiterhilft. Aber eines kommt mir an dieser Sache sehr merkwürdig vor: Wieso liegt in Stavorna eine volle Tercia? Ich weiß nicht, ob ihr es gemerkt habt, aber die Leute hier im Norden fühlen sich eigentlich ganz wohl unter der Herrschaft der Vulkinger. Und in Mariola, wo bekanntermaßen der Drang nach Unabhängigkeit am größten ist und ständig Rebellionen aufflackern, da hatten sie merkwürdigerweise bloß eine halbe Tercia stationiert. Wieso hier im friedlichen Stavorna eine ganze? Das gibt mir zu denken.« Alsander erwiderte: »Dafür, daß sie von einem Dalekarlier kommt, ist diese Frage zweifellos äußerst scharfsinnig gestellt; dennoch ist sie unerheblich, was die augenblickliche Klemme betrifft, in der wir stekken. War da nicht die Rede von einem geplanten Eroberungszug gegen Os Erigu?« Meliboë, der wie gewohnt schweigend die Debatte verfolgt hatte, blickte auf und meldete sich zu Wort. »Ihr habt unrecht«, sagte er, »und der junge Mann hier hat vollkommen recht. Er hat nämlich gelernt, daß jede Erscheinung, die vor unsere Wahrnehmung tritt und nichts mit augenblicklichen Notwendigkeiten zu tun hat, sich aus dem bildet, was nicht in Erscheinung tritt und mit nichts Sichtbarem zu tun hat. Wenn Ihr nun sagt, das sei Metaphysik, dann lagt
mich es Euch an einem Beispiel erläutern. Eure Hoffnungen liegen doch auf diesem Herzog von Os Erigu, richtig?« »Nein, auf uns selbst und auf niemand anderem«, schrie der hitzköpfige Pleiander, doch sein Bruder, der gewiefte Stratege, antwortete: »In gewisser Hinsicht: ja.« »Gut. Ihr haltet ihn also für einen Mann, der sich bestens auf das Kriegsgeschäft versteht. Stimmt das?« »Ja, gewiß.« Alsander zog ein schiefes Maul. »Hätten uns seine Raubzüge nicht soviel zu schaffen gemacht, dann wären uns mehr Zeit und Kraft geblieben, die stinkenden Hunde niederzuhalten... Aber reden wir jetzt nicht darüber Er spielt sein Spiel, wir unseres, und wir werden ihm die Hand reichen.« »Das bezweifle ich nicht im geringsten; ihr aus den Zwölf Städten würdet euch notfalls mit dem Teufel persönlich verbünden, wenn das euren Zielen diente. Aber darum geht es jetzt nicht. Wenn der von Os Erigu ein kriegserprobter Haudegen ist – anders als dieser erbärmliche Herzog Roger –, dann kann man davon ausgehen, daß er längst bemerkt hat, daß sich an seinen Grenzen eine Tercia zusammenrottet, oder?« »Das ist anzunehmen.« Alsander kratzte sich am Kinn und schlug dann ganz plötzlich die Hände zusammen. »Ha! Jetzt weiß ich, worauf Ihr hinauswollt: Ihr wollt sagen, daß er ihnen zuvorkommen wird, genau wie ich es an seiner Stelle tun würde – nämlich als erster losschlagen!« Evimenes warf ein: »Aber was ist, wenn er beschlossen hat, die Eisernen Berge zu überschreiten und von Norden her auf dem Landweg in die Provinz einzufallen?«
Nun mußten Meliboë und Airar gleichzeitig lachen, denn beide wußten nur zu gut, daß es gerade seine Stärke auf See war, die den Piratenherzog von Os Erigu, jener der Küste vorgelagerten Halbinsel, berühmt und berüchtigt machte. Alsander von Carrhoene grinste ebenfalls. »Gut. Aber was soll uns das nützen?« »Das kann ich Euch genau sagen«, sagte Airar. »Der Nutzen für uns liegt darin, daß wir versuchen, die Küste zu erreichen und dann in See stechen, nicht mit einem ganzen Schwarm von Schiffen, sondern lediglich mit ein paar Leuten, die mit dem Feind unserer Feinde auf dem Wasser zusammentreffen und mit ihm handelseinig werden. Aber mit diesen Shalländern wird das nicht einfach sein.« Meliboë schaute ihn nachsichtig lächelnd an. »Mein lieber junger Mann, Ihr seid – ich sagte es schon mehrmals – ein Glückspilz dem die Welt offensteht, und sicherlich nicht unbegabt. Doch seid Ihr in jeder wichtigen Frage zu schnell bereit, der freien Willensentscheidung allzuviel Bedeutung beizumessen, so daß ich mich wirklich über Euch wundern muß. Wenn man jedem seinen freien Willen läßt, dann führt das am Ende zur Herrschaft der Vulkinger; und was Ihr aber macht, ist, sie dem Namen nach zu verurteilen, sich ihnen aber nichtsdestotrotz auf geistiger Ebene zu unterwerfen.« Dennoch war es bald beschlossene Sache, zur Küste zu marschieren, sobald die Männer und die Verwundeten einigermaßen wiederhergestellt waren. Keiner wußte jedoch genau, wie weit die Küste entfernt war, und Vindhug wollten sie nicht um Auskunft bitten. Sie riefen den Mann aus den Weißflußtälern zu sich;
er schätzte, daß es ungefähr zwanzig Meilen sein würden eher noch etwas mehr. Als nächstes kam die Sache mit Rogai zur Sprache; die Carrhoener wollten nicht länger auf ihn warten, aber Airar zeigte sich in dieser Angelegenheit unnachgiebig und hart und sagte, dies wäre eine weitere Probe, auf die sie gestellt wären, ähnlich wie die der Schlacht am Paß. Man dürfe niemanden fallenlassen, der treu zu ihrer Sache stünde, egal, was er sich zuschulden kommen lasse und welche Fehler er auch immer mache. Dann stellten sie Wachen auf und begaben sich zur Ruhe. Alle waren der Auffassung, daß Meliboë richtig gesprochen hatte. Im Morgengrauen traf eine weitere Gruppe von Mariolanern ein und scheuchte sie früh aus dem Schlaf. Die Ankömmlinge hatten vier junge Shalländer bei sich, die sich ihnen anschließen wollten. Diese hatten zwar ihre eigenen Pferde mitgebracht, besaßen jedoch keine Schwerter. Dafür aber kannten sie sich vorzüglich im Lande aus, so daß das Problem ortskundiger Führung erst einmal als gelöst betrachtet werden konnte. Sie berichteten, daß die Straße ein Stück weiter westlich von der Stelle, die Airar bei der Ankunft von den Hügeln aus gesehen hatte, eine Fährstation berührte, von der aus man über den Fluß setzen konnte. Etwa zwanzig Meilen flußabwärts lag die Küste, aber die Chance, dort Boote zu bekommen, sei gering, da in jener Meeresregion nur wenige Fischer lebten und die Handelsschiffe in der Regel flußaufwärts zum Markt von Glos fuhren. Nun stellte sich heraus, daß die Meinungsverschiedenheiten der vergangenen Nacht, von denen alle angenommen hatten, sie seien längst gelöst, nach wie
vor in aller Schärfe bestanden. Denn Evimenes wollte auf der Stelle losmarschieren, die Fähre nehmen und alle so schnell wie möglich über den Fluß in das Sumpfland des Deltas schaffen, wo sie zunächst einmal das breite Gewässer zwischen sich und etwaigen vulkingischen Verfolgern haben würden. Airar hingegen ging davon aus, erst einmal in der Schenke zu bleiben und auf Rogais Eintreffen zu warten. Bald war eine laute Auseinandersetzung im Gange, die sich noch nie während ihres langen Marsches so hart am Rande einer Prügelei befunden hatte wie diesmal. Airar hoffte vergeblich auf Meliboës Einschreiten, damit dieser den Streit schlichtete. Der aber hörte schweigend zu und kraulte sich den Bart. Doch schließlich beruhigte Evadne die Gemüter der Streithähne, indem sie sich auf Airars Seite schlug. »Brüder, ich habe ebensowenig wie ihr Verständnis für diese Haltung, die jeglicher Vernunft hohnspricht, aber wie sagt man doch: Man kann Kriege nicht gewinnen, ohne daß man die Herzen der Kämpfenden auf seiner Seite hat, und ich bezweifle, daß wir jemals die Herzen der Dalekarlier gewinnen, wenn wir ihnen in diesem Punkt nicht nachgeben.« Die anderen Sternenhauptmänner gaben sofort nach, wie immer, wenn ihre Schwester sie um etwas bat, und so blieb man denn einen weiteren Tag in Gäspelnith. Airar sonderte sich ein wenig von den anderen ab und spielte mit seiner Katze, während er noch einmal die ganze Sache überdachte. Er war nicht allzu glücklich, sich in dieser Frage durchgesetzt zu haben, und schon gar nicht darüber, daß das letztendlich nur mit Evadnes Hilfe geschehen war. Es schien ihm, als habe die Carrhoenerin sich weniger aus wirklicher
Überzeugung auf seine Seite gestellt, als eher in der Absicht, seinen Beifall zu finden. Und genausowenig, wie er davon erbaut war, ihr zu Dank verpflichtet zu sein, konnte er diese Art von Doppelzüngigkeit ausstehen, die in seinem Heimatland zutiefst verpönt war. Aus allen diesen Gedanken heraus erwuchs in ihm das unbehagliche Gefühl, in der Falle zu sitzen. Sosehr er auch darüber nachgrübelte, er fand keine befriedigende Lösung dieses merkwürdigen Verdrusses, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Gegen Abend wurde die ohnehin schon gespannte Stimmung noch schlechter, als Rogai mit zwei weiteren Shalländern von Norden her eintraf; er war voll und ganz in dem Glauben, richtig gehandelt zu haben und mächtig stolz auf sich. Sofort entbrannte zwischen ihm und den Sternenhauptmännern ein Streit, bis Airar schließlich eingriff und die Carrhoener an ihre eigene Devise erinnerte, Vergangenes nicht in die Gegenwart hineinzuziehen. Airars Bitte wurde erfüllt und der Streit beigelegt, aber von da an zogen alle verdrießliche Gesichter und brummten übelgelaunt und unzufrieden vor sich hin. Wie Rogai sagte, hatte es bisher noch keine Anzeichen für einen bevorstehenden Aufbruch der Tercia von Stavorna aus ihrer Garnison gegeben. Aber in Glos hatte man die Stadttore geschlossen und von einem Kastell, das sich weiter unten an der Straße befand, die Soldaten abgezogen. Noch immer galt der Plan, zur Fähre zu marschieren, sobald alle Männer wieder zum Marsch fähig waren. Rogai löste das Problem, den Rest seiner verstreuten Grüppchen wieder zusammenzubekommen, indem er einen der Shalländer zusammen mit Tholkeil zu einer Stelle auf der Kuppe des Hügels schick-
te, von wo aus sie mit Rauch- oder Lichtzeichen die Nachzügler zur Fähre lotsen sollten, sobald sie auftauchten, und... Just in diesem Moment blickte Pleiander auf und schaute direkt in das neugierige Gesicht von Vindhug, der mit halbgeöffnetem Mund, den Oberkörper nach vorn gebeugt, direkt neben ihnen stand, so als wolle er nur ja kein Wort verpassen von dem, was da besprochen wurde. Der Carrhoener sprang von seinem Stuhl auf und packte den Burschen beim Kragen. »Da haben wir ja einen feinen Lauscher, der uns und unseren Plan für einen Aina verhökert!« schrie er. »Was meint ihr, Brüder, sollen wir ihm nicht seinen Hals aufschlitzen und die Münze hineinstecken, damit sie seinen feisten Bauch schneller erreicht?« »Ja«, riefen die beiden anderen Sternenhauptmänner und Evadne wie aus einem Mund; der Shalländer war auch dafür und meinte, dieser räudige Hund hätte ohnehin schon viel zu lange gelebt. Vindhug sank trotz des eisernen Griffes, mit dem Pleiander ihm die Gurgel zudrückte, auf die Knie; Tränen liefen ihm über seine feisten Wangen, als er gurgelnd zu schreien begann, er sei ein Priester... und sie wurden sich den ewigen Fluch der Kirche auf den Hals holen, wenn sie das täten... und sie könnten ganz sicher sein, daß er nicht ein Sterbenswörtchen verraten würde... nur sollten sie ihn doch bitte, bitte, verschonen... Pleiander ließ sich nicht im geringsten von dem Gewimmer beeindrucken und wollte den Hexenpriester schon zur Tür schleifen und ihm den Garaus machen, als Airar den Arm hob und rief: »Halt! So etwas tun wir nicht in Dalekarlien. Es ist bei uns nicht üblich, einen Mann, und sei er noch so abgefeimt, zum Tode
zu verurteilen, ohne ihm nachzuweisen, daß er gegen die Gesetze des Landes oder die Gesetzes Gottes verstoßen hat. Und was können wir gegen diesen Mann hier überhaupt vorbringen?« Gleich zu Beginn des Tumults hatten sich fast alle Männer neugierig um die Szene geschart. Nur die carrhoenischen Sergeanten waren gleich wieder an ihre Tische zu Becher und Würfel zurückgekehrt, als sie sahen, daß lediglich einer ihrer Hauptmänner mit einem Desperado eine Rechnung beglich. Und so standen im Moment fast ausschließlich Dalekarlier und Pleiander um den Kerl herum. Airar, der sich noch gut daran erinnerte, welch kurzen Prozeß die Carrhoener mit Britgalt gemacht hatten, damals in der Hütte, war überrascht, als er hörte, wie sie wider Erwarten zustimmend murmelten. Ebenso überrascht war Pleiander, der verblüfft von einem zum andern starrte und dann seinen Würgegriff lockerte. Vindhug, der noch immer auf den Knien lag, kroch wie ein Hund auf Airar zu und versuchte, ihm die Hand zu küssen. Dieser fuhr angewidert vor dem Kerl zurück, gab ihm einen leichten Tritt in seinen feisten Bauch und rief, er solle sich trollen. In der Nacht machten sie sich im Schein flackernder Fackeln auf den Weg. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und die Pferde warfen protestierend die Köpfe hoch, wie sie es zu tun pflegen, wenn sie arbeiten müssen, wo doch eigentlich Schlafenszeit ist. Nun, da es finster und naß war, kam ihnen der Weg viel länger vor, als es bei Tageslicht den Anschein gehabt hatte. Als Evadne sah, daß Airar das Kätzchen mitgenommen hatte, grinste sie spöttisch und fragte, ob er so sei wie »Pleiander, der auch manchmal Spaß
an was anderem als Frauenbrüsten findet.« »Nein«, erwiderte Airar, »aber dieses Tier ist mein Glücksbringer gegen alles, was die Absicht verfolgt, mir meine Seele zu nehmen; es ist mein Talisman und mein Banner.« Er drehte sich um und zeigte auf den Katzenschädel, der ein paar Schritte hinter ihnen auf einem Pfahl stak (der Einfall mit dem Talisman war ihm ganz plötzlich gekommen; er hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht und es nur so dahergesagt, um sie zum Schweigen zu bringen). Die freien Fischer schleppten diesen Pfahl seit der letzten Schlacht vor ein paar Tagen als Kriegszeichen mit sich. Evadne schaute Airar eigenartig an und entfernte sich wieder von ihm; der Zauberer war nirgends zu sehen. Als sie den Vällingsveden erreichten, war von einer Fähre oder einem Fährmann weit und breit nichts zu sehen. Auch als sie laut riefen und die Fackeln schwenkten, kam er nicht vom etwa tausend Schritt entfernten gegenüberliegenden Ufer zu ihnen herüber. Ein paar der freien Fischer, die sich ja hier wieder in ihrem Element befanden, meldeten sich freiwillig, den Fährmann vom anderen Ufer zu holen. Die Shalländer, die jene kurzen Streitäxte benutzen, bei denen die Schneide und der Stiel fest zusammengeschmiedet sind, fällten zwei kleinere Bäume. Drei von Airars Männern flochten Äste und Zweige zusammen, die sie quer über die Stämme banden, so daß eine Art Floß entstand, mit dem die Fischer losfuhren, während der Rest der Truppe versuchte, es sich am Ufer so bequem wie möglich gegen den beständig herabnieselnden Regen zu machen. Dann warteten sie auf den Tagesanbruch oder die Rückkehr der Fischer.
Letzteres traf zuerst ein, nachdem allerdings schon fast die Hälfte der Nacht vergangen war. Zwei der Fischer ruderten eine lecke, alte Schaluppe, während der dritte abwechselnd mit einem Gefäß das Wasser ausschöpfte und mit einem alten Mann redete den sie in einer grasbedeckten Hütte, ein Stück vom Ufer entfernt aufgestöbert hatten. Der Greis berichtete, drei Tage zuvor habe der Priester von Gäspelnith ihm gesagt, daß ein Trupp von Eindringlingen in der Gegend wäre, und er müsse sie um jeden Preis solange am Ufer des Flusses aufhalten, bis die Tercia käme. Die Art und Weise, wie er sich ausgedrückt habe, hätte darauf schließen lassen, daß es sich bei den Eindringlingen um Heiden aus Dzik handelte; keiner hätte ahnen können, daß es Dalekarlier waren, die sich gegen die Vulkinger erhoben hatten. Aus dem Grund sei die Fähre nach Glos gebracht worden. »Jetzt ist dieser Vindhug eindeutig überführt!« schrie Pleiander, aber Airar widersprach ihm und gab zu bedenken, daß sich das Gerücht ebensogut durch Rogais kleine Gruppen habe verbreiten können. »Wenn das wahr ist«, sagte Evimenes, »dann haben wir um so mehr Grund, uns zu beeilen; jetzt zurückzugehen und uns den Burschen genüßlich vorzunehmen, könnte uns alle das Leben kosten.« Gefragt, ob es nicht noch ein anderes Boot gäbe, antwortete der alte Shalländer, seines Wissens nach gäbe es noch einen alten Lastkahn, der ein paar hundert Schritt stromabwärts vertäut liegen müsse. Da die Zeit drängte (es begann allmählich hell zu werden), machten sich einige gleich auf den Weg, den Kahn zu suchen, während die anderen eilig weitere Flöße zusammenzimmerten. Bald begaben sich die ersten Männer mit den
schwerfälligen Fahrzeugen auf die Überfahrt; ein paar Pferde ließ man nebenherschwimmen. Während sich die zweite Gruppe zum Übersetzen bereit machte, traf eine weitere Gruppe von Mariolanern ein. Sie berichteten, sie seien von Gentauren verfolgt worden und deshalb die ganze Nacht über geritten; zu allem Überfluß habe eines der Pferde gelahmt, so daß zwei Männer auf einem hatten sitzen müssen. Diese Nachricht spornte alle noch mehr zur Eile an, und als bei Tagesanbruch die Männer mit dem Lastkahn auftauchten, brachten sie auf der Stelle die Nichtschwimmer und ein paar der Tiere an Bord des lecken alten Bootes. Bald kam die Sonne milchig und blaß hinter einem Vorhang von Dunst hervor, durch den man noch immer den Regen nieseln sehen konnte. Keiner aus der Truppe hatte während der ganzen Nacht auch nur ein Auge zugetan, und das Frühstück war alles andere als üppig. Dennoch fühlte sich Airar in einer eigenartigen Hochstimmung und begann zu singen: Auf schwankendem Kahn fahr' hinaus ich aufs Meer, Mein schönes fein's Liebchen, von dem nie ich mehr hör'. Auch wenn mich das Schifflein dem Blick ihr entrück', Werd' ich niemals vergessen die Zeit voller Glück. Leb wohl, schöne Maid! An dieser Stelle unterbrach Visto, der noch nicht den Fluß überquert hatte, Airars Lied, indem er rief: »Dies ist ein mächtig kühnes und gewagtes Unternehmen, und du, Airar, bist der Meister der Tapferen! Du solltest die Katze als unser Zeichen und Signal wählen, anstelle des alten Geflügelten Wolfes von Dalar-
na.« Nun wurde Airar wieder nachdenklich. Als die Mittagsstunde nahte, waren sie alle drüben bis auf eine kleine Gruppe von Rogais Leuten, die nicht rechtzeitig zurückgekommen waren. Als sie zusammen am Ufer standen und noch einmal zurückblickten, sahen sie plötzlich am Ufer, das sie soeben verlassen hatten, mehrere Gentauren mit erhobenen Speeren stehen.
23 Shalland: Debatte mit Meliboë Das Land im Nordwesten des Vällingsveden ist flach und sumpfig. Die Häuser, die sich dort befinden, sind ausnahmslos schmucklose, einfache Grashütten, in denen nicht allzuviel Wertvolles aufbewahrt wird, schon aufgrund der gelegentlich vorkommenden Überfälle durch Piraten. Die Shalländer, die diese Gegend bewohnen, gelten nicht gerade als die stolzesten und besten Menschen, aber sie wollen auch nirgendwo anders leben, teils, weil der Boden ungewöhnlich fruchtbar ist, teils, weil sie von allen Dalekarliern die halsstarrigsten sind. Ein oder zwei vulkingische Kastelle stehen nicht weit von der Küste, aber ihre Besatzungen bestehen aus Gentauren, die aufgrund ihrer leichten Bewaffnung schnell zur Stelle sein können, wenn die Piraten die Küste überfallen. Der sehr starke Baumbestand setzt sich hauptsächlich aus Weiden und ähnlichen Bäumen zusammen; die Wege sind kurvenreich. Auf einer dieser Straßen stießen die beiden nun wieder vereinigten Truppen gegen Nachmittag in südwestlicher Richtung vor. Sie waren jetzt wieder mehr als siebzig, wenn man die Männer aus den Weißflußtälern hinzurechnete und die Shalländer selbst. Dazu kamen noch ein paar junge Burschen aus dem Sumpfgebiet, um sich ihnen anzuschließen, aber es waren nicht viele, wird es doch in jenem Landstrich nicht als Schande angesehen, als Verbündeter der Vulkinger zu gelten. Gegen Abend kamen sie in ein kleines Dorf, das aus ein paar grasgedeckten Hütten längs der Straße
bestand. Die Männer schliefen fast sofort ein; einige warteten nicht einmal mehr das Essen ab. Alles war nun eine Frage der Schnelligkeit und der Hoffnung darauf, daß Herzog Mikalegon auf dem Seeweg zeitig eintreffen würde. Wenn nicht, saßen sie in der Falle, selbst wenn man davon ausging, daß die Vulkinger ebenso große Schwierigkeiten hatten wie sie selbst, über den Vällingsveden zu gelangen. Die Gentauren mußten sie nicht fürchten – nicht mit den Schwerbewaffneten aus Carrhoene und den flinken Reitern aus Hestinga unter ihrer Fahne. Der Lärm schmutziger Kinder weckte sie in der Frühe aus dem Schlaf. Die Dorfbewohner waren froh, als die Fremden aufbrachen, und boten ihnen zum Abschied ihren selbstgebrannten Wurzelschnaps an, den sie in Schläuchen aufbewahrten – gegen Bezahlung. Airar war geneigt, seine Katze in dem Dorf zurückzulassen; denn er sah ein hartes Dasein auf sie zukommen. Eine der Frauen aus dem Dorf wollte sie gern behalten. Aber sie sah aus wie eine Schlampe, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine kleine Freundin einer solchen Person anzuvertrauen, die sie bestimmt nicht gut behandelt hätte. Also nahm er das Tierchen kurzentschlossen wieder unter seinen Mantel. Sie ritten weiter, diesmal zwischen Trauerweiden und wallenden Nebelschwaden dahin. Der Boden war tief, und die Pferde kamen nur langsam voran. Evadne gesellte sich zu ihm und bat, er solle nicht so ein finsteres Gesicht machen. »Das hier ist alles nur halb so schlimm wie das, was wir damals durchgemacht haben, als die Volkspartei in Carrhoene ihren
Triumph erlebte und es hieß, wir sechs Sternenhauptmänner sollten auf der Stelle gehängt werden. Wir sind seinerzeit nur davongekommen, weil die Boten der Gilden von Mariupol kamen und das Angebot machten, uns in dieses Abenteuer in Dalekarlien zu verwickeln. Und da die stinkenden Hunde witterten, daß dies erheblich zum Ruhme Carrhoenes beitragen könnte, begnadigten sie uns. Was mich erstaunt«, fuhr sie fort, »ist dein unbegrenztes Vertrauen in dein Glück. Bei uns ist das etwas anderes; wir sind sicher, auf der richtigen Seite zu stehen, und überzeugt, daß wir am Ende triumphieren müssen. Du hingegen schwankst wie ein Rohr im Winde, weißt nicht, ob das, was du tust, richtig ist oder nicht, und das einzige, wovon du dich leiten läßt, ist dein eigenes Glück.« Er wollte ihr antworten, aber in dem Moment erreichten sie wieder ein Dorf, so daß jetzt die Frage, was es an Neuigkeiten gab, das Problem, das Evadne gerade angeschnitten hatte, erst einmal in den Hintergrund drängte. Als nächster kam Erb, der Airar gutgelaunt mit »He, junger Meister!« begrüßte und fröhlich fortfuhr: »Ha! Die Vulkinger, die doch in ihren eigenen Bergen so groß mit dem Schwert sind, werden bald wissen, wie es ist, wenn man sich mit Herzog Mikalegon auf See anlegt; vielleicht können wir bald ein paar Rechnungen mit ihnen begleichen...« Airar konnte nicht umhin, ihn zu fragen wie ein Mann, der auf der Flucht war, so ausgelassen und fröhlich sein könne. Der lange Kerl nahm seine stählerne Kappe ab und kratzte sich den Schädel. »Nun, Meister Airar, du stellst mir solche Fragen wie meine eigene Schwester Ervilla oder der Priester, und das
einzige, was ich darauf antworten kann, ist, daß wir bald wieder da sind, wo der Geruch von Salz in der Luft ist und nicht diese endlosen Berge, die sich nicht bewegen und höchstens dazu gut sind, den Vulkingern als Wappen zu dienen.« »Aber es sind die Hügel von Dalekarlien, unserer Heimat!« »Eh... ah... ja.« In seinem Gesicht arbeitete es, während er angestrengt nachdachte. »Aber Dalekarlien ist unter dem Berg von Briella, und der Berg von Briella ist höher als Dalekarliens Hügel und es hat so viele Männer wie diesen Vindhug, die bloß glückliche Sklaven sind. Wir Fischer von Gentebbi sind arm, aber das ist noch immer besser, als so zu sein wie diese reichen Shalländer.« »Und Herzog Mikalegon?« »Oh, der! Hör zu, Meister Airar; wir Fischer verstehen nicht viel von dieser ganzen Politik, wir haben einfach Rudr zu unserem Anführer gemacht, und das ist ein schlauer Bursche, aber ich habe schon mit einem oder zwei gesprochen, und sie sagen alle, es wäre nicht schlecht, wenn wir diesen Herzog zu unserem Führer oder König machten Er ist ein großzügiger Mann und ein kühner dazu der Vulk, dem Kaiser und allen anderen die Stirn bietet.« Der Gedanke war neu. »Sollten wir also mit ihm einen Piratenzug gegen das Reich unternehmen? Wir sind doch gegen Vulk, um Dalekarlien zu befreien, nicht aber, um es zu erniedrigen!« »Wieso erniedrigen, junger Meister? Mit Mikalegon – das ist doch kein Erniedrigen! Er lebt als freier Herr in seinem hohen Schloß auf dem Felsen von Erigu, und sein Volk ist ebenso frei. Man sagt, sein Schloß
sei noch schöner als das von Stassia. Bei keinem Mahl läßt er weniger als sechs verschiedene Gerichte auftischen, und dazu tanzen schöne Weiber, die Nacht für Nacht den tapfersten Kriegern zur freien Auswahl stehen.« »Ja, wie in Salmonessa.« (Airar mußte an Gython denken und wie Herzog Roger sie sich ausgesucht hatte...) »Das muß ja wirklich herrlich sein. Und die Tanzmädchen, was für eine Wahl haben die?« Erb starrte ihn verständnislos an. »Wahl? Na, Tanzmädchen zu sein! Sie werden dazu auserwählt, ein solches Leben zu führen... Oh, Meister Airar, verzeih einem alten Mann, der nie jung war. Ich wußte nicht, daß du solch kirchliche Ansichten hast. Urteile wie du willst über diese Dirnen – da ist immer noch das eine, daß nämlich in Os Erigu kein Mensch seinen Kopf vor einem anderen neigen muß, und der Herzog, jawohl, der vertreibt die ganze mictonische Mordbande und hält sich die Heiden vom Leib, ohne daß ihm der Kaiser dabei hilft. Ha! Da macht das Leben noch Spaß und zu kämpfen gibt es noch und noch, da setzt ein Mann keinen Speck an.« Darauf gab Airar keine Antwort. Bisweilen sah man, halb hinter den Bäumen verborgen, zur Linken das metallisch schimmernde Band des Flusses aufblitzen (denn nachdem sie sich zunächst von dem Fluß entfernt hatten, waren sie jetzt wieder an ihn herangekommen). Airar begann darüber nachzudenken, ob Mikalegon vielleicht die Lösung seines Problems war, der goldene Mittelweg zwischen Briella und Carrhoene; aber er ließ den Gedanken unausgesprochen. Er hatte Phantasie genug, sich vorzustellen, was wäre, wenn ganz Dalekarlien mit Erb und Mika-
legon auf Piratenzug ginge. Ob sie sich gegenseitig das Fell über die Ohren zögen? Das war wahrhaftig ein Fall für Meliboë! Während er noch darüber nachdachte, kamen sie in eine Gegend, wo die Weiden immer spärlicher wurden und schließlich ganz aufhörten und das Land im Westen sich in Schlickboden verwandelte, hier und da gemischt mit Sand. Schließlich gab es nur noch Sand, und vor ihnen lag das Meer, in das sich zu ihrer Linken die braunen Fluten des Vällingsveden ergossen, dabei fast unmerklich von Braun in tiefes Blau übergehend. Sie waren am entscheidenden Punkt ihrer langen Reise angelangt. Alle Reiter kamen jetzt bis dicht an den Strand heran und zügelten ihre Pferde. Airar legte eine Hand über die Augen und ließ seinen Blick über das Wasser schweifen, von wo bald Mikalegons Schiffe kommen mußten, wenn sie noch rechtzeitig den nachsetzenden Vulkingern entkommen wollten. »Sie sind nicht da!« schrie Evimenes, doch dann rief plötzlich Airar: »Schaut doch, dort hinten im Norden! Seht ihr die kleinen Punkte, die aufblitzen und wieder verschwinden? Ihr Seeleute von Gentebbi könnt uns doch sicher sagen, ob das Segel sind, die aufblitzen, wenn das Sonnenlicht auf sie trifft, und wieder zu verschwinden scheinen, wenn sie sich kehren.« »Ich kann nichts erkennen«, schrie einer, doch Erb rief mit sich überschlagender Stimme: »Bei der Quelle! Ja, es sind Schiffe!« Alle schwiegen gespannt; sobald sie die Schiffe besser sehen konnten, gab es keinen Zweifel mehr: Es war die Armada von Os Erigu, die da herangerauscht kam. Die meisten der Männer stiegen von ihren Pfer-
den und rieben sich die vom langen Ritt steifgewordenen Gelenke oder begannen in ihren Satteltaschen nach etwas zu essen und zu trinken zu kramen. Die Führer berieten sich, wie sie sich verhalten sollten. Alsander sagte: »Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder war der Herzog schon einmal hier an der Küste, oder er kommt jetzt zum erstenmal – wenn das letztere der Fall ist, dann wird er uns, die wir hier bewaffnet am Strand stehen, für Gentauren halten, die nach seinem ersten Auftauchen alarmiert wurden, und wird landen und uns angreifen; ist es hingegen sein erster Anmarsch, dann wird er uns vermutlich für die Tercia von Stavorna halten und unverzüglich wieder abdrehen. Der Mann versteht sich auf das Kriegshandwerk wie kaum ein zweiter. Er hat seine ganze Truppe auf den Schiffen und wird nur zuschlagen, wenn er für den Feind unerreichbar ist, und nicht so dumm sein, sich auf eine offene Feldschlacht einzulassen, versteht ihr?« Airar fand, daß diese Art der Kriegführung nicht gerade ritterlich war, doch als er diesen Gedanken laut aussprach, erntete er von den Carrhoenern bloß Gelächter, und Rogai zischte durch die Zähne: »Ritter sind wie Sir Ludomir Ludomirson; mit einem Preis auf ihrem Kopf; oder, wenn sie fett werden, wie dieser Herzog Roger. Aber was soll's? Die Frage, die wir hier und jetzt beantworten müssen, ist: Wie machen wir denen auf den Schiffen klar, daß wir keine Feinde sind? Und selbst dann bin ich gespannt, wie sie uns empfangen werden.« Das war in der Tat die entscheidende Frage; klar war nur, daß es nicht viel Sinn hatte, vom Strand aus zu winken, da die Männer auf den Schiffen genauso-
gut annehmen konnten, die Vulkinger wollten sie in einen Hinterhalt locken. Die Shalländer schlugen vor, nach einem der Boote aus überzogenem Flechtwerk zu suchen, die die Leute dieser Gegend benutzten, wenn sie sich gelegentlich auf das Meer hinauswagten. Sie gingen gleich mit Erb, ein paar freien Fischern und Rogai los, um es zu versuchen. Rogai sollte als Botschafter dienen. Evadne meinte zwar, das sei Airars Aufgabe, aber den hatte eine plötzliche Scheu gepackt bei dem Gedanken, so unvermittelt dem berühmten Krieger und Herrn von Os Erigu gegenüberzustehen, zumal soviel davon abhing. Er kniff unter dem Vorwand, sich um die Katze kümmern zu müssen. Pleiander grinste spöttisch; Evadne sah das, und einen Augenblick später gab eine Bemerkung, die ihr Bruder machte, wieder den Anstoß zu einem endlosen Wortgefecht zwischen den beiden, so daß Airar sich unbemerkt davonmachen konnte, um nach Meliboë Ausschau zu halten, während ringsherum die Männer sich in kleinen Gruppen auf die Erde hockten, um über dieses und jenes ihre Hoffnungen und Sorgen zu schwatzen. Der Philosoph saß auf einem kleinen Sandhügel, den Rücken gegen einen Haufen Gestrüpp gelehnt; seinen Mantel benutzte er als Unterlage, um sich nicht schmutzig zu machen. Er hatte seinen Brustpanzer abgelegt; sein Blick war starr auf die See gerichtet wo sich die Flotte, jetzt schon deutlich als einzelne Schiffe zu erkennen, rasch näherte. »Ich habe da ein Problem, das ich Euch gerne bitten würde, gemäß den Regeln der Philosophie zu entwirren; denn keine der Antworten, auf die ich bisher selbst gekommen bin, befriedigt mich.«
»Nun, was ist es denn?« Der Ton des Zauberers kam ihm irgendwie kurzangebunden vor. »Gibt es keine anderen Pfade, denen man folgen kann, als jene die entweder nach Briella oder nach Carrhoene führen?« »Schöner junger Mann, Euren Kummer mag ich vielleicht entwirren, aber nicht Eure Rätsel, die Ihr mir aufgebt. Worauf wollt Ihr mit der Frage hinaus?« »Nun, es ist folgendes Problem, das mich so sehr beschäftigt...« Airar sah seiner Katze zu, die einem Blatt hinterherjagte, das der Wind aufgewirbelt hatte, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Also, es geht darum: Gibt es für den Menschen keine andere Möglichkeit zu leben, als sich mit seinem ganzen Wesen einem übergeordneten Ganzen zu unterwerfen, wie es dieser Deserion behauptete, den Pleiander dann tötete? Lieber wäre ich eine stinkende Pfütze, in die die Leute hineinpissen und die irgendwo im Boden versickert. Und da kommt Evadne und sagt, es gäbe nur eine Alternative; nämlich dem Grundsatz von Carrhoene zu folgen: Sollen jene doch betteln gehen, deren Väter blind waren – das wiederum verstößt klar gegen unsere dalekarlischen Grundsätze.« Aus der Richtung, wo die Männer saßen, kam ein Schrei, und alle rannten ans Wasser und zeigten mit ausgestrecktem Arm auf etwas da draußen. Airar sprang auf; das kleine geflochtene Boot kam, stark auf die Seite geneigt im Wasser hängend, die Flußmündung herunter und begann heftig zu schaukeln, als die Wellen des Ozeans es ergriffen. Rogais Kopf tauchte über dem Rand auf. Die Männer lachten, als sie sahen, daß das Geschaukel der kleinen Nußschale
ihn ganz grün im Gesicht werden ließ. Meliboë, der unverwandt nach vorn gestarrt hatte, fragte: »Sie haben ein Boot gefunden? Dann ist unser Leben sicher vor unseren Feinden, und diesmal glaube ich auch, daß euer Dalekarlien sicher ist vor beiden Dingen, die ihr so fürchtet. Aber auf die Dauer gesehen, hat sie doch recht, die Frau; so wie jene recht haben, die sagen, es gebe kein Entkommen vor dem alten Mann mit der Sense. Denn seht – es ist alles gut und schön mit dem freien Willen, wenn man zusammen an etwas arbeitet – das ist doch der Gedanke, den Ihr dabei habt, wenn ich Euch richtig verstanden habe, nicht wahr? Alles recht und wohlgeordnet, wenn es darum geht, mit ein paar Leuten zusammen eine Scheune zu bauen oder einen Bären zu jagen. Aber wenn der Feind im Lande steht oder ein ähnliches Unglück geschieht, wo nicht jeder sagen kann: Jetzt lasse ich alles stehen und liegen, sollen die anderen doch sehen, wie sie zurechtkommen! Nun, lieber Freund, dann müssen sich manchmal eben alle der Führung eines Mannes unterordnen, den sie vielleicht noch nie sahen, von dem sie womöglich nie zuvor hörten. Kann einer mehr geben als seinen eigenen Arm und sein eigenes Vertrauen? Kann einer Autorität über sich selbst haben? Nein.« »Ich verstehe nicht, wieso...« »Ihr versteht nicht, Ihr versteht nicht! Sohn des Alvar, ich kann nicht mehr tun, als Euch das Buch geben; lest es sorgfältig. Oder nein; ich sage Euch besser selbst, was darin geschrieben steht.« Der Magier hob den Kopf und streckte den Finger vor. »Angenommen, dieser Heerführer ist nun gewählt worden – wie, tut nichts zur Sache. Er jedenfalls ist die Quelle
der Autorität; aber er ist nicht unsterblich, und wenn er in der Schlacht fällt, dann bricht alles zusammen, wenn nicht unverzüglich ein anderer an seine Stelle tritt, der dieselben Machtbefugnisse hat. Und so ist es mit der Regierung; sie ist dauerhaft und steht an erster Stelle; oben Autorität, unten Vertrauen. Und ich weiß keine anderen Wege, dies aufrechtzuerhalten, als die von Briella und Carrhoene. Ah, sicher – Ihr werdet Kniffe und Kunstgriffe finden, die im Buch beim Namen genannt sind; dafür sind Bücher schließlich da – Dinge beim Namen zu nennen. Aber es läuft am Ende doch auf dasselbe hinaus. Die Regeln, nach der ein Anführer gewählt wird sind willkürlich, so wie die, daß er einer bestimmten Familie entstammen muß – sieh nur Carrhoene oder das Kaiserreich. Oder es gibt gar keine Regel, und der Führer ist eine Galionsfigur, ein Strohmann – siehe Briella. In beiden Fällen sind die, die unten sind, alles andere als frei.« »Aber es gibt doch noch Herzog Mikalegon«, warf Airar ein, der eigentlich fragen wollte, welche Wahl Meliboë denn selbst treffen würde, sich aber nicht traute, die Frage zu stellen. »Ja, schaut nur, da kommt er mit seinen Schiffen; seht, wie sich alle um den Kahn scharen. Sicherlich kommt die Schaluppe gleich mit einer Botschaft zurück. Glücklicher Sohn des Alvar! Das ist Euer Mann; frei wie alle anderen unter ihm auch; jeder kann gehen, wohin er will, wenn es ihm bei Herzog Mikalegon nicht mehr gefällt. Seht ihn Euch gut an!« Meliboë lehnte sich wieder gegen seinen Busch zurück und wandte den Blick dem Meer zu. Das Gespräch war beendet, aber Airar machte noch einen
letzten Versuch. »Und was war das für eine Gefahr, die mir in Gäspelnith drohte?« »Etwas ist geschehen, das abzuwenden Euer ganzes Leben nicht ausreicht.« Er deutete mit einer Handbewegung an, daß er nicht weiter darüber sprechen wollte, und kraulte die Katze, die inzwischen zu ihm gekommen war, unterm Hals. Draußen auf dem Wasser hatten jetzt die Schiffe mit ihren bunten Segeln das kleine Boot eingekreist, so daß man es nicht mehr ausmachen konnte; ein paar dieser Segel wurden jetzt eingeholt, und die Schiffe lagen so ruhig auf dem Wasser, daß man nur, wenn man mehrere von ihnen gleichzeitig betrachtete, sehen konnte, daß sie sich noch bewegten. Der Schall einer Trompete wurde vom Wind zu ihnen herübergetragen. Airar kniff die Augen zusammen und sah, wie sich kleine schwarze Punkte auf Deck hin und her bewegten. Die Beiboote wurden zu Wasser gelassen und kamen rasch auf den Strand zu; wie sie so über die Wellenberge herangekrochen kamen, wirkten sie wie kleine Wasserkäfer. Einer der Sternenhauptmänner rief nach ihm. Nun war er wieder Führer eines Trupps, der sich um dieses und jenes kümmern mußte. Sewald hatte Blasen an den Füßen, Gynnbrad beklagte sich, ein anderer hätte ihm seinen Dolch abgenommen. Überall herrschte Hektik, alle beeilten sich, die Boote in Empfang zu nehmen, Evimenes schrie irgendwelche Kommandos, ein paar Männer waren damit beschäftigt, die Packtiere abzuladen. Es war das zweitemal, daß Airar eine Seereise antrat, aber das erstemal auf einem so großen Schiff. Und so war er nicht wenig verblüfft, als er das Deck betrat. Da gab es eine große Treppe, die nach unten,
und eine weitere, die nach oben ins Achterschiff führte; überall stieß er auf Männer von martialischem Aussehen; ihm war, als befände er sich in einer schwimmenden Stadt. »Paßt auf die dritte Stufe auf!« rief einer, aber nicht schnell genug, so daß Airar über den zerbrochenen Tritt stolperte und beinahe hingefallen wäre. Als er hochschaute, sah er oben, am Ende der Treppe, einen großen Mann, hinter dem sich die grashüpferartigen Beine einer Wurfmaschine gegen den Himmel abzeichneten. Er war umringt von Gefolge, und aus Airars Perspektive, von unten nach oben gesehen, wirkte er noch größer, als er ohnehin schon war. Er trug ein rostiges Kettenhemd, dessen stählerne Glieder an einer Schulter zerbrochen waren, als hätten die massigen Schultern des Mannes gleichsam versucht, sich mit Gewalt aus der Einengung zu befreien und dabei das metallene Gewebe gesprengt. Er war barhäuptig, und eine wilde Mähne schwarzen struppigen Haars hing ihm lose bis auf die Schultern herab. Sein ebenso schwarzer Bart kräuselte sich fast übers ganze Gesicht, aus dem eine breite, weit vorspringende Nase und buschige Augenbrauen hervorstachen, die sich über dunklen, stechenden Augen wölbten. »Dies«, kam von irgendwo Rogais Stimme, »ist Meister Airar von Trangsted in Västmanstad, ein junger Mann von edler Herkunft und beachtenswerter Feldherr, dem bisher schon zweimal das gelang, was die Sternenhauptmänner von Carrhoene noch nicht einmal zuwege brachten: das rote Dreieck von Briella zu erbeuten.« »Seid willkommen!« rief der große Mann mit
dröhnender Stimme und trat drei Schritte vor, um Airars Hand zu ergreifen, so als wäre er ein leibhaftiger Prinz. »Nicht, daß es allzuviel bedeuten würde, Carrhoene zu übertreffen – ich selbst bin schon mehr als einmal in den Zwölf Städten eingefallen; aber der muß schon ein trefflicher Kletterer sein, dem es gelingt, den Berg von Briella zu übersteigen.« »Die Hauptmänner von Carrhoene...«, begann Airar. Aber bevor er fortfahren konnte, etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen oder sich selbst wieder in das Licht der Bescheidenheit zurückzusetzen, hatte sich der riesige Herzog schon nach vorn gebeugt, um zu sehen, wer denn als nächster auf seinen Kommandostand heraufkommen würde. »Ha!« rief er, als Alsanders Gesicht auf dem Treppenabsatz erschien, trat einen Schritt vor und ergriff mit beiden Händen die Hände des Carrhoeners. »Da kommt einer, den braucht ihr mir wahrlich nicht vorzustellen! Holla, altes Knochengerippe, haben wir nicht schon so manchen Hieb miteinander aus getauscht? Doch ich bin wirklich glücklicher darüber, dich auf meiner Seite zu sehen als auf der des Feindes. Wo ist Alcides? Der alte Halunke schuldet mir noch ein gutes Schiff, das er mir damals mit einem seiner Tricks abjagte.« »Die verdammten Vulkinger haben ihn auf dem Gewissen.« Zum zweitenmal wurde Airar überrascht Zeuge, daß ein carrhoenischer Hauptmann Gefühle zeigte. Doch jetzt begrüßten sich alle untereinander, und auf Deck herrschte hektisches Treiben, als die Segel wieder gesetzt wurden. Doch bevor die Schiffe in See stachen, schallte ein Ruf von einem der anderen Schiffe herüber, dann folgte ein ebensolcher Schrei aus ihrem eigenen Ausguck. Als Airars Blick
den ausgestreckten Armen folgte, sah er weit hinten auf dem Vällingsveden, da, wo der Fluß hinter einer Biegung zwischen den Trauerweiden auftauchte, eine große Anzahl schwarzer Pünktchen, die sich auf dem Wasser bewegten. »Da haben wir nochmal Glück gehabt«, murmelte Alsander mit nachdenklicher Miene. »Muß ein verdammt guter Heerführer sein, der diese Tercia kommandiert – wer hat schon jemals die Vulkinger auf dem Wasser gesehen?« »Ich jedenfalls nicht«, meinte Mikalegon. »Aber gleich wirst du sogar in den Genuß kommen, welche schwimmen zu sehen; wollen wir ihnen doch gleich mal vor Augen führen, auf wessen Element sie sich da begeben haben. Schiffmeister, ho! Steuert die Ruderboote dort an, sofern der Wind es erlaubt, und laßt die Katapulte schußbereit machen!« Jemand schrie: »Ruder hart steuerbord!« Die Segel klatschten gegen den Mast, und das Schiff drehte sich herum; doch als es den neuen Kurs einschlug, war klar, daß der Kommandeur der Ruderboote schon die Gefahr entdeckt hatte, in der er schwebte; denn die Boote steuerten rasch das Ufer an. Herzog Mikalegon stampfte wütend mit dem Fuß auf die Deckplanken. »Nun zahlen wir für das Glück, das wir hatten, mit Pech!« schrie er. »Dies ist das Ende unseres Raubzugs! Sie wissen bereits von uns in Lectis Minima, und ich bezweifle, daß wir Smarnaravida erreichen, bevor sie auch dort von unserem Kommen Wind bekommen. Schiffmeister, nehmt Kurs auf die Heimat – und Ihr, meine Herren, folgt mir bitte und laßt Euch zeigen, was ich meine.«
24 Die See des Nordens: Ein Band wird zerrissen Mikalegon öffnete unterhalb der Treppe zum Achterschiff eine Tür, die so niedrig war, daß selbst Alsander, der viel kleiner war als der Herzog oder Airar, sich bücken mußte, um sich beim Eintreten nicht den Kopf zu stoßen. Sie traten in eine Kabine, die sich über die gesamte Breite des Schiffes erstreckte, mit Fensteröffnungen in den Wänden, unter denen sich Betten befanden. Ein Haufen Zeug rutschte polternd über das Deck, als das Schiff begann, auf den Wellen des offenen Meeres zu schaukeln. Herzog Mikalegon zog den Kopf ein, um sich nicht am Dachbalken des Oberdecks zu stoßen, und klopfte an eine weitere Tür, wobei er »Los, aufstehen!« rief. Airar hörte keine Antwort; aber der Herr von Os Erigu schien doch etwas gehört zu haben, denn er öffnete die Tür mit einem Schwung. Airar, der hinter Rogai und den Carrhoenern stand, die sich in der Türöffnung drängten, reckte sich auf die Zehenspitzen und versuchte einen Blick über ihre Schultern ins Innere der Kabine zu erhaschen. Im Licht, das aus dem Heckfenster in den Raum fiel, glaubte er, einen Fetzen bunten Stoffs zu sehen. Mikalegon trat einen Schritt zur Seite, machte eine Verbeugung und streckte den Arm aus wie ein Schaubudenbesitzer: »Der Seeadler ernährt sich von goldenen Fasanen, oh-ho-ho-ho-ho-ho! Heda! Runter auf die Knie, ihr gesetzlosen Hunde! Wißt ihr nicht, wie ihr euch gegenüber der höchst erhabenen Prinzessin Aurea, der Prinzessin des Kaiserreiches, zu benehmen habt?«
Airar sah aus dem Augenwinkel eine große blonde Frau mit stolz geschwungenen Lippen und einem Gewand in Grün und Gold; auf ihrem kunstvoll getürmten, golden schimmernden Haar steckte ein zierlicher Reif aus Rotgold. Die Farbe ihrer Lippen war nicht ihre natürliche, dennoch drückte ihr Mund soviel von der alten kaiserlichen Ehrwürdigkeit aus, daß Alsander langsam auf ein Knie sank, gefolgt von Pleiander und den anderen, so daß Airar, wollte er nicht plump und bäurisch wirken, gar keine andere Wahl hatte, als ihrem Beispiel zu folgen. Ihr Lachen klang hell wie eine Glocke, und in ihrer Stimme schwang ein wenig Spott mit, als sie sagte: »Ich danke Euch für Eure Ehrerbietung. Wenn Ihr es wirklich so meintet, dann würde ich jetzt sagen: die Schwerter gezogen und drauf auf ihn, diesen tollen Eroberer, der sich nicht schämt, Krieg gegen Frauen zu führen! Aber das wäre wohl zuviel verlangt, nicht wahr?« Der große Mann lachte schallend. »Das sollten sie besser nicht tun; oder ist hier unter Euch ein Kämpe des Reiches, der es mit mir aufnimmt? Ich biete ihm ein faires Duell an, Mann gegen Mann, ohne Einmischung von anderen. Aber bevor einer sich dazu entschließt, möge er bedenken, daß er nicht für das Reich kämpft, sondern für die Braut von Graf Vulk dem Vierzehnten dem Unvernünftigen. Doch genug des Plauderns! Diese Plänkeleien fressen nur unsere Zeit auf und sollten von Tafelsängern dirigiert werden. Kommt, meine Täubchen – macht einen kleinen Spaziergang an Deck, dieweil ich mich ein bißchen mit diesen Herrschaften unterhalte.« »Welch schnöde Manieren, Damen so herumzu-
kommandieren«, rief die blonde Frau wütend und stampfte mit dem Fuß auf als wolle sie in eine Schimpftirade ausbrechen. Aber der Herzog griff sie fest beim Arm, und Airar hörte gar nicht mehr hin, was die beiden noch miteinander redeten. Er war inzwischen, wie die anderen auch, wieder aufgestanden, und als der Herzog mehrere Frauen erwähnte, reckte er neugierig den Hals vor – und da blieb ihm der Atem stehen: Noch eine Frau befand sich in der Kabine; sie stand neben der Prinzessin. Und als er sie sah, da wußte er im selben Augenblick, daß er dieser Frau sein ganzes Leben lang folgen würde. Gleichzeitig durchfuhr ihn wie ein Stich der Gedanke daß er damit Gython und das Ideal seines Lebens betrog, und doch – auch wenn er allem untreu wurde –, er konnte nicht leugnen, daß diese Frau für immer die Hoffnung seines Lebens sein würde... Sie war nicht zu groß und auch nicht zu klein; über Augen, deren Farbe er nicht erkennen konnte, schwangen sich Brauen, die vielleicht der allerletzten Vollkommenheit entbehrten; sie hatte eine fein geschwungene schmale Nase, ein ebenmäßiges Kinn – nein, nein, kann man die Form des Blitzes in Worte fassen? Ein Lied ging ihm durch den Kopf: Wir träumten voneinander Und sind davon erwacht, Wir leben, um uns zu lieben, Und sinken zurück in die Nacht. Oh, ja, ja und abermals ja! Hätte die Herausforderung des Herzogs ihr gegolten, wie leicht wäre es gewesen, gegen ihn und sein Schiff zu kämpfen, ja gegen seine
ganze Flotte! Wenn sie gar die Frau wäre, die nach Briella reiste, um den Grafen der Vulkinger zu befreien, dann wäre es Zeit, ganz Dalekarlien fallenzulassen und sich ihnen anzuschließen, um ihr dienen zu können. »Miiiau!« schrie das Kätzchen aus der Tasche an seinem Gürtel. Während sie an ihm vorbeiging, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm herum. »Oh, ein Kätzchen! Darf ich es einmal sehen?« Wie in Trance öffnete Airar das Schloß seiner Tasche. Das einzige, dessen er sich in diesem Moment bewußt war, war der betörende Duft, den ihre Nähe ausströmte. Das kleine verängstigte Tier entschlüpfte seiner Hand mit vorgestreckten Krallen; es huschte auch über ihre Hand hinweg und war mit einem Satz auf dem nackten Arm Evadnes, wo es versuchte, sich festzukrallen. »Phlegeos!« schrie die Carrhoenerin und fuchtelte wild mit dem Arm, um das Tier abzuschütteln. Mit einem dumpfen Schlag prallte das Kätzchen gegen einen Balken. Evadne hielt sich fluchend ihren zerkratzten Arm, während Airar mit einem Satz bei dem am Boden liegenden Tier war. Er merkte gar nicht, daß ein Kopf mit hellbraunem Haar ganz dicht bei seinem war, als er das arme Tierchen aufhob, das noch zweimal zuckte, bevor es in seiner Hand erschlaffte. Ein Vorhang von Tränen senkte sich über seine Augen; das Mädchen neben ihm stieß einen tonlosen Schrei aus, und von hinten sagte Herzog Mikalegon: »Edler Herr, es tut mir aufrichtig leid, daß Ihr Euer Kosetierchen durch einen unglücklichen Zufall in
meiner Kabine verliert; aber weder Mäuse noch Menschen sind unsterblich, und jetzt bitte ich Euch zu kommen, denn wir haben Männerarbeit zu verrichten.« »Das war kein unglücklicher Zufall!« schrie Airar zornbebend. »Das war klare Absicht, und ich fordere Genugtuung!« Seine Hand fuhr zum Dolch; er bemerkte kaum, daß Herzog Mikalegon unwillig die Stirn runzelte. Da griff der Zauberer Meliboë ein: »Es geht hier um mehr als den Tod eines Kätzchens, mein Herr. Das Tier ist in gewisser Hinsicht Meister Airars Talisman und Feldzeichen, und seine Männer ziehen mit dem Kopf einer großen Katze als Banner in die Schlacht. Und so bedeutet der Verlust der kleinen Katze nicht nur ein böses Omen, sondern ist auch als eine Verächtlichmachung seines Banners anzusehen.« »Ha! Wenn das so ist, dann muß der Schaden wiedergutgemacht werden.« Der Herzog sprang hinter einen Tisch, der am Boden befestigt war, und hieb mit der Faust auf die Platte, um sich Gehör zu verschaffen. »Hier ist mein Urteil: Du, Evander von Carrhoene, sollst ein volles Schuldbekenntnis ablegen und Wiedergutmachung in der Höhe zahlen, wie Meister Airar sie festzusetzen für richtig erachtet; darüber hinaus sollst du, da es sich hier um einen höheren, einen moralischen Wert handelt, deine Fahne vor der Katzenstandarte von Trangsted senken; denn er ist von hoher Herkunft und du nicht. Oder, wenn Meister Airar hiermit nicht einverstanden ist, sollen beide Parteien ihre Waffen ergreifen und ihren Streit, gemäß der Regeln der freien Gesellschaft von Os Erigu, an Bord dieses Schiffes ausfechten, bis einer der bei-
den verwundet zu Boden sinkt; doch danach sollen sich alle die Hände reichen und wieder gute Freunde sein.« »Ihr seid ein wenig vorschnell mit Euren Urteilen, Herzog Mikalegon«, sagte Pleiander. »Wer gab Euch die Befugnis, über uns zu Gericht zu sitzen?« »Keiner, um ehrlich zu sein. Alle unter den freien Bünden von Os Erigu haben das Recht, ihre eigenen Wege zu gehen. Wollt Ihr das? Ich lasse sofort das Beiboot klarmachen und Euch wieder dort an Land setzen, wo wir Euch aufgenommen haben.« Pleianders Augen blitzten, als wollte er dem Herzog jeden Moment an die Gurgel fahren; Evadne schaute nicht anders drein, doch keiner von beiden gab eine Erwiderung. Evimenes holte ein Tuch aus der Tasche und tupfte damit den Arm seiner Schwester ab; das half jedoch nicht viel, denn die Kratzer waren tief und bluteten stark. »Ich will keine Wiedergutmachung«, sagte Airar und rieb sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. »Dies ist etwas, was man mit Geld nicht bereinigen kann.« Er streckte seine Hand aus, um sich mit Alsander zu versöhnen. Evadne jedoch ließ ihre unten, und auch er bot ihr nicht die Hand zur Versöhnung, denn er hatte das Gefühl, daß er, wenn er ihre Hand berührte, entweder laut schreien mußte oder ihr seinen Dolch in die Brust stoßen, um den Frieden wieder zu brechen. Danach wurde Rat abgehalten; das reflektierte Licht des Wassers huschte unter dem Schwanken des Schiffes gespenstisch an der Decke hin und her. Die Männer erzählten jetzt nach und nach ihre ganze Geschichte, und Herzog Mikalegon lauschte gespannt, während der Faden von den Männern der Reihe nach
weitergesponnen wurde, wobei sich die Gemüter ein wenig abkühlten, als jeder wieder an die Hilfe dachte, die der andere ihm in der Not hatte zukommen lassen. Der Herr von Os Erigu blieb dabei ruhiger, als man bei einem Mann seines Temperaments erwartet hätte, und als sie fertig waren, sagte er: »Damit Ihr wißt, was alles so in der Welt passiert, will ich Euch jetzt erzählen, wie diese Frauen an Bord kamen: Also, wir brachen zu einem Raubzug auf, in der Hoffnung, ein paar der Handelsschiffe kapern zu können, die flußaufwärts nach Briella segeln. Nun, wie wir so an den Vorgebirgen, die Lectis Minima abschirmen, vorbeisegeln, was entdecken wir da? Ein großes Schiff, das vor der windabgewandten Seite eines der Vorgebirge mit schlaffen Segeln in einer Flaute steckt. Und siehe da – es trägt die kaiserliche Standarte. Ich rudere also hinüber, um meine Aufwartung zu machen, aber der Schiffmeister, ein bösartiger Spitzbube mit einem Silberblick, schreit, ich soll machen, daß ich fortkomme, und hebt einen Stein auf, um mir ein Loch in den Boden meiner Schaluppe zu schmeißen. Nun, so benimmt man sich nicht in den Gewässern, in denen Mikalegon von Os Erigu herrscht. Einer meiner Männer schießt ihm mit der Armbrust einen Pfeil durch die Schulter, um ihm Manieren beizubringen, und ich gehe an Bord, gefolgt von ein paar meiner beherztesten Männer. Kaum sind wir auf Deck, als auch schon eine Panik ausbricht, als sei ein Habicht in den Hühnerstall eingefallen. Statt wieder vom Schiff zu verschwinden, nehme ich mir also vor, mich ein wenig umzusehen. Kurz darauf entdecke ich diese zwei Täubchen und ihren Bruder – wie heißt er doch gleich?«
»Prinz Aurareus«, rief einer der Offiziere des Herzogs. »Ich nenne ihn Hübschkerlchen. Er ist ziemlich vorlaut. Nun, kaum erblickte ich ihn also, als ein Geheule und Gejammere losgeht, ein kaiserliches Schiff mit Mitgliedern der Familie an Bord sei nicht verpflichtet, mir das Losungswort zu geben. Auch wenn wir uns in Os Erigu nicht viel aus dem Haus der Argimeniden machen, so achten wir doch den Frieden des Reiches, und ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß ich kein Interesse daran habe, Stassia irgendwelchen Schaden zuzufügen; aber trotzdem verlange ich eine Erklärung dafür, warum sie so darauf bedacht waren, uns auf Distanz zu halten. Hübschkerlchen schweigt sich jedoch darüber aus und so gehen wir denn zurück zum Schiffmeister, und eine Bogensehne, die wir ihm als Schlinge um den Hals legen, überzeugt ihn schnell, daß es besser ist, vernünftig zu sein und auszupacken. Er erzählt uns, daß diese Prinzessin Aurea dem Grafen Vulk vermählt werden soll. Daher gehört sie diesem, nicht dem Reich; und so bringe ich das Schiff und seine Ladung in meine Gewalt. Mögen sich die Juristen über diesen Punkt den Kopf zerbrechen! Ich scher' mich erst darum, wenn Vulk seine Braut und den Frieden einklagt.« Airar schluckte einmal und fragte: »Wer ist die andere?« »Welche andere? Ach, die kleinere, die Euch so gut zu gefallen scheint, weil Ihr sie so anstarrt! Sie ist die jüngere Schwester: Argyra. Doch seid auf der Hut; sie ist eingebildet und zänkisch wie alle Argimeniden; hat eine Heirat mit einem der größten Herren der Zwölf Städte ausgeschlagen. Das ist auch der Grund,
warum sie hierhergeschickt wurde – in der Hoffnung, daß sie vielleicht einen der vulkingischen Barone heiratet; sie glaubt, damit ihre Familie kränken zu können, und dabei ist es genau das, was sie wünschen. Was bin ich froh, daß ich keine Tochter habe! So, aber nun kennt ihr die Geschichte und ahnt, daß da irgendein Geheimnis im trüben Wasser verborgen ist, vielleicht kann einer von euch die Perlenauster auf dem Grund erkennen.« »Wo soll denn da ein Geheimnis liegen?« fragte Alsander. »Mir scheint das eine ganz klare und offenkundige Geschichte zu sein.« »Nein, altes Knochengerippe, das könnt Ihr einem kleinen Kind erzählen, aber nicht Eurem alten Feind. Ihr wißt ebensogut wie ich, daß es mehr als merkwürdig ist, wenn der große Graf Vulk nicht einmal einen Geleitschutz für ein Schiff aufbietet, das ihm seine kaiserliche Braut bringt.« Alsander schlug die Augen nieder, und seine langen schwarzen Wimpern wölbten sich über seine Wangen. Es war Meliboë der Zauberer, der das Wort ergriff: »Ich kann Euch den Grund dafür nennen.« »Dann sprecht, alter Mann. Pest und Schwefel! Wenn ich so einen Bart hätte wie Ihr, dann würde ich ihn färben, um wenigstens den Anschein von Leben zu erwecken. Was sagt denn Eure Frau dazu, wenn Ihr Euch zu ihr ins Bett legt?« »Es gibt Leute, die der Ansicht sind, weißes Haar sei ein Zeichen von Weisheit... aber um wieder zum Thema zurückzukommen: Folgendes interessiert mich – wer ist der Kanzler dieses Vulk, der so unvernünftig ist, daß man ihm dies sogar in seinem Beinamen bestätigt?«
»Der Marschall, Bordvin Wildfang, falls sie nicht schon wieder einen neuen haben.« »Die Vulks werden doch in die Grafenwürde hineingewählt, ist es nicht so?« »So wird es uns glaubhaft versichert.« »Gut. Nehmen wir einmal an, Vulk heiratet diese stolze blonde Frau.« »Schön; ich nehme es also einmal an. Und? Was dann?« »Der nächste in der Linie der Nachfolgerschaft unseres lieben Prinzen und Kaisers Auraris ist...« Der Herzog schnippte mit den Fingern. »Hübschkerlchen Naseweis, Prinz Aurareus!« »Ist es wahrscheinlich, daß er Nachkommenschaft hinterläßt oder gar bequem auf dem Thron zwischen den hitzköpfigen Herren von Scroby sitzt?« »Hohoho! Jetzt wird mir klar, worauf Ihr hinauswollt! Aurea und ihr Mann als rechtmäßige Thronerben des Kaiserreichs! Nun ist alles klar. Ihr glaubt also, Marschall Bordvin wollte sie mir in die Hände spielen, wie es ja auch tatsächlich geschehen ist, um sicherzugehen, daß zwischen ihm und dem Titel eines Vulk des Fünfzehnten keine kaiserliche Würde im Wege steht? Aber ist das nicht ein bißchen langwierig? Schließlich ist Hübschkerlchen bei bester Gesundheit.« »Ja, und dann hat man ihn zusammen mit seinen Schwestern an den Hof Vulks des Unvernünftigen geschickt. Wie schrecklich, wenn ihm dort so ganz zufällig ein Unfall passierte...« »Was also heißt, daß unser lieber Kaiser Auraris gern einen Vulkinger als Nachfolger sähe.« Alsander räusperte sich. »Oder daß die Fürsten des
Reiches die Argimeniden gern in eine Seitenlinie abdrängen und die wahre Macht an sich reißen wollen. Gibt es da nicht einen leiblichen Vetter oder so etwas ähnliches?« Mikalegon hieb erneut mit der Faust auf den Tisch. »Fassen wir mal die klaren Tatsachen in dieser undurchsichtigen Sache zusammen: Vulk strebt danach, Kaiser zu werden, Bordvin ist darauf erpicht, Vulk zu werden, und der Kaiser ist daran interessiert, einen Degen in die Hand zu bekommen, der den Frieden der Quelle in seinem Haus und Herrschaftsbereich garantiert, was auch immer Dzik oder die Zwölf Städte wieder ausbrüten mögen. Aber wir haben die entscheidende Figur in diesem Schachspiel in der Hand; und es heißt: Schach mit der Königin, hahaha! Aber Ihr Herren von Dalekarlien, was sind eigentlich Eure Interessen in diesem Spiel?« »Befreiung von den Vulkingern!« rief Rogai, und Airar nickte; dabei sah er aus dem Augenwinkel, wie über Meliboës Lippen ein Zucken lief. »Das wünschen wir alle«, erwiderte der Herzog. »Aber was wäre mit Carrhoene, wenn ein vulkingischer Prinz im Palast von Stassia regierte und den Anspruch erhebt, Herr der Zwölf Städte zu sein, und keine Söhne der Quelle würden ihn mehr im Zaum halten?« »Ich bin nicht der Auffassung, daß Ihr oder wir uns jetzt darüber den Kopf zerbrechen sollten«, sagte Evadne. »Sogar die stinkenden Hunde von der Volkspartei...« »Ha, die sind die ersten, die Hurra schreien!« polterte der Herzog. »Diese Vulkinger tun doch genau das, was den stinkenden Hunden vorschwebt; sie re-
gieren als Partei des gesamten Volkes; erbliche Adelstitel sind ausgeschlossen, und jeder kleine Baron oder Verwalter muß sich pausenlos seine Amtswürde vom Grafen selbst und vom Rat bestätigen lassen. Nein, nein, Ihr Brüder des Schwertes, Ihr steckt tiefer in dieser verwickelten Sache als die Dalekarlier; sie brauchen sich bloß von Vulk als einzelner Person zu befreien, für Euch aber gilt es, alle Vulkinger und die Grundsätze, nach denen sie herrschen und leben, mit Stumpf und Stiel auszurotten.« Wieder warf Meliboë Airar einen Blick zu, der zu sagen schien dies sei wieder die Wahl zwischen Briella und Carrhoene, nur mit anderen Worten, aber niemand fühlte sich bemüßigt, noch etwas zu dem Thema zu sagen. »Bah!« sagte der Herzog nach einer kurzen Pause des Schweigens, »diese Politik entkräftet einen Mann mehr als eine Schlacht; und die Schlacht ist es, mit der wir uns jetzt befassen müssen. Alter Mann, wie ich hörte, habt Ihr irgendeinen Posten im Rat unserer Feinde innegehabt. Glaubt Ihr, daß sie den Versuch unternehmen, unsere Burg von Os Erigu zu erstürmen?« »Wenn es nach Vulks Vorstellungen geht – ja. Wenn es nach den Vorstellungen des Marschalls geht – nein. Aber das ist jetzt eine müßige Frage. Indem Ihr Vulk die Braut gestohlen habt, habt Ihr ihn tief in seiner Ehre gekränkt, und damit ist der Konflikt unausweichlich geworden.« Der Zauberer trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Bordvin ist weniger ehrgeizig, was seine eigene Person betrifft; ihm geht es vor allem um die ganze Rasse – aber vielleicht ist es auch genau andersherum; ich weiß es nicht genau. Darüber wurde oft debattiert im Lyzeum von
Briella, bevor Vulk der Unvernünftige sein Dekret gegen die Magie erließ und uns die Türen schloß. Bordvins Traum ist es, alles im Namen der Vulkinger zu erobern, Salmonessa und die Zwölf Städte eingeschlossen, während Vulk davon träumt, alles im Namen des Kaiserreiches an sich zu reißen und sich schließlich des Reiches selbst zu bemächtigen. Und so, wie die Dinge ausschauen, habt Ihr in bewundernswerter Manier das Kunststück fertiggebracht, beide zugleich in trautem Verein gegen Euch aufzubringen; denn Vulks ganzer Plan, sich des Reiches zu bemächtigen, hängt nun davon ab, daß er seine Prinzessin so schnell wie möglich wiederbekommt, während es Bordvin völlig klar ist, daß er keine großen Kriege riskieren wird, solange in seinem Rücken in Os Erigu solch bekannte Unruhestifter sitzen wie diese jungen Herren aus Dalekarlien und die Sternenhauptmänner von Carrhoene, ganz zu schweigen von meiner Wenigkeit, einem armen Doktor der Philosophie, der sich auch ein bißchen auf die Magie versteht.« Mikalegons Augenbrauen hatten in der Anstrengung, Meliboës Gedanken zu folgen, die ganze Zeit über gezuckt. Als der Doktor seinen Diskurs beendet hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge zu einem erwartungsvollen Lächeln. »Ah, richtig, ich hatte ja ganz vergessen, daß Ihr ein erfahrener Zauberer und Wahrsager seid! Sagt mir meine Zukunft voraus – ich habe sie mir erst einmal weissagen lassen, von einer angeblichen Hexe in Lectis Minima; ich ging verkleidet zu ihr. Sie erklärte mir, ich sei ein Wollhändler und würde mein Glück machen, wenn ich gewebte Stoffe verkaufte, was natürlich von vorne bis hinten
zusammengelogen war.« Meliboë zupfte an seinem Bart. »Mein Herr, das Schicksal, welches uns einst alle erwartet, ist der Tod; was nützt es uns zu wissen, auf welche Weise er uns ereilt, wenn wir ihm doch nicht entrinnen können?« »Nein, nein, so kommt Ihr mir nicht davon. Sagt mir den Ausgang dieses Krieges voraus, in dem wir uns befinden, und ob es für einen wie mich, der nicht von der Einhornquelle trinken darf, dennoch Frieden und ein schönes Leben geben kann.« »Wollt Ihr, daß es vor allen Anwesenden geschieht?« »Es ist mein Wille.« Die eisgrauen Brauen Meliboës zuckten einmal mißbilligend, doch dann holte e r aus seinem i n kleine Fächer abgeteilten Beutel je eine Prise bunter Pülverchen hervor, streute sie auf den Tisch mischte sie sorgfältig, hieß Herzog Mikalegon, mit seinem eigenen Feuerstein u n d Stahl einen Funken schlagen, während er selbst das Pentagramm um das Häufchen herum malte. Dann holte er sein Zauberbuch hervor und begann bestimmte magische Sprüche zu rezitieren. Airar sah gespannt zu; es war der Form nach die große Weissagung, das wußte er sofort, auch wenn er sie noch nie zuvor einen Meisterzauberer hatte vollziehen sehen. Als der Funke aus dem Feuerstein das Pulverhäufchen entflammte, stieg aus ihm ein dünner Rauchfaden schlangengleich empor, der sich, statt sich in Luft aufzulösen, direkt über ihren Köpfen zu einer grauen Wolke verdichtete, die bewegungslos über ihnen hing, während alle, die sich in der Kabine befanden, im Rhythmus der Wogen, auf denen das Schiff ritt, unter der Wolke langsam hin und her schwankten.
»Amador, volador, amblysecton«, sprach Meliboë leise, und während alle wie gebannt auf die Wolke starrten, begann sie durchsichtig zu werden, so als koche sie in ihrem Innern; doch dann verdichtete sie sich sogleich wieder, bis in ihrem Zentrum ein Gebilde erschien, das aussah wie ein Luftschloß, das auf einem Kissen aus Wolken gebettet war. Das Wolkenkissen verwandelte sich in ein Meer; weiße Gischt umbrandete den Fuß des Märchenschlosses. Und dann schien es plötzlich, als bewegte sich das Schloß oder als näherten sich die Betrachter vom Wasser aus auf einem schwankenden Boot. Sie kamen näher und glitten an dem Schloß vorbei. War es Nacht? Fiel das düstere Zwielicht auf Turm und Schloßwall? Aus den schmalen Fenstern hoch oben im Turm drang Licht, so als fände im Innern ein rauschendes Gelage statt. Doch auf den Brückenbögen, die zum Tor führten, herrschte Totenstille; kein fröhliches Kommen und Gehen lärmender Gäste, wie es bei einem Gelage der Fall war. Doch dann, während sie alle gebannt auf die erleuchteten Fenster starrten, brach plötzlich Licht aus ihnen hervor... doch es war kein Licht, sondern die gleißend lodernden Zungen tödlicher Flammen, die den Beobachtern ein jähes Keuchen entrangen. Fenster um Fenster zerbrach tonlos klirrend, als die Feuerzungen hervorschossen, um sich in einem todbringenden Meer heulender Furien zu vereinigen! Das Dach eines Turmes brach lautlos in sich zusammen, und ein heftiger Wutschrei kam über die Lippen des Herrn von Os Erigu, so daß alle erschreckt zusammenfuhren, aber Meliboë bedeutete ihm mit einer knappen Geste zu schweigen und fuhr fort: »Eperuatorion modocaccus!« Das dem Untergang
geweihte Schloß verschwamm in einem Wirbel im Zentrum der Wolke, die wieder durchsichtig wurde. Und gleich darauf leuchtete in ihrem Innern ein so gleißend helles Licht auf, daß das Auge es kaum zu ertragen vermochte. Airar schien es, als blickte er aus der Perspektive eines am Boden Knienden in einen langen Flur. Der Boden war aus weißem und schwarzem Marmor; weiter hinten sah er die Säume wallender Gewänder und die Schuhe von Männern; dann fiel sein Blick auf reichverzierte Säulenfüße. Schließlich veränderte sich der Blickwinkel; ein kleines Männlein schritt über den kostbaren Marmorboden; es war Mikalegon von Os Erigu. Er schritt stolz und gemessen dahin wie ein Prinz; er trug pflaumenfarbene Beinkleider, eine goldene Rüstung und darüber einen langen weißen Mantel, auf dem sein Emblem, der schwarze Seeadler, prangte. An seinem Gürtel hing ein langes Schwert. Es fiel auf, daß sein Haar nicht pechschwarz war wie jetzt, sondern von grauen Fäden durchzogen war. Zur Linken und Rechten wichen Frauen und Männer ehrfurchtsvoll vor ihm zurück, als er voranschritt. Airars Blick folgte ihm, bis er die Stufen erreichte, die zu einem Thronsessel führten. Er sank auf ein Knie herab und verneigte sich. Wieder änderte sich der Blickwinkel, und man sah, daß der Herzog eine goldene Krone auf dem Haupte trug. Für einen Augenblick schien es Airar, als käme ihm das Gesicht der Königin, die auf dem Thron saß, bekannt vor: Es war Prinzessin Argyra – oder nein, war es nicht die dunkle Evadne? Doch dann verschwamm die ganze Szene wieder, die Wolke löste sich in Luft auf, und Herzog Mikalegon polterte: »Ist das Eure Weissagung? Da könnte ich selbst wahrlich
eine bessere machen!« In der Kabine hing ein Geruch, als ob etwas Totes langsam verrottete; er bereitete Übelkeit und machte gleichzeitig schwach – eine Schwäche, die man so lange ertragen mußte, bis einen der Tod davon erlöste. Der Zauberer zuckte die Achseln und blies eine kleine Staubwolke vom Tisch. »Es besteht keinerlei Verpflichtung, einem solchen Weg zu folgen; der Wille bleibt frei. Ich habe Euch lediglich den günstigsten aller möglichen Wege gezeigt; alle anderen führen zu einem weniger vergnüglichen Ende. Ich fühle mich schwach; habt Ihr etwas zu trinken?« »Der Mann, vor dem ich auf die Knie falle, muß erst noch geboren werden«, dröhnte Mikalegon, »und bevor jemand Os Erigu verbrennt, muß er zuvor die Köpfe meiner eigenen Männer und die der Freibündler einschlagen. Doch Schluß jetzt mit diesem Kinderkram! Laßt uns lieber über das reden, was jetzt zu tun ist. Sie werden also losschlagen – aber wer, und in welcher Stärke? Mehr als das brauchen wir nicht zu wissen, um das Morgen zu bestehen, nicht wahr, altes Knochengerippe?« gab er die Frage an Alsander von Carrhoene weiter, und der antwortete: »Ein klares Bild. Das ist alles, was man braucht, wenn man Krieg führen will.« »Die vierte Tercia bestimmt«, fuhr Mikalegon laut nachdenkend fort. »Sie liegt in Stavorna und ist Graf Vulk direkt unterstellt. Darauf zähle ich; wir können uns in offener Schlacht mit ihr messen. Aber was ist mit der achten, die in den Kastellen von Norby lag und überall in Shalland und den Tälern verstreut war? Geht Marschall Bordvins Einfluß so weit, daß er sie von diesem geplanten Angriff zurückhalten kann?
Soll diese neugebildete zwölfte Tercia sie ersetzen, oder hat man sie aufgestellt, damit sie irgendeine Überseeoperation im Süden durchführt? Wir wären weit besser dran, wenn wir diese Fragen beantworten könnten.« »Ich weiß einen sicheren Weg, wie wir das herauskriegen können«, warf Airar in die Debatte ein. »In der Schlacht an der Straße, von der wir Euch schon erzählten, haben wir drei Mann gefangengenommen, die zu dieser neugebildeten zwölften Tercia gehörten. Holen wir sie und fragen sie aus; ich habe schon so manches Mal festgestellt, daß solche Männer klüger sind als ihre Anführer.« Doch da meldete sich Alsander zu Wort: »Was die drei Männer anbetrifft, Meister Airar – wir haben sie nicht mehr bei uns. Ich habe sie töten lassen, als wir von Gäspelnith aufbrachen, aus Angst, sie könnten uns auf dem Gewaltmarsch, der uns bevorstand, entkommen und uns verraten.« »Was wieder einmal ein Beweis dafür ist, daß man nicht einmal einen Kupferaina wegwerfen sollte; er könnte das Eintrittsgeld an der Pforte zum Himmel sein«, murrte Herzog Mikalegon. »So, nun laßt uns zu Tische gehen; unser Problem ist im Moment ohnehin nicht zu lösen, und der alte Hexenmeister schläft auf seinem Stuhl.« Airar sagte überhaupt nichts. Alsander schwieg ebenfalls; und Alsander war der Beste von ihnen.
25 Die See des Nordens: Die dritte Mär von der Quelle Wo die Planken der Skoronärschiffe von Gentebbi mit lautem Knarren durch die Fluten pflügten, da sangen diese. Airar lauschte ihrem dröhnenden Baß, der den Boden unter ihm zum Vibrieren brachte. Weiße Fontänen schossen in hohem Bogen unter dem Bug hervor und ergossen sich in schäumender Gischt, in der sich die Strahlen der Sonne in hundert Farben brachen, in die smaragdgrüne See. Über ihm bauschte sich das rote Segel prall im Winde. »Es ist hart, wenn man einen Freund verliert«, sagte sie, »aber was ist das schon für ein Freund, den Ihr da verloren habt? Ein körperliches Gegenüber – mehr nicht. Oder war es die Liebe eines Freundes, die Ihr erwidertet? War es das erstere, nun, dann können alle Tränen es nicht zurückbringen; war es aber das letztere dann ist es meiner Meinung nach nicht verloren; denn Liebe verliert man nur, wenn man sich selbst betrügt.« »Ich danke Euch, gnädigste Dame«, antwortete Airar. »Ihr seid sehr freundlich.« (Und schön, so schön, schrie er in Gedanken hinaus; es bereitete ihm fast körperlichen Schmerz, sie in seiner Nähe zu spüren.) »Oh, wenn Ihr den Galan spielen wollt, dann macht besser meiner Schwester Aurea Eure Aufwartung. Sie liebt das kunstvoll gedrechselte Wort und die galante Sprache des Hofes; ich jedoch wuchs bei den Bauern in den Hügeln von Scroby auf und ziehe den offenen, ehrlichen Tonfall vor.«
»Nun, es ist nicht so sehr der Verlust des kleinen Tieres selbst, der mich schmerzt, sondern die Art und Weise, wie er zustande kam. Ich hätte das Kätzchen doch besser einer der Frauen in Shalland geben sollen. Oh, Ihr sagt, Ihr wäret bei den Bauern aufgewachsen; ich wurde sogar dort geboren, und in unserem Land würden wir ein kleines, unschuldiges Tier nie so behandeln... Und dann ist da noch die Sache mit dem Glücksbringer und Banner, wovon der Zauberer Meliboë gesprochen hat. Die Zauberkunst, über die ich verfüge, geht nicht so weit, daß sie mir sagen könnte, was für eine Bedeutung das alles haben mag.« Sie ließ ihn zu Ende sprechen. »Ich wollte nichts von Eurer Zauberkunst wissen. Sie ist uns vom Herrscherhaus gemäß den Gesetzen der Quelle verboten. Ihr wolltet sagen, daß das, was die Carrhoenerin tat, rücksichtslos und grausam war.« »Ja, so etwas ähnliches... Sagt doch, schöne Frau, wenn Ihr die Freundlichkeit besitzt: Was hält man von diesen Sternenhauptmännern aus der Sicht von Stassia?« »Oh, sie sind gewiß die größten Feldherren und Kämpen, die je gelebt haben; aber sie sind auch als Unruhestifter bekannt. Das jedoch nicht aus unserer Zeit, sondern aus dem Silbernen Zeitalter, als die Heiden noch das Land verwüsteten. Wir sind mehr für die Volkspartei, die an die Quelle und die Söhne der Quelle glauben... Dieser Ansicht ist zumindest mein Vater.« Das Schiff hob sich sanft über einer Welle, und ihre Schulter berührte ganz leicht die seinige unter den glitzernden Strahlen der Sonne; und obwohl es ziem-
lich kühl war, spürte er eine Woge von Wärme von Kopf bis Fuß durch seinen Körper branden. Aber sie war eine Prinzessin, das durfte er nicht vergessen! Er tat einen winzigen Schritt zur Seite, dachte einen Augenblick nach und sagte: »Die Quelle, die Quelle und immer wieder die Quelle – darf ich Eurem Ton entnehmen, daß auch sie nicht die Erfüllung all dessen ist, was man sich von ihr verspricht?« Sie kicherte, aber dann wurde ihr Ton wieder ernst. »Wollt Ihr mich ausfragen? Pfui! Euer Geist ist der Uravedus, jenes Landes, aus dem meine Urgroßmutter stammte; ihr Name war Kry, und sie war bäuerlicher als Ihr oder ich, ungeachtet dessen, daß wir beide auf dem Land aufgewachsen sind. Aber da ist ja mein lieber Bruder, wie immer bemüht, mich aus den Händen böser Männer zu befreien, vermute ich.« Airar drehte sich um. Der Prinz schien auf den ersten Blick älter zu sein als er selbst, aber beim näheren Hinsehen konnte man deutlich erkennen, daß er ein Jüngling war, den jedoch Unrast und dicke Tränensäcke frühzeitig hatten welken lassen. Er besaß einen breiten Kiefer unter einem schmalen Kopf und das dunkle Haar von Uravedu; er war ziemlich klein, und selbst hier, an Bord des Schiffes, trug er seinen geckenhaften gelben Hut, der ihn noch weibischer erscheinen ließ, als es ohnehin schon den Eindruck machte. Prinzessin Argyra machte einen Knicks; Airar zog seinen Hut und deutete eine Verbeugung an. Dabei hörte er, wie von hinten, vom Mann an der Ruderpinne, ein paar Laute herüberklangen, die unschwer als Lachen zu erkennen waren. »Darf ich vorstellen«, sagte sie, »Meister Airar von Trangsted in Västmanstad, ein treuer Diener des
Hauses und der Quelle und all dessen, was sonst noch dazugehört.« Prinz Aurareus machte eine weitschweifende Geste, wie ein Feldherr, der eine ganze Legion wegtreten läßt. »Unseren Lehnsdienern gehört immer unsere Aufmerksamkeit«, sprach er in aller Form, und Airar fiel auf, daß er ein klein wenig lispelte. »Schwesterchen, mein Kätzchen, unser guter Freund und Gönner von Os Erigu übermittelt Botschaften, und die Frage ist, was sollen wir sagen? Willst du unserer Schwester deine Aufwartung machen?« Er wandte sich ab, das Mädchen im Schlepptau, dann blieb er stehen, drehte sich wieder um und musterte Airar von Kopf bis Fuß. »Ihr seid ein wohlgebauter junger Mann. Ihr werdet uns gegen Abend in unserer Kabine Eure Aufwartung machen.« »Ihr werdet nicht bestraft, wenn Ihr nicht hingeht«, flüsterte das Mädchen hinter vorgehaltener Hand, streckte ihrem Bruder von hinten die Zunge heraus und eilte ihm hinterher. Airar ging trotzdem, schon aus Neugier, nachdem er zu Abend gegessen hatte. Der Prinz hatte es sich auf einem Kissen bequem gemacht. Der Raum roch stark nach Parfüm von den südlichen Inseln; er war zwar nicht sehr breit, aber doch groß genug, daß er genügend Platz bot für zwei blonde junge Männer mit Muskeln wie Baumästen, die splitterfasernackt einen Ringkampf veranstalteten. Sie standen sich dabei, wie in Stassia üblich, gegenüber: mit lang ausgestreckten Armen, die Finger dabei ineinander verhakt. Als Airar eintrat, klatschte Aurareus in die Hände. »Schluß jetzt«, rief er, »ich erkläre Balinian zum
Sieger mit zwei zu eins Punkten. Und nun laßt uns allein, wir möchten gern mit diesem lieben Jungen aus unserer Provinz Dalekarlien plaudern.« »Ich hätte ihn beim zweitenmal geschlagen, Hoheit«, wandte einer der beiden jungen Männer schmollend ein, »es war nur, weil das Schiff plötzlich so schaukelte. Laßt es mich doch bitte noch ein einzigesmal versuchen.« »Vielleicht morgen. Ich fange an, dieses Sports überdrüssig zu werden.« Der Prinz winkte graziös mit der Hand. Der andere Ringer stieg in seine Kleider, und als Airar ihn anschaute, sah er zu seiner Überraschung einen tiefen Ausdruck grimmigen Hasses auf seinem Gesicht, was ihn sehr verblüffte. Als sie die Kabine verlassen hatten, sagte Prinz Aurareus: »Stellt das Salbölgefäß weg. Wie war doch Euer Name noch gleich, Dalekarlier?« »Airar von Trangsted, Sohn des Alvar – Sir«, antwortete der junge Mann, dem die Art des Prinzen, ihn von oben herab zu behandeln, überhaupt nicht paßte, besonders im Vergleich zu dem ungezwungenen Ton der Sternenhauptmänner oder Mikalegons und sogar Prinzessin Argyras. Aber er führte das auf die gestelzten Manieren im Palast von Stassia zurück und wollte auch nicht als unhöflich erscheinen. »Man merkt sofort, daß Ihr noch nicht am goldenen Hofe wart, sonst wüßtet Ihr, daß Ihr uns mit ›Hoheit‹ anzureden habt; denn wir werden eines Tages Euer Kaiser und Herrscher sein. Welche Kunst beherrscht Ihr, Airar?« »Hoheit, ich kenne mich ein wenig in der Kunst der Magie aus, aber es ist eine Fertigkeit, die ich lieber
nicht anwende.« »Ihr habt recht; außerdem ist sie verboten. Kommt doch einmal näher!« Er faßte Airar beim Arm und drückte mit dem Daumen auf den Bizeps. »Ah, prächtige Muskeln! Ihr könntet glatt Balinian zu Boden werfen, und Garrus auch. Beherrscht Ihr noch eine andere Kunst außer der dunklen?« »Nur das bißchen, das ich von der Kriegskunst kenne, Hoheit.« Das Lächeln des Prinzen sollte freundlich wirken. »Unter zivilisierten Menschen sehen wir das nicht als eine Kunst an, sondern als eine Barbarei, die schöne Menschenkörper vernichtet, die zu viel angenehmeren Dingen brauchbar wären; von daher bestimmt unser Gesetz, daß Waffenträger keine hohen Posten bekleiden dürfen. Ihr werden Euch nach einer anderen Kunst umsehen müssen, wenn Ihr erst an der Quelle getrunken habt. Nun, womit können wir Euch einen Gefallen erweisen, Airar? Wie seid Ihr übrigens an diesen Namen gekommen? Dem Klang nach könnte er fast vom Hause stammen, und wir sind gar nicht sicher, ob Ihr diesen Namen überhaupt tragen dürft.« »Hoheit, es ist ein alter Name unserer Familie«, antwortete Airar, der froh war, durch die Beantwortung dieser zweiten Frage der Antwort auf die erste ausweichen zu können. Dieser Prinz hatte etwas an sich, das ihm einen leisen Schauer über den Rücken jagte und ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. »Nun, schon gut. Wir erteilen Euch hiermit die Erlaubnis, diesen Namen weiterhin zu tragen.« Aurareus lächelte und rutschte ein Stück vor, so daß sein
Fuß mit dem von Airar in Berührung kam. Er zog ihn jedoch nicht zurück, sondern ließ ihn da, wo er war. Als jedoch bei der nächsten Woge das Schiff ein wenig schwankte, nahm Airar die Gelegenheit wahr, sein Bein wieder ein Stück zurückzuziehen, indem er so tat, als habe ihn das Schwanken des Schiffes aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Lächeln auf dem Gesicht des Prinzen blieb unverändert, wie bei einer Wachsfigur. »Ihr habt noch immer nicht die Frage beantwortet, wie wir unserem Untertan und Diener eine kleine Freude machen können – es ist uns ein großes Vergnügen, frisches Blut in das alte Land zu bringen, auch wenn es bedeutet, Dalekarlier zu adeln, die in ihren Provinzen absolut niemanden von edlem Geblüte haben.« Er machte eine Kunstpause, um seinen Vorschlag wirken zu lassen, und Airar ging wie ein Blitz der Gedanke daran durch den Kopf daß auch Argyra und die anderen von seiner Herkunft gesprochen hatten. Sie mußten es wohl von den Fischern gehört haben, die ja damals zugegen gewesen waren, als ihm am Stadttor von Salmonessa diese unbedachte Behauptung über die Zunge gekommen war, die er am liebsten ungeschehen gemacht hätte. Prinz Aurareus' Lächeln drückte feste Entschlossenheit aus. »Es gibt nicht wenige Landsitze in Scroby, die einen guten Herrn brauchen. Kommt, laßt uns eine Flasche Wein trinken und uns ein bißchen darüber unterhalten.« Er schickte sich an, in die Hände zu klatschen, aber Airar, inzwischen am Rande der Verzweiflung, schrie: »Gütigste Hoheit...« Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des
Prinzen. »Sprecht!« »Wie könnte ich einen Landsitz im Kaiserreiche innehaben, wo ich doch unter dem Banne des Kaisers stehe?« »Ihr habt nicht getrunken?« »Von der Einhornquelle? Nein, Hoheit.« »Nun, wenn das alles ist – das laßt sich leicht in Ordnung bringen. Sobald Ihr auch nur einen Schluck vom Wasser der Quelle getrunken habt, ist sofort jeglicher Bann von Euch genommen. Aber nun wollen wir es uns gemütlich machen, bevor wir weiter darüber plaudern.« In der Kabine war es alles andere als warm, und doch spürte Airar, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief, auch seine Handflächen waren ganz feucht. »Hoheit – verzeiht, aber ich kann nicht die Nacht über hierbleiben; meine Männer...« »Ihr braucht keine Angst vor Balinian zu haben. Er steht unter meinem Befehl.« »Hoheit, ich...« Prinz Aurareus seufzte und ließ sich entspannt auf seine Kissen zurücksinken. »Schön, dann eben ein andermal. Wir gestatten Euch, Euch zurückzuziehen.« Die Sonne neigte sich schon dem Westen zu, als Prinzessin Argyra tags darauf wieder an derselben Stelle der Reling erschien. Sie neckte ihn ein wenig wegen seiner düsteren Miene und seiner plötzlichen Schweigsamkeit. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn soweit hatte, daß er erzählte, ihr Bruder habe den Wunsch geäußert, ihn in den Dienst der Quelle zu nehmen. Den wahren Grund für das Interesse des Prinzen an seiner Person mochte er nicht nennen. Ar-
gyra rieb ein unsichtbares Etwas nervös zwischen ihren Händen. »Es ist ein Dienst, von dem ich nicht möchte, daß Ihr ihn übernehmt... von dem ich nicht möchte, daß ihn überhaupt einer übernimmt«, stammelte sie, und dann war es an ihr, schweigsam zu werden, während er sie fragend anschaute. Wie alle Dalekarlier, so wußte auch er, daß jenes berühmte Wunder der Quelle das Fundament war, auf dem das Haus der Argimeniden ruhte. Aber aus Respekt verzichtete er darauf, weiter in sie zu dringen, bis schließlich sie selbst es war, die sagte: »Soll ich sagen, warum?« »Wenn Ihr es wünscht, gnädigste Dame.« »Keine Titel, bitte. Aurea... doch nun hört...« Und dann erzählte sie ihm die Geschichte; sie setzte sich dazu auf den unteren Querbalken der großen Wurfmaschine, lehnte den Rücken an die Reling, legte den Arm darauf und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, so daß die frische Brise, die vom Meer her wehte, ihr immer wieder eine widerspenstige Locke ins Gesicht blies, die sie sich ohne es zu merken, aus der Stirn strich, während sie sprach. »Die Quelle, die Quelle des Einhorns, das große Wunder, Nutzen und Frommen unseres Geschlechtes, so berühmt, daß ihr Noblen von Dalekarlien voller Ehrfurcht hinüberschaut über die See und denkt, wie herrlich es für uns sein muß, diesen Schatz unser eigen zu nennen, dieses Kleinod, das die Heilung aller Übel verheißt. Doch zu welchem Preis? Des einen Friede kann des anderen Unglück sein. Ich hatte einst einen Bruder, er war nur wenig älter als ich; er war lustig und fröhlich, als wir kleine Kinder waren. Nach der Sitte des Hauses wurden wir auf dem Lande
großgezogen, als Pflegekinder von Bauern, im Westen von Scroby. Es ist ein uralter Brauch bei uns Argimeniden, der den Zweck verfolgt, daß die, die einst regieren werden, auf diese Weise das Volk und seine Lebensart kennenlernen. Damals war geplant, daß ich einmal irgendeinen großen Fürsten aus einem anderen Land heiraten sollte. Für meine Schwester jedoch war eine Heirat mit einem Herrn aus den Stammlanden vorgesehen, da sie in der Erbfolge nach meinem Bruder kommt und das Haus es nicht liebt, Erbansprüche über aller Herren Länder verstreut zu haben. Gegenwärtig aber steht es sehr in Frage, ob das Haus selbst die Erbfolge im eigenen Lande behält. Der Hof, auf dem wir aufwuchsen, lag inmitten des welligen Hügellandes, wo es immer grün ist – wart Ihr schon einmal in Scroby? –, und die Leibeigenen, die uns beherbergten, waren brave Pflegeeltern, die uns in jeder Hinsicht behandelten, als wären wir ihre eigenen Kinder; so hatten wir auch Pflichten zu erfüllen: Ich zum Beispiel war die Milchmagd – diese Hände hier haben die warme weiße Milch gemolken. Mein Bruder band mit den Schnittern die Garben und kam singend mit ihnen vom Felde, um Apfelwein zu trinken, wenn die ersten Herbstfeuer zu gemütlicher Runde einluden. Wie glücklich wir damals waren! Zum Fest der Wintersonnenwende wurden wir meistens zurück zum Palast geholt. Dann fuhren wir, begleitet von einer Reitereskorte, in einem Schlitten mit klingenden Glöckchen durch den tiefen Schnee nach Hause und sangen während der ganzen Fahrt. Ich weiß noch genau, wie Bardis, den sie einmal mit uns zum Palast gehen ließen, aufrecht im Schlitten stand, während er
in voller Fahrt dahinbrauste, und mit einem einzigen Pfeil einen Schneefuchs erlegte, den das Bellen der Hunde aus dem Dickicht aufgescheucht hatte. Rot spritzte das Blut in den Schnee und auf das weiße Fell, der einzigen Farbe, die es auf der Welt zu geben schien, und mein Bruder jauchzte entzückt über die Schönheit des Tiers. Doch Bardis gab das Fell Brodry und nicht mir. Ich war sehr unglücklich darüber, und in der Nacht weinte ich in meinem Bett. Heute würde ich das natürlich nicht mehr tun; aber ich glaube, es war weniger wegen Bardis, sondern eher wegen des Gefühls, wieder in der kalten Marmorhalle des Palastes mit all seinen Verzierungen und seinem überladenen Schnitzwerk in dem großen, brokatverzierten Bett liegen zu müssen. Ich sehnte mich wieder nach dorthin zurück, woher ich gekommen war; dort fühlte ich mich zu Hause. Meine Mutter war freundlich, jedoch immer ganz kaiserliche Majestät; sie schien mir nie recht zuzuhören, wenn ich von dem Bauernhof erzählte, und Aurea, meine Schwester, pflegte mich immer zu hänseln, indem sie mich ›ihre kleine Schwester Miau‹ nannte und mir prophezeite, daß mich nie ein Mann würde heiraten wollen, höchstens vielleicht einer der weißen Heidenprinzen von Dzik.« Airar öffnete den Mund und hob die Hände, um ihr zu widersprechen. Doch bevor er zum Sprechen ansetzen konnte, fuhr sie fort: »... Oh, Brodry und Bardis – ich habe Euch noch gar nicht von ihnen erzählt. Er war der Sohn der Bauersleute, bei denen wir lebten; ich mochte ihn viel mehr als all die gelackten Höflinge im Palast; er war so stark und hübsch, während jene bloß tanzten und ki-
cherten und albernes Zeug redeten, wenn sie ein Mädchen darauf aufmerksam machen wollten, daß sie es für eine Schönheit hielten. Ich wußte, daß ich keine Schönheit war – ich war eine tolpatschige Göre, genauso linkisch und tolpatschig, wie Bardis sich am Hofe von Stassia vorkommen mußte. Aurea gab sich alle Mühe, mir meine Unzulänglichkeiten so deutlich wie möglich zu machen: meine Beine, lang und dünn wie Stecken, und meine Haut, die braun war wie die eines Bauern – und daß Bardis das Fuchsfell Brodry und nicht mir gegeben hatte. Brodry war Bardis' Kusine; sie kam von unserem Nachbarhof, und natürlich sahen wir uns oft und halfen uns auch manchmal gegenseitig bei der Arbeit. Sie war meine beste Freundin unter den Mädchen aus jenem Teil Scrobys; manche Nacht haben wir zusammen im selben Bett verbracht und uns alle unsere Geheimnisse anvertraut. Eines dieser Geheimnisse zum Beispiel war, daß mein Bruder sich ihr gegenüber oft wie ein Liebhaber verhielt; er hielt ihr zum Beispiel die Hand, wenn sie über glitschige Steine springend einen Fluß durchquerten, oder er hielt sie länger als üblich im Arm, wenn er ihr einen Begrüßungskuß gab. Für so etwas haben Mädchen ein untrügliches Gefühl; sie erzählte mir davon und sagte, sie wäre sehr unsicher und wüßte nicht, wie sie sich verhalten solle, wenn er ihr plötzlich eine Liebeserklärung machen sollte. ›Denn er ist ein gekrönter Prinz, und eines Tages wird er unser Kaiser sein‹, sagte sie. ›Dann tu's doch – küß ihn doch‹, erwiderte ich. ›Wenn es dein Wunsch ist! Wenn du ihn liebst und ihn heiraten willst und Kinder von ihm haben willst,
dann steht diesen deinen Wünschen nichts im Wege. Du kennst doch das Gesetz unseres Hauses, das seit König Argentarius' Tagen besteht: Die Erben des Hauses sollen niemals allein aus politischen Erwägungen einen Ehebund eingehen oder sich aus solchen Gründen einer Heirat enthalten. So kommt es, daß zum Beispiel meine Mutter, die Kaiserin, Tochter des armen Ritters von Bremmery war.‹ Brodry seufzte tief und schlang mir im Dunkeln die Arme um den Hals. ›Wenn ich es doch nur wüßte!‹ schluchzte sie. ›O Argyra – ich glaube, ich bin verliebt, doch weiß ich nicht, ob es dein Bruder ist, der an meinem Herzen gerührt hat, oder ob es Bardis ist. Ist das nicht sehr seltsam?‹ Ich schwieg, denn auf diese Frage konnte ich ihr keine Antwort geben. Mein Bruder war ein so fröhlicher und lebenslustiger Bursche; er konnte lesen und besser rechnen als manch ein Zauberer. Und welch herrliche alte Märchen und Sagen er zu erzählen wußte! Manchesmal saßen wir um den Kamin herum, aßen Nüsse und Bratäpfel und merkten gar nicht, wie die Zeit verrann, während mein Bruder irgendeine alte Fabel erzählte. Und auch auf anderen Gebieten konnte er sich sehen lassen. Welches Mädchen er auch anblickte – ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß es eines gab, das sich nicht auf der Stelle in ihn verlieben würde. Ich spann den Gedanken weiter und dachte auch daran, was für ein begehrenswerter junger Mann auch Bardis war Wirklich – Brodry war ein Glückspilz! Und ich, ich würde wohl doch eines schönen Tages einen ungeliebten Herrn aus einem fremden Land heiraten müssen... Wir hatten uns wirklich alle vier einander sehr lieb, und wir konnten
den Gedanken nicht ertragen, daß einer von uns sich einen anderen aus der Gruppe zum Geliebten nahm und damit die Kameradschaft zerstörte. So sprachen wir denn auch nicht weiter darüber und ließen die Sache auf sich beruhen bis nach dem Sonnenwendfest, als Bardis Brodry den Pelz schenkte. Wir waren alle sehr traurig, als wir wieder auf dem Heimweg zum Bauernhof waren, wußten wir doch, daß die schöne Zeit, die wir gemeinsam dort verlebt hatten, bald zu Ende war, denn mit Beginn der Sommeraussaat mußten wir unsere Pflegeeltern für immer verlassen und wieder nach Stassia gehen. Meinen Bruder würde man irgendwohin als Gesandten schicken, damit er die feine Lebensart eines Höflings lernte, während ich zu Hause säße und wartete, bis irgendein Prinz käme, der sich bereiterklärte, ein tölpelhaftes Bauernmädchen zu heiraten, wenn es nur ausreichend mit dem Puder einer kaiserlichen Mitgift überzuckert war. Wir waren noch nicht lange wieder zurück auf dem Bauernhof, als ich deutlich spürte, daß Brodry anders war als früher; sie ging mir aus dem Weg und schüttete mir auch nicht mehr ihr Herz aus, wie sie es immer getan hatte. Oh, sie war weiterhin sehr freundlich zu mir, und ihr Verhalten gab mir auch zu keinerlei Vorwurf Anlaß, doch wenn sie jetzt mit mir über Bardis oder meinen Bruder sprach, dann war es, als stände eine Mauer zwischen uns und als spräche sie von Fremden. Sie hat sich also entschieden (dachte ich) und möchte mir nicht sagen, auf welchen von den beiden ihre Wahl gefallen ist. Doch ich täuschte mich in dieser Annahme; das einzige, worin ich mich nicht täuschte, war das Gefühl, daß irgendeine böse Wolke
die Freundschaft von uns vieren überschattete. Und eines schönen Tages – der Frühling hatte gerade begonnen – machte sich mein Bruder früh am Morgen zu dem Hofe auf, auf dem Brodry lebte, während Bardis und ich daheimblieben, weil wir noch eine Arbeit zu verrichten hatten. Kurz nach Mittag machten auch wir zwei uns auf, um die beiden zu treffen. Unser Weg führte durch einen Wald auf einen kleinen Hügel, der genau zwischen den beiden Höfen lag. Dieser Hügel dämpfte den Schall unserer Stimmen, während wir näherkamen, so daß sie uns nicht bemerkten. Auf der Kuppe des Hügels angekommen, fanden wir die beiden hinter einer dicken Eiche. Sie hielten einander fest umschlungen und küßten sich zärtlich. Neben Brodry lagen auf der Erde verstreut die Veilchen, die sie gepflückt hatte. Sie bemerkte uns als erste, entzog sich heftig errötend den Armen meines Bruders und streckte ihrem Vetter die Hand entgegen. ›O Bardis‹, rief sie mit zitternder Stimme, ›verzeih mir!‹ ›Was soll er dir verzeihen?‹ fragte mein Bruder. ›Ist es nicht gerade die süße Zweisamkeit, die das Glück einer wahren Freundschaft ausmacht? Alle sollen es wissen! Ja, alle!‹ Dann griff er liebestrunken nach ihr, doch Bardis sank vor ihm auf ein Knie und rief: ›Du bist mein Herr und Prinz, und ich freue mich für dich.‹ Ich sehe ihn noch heute vor mir: sein Gesicht aschfahl, und die Muskeln um seinen Mund zuckten. Da riß sich Brodry los und schrie: ›Weh, weh! Was habe ich getan?‹ Und schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte tonlos. ›Oh, vergebt mir‹, flüsterte sie nach langem Schweigen, während Bardis noch immer
mit gesenktem Haupt vor meinem Bruder kniete, ›denn ich habe euch beiden das Versprechen meiner Liebe gegeben, doch nur einem gegenüber kann ich es halten... doch welchem, das weiß ich nicht.‹ Der Gesichtsausdruck meines Bruders änderte sich schlagartig; nie zuvor hatte ich gesehen, daß sich ein Gesicht von einem Moment auf den anderen so ändern kann. ›Ist es wahr?‹ fragte er Bardis. ›Mein Herr und Prinz‹, begann dieser, doch mein Bruder fiel ihm ins Wort. ›Nein, sprich mich nicht mit meinem Titel an! Ich dachte, wir seien Freunde! Aber du...‹ Er wandte sich mit einem Ruck Brodry zu, und ich befürchtete schon, er würde sie schlagen. Doch sie schaute ihn so stolz und mitleidheischend zugleich an, daß er seine Hand wieder sinken ließ. ›Du, nein, du hast es nicht in böser Absicht getan; du hast es ehrlich so gemeint, das sehe ich deutlich; das bedeutet, daß deine Freundschaft wirklich aufrichtig ist. Doch nun ist diese Freundschaft zerbrochen.‹ Keiner von uns sagte ein Wort, doch nach einer Weile fuhr mein Bruder fort: ›Ihr habt euren Prinzen vor ein großes Problem gestellt, Freunde.‹ Und dann, an Brodry gerichtet: ›Hast du nun deine Wahl getroffen, nun, da du diesen großen Sieg einer Frau errungen hast, Freunde zu entzweien?‹ ›Es ist kein Sieg‹, murmelte sie und schüttelte traurig den Kopf. ›Selbst das will ich dir abnehmen; doch glaub mir, auch ich strebe nicht danach, einen Sieg zu erringen, sondern einzig und allein danach, die Freundschaft unter uns vieren, dieses so köstliche Gut, zu retten und zu bewahren. Doch sehe ich nur noch einen
Ausweg; nämlich, daß wir alle zusammen sofort zur Einhornquelle gehen und dort gemeinsam von ihrem Wasser trinken. Ich weiß wohl, du strebst nach Ruhm als Soldat und als wackerer Kämpe, der sich Lorbeer auf den Schlachtfeldern dieser Welt erwerben möchte. Wir sprachen schon darüber. Doch nun bist du vor die Entscheidung gestellt; sag, welche Wahl willst du treffen? Berichtige mich, wenn du eine Lösung findest, nach der Brodry einem von uns beiden zufällt, ohne die Freundschaft zwischen uns zu zerbrechen. Ich sehe nur die eine: Wir müssen vom Wasser jener Quelle trinken, in die das Einhorn sein Horn taucht.‹ ›Es ist wahr‹, sagte Brodry. ›Es ist meine Schuld. Ich werde gehen.‹ ›Und du, mein Kätzchen?‹ fragte mein Bruder, an mich gewandt. ›Wenn es dein Wunsch ist – doch habe ich Anteil an eurem Streit?‹ fragte ich. ›Du könntest Anteil an seiner Beilegung haben!‹ Ich merkte, daß sich mit seinem Plan die Hoffnung verband, der Friede der Quelle würde bewirken, daß sich Bardis statt Brodry mir zuwandte. Ich wußte, wie gering die Hoffnung auf einen solchen Ausgang war, aber... ›Ich werde mitkommen‹, sagte ich. Jetzt erhob sich Bardis und sagte mit finsterer Miene: ›Ich bin nicht der Meinung, daß dies ein glückliches Unterfangen ist; denn Liebe ist etwas, das man nicht ändern und beherrschen kann – nicht einmal die Quelle des Einhorns vermag dies. Doch wenn ihr drei dorthin geht, will auch ich nicht zurückstehen.‹ Im Frühling begaben wir uns auf die Wallfahrt zur
Quelle. Unter dem Marmorbogen faßten wir vier uns bei den Händen und tranken, jeder aus dem Becher der anderen, wie es die Regel vorschreibt. Und danach setzten wir uns zusammen beim Tor nieder und überlegten, was nun weiter geschehen sollte. Wir beschlossen, abzuwarten und alles auf sich beruhen zu lassen, bis mein Bruder wieder von seiner Gesandtschaft zurückgekehrt wäre. Bis dahin, so glaubten wir, würde das wundertuende Wasser der Quelle in uns gewirkt haben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ruhig und gelöst wir alle waren; alle Spannung war von uns gewichen, und wir glaubten, daß nun alles zu einem guten Ende führen würde – mit der Ausnahme von Bardis, der nicht ganz überzeugt zu sein schien. Er blieb ziemlich einsilbig, und wir schalten ihn deswegen aus. Doch zu Unrecht: Jener sonnige Nachmittag beim Tor der Quelle sollte unser letzter sein, meinen Bruder sah ich nie wieder...« »Wie kann das sein?« fragte Airar verblüfft. »Ich habe noch nie davon gehört, daß die Quelle Tod statt Frieden brachte!« »Tod, Tod! Wer hat denn von Tod gesprochen? Die Gesandtschaft, auf die mein Bruder ging, führte ihn erst nach Naaros und später dann an jenen berüchtigten, unzüchtigen Hof von Salmonessa, wo er dieses Gehabe und jene Manieren annahm, die Ihr schon an ihm bemerkt haben dürftet. Und als er schließlich zurückkam, da war er nicht mehr mein Bruder Aurareus, sondern ein wildfremder Mann – er hatte nur noch so wenig von einem echten Argimeniden an sich, daß man bei Hofe plant (wovon er noch nichts weiß), ihn von der Erbfolge auszuschließen und Aurea zur Königin zu machen.«
Airar suchte nach Worten, mit denen er sein Mitgefühl ausdrücken konnte, aber er fand keine. »Aber die anderen – erlangtet denn nicht Ihr und die anderen einen besseren Frieden vom Wasser der Quelle als Euer Bruder?« »Bardis und Brodry sind wahrscheinlich verheiratet; ich habe sie nicht mehr gesehen, seit Aurareus von jener Gesandtschaft zurückkehrte. Und was mich anbetrifft – nun, es ist noch nicht entschieden, auf welche Weise ich Frieden erlangen werde. Vielleicht ist es soweit, wenn ich einst heirate. Vielleicht aber erringe ich ihn auch gerade dadurch, daß ich den einzigen Bewerber, der sich bisher vorgestellt hat, nämlich Stenophon, den Tyrannen von Permandos, ablehne. Ich sagte meinen Eltern, lieber würde ich mich selbst entleiben, als diesen Menschen zum Manne zu nehmen, und daraufhin schickten sie mich auf diese Reise, was nichts anderes als Verbannung bedeutet.«
26 Os Erigu: Der Kelch des Krieges Os Erigu erhob sich langsam vor ihren Augen aus den Wogen des Meeres, zuerst als ein Schatten am Rande des Horizonts, und dann als ein grauer Finger, der in den Himmel ragte und sich immer deutlicher von dem helleren Grau des Küstenstreifens abhob. Es war die Burg aus Meliboës geisterhaftem Trugbild; die Wellen der See umspülten ihren Sockel, und das Auge konnte kaum unterscheiden, wo die Grenze verlief zwischen von Menschenhand errichtetem Steinwall und dem felsigen Vorgebirge, aus dem dieser Wall erwuchs. An seiner dem Osten zugewandten Rückseite lagen gewaltige Felsbrocken verstreut, zwischen denen das Wasser strömte und weiß schäumend gegen die Steine anbrandete. Oben, in Höhe des mittleren Walls, spannte sich eine Brücke, die fast schwerelos auf schlanken Bögen zu schweben schien; in ihrer Mitte gab es eine Zugvorrichtung. Diese Zugbrücke war hochgezogen und sah aus wie eine erhobene Hand, die abweisend dem Land zugewandt war. Herzog Mikalegon runzelte die Stirn: »Sieht so aus, als hätten wir unwillkommenen Besuch zu Hause. Ich hatte Befehl gegeben, die Zugbrücke unten zu lassen.« Pleiander von Carrhoene stieß einen langen Atemzug der Anerkennung aus und rief: »Ich sehe Eure Festung heute zum erstenmal, Herr; man sagt, daß ich etwas von Gebäuden und Belagerungen verstehe, und ich versichere Euch, dies ist gewiß eine der imposantesten und sichersten Burgen
des ganzen Erdenkreises.« Der Wind blies aus östlicher Richtung; die Schiffe drehten sich und hielten auf die seewärts gerichtete Seite zu, wo der Wall niedriger war und die Wellen hochschossen. Darüber erhoben sich stufenartig die inneren Gebäude bis zu einem hohen Turm im Herzen der Zitadelle. Sie war ganz aus dem schwarzen Eisenstein der Berge des Hinterlandes errichtet und wirkte in der strahlenden Sonne geduckt und stämmig wie eine riesige dunkle Kröte, obwohl sie alles andere als klein war. Sie sahen keine Fahne auf dem Turm flattern, als sie um das Kap herumliefen und in das ruhigere, vor dem heftigen Wind durch die ein Stück landeinwärts emporragenden Hügel geschützte Wasser kamen, wo sie die Segel einholten und die Ruder zu Wasser ließen, um in die Bucht auf der Nordseite der Burg einzulaufen, damit die Schiffe im sicheren Schutz lagen. Dort hatte man, ebenfalls aus dunklem Stein, eine Kaimauer errichtet. Hier ruhte ein abgetakeltes Schiff; die oberen Masten waren heruntergeholt, und das Deck war mit lose herumliegenden Segeln und Tauwerk bedeckt. Auf der Kaimauer selbst lag ein Stoffballen, den man aufgebrochen und dann wohl vergessen hatte; ein Fetzen des verschmähten Tuches hing an der Vorderseite heraus und baumelte trostlos im Wasser. Am Landende der Mole war ein Schott mit einem Fallgatter. Herzog Mikalegon sprang als erster an Land, gefolgt von seinen Soldaten, und ließ das Trompetensignal blasen, um seine Ankunft anzukündigen. Airar bemerkte, daß die Männer nicht in Reih und Glied marschierten wie die Tercia-Soldaten, sondern planlos wie ein wilder Haufen durcheinan-
derliefen. Visto befand sich in dem Haufen des Herzogs. Die kaiserlichen Gefangenen bildeten ebenfalls eine Gruppe; Airar versuchte, sich durch das Gewühl bis an die Seite Argyras durchzuarbeiten, aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Er sah, daß Prinzessin Aurea weder nach links noch nach rechts schaute, während Aurareus sich abwechselnd auf die Schultern seiner beiden Raufbolde stützte und ihnen etwas ins Ohr flüsterte, worauf alle drei in albernes Gekicher ausbrachen. Der Innenhof roch wie ein Schweinestall und sah auch so aus: Überall lag stinkender Abfall herum. Als Airar Erb folgte, um sich die Hütten anzusehen, die längs der nördlichen Mauer standen und den Fischern als Behausung dienen sollten, war er alles andere als erfreut, als er sah, in welchem Zustand sie sich befanden. Am Abend jedoch fand eine Art Gelage in der von riesigen Längsbalken durchzogenen, verräucherten Versammlungshalle des Herzogs neben dem Bergfried statt, zu dem ungeheure Braten aufgetischt wurden und Bier in Strömen floß. Mikalegon thronte am Kopf des Tisches, dröhnte und polterte in gewohnter Manier zu seiner Linken saß Alsander und rechts von ihm Prinz Aurareus der kaum etwas anrührte. Frauen waren bei dem Gelage nicht anwesend; selbst Evadne fehlte, obwohl sie doch in jede Männergesellschaft hineinpaßte. Airar ging jedoch bald ein Licht auf, als er sah, wie zärtlich der Herzog seinen Burschen unter dem Kinn kraulte und mit welch sehnsuchtsvollem Blick Aurareus Pleiander anstarrte. (Was bewies, wie falsch die Urteile sein können, die man sich über einen Menschen bildet.) Die Diener, eine fürwahr wenig vertrauensvoll aus-
sehende Gesellschaft, waren größtenteils Mictonier; ein paar trugen sogar den phantasievollen Kopfschmuck von Dzik. Sie schenkten unablässig ein; aber Airar trank nur wenig, da er sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte und nicht wußte, was der Abend noch bringen mochte. Doch auch hier irrte er sich: Was kam, war ein Barde, der mit einem tiefen Schluck seine Kehle anfeuchtete und einen langen Lobgesang auf die ruhmvolle Geschichte von Os Erigu anstimmte, wo jedermann frei war, zu tun und zu lassen, was ihm beliebte. Herzog Mikalegon selbst fiel jedesmal mit dröhnender Stimme in den Refrain ein, wobei er mit dem Griff seines Messers so fest den Takt auf der Tischplatte klopfte, daß die Becher überschwappten. Als der Barde mit seinem Lied fertig war, bat er brüllend um Ruhe und stand auf: »Laßt uns trinken! Auf die alten Kriegsgötter und auf das Ende der verfluchten Quelle!« Der Barde schlug einen hell klingenden Akkord auf seiner Harfe an; die ganze Halle erhob sich und schrie wild und mißtönend durcheinander. Airar stand ebenfalls auf, berührte den Rand seines Bechers nur leicht mit den Lippen und setzte sich sofort wieder hin. Er hatte das Gefühl, als sträubten sich sämtliche Nackenhaare; denn was sich soeben abgespielt hatte, grenzte an ein Sakrileg. Dem Mann zu seiner Rechten, einem von Mikalegons Offizieren, einem alten Haudegen mit zerfurchtem Gesicht und einer breiten Narbe, die sich bis über eines seiner Augen zog, blieb dies nicht verborgen. »Das ist keine Unhöflichkeit oder Geringschätzung gegenüber euch Kaiserlichen«, sagte er mit freundli-
cher Stimme. »Dieser Trinkspruch ist ein alter Brauch in Os Erigu, wenn Kriege beginnen.« »Ich bin Dalekarlier.« »Psst! Jetzt kommen die Rede und die Schwüre.« Mikalegon hatte seinen Becher wieder füllen lassen, seine Augen funkelten vor überschäumender Ausgelassenheit, als er brüllte: »Wir werden belagert! Jenseits unserer Brücke steht Baron Catina mit der vierten Tercia von Briella. Er hat es auf das Nest des Adlers selbst abgesehen, also kein Kompromiß, Krieg bis zum bitteren Ende! Heute morgen kam sein Gesandter mit der Aufforderung, wir sollen uns ergeben; der Kerl baumelt jetzt über unserem Außentor.« Er wartete, bis die Hochrufe verklungen waren, und als wieder Ruhe eingekehrt war, hob er erneut seinen Becher. »Und nun wollen wir schwören! Ich schwöre bei diesem Kelch des Krieges, daß ich mit niemandem Frieden schließen werde und kein Pardon gebe, bis dieser vierzehnte Graf Vulk von seinem Throne gezerrt und sein Baron Catina tot ist. Alle, die Os Erigu treu zur Seite stehen, mögen nun meinem Beispiel folgen!« Dann trank er; alle, die an der langen Tafel saßen, sprangen auf – die Kämpen von Erigu, Dalekarlien und Carrhoene – und brüllten mit erhobenen Waffen begeistert Hurra. Und diesmal fiel auch Airar mit ein. Als der Lärm ein wenig verebbt war, nahmen die Männer wiederum auf ihren Sitzen Platz. Narbengesicht jedoch, der Mann, der seinen Platz neben Airar hatte, blieb stehen, erhob seinen Becher und rief: »Bei diesem Kelche des Krieges schwöre ich, daß ich Herzog Mikalegon in seinem schweren Kampfe
bis zum Siege folgen werde; und ich werde nicht eher wieder unter einem Dache schlafen, bis ich Baron Catina im Zweikampf getötet habe oder bis ihn die Waffen eines anderen niederstrecken.« Dann trank auch er; und wieder erbebte die Halle vom Gejohle der Männer. Als nächster erhob sich Alsander: »Zwar bin ich ein Fremder, und manchesmal war ich gar euer Feind, doch schwöre auch ich hiermit, bei diesem Kelche des Krieges, mich Herzog Mikalegon anzuschließen; und ich werde nicht rasten, bis wir gemeinsam den Berg von Briella zum Einsturz gebracht haben. Und diesen Eid lege ich nicht nur für meine eigene Person ab, sondern im Namen aller sechs Brüder von Carrhoene, die auf wundersame Weise in zwei Geburten das Licht der Welt erblickten. Und für unsere eigene, geliebte Heimat, die wir niemals vergessen werden, schwöre ich, daß ich meinen Fuß erst wieder über die Schwelle des Hohen Hauses von Carrhoene setzen werde, wenn die Führer der Volkspartei den Boden mit ihren eigenen Bärten gewischt haben. Dies schwöre ich bei eurem Kelche des Krieges.« »Auch wir schwören es!« schrien Pleiander und Evimenes wie aus einem Mund, und bevor die Halle wieder in Jubelrufe ausbrechen konnte, hob der letztere die Hand und rief: »Und ich füge hinzu, daß ich hiermit schwöre, Sthenophon von Permandos zu töten und mir seine Schwester Lykaoniké gefügig zu machen.« Und wieder erbebte die Halle unter den Jubelrufen der Männer, daß die Fackeln in den Halterungen an den Wänden zitterten; die Krieger schlugen vor Begeisterung auf den Tisch, prosteten den Carrhoenern
zu und riefen, das sei ein toller Schwur gewesen – was einigermaßen verwunderlich war, da die Sternenhauptmänner bei den Piraten des Nordens nicht in bestem Ansehen standen. Und nun sprangen auch andere auf, freie Hauptmänner von Os Erigu, um beim Kelche des Krieges ihren Schwur zu leisten – einer, daß er einen weißen Speer auf den höchsten Turm von Briella pflanzen würde, was als prahlerisch aufgefaßt und nicht für einen so guten Eid gehalten wurde; ein anderer, daß er die roten Dreiecke von drei vulkingischen Abteilungen aus der Schlacht mit nach Hause bringen würde (dieser Schwur wurde als der bisher beste bejubelt). Dann erhob sich Rogai; er schwor beim Kelche des Krieges, mit Baron VanetteMillepigue so zu verfahren wie der Rote Baron mit den Kindern der Syndizi von Mariupol; seine Stimme klang jedoch dabei ein wenig heiser, so daß seine Worte im allgemeinen Tumult untergingen. Als nächster wollte Erb aufstehen; doch Mikalegon bedeutete ihm mit einer Geste, sich wieder hinzusetzen, und winkte statt dessen Airar zu. Airar, der bei weitem nicht so viel vom starken, nordischen Bier getrunken hatte wie manch einer der anderen, fand diesen Brauch Schwüre zu leisten – was man alles tun würde im Falle des Sieges –, ein wenig albern, zumal er aus dem Augenwinkel sah, wie Meliboës Lippen sich spöttisch kräuselten. Doch war ihm klar daß er jetzt nicht kneifen konnte. Das Bier und die innere Erregung taten ein übriges, und er rief: »Ich schwöre bei diesem Kelche des Krieges, daß ich so lange kämpfen werde, bis Dalekarlien so frei ist wie Os Erigu.« Er hielt inne, und einen Augenblick
lang starrten ihn alle erwartungsvoll an; und dann hörte Junker Airar zu seiner großen Verblüffung seine eigene Stimme rufen: »Und daß ich keine andere Frau lieben und heiraten werde als Argyra von Stassia; sie wird mir nicht entkommen, und wenn ich ihr durch die ganze Welt nachjagen muß!« Wieder brauste Jubel auf, und man prostete ihm zu, doch über die Jubelrufe hinweg dröhnte Mikalegons bellendes Lachen: »Jiieh-ha-ha-ha-ha-ha!« Aurareus' Gesicht verzog sich zu einem dreckigen Grinsen, Pleiander starrte ihn an wie ein schmollender Schuljunge, und Evimenes zuckte so heftig zurück, daß sein Stuhl hintüberkippte und er halb aufgerichtet stehenblieb, die Faust auf dem Tisch und die Augen starr geradeaus gerichtet. Airar blickte unsicher zu Meliboë hinüber; der Zauberer hatte den Kopf auf die Hand gestützt und schaute nachdenklich nach unten, es schien Airar, als läge in seinem Blick sogar eine Spur von Traurigkeit. »Ein guter Schwur«, kommentierte Airars Tischnachbar, und im gleichen Moment stand schon ein weiterer von Erigus freien Genossen auf und schwor, er würde nichts als Stockfisch essen so lange bis er selbst den Fischen einen Deserion zum Fraß vorgeworfen hätte. Unbeschreiblicher Jubel durchbrandete die Halle bei diesem Schwur; sie schien sich langsam um ihre eigene Achse zu drehen, als sich nun einer nach dem anderen erhob und versprach, die irrwitzigsten Heldentaten zu begehen, während Airar von Trangsted unberührt von dem Tumult um ihn herum dasaß und überlegte, ob er richtig oder falsch gehandelt hatte. Die Belagerung nahm ihren Anfang am Morgen des
darauffolgenden Tages, als alle noch einen schweren Kopf und schlechte Laune infolge des reichlichen Biergenusses der vorausgegangenen Nacht hatten. An jenem Ende der Brücke, welches der Küste zugewandt ist, da, wo sich der westliche Ausläufer des Eisengebirges gleich einem Wasserfall in die Felsen zu ergießen scheint, aus denen sich Os Erigu erhebt, windet sich ein von Fichten halbverdeckter Pfad um einen Gipfel herum und endet auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Jemand, der so gute Augen hatte wie Airar, konnte, wenn er sich anstrengte, im fahlen Licht der Morgendämmerung durch den grauen Vorhang aus Nieselregen hindurch das rote Dreieck von Briella auf seinem Stab baumeln sehen; und wenn jemand auch gut hören konnte, dann vernahm er, wie hinter der Mauer aus Dunst, die den Schall verschluckte, das dünne, hohe Pfeifen der vulkingischen Flöten erscholl. Die Tercia kam heranmarschiert. »Was haben sie vor?« knurrte Mikalegon. »Wollen sie etwa über die Bucht hinüberspringen?« Aber sie hatten Besseres vor. Airar sah, wie sich die metallisch glänzenden Helme der Soldaten auf dem gegenüberliegenden Ufer verteilten. Gleich darauf kam eine ganze Reihe von Karren, die von Pferden, Maultieren und Ochsen gezogen wurden, den Weg herunter. Auf den Karren saßen Arbeiter, Mictonier und Männer, die man in der Provinz zum Frondienst gepreßt hatte. Als sie die Brücke erreichten, hielten sie an; die Arbeiter sprangen von den Karren und luden ihre Bündel ab. Es bedurfte keines besonders scharfen Verstandes, um zu erkennen, was sie vorhatten: Sie wollten einen Fußweg über die Felsenenge bauen, um an die Burg heranzukommen, die sonst
auf keinem anderen Weg erreichbar war. Der Abstand war jedoch noch zu groß für die Wurfmaschinen des Herzogs. Die Führer berieten sogleich, welche Gegenmaßnahmen man ergreifen solle. Mikalegon war dafür, in einer Blitzoperation vom Wasser aus zwischen den Felsen zu landen und die vordersten Bögen der Brükke zu zerstören, um dem Feind die Arbeit zu erschweren; er schlug vor, dieses Unternehmen während der Nacht durchzuführen, wenn die anderen nicht damit rechneten. Alsander pflichtete ihm bei. In jedem Krieg käme es darauf an (sagte er) zu versuchen, durch einen überraschenden Schlag einen Vorteil zu erringen, auch wenn er noch so klein sei, weil man dadurch den Feind verunsichere und ihm Furcht einflöße. Pleiander indessen war dagegen; wenn Baron Catina sein Geschäft verstehe, »und wie ich weiß, tut er das wie kein zweiter Baron der Vulkinger«, dann würde er mit solch einer Gegenmaßnahme rechnen; er würde Wurfmaschinen und Bogenschützen bereithalten und Feuertöpfe, die er bei Nacht sofort auf jeden herunterwerfe, der den Versuch unternehme, die Brücke zu zerstören. »Und schon haben wir sie auf dem Hals und sind ihnen so gut wie schutzlos preisgegeben. Und dann liegen alle Chancen auf den ersten Sieg bei ihnen.« Sogleich brauste der Herzog in seiner Katerstimmung auf und schrie, er ließe sich in sein Kommando auf seiner eigenen Burg nicht von irgendeinem verdammten Volksparlament hineinreden; aber dann gab er mit einem mißmutigen Brummen nach. Man beschloß, den Kriegsruf des Ringes durch die Eisengebirge und ganz Korosh zu tragen; die Bergleute, die
große Freunde von Mikalegon waren und sehr wohl wußten, daß der Fall von Os Erigu ihr Untergang war, würden mit Sicherheit zu gewinnen sein. Es sollte ihnen jedoch eingeschärft werden, sich nicht in voller Stärke zu erheben, sondern sich in kleine, bewegliche Kommandos aufzuteilen und den Troß der Vulkinger wann irgend möglich zu überfallen. Die damit verbundene Aussicht auf reiche Beute würde sie um so eher geneigt machen, mitzutun. (Es war Alsander, der diesen Gedanken aussprach.) Airar sagte, niemand sei für ein solches Unternehmen, das auf keinen Fall von den Vulkingern bemerkt werden durfte und großen Mut erforderte, besser geeignet als Rogai; für ihn spreche außerdem, daß er allen Führern, die den Eisernen Ring trugen, bekannt wäre. Die Carrhoener erhoben jedoch Einspruch und erinnerten daran, wie eigensinnig sich der Mariolaner in Shalland verhalten hatte. Der Herzog brüllte sie nieder, was sie erstaunlich gut aufnahmen – vielleicht waren sie eher bereit, sich in einer Sache, mit der sie selbst nichts zu tun haben wollten, Befehle erteilen zu lassen, als sich überzeugen zu lassen. Rogai war sofort bereit, die Aufgabe zu übernehmen, stellte jedoch die Bedingung, daß das Boot ihn im Norden an Land setzte, an irgendeinem geheimen Ort. »Im Bärenfjord?« fragte der narbengesichtige Hauptmann, der beim Gelage neben Airar gesessen hatte, und im selben Moment machte er ein Gesicht, als habe er sich gerade auf die Zunge gebissen. Evadne kicherte vernehmlich, und der Herzog überschüttete ihn mit einem wahren Schwall von Schimpfwörtern. Die Beratung wurde abgebrochen. Die Carrhoenerin würdigte Airar keines Wortes. Er begab sich in
die Nähe der Gemächer, die den Kaiserlichen zugewiesen waren, konnte sich aber nicht entschließen, nach Argyra zu fragen (vor allem in Anbetracht dessen, was er sich am Vorabend geleistet hatte); jedoch war er bereit, ihr entgegenzutreten, falls sich dazu Gelegenheit bot, und sich mit gewählten Worten bei ihr zu entschuldigen. Die Worte dafür hatte er sich schon in Gedanken zurechtgelegt. Doch ging einstweilen der Kelch noch einmal an ihm vorüber; nicht sie lief ihm über den Weg, sondern Narbengesicht, der einen ganz niedergeschlagenen Eindruck machte. Er reichte Airar die Hand und stellte sich als Poë vor – »Oder, besser gesagt, Poë der Dummkopf, nach dem Ding, was ich mir mit unserem Herrn geleistet habe.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Airar und spähte mit einem Auge über die Schulter, ob Argyra vielleicht doch auftauchte; der Kummer des Mannes interessierte ihn nicht besonders; er hatte lediglich irgend etwas sagen wollen. »Ein Ausrutscher; das ist alles, was ein Mann hier in Os Erigu braucht, um seine Zukunft in Vergangenheit zu verwandeln. Ein anderer hätte mich zum Zweikampf herausgefordert, nicht aber unser Herzog Mikalegon. Der ist geschickt; wird mich so lange piesacken, bis ich es nicht mehr ertragen kann und die Brüderschaft aus freien Stücken verlasse.« »Und bloß, weil Ihr den Bärenfjord erwähnt habt? Das ist doch nichts Schlimmes!« »Ihr kennt nicht die Geschichte, die sich mit dem Namen verbindet.« Jetzt war es Poë, der nach hinten über die Schulter spähte, um zu sehen, ob keiner in der Nähe war. »Ich will sie Euch erzählen. Es ist nun schon fast vier Jahre her, daß unser Herr und Führer
sich einmal für ein paar Tage zum Fischen begab. Er fuhr mit einer kleinen, mit einem Deck versehenen Schaluppe los und nahm einen Mann aus Korosh mit. Ich kann mich nicht mehr genau an seinen Namen erinnern – Parten, so nannte er sich, wenn ich mich nicht irre. Sie segelten den Fjord hinauf, eine gute Brise im Rücken. Der Mann aus Korosh stand an der Ruderpinne. Plötzlich erspähte unser Herr einen prächtigen Bären, der ganz dicht bei der Schaluppe im Wasser schwamm. Er stellte sich vor, was für ein toller Erfolg es wäre, den Bären lebendig einzufangen und auf die Burg zu bringen. Er befahl dem Mann, auf das Tier zuzuhalten, und rannte selbst gleich los, ein Tau zu suchen. Nun, es war kein Kunststück, dem Bären eine Schlinge um den Hals zu werfen; doch statt ihn damit besinnungslos zu würgen, trat genau das Gegenteil ein: Meister Petz ärgerte sich über das Tau um seinen Hals und schwamm mit wütendem Gebrumm auf die Schaluppe zu. Ehe Mikalegon sich's versah, tauchte schon eine braune Tatze über dem Rand des Hecks auf, und gleich darauf stand der Bär auf Deck. Der Herzog hatte natürlich sein Schwert zu Hause gelassen, die einzige greifbare Waffe war ein kleiner Fischdreizack. Der Mann aus Korosh versuchte, damit nach dem Bären zu stechen, als er langsam auf die beiden zugetappt kam. Meister Petz jedoch ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken und begann die beiden um den Mast herumzuscheuchen. Es muß ein köstlicher Anblick gewesen sein, wie sie in blankem Entsetzen eine Runde nach der anderen drehten, den wütenden Vierbeiner aufgebracht hinter ihnen her. Nach dem dritten Umlauf gelang es dem
Mann aus Korosh, der nicht so viel Fleisch mit sich herumschleppte wie der Herzog, den Lukendeckel zu erreichen und ihn zu öffnen. Sie purzelten beide gemeinsam, den Arsch zwischen den Ohren, in die Luke hinein und schafften es gerade noch, den Riegel vorzuschieben, bevor unser Bär seine Scheu überwunden hatte und sich anschickte, den beiden durch das Loch zu folgen. Aber nun waren die Helden vom Regen in die Traufe gekommen: Sie steckten unter Deck wie die Maus in der Falle, während Meister Petz nicht daran dachte, wieder abzuhauen, und die Schaluppe mit knatternden Segeln und hin und her schlagendem Ruder führerlos im Fjord trieb. Der Mann aus Korosh berichtete später, Herzog Mikalegon habe so entsetzlich geflucht, daß er schon befürchtete, ein Blitz würde vom Himmel fahren und sie beide mitsamt dem Bären zu einem Braten rösten. Nach einer Weile jedoch beruhigte sich der Herzog wieder, und sie begannen gemeinsam, das Unterdeck nach Waffen abzusuchen. Über dem hinteren Teil befand sich eine Art Gitter oder Rost, so daß sie wenigstens Licht hatten; von Zeit zu Zeit pflanzte sich der Bär über diesem Gitter auf und brummte die beiden an oder steckte seine Tatzen hindurch, als wolle er nach ihnen fischen. Die einzigen Waffen, die sie finden konnten, waren ein paar alte Fischmesser, die jedoch nicht sonderlich scharf waren. Herzog Mikalegon befestigte sie am Ende eines Stabes, und dann versuchten beide, den Bären damit durch das Gitter hindurch zu pieksen. Als sie das Messer, dessen Spitze nicht einmal die Haut des Bären aufgeritzt hatte, wieder zu sich hereinziehen wollten, verhakte es sich zwischen zwei Gitterstäben; der Bär hieb wütend
darauf, so daß der Griff zerbrach und das Messer in hohem Bogen durch die Luft segelte und klirrend auf den Planken des Decks landete. Zu allem Überfluß hatte sich jetzt auch noch das Tau, das der Bär noch immer an seinem Hals mit sich herumschleifte, irgendwo auf dem Deck verfangen, so daß der Bär, selbst wenn er gewollt hätte, das Schiff gar nicht mehr verlassen konnte. ›Was sollen wir jetzt tun, Herr?‹ fragte der Mann, der trotz der mißlichen Lage, in der sie sich befanden, alle Mühe hatte, nicht laut und schallend loszulachen – aber er war klug genug, dies nicht vor Herzog Mikalegon zu tun. Der Herzog schalt ihn einen Dummkopf und fragte ihn, ob er nicht einen Zauber wisse, mit dem man sich das Vieh vom Halse schaffen konnte. Der Mann war, wie ich schon erwähnte, aus Korosh, wo fast jeder ein paar magische Kenntnisse beherrscht, schon wegen der Nähe der Mictonier, die das Land immer wieder mit ihren Kobolden heimsuchen. Er antwortete, er könne zwar ein wenig zaubern, Bären jedoch wisse er damit nicht zu vertreiben. Der Herzog brüllte, er würde ihm die Ohren langziehen, wenn er nicht sofort seinen Zauber, egal welchen, anwendete. Dem armen Mann blieb also gar nichts anderes übrig, und er gab protestierend dem Drängen des Herzogs nach. Als er mitten im Aufsagen des Zauberspruches war, grunzte und schnaufte der Herzog so laut, daß der gute Mann einfach nicht länger an sich halten konnte und genau im falschen Moment in brüllendes Gelächter ausbrach, das er solange zurückgehalten hatte. Der Zauberspruch brach in der Mitte ab. Sagte ich nicht, daß es sich um einen Zauber gegen Kobolde
handelte? Und sie kamen, sie kamen in hellen Scharen, in der Gestalt von Nixen, das ist eine Art von Seekobolden, wie wir sie hier im Norden haben. Sie fielen zu Dutzenden wie ein Schwarm Bienen über die Schaluppe her und behängten sie über und über mit Seetang und Fichtenzweigen, so daß das Boot schließlich aussah wie ein jahrhundertealtes Wrack auf dem Grunde des Meeres; aus dem Bären machten sie ein zahmes Haustierchen und tollten mit ihm auf dem Deck herum. Und je lauter und wütender Herzog Mikalegon unter Deck tobte, desto wilder und ausgelassener tanzten sie, den Bär in der Mitte, auf dem Deck herum; es ist nämlich die Aufgabe und die Natur dieser Nixen, Fröhlichkeit zu verbreiten, wenn einer in einer verhängnisvollen Lage steckt, damit er dem Tod gelöster ins Auge sehen kann und ihn nicht so schwer nimmt. Die Nixen hinderten das Schiff auch daran, an Land zu treiben, und die beiden Helden an Bord wurden die ganze Nacht über von ihrem Gekicher und Geschrei wachgehalten. Seine Hoheit wurde erst tags darauf aus seiner mißlichen Lage befreit, als einige auf der Burg argwöhnten, das Boot sei von Mictoniern überfallen worden, und hinausfuhren, ihn zu suchen. Als die Geschichte bekannt wurde, da brüllte das ganze Land vor Lachen – von den Bergen von Korosh bis zu den Gentebbi-Inseln blieb kein Auge trocken, und der Herzog fluchte wie ein Ruderknecht und drohte demjenigen die Hölle auf Erden an, der es jemals wagen sollte, die Würde von Os Erigu in den Schmutz zu ziehen, indem er die Geschichte auch nur mit einem Wort noch einmal erwähnte. Und nun war ich der Dumme; weh mir!«
27 Os Erigu: Ein Geschenk wird zurückgewiesen Airar sah Argyra am darauffolgenden Tage; sie spazierte entlang der Brustwehr, die dem Meer zugewandt lag. Jedoch war sie nicht allein; ihre Schwester Aurea war bei ihr. Als diese Airar erblickte (was er von weitem erkennen konnte), wandte sie sich um, hielt ihre Schwester beim Arm fest und sagte etwas zu ihr, wobei sie vernehmlich lachte. Das goldene Weibsbild schritt genau zwischen ihm und Argyra einher, als die beiden auf Airars Höhe angelangt waren; sie verdeckte ihre Schwester derart mit ihrem Körper, daß Airar nur mit Mühe einen Blick von ihr erhaschen konnte. Er machte eine Verbeugung; Aurea nickte ihm überaus kühl und reserviert zu, und seine Angebetete flüsterte kaum hörbar einen Gruß. Die Vulkinger hatten die ganze Nacht über beim Schein von Fackeln gearbeitet; bis zum Morgengrauen hörte man das durch den Regen gedämpfte dumpfe Rumpeln und Rattern ihrer Karren die pausenlos eintrafen und sofort entladen wurden. Pleiander drängte darauf, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, auch wenn die Vulkinger noch weit entfernt von den Burgmauern waren, und Herzog Mikalegon trommelte alle im Bereich der Burgmauern verfügbaren Maurersleute zusammen und hieß sie einen steinernen Wall vom Südende der Burgmauer zum Hauptturm und von da aus weiter zur Hafenseite bauen, eine Art Lünette. Airar hatte den Eindruck, als gingen die Männer dabei reichlich lustlos und ungeschickt zu Werke; sie legten wenig von dem Ehrgeiz an den
Tag, dessen es bedurft hätte, um der fieberhaften Eile, mit der die Söhne Briellas beim Bau ihres Dammweges voranschritten, etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Statt dessen legten sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Pause ein, um zu trinken und sich Scherze zu erzählen. Herzog Mikalegon kam zu der Seite der Brustwehr und ließ mit einem der Katapulte eine steinerne Kugel abfeuern. Das Geschoß landete weit vor der Stelle, wo der Feind arbeitete; der Herzog knurrte wütend und verschwand wieder. Etwas später am gleichen Tag kam Rogai zu Airar, der an der Brustwehr stand und die Vulkinger bei ihrer Arbeit beobachtete. Er trug die grobe, unscheinbare Tracht des Gebirgsvolkes, schritt aber erhobenen Hauptes wie ein Widder einher, voller Stolz auf die ihm übertragene Mission, auf die er sich noch in derselben Nacht begeben wollte. »Graf Vulks Baron ist gut mit der Arbeit vorangekommen; aber wenn seine Männer erst müde und hungrig sind, sieht die Sache ganz anders aus.« Airar, der die ganze Zeit über nachgegrübelt hatte, wozu wohl die Unmengen von Bauholz dienen sollten, die auf dem langsam wachsenden Dammweg aufgestapelt waren (für Kriegsmaschinen war es zuviel), riß sich aus seinen Gedanken los, um dem Mariolaner viel Glück für sein Unternehmen zu wünschen. Alsdann begab er sich zum unteren Burghof, in der Hoffnung, wenn schon nicht Argyra, dann wenigstens Meliboë irgendwo zu begegnen. Er hatte den Zauberer seit jener Nacht, in der er den Schwur geleistet hatte, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Anstelle des Erhofften traf er jedoch Aurareus, der mit einem seiner Burschen – Airar glaubte sich erinnern zu kön-
nen, daß er Balinian hieß – über den Hof promenierte. Der Prinz schien nicht in bester Stimmung; dasselbe galt für Balinian, der nach einem kurzen Nicken, mit dem er Airars Gruß erwiderte, sofort wieder den Blick abwandte. Airar war schon entschlossen, ohne weitere Worte an den beiden vorüberzugehen. Der Prinz schien ähnliches im Sinn zu haben, doch dann blieb er plötzlich stehen, als habe er sich kurzerhand anders entschieden, und rief Alvars Sohn mit honigsüßer Stimme zu, er brauche sich nicht zu schämen wegen seines Eides. Es sei eine akzeptable Liebesbezeugung gegenüber einem der Mitglieder des kaiserlichen Hauses, wenn Airar auch mit seinen Worten ein wenig über das Ziel hinausgeschossen sei: »Wenn Ihr allerdings, wie manche behaupten, ein waffentragender Herr seid, bezweifle ich, daß Ihr den Wunsch habt, Namen ins Gerede zu bringen – es sei denn die von Feinden. Die Freude des wahren Herrn ist es, nur die zu verletzen, die er haßt.« »Ich bitte Euch, entschuldigt mich bei ihr«, sagte Airar, »denn wie es scheint meidet sie mich.« »Ihr habt mich mit Hoheit anzureden. Eure Entschuldigungen sind nicht nötig. Sie ist auf Eurer Seite – und wird Euch selbst empfangen; obwohl ihr Geschmack, was Farben anbetrifft, eher den dunklen Tönen zuneigt, wie bei den Bauernmädchen aus Scroby. Unsere Schwester ist darauf bedacht, die Aufmerksamkeit mit anderen Mitteln auf sich zu lenken. Hat sie Euch erzählt, wie sie geschworen hat, eher in den Tod zu gehen, als diesen Stenophon zu heiraten? Ich entnehme Euren Blicken, daß sie es hat – jetzt schon! Es bedeutet Gefahr; wir fürchten um Euch.« Er lachte schrill und gackernd.
Wie sollte Airar diese dunklen Andeutungen verstehen? Er sagte dazu am besten überhaupt nichts. »Doch verzweifelt nicht. Unsere Schwester, Junker Airar, wird bei Hofe nicht allzu ernst genommen, nicht einmal von ihr selbst. Aber sagt uns eins – seid Ihr bequem untergebracht? Dieser Herzog ist wirklich entzückend. Wir werden dafür sorgen, daß der Strick, an dem er aufgehängt wird, aus Seide ist; er hat uns nämlich ein prächtiges Gemach zur Verfügung gestellt, groß genug, daß es sogar Platz bietet für unsere lieben Freunde, sogar mit Bedienung.« Mit diesen Worten winkte seine Hoheit Airar gnädig zu, der letztere bestätigte artig, daß auch er zu seiner vollen Zufriedenheit untergebracht sei, und damit war die Unterhaltung beendet. Die Tage schleppten sich zäh dahin, die Vulkinger arbeiteten emsig an ihrem hölzernen Damm (aber sie hatten noch immer ein recht ordentliches Stück Weg vor sich), und die Stimmung der Männer auf der Burg sank merklich. Ein kleines Schiff, das aus Gentebbi kam, brachte die Nachricht mit, Bordvin Wildfang höchstpersönlich habe sich nach Gentebbi begeben; er habe die Freiheits-Charta für null und nichtig erklärt, unter denen, die sich dagegen aufgelehnt hätten, ein Blutbad angerichtet, und nun sei er dabei, dort eine Burg zu bauen. Alsander erklärte, man habe in einem Krieg schon zwei Drittel des Sieges in der Tasche, wenn man es verstünde, geduldig zu warten, bis die zum Losschlagen günstigste Gelegenheit herangereift sei. Und eines Abends, als sie brütend und mißgelaunt über etlichen Kannen Bier zusammenhockten, dachte der schlaue Pleiander laut darüber nach, einen riesigen Trebuchet zu bauen, der eine
weit größere Reichweite hatte als die Steinschleudern der Vulkinger. Gegen eine solche Wurfmaschine würden die Feinde keine Chance haben. Ein paar von Herzog Mikalegons Leuten wurden in Richtung Norden losgeschickt, um Holz dafür zu besorgen. »Nicht daß ich mir von dem Ding allzuviel verspreche«, hörte Airar den Sternenhauptmann seiner Schwester Evadne zuflüstern, »denn ehe wir das Ding fertig haben, sind die Vulkinger ohnehin bis auf einen Steinwurf heran. Aber so geraten die Männer wenigstens ordentlich ins Schwitzen und haben das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben, und das ist das A und O bei jeder Belagerung.« Airar hätte gern noch weiter gelauscht, denn das, was er da vernahm, schien von großer Wichtigkeit zu sein. Aber Evadne hatte schon bemerkt, daß er die Ohren spitzte, und lenkte vom Thema ab, indem sie ihn mit seiner offenkundigen Verehrung Argyras hänselte: »Nun, Meister Airar, macht die Eroberung des kaiserlichen Kätzchens Fortschritte? Habt Ihr ihm schon das Fell gestreichelt? Nein, sicher seid Ihr einer dieser schüchternen Liebhaber, die sich erst trauen, wenn die Frau sie schon halb vergewaltigt hat, oder?« Zu allem Überfluß lachte sie ihn auch noch aus, als er puterrot wurde. Als er den Blick von ihr abwandte, sah er, daß der Zauberer Meliboë mit dem Finger ein Zeichen machte, das er als Aufforderung für eine Unterredung unter vier Augen verstand. Der alte Mann verließ die Tafel früher als gewohnt, und als Airar aus der verräucherten Versammlungshalle auf den gepflasterten Hof trat, schritt der Zauberer schon mit auf dem Rücken verschränkten Armen wartend auf und ab.
»Junger Herr«, begrüßte er ihn, »Ihr fallt mir mehr zur Last, als daß Ihr mir von Gewinn seid; und dennoch: Selbst wenn ich mit Euch überhaupt nichts gewönne, würde ich mich noch immer mit Euch herumärgern. Ein Geheimnis.« »Das habe ich nun schon mehrmals gehört«, erwiderte Airar ein wenig barsch; er fühlte sich alleingelasen, von allen gemieden; er war in einer Stimmung, in der er seinem besten Freund eins hätte auswischen können; »aber wenn Ihr mir etwas Neues zu sagen habt, dann will ich gern zuhören.« »Tsa, Geduld webte das Spinnennetz, und Spinnen können Wespen fangen, junger Mann; Ihr habt mich schon ganz schön in Verlegenheit gebracht.« Er ging ein paar Schritte weiter, die Arme noch immer hinter dem Rücken verschränkt. »Ich weiß nicht, ob Euer Glück stark genug ist, um das Gewicht, mit dem Ihr es belastet, tragen zu können, aber da Ihr ja nun einmal den Weg gewiesen habt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Euch das Pferd zu verschaffen. Ich habe gewisse Dinge für Euch unternommen, und glaubt mir, es war keine leichte Aufgabe. Wenn Ihr heute nacht an die Tür ihres Gemaches klopft, wird Euch keine Geringere empfangen als Aurea, die Prinzessin des Kaiserreiches.« »Und wozu soll das nutze sein? Ich bin auch von seiner Hoheit von Salmonessa empfangen worden.« »Halt, halt; nicht gleich so gereizt! Da Aurareus zu dem geworden ist, was er ist, und der Alte nur noch ein sabbernder Tattergreis ist, ist sie die wahre Herrin des kaiserlichen Hauses.« »Und weiter?« »Nichts und weiter! Wenn Ihr Eure Angebetete ha-
ben wollt, dann rate ich Euch dringend, dieses Rendezvous nicht zu verpassen.« Airar atmete tief durch, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. »Zu welcher Stunde?« »Aha, nun habt Ihr doch angebissen, nicht wahr? Sagen wir, zur nächsten Drehung des Stundenglases, wenn der Herzog so betrunken ist, daß er ins Bett getragen werden muß, und die anderen mit ihren Tanzmädchen beschäftigt sind. Wißt Ihr, wie Ihr dorthin gelangt?« »Das Haus mit dem grünen Dach am Fuße des Turms in dem Winkel. Schaut! Man kann das Licht von hier aus sehen!« »Ihr wißt also, wie man dort hinkommt. Klopft an der Tür und verhandelt mit ihr; ich selbst werde ebenfalls zugegen sein.« Airar wartete ungeduldig und schätzte in Gedanken die Zeit. Es schien eine Unendlichkeit zu dauern, bis endlich der rechte Zeitpunkt gekommen war. Einmal hörte er lautes Stimmengewirr hinter der Halle und sah, wie eine Fackel ihr tanzendes Licht auf die dunklen Mauern warf, als einer der Zecher sich zur Ruhe begab. Als er anklopfte, erlosch im Innern das Licht. »Wer da?« rief eine Stimme. Es war ihre. »Airar von Trangsted.« Die Tür schwang auf, und sie stand vor ihm. Sie drückte ihm freundlich die Hand; kein Zweifel: Ihre Begrüßung war die eines Freundes. Sie führte ihn durch einen kleinen dunklen Raum und rief Aurea zu, daß alles in Ordnung sei. Er hörte, wie Feuerstein auf Eisen schlug; die Prinzessin war aufgestanden, um eine Lampe anzuzünden, aber als sie Airar eintreten sah, setzte sie sich wieder. Er machte eine etwas linkische Verbeugung.
»Willkommen, Lord Airar«, sagte sie leichthin, ganz Prinzessin, und streckte die Hand vor, was Airar die Hitze ins Gesicht trieb, da er nicht wußte, ob er sie nun berühren oder küssen mußte. »Sagt bitte nicht Lord«, entgegnete er und entschloß sich für die zweite Möglichkeit. Es war natürlich prompt die falsche, wie er dem leichten Zucken ihrer makellosen Lippen entnehmen konnte. »Setzt Euch doch bitte. Was ich mit Euch zu besprechen habe, wird eine Weile in Anspruch nehmen.« Die goldene Prinzessin warf ihrer Schwester einen Blick zu, und wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin verließ Argyra das Zimmer. Aurea schaute ihr hinterher, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann beugte sie sich vor, schlang die Arme um die Knie, und zu Airars großer Überraschung wurde ihr Gesicht mit einem Schlag ganz weich und freundlich, als sie ihn ansprach: »Der alte Zauberer ist Euer Fürsprecher und Botschafter. Ich wußte nicht, daß man in Dalekarlien so große Stücke auf Euch hält. Ihr könntet uns mit Eurem Rat von Nutzen sein.« »Ich – ich danke Euch, o reizende Dame.« (Eine Floskel, die er von Rogai aufgeschnappt hatte.) Wieder das Zucken um die Mundwinkel; hatte er schon wieder etwas Falsches gesagt? »Was haltet Ihr von unserem – unserem Freund?« »Herzog Mikalegon? Er scheint zuverlässig zu sein.« »Ja, weil er gar nicht anders kann. Seine freien Genossen hätten ihn im Handumdrehen gestürzt, hätte er Euch nicht seinen Schutz angeboten – mit so vielen Kämpfern und den Sternenhauptmännern von
Carrhoene, die ihn in diesem Krieg unterstützen können. Aber was andere Dinge betrifft: Wußtet Ihr schon, daß er Euren Mann Visto immer zu sich in den Schwarzen Turm holt?« Airar spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß. »Wie ich weiß, kann jeder in Os Erigu tun und lassen, was er will; Visto nicht weniger als alle anderen.« »Ach, Meister Airar; für jede Freiheit, die sich einer nimmt, muß doch ein anderer mit einem Nachteil bezahlen; ist es nicht so? Eines Tages wird auch Euer Herzog den Weg in die Ewigkeit antreten, sei es, daß er in diesem Krieg fällt, sei es, daß er eines ganz natürlichen Todes stirbt – und was wird dann mit Os Erigu und all seiner vielgepriesenen Freiheit? Da ist ein kleiner Haken bei all dem, was der Herzog tut – ist Euch das noch nicht zu Bewußtsein gekommen? Um seine Nachfolge ist es ebenfalls schlecht bestellt, es gibt keinen Erben, und da Os Erigu nicht dem Reich untersteht, kann die Nachfolge auch nicht durch richterlichen Entscheid geregelt werden. Ich befürchte, daß noch manch einer sein Leben lassen wird, bevor ein neues gekröntes Haupt wieder die freien Bünde anführt, und daß noch viele sterben werden, die sich mit ihrem Wunsch nach eigener Freiheit über diejenigen erheben, die die Herzogswürde anstreben.« »Ich finde nicht, daß ich mir jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen sollte, o reizende Dame.« »Aber ich tue es. Das heißt...« Sie hielt mitten im Satz inne, und Airar, der nicht recht wußte, ob das nun echt oder gespielt war, schaute sie erwartungsvoll an. »Schon gut. Ich vermute, es geschah aus einer momentanen Eingebung heraus – mehr für die Zuhö-
rerschaft gesprochen, nicht wirklich so gemeint.« »Was soll nicht wirklich so gemeint gewesen sein?« »Nun, ich meine, daß Ihr wirklich geschworen habt, meine Schwester mit allen Mitteln – redlichen und unredlichen zu erringen. Wenn es wirklich so gemeint war – nun, dann bedient Euch der Mittel, die Euch jetzt zur Verfügung stehen. Ich sehe nichts, was Euch zurückhalten könnte. Ihr seid in gewisser Weise Hauptmann hier, und wir sind Eure Gefangenen, die Eure Befehle ausführen müssen.« Airar fühlte, wie es ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken lief; aber er war gefaßt genug, um zu antworten: »Ein Teil dessen, was Ihr sagt, ist auf keinen Fall wahr. Ich habe in meinem Schwur nicht von guten oder schlechten Mitteln gesagt. Ich habe lediglich geschworen, ihr in allen vier Ecken der Welt nachzufolgen, dies jedoch in aller gebührenden Ehre und Zuneigung. Ich – ich würde sie niemals gegen ihren Willen haben wollen.« Sie legte einen Finger an ihr Kinn und betrachtete ihn nachdenklich. »Edel und romantisch. Es fehlt Euch gewiß nicht an den Flügeln, derer es bedarf, von Eurem kleinen Besitz i n Trangsted geradewegs zum Kaiserlichen Hause zu fliegen. Sind alle Dalekarlier so wie Ihr? Ich erinnere mich da an einen Herrn Ludomir Ludomirson, einen Landsmann von Euch. Er war einige Male bei uns am Hofe. Ein sehr halsstarriger Mann. Aber«, sagte sie mit einem Seufzer, »die Tochter der Tochter des Ritters von Bremmery kann noch nicht allzuviel darüber sagen, und der alte Zauberer behauptet, Ihr seid einer der am meisten vom Schicksal begünstigten Männer. Ihr schwort ebenfalls, wie man mir berichtete, Dalekarlien der Regierungsgewalt der
Grafen Vulk unserer Statthalter, zu entziehen. Sollte auch das wahr sein, nun, dann macht Ihr Euch zu meinem Feind – sobald ich verheiratet bin; und mein allerliebstes Schwesterchen wäre dann ebenfalls meine Feindin, solltet Ihr sie für Euch gewinnen.« »Ihr seid noch nicht verheiratet«, wandte Airar ein, aber seinen Worten fehlte das Feuer. »Nun, was das anbetrifft, so macht Ihr Euch mir ebenfalls zum Gegner; und auch zu dem meiner Schwester, durch den Schwur, den Ihr leistetet. Sie ist ein Kind der Quelle und des Kaiserreiches, und Ihr steht unter seinem Bann.« Sie blickte ihn voll an. »Ich hatte gedacht...«, begann Airar, doch sie fiel ihm ins Wort. »Nein, ich habe das Gefühl, Ihr hattet überhaupt nicht nachgedacht, oder höchstens darüber, wie Ihr über diese freien Bünde von Os Erigu dominieren könnt, die von der großen Welt isoliert sind. Ihr seid ein sehr romantischer Denker, Lord Airar. Wer sich seine Braut unter denen sucht, die für die Politik geboren sind, muß sich zwangsläufig mit den Dingen der Politik befassen.« Airar gab sich einen verzweifelten Ruck. »Schöne Frau«, rief er, »wollt Ihr mir sagen, daß mein Freien vergeblich ist, wenn ich nicht meine Hoffnung aufgebe, das Land, das ich liebe, frei und glücklich zu sehen?« »Ganz und gar nicht, dummer Junge. Ich bin nicht minder Euer Fürsprecher als der alte Zauberer.« Sie streckte die Hand vor, um ihm den Arm zu tätscheln. In diesem Augenblick war ein erneutes Klopfen an der Tür zu hören. Jemand pochte zweimal. Argyra huschte eilig an Airar vorbei, der sie mit den Blicken
verzehrte. An der Außentür hörte der junge Mann leises Gemurmel, und dann betrat Meliboë den Raum. Als er an der Wand entlangglitt, sah es für einen Moment im Lichte der tiefstehenden Lampe aus, als seien seine Augen geschlossen. Er sprach nicht. Prinzessin Aurea nickte ihm kurz zu und wandte sich wieder Airar, dem Sproß von Trangsted, zu. »In der Politik ist alles möglich. Ich vertraue Euch jetzt Geheimnisse an, die Ihr niemals weitererzählen dürft...« Sie schaute ihm fest in die Augen. »... aber die Kanzlei des Reiches schaut dem Treiben der vulkingischen Herren mit großer Besorgnis zu. Daß sie das durch und durch verderbte Salmonessa eroberten, war gut. Sogar die Bischöfe äußerten sich wohlwollend darüber. Es mag auch noch angehen, daß sie diese Festung hier angreifen wollen; nicht zuletzt, weil wir als Mitglieder des Kaiserhauses hier gefangen sind; außerdem ist Os Erigu dem Kaiser nicht durch einen Treueeid verpflichtet. Aber sie hatten kein Recht, Mariupol auf solche Weise zu unterwerfen; ebenso muß ihr Verhalten in den Weißflußtälern scharf zurückgewiesen werden. Und es ist ebenfalls zu verurteilen, daß sie diese Angelegenheit mit Os Erigu auf kriegerischem Wege durchführen wollen, ohne es vorher mit Verhandlungen zu versuchen.« »Aber all dies ist doch das Werk des Grafen Vulk, oder irre ich mich da? Wie ich hörte, wollen sie...« »Nein, dahinter steckt dieser schon halb überführte, abgefeimte Schurke Bordvin Wildfang, der schon lange Ränke schmiedet, um selbst Graf zu werden. Und somit sind wir nun schließlich doch Verbündete, Ihr und ich, haben wir doch beide denselben Feind.« Airar wollte etwas sagen, aber er fand keine Worte.
»Und warum sollen wir dann nicht ein Bündnis in aller Form eingehen? Die Würde des Hauses gebietet es, daß meine Schwester ein kaiserliches Wittum erhält; warum nicht die Hauptstadt von Mariola, in der Bordvin so grausam gewütet hat – dazu so viele Oberlehnsherrschaften in Västmanstad, wie nötig sind, die Würde aufrechtzuerhalten? Damit ist Bordvin ruiniert, zumal gleichzeitig mein Zukünftiger die Herrschaft über Salmonessa behält. Wir werden Verwandte, Ihr und ich – ein angenehmer Gedanke.« »Und was wird aus Herzog Mikalegon?« wollte Airar wissen. »Als Graf von Mariola seid Ihr ihm gleichgestellt. Behandelt ihn auch so. Ich verbürge mich für die Verbindung; vergeßt nicht, daß er für seinen Nutzen und Vorteil Krieg führt.« »Und Hestinga – und die Weißflußtäler?« »Feilscht nicht um den Aina, Lord Airar. Ich kann nicht umhin zu vermuten, daß sie unter der Herrschaft von Vulk und Lacia bleiben müssen.« Einen Augenblick lang schwindelte ihm, und die Bilder in seinem Kopf überstürzten sich: vor noch nicht allzu langer Zeit Airar, der Junker, der von Haus und Hof getrieben wird, dann Airar, der Anführer einer Gruppe von fünfzig Mann, als nächstes Airar, der Graf von Mariola – und was mehr als alles andere wog: Gemahl von Prinzessin Argyra. Er merkte gar nicht, wie sein Mund offenstand. Doch dann wanderten seine Gedanken zu Rogai, zu seinem eigenen Vater, zu Leonce Fabrizius und zu dem alten Rudr, dem Führer der freien Fischer. Er schloß seinen Mund so heftig, daß er sich fast auf die Lippen biß. »Nein«, kam seine Antwort.
»Aber...«, begann Aurea, doch bevor sie weiterreden konnte, wurde sie von Meliboë unterbrochen, der, die Augen geschlossen, das Gesicht der Wand zugewandt, mit fast tonloser Stimme sprach. »Es bedarf schon einiger Philosophie zu erkennen, warum Patriotismus, wenngleich er als Tugend von den Menschen gepriesen wird, Kindern so sorgfältig eingeimpft werden muß, bevor sie ihn haben wollen. Er ist in der Tat keine angeborene Tugend, sondern lediglich ein Ersatz für die Liebe unter den Menschen, wie die Bischöfe sie empfehlen, eine Liebe, die nur eine Art von Mensch als Mensch anerkennt, ob er nun blondes Haar hat oder im Dialekt von Lacia spricht.« »Ich will nicht, und wenn Ihr mich zum König macht!« Das Gesicht Aureas, der Prinzessin, zeigte überraschenderweise weniger Zorn als eher ein trauriges Lächeln. »Man könnte sagen... ich meine, es ist gut, daß wir nicht auf Lord Airars Vorschlag eingegangen sind, ihm eine größere Stadt als Mariola zu gewähren. Patriotismus, so nanntet Ihr es doch, Herr Zauberer, nicht wahr? Ich nenne es ein kleines erbärmliches Ding, nicht wert, einen solch großen Namen zu haben, bezeichnet es doch nur das engstirnige, kleinliche Interesse eines kleinen Teils von Dalekarlien, der nichts ist im Vergleich mit dem großen, allumfassenden Kaiserreich.« »Schöne Frau«, fragte Airar mit fester Stimme, »wie kann das Ganze groß sein, wenn seine Teile zerbrochen sind?« »Ich sagte Euch vorher, daß er nichts annehmen würde«, murmelte der Zauberer in der gleichen tonlosen Stimme wie vorher.
»Ist das wahr? Wollt Ihr es wirklich nicht?« Aurea sprang mit rauschenden Gewändern auf. »Ihr habt Unsere Erlaubnis, Euch nun zurückzuziehen. Meiner Schwester wird es leid tun.« Meliboë stand unbeweglich wie eine Statue, als Airar an ihm vorbeistürmte, die Gedanken ein einziger wirbelnder Strudel aus glühender Hoffnung und wilder Verzweiflung. ›Meiner Schwester wird es leid tun...‹ – die Worte rasten ihm unaufhörlich durch den Kopf, und er klammerte sich an ihnen fest; war es die Wahrheit? Oder war nun alles verloren, nicht nur das unerwartete Angebot? Sie kam nicht, um ihn hinauszugeleiten; als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, hörte er nur einen Schritt und das schabende Geräusch des Riegels, der vorgeschoben wurde. Von der Nordseite, der dem Meer zugewandten Seite der Burg, drang das schrille Gelächter eines Mädchens zu ihm herüber, bevor es mit einem kleinen Quieken abbrach Der Mond war verschwunden; der Bergfried hob sich vor seinen Augen dunkel und scharf umrissen gegen das verwirrende Licht der sommerlichen Sternennacht ab. Einen Moment lang starrte er gedankenleer geradeaus. Etwas berührte ihn; dann griff es schwach nach seinem Arm. Er fuhr herum, die Hand am Griff des Dolches. Leise Schauer liefen über seinen Rücken, als er sah, daß sie es war. Argyra. »Was wollt...«, begann er und sah, wie ihre weiße Hand hochfuhr und sich sanft auf seinen Mund legte, während sie hastig redete: »Lord Airar, es ist nicht gerecht. Ich muß Euch nur wissen lassen, daß der Plan meiner Schwester nicht von mir stammt. Ich versichere Euch, daß...« Nun war er es, der sie unterbrach. »Hört, ich bin
kein Lord!« sagte er fast heftig. »Ich bin nichts weiter als ein einfacher Bauer aus dem Oberland von Dalekarlien; und dennoch bin ich einer der es wagt, Euch zu sagen, daß er Euch mehr als nur einen Tag liebt; der Euch so liebt, wie ein Maulwurf den Stern lieben mag den er nicht sehen kann.« »Ihr tut mir weh, wenn Ihr meinen Arm so fest drückt. Ich weiß – sie benutzen diese Anrede, um Euch auf ihre Seite zu ziehen. Ich verspreche Euch, den Titel nicht mehr zu benutzen.« Sie wandte sich zum Gehen, streckte ihm noch einmal die Hand hin, und er fühlte, daß sie leicht zitterte. Im matten Schein der Sterne sah er, daß sie ihren Kopf geneigt hielt, während ihre Füße schon ungeduldig scharrten, um endlich wegzugehen. »Und ich nehme Euren getreuen Dienst an.« Er hielt ihre Hand noch immer fest in der seinen. »Ich würde die Erde für Euch einebnen, Saturn in seiner Bahn aufhalten oder für Euch ein Horn des Steinbocks stehlen...« »So überzeugt Ihr mich nicht. Wenn Ihr es ehrlich meint, dann bedarf es nicht all dieser Blumen; nur der Trug bedarf der Poesie.« »Oh, die Liebe – die Liebe selbst – ist Poesie, und hier...« Von jenseits des Bergfrieds kam ein dumpfes Dröhnen, dann ein durch die Entfernung verzerrter Schrei, und noch einer. Beide fuhren herum. Wieder das dumpfe Dröhnen. Jemand schwenkte am Bergfried eine Fackel gegen den nächtlichen Himmel, und gleich darauf zerriß ein greller Trompetenstoß die wattige Dunkelheit. Die Belagerung hatte nun ernsthaft begonnen.
28 Os Erigu: Die Katze erhebt sich zum Sprung Die Vulkinger hatten einen schweren Katapult hinter einem Schutzschild auf die oberste Plattform des hölzernen Turmes gehoben, den sie langsam mit Hilfe einer Winde bis zum Ende ihres immer länger werdenden Dammweges vorwärtsrückten. Airar stolperte über einen kleinen Stein, dessen Scherben und Splitter noch immer an den Brocken der Lehmkugel klebten, in die er eingebacken war. Pleiander stand neben einem ihrer eigenen Katapulte. Er trug eine stählerne Kappe und einen Schild. Sein Gesichtsausdruck schien sich zu ändern, als er sah, wie sich die Fackeln bewegten. Os Erigus Gegengeschoß hatte sein Ziel nicht erreicht, und die Männer schufteten schwitzend und fluchend an der Winde. Ein weiteres Geschoß kam über ihre Köpfe hinweggeflogen und landete krachend auf dem Pflaster. Einer der Carrhoener griff sich mit einem Schmerzensschrei ans Handgelenk. Pleiander stieß einen Fluch aus. »Sie schießen auf die Lichter!« schrie er. »Diades! Gonatas! Nehmt Fackeln und befestigt sie ein paar Schritte unterhalb von hier an der Mauer, damit sie ein neues Ziel haben. Los, los. Burschen, lustig weiterkurbeln, Hau-ruck! Habt ihr Muskeln aus Wasser?« »Was kann ich tun?« fragte Airar. »Legt Euren Panzer an, wenn Ihr hier oben bleiben wollt«, fuhr der Carrhoener ihn barsch und heftig an. »Das hier ist ein Fernkampf; Plan gegen Plan, nicht Hieb gegen Hieb; hier gewinnt der, der den anderen als erster mit ein paar Verwundeten in Angst und
Schrecken versetzt. – Laßt los!« Die Vulkinger hatten ein kleines Licht oben hinter ihrem Schußfenster. Airar sah, wie es hinter einem Schatten verschwand, als sie erneut einen ihrer lehmummantelten Steinbrocken abfeuerten. Stille – dann wieder das dumpfe Dröhnen der Erschütterung, als das Geschoß gegen die Brustwehr prallte, da, wo die Fackeln befestigt waren, begleitet von den spöttischen Jubelrufen der Carrhoener. Pleiander war unzufrieden. »Mit ihrem Turm sind sie uns an Reichweite überlegen«, schrie er. »Winde loslassen! Astyanax, besorg uns rasch drei oder vier Armbrustpfeile; wir binden sie zusammen und versuchen es mit einem Brandgeschoß vom Katapult aus; die Flügel tragen es vielleicht weit genug hinaus, daß wir ihnen ein wenig einheizen können.« Er drehte sich um und sah, daß Airar noch immer hinter ihm stand: »Was? Immer noch hier? Verschwindet, habe ich doch gesagt; geht und staffiert Euch aus! Jedes Leben zählt jetzt, selbst das Eure; dieser Baron Catina dort drüben ist offensichtlich ein schlauer Bursche, der seine Verbündeten kennt, und es wird noch ein lustiges Schwertfechten geben, bevor wir erledigt sind.« Aus dem Schatten ertönte ein Lachen. Airar wandte sich zum Gehen. In seiner Erbitterung merkte er gar nicht, daß er seine Finger verdrehte und schon dabei war, die ersten Worte eines Zauberspruches zu flüstern, der dem Sternenhauptmann die Krätze auf den Hals bringen würde. Doch dann erinnerte er sich seines Vorsatzes und brach den Spruch gerade noch rechtzeitig ab. In seinem Kopf hatte im Moment nichts anderes Platz als der Gedanke, wie schön Ar-
gyra war, die von Bauern aufgezogene Prinzessin. Er grübelte darüber nach, ob sie es wohl so gemeint hatte, wie er es wünschte... daß sie es meinte, als sie sagte, sie nähme seinen Dienst an. Es hatte jetzt ohnehin keinen Zweck, zur Mauer zurückzugehen; er legte sich auf sein Bett und lag lange Zeit wach, unfähig, in erlösenden Schlaf zu fallen. Ein wirrer Wust von Gedanken wirbelte in seinem Kopf herum, bis schließlich das Fenster über ihm blaßgrau wurde und der Lärm draußen aufhörte. Unversehens und unerwartet befand er sich zum erstenmal, seit er von Gython von Gentebbi geschieden war, wieder im Land der Träume. Ein einsamer Stern stieg über einem in düsteres Zwielicht getauchten See auf; in der Ferne läutete langsam eine Glocke. Er hörte ein Rauschen wie von riesigen Schwingen, und der Schauplatz seines Traums zerfloß vor seinen Augen. Er befand sich jetzt nicht mehr sanft schaukelnd auf den Wogen des Sees, sondern in einer unendlich langen Kolonnade von Bäumen, deren Wipfel hoch über seinem Haupt ein Dach bildeten, so daß erneut ein Dämmerlicht, diesmal ein ewiges, den Waldboden unter seinen Füßen in Schatten tauchte. In weiter Ferne, irgendwo zwischen den schlanken Stämmen der Bäume, blitzte etwas Weißes auf – ein Einhorn, das mit fliegenden Läufen dahingaloppierte. In seinem Traum wußte Airar, daß nur eine Jungfrau dieses Tier zähmen konnte, aber er verspürte in sich übermächtig das Verlangen, es bei sich zu haben, und rief es mit den Worten der alten Sprachen an, die einen Zauber auf alle verwunschenen Tiere ausübten, so daß sie zum Freund wurden dessen, der sie rief. Sein Vater hatte
ihn einst diese alten Sprachen gelehrt. Das Einhorn blieb stehen, hob den Kopf und witterte die freundliche Luft, die ihm entgegenwehrte. Dann kam es auf Airar zu. Doch als es näherkam, ragte aus seiner Stirn kein Horn, sondern ein blankes Schwert, und als er erwachte, blickte er in das Gesicht des langen Erb, der ihn schüttelte. »Kommt, junger Herr! Beratung! Für alle außer den Langschläfern!« Sie waren schon alle versammelt, als Airar kam. An den Gesichtern konnte er erkennen, daß sie sich schon gestritten hatten. Pleiander stand am Fenster, die Hand am Griff des Schwertes und summte eines seiner carrhoenischen Lieder vor sich hin. Alsander betrachtete seine Fußspitzen, und Evadne blickte starr geradeaus; auf ihren Wangen brannten rote Flecken. Ihr gegenüber saß der Herzog; er war unverwandt damit beschäftigt, sich dicke Büschel seines schwarzen Bartes in den Mund zu stopfen, darauf herumzukauen und sie wieder auszuspeien – eine üble Angewohnheit, wie Airar fand, aber eine, die ihn so häßlich und gefährlich aussehen ließ, daß man ihm hätte zutrauen können, imstande zu sein, eine giftige Viper totzubeißen. Poë befand sich nicht unter den Hauptmännern, die ihn schweigend musterten. An einer Seite des Tisches saß ein Mann mit einem Bauerngesicht, der eine knallbunte Mütze zwischen den Händen drehte und nervös mit den Füßen auf dem Boden scharrte. »Da habt Ihr Euren berühmten Hauptmann und Justitiar«, höhnte Evadne. »Doch Vorsicht vor ihm; er verkauft euch alle an Stassia für den Kuß eines Milchmädchens.«
»Das war nicht recht von dir gesprochen, Bruder«, sagte Alsander. »Dies hier lastet auf unser aller Schultern.« Er wandte sich Mikalegon zu: »Darf ich fortfahren, Herr?« »Da gibt's verdammt wenig zu sagen. Unlösbar. Höllenfeuer...« »Mit Eurer Erlaubnis, Herr...« Dann, an Airar gewandt: »Os Erigus Herr und Befehlshaber; damit sind wir doch alle einverstanden, und keiner spricht ihm dieses Recht ab. Doch sind wir nicht gemäß seiner eigenen Grundsätze freie Genossen? Und nun haben wir uns über der Frage zerstritten, wie wir es am besten bewerkstelligen, uns vor diesen Vulkingern zu retten. Wir haben, auf unser Recht auf freie Entscheidung pochend, den Entschluß gefaßt, uns nach Micton abzusetzen. Aber seine Hoheit sagt, man müsse eine einmal eingegangene Verpflichtung auch bis zum Ende erfüllen. Ja, er geht sogar so weit zu sagen, daß sogar freie Geister voneinander abhängig sind, bis die Verpflichtung erloschen ist. Wo liegt denn da die Linie? Könnt Ihr sie uns vielleicht zeigen?« Airar wünschte in diesem Moment, überall zu sein, nur nicht da, wo er war. »Wollt Ihr mir ein Urteil übertragen?« fragte er unbehaglich. »Nicht unter den Bedingungen wie damals in den Bergen von Hestinga«, rief Evimenes. »Hier geht es um Leben und Tod.« »Da mache ich nicht mit!« brüllte der Herzog, wobei er einen zerkauten Bartzopf ausspie. »Was! Was! Einen Urteilskuhhandel auf meiner eigenen Burg? Niemals!« »Mit der Freiheit Eurer sogenannten freien Genossen kann es ja nicht weit her sein«, sagte Airar, »wenn
sie schon unter der erstbesten Belagerung zusammenbricht.« »Das weiß ich nicht«, knurrte der Herzog, »aber ich weiß eines: daß ich nämlich keine Eidbrecher ausstehen kann, die erst angerannt kommen, den Mund voll großer Versprechen, und um Hilfe winseln und die dann, wenn nicht alles so läuft, wie sie sich das vorgestellt haben, nein sagen und sich verdrücken.« »Eidbrecher!« schrie Pleiander wütend, und sein Schwert fuhr aus der Scheide wie ein Blitz. Die Hauptmänner sprangen mit metallischem Klirren auf. Doch Airar, der glücklicherweise genau zwischen den zwei Parteien stand, hob beschwichtigend die Arme, um sie zurückzuhalten. »Was soll das?« schrie er. »Urteil oder nicht, sie schießen Steinbrocken gegen die Burgmauern, und wir haben nichts Besseres zu tun, als uns in die Haare zu kriegen! Es wird Zeit, daß wir uns vertragen! Wer anders als die verdammten Vulkinger profitiert davon, wenn wir uns gegenseitig beleidigen oder gar mit den Schwertern bedrohen?« Ein Schweigen folgte, in dem man die Spannung im Saal fast knistern hören konnte. Doch nach einer Weile schienen sich die Gemüter wieder beruhigt zu haben. Pleiander steckte sein Schwert zurück in die Scheide, und Alsander ergriff das Wort: »Also, ich will noch einmal genau erklären, worum es geht: Unser Bruder Pleiander, der mehr von Belagerungen versteht als jeder andere hier im Saal, sagt, daß die Burg dem Untergang geweiht ist, wenn wir nicht irgendwie versuchen, von See her eine Operation zu unternehmen. Aber Herzog Mikalegon ist nicht bereit, dafür seine Schiffe aufs Spiel zu setzen.«
»Unsere Schiffe sind unsere einzige Sicherheit«, begann Mikalegon, »und wenn sie mit ihrem Turm bis an die Mauern herankommen, sind wir erledigt«, beendeten er und Pleiander den Satz gleichzeitig. »Ich bin nicht genau unterrichtet«, sagte Airar. »Können sie nicht mit Brandgeschossen von Euren Katapulten in Schach gehalten werden?« »Sie haben das Ding mit Kuhhäuten behängt; so kann das Feuer sie nicht packen.« »Was ist mit Rogai, der in Korosh ihren Nachschub stört?« »Ah-wah-ha-ha-ha-huup!« lachte Mikalegon laut dröhnend, die Finger in seinem Bart vergraben. »Hier ist Euer Mann aus Korosh; Ihr könnt ihn ja fragen. Nein, ich erzähl' es lieber selbst, das geht schneller. Euer Rogai hat die Bergbewohner inzwischen informiert; aber mittlerweile haben wir es mit zwei ganzen und einer halben Tercia zu tun. Eine weitere halbe ist schon auf dem Weg hierher. Ihre Geleitzüge sind zu stark, als daß man sie abschneiden könnte; der ganze Nachschub kommt aus Briella; der Geleitschutz ist bis an die Zähne bewaffnet, und außerdem wird er von solch schreckenerregendem Zauber geschützt, daß den Männern von Korosh vor Grauen die Hosen schlottern. Von jener Seite ist also nicht viel Hilfe zu erwarten.« »Dazu kommt, daß sie mit Holz und Schutt natürlich viel schneller bauen können als wir hier in der Burg mit Steinen«, fügte Pleiander hinzu. »Sie überragen uns mit ihrem Turm und zertrümmern unsere Brustwehr mit ihren Katapulten. Ein Rammstoß...« »Was ist also zu tun?« fragte Airar. Nun redeten alle gleichzeitig drauflos, aber Airar
konnte bald die jeweiligen Standpunkte erkennen, die sich aus dem Durcheinander herausschälten. Herzog Mikalegon war dafür aufzugeben, die Burg zu räumen, mit allen verfügbaren Schiffen in See zu stechen und für sich und seine freien Bünde eine neue Heimstatt zu suchen; Uravedu vielleicht oder die Gewürzinseln, wo es gewiß ein leichtes sein würde, die blauen Menschen zu unterwerfen; vielleicht auch Dzik, wenn sich nichts anderes finden ließe. Evadne hingegen lehnte das schlankweg ab; sie war dafür, zu kämpfen oder zu fallen; Carrhoene würde ihnen niemals ihre Niederlage verzeihen! »Und Dalekarlien die unsrige auch nicht!« rief Airar. »Wofür kämpfen wir denn? Für unseren persönlichen Vorteil oder für die Zukunft unseres Landes?« Wenn Herzog Mikalegon auch vielleicht anderer Auffassung war, so scheute er sich jedenfalls in diesem Augenblick, dies offen zu bekennen. Airar wartete eine Pause des Schweigens ab und fügte hinzu: »Aber ich verstehe nicht ganz, wie Ihr es bewerkstelligen wollt, sie von See her zu schlagen, Meister Pleiander.« »Ganz einfach«, antwortete der Carrhoener. »Wir bringen unsere Leute auf die Schiffe und beladen sie mit Sturmleitern, Brücken und ähnlichem Gerät; dann greifen wir den Damm an, stürmen ihn und stecken ihren Turm in Flammen; wahrscheinlich geht sogar ein Teil ihres Dammes unter, so daß sie erst das ganze Holz wieder wegräumen müssen. Aber wie auch immer; Angreifen müssen wir sie auf jeden Fall – wenn nicht, dann gute Nacht, Os Erigu.« Herzog Mikalegon knurrte. »Genau dieser Plan ist es, den ich ablehne. Denn hört zu: Sie hauen meine
Schiffe mit ihren Steinschleudern in Stücke und setzen sie mit ihren Feuertöpfen in Brand, bevor wir herangekommen sind. Ganz zu schweigen davon, daß wir uns, wenn wir es tatsächlich schaffen sollten, an den Damm heranzukommen, die Böden der Schiffe auf den Felsriffen zerschlagen. Und angenommen, wir verbrennen ihren Turm; mit so etwas kann man Spielzeugkrieger aus den Zwölf Städten einschüchtern, aber keine Vulkinger; die sind aus anderem Holz geschnitzt. Sie werden ganz einfach einen neuen bauen. Und wo sind wir dann, ohne Schiffe, ohne jede Möglichkeit, von hier fortzukommen? Wenn das der einzige Plan ist, den dieser famose Belagerungsspezialist machen kann, dann sage ich lieber, pfeifen wir drauf und lassen wir alles liegen und stehen! Was?« »Ich würde gern hören, was Alsander dazu sagt«, wandte Airar ein. Evadne wollte etwas sagen, aber Alsander schnitt ihr das Wort ab: »Was den Plan betrifft, ist das, was seine Lordschaft sagt durchaus vernünftig; denn wenn alle Schiffe bei der Operation verlorengehen, stehen wir mittellos da, und das ist der Turm nicht wert; den haben sie über kurz oder lang wieder aufgebaut. Aber warum gleich den Schwanz einziehen? Noch ist nicht alles verloren.« »Es schien mir, als habe der Herzog etwas gesagt, was den Schlüssel zum Erfolg liefern könnte«, gab Airar zu bedenken. »Nämlich, daß der Damm von einem Schiff durch die Felsen hindurch erreicht werden kann.« Herzog Mikalegon hörte mit einem Schlag auf, auf seinem Bart herumzukauen, und alle starrten ge-
spannt auf Airar, um zu hören, was er zu sagen hatte. »Wollen wir Männer zu dem Turm schicken? Das nicht – aber Feuer! Warum nicht einfach ein einziges Schiff hinschicken, die Leitern und Brücken darauflegen, so daß sie über den Schiffsrand hinausragen, daran Töpfe mit Brennstoff hängen... Und wenn das Schiff gegen den Dammweg treibt, dann setzen diese Töpfe den Turm in Flammen. Wenn sich das Schiff fest genug in dem Damm verkeilt, dann mögen sie es zwar angreifen und erbeuten, aber sie werden es auf keinen Fall schaffen, es wegzubekommen.« »Das ist die Lösung!« schrie Mikalegon begeistert. Pleiander, von Natur aus etwas vorsichtiger, kratzte sich mit nachdenklicher Miene sein eckiges Kinn und sagte nach einem Moment des Überlegens, er glaube, das sei zu machen, aber der Trick allein würde nicht genügen. Wenn es ein Erfolg werden solle, bedürfe es zusätzlicher Angriffe: der erste durch kleine wendige Boote mit Sturmleitern auf die Flanke des Dammweges; ein weiterer von den zerklüfteten Felsen her auf die Reste der hohen Brücke, die Os Erigu mit dem Festland verband, am besten mit Bogenschützen. Er schien sehr beeindruckt von der präzisen Schußtechnik der Bogenschützen aus dem Norden; ähnliches hatte er in Carrhoene nie gesehen. Nun dröhnte auch die Stimme des Herzogs wieder in gewohnter Frische und Lautstärke, als er seinen Hauptmännern im einzelnen darlegte, wie der Plan durchgeführt werden sollte; er befahl ein paar von ihnen, das für die Operation ausgewählte Schiff im Hafenbecken zu verdecken, während sie es für den Einsatz vorbereiteten. Pleiander unterbrach ihn hier und da mit ein paar Vorschlägen, wie zum Beispiel,
statt der Töpfe, die Airar vorgeschlagen hatte, Weidenkörbe zu nehmen, die durchbrennen würden, so daß sich ihr brennender Inhalt auf dem Dammweg verstreute. Airar und seinen Fischern wurde eine der wichtigsten Aufgaben übertragen: die Flanke des Feuerschiffs mit kleinen Booten zu decken, da seine Männer am besten von allen mit diesen Fahrzeugen umgehen konnten. Ein Problem war das Brennmaterial: Pech oder ähnliches war auf der Burg nicht in ausreichender Menge vorhanden; der Bote aus Korosh erzählte jedoch, die Bergbewohner stellte eine Art Pech her, wenn sie nicht gerade in der Erde wühlten; man solle nach einer Woche ein Schiff zum Bärenfjord entsenden, wo man bis dahin genügend davon sammeln könne. Somit würde es noch eine Woche und zwei Tage dauern, bis der Tag der Operation gekommen war. Meliboë der Zauberer führte eine lange Unterredung mit dem Boten darüber, wie man einen sicheren Schutz gegen die Zauberkräfte finden könne, mit denen die Vulkinger ihre Geleitzüge auf den Straßen umgaben. Airar hörte nicht weiter zu, wie sie das bewerkstelligen wollten, obwohl es ihn sehr interessierte, da er selbst noch nie von einer magischen Kraft gehört hatte, mit der man in einem solchen Fall einen umfassenden Schutz erreichten konnte. Er hatte dringendere Dinge zu erledigen: nach Argyra Ausschau zu halten. An jenem Tag jedoch bemühte er sich vergebens; am darauffolgenden Tag gab es wiederum anderes zu tun – jeder Mann wurde jetzt dringend an der Mauer gebraucht, wo Catina inzwischen einen weiteren Katapult eingesetzt hatte und der Turm stündlich näherrückte, während sich mehr und mehr
seiner Leute im Schutze der unteren Plattform des Turms auf dem Dammweg zu schaffen machten und zügig weiterbauten. Sie schossen jetzt mit Steinkugeln, die mit lautem Krachen gegen die vordere Brustwehr schmetterten, wo der dunkle Stein schon in dicken Platten abbrökkelte und einen arg demolierten Anblick bot. Ein paar Verteidiger wurden böse verwundet, und an der unteren Mauer zerbrachen zwei oder drei Wurfmaschinen, als sie voll getroffen wurden – eines der todbringenden Geschosse fegte sogar zwei der Arbeiter, die an der Lünette arbeiteten, wie Spielzeugpuppen herunter und in die Tiefe, wo sie mit verdrehten Gliedern tot liegenblieben. Der Herzog wollte daraufhin die Arbeit an der Lünette einstellen lassen, aber Pleiander gab kein Pardon und wurde nicht müde, die Männer immer wieder an die Mauern und an die Maschinen zu treiben, oder die Burgschmiede an ihre Hämmer, die im Innenhof damit beschäftigt waren, lange stählerne Pfeile zu fertigen. Unter der Anweisung Airars, der mit seinen scharfen Augen und seinen Kenntnissen in der Kunst des Bogenschießens bestens dazu geeignet war, feuerte man diese riesigen Pfeile von einem Katapult auf alles, was sich auf dem stetig wachsenden Dammweg bewegte, manchmal sogar in die Schießlöcher des Turms hinein; und nicht ohne Erfolg: Manch einer der Söhne Lacias brach von einem dieser gewaltigen Projektile tödlich getroffen zusammen. Einmal, als die Vulkinger gerade die Besatzung des Turmes wechselten, durchbohrte eine der Lanzen zwei von ihnen auf einmal, so daß sie wie Hühner auf einem Bratspieß hingen, bereit, über dem Feuer geröstet zu werden, und ein lautes Triumphge-
heul erscholl auf den Mauern der Burg. Sogar der Zauberer Meliboë kam zum Wall, so als hätte auch ihn der alle in seinen Bann ziehende unerschrockene Kampfgeist und Siegeswille des carrhoenischen Hauptmanns unwiderstehlich angesteckt; er hatte eine Handvoll kleiner, hölzerner Bilder bei sich, die er, auf lange Spindeln gespießt, über den Turm der Vulkinger hinweg auf den Dammweg schießen lassen wollte. Graf Vulks Männer mochten zwar gefeit sein (sagte er), nicht jedoch die Arbeiter, und bei einer solchen Belagerung war ein Arbeiter genauso wertvoll wie ein Kämpfer. Blaue Flammen loderten in und vor seiner Hütte während der Nacht, als er die Holzbilder verhexte. Die Sonne war am Horizont im Meer versunken, und Airar war draußen mit Poë, dem Dummkopf. Die beiden kamen vom Wall und strebten ihren Unterkünften zu; sie waren so erschöpft, als hätten sie einen Gewaltmarsch von zehn Seemeilen hinter sich, und freuten sich schon auf einen erfrischenden Krug Wein. Als sie sich der Hütte des Magiers näherten, bekreuzigte sich Poë und flüsterte mit einer Miene des Erschauerns: »Meister Airar, laßt uns hier nach rechts abbiegen und unseren Schritt beschleunigen, wenn es Euch recht ist; denn ich muß gestehen, in der Nähe dieses Ortes packt mich das kalte Grauen.« Es paßte Airar gar nicht, einen anderen Weg einzuschlagen, hatte er doch eigens diesen Pfad gewählt, der an der Tür seiner Angebeteten vorbeiführte; er wollte schon zustimmend nicken, als aus der Dunkelheit ihr helles Lachen ertönte und sie im selben Moment neben ihnen stand. »Das beste Mittel dagegen, lieber Meister Freigenosse, ist ein Schluck vom
Wasser der Quelle; denn dort versagt jegliches Hexenwerk.« »Nein, danke!« sagte Poë kurz angebunden. »Mit Eurer freundlichen Erlaubnis entferne ich mich jetzt«, fügte er hinzu, wobei er Airar anblickte, der ihn jedoch gar nicht mehr beachtete, hatte er doch nur noch Augen für Argyra. »Ich möchte Euch etwas sagen«, begann er. »Ich höre, sprecht frei heraus«, antwortete sie. Doch mit einemmal fiel ihm nichts mehr ein; die Worte, die er sich vorher zurechtgelegt hatte, waren durch ihre plötzliche Anwesenheit wie weggeblasen. Aus ihrem Gesicht spielte das Licht von Meliboës Hexenfeuern. »Nun, was ist? Wolltet Ihr mir nicht etwas erzählen? Nun, wenn Ihr mir nichts zu sagen habt, dann will ich es tun: Sagt an, Meister Airar – kennt Ihr den kleinen Turm, der zur Seeseite hin über die Mauern ragt? Ich meine den mit dem Balkon. Wißt Ihr auch, wozu er dient?« »Ja«, antwortete er und errötete im Dunkeln darüber, wie unbefangen dieses Mädchen über etwas sprechen konnte, worüber er selbst kaum nachzudenken wagte; das Gebäude, von dem sie sprach, war nämlich jener Schwarze Turm, in dem sich Herzog Mikalegon mit seinen männlichen Gespielen zu vergnügen pflegte. »Nun, zu Eurer Entschuldigung mochte ich Euch sagen, daß der Herzog in der vergangenen Nacht Euren jungen Mann namens Visto auf den Turm geführt hat; Pleiander von Carrhoene hingegen treibt es im Augenblick mit Prinz Aurareus.« Airar spürte, wie eine Welle von Wut in ihm hoch-
stieg; da wurde die hohe Liebe in den Schmutz gezogen und erniedrigt. War das schon alles, was sie ihm zu sagen hatte? »Soll ich jetzt weinen?« fragte er. »Ich selbst nehme an diesem Spielchen jedenfalls nicht teil.« »Nein... Ich will Euch bloß warnen; und unter gewissen Umständen auch vor meiner Schwester.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Wenn ich Euch damit erzürnt habe, dann stimmt mich das traurig; aber Männer haben immer merkwürdige Dinge im Sinn, wenn sie das Wort Liebe in den Mund nehmen.« »Ihr glaubt also nicht, daß, wenn ich von Liebe rede, diese auch ehrlich gemeint ist? Ich würde die Sterne vom Himmel holen, um tausend Kränze für Eure Locken daraus zu winden...« Sie unterbrach ihn lachend. »Ich bin nicht sicher, ob ich so viele haben möchte. So, und nun müßt Ihr mich wieder gehen lassen. Meine Schwester...« »Was kann sie Euch schon antun? Ha, wenn Ihr gleich an sie gedacht hättet, wäret Ihr gar nicht erst zu mir gekommen – nur, um mir diese unwichtige Geschichte zu erzählen.« Er hatte ihre Hände ergriffen. Nun wurden sie mit einemmal nachgiebig, und sie neigte sich sanft zu ihm: »Das habt Ihr in der Tat richtig erkannt, Meister Haarspalter! Doch genug für heute abend – wir sprechen wieder miteinander, wenn Ihr die Sieben Mächte eingeschüchtert habt. Denn vergeßt nicht: Ich bin ein Kind der Quelle und Ihr ein Schüler der Magie.« Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, er aber hielt sie an einer Hand fest und wollte sie an sich ziehen, um sie zu küssen, als sie ganz plötzlich den Kopf hob
und ihm einen hastigen Kuß gab. Er war so überrascht, daß er fast ins Taumeln geriet. Als sie sich von ihm losriß und eilig fortlief, waren ihre letzten Worte: »Ein Andenken. Leb wohl!« Was meinte sie damit? Nieder mit Meliboë und mit seinen Werken? Aber das war schon vor langer Zeit geschehen – nein, er würde keine Magie mehr anwenden. Aber das konnte sie auch nicht gemeint haben; Meliboë selbst trat ja für die gute Sache ein. Wie können wir ihn verurteilen, der mit allen seinen Talenten für uns eintritt, auch wenn die Söhne der Quelle diese Talente verachten? Die Quelle, die Quelle; Argyra selbst hatte sie doch verurteilt... er wußte überhaupt nicht mehr, woran er war. Und wie sollte er die Sieben Mächte einschüchtern? All dies war ihm zu geheimnisvoll. Er überlegte schon, ob es nicht das beste wäre, er gäbe alles auf, ginge nach Dzik, wickelte sich einen Turban um den Kopf und nähme sich eines dieser zauberhaften, anschmiegsamen Mädchen aus jenem Lande und zerbräche sich über nichts mehr den Kopf. Der Erbe von Trangsted lag lange wach und beschäftigte sich mit dieser Idee. Wie nutzlos war doch das Leben – wofür all diese Anstrengungen auf sich nehmen? Für wen und für was eigentlich? Um am nächsten Morgen aufzustehen und dasselbe Spiel von vorn anzufangen? Wie unsinnig, wie nutzlos! Das Leben war ein Kreis ohne Ziel und Ende... Doch im hintersten Winkel seines Geistes, da gab es auch Hoffnung, ein erregendes Glücksgefühl, das jene Gedanken, der in seinem Kopf herumspukten, wieder verdrängte – und Haß, ja, auch Haß! Darüber, wie gewöhnlich, wie primitiv doch alle um ihn herum waren; diese Män-
ner mit ihren steinernen, ausdruckslosen, brutalen Gesichtern... War nicht er, Airar, besser als jene? Visto im Schwarzen Turm! War das die ganze Freiheit der freien Genossen – hatten sie sich von der einen Herrschaft losgesagt, um sich einer anderen, schlechteren zu unterwerfen? Wieder übermannte ihn die Trübsal wie eine Woge; war nicht auch dieser Gedanke eitel und leer? Was konnte er einer Königstochter schon bieten? Was hatte er vorzuweisen? Wahrscheinlich war auch ihr Kuß nichts weiter als der Trick eines gescheiten Mädchens, seiner aufdringlichen Verehrung zu entrinnen! So blieb schließlich doch wieder nur Briella oder Carrhoene, das alte, ungelöste Problem. Er riß sich davon los, und seine Gedanken eilten erneut nach Dzik und schlugen mit ihren Flügeln gegen die Gitterstäbe des Käfigs, bis wieder die Hoffnung in ihm hochstieg und der Gedanke an Argyras Kuß ihn mit einem wohligen Glücksgefühl erfüllte. Und er schwor (obwohl er im selben Moment wußte, daß er den Schwur nicht halten würde), alle überkommenen Moralvorstellungen, die ihn beherrschten, über Bord zu werfen und in der kommenden Nacht die Kluft zu überbrücken, die zwischen ihm und seiner Angebeteten lag, indem er sie einfach nehmen würde, ob sie nun wollte oder nicht! Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf, gepeinigt von zweifelnder Selbstbeschwichtigung – daß er sich – bis auf die Magie – rein gehalten hatte und daß er Argyra mehr zu geben hatte als die Reste seiner Liebe zu Gython von Gentebbi und von jeglicher unmoralischen Verbindung frei war, wie sie in Salmonessa gang und gäbe waren. Und als er dies dachte, erfüllte ihn wieder das alte
Gefühl des Schmerzes über den unersetzlichen Verlust jener schneeblonden, kühlen Schönheit Gythons, obwohl er inzwischen doch die lieblichere Argyra gefunden hatte... Doch Schluß damit! Im ersten Morgengrauen kam ein Schiff vom Bärenfjord, das allerlei Nützliches mitbrachte, und es herrschte im Hafen rege Betriebsamkeit, während an der Brustwehr das Gefecht weiterging. Das Schiff Nolbärn wurde für das große Unternehmen ausgewählt; man band lange Pfähle an seine Rahen und hängte die Weidenkörbe, wie Pleiander empfohlen hatte, daran auf. Herzog Mikalegon wollte selbst das Kommando übernehmen, entschloß sich aber dann, dies einem seiner Hauptmänner zu überlassen, bis Airar einfiel, daß man auch jemanden brauchte, der die Operation von der Stelle aus dirigierte, von der man die gesamte Schlacht überblicken konnte. Pleiander sollte das Kommando über die Gruppe übernehmen, die den Angriff über die zerstörte Brücke führen sollte. Airar und seine Männer sollten von Norden kommen, von der Seite also, die dem Hafen zugewandt lag. Der Tag, an dem das Unternehmen stattfinden sollte, brach mit wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein an, genau wie man erhofft hatte; ein gutes Vorzeichen also! Alle waren schon bei Sonnenaufgang auf den Beinen, aber die frische Morgenbrise blies landeinwärts, so daß die hohen Schiffe das Kap von Os Erigu gegen den Wind umkreuzen mußten. Herzog Mikalegon, der in seinem rostigen Kettenhemd, über das er den Umhang mit dem Zeichen des Seeadlers geworfen hatte, einen prächtigen furchteinflößenden Anblick bot, fluchte und stampfte
wütend auf dem Deck herum. Auf dem Damm stellten die Vulkinger den Beschuß ein, als sie bemerkten, wie die Segel hochgezogen wurden, und Airar sah, wie sie die Köpfe aus den Schießfenstern ihres Turms steckten, zweifellos maßlos verblüfft und neugierig, was es wohl mit dieser plötzlichen Aktivität im Hafen auf sich haben könne Von ihrem hohen Katapult feuerten sie ein Geschoß in Richtung Hafen; aber es fiel weit vor dem Ziel ins Wasser. Die Männer lachten und schrien spöttisch, und der Herzog schwenkte sein Banner. Airar und seine mehr als hundert Leute (an diesem Tag standen auch Evimenes und zahlreiche Carrhoener unter seinem Befehl, darüber hinaus noch ein paar Leute von Os Erigu, alles, was die Boote halten würden) lagen im Schatten der Mole auf der Lauer und warteten darauf, daß die Segel im Süden unter den Bögen der zerstörten Brücke auftauchten, das war ihr Zeichen zum Losschlagen. Das Warten dauerte schier unendlich lange und war alles andere als angenehm; den Männern merkte man deutlich das typische Unbehagen vor der nahenden Schlacht an. Die freien Genossen beklagten sich grollend und mißmutig darüber, daß Herzog Mikalegon sie da in einen Krieg einspannte, der überhaupt nichts einbrachte, wo er sich doch bestimmt leicht mit den Vulkingern hätte einigen können, zum Beispiel, indem er ihnen den Vorschlag machte, seine Männer im Namen des Herzogs auf einen Raubzug nach Uravedu zu entsenden. »Was wäre schon dabei, wenn sie uns ihre Verbündeten nennen würden? Wir trügen den Profit davon und Schwerter, ihn zu bewahren! Was unser feiner Herzog braucht, ist mal ein bißchen Schmiere in den
Kniegelenken. Der ist nämlich zu steif, um über seinen eigenen dicken Schmerbauch hinüberzuschauen.« Airar wollte etwas darauf erwidern, aber der Adamsapfel des langen Erb hatte begonnen, auf- und abzuhüpfen, und so war er es, der als erster sprach: »Ja, das ist genau das, worauf sie warten – euch ihre Kriege führen lassen. Und wenn ihr genug Reichtum angesammelt habt, dann kommen sie mit einem Vogt und einem Fetzen Pergament und nehmen ihn euch wieder weg.« Der Mann knurrte wenig überzeugt vor sich hin, und sie stritten sich weiter über dieses und jenes, bis schließlich einer von der Burgseite der Mole schrie, die Schiffe seien aufgetaucht. Und das waren sie in der Tat; ihre Segel bauschten sich nur schwach in der leichten Brise, aber sie machten dennoch recht gute Fahrt, da sie nun vor dem Wind segeln konnten. Der Herzog von Os Erigu dirigierte die Schiffe wie ein Künstler. Vornweg fuhr die Nolbärn; unschwer zu erkennen an ihrer schiefen Lage, die man ihr gab, indem man das Heck belastete. Airar blickte zu dem Damm hinüber; dort herrschte eiliges Gedränge. Die Katapulte, die gegen die Burg gerichtet waren, hatten inzwischen das Feuer völlig eingestellt. Die Brise wehte das dünne Pfeifen einer vulkingischen Marschflöte zur Mole herüber, und Airar sah auf dem Damm das rote Dreieck von Briella auf seinem Pfahl im Winde tanzen. »Alle Mann in die Boote!« schrie er. Nene von Busk hielt die Stange mit dem Schädel der Wildkatze empor. Gleich darauf sahen sie, wie jenseits des Brükkenbogens weiß schäumend das Wasser aufspritzte,
als Catinas Männer einen Stein gegen die heranbrausenden Schiffe abfeuerten. Dann trieb die Nolbärn herein; in einem ihrer Segel war ein großer Riß. Während Airar durch lautes Rufen seine Leute zur Eile drängte, wandte er noch einmal den Blick zurück. Er sah eine kleine Gestalt hinter der Brustwehr, die heftig winkte. Er wußte, daß es Prinzessin Argyra war, die ihm in diesem Moment Glück wünschte. Als er versuchte, sich ihr Gesicht vor Augen zu führen, sah er lediglich einen verschwommenen weißen Nebel vor seinen Augen und stellte fest, daß es ihm nicht gelang. Vorne war inzwischen das Schiff hinter Turm und Dammweg aus dem Blickfeld der Männer geraten. Eine Lanze von einem der Burgkatapulte stak zitternd in dem hölzernen Bauwerk der Vulkinger; die Trompete der Carrhoener erscholl, als Pleiander mit seinem Ausfall begann. Dann richteten sich die Augen der Männer nach vorn. Mit einem gewaltigen Platsch fiel vor ihnen ein riesiger Stein ins Wasser. Nun hatte man also auch sie entdeckt und begann, sie zu beschießen. Als die Welle, die der Stein verursacht hatte, herangerollt kam, fing das kleine Boot an der Spitze bedenklich an zu schaukeln. »Rudert schneller!« schrie Airar, der den Eindruck hatte, als machten sie überhaupt keine Fahrt. Das Spritzwasser des nächsten Geschosses durchnäßte die halbe Besatzung bis auf die Haut, und gleich darauf ließ ihn ein spitzer Schrei herumfahren; ein Stein war genau in eine der kleine Schaluppen dicht neben seinem eigenen Boot eingeschlagen und hatte einen Mann getroffen. Blutüberströmt lag er am Boden des Kahns. Er sollte nicht der einzige bleiben und auch
nicht der am schlimmsten Verwundete, denn ein wahrer Hagel von Geschossen kam ihnen jetzt entgegengeprasselt und pfiff ihnen um die Ohren. Eines der Boote wurde voll getroffen und zerbarst; Schreie ertönten; die Unverletzten versuchten verzweifelt, ihre versehrten Kameraden über Wasser zu halten; zwischen den Trümmern des zerschmetterten Bootes färbte sich das Wasser rot vom Blut der Verwundeten, die sich mit letzter Kraft an den auf dem Wasser treibenden Planken festklammerten. Sie verlangsamten ihre Fahrt. »Sie sind zu stark für uns! Wir schaffen es nicht!« schrie einer. Airar, der spürte, wie ihm langsam die Todesangst zum Herz hinaufgekrochen kam, schrie mit vor Entsetzen sich überschlagender Stimme, sie sollten wieder schneller rudern, während er versuchte, sich in dem heftig schaukelnden Gefährt im Gleichgewicht zu halten. Inzwischen mischten sich unter die riesigen Steine aus den Katapulten auch kleinere, von Handschleudern abgefeuerte Geschosse. Doch gleich darauf erscholl aus hundert Kehlen ein Jubelschrei. Airar, der inzwischen wieder auf den Boden des Kahnes gefallen war, richtete sich mühsam auf und spähte nach vorn. Der Steinhagel hatte mit einem Schlag aufgehört. Durch die Streben des Turms sah er, wie ein brennender Pfahl mitsamt dem Weidenkorb mit lautem Poltern auf den Damm fiel. Die Männer auf und unter dem Turm bemühten sich verzweifelt, ihn ins Wasser zu rollen, während ihnen die stählernen Lanzen von der Burg her um die Ohren pfiffen. Das Boot strandete knirschend auf den Uferkieseln und legte sich auf die Seite. »Die Leitern raus, ho!« schrie der lange Erb. Vor ihnen stolperte ein Mann
über einen Felsbrocken; ein Stein von einem der Katapulte zerknackte seinen Helm wie eine Nußschale. Doch nun packte die Männer von Erigu, Carrhoene und Dalekarlien das Schlachtfieber. Sie sahen, wie ein brennender Balken nach dem anderen auf den Dammweg fiel und den Turm der Vulkinger in Flammen setzte. Die Feinde rannten schreiend zurück. Sie setzten Leitern an und kletterten daran hoch, da die Felsen nicht allzu steil waren, schafften es einige sogar, auf die Leitern zu verzichten und mit bloßen Händen an den Felsen emporzuklimmen. Oben angekommen, fielen sie sofort mit Speeren und Schwertern den Feinden in den Rücken, die noch immer versuchten, die auf die andere Seite des Dammweges zueilenden Schiffe aufzuhalten oder die Flammen, die am Turm emporzüngelten, zu löschen. Der Turm brannte jetzt auf allen drei Plattformen. Die Besatzung sprang mit lauten Schmerzensschreien herunter, wo sie Opfer der Speere und Schwerter wurde; manche Männer trafen so unglücklich auf den Felsen auf, daß sie auf der Stelle tot liegen blieben. Von Mikalegons Schiffen legten jetzt die Beiboote ab, um ebenfalls in den Kampf einzugreifen. Zahlreiche Vulkinger warfen ihre Schilde zu Boden und hoben zum Zeichen der Kapitulation beide Arme in die Luft. Airar blickte sich um und sah, wie sich auf der Landseite des Dammes mehrere Vulkinger in Reih und Glied zum Angriff formierten. An ihrer Spitze stand ein Mann mit goldenen Abzeichen auf seiner Rüstung, die ihn als einen hohen Offizier auswiesen. Er hatte seine Sturmhaube geöffnet. An den Wurfmaschinen, die in langer Reihe auf den Klippen standen, befanden sich noch immer einige, die auf die Schiffe
feuerten. »Mir nach!« schrie der Sproß von Trangsted so laut er konnte, »ehe sie wieder zurückkommen.« Neue von Busku, der sich nicht weit von ihm befand, vernahm das Kommando und schwankte den Katzenschädel. Die freien Fischer folgten ihm sofort nach, ebenso die klugen Kämpen aus Carrhoene. Von den freien Genossen von Os Erigu folgten jedoch nur wenige dem Banner der Fischer von Gentebbi. Airar rannte an der Spitze der Männer auf die noch immer im Sammeln begriffenen Feinde zu. Schon kamen ihnen die ersten Speere der Vulkinger entgegengeflogen. Einer pfiff um Haaresbreite an seinem Ohr vorbei, ein zweiter bohrte sich in den Rand seines Schildes; es gelang ihm aber, ihn abzuschütteln. Ein Tercia-Mann ging zu Boden – einer der Fischer schien gut gezielt zu haben. Die Linie der Vulkinger formierte sich noch immer; die Trompete gab einen krächzenden Laut von sich, und Sekunden später begann das wilde Gemetzel auf dem Damm – Speer und Schwert gegen Schild und Schild. Airar sah für einen Moment die haßerfüllten Augen seines Gegners unter dem Helm aufblitzen, dann war er schon in den tödlichen Zweikampf mit dem Offizier verwickelt. Auf einen glänzenden Schwertkämpfer hätte Airar kaum treffen können, nur mit größter Mühe gelang es ihm zu verhindern, daß ihm die Klinge aus der Hand geschlagen wurde. Er wich einen Schritt zurück, dann noch einen. Merkwürdigerweise verspürte er keine Angst, sondern nur ein seltsames Gefühl von Verwunderung, als ihm bewußt wurde, daß der Mann zu stark für ihn war. Er hörte von links einen lauten Schrei, als er von einem wuchtigen Schwerthieb des Vulkingers halb herumgerissen wurde und dachte, es
wäre der letzte Schrei, den er in seinem Leben gehört hatte. Ein riesiger Arm mit einer Sternenkeule schwang dicht an ihm vorbei und landete krachend auf dem Schädel des Vulkingers. Er brach zusammen und blieb zuckend in einer Blutlache liegen. Die Tercia-Männer hielten zögernd inne, als sie sahen, daß ihr Führer gefallen war. Dann wandten sie sich entsetzt zur Flucht, einer sogar mit einem Speer im Rükken. Airar wandte sich um; neben ihm stand Mikalegon von Os Erigu und lachte dröhnend unter seinem Helm. Sein Lachen endete in einem Hustenanfall, als ihnen Schwaden stinkenden Qualmes von dem brennenden Turm her ins Gesicht wehten. »Ich danke Euch«, kicherte Airar. »Die Hälfte meines Schwurs habe ich schon erfüllt«, ächzte Mikalegon hustend und klappte sein Visier hoch, um nach Luft zu schnappen. »Der da« – er deutete mit ausgestrecktem Arm auf den toten Vulkingeroffizier – »war Baron Catina, aber Vulk lebt noch immer.« Die Rauchschwaden wurden immer dicker, aber diese Vulkinger geben den Kampf nicht verloren; man sah, wie einer weiter hinten zwischen den Bäumen versuchte, sie wieder in Reih und Glied zu ordnen, um die Schlacht erneut aufzunehmen. Airar schaute gen West, hob beide Arme und rief: »Zurück zu den Booten! Wir haben gewonnen!«
29 Os Erigu: Verrat Rogai von Mariola trat strahlend ein; er brachte einen ganzen Sack voll Neuigkeiten mit. Er trug einen Ledermantel nach Art der Bergleute des Eisengebirges. Der Oberbefehl an der Küste war nun in der Hand eines anderen Barons, so berichtete er – Viyar mit Namen, und von der achten Tercia. Aber Graf Vulk höchstpersönlich befand sich auf dem Weg von Briella hierher; er hatte im Tempel unter großem Zeremoniell den heiligen Eid geschworen, Os Erigu einzunehmen, wäre es selbst mit Ketten am Himmel aufgehängt und nur mit Flügeln zu erreichen. Die Vulkinger hatten den vierten Teil einer vollen Tercia verloren, sechshundert Mann, abgesehen davon, daß ihre ganze Schanzarbeit zunichte war. »Und jetzt hat Vulk die dritte und die siebte Tercia aus ihren Ländern zusammengezogen: den Lacias, Bregonde und Acquilème.« »Ganz Korosh ist im Aufruhr, und der Eiserne Ring hält des Nachts in Norby seine eigenen Gerichtsverhandlungen ab und brüskiert damit die vulkingischen Richter zutiefst. Die barbarischen Mictonier mit ihren Fellkappen sind schon wiederholt in West-Lacia eingefallen, erstaunt darüber, plötzlich dalekarlische Verbündete zu haben. Und Bordvin Wildfang? Er soll sich im Süden aufhalten. Er war auf den GentebbiInseln, hat dort barbarisch gewütet und dadurch mehr Unordnung hinterlassen, als den Vulkingern lieb sein kann. Der Graf soll stinksauer auf ihn sein. Es geht das Gerücht, daß er in Vagai von einem See-
dämonen gefingert worden sei; trotz allen Schutzes gegen Zauberkräfte soll dieser Überfall eine so starke Wirkung auf ihn gehabt haben, daß er einen seiner Pagen mit dem Speer tötete.« Während Rogai seine Geschichte erzählte, saßen alle beisammen und tranken und prosteten sich gegenseitig mit viel Hallo und Hurra über den Tisch zu. Nicht wenige von ihnen trugen Verbände aus blutigen Lappen. Der große Herzog lachte selbst am lautesten über seine unzüchtigen groben Witze, während er gutgelaunt mit Visto anstieß. Airar glaubte zu sehen, wie der junge Mundschenk Visto jedesmal, wenn er ihm einschenkte, einen haßerfüllten Blick aus tränengefüllten Augen zuwarf, und er mußte für einen Augenblick daran denken, was Argyra ihm gesagt hatte. Doch diese Gedanken verschwanden schnell, als er seinen Blick den vier Sternenhauptmännern zuwandte, die ihre schwarzen Köpfe mit den weißen Strähnen zusammengesteckt hatten und mit ernsten Gesichtern tuschelten. Einer von ihnen, Alsander, stand jetzt auf und erhob seine Stimme: »Wir Hauptmänner von Carrhoene können nicht begreifen, wie Männer, die einen Krieg gewinnen wollen, die Mittel, die sie dazu benötigen, derart vernachlässigen können. Schon eine Woche wurde jetzt mit läppischen Gelagen vertan – und heute schon wieder eines, nur weil Rogai gekommen ist. Die Feinde sind inzwischen nicht untätig; sie schuften wie Besessene und machen große Fortschritte, während erst gestern, als Pleiander ein paar der freien Genossen anhielt, am oberen Wall an dem Trebuchet weiterzubauen, nicht einer von denen etwas tun wollte. Sie ließen nicht einmal ihre Burgknechte arbeiten. In
Carrhoene würden wir einen Führer, der seinen Willen nicht durchsetzen kann oder der so wenig für die Zukunft plant, kurzerhand von der obersten Zinne der Burg werfen.« »Ja, und genau das ist der Grund, warum ihr zu dieser Stunde hier und nicht in Carrhoene seid«, schrie der Herzog, »statt dessen seid ihr Bettler, die von der Mildtätigkeit des Hortes der Freiheit leben. Geht doch eure Sklaven im Süden regieren und seht dann, ob sie für euch so kämpfen, wie diese tapferen Burschen es für sich selbst getan haben.« Er war betrunken und so recht dazu aufgelegt, laut herumzubrüllen und sich mit den Carrhoenern anzulegen. Aber er war über seinen Sieg und Vistos wegen in so guter Laune, daß nicht viel mehr als windige Worte von seiner Seite kamen, die Gefahr von Handgreiflichkeiten bestand wohl nicht. Also erhob sich Airar, um sich unauffällig zu dem nächtlichen Stelldichein zu begeben, das seine Angebetete ihm versprochen hatte. Doch als er sich aus dem Saal entfernte, traf sich plötzlich sein Blick mit dem Evadnes; sie schaute ihn spöttisch an, und um ihren Mund herum zuckte es. Noch während sie einander anstarrten, war er sich mit einemmal sicher, so als hätten sich ihre Gedanken übertragen, daß ihre spöttischen Blicke nicht seinem Gehen galten. Ihre Augen schienen vielmehr schreien zu wollen: Siehst du, mein Frosch, hier hast du sie wieder, die alte Streitfrage: Briella oder Carrhoene! Gewiß war Herzog Mikalegons Philosophie falsch; zwar mochte sie genau die richtige sein, wenn es galt, die Piraterei aufrechtzuerhalten, was jedoch den Krieg betraf, war sie alles andere als die geeignete. Nach dem Sieg hätten sie so-
fort nachsetzen müssen, um dem Feind keine Erholungspause zu gönnen, sondern ihn erneut angreifen sollen, während er sich noch von dem ersten Schlag erholte. Aber der Herzog hatte es strikt abgelehnt, von See her Naaros oder die Gentebbi-Inseln anzugreifen, um den sich sammelnden Feind abzulenken. Diese Gedanken gingen Airar noch immer durch den Kopf, als er Argyra traf, und er brachte sie sofort zur Sprache: »Sagt mir, Ihr, die man lehrte, wie man regiert: Gibt es keine andere Waffe, mit der man Menschen dazu bringt, zusammenzuarbeiten, als die Peitsche?« Sie lachte. »Was, interessiert Ihr Euch neuerdings für Politik?« Als er ihr erklärt hatte, worum es ging (ohne ihr jedoch zu sagen, daß es Evadnes Dilemma war, das er hier vor ihr ausbreitete), antwortete sie: »Nun, ich will Euch dazu nur eines sagen: Im Palast von Stassia ist man der Überzeugung, es gibt keine Lösung außer der, welche die Quelle bietet. Und eines ist sicher – allein die Quelle und ihr Vertrag haben bisher den Frieden zwischen unserem Kaiserreich und den Heiden von Dzik aufrechterhalten, die uns sonst schon längst mit schrecklichen Kriegen überzogen hätten. Briella oder Carrhoene, so fragt Ihr? Ich weiß es nicht. Doch sicherlich gibt es auch noch andere Mittel und Wege, die Menschen miteinander in Einklang zu bringen, als die, die beide Parteien zu bieten haben. Unser Kaiserreich ist ein Beispiel; und wie ich hörte, wißt auch Ihr Dalekarlier eine Lösung – ich meine das System mit Euren Meistern, wie zum Beispiel die Waldmeister von Skogalang oder die Fischermeister von den Inseln.« »Schon aber... Doktor Meliboë, der ja ein Philosoph
ist, sagt, am Ende läuft es doch wieder auf dasselbe hinaus, Briella oder Carrhoene.« »Vielleicht hat er recht. Dennoch kann ich Euch sagen, was an der Herrschaft von Briella nicht richtig ist.« »Daß sie niemandem das volle Lebensrecht zuerkennen, der nicht vulkingisches Blut in seinen Adern hat? Das ist es, wogegen wir kämpfen; ich selbst bin vom Erbhof meiner Väter vertrieben worden.« »Nein, das ist es nicht, was ich meine. Laßt es mich sagen. Mutet es Euch nicht seltsam an – Euch, der Ihr von Eurem Erbe vertrieben wurdet, der sich, geschmäht und verachtet, in blutigem Krieg mit ihnen befindet –, daß Ihr in ihrem System der Stimme des Volkes keine fehlerhafte Stelle entdecken könnt?« »Ich gebe mich in Eure Hände, wenn ich sage: nein.« »Denkt darüber – vielleicht hat ihr System keine... Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch ein Kind war, damals in Scroby. Sie lehrten uns spinnen, aber die Fäden verdrehten sich immer, und indem sie sich verdrehten, zerrissen sie. Ich weinte und rief nach Mutter Valana, daß sie mir zeigte, was ich falsch machte; sie aber sagte, nachdem sie alles wieder in Ordnung gebracht hatte, nichts sei falsch, ich sei lediglich zu ungestüm und hastig vorgegangen. Und ich glaube, hier liegt der Fall ähnlich: Carrhoenisches oder vulkingisches Erbe – das wäre noch immer dasselbe, auch wenn Normen und Grundsätze sich änderten; denn es ist der innere Geist, nicht...« »Argyra!« ertönte laut und deutlich eine Stimme. Es war die von Aurea, der anderen Prinzessin. Sie warf Airar einen kalten Blick zu, das konnte er sogar
in der Dunkelheit deutlich erkennen. »Ich habe gehört«, spottete sie, »daß Edle schon edlere Taten vollbrachten als den Versuch, einen Preis ohne Preis zu erringen. Herr Zauberer, könnt Ihr kein besseres Objekt für Eure Anziehungszaubersprüche finden als ein armes dummes Kind, das wie ein Kätzchen schnurrt, wenn man es streichelt? Ha! Übt Euch mit Eurer Magie besser schon jetzt an meinem Bräutigam Vulk, denn Ihr werdet bald Gelegenheit genug haben, Eure Zauberkräfte ihm zu widmen – wenn er erst mit den Flotten der Zwölf Städte hier eintrifft.« Airar von Trangsted war für einen Augenblick sprachlos; dann sah er, daß Argyra unschlüssig zwischen ihnen beiden hin und her blickte. Schlagartig wurde ihm mit einem einzigen verzweifelten Gedanken bewußt, daß dies der entscheidende Punkt, die Krise, war; wenn er jetzt nicht Partei für seine Liebe ergriff, kehrte eine solche Chance vielleicht niemals wieder. »Keine Zaubersprüche!« schrie er aus dem tiefsten Abgrund seiner Seelenpein. »Und was soll daran so schlimm sein, schöne Frau, wenn wir beide hier stehen und miteinander sprechen? Mehr noch; ich wage es, ihr meine Liebe zu erklären, eine Liebe, die niemals endet, und wenn Kaiserreiche im Staub versinken! Wollt Ihr mir diese meine Liebe zerstören, weil ich nicht nach Dalekarlien will? Wollt Ihr so unser Glück zertrampeln?« Da sprach Argyra: »Ich habe vom Wasser der Quelle getrunken, und daher haben Zaubersprüche keine Wirkung mehr bei mir.« Die ältere Prinzessin rümpfte verächtlich die Nase. »Wirklich talentiert, Meister Airar; ich bin sicher, Ihr könntet ohne Schwierigkeit die Hauptrolle in einem
Possenspiel übernehmen. Aber hier geht es nicht um irgendein Bauernmädchen, sondern um die Tochter des Kaisers! Städte werden in Flammen aufgehen, und Menschen werden sterben, wenn sie ihre Wahl nicht in aller Klugheit trifft – ob sie den Mann nun liebt oder nicht, ist dabei unwichtig. Was zählt das Glück von zweien im Vergleich mit dem von Tausenden? Nein, versucht nicht, mich zu unterbrechen! Ich weiß, was Ihr sagen wollt: daß sie alles aufgeben soll. Aber das ist unmöglich; sie kann nichts an ihrer Herkunft ändern; das Blut der Argimeniden fließt nun einmal in ihren Adern, und wenn sie tausendmal auf alles verzichtet. Wollt Ihr zulassen, daß sie auf das Rad geflochten wird, mit dem ein anderer sich den Weg zum Thron bahnen will, und all dies bloß, weil sie mit einem Bauerntölpel getändelt hat, einem Herumtreiber, der zwanzig Vagabunden anführte statt zwanzigtausend?« Sie nahm ihre Schwester beim Arm und ließ Airar kurzerhand stehen. Unendliche Trauer ergriff ihn. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, daß die stolze Aurea so unerbittlich reagieren würde. Nun, vielleicht hatte sogar Aurareus, das schwule Hübschkerlchen des Herzogs, noch einen Schuß des eisernen Blutes von König Argimenes in seinen Adern. Indem er darüber nachgrübelte und so Aureas Gedanken zu erklären versuchte (es mußte doch irgendein Fehler darin stecken; wenn er ihn bloß finden würde!), strebte er über den Burghof zu Meliboës Unterkunft um Trost in der Philosophie des Zauberers zu suchen, auch wenn dieser Trost nur gering sein würde. Doch weit gefehlt; der Zauberer stand gerade an der Tür und unterhielt sich mit Poë, dem Dummkopf.
Als er Airar erblickte, begrüßte er ihn herzlich und führte ihn über die Schwelle an einen Tisch, auf dem zwei Kerzen ihr flackerndes Licht auf eine geöffnete Pergamentrolle warfen. Er nahm Platz und schaute den jungen Mann erwartungsvoll an, bereit, seinen Worten zu lauschen. Doch diese ließen eine ganze Weile auf sich warten; Airar, der nicht so recht wußte, wie und wo er anfangen sollte, war zunächst außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Statt dessen starrte er den Zauberer ein wenig hilflos an. Schließlich brach Meliboë das Schweigen: »Junger Mann, ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr hierhergekommen seid, um in meine schönen Augen zu blicken; wenn doch, dann gibt es dafür in der Tat geeignetere Objekte, nämlich im Pavillon der Tanzmädchen.« »Nein, ich...« Die Stimme versagte Airar ihren Dienst. »Schluß jetzt mit dem Scherzen. Ihr macht ein Gesicht wie ein Soldat, der gerade eine Niederlage erlitten hat. Hängt es damit zusammen, daß Ihr dieser hochwohlgeborenen Dame Eure Liebe erklärtet und sie Euch die kalte Schulter zeigte, genauso, wie sie es bei dem Herrn von Permandos tat? Aber nein doch – sicherlich rührt Euer Kummer von ihrer Schwester her, die Euch für das Bündnis mit den Vulkingern gewinnen wollte.« »Sie sagte, ich solle mir den Gedanken an eine Gemahlin aus dem Hause von Stassia aus dem Kopf schlagen, weil das einen blutigen Erbfolgekrieg heraufbeschwöre, der all das zerstören würde, für dessen Erhaltung ich kämpfe«, brachte Airar niedergeschlagen hervor.
»Und Ihr habt nichts Besseres zu tun, als alle Hoffnung fahren, sie, die Welt, alles kampflos und ohne Gegenwehr ziehen zu lassen und so die Bürde künftiger Kriege einem anderen, der schließlich das Brautbett mit ihr teilt, auf die Schultern zu laden? Bevor Ihr das tut, kommt Ihr allerdings noch rasch zu mir, um mir zu beweisen, von welch edler Gesinnung Ihr seid. Ha! Nicht mit mir! Meister Airar, Ihr redet wie ein Priester; das heißt: selbstsüchtig. Und während Ihr wie ein Priester in kümmerlicher Selbstzufriedenheit sorgsam bemüht seid, jeglicher Verantwortung aus dem Wege zu gehen, fragt Ihr nicht danach, was sonst noch passiert. Ist es nicht so?« »O nein!« Aber Airar fühlte, wie er errötete. »Prinzessin Aurea sagt, es sei nichts als Eigennutz, um ihre Schwester zu freien, wenn das Schicksal, das auf die Völker von Dalekarlien und des Kaiserreiches zukommt, davon abhängt, wen sie einmal heiratet.« Er hielt einen Moment inne. »Und außerdem weiß ich überhaupt nicht, ob sie mich überhaupt nehmen würde, wenn sie frei wählen könnte.« Ein Lächeln huschte über das bärtige Gesicht des Zauberers. »Was den letzten Punkt anbetrifft, der für Euch ja wohl der wichtigste ist, lege ich meine Hand für Euch ins Feuer. Aber um noch einmal auf den ersten Punkt zurückzukommen, denn um den dreht es sich ja in erster Linie: Welche Pflicht habt Ihr oder auch sie Dalekarlien oder dem Reich gegenüber? Wenn Ihr eine kaiserliche Krone tragt, mit allem Glanz und aller Gloria, die damit verbunden sind, dann habt Ihr sicherlich Pflichten; das ist der Preis, den man für Tand und Prunk entrichten muß. Aber solange das noch nicht der Fall ist, habt Ihr genau
dieselbe Pflicht wie jeder andere Mann auch: Euch soviel wie möglich von dem Glück, das dieses Leben bietet, zu verschaffen, und die Prinzessin hat wie jede andere Frau auch keine andere Pflicht als die, sich von einem jungen Burschen, der Spaß daran hat, mit ihr ein paar kräftige Söhne zu zeugen, ins Bett tragen zu lassen.« »Haben wir denn nicht auch eine Pflicht gegenüber dem Nächsten?« fragte Airar unsicher. »Sicher – wenn Ihr dem Pfad Briellas folgt und nichts weiter seid als eines von Millionen Weizenkörnern in einem großen Sack. Kein Mensch ist zur Pflicht geboren. Er hat nur die Pflichten, die er gegen einen bestimmten Gegenwert übernommen hat – wie Ihr jenen Fischern gegenüber eine Pflicht habt, die Ihr so weit von ihrer Heimat weggeführt habt, damit sie den Schlachtruf Eurer Katze brüllen und Euch zur Erfüllung Eurer Pläne dienen. Pflicht – das heißt, immer genau zu wissen, was das Beste für den anderen ist. Doch seid Ihr Gott? Könnt Ihr immer mit Gewißheit sagen, was für den anderen gut und richtig ist? Einst ritt ein Graf an einem Feld vorbei. Da sah er eine alte Frau, die arbeitete. Da ihn ihr Los dauerte, schenkte er ihr einen Silberaina, um ihre Not zu lindern. Da hörte sie auf, den Acker umzugraben, ohne zu wissen, daß ihr dadurch ein gewaltiger Goldschatz entging, der unter der Erde schlummerte. Sie zog mit ihrem Silberaina in die Stadt, doch bald ging sie am Bettelstab und war ärmer als je zuvor.« Airar holte tief Atem. »Ihr ratet mir also, daß ich mich Prinzessin Aureas Wünschen schlichtweg widersetze und um Argyra kämpfe, wenn ich Euch recht verstanden habe?«
»Ich rate Euch gar nichts mehr, seit ich weiß, daß Ihr meine Ratschläge nur allzu leicht in den Wind schlagt, junger Herr. Rat könnt Ihr nur bei Euch selbst suchen, in Eurem Innern, von dort aus betrachtet sieht die Welt ganz anders aus als aus meinem Blickwinkel... Es gibt noch eine andere Antwort auf Eure Frage nach der Pflicht. Pflicht gegenüber wem? Nicht gegenüber denjenigen, an die Ihr denkt; Ihr wißt von ihnen nur, was Augen und Ohren Euch sagen, aber Ihr könnt ihnen nicht in die Herzen schauen; dort aber liegt ihr wahres Wesen. Warum also Pflicht, Meister Airar? Ich wollte, ich könnte Euch von diesem Hirngespinst abbringen; Pflicht gegenüber Menschen, die Ihr nie gesehen habt, heißt, nicht Menschen, die wägbar sind, gegenüber verpflichtet zu sein, sondern irgendeinem Prinzip, einer hohlen Idee – zum Beispiel Ehrenhaftigkeit, oder was immer ihr wollt.« »Nun ja, und warum nicht?« fragte Airar verwirrt. »Ich hatte immer gehofft, ehrenhaft zu sein.« »Ah – pah! Junger Herr!« Meliboë griff nach dem Pergament und begann es aufzurollen. »Ehrenhaftigkeit ist nichts weiter als Duckmäusertum vor den Normen des Herrschaftsbereiches, in dem man sich gerade befindet. Als ich im Lyzeum von Briella Zaubersprüche aufsagte, war ich auch ein ehrenhafter Mann, bis dann Magie durch das Dekret verboten wurde. Nehmen wir einmal an, der Erlaß wäre genau in jenem Augenblick erlassen worden, als ich mitten in einem Zauber gegen Dämonen war. Bevor ich ihn zu Ende bringe, bin ich schon ein Schurke! Also habe ich die Wahl, ihn mittendrin abzubrechen und mich von den Dämonen in Stücke reißen zu lassen oder
mich gegen ein Gesetz zu vergehen.« »Das glaube ich nicht, nicht nach dem, was Ihr unlängst sagtet. Ist das, wovon Ihr in diesem Beispiel sprecht, nicht eher ein bloßer Verstoß gegen ein Gesetz, nicht aber gegen das Prinzip der Ehrenhaftigkeit oder ein anderes höheres Prinzip? Schaut – ich selbst breche doch das Gesetz der Vulkinger, hoffe sogar, daß es eines Tages ganz verschwindet.« Meliboë grinste mit einer Hälfte seines Gesichts. »Wonach lebt Ihr denn dann, Meister Airar? Ihr werdet sagen: nach einem Prinzip – und ich lache. Ihr habt keinen Prüfstein, an dem Ihr messen könnt, ob ein Prinzip richtig ist oder falsch, außer dem, daß irgendwann einmal jemand beschlossen hat, es in ein Gesetz zu gießen, nach dem die anderen leben müssen. Selbst Eure sogenannte wahre Religion – von der ich nicht bezweifle, daß Ihr an sie glaubt, ohne jemals genauer über sie nachgedacht zu haben, wie es im übrigen meistens bei jungen Leuten der Fall ist – ist nichts weiter als eine Art von Gesetz, nicht wahr? Ihr müßt die Worte eines anderen akzeptieren, der Euch sagt: Dieser Glaube ist richtig, jener ist falsch; und alles andere ergibt sich daraus, einschließlich Eurer Prinzipien, auf die alle geringeren Argumente wieder zurückfallen, wie Katzen, die die Welt beim Fangen ihres Schwanzes wiederzufinden hoffen.« »Herr«, sagte Airar mit sehr ernster Stimme, »Ihr mögt mich zwar mit Eurer gelehrten Philosophenlogik widerlegen, aber...« »Aber heute nacht werde ich das bestimmt nicht mehr tun«, fiel Meliboë ihm ins Wort. »Ich hatte wirklich nicht die Absicht, Euch zu verwirren. Ich habe nur den Wunsch, Euch klarzumachen, daß Ihr
das tun müßt, was Euch gefällt, ohne Rücksicht auf diese goldhaarige Prinzessin zu nehmen. Nicht alles, was glänzt, ist Gold; und bei ihr ist allerhand Messing dabei.« Solcherlei Sprüche waren gewiß ein gutes Stärkungsmittel. Als Airar aber über den dunklen Hof zu seiner Unterkunft trottete, dachte er bei sich: ›Wie kann ich diese Ware auf den Markt bringen, wo sein Verkauf den größten Nutzen bringt, nämlich bei Argyra, der Prinzessin von Stassia?‹ Die Zeit bewies, daß er recht behalten sollte mit seinem Zweifel; tags darauf war sie nirgends zu sehen, am darauffolgenden Tag ebenfalls nicht, und auch die Botschaften, die er ihr sandte, blieben unbeantwortet. Es schien also kaum noch einen Zweifel zu geben, daß sie sich dem Standpunkt ihrer Schwester angeschlossen hatte. Auf der Burg indessen ließen die Männer es sich gutgehen, ausgenommen die carrhoenischen Sergeanten, die sich täglich unter den gestrengen Blicken Evimenes' auf dem Turnierplatz übten. Die Vulkinger schienen währenddessen mit irgendeiner geheimnisvollen Sache beschäftigt; sie reparierten jedenfalls nicht gerade mit Feuereifer ihren zerstörten Damm. Als Airar sie nachdenklich bei ihrem Treiben beobachtete und gleichzeitig noch einmal die Unterredungen der letzten Tage in seinen Gedanken vorbeiziehen ließ, machte ihn plötzlich irgend etwas stutzig – eine seltsame Idee nagte am Rande seines Unterbewußtseins. Er schloß die Augen, dachte angestrengt nach, und dann hatte er die Szene wieder deutlich vor Augen und hörte die ältere Schwester erneut rufen: Übt Euch mit Eurer Magie besser schon jetzt an
meinem Bräutigam Vulk, denn Ihr werdet bald Gelegenheit genug haben, Eure Zauberkräfte ihm zu widmen – wenn er erst mit den Flotten der Zwölf Städte hier eintrifft! ›Was hat das zu bedeuten?‹ fragte er sich selbst und machte sich sogleich auf den Weg, Alsander zu suchen. Der Carrhoener war nicht weniger betroffen als er selbst, und die beiden begaben sich auf der Stelle zu Herzog Mikalegon und baten ihn, die Männer sofort zu einer Beratung zusammenzutrommeln, obwohl es erst Mittag war. Nach viel Gerufe und Gerenne auf dem Hof waren sie endlich vollzählig. Während Airar erzählte, wie er sich zufällig an die Äußerung der Prinzessin erinnert hatte, biß sich Pleiander nervös auf der Unterlippe herum, und die schwarzen Brauen des Herzogs zogen sich immer mehr zusammen. Alle versuchten, das Wort auf einmal zu ergreifen; Mikalegon hieb mit der Faust auf den Tisch: »Wie siehst du das, altes Knochengerüst?« brüllte er Alsander zu. »Können und wollen die Zwölf Städte gegen uns zu Felde ziehen? Ich bin fast soweit, es zu glauben. Zwischen mir und den Herren von Phyladea besteht eine Art Freundschaft, was du sicherlich nicht gern hören wirst. Ich habe das Gefühl, als werde das Schiff, das ich nach unserem Sieg gegen die verdammten Vulkinger dorthin gesandt habe, um Proviant zu kaufen, festgehalten; jedenfalls ist es noch immer nicht zurück.« »Gut möglich«, entgegnete Alsander nachdenklich. »Aber ich glaube nicht, daß Phyladea die Hand im Spiel hat; man hegt dort keine sonderlich freundschaftlichen Gefühle gegenüber der Volkspartei und
somit dem Kaiserreich. Mehr noch: Phyladea selbst würde es sich reiflich überlegen, Os Erigu anzugreifen; die Stadt ist keine Seemacht. Es könnte aber durchaus sein, daß Barbixana dieses Komplott anführt – oder Sthenophon von Permandos...« Airar fuhr so heftig auf, daß alle Köpfe zu ihm herumfuhren. »Was ist los, junger Augentrost?« fragte der Herzog und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Sthenophon von Permandos – das ist der Mann, dessen Hand die Dame Argyra ausschlug, und wie ich hörte, soll er es ihr sehr übelgenommen haben.« »Ho! Ich kann eine Ratte riechen, größer als ein Fuchs«, rief Evimenes. »Vulk und Sthenophon – und beide auf der Jagd nach ihren Bräuten, die sich in diesen Mauern befinden!« »Und ich rieche eine andere Ratte!« schrie Evadne mit ihrer heiseren Stimme, die sich vor Erregung jetzt fast überschlug. »Überlegt doch, Brüder: Wenn das, was hier gerade gesagt wurde, stimmt, dann geht daraus klipp und klar hervor, daß zwischen unseren Feinden außerhalb und innerhalb dieses Ortes geheime Verbindungskanäle existieren. Wie sonst ist zu erklären, daß die Feinde, die sich innerhalb dieser Burgmauern befinden, noch vor uns Bescheid wissen? Und ich rufe zusammen mit diesem Mariolaner: Verrat, Verrat, schmutziger Verrat! Ich kann Euch nämlich auch sagen, wo der Verräter steckt!« Sie hielt inne, um die Wirkung ihrer Worte abzuwarten. »Wo denn, zum Teufel?« brüllte der Herzog in die Pause hinein und spähte durch den Saal, als hockte in jeder der vier Ecken ein Kobold. »An allem sind diese Kaiserlichen schuld, diese
Weiber; wäre vielleicht ganz gut, mit einer glühenden Zange an ihren Brustwarzen herumzuspielen! Ja, zittert nur, ihr Eunuchen, ihr Arschkriecher, die ihr Argimenes' Haus als heilig verehrt und noch in der Welt von gestern lebt! Bringt diese Weiber her, und ich werde ihnen vor euren Augen die Wahrheit herauspeitschen.« Sie hatte sich, während sie sprach, ganz langsam erhoben; ihre Augen rollten, und Airar wunderte sich, während er selbst aufstand, wie er den Anblick dieser Frau jemals als angenehm empfinden konnte. Er hatte die Hand am Griff seines Dolches und schrie: »Ich lasse nicht zu, daß Ihr Carrhoener Argyra foltert! Vorher müßtet Ihr mich umbringen. Aber...« »Haltet ein!« Es war Meliboë der Zauberer; er hatte einen Finger in die Luft gestreckt, und eine kleine blaue Flamme tanzte auf seiner Spitze, als seine Stimme die Wogen glättete wie Öl, das man auf Wasser schüttet. Alle starrten ihn an. »Was ich euch sagen will, ist dies: Der junge Herr Airar hat es schon gesagt – die Nachricht kam von Prinzessin Aurea, und ihr könnt mich ebensogut verhören, wenn Ihr etwas von ihr herausbekommen wollt. Sie ist stolz, ja, und sie hat nicht mehr Herz als eine verfaulende Eiche; aber in ihren Adern rinnt das eiserne Blut des alten Königs Argimenes, der den Heiden ein Königreich entriß mit nichts als einem zerbrochenen Schwert, das er auf der Erde fand – und er selbst nicht mehr als ein Sklave zu jener Zeit. Die jüngere Schwester weiß von nichts; hätte sie Kenntnis, besäßen wir klarere Kunde von diesem jungen Herrn, der ihr Geliebter ist. Unterzieht diese Frauen
einem hochnotpeinlichen Verhör, und Ihr habt die ganze Welt gegen Euch, nicht nur Vulk und die Männer der Zwölf Städte, die er für seine Ziele einspannt, sondern auch Dzik. Hoffnungsloser Krieg und grausamer, schmutziger Tod werden für alle von uns das Ende sein, denn diese Frauen stehen unter dem Schutz der Quelle. Und außerdem sind nicht sie es wohl, die den Verrat zu verantworten haben, sondern ihr Bruder.« »Nein! Nicht er!« krächzte Pleiander, und dann begannen alle wild durcheinander zu reden. Aber der günstige Moment für Evadnes Plan war verstrichen, und das Ende der stürmischen Versammlung war, daß Herzog Mikalegon erklärte, er würde die Schiffe entsenden, um Proviant zu kaufen und um zu sehen, was los war – hohe Schiffe, die wendig genug waren, sich im Wind jener Gewässer des Nordens die Rudergaleeren vom Leibe zu halten, die sie in den Zwölf Städten benutzen.
30 Der Bärenfjord: Das Feuerschwert ist erhoben Die Trompete vom Hügel am Ufer blies zweimal; die Vulkinger gerieten i n Bewegung; neue Standarten tauchten auf der Kuppe des Hügels zwischen den Bäumen auf. Die Arbeiter aus Briella schufteten an der Mole, um sie zu verbreitern. Poë erklärte, das Signal bedeute, daß Vulk höchstpersönlich eingetroffen sei. Die Männer auf der Burg arbeiteten jetzt wieder etwas z ügiger an der Lünette und an Pleianders großem Trebuchet, wenn auch noch immer nicht schnell genug; denn die besten Leute des Herzogs waren mit den Schiffen unterwegs, und die Kunde vom Verrat war inzwischen so weit durchgesickert, daß jeder dem anderen mißtraute und die Männer sich voller Argwohn einander über die Schulter beäugten. Die Carrhoener waren in jenen Tagen nicht gut auf Airar zu sprechen, und selbst der lange Erb schien ihm irgendwie aus dem Weg zu gehen. Unser Held konnte sich denken, warum, als er den Fischer von Zeit zu Zeit aus der Ferne beobachtete, wie er mit Evadne zusammenstand. Airar fühlte sich ziemlich im Stich gelassen; der einzige, der sich bisweilen mit ihm unterhielt, war Poë, der (wie er selbst sagte) doch nicht so sehr beim Herzog in Ungnade gefallen war, wie er befürchtet hatte. Es schien vielmehr so zu sein, daß der letztere sich angewöhnt hatte, ihn nicht mehr zu beachten, und offenbar Schwierigkeiten hatte, mit dieser Angewohnheit (wie mit jeder, die man mit der Zeit annimmt) ohne weiteres wieder zu brechen. Dieser Poë jedoch war auch kein Mann, der Airar viel zu
bieten hatte, und so litt der junge Mann sehr unter den sich träge dahinschleppenden Stunden und Tagen, bis es eines schönen Tages so heiß war, daß man unmöglich eine Rüstung tragen konnte. Die Sonne brannte; auf der blauen See des Nordens tanzten weiße Gischthauben im Wind, und am blauen Horizont tauchte ein weißes Segel auf. Es dämmerte schon, als das Schiff an der Mole von Os Erigu vor Anker ging und der Kapitän unter der Seeadlerstandarte in die Versammlungshalle trat. Mit einem Schlag waren alle nüchtern, als der Kapitän, ein kräftiger, untersetzter Mann mit roten Haaren und einer riesigen Narbe quer über dem Gesicht, um Aufmerksamkeit bat. Der Name des Kapitäns war Minxé der Wirrkopf, so genannt wegen seiner konfusen Art zu sprechen. So weit man es seiner Rede – die in der Tat höchste Aufmerksamkeit erforderte – entnehmen konnte, brachte er Neuigkeiten mit, und zwar höchst interessante: In Damaria hatte man ihm die Einfahrt in den Hafen verweigert, da er dem Reich unterstand und der Herzog beim Kaiser in Acht und Bann lag. Daraufhin war er nach Nordwesten weitergesegelt. Auf dem Weg dorthin war er einem Schiff aus Lectis begegnet, dessen Kapitän ihm erzählt hatte, daß die Herren der Zwölf Städte in der Tat entschlossen waren, sich mit Vulk gegen das Piratennest Os Erigu zu verbünden, das sie so oft gepeinigt hatte. Jedoch wollten nicht alle Städte mitmachen; die Flotte der Verbündeten war angeblich zu einem großen Teil mit Leuten aus den dalekarlischen Faktoreien bemannt, und Barbixana weigerte sich überhaupt, seine Schiffe zur Verfügung zu stellen, wenn man ihm nicht den Oberbefehl über die ganze Flotte übertrug. Das Kon-
tingent von Xiphon war zwar zusammen mit den anderen Schiffen ausgelaufen, hatte sich dann aber unterwegs unter dem Vorwand vom Rest der Flotte abgesetzt, man müsse in Uravedu einen Raubzug unternehmen, um die Soldaten besolden zu können. »Mit anderen Worten: Sthenophon führt die Flotte an«, warf Alsander an dieser Stelle ein. »Ob er sie führt, weiß ich nicht; er ist Spadarion und ließ zwei Hauptmännern aus Thaskoi die Köpfe abschlagen; aber der Abenteurer aus Lectis Minima sagt, er wäre ein zu kleines Licht, um solch einen gewaltigen Kriegsbrand zu entzünden. Vielleicht haben sie ihn bloß als Küchenjungen mitgenommen.« Jemand lachte; Kapitän Minxé blickte verdutzt in die Runde, um nach dem Grund für das Lachen zu forschen, und als er niemand entdecken konnte, setzte er seinen Bericht fort. Er hatte sich alsdann auf den Weg zu den Gentebbi-Inseln gemacht, dem Hauptumschlagsplatz für alle Arten von Neuigkeiten, um herauszufinden, ob er Näheres von den Fischern erfahren konnte. Doch in der Nähe der Inseln gab es keine der üblichen Fischerboote, sondern statt dessen eine Parade von Booten, die ›wie Sand auf dem Wasser‹ trieben, bunt angemalt und mit Rudern. Glücklicherweise ging soviel Wind, daß das Schiff von Os Erigu ihnen entweichen konnte, obwohl die Boote nahe genug herankamen, um ihm mit ihren Ballistas um ein Haar den Garaus zu machen; als sie zur Verfolgung die Segel setzten, sah Minxé, daß auf ihnen die Waldratte prangte, das Wappen von Permandos. Nun galt es als sicher: Sthenophon war unterwegs nach Os Erigu, und niemand wußte so recht, wie man ihm begegnen sollte, obwohl noch bis zum Morgen-
grauen über das Problem debattiert wurde Pleiander meinte, seiner Erfahrung mit Belagerungen nach käme es jetzt vor allem darauf an, Ruhe zu bewahren; man solle genügend Proviant beschaffen und ausharren, bis der Hunger diese neuen Invasoren wieder nach Hause trieb. Die Südländer müßten versuchen, sich Nahrung aus Micton zu besorgen, wo sie wenig finden würden, und währenddessen könne man sie durch ständige Angriffe auf See zermürben. Ein guter Vorschlag; aber allen war klar, daß die Zeit drängte, den ersten Schritt zu unternehmen, denn sonst würden sie es kaum schaffen, bevor Vulks Damm, auf dem mittlerweile ein weiterer Turm gebaut wurde, die Mauern der Burg erreicht hatte. Es auf eine Seeschlacht ankommen lassen? Als die Versammlung abgebrochen wurde, hatten alle ein unbehagliches Gefühl; noch ein paar Tage, und sie würden wissen, ob das zu machen war oder nicht. Der Tag kam, und mit ihm Sthenophon und seine Flotte. Alle Augen waren auf den Horizont gerichtet, um zu beobachten, wie die Schiffe da im goldenen Licht der spätsommerlichen Sonne in einer langen Reihe aus dem Süden auftauchten, wie Wanzen unter einer Türfuge, die langsam herankrabbelten. Sie hatten die Segel gesetzt; aber als sie sich der Burg auf ihrer Landzunge näherten schien der Herr von Permandos sich brüsten zu wollen: Er ließ die Ruder zu Wasser und brachte alle Schiffe in Gefechtsformation. Dazu bliesen die Flöten zu dem harten, unregelmäßigen Rhythmus, dem kaum einer, der nicht im Süden geboren war, folgen konnte. Der Herzog stand an der Brustwehr; er ließ einen Katapult spannen und versuchte einen Wurf, der jedoch weit vor den Schiffen
ins Wasser klatschte, welche jetzt majestätisch vorbeizogen, die Flöten lauter und spöttischer als zuvor, während weiße Gischt unter ihren mit Zähnen besetzten Rammsporen hervorspritzte. Wie bei einer Parade änderten jetzt die Schiffe ihre Formation; die Segel gingen herunter, und noch mehr Ruder wurden zu Wasser gelassen. Airars Blick folgte den ausgestreckten Armen der Männer, die auf irgend etwas zeigten und dabei laute Rufe ausstießen. In der Ferne sah er einen schwarzen Punkt, das Glück oder der Mangel desselben hatten es so eingerichtet, daß ausgerechnet in diesem Augenblick ein weiteres Schiff von Os Erigu zurückkommen mußte. Die permandenischen Galeeren schwenkten in einer langen Kurve herum. Das Bild, das sie dabei boten war einfach atemberaubend, und Airar konnte sich eines spontanen Ausrufes der Bewunderung nicht enthalten, obwohl er sie gleichzeitig dafür haßte. »Zurück!« brüllte Herzog Mikalegon, als ob die Männer auf seinem Schiff ihn verstehen konnten. Was nun folgte, war wie ein Spektakel in den grausamen Arenen von Dzik, jedoch lautlos und weit entfernt. Alle sahen, wie die großen Toppsegel des Schiffes in der Sonne glänzten, als es die Gefahr erkannte und sich zur Flucht wandte. Aber die Galeeren waren bei der schwachen Brise schneller. Sie schwärmten aus, um das Schiff in ihren Netzen zu fangen. Die Männer hinter der Brustwehr starrten atemlos gebannt hin, in dem peinigenden Gefühl, nicht eingreifen zu können. Herzog Mikalegon stampfte in ohnmächtiger Wut mit dem Fuß auf, wobei e r sich ganze Büschel seines Bartes in den Mund stopfte. Weit hinten auf See machte das Schiff – ihr Schiff – erneut ein atemberaubendes
Wendemanöver, dann noch eines, und dann (als sein Kapitän sah, d a ß es k e i n Entkommen m e h r gab) schwenkte es herum, um mitten in den Pulk von Galeeren zu brechen. Aus der Ferne sah man, wie die Steine als kleine schwarze Punkte hin und her flogen und ein Loch nach dem anderen in die Segel rissen. Mit voller Fahrt versuchte das Schiff, e i n e d e r Galeeren in d i e Flanke zu rammen. Doch das wendige Gefährt wich im letzten Moment aus, und als es abtrieb, sah man, daß auf einer Seite alle Ruder abgeknickt waren. Aber bevor das Schiff von Os Erigu einen Vorteil daraus ziehen konnte, hatten sich schon die Rammsporne zahlreicher Galeeren in seine Flanken gebohrt und es tödlich verwundet. Das Schiff des Herzogs legte sich auf die Seite, und die Männer sprangen mit gezückten Schwertern an Bord der Galeeren oder fielen ins Wasser. Als das Schiff mit steil in den Himmel ragendem Bug versank, lief ein Schrei der Wut und des Hasses die Brustwehr entlang. Einen Augenblick herrschte noch Tumult an der Stelle, wo das Schiff versank, ein paar Männer der Besatzung, die sich tapfer der erdrückenden Übermacht erwehrten, fielen tödlich getroffen ins Wasser, und dann setzten die Kriegsschiffe der Zwölf Städte wieder ihre flachen Segel und formierten sich, um erneut die Landzunge der Burg anzulaufen. Diesmal kamen sie so nahe heran, daß man das Lachen und Johlen der Seeleute an Bord deutlich herüberschallen hörte, als sie mit den Armen auf ihre Rahnocks zeigten, an denen ein paar Gestalten baumelten. Eine Stimme raunte: »Meister Airar, Ihr sagtet mir, daß Ihr mich liebt; beweist mir Eure Liebe, indem Ihr mich vor diesem M a n n bewahrt; sonst muß ich sterben.«
Es war Argyra, ohne ein weiteres Wort verschwand sie wieder. Schwarz fiel die Nacht auf Os Erigu, und finster sollten die Tage sein, die folgten. Vor der Küste lagen ständig zwei oder drei Galeeren, voll erkennbar am Tag, des Nachts erleuchtet. Manchmal kamen sie näher, um mit ihren Katapulten die drei Schiffe zu beschießen, die noch immer an der Mole lagen. Es kehrten keine weiteren der ausgesandten Schiffe zurück, und so bekam man auch keine neuen Nachrichten. Niemand wußte, was der Flotte Os Erigus auf See widerfahren war, und der große Herzog verhielt sich wie einer, der halb den Verstand verloren hatte; rastlos schritt er mit düsterem Blick umher. Alle Lebensgeister schienen von ihm gewichen zu sein. Es war, als steckte sein ganzes Herz in den hölzernen Leibern jener Schiffe, die nach wie vor verschwunden blieben. Manchmal stellte er sich auf die dem Meer zugewandte Brustwehr und starrte geistesabwesend auf die Stelle, wo die Vulkinger, hinter Schutzschilden verdeckt, Bäume und Geröll auf die Brandwunden des Dammes schütteten, um ihn wiederherzustellen. Dann nahm er den jungen Visto bei der Hand und schritt langsam mit ihm zum Schwarzen Turm, woher der Wind kurz darauf die Klangfetzen von Trinkliedern herüberwehte. Die beiden Türme der Vulkinger rückten unaufhaltsam vorwärts; es brachte auch keinen Gewinn, als Pleiander einmal einen schweren Katapult heranschaffen ließ und ein paar ihrer Leute wie Käfer zerquetschte. Es war nun eindeutig Pleiander, der, unterstützt von Evadne, das Kommando übernommen hatte. Die Debatte, die sich dem Bekanntwerden des Verrats angeschlossen hatte, hatte schließlich zu dem Ergebnis geführt, daß es den
Prinzessinnen strikt untersagt worden war, mit irgend jemand zu sprechen, ausgenommen die Dienerin, die sich beide teilen mußten – ein ehemaliges Tanzmädchen, dessen Figur mittlerweile ein wenig aus dem Leim gegangen war. Pleiander und Evadne – es war, als spornte sie die aussichtslose Lage erst recht an; sie war wie von einem Dämon besessen. Sie war überall, entweder an den Mauern, wo sie den Männern aufmunternd »Kopf hoch!« zurief, oder sie stand bei den Arbeitern, die damit beschäftigt waren, den Trebuchet ins Gleichgewicht zu bringen, und riß Zoten mit ihnen. Eines Abends, als alle am großen Versammlungstisch saßen, schlang sie ihre Arme um den Hals des langen Erb und lächelte ihm ins Gesicht, als er sich gerade sehr pessimistisch über ihre Siegesaussichten äußerte. Ja, sie küßte sogar Mikalegon auf seinen schwarzen Bart und bat ihn neckisch, er möge ihr doch einmal den Schwarzen Turm zeigen, worauf der Herzog, den dieses Spielchen ebenso unsicher machte wie Airar, sich in ein rauhes verlegenes Lachen flüchtete. Ihre Brüder hoben die Becher, gefüllt mit dem Wein aus langsam dahinschwindendem Vorrat, und prosteten ihr laut »Ho! Evander!« zu, und Airar war fast schon wieder soweit, die kriegerische Maid in seinem Innersten zu bewundern, bis eine zufällige Erwähnung der beiden Damen aus Stassia erneut schwarzen Haß in ihren Augen aufblitzen ließ. Nun denn, jedenfalls war es Evadne, die eines Nachts, als ein stürmischer Wind die Wellen gegen den Fuß der Burg peitschte und die Lichter der beiden die Zufahrt blockierenden Galeeren verschwunden waren, allein hinaus zur Mole ging.
Dort fand sie Treibgut und brachte es mit einiger Anstrengung in die Versammlungshalle: Rogai, halb nackt und völlig erschöpft, der (nachdem er erst einmal einen kräftigen Schluck Schnaps heruntergekippt hatte) atemlos keuchend hervorbrachte, er verdanke ihr sein Leben. Lange hätte er sich nicht mehr schwimmend über Wasser halten können. Der Herzog war zu dem Zeitpunkt schon zu Bett gegangen; Airar ebenfalls, so daß er die Geschichte erst hörte, als man ihn aus dem Schlaf holte. Pleiander befand sich währenddessen an der Brustwehr, wo der Feind inzwischen so nahe herangerückt war, daß er von einem seiner Türme schon wieder die Burg beschoß. Bis alle zusammengetrommelt waren, hatte sich der Mariolaner schon wieder ein wenig erholt, wenigstens soweit, daß er sprechen konnte, wenn auch unterbrochen von ständigem Schniefen und Krächzen. Er wußte höchst Aufregendes zu berichten: Im ganzen nördlichen Dalekarlien (so sagte er) schwelte es unter der Oberfläche, zwei Kastelle waren in Korosh erobert worden, und Vulk hatte einen großen Teil seiner Tercia-Streitmacht zusammenziehen müssen, um die Straßen halbwegs kontrollieren zu können... »was ihm, bei der Quelle, nicht leichtfallen wird, wenn ihr es schafft, bis zum ersten Schnee hier auszuhalten!« »Nicht einfach für uns«, grunzte Mikalegon, »ich fürchte, Ihr sprecht mit Männern, die schon dem Untergang geweiht sind. Unsere Vorräte schrumpfen zusehends dahin, und die blaue See, die uns immer geholfen hat, ist plötzlich unser Feind. Wir könnten es vielleicht schaffen, in einem Sturm wie heute nacht ein Schiff durchzukriegen, auf die Gefahr hin, an ei-
ner Klippe zu zerschellen und elendig zugrunde zu gehen. Aber es sind nur noch drei Schiffe übriggeblieben. Und wenn wir es jetzt wagen, verlieren wir vielleicht unsere letzte Hoffnung, noch entkommen zu können, wenn sie die Tore dieses Rattenlochs aufbrechen.« »Ich hätte mehr Kampfgeist in Euch vermutet. Greift doch einfach diese Südländer an!« »Wir haben schon einmal zusehen müssen, wie es einem Schiff erging, das es versuchte. Ihre Galeeren sind einfach zu wendig für unsere Segelschiffe, wenn sie in so großer Überzahl sind« (Draußen prallte mit einem dumpfen Dröhnen die sturmgepeitschte Brandung gegen die Mauern; eine eisige Sturmbö pfiff durch den geschlossenen Fensterladen, und der Herzog biß sich auf die Fingerknöchel.) »Puh!« rief Rogai aufbrausend. »Ihr redet daher wie ein Hofschranze von Scroby. Macht Ihr hier ein lustiges Spielchen, oder kämpft Ihr um einen Sieg? Bah, die Waldratte von Permandos rennt nur bei Tag; in der Nacht oder wenn der Sturm tobt, schläft sie fest wie ein Murmeltier... Ha-tschi!... Schlagt sie in ihrem eigenen Loch, fangt sie, wenn sie gerade nicht schwimmt!« »Wie meint Ihr das?« fragte Mikalegon zweifelnd, aber plötzlich wieder interessiert. »Nun, unser Freund Alsander... hust!... scheint begriffen zu haben, was ich meine.« Er wies mit dem Finger auf den Carrhoener, der seinen rechten Zeigefinger befeuchtete, damit die linke Handfläche berührte und dann seine Faust mit lautem Klatschen in diese Handfläche hieb. »Klare Sache. Alle Rudergaleeren der Permandener bis auf die, die im Dienst
sind, liegen während der Nacht am Gestade des Bärenfjords vertäut. Wußtet Ihr das nicht? Ach nein, Ihr werdet ja belagert, abgeschnitten. Ich freue mich, daß ich Euch diese Nachricht bringen kann, die Euch sonst entgangen wäre. Nun, jedenfalls liegen sie am Strand, aneinandergereiht wie die Körner an einer Ähre; zur Landseite hin werden sie durch eine Einfriedung geschützt. Denn sie erwarten höchstens von dort her einen Angriff, durch meine wackeren Bergleute aus Korosh oder durch die angemalten Mictonier. Aber die See? Sie sind fest davon überzeugt, sie zu beherrschen, und denken nicht im Traum daran, daß ihnen von dorther Gefahr drohen könnte. Wie wär's, wenn Ihr sie in der Dunkelheit der Nacht überfallt und ihre Schiffe in Brand steckt? Was wäre schon dabei wenn Ihr selbst dabei ein oder zwei Schiffe verliert? Wenn erst der Winter hereinbricht, werden sie im Bärenfjord ganz schön am Hungertuch nagen.« »Herr«, fiel Airar hastig ein, »der Wind kommt heute nacht aus Nordwest und bläst nicht so gut, aber in Västmanstad hält sich ein solcher Wind immer die ganze Nacht, und die freien Fischer die ich anführe, fühlen sich bei solchem Wetter pudelwohl. Laßt es uns noch heute nacht wagen!« Noch immer zweifelnd, aber doch schon wie einer, der aus einem langen Traum erwacht, blickte Herzog Mikalegon auf Alsander. »Er hat recht, alter Fleischhacker«, sagte der Carrhoener. »Versuch's! Lieber jetzt als dann, wenn sie dir mit ihren Maschinen und ihrem Damm so nahe auf die Pelle rücken, daß dir ohnehin kein anderer Ausweg mehr bleibt als das Meer!« »Ich bin ebenfalls dafür«, sagte Pleiander. »Bei ei-
ner Belagerung muß man entweder selbst handeln oder sich das Gesetz des Handelns vom Feind diktieren lassen. Und das letztere ist bei uns der Fall, seit sich Sthenophon mit Graf Vulk verbündet hat.« »Na schön; versuchen wir es also«, meinte Mikalegon langsam. »Aber ich stelle eine Bedingung: daß ich dieses Unternehmen nur als Freiwilliger mitmache und den Seeadler der Katze unterstelle – miau! Altes Knochengerüst! Ich ernenne dich hiermit zu meinem Statthalter und Erben, falls etwas schiefgeht und ich nicht mehr zurückkomme.« »Ich mach' mit!« rief Rogai. »Wenn seine Lordschaft so freundlich ist, mir einen Helm zu leihen – haaa-tschih!« »Ich auch!« rief Evimenes und streckte Airar den Griff seines Schwertes als Zeichen der Gefolgschaft entgegen; aber Alsander und Evadne runzelten darob beide die Stirn und erinnerten ihn daran, daß ihre geschwisterlichen Bande geboten, daß entweder alle oder keiner von ihnen sich in ein solch gefahrvolles Unternehmen stürzte. Und Alsander durfte nicht mitmachen, da der Herzog ihn zum Statthalter ernannt hatte. Als sie an der Mole eintrafen, stellte Airar fest, daß Evimenes (auf den man sich in solchen Dingen hundertprozentig verlassen konnte) schon Feuertöpfe hatte vorbereiten lassen. Erb rief die Männer zusammen, die rasch herbeieilten, noch benommen vom ersten Schlaf, aus dem man sie geweckt hatte. Der lange Fischer kicherte in sich hinein, als er sie zählte, und erinnerte Airar an seine erste Schiffsreise als Führer, jene Fahrt von Vagai nach Salmonessa, »und ich will keine Verwünschungen auf Euch herabrufen, Meister
Scharfauge, aber wer von uns Fischern hätte damals gedacht, daß wir Zauberern um die halbe Welt folgen würden? Wenn meine Schwester Ervilla wüßte, was ihr alter Knabe schon so alles erlebt hat!« Airar hatte keine Zeit, darauf zu antworten; denn im gleichen Moment kamen schon mehrere von Os Erigus Leuten, zusammen mit dem Herzog, und er gab ihnen Anweisungen. Unter der heftig wogenden Brandung schlug das Schiff mit knarrenden Masten gegen die Kaimauer, als sie versuchten abzulegen, und sie befürchteten fast, es würde aus allen Fugen brechen. Bei dem starken Wind konnten sie nur einen kleinen Fetzen Segel setzen, und Rogai von Mariola verlor die Balance und schlug so heftig hin, daß er sich beinahe alle Knochen gebrochen hätte. Aber er ließ sich dadurch nicht die Laune verderben und pfiff weiter fröhlich wie eine Lerche vor sich hin. Airar begann langsam, ihn mit ganz neuen Augen zu sehen – sicher, er war ein leichtsinniger Bursche, dazu äußerst eigensinnig und aufbrausend, aber wenn das Abenteuer rief, dann konnte man sich keinen treueren und furchtloseren Kameraden als ihn vorstellen. Als sie endlich abgelegt hatten, war es Mitternacht. Airar war mit seinen Gedanken halb bei seinem Schatz und halb bei dem, was noch vor ihnen lag. Es war ein hartes Stück Arbeit, vom Ufer abzuhalten, während der Sturm wütend gegen die Flanke des Schiffes blies. Sie waren nicht mehr als vierzig Mann, so schätzte Airar; er hatte es mittlerweile aufgegeben, die Männer zu zählen, da er sich jedesmal verzählte, wenn er es versucht hatte. Die Regenwolken, die dieser Sturm heranblasen würde, waren noch nicht an-
gekommen; der Himmel blieb klar und sternenübersät; am östlichen Horizont hoben sich schwarz und wuchtig die Umrisse des Eisengebirges von Korosh gegen das kaltglitzernde Sternenmeer ab. Herzog Mikalegon hatte eine Streitaxt bei sich; er stand auf dem Achterschiff und hielt sich an der Reling fest, während die freien Fischer sich gegen das Heulen des Sturmes irgend etwas im Dialekt ihrer Insel zuriefen. Der Herr von Os Erigu rief Airar zu: »... nicht ohne Folgen bleiben!« Mehr als diesen Satzfetzen konnte der junge Mann in dem tosenden Wind nicht aufschnappen, und er beugte sich vor, um anzudeuten, daß der Herzog es wiederholen möge. »Mein Vater irrte sich!« brüllte der Herzog aus voller Lunge, um gegen das Getöse anzukommen, »als er sagte, Männer würden treu zu einem Banner halten, wenn nur jeder ihm aus freien Stücken folgte. Das ist falsch: Sie brauchen Ordnung und eine feste Hand, die sie führt, die sie bestraft oder belohnt. Und diese feigen Hauptmänner, die mich im Stich gelassen haben, werde ich aufknüpfen lassen, denn sie haben es nicht anders verdient!« Airar hatte keine Lust, sich mit solcherlei Fragen zu beschäftigen, während er sich auf dem heftig schaukelnden Heck mit Mühe auf den Beinen hielt und die Schlacht immer näherrückte. Auf der Höhe der Steuerbordseite riß die Linie weiß schäumender Gischt längs der felsigen Küste jetzt ab; sie hatten die breite Einfahrt zum Bärenfjord erreicht. Das Schiff schwoite unter einem Chor von Rufen, und das heftige Schaukeln ließ gleich darauf nach, als es mit den Wellen ritt statt gegen sie anzubocken. Plötzlich fiel dem jungen Mann auf, daß er den Zauberer Meliboë den ganzen
Abend nicht gesehen hatte – welchen Grund mochte das haben? Es kam ihm der freudige und ermutigende Gedanke, daß der alte Mann ihnen vielleicht während ihres tollkühnen Unternehmens mit seiner Zauberkunst zur Seite stand; denn der Tyrann von Permandos, gegen den sie hier zu Felde zogen, würde gewiß nicht solche Immunität gegen magische Kräfte besitzen wie die Söhne von Briella. Aber nein! Er hatte für einen kurzen Augenblick vergessen, daß er sein Urteil über die Zauberei längst gesprochen hatte: ein Zauberspruch führte zum nächsten, bis man immer tiefer hineingeriet. Der Wind trieb sie jetzt zwischen hohen Mauern von Schwarz dahin; aber erhellte nicht dort hinten am Horizont das schwache Scheingrau der heraufziehenden Morgendämmerung ein wenig den Himmel? Hinter einer Biegung wurde der Fjord breiter; längs des gegenüberliegenden Ufers zeigten jetzt ein paar winzige Lichtpunkte, wo die Söhne der Waldratte ihr Lager aufgeschlagen hatten. »Gleich geht's los, junger Herr«, rief Erb, der das Schiff steuerte, und Rogai versuchte zum hundertstenmal, ein Niesen zu unterdrücken. Airar hatte in seiner Eigenschaft als Anführer die Order ausgegeben, daß die Männer von Os Erigu zusammen mit einigen der Fischer als erste an Land gehen sollten, wo sie die Aufgabe hatten, Zelte und Hütten in Brand zu stecken. Der Rest sollte unter Erbs Führung eine der Galeeren losmachen, damit sie nach Beendigung des Unternehmens eine Fluchtmöglichkeit hatten (da sie mit einem Segelschiff bei solch heftigem Gegenwind unmöglich wieder aus dem Fjord herauskommen konnten). Sobald sie die Galeere freibekommen hatten, sollten sie die restli-
chen Galeeren mit dem Schiff, auf dem sie gekommen waren, in Brand setzen. Er selbst hielt eine Trompete, um die vereinbarten Signale zu blasen: ein Stoß für den Angriff, zwei für den Rückzug. Sie waren vierzig Mann gegen tausend – vielleicht gegen noch mehr. »Haltet euch bereit!« schrie Airar. »Die Fackeln, ho!« Das Schiff drehte erneut bei unter Erbs geschickter Hand, und sie hielten genau auf die Stelle zu, wo die dunklen Umrisse der Galeeren sich gegen das Ufer abhoben. Geradewegs hinein, mit vollen Segeln, hinein! Ein splitterndes Krachen von Holz, als der Bug des Segelschiffes voll die Seite einer der Galeeren rammte. Airar blies einen Trompetenstoß und war mit einem Satz auf dem Deck eines der feindlichen Schiffe. Aus der Luke der Vorschiffskabine tauchte ein verblüfftes Gesicht auf und glotzte schlaftrunken in das Licht der Fackeln, die die Männer, die hinter Airar folgten, in der Hand hielten. Der Herzog sprang laut brüllend vor; Airar sah, wie er seine Streitaxt auf den Kopf des Permandeners niedersausen ließ, der wie vom Blitz gefällt zu Boden ging. Ein Mann mit einer Fackel sprang über den Leichnam hinweg, um den Bug des Schiffes in Brand zu setzen. All dies spielte sich in wenigen Sekunden ab. Dann rannte der Sohn Alvars über das Deck und sprang hinunter. Er landete mit beiden Füßen auf nassem Strandkies. »Hierher!« schrie er; Nene von Busk, der dicht hinter ihm war, gab einen gellenden Wildkatzenschrei von sich. Ein Dutzend Schritte vor ihnen stand eine Hütte; ein Mann kam herausgestürzt und schrie etwas; wie Airar sich später erinnerte, hatte er fragen wollen, was passiert war. Der Sproß von Trangsted senkte
sein Schwert tief in den Leib des Mannes. Als er es wieder herauszog, kam schon der nächste aus der Hütte. Ein kurzes Gefecht, dann ging auch dieser zu Boden. Da erinnerte Airar sich daran, daß er der Führer des Unternehmens war. Als er sich umwandte, kam schon eine Fackel dicht an seiner Hand vorbeigeflogen und landete auf dem Dach der Hütte, das sofort in Flammen aufging, als die Funken der Fackel in Windrichtung dahinstoben – und schon ging auch das Dach der nächsten Hütte in Flammen auf. Gleich darauf stürzten die ersten Permandener aus den Hütten und fingen an zu rennen, als sie die Flammen erblickten, jedoch nach links, genau in die entgegengesetzte Richtung von dort, wo Herzog Mikalegons markerschütternder Schlachtruf ertönte. Airar lief nach rechts, zum oberen Ende des Strands, wo Erb in der Zwischenzeit versuchen würde, eine Galeere freizubekommen; er rannte an großen, dunklen Rammspornen vorbei, deren bronzene Beschläge matt schimmerten. Nirgendwo eine Menschenseele; er stolperte über etwas, verklemmte seine Hand in der Trompete und fiel der Länge nach auf den Kies. Jemand half ihm auf die Beine; hinter einem Schiffsschnabel sah er Männer, die sich hastig bewegten; in der Ferne züngelte eine riesige Flamme von den schwankenden Masten des Segelschiffes. Einer der Männer sprang auf ihn zu und schrie: »Hier ist einer!« Gleichzeitig hob der Mann sein Schwert Airar, der rechtzeitig erkannte, daß es die Stimme eines Fischers war, duckte sich und schrie: »Dalarna!« »Bei Gott – Ihr seid's! Verzeiht, Herr!« rief der Mann, der beinahe zugeschlagen hätte. »Hau-ruck!« erscholl Erbs Stimme, und mit vereinten Kräften stemmten
sich die Männer gegen den Bug der Galeere. »Wie weit seid ihr, kommt ihr voran?« fragte Airar. Der lange Erb schaute ihn mit einem Gesicht aus Verzweiflung und Verlegenheit an. »Kriegen sie nicht los. Sie ist mit Winden auf den Strand gezogen worden. Brauchen mehr Leute zum Anpacken.« Airar überlegte blitzschnell – blies er jetzt das Signal zum Rückzug, dann käme Mikalegon mit seinen Männern und brächte ihnen den Feind auf den Hals, bevor sie das Schiff freibekommen hatten. Aber das Segelschiff brannte schon lichterloh, und der Wind trug die Funken über das ganze Lager und die anderen Schiffe – viel zu früh, dachte Airar, es sollte doch später angesteckt werden! Er wollte schon die Trompete an den Mund setzen als Sewald sie ihm wütend aus der Hand schlug: »Nicht! Sonst haben wir sie alle auf dem Hals!« schrie er mit schriller Stimme. »Dann laß sie kommen«, rief Airar. Als Sewald einen erneuten Versuch unternahm, ihm die Trompete zu entreißen, zog Airar wutentbrannt seine eigene Klinge aus der Scheide und schickte den Burschen mit einer fürchterlichen Wunde zu Boden. Er hatte in dem Moment nur den einen Gedanken: Da fällt ein schlechter Mensch! Wie von Sinnen stieß er ein zweitesmal zu. Dicht an seinem Ohr pfiff ein Pfeil vorbei und blieb im Bug der Galeere stecken. Erb deutete auf etwas, und drei der Fischer rannten mit grimmigem Gesicht in die Richtung, aus der das Geschoß gekommen war. Im Schein des Feuers sah Airar eine Gestalt heranhuschen. Ein Fischerspeer schien mitten durch den Mann hindurchzugehen, aber er rannte weiter, bis ein zweiter ihm ins Bein fuhr, mit einem spitzen Aufschrei ging er zu Boden. Wildes Brüllen
kam nun aus der Richtung des Lagers; die wütende Flamme sprang wie ein Irrlicht von einem Dach zum anderen. »Holt mehr Balken zum Anheben!« schrie Erb; dann lief er auf Airar zu, ergriff seine Hand und sagte hastig: »Meister, wenn wir hier sterben, dann sollt Ihr wissen, daß ich keinen Groll hege, daß die Frau, die ich so gern besäße, mit Euch schläft.« Dann drehte er sich blitzschnell um und warf seinen Speer auf die vorbeihuschende Gestalt eines Permandeners. In den Reihen des Feindes brach Panik aus: Laut um Hilfe rufend rannten Männer in Richtung der brennenden Schiffe und Hütten; die meisten von ihnen hatten völlig den Kopf verloren und nachdem die tapfersten von ihnen gefallen waren, irrten sie führungslos umher. Der größte Teil der Galeeren hatte den Sommer über am Strand gelegen, und durch die Sonne war das Pech zwischen den Fugen der Planken aufgeweicht und herausgelaufen. Die Schiffe brannten wie Zunder, sobald ein Funken sie traf. Einige Anhänger des Herzogs kamen jetzt ebenfalls angerannt. Airar blies noch einmal das Signal. Die meisten von ihnen waren so erschöpft und zitterten derartig vor Anstrengung, daß Erb sie kaum dazu kriegen konnte, beim Schiff mit anzupacken. Doch da! Es bewegte sich! Ein letztes ›Hau-ruck!‹, und das Schiff war frei. »Los, nichts wie weg!« schrie einer, aber Airar schlug ihn mit dem Knauf seines Dolches nieder und schrie: »Niemals wird Dalarna seine Freunde im Stich lassen!« Er setzte erneut die Trompete an die Lippen und blies verzweifelt und aus Leibeskräften. Noch immer im ungewissen darüber, ob alle seine Männer da waren, stand er knöcheltief im Wasser, das Schwert erhoben, bereit, so-
fort zuzustoßen, sollte ein Feind auftauchen. Aber nur wenige wagten, sie noch weiter zu verfolgen, nachdem sie die Speere von Vagai zu schmecken bekommen hatten und das ganze Lager jetzt ein einziges Flammenmeer war. »Kommt!« rief Erb, eine Hand zog Airar über den Rand der Galeere auf Deck; unsanft stieß er mit dem Bauch gegen die Reling. Jeder übernahm ein Ruder, sogar Mikalegon, der wie immer dröhnend lachte und in gewohnter Manier seine derben Witze riß. Weit und breit war kein Verfolger zu sehen, als sie aus dem Fjord hinausruderten. Beim Zurückblicken sahen sie, daß sich inzwischen alle Brandherde zu einem einzigen Inferno vereint hatten. Mikalegon hielt einen Moment mit dem Rudern inne und stützte sich mit den Armen auf den Riemen: »Junger Herr, was Ihr heute vollbracht habt, ist ein Streich, der wahrlich seinesgleichen sucht; Alsanders Einnahme von Poliolis war im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Davon könnt Ihr noch Euren Enkelkindern mit Stolz erzählen. Und genau zum richtigen Zeitpunkt habt Ihr das Signal zum Rückzug geblasen! Ich selbst hatte derweil nichts anderes im Sinn, als so viele Schädel wie nur möglich zu spalten; und im stillen fand ich mich schon damit ab, gemeinsam mit diesen Rattenfressern in den Flammen umzukommen. O ja, das war eine Waffentat! Kriege gewinnt man mit Köpfchen, und ich muß gestehen: Ich habe in Euch einen gefunden, der mir über ist. Laßt mich fürderhin Euer Untertan sein!« »Rudert schneller!« schrie der lange Erb, und als sie in die offene See stießen, brauten sich schon dichte Wolken über ihnen zusammen, die baldigen Regen verhießen.
31 Os Erigu: Leb wohl Sprach der Zauberer Meliboë: »Ihr müßt eines lernen, junger Herr, nämlich dies: Es gibt nur eine Tat, die Freude bereitet, und zwar jene, die zur eigenen Freude geschieht. Legt Ihr Wert darauf, von anderen Worte des Lobs zu hören? Dann holt den betrunkenen Barden und gebt ihm einen Aura. Ich persönlich glaube, es wäre wertvoller für Eure Persönlichkeit, Ihr hättet eine Niederlage erlitten, aus der Ihr gerade noch entkommen, die Ihr aber dennoch mit Fassung tragen konntet.« »Erst sagte sie, ihr Leben hinge davon ab – und jetzt verliert sie kein Wort darüber.« »Dankbarkeit ist eine Tugend, die einen guten Hund auszeichnet. Mit Evadne von Carrhoene wäret Ihr besser gefahren; sie verlangt weder Dankbarkeit, noch gibt sie welche – nur starke Impulse, die Euch beständig in Flammen halten. Ihr gehört zu denen, die ohne solche Impulse leicht Fett ansetzen.« Airar lachte laut auf. »Habt Ihr das Orakel befragt? Damals kamt Ihr jedenfalls zu einem ganz anderen Ergebnis: Ich sollte vorwärtsdrängen und Visto sollte heiraten. Jetzt sehe ich mich schon Wurzeln schlagen, mit grünen Haaren.« Meliboës rote Lippen schimmerten durch seinen Bart, als er lächelte. »Es ist schlimm, daß ohne Orakel keiner das Unvermeidliche glauben will, bis es geschehen ist. Aber spottet nur, freut Euch und seid glücklich; da Ihr ja keinen guten Rat benötigt und auf Euer Schicksal warten müßt, nun, dann laßt auch das
Schicksal sein Spielchen treiben.« Er erhob sich. »Und da nun, wie Ihr sagt, Eure Zeit um ist, geht zur Brustwehr und seht, was Meister Pleiander mit seinem Gerät vollführt. Er ist ein bemerkenswerter Hauptmann, ein wacher Kopf und zum Glück nicht eifersüchtig auf Euren Streich im Fjord – und deshalb dürfen wir Wunder erwarten.« Draußen fielen die ersten frühen Schneeflocken vom blaubewölkten Himmel und schmolzen sofort, da, wo sie auftrafen. Airar zog sein Panzerhemd über und lief geduckt über Berge zersplitterten Steins an der Brustwehr entlang. Die Vulkinger schleuderten jetzt ihre Geschosse von beiden Türmen, und die Mauern von Os Erigu hatten mittlerweile stark gelitten. Plötzlich hatte wohl einer der Vulkinger Airars Helm aufblitzen sehen; ein stählerner Pfeil schoß an ihm vorbei und prallte gegen die Mauer. Aber auf der großen Fläche der oberen Plattform trotzten noch immer Pleianders schwere Schutzwehren, wenn auch mittlerweile böse zugerichtet. Dahinter ragte das riesige Bein des Trebuchets durch sein Gerüst hindurch wie der Schwengel eines jener Pumpbrunnen, wie sie häufig in Hestinga zu finden waren. Airar hatte noch nie eine solche Maschine gesehen, und er wußte, daß es nicht leicht war, sie richtig zu konstruieren. Sie schien einsatzbereit zu sein; die Seile spannten sich schon straff. Als er kam, waren die Männer gerade damit beschäftigt, den gewaltigen Schleuderkorb mit Steinbrocken zu füllen. Pleiander drehte sich um, als plötzlich eine Schutzwehr unter dem heftigen Aufprall eines steinernen Geschosses erbebte. »Seid Ihr gekommen, um zu sehen, wie man Krieg
führt, junger Meister?« fragte der Carrhoener fröhlich und tätschelte einen Stützbalken der Maschine wie den Arm einer Geliebten. »Dieses nette Spielzeug ist unberechenbar und kitzlig wie eine Frau; aber wenn es einmal richtig funktioniert, dann bleibt kein Stein mehr auf dem anderen.« »Na, dann viel Glück«, sagte Airar. »Danke – das brauchen wir auch dringend.« Pleiander wackelte mit dem Kopf wie ein Drehwürfel; seine Fröhlichkeit war plötzlich wie weggeblasen. »Dies hier ist der wahre Schlüssel zum Öffnen der feindlichen Blockade, Meister Airar – ohne den großen Erfolg, der Eurem kühnen Streich auf dem Wasser gebührt, schmälern zu wollen. Niemals zuvor habe ich Männer gesehen, die angesichts derart vieler Rückschläge so unbeirrt weiterschufteten wie diese Vulkinger; sie sind wahre Dämonen; und noch vor Beginn des nächsten Monats werden sie mit Rammböcken vor den Toren stehen – dann gute Nacht, Burg von Os Erigu.« »Gibt es denn nichts, womit man diese Sturmböcke aufhalten kann? Ich hätte gedacht...« »Es gibt ein Dutzend Gegenmittel, wenn man nur genügend Männer zur Verfügung hat. Aber mit unserer Handvoll Leuten stehen wir gegen zwei volle Tercias, die dazu noch von unseren Permandenern verstärkt sind, auf verlorenem Posten.« Ein carrhoenischer Sergeant zupfte seinem Hauptmann am Ärmel. »Wir sind soweit, Herr.« Pleiander wandte sich um und hob den Arm. »Dann kappt das Seil, in Gottes Namen!« schrie er. Eine Axt fuhr herab, das gewaltige Gegengewicht fiel erst ganz langsam, dann mit atemberaubender
Schnelligkeit herab, Arm und Schleuder schnellten hoch, dann schlug der Arm mit solch fürchterlicher Wucht gegen den Anschlagblock, daß die Burg in ihren Grundfesten zu erbeben schien. Airar rannte hinter Pleiander her, um einen Blick durch einen Spalt in der Schutzwehr zu werfen. Der Schleuderkorb segelte, einen Teil seines Inhalts verstreuend, in einem weiten, halbkreisförmigen Bogen an dem nördlicheren der beiden Türme vorbei und zerplatzte weit unten zwischen den Felsen. Ein völliger Fehlschluß, Airar wandte sich Pleiander zu, aber er konnte sich tröstende Worte sparen, denn der Carrhoener hüpfte vor Freude hin und her und schrie mit drohend erhobener Faust: »Ha! Diese stinkende Froschbrut aus Lacia – ich werde ihnen den dreckigen Hintern wegschießen!« »Ging der Schuß nicht ein ganzes Stück zu weit nach links?« »Pah! Nichts weiter als eine kleine Korrektur. Diades! Die Wurfachse einen Fuß nach rechts; ich denke, daß wir das noch vor dem Morgengrauen in Ordnung bringen! Das wichtigste Problem ist, die richtige Hebellänge des großen Wurfbalkens zu treffen, damit er die genaue Reichweite hat – schaut einmal her! Wie Ihr seht, ist es nicht möglich, ihn zu verlängern, ohne den verflixten Apparat noch einmal völlig neu zu konstruieren; aber woher die Zeit dazu nehmen? Doch jetzt können wir aufatmen: Das Ding hat die ideale Reichweite! Wir haben gewonnen! Nicht mehr lange, und der Belagerungsring ist gesprengt.« »Einzig und allein mit dieser Maschine? Das kann ich mir kaum vorstellen! Wie soll das gehen?« Der Feind drüben schien ganz der Meinung des
Carrhoeners zu sein. Der Wind trug erschreckte Rufe herüber; die Vulkinger schienen ihre Anstrengungen zu verdoppeln; verstärkt prallten jetzt ihre steinernen Kugeln gegen das Mauerwerk und die Schutzwehr. Ein Ausdruck höchster Verschlagenheit trat auf Pleianders Gesicht, als er einen Zeigefinger neben die Nase legte und antwortete: »Nein, nein, Meister Scharfauge; es ist nun schon zu oft passiert, daß etwas gesagt wurde und die Vulkinger kurz darauf genau Bescheid wußten; ich würde es nicht einmal meinem eigenen Bettgenossen verraten; warum dann Euch?« Airar hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter und machte sich auf, Poë zu suchen und ihn danach zu fragen. Der Mann von Os Erigu sagte, auf dieses Problem angesprochen, er sei ein freier Genosse und kein Spezialist in Fragen des Belagerungskrieges, aber er sehe keinen Grund, daraus ein solch großes Geheimnis zu machen. Der Trebuchet sei von allen Kriegsmaschinen die verheerendste; man könne damit Berge zerschmettern... »Soviel hat mir Pleiander auch schon verraten«, versetzte Airar ein wenig mürrisch. »Nun, ihre Türme sind aus Holz; sie sind nicht dazu konstruiert, solche Schläge zu verkraften, wie Pleiander sie ihnen mit seinem Kieselschmeißer versetzen kann. Der haut ihnen glatt mit einem Volltreffer den ersten Turm in Stücke, selbst durch die Häute hindurch, mit denen er behangen ist. Der nächste Schuß trifft dann mit Feuer, und selbst wenn er einoder zweimal danebengeht – irgendwann trifft er, und dann rösten wir sie wie Hühner auf dem Brat-
spieß. Ha! Heute abend wird das Bier in der Halle in Strömen fließen.« Airar wollte schon fragen, aus welchem Grund, denn noch hatten sie den Sieg ja nicht errungen. Auch war er nicht überzeugt, daß die harten Burschen aus Briella alles liegen und stehen lassen würden, selbst, wenn ihre Türme ein zweitesmal verbrannten. Aber da er kein Spielverderber sein wollte, schwieg er – und er schwieg ebenfalls, als sich Poës Vermutung in einem wüsten Gelage bestätigte, ausgelassener und lauter noch als jenes Fest, welches nach seinem Triumph im Bärenfjord stattgefunden hatte vielleicht deshalb, weil sie damals müde, erschöpft und verwundet von einer schlaflosen Nacht zurückgekehrt waren, vielleicht aber auch, weil die Carrhoener es für notwendig hielten, sich ihm, Airar, gegenüber hervorzutun und ihm zu zeigen, daß sie zumindest ebenbürtig waren. Was da in der Versammlungshalle aufgetischt wurde, war so ziemlich der letzte Vorrat an Getränken, den sie noch besaßen. Zwar war es ihnen gelungen, die Seeblockade durch den Streich im Bärenfjord in Stücke zu brechen. Aber solange der Belagerungsdruck vom Land her nicht nachließ, hatte man es nicht für ratsam gehalten, die Reihen der Verteidiger noch mehr zu schwächen, indem man Leute auf Proviantfahrt schickte. Airar fiel auf, daß der Herzog einen neuen Mundschenk hatte, einen hübschen, recht aufgeweckt wirkenden Burschen. Selbst Alsander, der ansonsten recht kühles Blut zu bewahren pflegte, war an diesem Abend ausgelassener Stimmung. Als der Braten aufgeschnitten und serviert wurde, die Becher gefüllt waren und die Tanzmädchen zwischen den Tischen herumwirbelten,
rief der Carrhoener eines der jungen Dinger zu sich und begann, ihr kaiserliche Goldaurar zwischen die Brüste zu stopfen, eine Tortur, die es unter Kichern ertrug. Die Gespräche wurden lauter und loser, und Airar von Trangsted wußte kaum noch, wohin er blicken sollte, als plötzlich das Gespräch auf das letzte große Gelage kam, jenes Fest, auf dem sie die Becher erhoben und ihre Schwüre abgelegt hatten. »Habt Ihr das Flittchen aus Stassia endlich aufs Kreuz gelegt?« brüllte einer durch den Saal. »Und sagt: Ist sie genauso scharf wie ihre Mutter?« schrie Mikalegon hinterher. »In meiner Jugend, als die Alte noch die Tochter des Ritters von Bremmery war, galt kein junger Bursche von hoher Herkunft als Mann, dem es nicht gelungen war, ihre Schenkel auseinanderzubiegen. Damals kam auch ich zum Landhaus der Bremmeries auf den Gentebbi-Inseln, um meine Manneskraft unter Beweis zu stellen, aber der Kaiser – damals noch Prinz Auraris – war mir schon zuvorgekommen. Es muß ihm verteufelt viel Spaß gemacht haben, da er sie mir nichts, dir nichts an der Quelle heiratete.« Empört sprang Airar auf und hätte dem Herzog seinen Becher an den Kopf geschleudert, wäre nicht jemand zur Tür hereingestürzt und in den Schrei ausgebrochen: »Herr, Herr, die Burg brennt!« Nicht einer, der sitzen geblieben wäre. Alles rannte zur Tür; Alsander stieß dabei seine Tänzerin so heftig von sich, daß sie zu Boden sank. Und in der Tat: Der schwarze Turm stand in hellen Flammen; aus jedem seiner Fenster züngelten Flammen; das Dach war schon eingestürzt, und auch die Hütten entlang der
südlichen Mauer, die die freien Genossen beherbergten, hatten Feuer gefangen. Ihre Dächer brannten lichterloh, angefacht von einer starken Brise, die von See her wehte. »Reißt die Hütten nieder! Holt Wasser! Das Trompetensignal!« brüllte Mikalegon mit sich überschlagender Stimme, während er losrannte, das Gesicht zu einer schrecklichen Fratze verzerrt. Alle Männer, die Hauptmänner eingeschlossen, setzten sich auf sein Kommando in Bewegung, um zu retten, was zu retten war. Airar spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte; es war weniger ein Gedanke als ein Gefühl, das ihm sagte: Dieses Feuer war nicht mehr zu löschen. Evimenes stieß einen Schrei aus und zeigte mit dem Finger auf etwas; als die Männer sich umdrehten und in die Richtung spähten, in die sein ausgestreckter Arm wies, konnten sie erkennen, daß sich bereits zwei oder drei Brandherde auf dem Dach der Versammlungshalle festgesetzt hatten. Pleiander quollen fast die Augen aus den Höhlen. Nur Alsander schien seinen kühlen Kopf zu bewahren: »Wir schaffen es nicht!« schrie er. »Sie greifen uns an, während wir mit dem Löschen beschäftigt sind. Brüder, trommelt unsere Leute zusammen, und dann nichts wie zu den Schiffen! Carrhoene, hierher!« Unter anderen Umständen hätte Airar sicherlich überlegt, wie man die Flucht doch noch hätte verhindern können. Doch nun schlug ihm das Herz wie wild in der Brust, und die Haare standen ihm schier zu Berge, als ihm schlagartig zu Bewußtsein kam, daß zwischen den brennenden Hütten und dem in hellen Flammen stehenden Dach der Versammlungshalle jenes Haus stand, in dem Argyra wohnte. Wo steckte
Erb? Weit und breit war nichts von ihm zu sehen. Er sah Gynnbrad und ein paar andere und schrie ihnen zu: »Alsander hat recht! Trommelt alle unsere Leute zusammen und bringt sie zum Kai!« Dann hetzte er quer über den Hof, zu Argyras Haus. Die Fenster waren dunkel; er nahm Anlauf und stieß mit der Schulter die Tür ein. Sie war nicht verschlossen, und sein Schwung trug ihn taumelnd in den Vorderraum. Er schlug der Länge nach hin, rappelte sich geschwind wieder auf und brach durch die Innentür: »Aus den Betten und raus!« Er hätte sich die Mühe sparen können. Alle waren auf und standen zu einem seltsamen Gruppenbild versammelt, das er im flackernden Licht der Kerze zunächst nur mit Mühe auflösen konnte: Die Dienerin saß ängstlich zusammengekauert auf dem Fußboden; daneben stand Argyra, einen Mantel hastig um den nackten Körper geworfen, so daß eine ihrer entzükkenden Schultern nackt hervorschaute, den Kopf in den Armen ihrer Schwester verborgen. Aurea starrte mit versteinertem Gesicht auf die gegenüberliegende Wand. Dort stand Evadne von Carrhoene. Ihre Lippen waren zusammengepreßt. Mit den Händen stützte sie sich gegen die Wand. An ihrem blauen Kleid klebte Blut. Vor ihr stand der lange Erb und hielt ihr die Spitze eines Dolches an die bebende Brust. Er wandte sich, ohne die Klinge zurückzuziehen, zu Airar um. »Da haben wir einen geeigneten Richter«, rief er heiser. »Meister Airar, diese Frau hat soeben versucht, die kleine Prinzessin des Reiches, Argyra, zu töten. Soll ich zustechen? Ich hätte es schon längst getan, aber ich fürchte mich, verhext zu werden.«
»Stoß zu!« rief Aurea wütend. Evadnes Mund zuckte. »Ja, stoß nur zu!« stieß sie hart und knapp hervor. »Ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Stoß zu, verfluchter Hundesohn!« »Nein...« Es war Argyras Stimme; sie rang schwer nach Atem und befreite ihr Gesicht aus den Armen der Schwester. »Mir ist nichts geschehen; es gibt also keinen Grund zur Rache.« »Was ist hier eigentlich los?« schrie Airar. »Evadne, hattet Ihr wirklich vor, die Prinzessin kaltblütig zu ermorden?« »Pah! Viele würden es anders ausdrücken: daß ich Menschenleben retten wollte, indem ich einen Verräter beseitigte Dieses Pack hier steht in Verbindung mit den Vulkingern... sie sind es, die die Burg in Brand steckten. Gut, ich habe versagt. Stoßt zu und setzt dem Leben einer Frau ein Ende, die nicht mehr tun wollte, als Euch zu dienen.« Argyra zog die Augenbrauen hoch, und auf ihre Züge trat ein Ausdruck konzentrierter Spannung. »Ich glaube es nicht«, sagte sie klar und laut. »Ich glaube nicht, daß das der Grund sein soll, warum Ihr mich töten wolltet. Als Ihr hereinkamt, lagen wir im Bett und schliefen fest. Ihr müßt in dem Moment genau gewußt haben, daß weder meine Schwester noch ich das Feuer gelegt hatten. Wir wären doch nicht so dumm, ein Feuer zu legen und uns freiwillig darin rösten zu lassen! Nun sagt mir rundheraus warum Ihr mir nach dem Leben trachtet! Wenn nicht, werde auch ich mit den anderen stimmen, die sagen: ›Tötet sie!‹ und ich bin sicher, daß auch mein Freund Airar auf mich hören wird.« Sie streckte den Arm aus und drückte seine Hand
so fest, daß ihm ein heißer Schauer über den Rücken lief. Im selben Moment blies ein heißer Windhauch eine Wolke beißenden Qualms durch die geöffneten Türen, der sie alle husten ließ und daran erinnerte in welcher Lebensgefahr sie schwebten. Evadne von Carrhoene jedoch schien den Rauch nicht zu bemerken. Sie löste ihre Hände von der Wand, schlug sie sekundenlang vor ihr verzerrtes Gesicht und ließ sie wieder sinken: »Weil ich ihn liebe... meinen Frosch... Ich würde Euch und tausend anderen die Kehle durchschneiden, um ihn vor Euch zu bewahren... Ich wäre bereit, ihn mit Euch zu teilen – aber nein doch! Du Kaminkätzchen aus Stassia gehörst zu denen, die es nicht ertragen könnten, wenn ihr Mann noch eine Geliebte besitzt. Du hast keine Vorstellung davon, was Liebe ist, du weißt nicht, wie man empfindet, wenn einen wilde Leidenschaft schüttelt, du bist mit einem Streicheln zufriedenzustellen! Ja, schnurr nur und lach! Du hast gewonnen, ich habe verloren. Stoß zu, Hauptmann Urd, Erb, oder wie immer du heißt. Mach meinem Leben ein Ende.« Und dann sank ihre Stimme zu einem Flüstern herab, so leise, daß Airar sie kaum verstehen konnte: »Ich verfluche dich, Airar, all meine Liebe und all mein Haß! Auf lange Sicht hast du recht: Geh zu deiner Hauskatze; heirate sie schön brav, mit allem priesterlichen Segen und was sonst noch dazugehört! Ich könnte es ohnehin nicht ertragen. Ich würde dich so lieben, wie ich bin; frei und wild, mit keinen anderen Banden als denen, die ich mir selbst auferlege – und das sind die Bande, die wirklich halten, war ich doch einzig und allein dir treu, auch wenn du es nicht glauben magst. Nein, es
stimmt; du hast recht, und wir haben unrecht; wir Carrhoener sind zu ungestüm, wir kennen nur die Gesetze, die wir selbst machen, aber die Liebe... der gefällt es nun einmal, nach den Gesetzen anderer zu leben. Nun ist ohnehin alles verloren. Ah, nun stoß schon zu!« Ihr Körper beugte sich der Dolchspitze zu. Doch da gebot ihr Argyra Einhalt: »Ihr müßt zur Quelle des Einhorns pilgern! Sie heilt Euch von jeder Pein und gibt Euch Frieden.« Erb senkte seinen Dolch, warf einen Blick nach oben und rief sorgenvoll: »Meister Airar, seht doch, der Qualm wird immer dichter, das Dach stürzt gleich ein! Wir müssen fort von hier!« Zwei dicke Tränen quollen ihm aus den Augen, und andere hatten schon ihre nasse Spur auf seinen hageren, runzligen Wangen hinterlassen. Airar erwachte bei diesen Worten wie aus einem Traum. »Steck deine Klinge ein«, rief er und, an Argyra gewandt: »Komm!« Er faßte sie beim Arm und zog sie zur Tür. »Was wird aus meinen Kleidern?« rief Prinzessin Aurea. »Entweder Ihr kommt mit, oder Ihr verbrennt zusammen mit ihnen«, fuhr Airar sie an. Erb packte sich die Carrhoenerin, trug sie fast zur Tür, und dann standen sie im Freien. Die Hitze raubte ihnen fast den Atem. Um sie toste das Feuer wie entfesselt. Das Dach der Versammlungshalle loderte so hell wie Sthenophons Schiffe, als sie im Bärenfjord verbrannten. Schon leckten die Flammen wie gierige Zungen aus den untersten Schießscharten des großen Hauptturmes. Argyra strauchelte, Airar hob sie auf und half ihr über ein Hindernis. Sie stolperten vor-
wärts, und bald waren sie auf der Kaimauer. Die beiden großen Segelschiffe hatten schon abgelegt, und auf der großen permandenischen Galeere liefen die Männer wild durcheinander und versuchten, das Schiff vom Land abzustoßen. »Miau!« brüllte Airar aus Leibeskräften, und der Katzenschrei hallte laut genug, daß die freien Fischer ihn hörten und das Schiff wieder längs der Kaimauer brachten. Airar hob das Mädchen behutsam hilfsbereit ausgestreckten Armen entgegen. »Wo ist Mikalegon? Wo ist der Herzog?« »Hier an Bord nicht!« – »Er ist auf dem Segler Dragg.« – »Ich sah, wie er...« »Ho!« kam eine Stimme von dem Segelschiff herüber. »Habt ihr den Herzog an Bord?« – »Nein, er muß bei euch sein!« kam die zögernde Antwort. »Wartet hier!« rief Airar und rannte los. »Halt, Meister Airar, nicht! Bleibt hier...«, brüllte Nene von Busk ihm vom Deck der Galeere hinterher, aber unser Held aus Trangsted stürmte schon den Kai hinauf und hörte nichts mehr. Er vernahm auch nicht das Trommeln der Stiefel auf dem Pflaster hinter sich, als zwei Männer kurzentschlossen von Bord der Galeere sprangen und ihm nachrannten. Vor ihm flimmerten die Umrisse der Burg hinter einem Wall aus Hitze und brodelnder Waberlohe. Ausgebrannte Asche trieb an ihm vorüber; der beißende Rauch nahm ihm fast den Atem. Sein Ziel war der Winkel, wo die Versammlungshalle fast an den Hauptturm stieß. Er wußte, daß der Herzog dort ein kleines Kabinett hatte, in dem er schlief, wenn er nicht im Schwarzen Turm übernachtete. Er hatte richtig vermutet. Sich unterwegs eine Brandflocke
von der Schulter klopfend, rannte er auf den Ort zu, und eine der verschwommen flimmernden Gestalten entpuppte sich als die des Herzogs. Er hielt seine Streitaxt mit beiden Händen; seine mächtigen Schultern hoben sich, als er die Schneide mit lautem Krachen in das splitternde Holz des Türpfostens hieb. Als er sich umwandte, sah Airar in ein Gesicht, aus dem jeglicher Verstand gewichen zu sein schien. »Gut!« rief der Herzog. »Wenigstens einer, der mich nicht im Stich läßt. Nehmt Euch eine Axt! Wenn wir diesen Pfosten hier kleinkriegen, dann greift das Feuer nicht auf den Bergfried über. Los, beeilt Euch, in drei Teufels Namen!« »Herr und Freund«, erwiderte Airar, »kommt – es ist zu spät.« Statt zu antworten verzog der Mann das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, und mit dem nächsten Hieb hätte er Airar niedergestreckt, wäre der junge Mann nicht geschickt zur Seite gewichen. Sogleich wirbelte der Herzog wieder herum, um dem schon nachgebenden Türpfosten einen weiteren Hieb zu versetzen. Ohne Erfolg, Airar riß den Dolch von Naaros aus der Scheide, faßte ihn blitzschnell bei der Klinge und schlug hart und trocken zu. Der Knauf traf den Herzog direkt hinter dem linken Ohr, als er sich noch nicht wieder von seinem Axthieb aufgerichtet hatte. Der dicke Mann sackte bewußtlos nieder; als Airar versuchte, ihn aufzufangen, wurde er selbst zu Boden gerissen. Der feiste Körper des Herzogs hing schwer wie die Hälfte eines geschlachteten Mastochsen auf ihm. In diesem Moment hörte er eine Stimme rufen: »Junger Meister, Ihr nehmt ihn bei den Füßen, und wir fassen ihn beim Kopf.« Und siehe da!
Vor ihm standen Poë, der Dummkopf und Tholkeil aus Mariola, die ihm beide nachgerannt waren. Es gab also doch noch Dankbarkeit und Treue auf der Welt! Taumelnd und halb ohnmächtig vor Qualm und Hitze bahnten sie sich, den Herzog zwischen sich schleppend, den Weg durch die Waberlohe zurück zu Kai, wo sie mitsamt ihrer schweren Last hurtig von einem Dutzend Armen auf Deck gezerrt wurden. Der lange Erb stand am Steuerruder; seinen Helm hatte er abgesetzt und brüllte wild gestikulierend: »Alle Mann an die Ruder! Schneller, schneller!«, während Airar sich schon einen Weg durch das Gewühl zur Vorschiffskabine bahnte, wo er Argyra vermutete. Vor der Tür hatten sie den Herzog von Os Erigu kurzerhand auf den Boden gelegt; sein Kopf rollte im Rhythmus des schwankenden Schiffes hin und her, und seine Augen starrten leer in den Himmel. Plötzlich sprang einer der Männer wie vom Blitz getroffen von seiner Ruderbank auf, kletterte über seinen Nebenmann hinweg – der darob heftig zu fluchen begann –, warf sich vor dem bewußtlosen Herzog auf die Knie und begann, unter Tränen seine Füße zu küssen. Es war der Mundschenk mit der mädchenhaften Figur. »O mein Herr, mein geliebter Herr«, schluchzte er, »vergebt mir! Oh, vergebt mir! Ich wollte doch nicht alles zerstören – nur den Schwarzen Turm, wohin Ihr immer diesen anderen Kerl mitnahmt. Ich konnte seinen Anblick nicht länger ertragen! Ich wollte nicht, daß...« Poë, der, ebenfalls über seinen bewußtlosen Herzog gebeugt, dicht neben dem Burschen stand, gab einen
erstickten Wutschrei von sich und schickte den Jüngling mit einem fürchterlichen Fausthieb auf die Planken. Dann richtete er sich auf, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Burg, in der es nun kein Fenster mehr gab, aus dem nicht lichterloh die Flammen schlugen, und flüsterte mit verzerrter Miene: »Es ist verdammt hart zu glauben, daß all dies und das Erbe der freien Bünde nach Generationen untergehen soll, nur wegen eines elenden kleinen Verräters.« Es war die Stimme von Meliboë dem Zauberer, die antwortete: »Es gibt immer einen elenden kleinen Verräter. Und nur jenes Erbe kann auf Dauer überleben, welches stark genug ist, die Erschütterungen zu überwinden, die ihm ein solcher antun kann.« »He! Ihr da vorn, nehmt Euch ein Ruder und packt mit an!« dröhnte Erbs Stimme. So ruderten sie denn in das Dunkel hinaus, auf die brodelnde sturmgepeitschte See. Eisige Sturzbäche schossen durch die Ruderritzen oder ergossen sich über die Reling auf das Deck und durchnäßten die Männer auf den Ruderbänken bis auf die Haut. Und langsam begannen sich alle darüber zu wundern, warum die Vulkinger sie nicht angegriffen hatten, als die Burg brannte und die Gelegenheit so günstig gewesen war...
32 Hrakamündung: Große Neuigkeiten Daß Sthenophon gut daran getan hatte, seine Schiffe nicht den Stürmen des Herbstes auszusetzen, war sehr bald allen klar; die Rudergaleere lief schnell voll Wasser, und gegen Mittag stand das Wasser bereits fußhoch im Innern. Es wurde so gefährlich, daß Erb das Heck vor den Wind drehen mußte, und so liefen sie denn, gefährlich schräg im Wasser hängend auf die Küste von Norby zu. Der Wind blies nach wie vor steif aus nordwestlicher Richtung, so daß sie ein paar Segel setzen konnten, was den Männern an den Rudern eine Ruhepause verschaffte. Die Carrhoener, an solcherlei Schiffe gewöhnt, wären vielleicht besser mit der Galeere zurechtgekommen. Doch von den hundertsieben Mann, die sich an Bord befanden, gab es bloß einen Carrhoener, und der war bloß der Knappe eines Sergeanten. Die übrige Besatzung bestand aus Dalekarliern aus Airars Gefolgschaft oder freien Genossen, dazu acht Frauen – eingeschlossen Evadne die Schildträgerin, der Sternenhauptmann. Sie sah überaus mürrisch aus im Lichte der Morgensonne, um ihren Mund zogen sich ein paar scharfe Linien, die vorher noch nicht dagewesen waren. Aber Airar war erstaunt darüber, wie keck sie sich gebärdete, und er wunderte sich über die Fröhlichkeit, mit der sie ihren Brüdern einen Gruß über das Wasser zurief, als diese sich näherten und sich ängstlich nach ihrem Verbleib erkundigten. Sein eigenes Herz lechzte nach einer Unterredung mit Argyra. Als er sie jedoch aufsuchen wollte, schlief sie gerade, und
er traute sich nicht, sie zu wecken, und als er es ein zweitesmal versuchte, lief er Aurea in die Arme, der goldenen Prinzessin, die sofort ein lebhaftes Geplauder mit ihm begann: Ob er, in seiner Eigenschaft als Führer, nicht eine harte Bestrafung des unbesonnenen Jünglings verlangen würde, der die Burg angesteckt hatte? Ob es ihn nicht ein wenig seltsam anmute, daß ein so kühnes Weib wie die Carrhoenerin erst dann von Liebe rede, wenn man ihr schon die Klinge ans Herz setze? Ob er glaube, daß sie es ernst gemeint habe, oder ob sie es vielleicht nur als spontane Ausrede gebraucht habe, um irgend etwas zu verbergen? Mit diesen und anderen Fragen, ähnlich langweilig und unwichtig wie die genannten, traktierte sie ihn, so daß sich ihm keine Gelegenheit bot, ein paar Worte mit seiner Liebsten zu wechseln, bis er schließlich in einer Aufwallung von Verzweiflung rief: »Aber Carrhoene ist ein Teil des Kaiserreiches!«... und sich davonmachte, um Mikalegon zu suchen. Sollte sie sich ruhig eine Weile den Kopf darüber zerbrechen, was er mit seinem Ausspruch gemeint hatte. Der Herzog saß auf einer Winde an der Reling, die Finger im Bart vergraben, und starrte dumpf grübelnd vor sich hin. »Was«, versuchte Airar ihn aufzumuntern, »Ihr wollt doch nicht etwa verzweifeln? Ich selbst habe auch das Erbe meiner Väter verloren, genau wie alle Carrhoener, trotzdem ist noch keiner von uns an gebrochenem Herzen gestorben... oder, um es mit Doktor Meliboës Worten zu sagen: Herzen brechen nicht.« Der große Mann grunzte nur, ohne den Kopf zu bewegen; aber als er sah, daß er Airar damit nicht verscheuchen konnte, sagte er langsam: »Ja, ich habe
die Geschichte schon gehört. Aber was Ihr verloren habt, war nichts weiter als eine armselige kleine Klitsche in Västmanstad, ein Hof, wie es ihn zu Hunderten gibt, wohingegen dort oben, auf Erigus Kap, das Licht und das Leuchtfeuer einer trotzigen, freien Welt erloschen... und das allein, weil ich nicht Manns genug war, es am Brennen zu halten. Wo ist nun der Zufluchtsort für die Männer, die frei sein wollen vom trägen, schläfrigen Kaiserreich oder von den Zwölf Städten, die nicht zulassen, daß ein Mann über die Kante des Bettes seiner Mutter hinausblickt, oder von der Herrschaft der Vulkinger, bei denen sogar die Herren noch Sklaven sind? O ja, ich hatte sogar ein paar aus Dzik unter meinen fröhlichen Kumpanen, prächtige Kerle, die es nicht ertragen konnten, daß es einem Manne verboten sein sollte, an einem Dienstag Hammelfleisch zu essen... Nun sind sie alle fort – tot, ertrunken, das Erbe untergegangen und verloren!« »Seid Ihr davon wirklich überzeugt?« fragte Airar ernsthaft. »Lieber Herr, gewiß weiß Doktor Meliboë in solchen Dingen bessere Argumente als ich, und sicher weiß er sich auch klüger auszudrücken als ich, aber eines würde er Euch jetzt mit Bestimmtheit sagen, auch wenn das bedeuten wurde, sich die Argumentation der Carrhoener zu eigen zu machen: daß Euer Erbe und auch das meine nicht in Klaftern oder Morgen zu erfassen sind, sondern in der Geburt und im Wesen, das uns unsere Väter mitgaben. Glaubt Ihr denn wirklich, Ihr könntet Eure freien Kumpane nur von Erigus Kap aus führen und von nirgendwo anders auf der Welt?« »Nein... und auch nicht von der Blauen See aus, auf die alle die Schiffe, die unsere Rettung hätten bedeu-
ten können, geflohen sind... Sie sind verloren, und das Erbe... es gibt keine freien Genossen mehr. Die Menschen werden nur noch aus Furcht vor Bestrafung gemeinsam handeln... Die Brut des stolzen Seeadlers besteht aus Gänsen, und ich bin ein alter Mann. Bitte geht jetzt; es wäre vielleicht besser gewesen, Ihr hättet das letzte Nacht schon getan.« Und so befolgte Airar denn seinen Wunsch und ließ ihn allein, als er sah, wie wenig mit dem Herzog in einer solchen Stimmung anzufangen war; er spürte nur zu deutlich, daß Herzog Mikalegons Schwermut zu einem großen Teil nicht echt war. Es war lediglich ein Spiel mit Worten, das sie da beide miteinander trieben und er hatte kein Verlangen danach, noch einmal zu erleben, wie aus dem Spiel Ernst wurde – wie damals, in jener Nacht im Wald, als der Deserion Luronne starb. Und es gab noch einen weiteren Grund, warum er lieber allein sein wollte, gingen ihm doch selbst eine ganze Reihe von Gedanken durch den Kopf: Wie konnte es kommen, daß eine Macht wie Os Erigu so einfach zu Staub zerfiel? Und als er nun so versonnen dasaß und den Wellen zuschaute, wie sie vom Bug der Galeere abglitten, da schien es ihm, als habe der Zauberer Meliboë nur zu wahr gesprochen: daß jede Welt nämlich ihre eigenen Verräter hervorbrachte, so zum Beispiel den Baron von Deidei beim Herzog von Salmonessa; oder solche Burschen wie Britgalt in Dalekarlien – ja, und auch seinen eigenen Onkel Tholo, der Leonce Fabrizius' Wein trank und sein Brot aß. Sogar diese freien Genossen, die weggelaufen waren und sich damit an sich und an ihrer eigenen Freiheit versündigt hatten, ja, auch sie waren Verräter. Aber wie war es mit den
Vulkingern? Hatten denn nicht auch sie Verräter in ihren Reihen? Nein, sie nicht; ihre gestrenge Herrschaft schien so etwas von vornherein nicht aufkommen zu lassen. Hatten sie also am Ende doch recht? Sein ganzes Inneres sträubte sich gegen diesen Gedanken, und im selben Moment fragte er sich, ob nicht auch er selbst ein Verräter war, ein Verräter an der Liebe, am Andenken Gythons. »Liebe gibt es nur einmal, doch sie dauert für immer«, hatte seine Mutter gesagt, bevor sie starb; und er, er hatte schon zweimal, noch ehe zwei Jahre ins Land gegangen waren, gesagt: »Jetzt und für alle Zeiten.« ... Aber dann kreisten seine Gedanken wieder um sie, und er wußte, daß nichts und niemand auf der Welt ihm teurer war als Argyra. Er würde niemals mehr von ihr lassen, um keinen Preis der Welt! Und kein Mensch, kein Dämon und keine leuchtende Stadt mit noch so hohen Türmen würden ihn davon abbringen. Während ihm diese Gedanken noch durch den Kopf gingen, ließ ihn Erbs lauter Ruf auffahren; die Galeere lief gerade in eine kleine Bucht am Gestade der Provinz Norby ein, wo sie kurz darauf die Segel refften und vor Anker gingen. Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung kamen auch die Segelschiffe und warfen neben ihnen ihre Anker. Steile, kiefernbewachsene Anhöhen säumten den kleinen Fjord. Die Männer begannen, die Galeere mit Eimern und Schalen leerzuschöpfen. Von einem der Segelschiffe rief jemand etwas herüber, wobei er die Hände zu einem Trichter formte: Die carrhoenischen Hauptmänner wollten an Bord kommen, tun ihre Schwester aufzusuchen. Nun regte sich auch Hunger; eine Durchsuchung der Spinde an Bord er-
gab, daß niemand daran gedacht hatte, die Galeere mit Proviant zu versorgen, wohl deshalb nicht, weil sie ein permandenisches Schiff war. Es war also kein Brot vorhanden, sondern lediglich ein paar schwarze Oliven aus dem Süden, dazu etwas Wein aus derselben Region. Daraufhin schickte Airar zwei von den mariolanischen Waldjägern an Land, wo sie nach Eßbarem suchen sollten; die Fischer warfen ein paar Netze aus. Die Hauptleute versammelten sich auf dem Achterdeck. Mikalegon schwieg; er bekräftigte lediglich noch einmal seine Absicht, fortan sich und seine Männer in den Dienst Airars zu stellen, wie er es schon in jener Nacht, als sie die Galeeren in Brand gesteckt hatten, angekündigt hatte. Dadurch hatte der junge Hauptmann aus Trangsted die bei weitem größte Truppe unter seinem Kommando. Er kehrte jedoch, ob dieser Ehre heftig errötend, den Bescheidenen heraus und fragte erst einmal die anderen nach ihren Vorschlägen für das weitere Vorgehen. Pleiander war dafür, erst einmal zu einer der kleinen Städte im Norden zu fahren, am besten Lectis Maxima, jener alten Stadt, die der neuen Stadt Lectis Minima auf der anderen Seite des Flusses direkt gegenüberliegt. »Wir sind fast dreihundert Mann, und mit einem Blitzangriff, vielleicht unterstützt vom Eisernen Ring, der sich in der Stadt befindet, dürften wir die Stadt sehr schnell eingenommen haben. Sind wir erst einmal dort, können wir getrost einer erneuten Belagerung entgegensehen; die Stadt liegt nämlich, wie ich gehört habe, äußerst günstig auf einem Berg und ist sehr stark befestigt. Außerdem bekommen wir Hilfe vom neuen Lectis auf der anderen Seite des Flusses, oder
Eure Dalekarlier sind doch nicht so sehr für die Freiheit, wie sie immer den Anschein zu erwecken versuchen.« Evimenes lachte ihn aus und bemerkte, daß sich Belagerungen für sie eigentlich nicht als so erfolgreich erwiesen hatten, daß sie sich unbedingt schon wieder auf eine einlassen sollten. Meliboë wollte überhaupt keinen Vorschlag machen, was er damit begründete, daß sie nun umherschweifende Abenteurer seien, und statt zu planen, könne man ebensogut würfeln, es käme ohnehin nichts dabei heraus – er aber ziehe es vor, das Orakel zu befragen. »Oh«, rief Alsander, »ich kann mich da noch gut an ein Orakel erinnern, das uns Os Erigu in Flammen zeigte; Ihr machtet es, als wir uns auf dem Wege dorthin befanden. Diese Prophezeiungen treffen immer zu; sie beschwören ihre eigene Erfüllung herauf. Wir dürfen nicht noch mehr verlieren, als wir schon hier in Dalekarlien verloren haben. Mein Vorschlag ist daher, so schnell wie möglich nach Permandos zu fahren, während Sthenophon noch hier oben im kalten Norden festsitzt, um die Partei der Gilden gegen ihn aufzuwiegeln.« Dies schien Airar ein viel zu waghalsiges Unterfangen zu sein, zumal sie bloß zwei Schiffe besaßen, die einer solchen Reise standhielten. Anders jedoch Rogai: Er stimmte dem Vorschlag begeistert zu und fügte noch hinzu, man solle die Fahrt durch Aufenthalte in den Häfen von Skogalang unterbrechen. »Der Eiserne Ring ist dort sehr stark, und die Vulkinger haben all ihre Kräfte nach Norden abgezogen. Außerdem gehört Sir Ludomir Ludomirson zu den Waldmeistern, ist Ratsmitglied des Reiches und des Hauses selbst; ein Mann, der einigen Einfluß hat.«
An dieser Stelle wurde die Versammlung unterbrochen, als einer der mariolanischen Jäger zurückkehrte. Er brachte zwar nichts zu essen mit, dafür aber einen Mann aus Norby, den er weiter oben im Fjord entdeckt hatte, wo er gerade fischte. Der Bursche war nicht gerade der Hellsten einer, hatte dafür aber korrekt auf das Erkennungszeichen »Geme, plange...« geantwortet. Er wußte zu berichten, daß ganz Norby bereit sei, sich gegen die Herrschaft der Vulkinger zu erheben; nicht wenige unter den Vulkingern selbst seien sogar höchst unzufrieden wegen der übertriebenen Grausamkeit und Härte von Marschall Bordvin der die Absicht hege, zur Winterszeit mit einer Tercia in Micton einzufallen und das Land zu erobern, etwas, wovon sie bisher noch nicht gehört hatten. Die Kaufleute der beiden Städte Lectis, die dem Eisernen Ring angehörten, waren der Meinung, man solle sich erst einmal gedulden und den Ausgang der Belagerung von Os Erigu abwarten. Den zahlreichen Requirierungen und Beitreibungen des Herzogs sei man bisher dadurch entgangen, daß man behauptete, nichts zu besitzen. Es kamen nur wenige Schiffe aus Übersee, und alle Kaufleute waren aufs äußerste verbittert. Wenn nun einer erschien und mit einer genügend großen Truppe die Fahne erhob, war es gut möglich, daß die beiden Städte Lectis ihre Tore vor dem roten Dreieck schlossen. Die Versammlung der Hauptmänner schickte den Mann wieder zurück zu seinen Fischfallen und setzte sich auf den Bänken zusammen, um über die neue Lage zu beraten. Rogai stimmte jetzt auch für Pleianders Plan, in Norby zu landen und dort den Krieg auszurufen, sich mit den einzelnen Gruppen aus
Korosh in den Bergen zu vereinigen, während eine der beiden Städte Lectis die Streitkräfte der Vulkinger band. Evimenes hielt dies für eine törichte Idee; ebenso Alsander. Der letztere gab auch, seiner Gewohnheit entsprechend, einen guten Grund dafür an; nämlich den, daß die städtischen Kaufmannsgilden nirgends stark genug für eine Revolte waren und daß besonders die Leute von Lectis einen kalten Hintern bekommen würden, wenn sie erst von Os Erigus Fall Wind bekämen. »Und wo, bitte sehr, ist denn die Truppe, die stark genug wäre, den Kampf aufzunehmen? Unsere dreihundert Mann vielleicht? Lächerlich!« »Aber nach Permandos sollen wir wohl mit diesen dreihundert Mann ziehen, Hakennase! Warum sagst du denn nicht den wahren Grund, warum du wieder dorthin zurückwillst?« erwiderte Pleiander bissig. »Weil du nämlich mit diesen dalekarlischen Weibern keinen Spaß bekommst, ohne dafür zu zahlen.« »Während du lieber hierbleiben würdest, um weiter deine Knabenspielchen – ohne Bezahlung – spielen zu können«, gab Alsander nicht minder bissig zurück, woraufhin die beiden in ein abstoßendes, zotiges Gezanke verfielen, das erste zwischen den carrhoenischen Brüdern überhaupt, dessen Zeuge Airar wurde. Evadne saß währenddessen schweigend dabei und ließ abwechselnd auf beide wütende Blicke los. Airar meinte: »Liebe Freunde und Herren, dies führt uns dahin, wohin der Fuchs den Hund führt, nämlich immer um den Baum herum, ohne ans Ziel zu gelangen! Mir scheint – wenn Ihr Wert auf meine Meinung legt –, daß wir im Augenblick noch zu wenig Schwerter ha-
ben, um überhaupt irgendwo einen Krieg anzufangen. Und ich glaube auch nicht, daß wir zu diesem Zeitpunkt in Lectis Männer für uns gewinnen können, wo diese Überläufer von Kaufmannsgilden sicher wieder ihr Herz für die Vulkinger entdecken werden, sobald sie erfahren, daß Os Erigu gefallen ist...« »Es waren die Gilden von Mariupol, welche die da anwarben!« schrie Rogai empört, wobei er auf die Carrhoener deutete. Aber Airar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: »Ich wollte dich nicht beleidigen; aber du wirst mich jetzt zu Ende reden lassen. Was wir vor allem brauchen, sind Soldaten. Mag sein, daß wir sofort welche in Skogalang gewinnen können, aber was noch viel wichtiger ist: Wir haben Sir Ludomir Ludomirson. Er besitzt großen Einfluß und kann bewirken, daß der Reichsbann, der über uns verhängt ist, wieder aufgehoben wird, und zwar mit Hilfe der Leute, die er in Stassia kennt – dies um so mehr, als wir ja die Kinder des Reiches als Geiseln in unserer Hand haben... Und noch eins: Der Winter steht vor der Tür, und die Vulkinger hängen oben im Norden fest, da sie keine Schiffe haben, während wir uns in aller Ruhe und Behaglichkeit in den Wäldern von Skogalang verstecken können. Aber um dorthin zu gelangen, brauchen wir erst einmal Proviant. Mein Vorschlag: Die Carrhoener nehmen die Galeere, hissen die Fahne Sthenophons, als ob das Schiff noch immer in seinen Händen wäre, fahren damit nach Lectis Minima und bitten als Verbündete Graf Vulks um Proviant.« Sofort wurde eifrig das Für und Wider dieses Plans debattiert, bis schließlich Alsander um Ruhe bat, sich
nachdenklich am Kinn kratzte und erklärte, der Plan sei genial. Nun da Bordvin im Norden sei (fügte Rogai hinzu, seine Meinung ändernd wie ein Fähnchen im Winde), könnten sie vielleicht sogar noch mehr Schiffe gewinnen und auch Männer, zum Beispiel aus Naaros oder von den Gentebbi-Inseln oder von der mariolanischen Küste: »... da sie jetzt wissen, daß Vulk ein Skorpion ist, und sich uns – Bann oder nicht Bann – anschließen werden.« Und da Evadne noch immer schwieg, sah man den Plan als beschlossen an. Während sie sich berieten, hatte es begonnen, dikke, nasse Flocken zu schneien; als sie, während die Besatzungen der Schiffe ausgetauscht wurden, in der Schaluppe zu dem Segelschiff hinüberruderten, wollte Prinzessin Aurea wissen, wohin Airar sie brachte und mit welcher Absicht. »Findet Ihr es höflich oder anständig, uns so zu behandeln, gleichsam wie Hunde oder Tanzmädchen?« fragte sie spitz, und: »Könnt Ihr uns nicht freilassen, und uns als Eure Gesandten zu Graf Vulk schicken? Der Graf ist ein vernünftiger Mann, der sicherlich diese Kämpfe und Streitereien nicht gutheißen kann.« Ein paar der Männer im Boot mußten laut lachen, als sie hörten, wie Vulk, der Unvernünftige, so plötzlich mit genau der gegenteiligen Eigenschaft ausgestattet wurde, aber ihre Stimme klang so beschwörend, ja beinahe so inbrünstig wie ein Zauber, daß Airar es fast unmöglich fand, ihr zu antworten oder gar zu widersprechen. Nach einer langen Pause des Schweigens sagte Argyra: »Schwester, du hast als die Ältere gewisse Befugnisse über mich, und es ist unseres Vaters Wille, daß ich dich auf dieser Reise begleite; aber ich wün-
sche, daß du dir über eines im klaren bist: Eher werde ich wie eine Vagabundin kreuz und quer durch die Welt wandern, als daß ich dir an den Hof des Grafen folge, wo dieser Tyrann Sthenophon einträchtig mit ihm Seite an Seite sitzt. Mag sein, daß ich schon so sehr Thronerbin bin, daß ich mir meinen Zukünftigen unter solchen Gesichtspunkten auswähle; aber im Namen der Quelle! Ich bin noch immer stark genug, um zu sagen, wen ich nicht haben will! Und ehe ich diesen Sthenophon nehme, gehe ich lieber ins Kloster und werde eine Braut Gottes!« »Das wäre tatsächlich das Beste, was du tun könntest«, versetzte Aurea wütend. Doch an dieser Stelle brach das Gespräch ab, da sie soeben an die Dragg anlegten und Airar sich darum kümmern mußte, wer die Schiffswache übernahm und wo die Frauen untergebracht wurden. Erb war der Schiffsmeister; mit mürrischer Miene befahl er gerade einem der Männer, auf den Hauptmast zu klettern und dort Airars Katzenschädelstandarte anzubringen. In den Falten von Herzog Mikalegons Adlerfahne, die träge vom Mast des anderen Seglers herunterhing, blieb der Schnee haften – so schwach war der Wind. Das trübe Wetter und der Mangel an Wind mochten zwar genau das richtige für die Galeere sein, aber die Segelschiffe kamen kaum voran, und als die Nacht anbrach, hatten sie die Bucht noch immer nicht sehr weit hinter sich gelassen. Frierend und hungernd ankerten sie. Airar teilte seine spärliche Olivenration mit den kaiserlichen Schwestern. Argyra hatte sich eine alte Schiffsdecke um die Schultern geschlagen; sie hatte Aurea den einzigen Mantel überlassen, den beide bei sich hatten. Madame Goldlöckchen jam-
merte fortwährend über dieses und jenes: wie sehr ihre makellose, kalte Schönheit doch gegenüber dem Frohsinn ihrer jüngeren Schwester verblaßte, die mit glühenden Wangen erzählte, wie wunderschön es in Scroby gewesen war, wenn es schneite, und die mit keinem Wort Krieg, Politik oder die schreckliche Nacht erwähnte, in der das Schloß in Flammen aufgegangen war. Es war, als hätten die beiden ein stummes Abkommen geschlossen, gewisse Themen zu meiden. Doch auch diese Übereinkunft brach Aurea schließlich, als sie fragte, ob die Carrhoenerin bei ihren Brüdern sei oder sich an Bord dieses Schiffes befinde. Bevor Airar antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich will dich nicht einengen in dieser Sache mit Sthenophon liebstes Schwesterchen. Die Söhne der Quelle lehren uns zwar, alle Völker des Reiches als eine Familie zu betrachten, aber auch ich muß gestehen, daß mich die Leute aus den Zwölf Städten oft schaudern machen. Könnte ich jemals Coralis von Steliae vergessen, die Tochter des Barons, und diesen ekelhaften Kerl aus Phyladea, ihren Gatten, der sie in seiner von Ratten und Mäusen wimmelnden alten Burg so lange gefangenhielt, bis sie schließlich wahnsinnig wurde? Sicher, gewiß trägt auch sie einen nicht geringen Teil der Schuld selbst. Warum mußte sie auch mit diesem schwarzhaarigen Pagen tändeln, der...« Kein Zweifel, dachte Airar, im Augenblick versucht sie, die Großmütige herauszukehren. Er erhob sich, murmelte seinen Gutenachtgruß; Argyra zog ihren Arm unter der Decke hervor und reichte ihm die Hand. Als er auf Deck trat, sah er, daß das Wetter schon wieder umgeschlagen war; es hatte geschneit
und war bitterkalt. Kein Lüftchen regte sich. Zwischen den langsam aufreißenden Wolken lugten die ersten Sterne hervor – eine Nacht wie geschaffen zum Nachdenken, zum langen, ernsten Gespräch mit einem guten Freund. Aber er hatte weder Freund noch Gesprächspartner; er fühlte sich, als wären in ihm alle Emotionen in den Flammen, die auch die Burg zerstört hatten, verbrannt. Und so kreisten denn seine Gedanken immerfort um längst Vergangenes, wie ein blindes Pferd sich um den Mühlstein bewegt. Er versuchte, in einem Kabinenbett im Vorschiff Schlaf zu finden, doch dauerte es lange, bis er in einen unruhigen, wirren Schlummer fiel. Bald schon kündeten ihm polternde Fußtritte über Deck den herannahenden Morgen. Die ganze Zeit über waren abscheulich verzerrte Traumbilder von Evadne, Mikalegon, Aurea und anderen, erleuchtet von zuckenden Blitzen, an seinen Augen vorübermarschiert, aber die, die er liebte, war nicht darunter gewesen. Der Morgen war klar und kalt, aber von Land her kam genug Wind, daß die Segelschiffe wenigstens ein wenig Fahrt machten. Sie legten sogar ein ordentliches Stück zurück, und die Fischer waren nicht wenig beeindruckt, als sie sahen, wie geschickt die Carrhoener die Galeere manövrierten, indem sie sie erst vor dem Wind ein Stück seewärts steuerten, dann die Segel refften, die Riemen zu Wasser ließen und wieder landwärts ruderten und sich so in einer Art Zickzackkurs vorwärts bewegten, gleichsam wie ein Krebs. Jedesmal, wenn sie sich dem Land näherten, konnten sie in der Ferne die Berghöhen von Norby mit ihren tannenbewachsenen Gipfeln sehen, auf denen in der kalten vormittäglichen Sonne der Schnee
glitzerte. Gegen Abend jedoch flachten die Berge immer mehr ab und wurden schließlich von langen grauen und braunen gepflügten Feldern abgelöst; hier und da tauchte ein Bauernhaus auf. Einer der freien Genossen erklärte, dies bedeute daß sie wohl am frühen Morgen die Mündung des Hrakra erreichen würden, jenes Flusses, an dem die beiden Städte Lectis lagen. Die Galeere ruderte gerade vor ihnen, im Lee des größeren Schiffes, und die Sternenhauptmänner schlugen vor, lieber den Tag abzuwarten, als ihr geplantes Unternehmen auf gut Glück in der Nacht zu wagen. Das bedeutete, daß ihnen eine weitere Nacht der Langeweile und des untätigen Herumsitzens bevorstand. Um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben, stieg Airar auf die Galeere um. Mikalegon hatte sich inzwischen wieder ein bißchen von seinem Trübsinn erholt und polterte und lachte in gewohnter Manier. Er war hellauf begeistert, als er sah, wie die carrhoenischen Hauptmänner ihre weißen Haarsträhnen eingeschwärzt hatten um sich möglichst unkenntlich zu machen. Am tollsten hatte sich Evadne ausstaffiert: Sie hatte sich das Emblem der Permandener, die Waldratte, auf ihre Mütze gestickt und sah nun aus wie ein richtiger permandenischer Hauptmann. Großen Anlaß zur Sorge machte ihnen hingegen das Wetter; Mikalegon schloß nicht aus, daß der Wind in einen der verheerenden Stürme aus nördlicher Richtung umschlagen würde, die ganz plötzlich aus heiterem Himmel aufzukommen pflegten und in dieser Gegend gefürchtet waren. Man kam überein, in einem solchen Fall die beiden Segelschiffe Schutz in der Hrakramündung suchen zu lassen, dort vor Anker zu
gehen, immer bereit, sich mit ein paar kleinen Segeln manövrierfähig zu halten und, falls Verfolger auftauchten, sofort die Schleudern in Betrieb zu setzen. In letzter Minute entschloß man sich noch, Rogai (und zwar auf seinen eigenen Vorschlag hin) mit in die Stadt zu nehmen Sollte nämlich der Plan fehlschlagen, indem man die Carrhoener enttarnte, dann konnte er mit seinen Verbindungen zum Eisernen Ring von großem Nutzen sein. Der Morgen kam mit frischem Wind, wie die Wetterpropheten es vorausgesagt hatten; die Galeere arbeitete sich mühsam, unter heftigem Stampfen und Schlingern, in die Flußmündung vor, wo die anderen sich von ihrer Besatzung verabschiedeten und ihr alles Gute wünschten. Auch die Falken, nach denen der Hrakra seinen Namen hat, flogen im Verein mit den Möwen laut kreischend über das Schiff hinweg, als wollten sie ihm Geleitschutz geben. Airar ließ sein eigenes Schiff vor dem nördlichen Ufer vor Anker gehen. Alsdann stellte er einen Wachtposten am Ufer auf, der die Gegend im Auge behalten sollte. Er selbst postierte sich an die Reling und betrachtete nachdenklich die träge dahinrollenden Fluten des Stromes. »Er ist weder so blau noch so mächtig wie unser Naar in Västmanstad«, sagte er mehr zu sich und war überrascht, als ihm einer der Shalländer darauf antwortete: »Und auch nicht so erhaben und lieblich wie unser Vällingsveden« (den Airar eher als sehr schmutzig in Erinnerung hatte). Kurz bevor sie zu Bett gehen wollten, kehrte die Galeere wieder zurück. Kein Zweifel, das Unternehmen mußte ein voller Erfolg gewesen sein, denn am
Heck wurden Fackeln geschwenkt, und Männer hüpften übermütig tanzend übers Deck, während jemand eine ausgelassene Melodie auf einem Saiteninstrument spielte. Als das Schiff näherkam, trat Rogai von Mariola an die Reling und rief begeistert: »Ganz Dalekarlien ist in Aufruhr, die Vulkinger sind mächtig im Druck und können sich nicht mehr lange halten!« Als sie schließlich zusammensaßen und mit vollen Backen Brot und Fleisch kauten, schränkte Alsander allerdings ein: »Ich sehe es nicht ganz so optimistisch wie Rogai.« »Sein Gesicht hättet ihr sehen sollen, als er eure Haare beäugte«, plapperte Rogai gutgelaunt. »Ho-hoho-ho!« »Wie hieß der Kerl noch gleich – Rodvald oder so?« fragte Pleiander. »Und das Schönste ist, der alte Teufel ist verreckt«, fing Rogai wieder an. »Erzählt doch; was war los?« drängte Airar ungeduldig, und Evimenes sagte: »Brüder, ist es euch recht, wenn ich die Geschichte berichte?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, legte er los: »Wir ruderten also in die Stadt; auf dem Landungssteg lag schon Schnee, und der Empfang entsprach dem Wetter: eisiges Schweigen. Diades, der von uns allen den südländischsten Akzent hat, fragte die Leute nach dem Syndikus der Viktualiengilde. Zwei Kerle mit Haaren, die so weiß waren, daß man nicht sagen konnte, ob sie diese Haarfarbe schon von Geburt hatten oder schon so uralt waren, wiesen uns mit dem Daumen den Weg, ohne ein Wort zu sagen, und als wir an ihnen vorübergingen, wandten sie sich ab und spuckten verächtlich aufs Pflaster. Nahmen
wir etwa Anstoß daran? Wir doch nicht! Trugen wir doch das Zeichen der Waldratte, und wenn das Vieh erst untergegangen ist, wird ein anderes, besseres an seine Stelle treten. Es lebe Carrhoene!« Er erhob sich, hob leicht wankend seinen Becher, und alle tranken ihm zu. »Wie gesagt, sie zeigten uns den Weg mit dem Daumen, und wir gingen los. Der Mann, der uns in seinem Innungshaus empfing, war ziemlich dick – oh, was sage ich? –, fett war er, hatte einen Bauch wie eine Kugel; darüber baumelte eine goldene Kette, und sein Mantel war ganz mit Pelzen besetzt; sah mächtig vornehm aus, nicht so einfach und schlicht wie die Syndizi unten bei uns im Süden. Guckte uns nicht mal unfreundlich an, der alte Sack. ›Herr Syndikus‹, spricht Alsander. ›Nennt mich nicht Syndikus‹, sagt er, ›wenn mich jemand so nennt, muß ich immer an ›dick‹ und ›Spanferkel‹ denken.‹ ›Wir sind die Verbündeten Eures Herren Grafen‹, versetzt Bruder Alsander, ›und gerade Spanferkel sind es, die uns fehlen; wir haben nämlich nichts mehr, womit wir uns den Wanst füllen können, während wir diese Piraten belagern, die Euch so zu schaffen machen. Wir könnten wohl etwas mehr Höflichkeit erwarten.‹ ›Komisch‹, sagt da Fettwanst, ›ich dachte, Ihr wollt Nahrungsmittel und keine schönen Worte.‹ Und dabei fängt er an, mit den Fingern an seiner Kette, die ihm über den Bauch hängt, herumzuspielen. ›Schön, wo ist denn Eure Vollmacht?‹ Alsander erklärt, wir seien Soldaten des Reiches und der Quelle, die von weither angereist sind, um unter dem Oberbefehl von Marschall Bordvin zu
kämpfen; das sei doch wohl Vollmacht genug. ›Marschall Bordvin, ha!‹ schnieft unser Mann, glotzt uns mit schiefem Blick an und rümpft die Nase. ›Dann habt Ihr sicher sein Siegel bei Euch; denn er weiß, daß ich Euch sonst nicht das gute Brot des Herzogs geben kann.‹ Das jedenfalls wäre Vollmacht genug...« Da unterbrach Alsander seinen Bruder: »Ich argumentierte also hin und her mit ihm und sah, wie seine Wammen dabei zitterten. Weiter hinten saßen zwei Schreiber, die uns mit angeekeltem Blick beäugten. Nach langem Hin und Her räumt der Dicke schließlich ein, uns ein paar Schafe zu überlassen und vielleicht ein Dutzend Säcke Mehl, als ich anfange, etwas vor mich hin zu murmeln von wegen, Soldaten seien hungrig. Und Wein wollte er auch keinen rausrücken. Mit einemmal taucht Meister Rogai auf...« Rogai: »Mit zwei Bogenschützen der VulkingerGarde als Lakaien.« Evimenes: »Lakaien! Henker wollten sie gerne sein; ich spürte, wie mir mein eigener Hals trocken wurde, als sie deinen so begehrlich anstarrten.« »Die Geschichte!« rief Airar ungeduldig. »Herr Fettwanst, der Syndikus, läuft rot und blau an. ›Wer ist denn das?‹ will er wissen. ›Ein seit langem gesuchter Verräter, den wir geschnappt haben. Der Deserion sagt, Ihr sollt ihn kraft Eures Amtes als Obersyndikus aburteilen, da Baron Barrilis nicht anwesend ist. Gestern abend kam ein Bote und sagte ihm, er müsse auf eine dringende Reichsangelegenheit fort.‹ ›Wo ist das Beweismaterial?‹ will der Syndikus wissen. ›Beweismaterial!‹ knurrt da einer der beiden
Bogenschützen. ›Das Wort des Deserion ist doch wohl ausreichend. Wollt Ihr ihn etwa vor ein ordentliches Zivilgericht stellen wie einen Dalekarlier?‹ ›Ich habe nicht das Wort des Deserions‹, sagt da dieser Rodvald, ›sondern nur das von ein paar rotznäsigen Bogenschützen.‹ Sie treten mit drohenden Gebärden ein paar Schritte auf ihn zu lassen noch ein oder zwei derbe Sprüche los, und die Sache ist kurz davor, in eine Prügelei auszuarten. Der Syndikus macht ein saures Gesicht, aber er läßt sich nicht von den beiden Kerlen einschüchtern, sondern bleibt standhaft und erklärt, er müsse sich an seine Vorschriften halten – und die ganze Zeit über steht Meister Rogai unbeteiligt wie ein unschuldiges Lamm da und summt ein Liedchen vor sich hin.« »Weil ich nämlich was sah, was ihr nicht sehen konntet«, warf Rogai ein. »Daß nämlich unser Freund Fettwanst einer von unseren Männern war; an der Siegelkette, die er zwischen seinen Fingern drehte, hing nämlich ein kleiner Ring aus purem Eisen. Das Liedchen, das ich summte, war ›Geme, plange, moesto mori.‹ Ich hatte das Gefühl, das war das erstemal, daß jemand ihn so direkt mit dem Erkennungszeichen ansprach; er zitterte wie Brombeergelee.« »Auch Alsander sah den Ring«, sagte Evimenes. »War nicht er es, der, kaum daß die beiden Bogenschützen wieder gegangen waren, um sich ihre Vollmacht zu besorgen, den Satz sprach: ›Herr Syndikus, wenn Ihr schon keinen Wein habt, darf ich Euch dann wenigstens um etwas Wasser bitten?‹, und der dann, nachdem er mit einem der beiden Schreiber losgegangen war, um welches zu holen, wiederkam und
die schwarze Farbe aus seinem Haar herausgewaschen hatte, so daß die weiße Strähne, jener Stern unserer Geburt, offen zutage trat?« »›Ihr... Ihr seid ja Carrhoener!‹ flüstert unser feister Freund und seine Zähne schlagen dabei so laut aufeinander wie jene Knöchelchen, welche die Tänzerinnen aus Dzik immer benutzen, wenn sie einen Tanzrhythmus klopfen. Dann starrt er ängstlich von einem zum anderen, und allmählich wird ihm alles klar. ›Herr Syndikus‹, sagt Alsander, ›Eure Freude scheint nicht gerade überschwenglich zu sein.‹ ›Das wäre die Eure auch nicht, stecktet Ihr in meiner Haut‹, antwortet der Syndikus. ›Lieber Himmel! Ich, Obersyndikus von Lectis Minima, würde jetzt ein Vermögen dafür geben, ein junger Lehrbursche zu sein, denn noch vor Neumond werden wir in dieser Stadt nicht nur Verbündete der Vulkinger haben, sondern auch vulkingische Tercias, die sich wie wild gebärden! Und jetzt seid auch noch ihr hier – großer Gott! Auch das noch...!‹ Er zitterte wie Espenlaub und murmelte unverständliches Zeug, auf das wir uns beim besten Willen keinen Reim machen konnten. Schließlich gelang es Alsander, den armen Kerl ein bißchen zu beruhigen, indem er ihm versicherte, wir wollten wirklich bloß ein bißchen Proviant und gleich darauf wieder verschwinden. Aber sein merkwürdiges Verhalten ließ darauf schließen, daß irgend etwas geschehen sein mußte. Wir waren natürlich brennend daran interessiert, herauszubekommen, was es war. Ein braver Kerl, dieser Rodvald, auch wenn er vor Angst auf seinen Fingerknöcheln herumkaute. Nachdem er uns großzügig mit Lebensmitteln versorgt hatte, ließ er
schließlich die Katze aus dem Sack und erzählte uns, was passiert war: Als Os Erigu in Flammen aufging, wurde das ganze Lager auf dem gegenüberliegenden Ufer von einer riesigen Horde von Kobolden, Trollen und anderen scheußlichen Biestern überrannt und verwüstet. Der alte Herzog Mikal, der die Burg erbaut hatte, war nämlich einst der Geliebte einer Hexenkönigin – ihr Name ist mir entfallen – gewesen und hatte die Dämonen unter den Balken und Steinen der Burg versteckt. Nun, da sie brannte, kamen diese Kobolde aus ihren Schlupfwinkeln hervor. Nun, die Arbeiter waren in wilder Flucht davongestoben, trotz aller Drohungen Wildfangs. Das ganze Lager war ein heilloses Durcheinander; alles rannte wild brüllend umher, verfolgt von den Unholden. Es heißt, daß Wildfang selbst von Trollen aufgefressen wurde, als er versuchte, mit einem Zauberspruch die wilde Horde aufzuhalten. Manche behaupten auch, er sei von Graf Vulk höchstselbst getötet worden, als dieser vor Angst verrückt wurde – oder von Sthenophon von Permandos. Eines ist jedenfalls sicher: Der große Marschall ist so tot wie ein Stockfisch vom letzten Jahr, die Barone aus den Städten des Nordens sind alle mit ihren Tercias zusammengetrommelt worden und sie scheinen sich so heftig einander in den Haaren zu liegen, daß die Felsen ins Wanken geraten. Es lebe Dalekarlien! Es lebe Carrhoene!«
33 Die Küste von Skogalang: Die vierte Mär von der Quelle Danach waren sie alle ein wenig betrunken. Aber das Morgengrauen und die damit einsetzende Ernüchterung brachten nicht nur ein Schiff, eine Kogge aus Lectis, der alten Stadt, mit sich sondern auch die Überlegung, daß die Vulkinger sich auch schon früher untereinander befehdet hatten, ohne daß ihr Reich davon untergegangen war. Doch immer hatten sie, wenn Gefahr von außen drohte, ihren Streit untereinander beigelegt. Es bestand noch immer der Plan, in Skogalang zu überwintern. Den ganzen darauffolgenden Tag verbrachte man damit, den Proviant von der Galeere, die anschließend verbrannt wurde, auf die Segelschiffe umzuladen. Die Kogge aus Lectis hatte auch Nachschub mitgebracht. In ihrem Anführer erkannte Airar den blonden Jüngling, der vor langer Zeit zusammen mit ihm am Tisch im ›Alten Schwert‹ in Naaros gesessen hatte; sein Name war Oddel Kevilson. Tags darauf segelten sie ab, hinunter zur Küste von Shalland. Bald darauf ließen sie die rauhen Vorgebirge Norbys, die sich bis an die Küste hinziehen und in die See hineinragen, hinter sich. Jede Nacht fuhr das Handelsschiff an die Küste, ohne jedoch nennenswerte Neuigkeiten mitzubringen. Schon bald lag auch die niedrige Küste von Shalland hinter ihnen, und an dem Tage, als sie die schmutzigbraunen Wasser der Mündung des Vällingsveden passierten, ging ein heftiger Sturm. Es war eine beschwerliche, langweili-
ge Fahrt; wie zu erwarten, suchte der Sohn Alvars so oft wie möglich die Gesellschaft Meliboës oder der Schwestern von Stassia. Aber die letzteren waren nur mit Schwierigkeiten von ihrem Bruder loszueisen, der immer häufiger auf Deck erschien, wie ein Schmetterling, der die Sonne sucht, und eine Miene zur Schau trug, als sei er der Kapitän. Auch mit dem Zauberer war nicht viel anzufangen; zwar antwortete er artig auf alle Fragen, die Airar ihm stellte, aber irgendwie kam es Airar vor, als wäre er nicht so ganz bei der Sache, so als hätte er genug mit seinen eigenen Sorgen zu tun. Wenn Airar zu später Stunde auf Deck saß und nicht einschlafen konnte, sah er nicht selten den schwachen Schein bunten Lichts durch die Türritze des Zauberers dringen und hörte das schrille, scharfe Gesurre und Gezische, welches ihm verriet, daß irgendein Zauber im Gange war. Mehr als einmal erschien, als sie des Abends vor Anker gingen, der alte Mann in den letzten Strahlen des Tageslichts auf Deck, spannte einen winzigen Bogen mit einer Sehne, die er aus seiner eigenen Kleidung gefertigt hatte, und zielte auf einen der Vögel, die in der Takelage Unterschlupf suchten. Airar kannte diesen Zauber; er würde den Vogel zutraulich machen und ihn zum Sprechen bringen. Doch nicht einer der Vögel kam mehr als einmal zum Schiff, und Airar konnte nicht umhin zu vermuten, daß fremde Magie gegen Meliboës eigene Zauberkräfte am Werke war... während sie nach Süden weitersegelten, wo bald die dunklen, winterlichen Gestade von Skogalang am Horizont aufstiegen. Und dies nun sind die Küstenstädte von Skogalang, das unter einer Decke dichten Waldes vor den
Augen der Männer langsam an Gestalt gewann: Diupaa, Bramsos, welches die Vulkinger Vervilla nennen, da sie auf dem Kap, das unmittelbar bei der Stadt ins Meer hinausragt, eine Wachburg haben; Smarnaravida und der Heyr. Keine dieser genannten Städte ist besonders groß, und nur die zweite ist von Wällen umgeben; die Bewohner von Skogalang lieben Städte nämlich nicht besonders. Man hielt es jedoch für sehr unklug (hier allerdings protestierte Rogai heftig mit der Bemerkung, man mache sich damit zu Ausgestoßenen im eigenen Lande), außer in Diupaa und im Heyr vor Anker zu gehen. Als sie in Diupaa anlegten, blieben die Carrhoener an Bord. Rogai aber ging in die Stadt, um dort ein paar Verbündete des Eisernen Rings aufzusuchen, die mit Sir Ludomir Ludomirson in Verbindung treten und ihn benachrichtigen sollten, sich mit den Männern im Heyr zu treffen. Der Ritter erschien auch pünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Er kam zu den Schiffen an einem grauen Tag; Eisstückchen glitzerten im Tauwerk, und es blies ein eisiger Wind. Der dunkle Uferwald zog sich wellenförmig bis an den Rand des Wassers hin. Er bestand hauptsächlich aus Nadelbäumen, hier und da durchsetzt von knorrigen, schwarzen Stämmen anderer Bäume. Von der hinter der weiten Bucht liegenden Stadt war kaum etwas zu sehen, abgesehen von ein paar Häusern, deren Erbauer wohl freien Blick auf das Meer haben wollten; ansonsten war es in Skogalang üblich, daß die Bäume bis in die Straßen hineinwuchsen. Weiter westlich brach sich eine weiße Gischtlinie an der Hafenbarre. Als Sir Ludomir über die Reling stieg, zog er fröstelnd den Pelz enger um die Schultern. Seine Begrüßung bestand aus einem
kurzen Händedruck. Danach begab er sich sofort ins Innere des Schiffes, wo das Feuer auf dem Rundstein und duftender Glühwein auf ihn warteten. Kaum hatte er Platz genommen, als niemand anders als Aurareus höchstpersönlich mit zierlichem Trippelschrittchen, aus der vorderen Kabine kommend, auf den Plan trat, begleitet von einem seiner Gespielen. (Den anderen hatte Airar seit dem Feuer nicht mehr gesehen) er hegte den starken Verdacht, daß Pleiander das allgemeine Durcheinander bei dem Brand dazu genutzt hatte, den Burschen kurzerhand zu erstechen, hatte es sich jedoch bisher verkniffen, nach dem Verbleib des Burschen zu fragen. Der Ritter schaute ihn überrascht an, sank auf ein Knie, zog die Mütze vom Kopf, ergriff die graziös-herablassend hingestreckte Hand des Prinzen und küßte sie. »Mein Prinz und höchst erhabener Gebieter!« »Ihr habt Unsere Gunst.« Und als sie nun so vor dem Rundstein saßen, kam plötzlich Meliboë herein. Sir Ludomir sprang auf und rief: »Was hat dies zu bedeuten? Meine Herren, wollt Ihr etwa zulassen, daß dieser Verräter am Reich und an der Quelle an Euren geheimen Beratungen teilnimmt? Kein Wunder, daß Eure Unternehmungen bisher nichts als Mißerfolg und Unheil brachten!« Meliboë setzte sich wortlos, aber Alsander sprach im Namen aller: »Ihr mögt zwar unsere Unternehmungen unheilvoll nennen, Herr, aber nicht wenige von uns, meine Person eingeschlossen, würden sagen, daß die ganze vermaledeite Vulkingerherrschaft seit der Belagerung der Burg – auch wenn diese schließlich unterging – dem Zusammenbruch entgegentreibt.«
»Wollt Ihr, daß wir all jene von uns stoßen, die fest zu uns hielten, als sämtliche Hoffnung zerstört schien?« hieb Rogai in die gleiche Kerbe, und da er mit dieser Bemerkung Airar genau aus der Seele sprach, schwieg der junge Mann und nickte bloß zustimmend. »Dazu kann ich nichts sagen; ich weiß zu wenig darüber. Eines dagegen weiß ich nur allzu gut: daß Ihr niemals in der Lage sein werdet, hohe Ziele mit Hilfe von Dämonen und Teufeln zu verwirklichen; denn dies sind genau die Mittel, derer sich die Vulkinger bedienen, und wir sind doch gegen sie. Wie sollen magische Kräfte die Oberhand behalten, wenn sie gegeneinander wirken? Nein, nein: all diese Zauberei führt nur zu einem Ziel: nämlich dem, daß die Herren von Briella am Ende doch den Vorteil auf ihrer Seite haben.« »Herr«, sprach da der Zauberer Meliboë, »ich weiß, daß Ihr mir gegenüber mißtrauisch seid und mir kein Gehör schenken wollt; aber für meine Gefährten erkläre ich, daß es in der Natur aller Dinge liegt, die außerhalb unserer Welt stehen, niemals mit sich einig zu sein; und ich halte es weder für ein Verbrechen noch für eine Sünde, ihren Widerstreit zu verschärfen, und dies um so mehr, als ja diese ganze Herrschaft, gegen die wir kämpfen, auf nichts anderem als Hexerei beruht. Sagt an – was war es letztendlich, woran Bordvin Wildfang, der große Recke und Zauberer, zugrunde ging, wenn nicht an Zauberei?« Es dünkte Airar, als könne er sich genau jenes Tags erinnern, da eben dieser Zauberer Briella verließ, weil man ihn diese Philosophie nicht mehr praktizieren ließ, die er jetzt so sehr verdammte; aber er schwieg,
als er sah, daß Sir Ludomir seine schmale, blasse Hand ausstreckte: »Herr Meliboë, ich weiß, daß Ihr ein ausgezeichneter Sophist seid; oh, ich weiß – Ihr könnt aus Schwarz Weiß machen und umgekehrt. Und dennoch: Die Gesetze der Quelle verbieten die Anwendung Eurer Kunst, es sei denn, sie diene dem eigenen Schutz; dieser Einschränkung jedoch werdet Ihr niemals zustimmen; und die innere Stütze all dieser Länder ist das Haus von Stassia, und die Stütze des Hauses ist die Quelle.« »Die Quelle!« konnte Airar sich nicht enthalten, laut auszurufen; nach all dem, was Argyra darüber erzählt hatte, waren ihm erhebliche Zweifel an diesem großen Wunder gekommen; und allem Anschein nach schwang wohl dieser Zweifel auch in seinem Ton mit, denn Sir Ludomir fuhr mit einem Ruck zu ihm herum, wie der Schwenkzapfen eines Katapults. »Junger Mann, wie ich hörte, habt Ihr Euch zu einem höchst bemerkenswerten und mit allen Wassern gewaschenen Kämpen entwickelt, seit wir uns das letztemal sahen – damals, als Ihr noch nichts weiter wart als der Laufbursche dieses verräterischen Zauberers; Euer Glück mag sicher groß sein. Aber ich sage Euch, Euer Glück wird Euch verlassen und zu Staub zerfallen, wenn Ihr nicht der Quelle und ihrem Gesetz Respekt erweist; denn die Quelle ist der Tragpfeiler der Welt, und selbst die wilden Tiere erweisen ihr die gebührende Achtung. Hört, junger Mann, was ich Euch zu sagen habe: Mein Haar ist grau geworden. Doch bis zum Ende meiner Tage werde ich den Tag nicht vergessen, an dem ich unseren Kaiser, seine Majestät Auraris, zur
Quelle begleitete, als er dorthin pilgerte, um mit seiner Braut, der Tochter des Ritters vom Bremmery den Hochzeitstrunk zu nehmen, der sie beide von all ihren Sünden und ihrer Vergangenheit reinwaschen sollte. Der Kaiser war damals kein junger Mann mehr. Wir mußten unterwegs in einer Hütte aus Buchenholz rasten; es war Frühling. Da kam eine Wölfin aus dem Dickicht und knurrte uns wütend an. Uns fiel auf, daß sie einen gestutzten Schwanz und ein kupiertes Ohr hatte. Gleich darauf sahen wir auch, daß sie zwei Junge bei sich hatte. Doch als unser Herr die Wölfin töten wollte, sprach seine Braut: ›O edler Prinz, o Herr und Gebieter, mit dem ich bald in ehelicher Liebe vereinigt das Laken teile, erlaubt mir, als Weib für das Leben eines anderen Weibes das Wort zu ergreifen: Schenkt mir das Leben dieser Wölfin!‹ Seine Majestät, Kaiser Auraris, erfüllte seiner Braut diesen Wunsch; er, der Erbe des goldenen Throns von Stassia, schenkte der Wölfin das Leben. Bald darauf setzten wir unsere Wanderung fort; die Wölfin folgte uns – ich weiß nicht, ob aus Neugier oder weil auch sie selbst unseren Herrn liebte; ihre Jungen trotteten hinter ihr her. Da der Kaiser befohlen hatte, sie zu verschonen, überließen ihr viele aus dem Gefolge manch einen Knochen oder ein Stück Fleisch. Am Tor der Quelle blieben alle zurück bis auf seine Majestät und die Braut seiner Majestät; doch als wir ihnen nachblickten, sahen wir, wie die Wölfin ihnen durch das Unterholz folgte, als fürchtete sie, von ihnen getrennt zu werden. Als Seine Majestät mit seiner Braut wieder zurückkam – beide mit vor Friede und Freude leuchtenden Augen –, berichtete uns die Kaiserin von einem großen Wunder, dessen Zeuge beide gewor-
den waren: Als sie den segensreichen Kelch erhoben und sich beim heiligen Wasser der Quelle ewige Treue gelobten, glitt plötzlich die Wölfin dicht an ihnen vorbei, streckte den Kopf über den Rand der Quelle und trank von dem Wasser. Danach riß sie das Maul in die Höhe und begann, vor den kaiserlichen Geliebten laut zu heulen, als wolle sie den beiden ihren Gruß entbieten. Meine Herren, ich versichere Euch, derselbe Wolf wurde später unweit der Quelle von Jägern beobachtet, die ihn an seinen unverkennbaren Merkmalen erkannten: dem Stummelschwanz, dem gestutzten Ohr und den beiden Jungen. Meine Herren, es war einen oder zwei Monde später, noch in jenem selben Frühling, sie beobachteten, wie die Wölfin ein Reh jagte. Das Tier schien seiner Verfolgerin schon fast entkommen zu sein, als es sich mit seinen Hörnern im Dickicht verfing. Doch als die Wölfin das Reh erreichte, wandte das Reh den Kopf, und – Ihr mögt es glauben oder nicht – als sie dem Reh in die vor Todesangst weit aufgerissenen Augen schaute, vergaß sie ihren rasenden Hunger und die beiden hungrigen Jungen an ihrer Seite, stieß ein seltsames Heulen aus, als ob sie sich plötzlich des Gebotes des Friedens erinnerte, das ihr die Quelle auferlegt hatte, schlich reumütig davon und ließ sich zahm wie ein Lamm von den Jägern einfangen, ohne irgendwelchen Widerstand zu leisten. Doch Ihr, junger Mann, der Ihr, zu unser aller Nutzen im Kampf gegen die Vulkinger, der Segnungen dieses Wunders, das selbst die wilden Tiere des Waldes zu besänftigen vermag, teilhaftig werden könntet, Ihr weist dies von Euch und macht statt dessen lieber gemeinsame Sache mit diesem
hinterhältigen Kräuterhexer.« »Herr...«, hub Airar an, ohne jedoch recht zu wissen, was er eigentlich sagen sollte, und aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Meliboës Lippen sich hinter seinem Stachelbart zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Doch bevor der junge Mann zu einer Antwort ansetzen konnte, knallte schon der Herr von Os Erigu seine Faust auf den Tisch und sprang auf: »Bei Gott!« rief er. »In Skogalang scheint man wirklich nicht auf dem laufenden zu sein! Alle Achtung vor Euren hehren Prinzipien, Herr Berater, nicht aber vor dem Stand Eurer Kenntnisse. Ist Euch denn nicht bekannt, daß wir eben gegen dieses verkommene Kaiserhaus kämpfen, das seine Töchter an Briella verhökert und seine Zwitterratte von einem Erbfolger losschickt, um den Vulkingern als Spion zu dienen?« Sir Ludomir machte ein Gesicht, als hätte ihm jemand vor den Kopf geschlagen. »Herr Herzog, ich bin Euer Gast, und meine ritterliche Pflicht verbietet es mir, Euch auf der Stelle herauszufordern, doch wenn Ihr mit mir an Land gehen wollt, dann werden dort vielleicht Worte fallen, die nur noch durch Blut getilgt werden können; ich würde Euch nämlich auf den Kopf zusagen: Ihr lügt!« Da sprach Airar zu Erb: »Richte Prinzessin Argyra meinen untertänigsten Gruß aus und bitte sie, uns einen Augenblick ihrer Zeit zu schenken. Du mußt ihr sagen, daß Sir Ludomir Ludomirson hier ist.« Einen kurzen Augenblick lang herrschte Schweigen in der Kabine; Sir Ludomir zog fröstelnd seinen Pelz enger um die Schultern. Kurz darauf betrat die Prinzessin die Kabine. Der alte Ritter sank vor ihr aufs Knie. »Erhebt Euch«, befahl sie, »und setzt Euch wie-
der. Es freut mich, den Berater meines Vaters hier zu treffen. Ich hoffe, es geht Euch gut.« »Danke – besonders, seit Ihr hier seid. Doch man berichtet mir Dinge von Stassia, die ich einfach nicht glauben kann.« Argyra lächelte. »Ich befürchte leider, daß sie wahr sind. Erzählte man Euch vielleicht, daß meine Schwester dem Grafen Vulk versprochen wurde und daß ich die Frau von Sthenophon von Permandos hätte werden müssen, hätten nicht Herzog Mikalegon und das Schwert Meister Airars dies im letzten Moment verhindert?« Der Ritter schnappte nach Luft. »Erlauchte Hoheit, dies soll um Gottes willen nicht als Verhör verstanden werden. Aber ich bin Mitglied des Rates, und diese Sache berührt mich zweifelsohne tief. Wer könnte ein Interesse an solchem Ehebund haben?« Sie zuckte die Achseln. »Der Rat; Vulk selbst hat um meine Hand angehalten. Dann die Barone von Scroby und die Söhne der Quelle. Mein Vater... mein Vater...« »Seine Majestät ist von ehrwürdigem Alter und sollte gut beraten sein von denen, die er so lange in seiner Gunst gehalten hat.« »Da war eine Gesandtschaft mit einem rothaarigen Mann namens Vanné... Vanness...« »Vanette-Millepigue, der Rote Baron von Naaros«, entfuhr es Rogai, und seine Stimme klang dabei verächtlich. »Danke. Ja, so hieß der Mann. Ich weiß nicht über alle Einzelheiten Bescheid, Sir Ludomir; jedenfalls war es nach diesem Besuch beschlossene Sache, daß Aurea Vulks Frau werden und Aurareus und ich sie
nach Briella begleiten sollten.« Der Ritter machte eine tiefe Verbeugung; seine Züge bebten wie die eines Mannes, der über sich schon den Donner des Weltuntergangs hört. »Meine Ehrerbietung, Hoheit! Und Euch Herzog Mikalegon, möchte ich die Hand reichen und Euch halb um Verzeihung bitten. Halb deswegen, weil ich die Art und Weise, in der Ihr über den Prinzen des Hauses sprecht, nicht billigen kann. Denn die Stellung und das Amt eines Mannes sind es, denen wir dienen müssen, nicht der Person. Und ist der Mann niederträchtig und verderbt, dann gebietet es unsere Ritterpflicht um so mehr, das Amt und die Stellung in Ehren zu halten.« »Kann ich mich jetzt zurückziehen?« fragte Argyra. »Erlauchte Prinzessin, ganz, wie es Euch beliebt. Nichts an den Beratungen der Untertanen ist geheim vor den Mitgliedern der kaiserlichen Familie.« Doch als sie gegangen war, trat tiefer Ernst auf Ludomir Ludomirsons Züge: »Eine sehr schwerwiegende und schlimme Sache, die da geschehen ist; leider kann ich im Moment überhaupt nicht erkennen, was dahintersteckt. Oh, hätte ich doch die Schwingen eines Flügelrosses, damit ich schnell wie der Wind übers Meer fliegen könnte, um diese falschen Ratgeber zusammenzurufen, deren Rat das Kaiserreich zu Fall bringt!« Da sprach der Zauberer Meliboë: »Sir Ludomir, auch wenn Ihr meinen guten Willen in Abrede stellt, so schenkt wenigstens meinen Informationen Glauben. Als ich zum letztenmal nach Briella gerufen wurde, da erörterte man dieses Problem bereits – ich meine, den Plan des Grafen Vulk. Es war ihm näm-
lich zu Ohren gekommen, daß die Erbfolge des Reiches aufgrund der charakterlichen Eigenschaften von Prinz Aurareus auf die weibliche Linie übergehen sollte. Der Marschall und nicht wenige Mitglieder des vulkingischen Rates sprachen sich entschieden dagegen aus; sicher ist Euch bekannt, daß dieses Volk nach althergebrachter Sitte erbliche Würden und Ämter ablehnt. Und ich weiß auch, daß dieser Baron Vanette-Millepigue eigens dafür ausgebildet werden sollte, die Mitglieder des kaiserlichen Rates mit Hilfe des Sobrathim-Zaubers seinem Willen zu unterwerfen, während man für die Söhne der Quelle, die ja bekanntlich gegen solcherlei Magie immun sind, einen anderen, ebenso wirksamen Zauber vorgesehen hatte: den des Goldes. Soweit jedenfalls war der Plan gediehen, als ich das letztemal davon hörte; der Aufstand von Mariupol und der Krieg gegen Salmonessa kamen jedoch dazwischen, und so wurde die ganze Sache für eine Weile aufgeschoben.« »Nun, dies ist nichts anderes als blanker Verrat«, entschied Sir Ludomir, »aber was hätte man von Vulkingern auch anderes erwarten sollen? Kein Wunder, daß man mich nicht nach Stassia berief, als über diese Sache im Rat verhandelt wurde.« Er zupfte an seiner Unterlippe. »Aber was mich sehr verwundert, ist, daß die Delegierten der Zwölf Städte uns nicht warnten. Sie hatten doch immer ein freundschaftliches Verhältnis zu uns Dalekarliern. Oder fielen auch sie der Magie dieses Barons zum Opfer?« Evadne stieß ein heiseres Lachen aus: »Stinkende Hunde!« rief sie verächtlich, und Evimenes fügte hinzu: »Herr, Ihr müßt wissen, daß außer Phyladea, das uns und Dalekarlien gleichermaßen haßt, die gesam-
ten Zwölf Städte nicht mehr am Rat in Stassia teilnehmen. Sie stehen alle unter der Herrschaft der Volkspartei, und diese erweist zwar der Quelle Respekt, nicht aber dem kaiserlichen Hause.« »Ha! Ist das wahr? Jetzt lichtet sich das Dunkel ein wenig, doch nur, was die Vergangenheit betrifft. Was aber wird uns die Zukunft bringen? Was sollen wir tun? Ihr laßt mich in tiefster Unwissenheit, in einer mir unbekannten Welt.« »Herr«, sagte da Alsander, »unser Plan ist, hier in Skogalang zu überwintern, während Ihr und Meister Rogai mit Hilfe Eures Eisernen Rings versucht herauszubekommen, wie es oben im Norden um die Fehde der Vulkinger steht. Weiter gehen unsere Pläne noch nicht, da wir uns nicht ganz einig sind und alles davon abhängt, wie der Zwist unserer Feinde sich entwickelt. Wir Brüder jedoch sind immer noch der Überzeugung, daß es das Beste ist, den Vulkingern in offener Schlacht zu begegnen. Dies ist aber ein hoffnungsloses Unterfangen ohne unsere schwerbewaffneten Reiter aus den Zwölf Städten. Wir Brüder sagen daher: Laßt uns hier soviel Truppen ausheben wie eben möglich, aber laßt uns nicht hier zur Schlacht antreten. Kommt mit uns nach Carrhoene dort werden sich uns viele Männer aus den dalekarlischen Handelsniederlassungen anschließen. Befreit uns von der Herrschaft der stinkenden Hunde, und wir sind Eure Männer für den großen Feldzug im Norden.« »Ein faires Angebot«, entgegnete Sir Ludomir, »aber wie hoch ist der Preis? Wer bezahlt Eure Reiter?« »Ich sagte nichts von Sold. Ich spreche hier von einem Bündnis«, erwiderte Alsander, aber er errötete
unter seiner dunklen Haut, und der Ritter wandte sich an Rogai: »Ist das auch Eure Ansicht?« »Keineswegs; zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mein Plan: Rüttelt die Waldmeister von Skogalang auf, und wir werden die Kastelle der ganzen Provinz erobert haben, bevor die Vulkinger überhaupt merken, daß der Wolf wieder durchs Land streift. Danach ziehen wir nach Nordosten, stacheln die Leute der Weißflußtäler auf, schließen alle Pässe nach Süden, ziehen die Truppen aus Västmanstad zusammen und machen unseren eigenen Krieg in den Wäldern, so wie König Argimenes in den silbernen Jahren.« »Wobei ihm die Soldaten aus Lacia halfen. Wir haben es diesmal nicht mit hitzigen und undisziplinierten Heiden zu tun, bedenkt das! Ohne reguläre, gut ausgebildete Truppen wird es ein aussichtsloses Unterfangen sein, die fanatischen Vulkinger zu schlagen, deren ganzer Lebensinhalt Krieg ist«, erwiderte Sir Ludomir. »All diese Pläne schmecken mir zu sehr nach Wunschträumen. Hat keiner einen realistischeren Vorschlag?... Doch halt! Wie ich sehe, sind dies Pläne, über die Ihr Euch schon lange vorher die Köpfe heißgeredet habt, und bis jetzt ist noch nichts verloren. Ist es noch immer Eure feste Absicht, Eure Ränke vor den Ohren dieses Hexenmeisters zu schmieden, der schon seine zwei früheren Herren betrog?« Schweigen. Schließlich sprach Airar: »Was mich betrifft, so ist dies noch immer meine feste Absicht.« » I c h stehe a u f d e r S e i t e des jungen Meisters«, brummte Mikalegon. »Ich auch«, schloß sich Rogai an.
»Nun, einer muß nachgeben, und um des lieben Friedens willen werde ich derjenige sein – obwohl ich fürchte, daß dies alles ein schlimmes Ende nimmt.« Er bekreuzigte sich und zitterte dabei ein wenig, so als wäre ihm der eisige Wind, der draußen blies, in die Knochen gefahren. Nun hob Meliboë, der die ganze Zeit über schüchtern wie ein Milchmädchen zu Boden geschaut hatte, den Kopf. »Das ist sicherlich kein falscher Entschluß, Herr Ritter«, sagte er. »Aber auch ohne daß Ihr ihn aussprecht, sehe ich den Gedanken, den Ihr dabei im Hinterkopf habt: daß es Euch nämlich nichts eingebracht hätte, mich auszuschließen, außer den Unwillen vieler. Es ist so, daß fast alle hier lediglich um den Kern oder das Herz der Sache herumreden – wobei das besagte Herz jenes Band ist, das das Kaiserhaus an Vulk binden würde und so aus dem Kaiserreich das Reich Vulks machen würde. Ah, wenn dieser Plan gelingt, dann ist es um Euch geschehen; Vulk würde sich nicht einmal scheuen, die Quelle selbst zu vergiften, so wie er das Leben so vieler vergiftete, indem er die Lyzeen schloß, die freien Bauern von Västmanstad von ihren angestammten Höfen vertrieb oder versuchte, den Wollmarkt von Mariupol in die Knie zu zwingen. Ihr habt recht, Herr Ritter: Unabhängig von dem, was sonst noch zu tun ist, müßt Ihr auf der Stelle nach Stassia reisen, den Rat einberufen, diejenigen, die verhext oder bestochen sind, absetzen und den Vertrag, der diese unheilvolle Heirat besiegelt, außer Kraft setzen lassen. Andererseits habt Ihr auch unrecht: Wenn nämlich der Kampfgeist dieser jungen dalekarlischen Kämpen gebrochen wird, dann ist alles verloren. Und dann wird es nicht mehr lange
dauern, bis der Tag gekommen ist, da die Armeen unter dem Banner des roten Dreiecks in den kaiserlichen Palast von Stassia einmarschieren. Was Eure Kriegspläne betrifft, so wendet Euch am besten an Meister Airar, ich habe das Orakel befragt, Ihr werdet niemand finden, dem das Kriegsglück so hold ist wie ihm.« Sir Ludomir zog die Augenbrauen zusammen: »Eine Hand wäscht die andere, wie es scheint – aber habt Ihr denn einen Kriegsplan, junger Herr?« »Nein, Herr«, antwortete Airar und errötete, »aber wie könnte ich auch? Haben wir nicht viel zu wenig in der Hand, um vernünftig planen zu können? Im Augenblick wissen wir nur eines sicher: Da wir die Flotte der Permandener im Bärenfjord in Brand steckten, bleibt unseren Feinden vorerst der Seeweg verschlossen. Wir könnten ein neues Os Erigu auf den Gentebbi-Inseln errichten. Von dort aus haben wir die Möglichkeit, schnell nach Westen vorzustoßen – nach Stassia oder nach Süden, nach Carrhoene, oder in nördliche Richtung, nach Dalekarlien; ganz wie es die jeweilige Situation erfordert.« Nach einer kurzen Debatte stimmten alle diesem Plan zu. Doch als der lange Erb zu bedenken gab, daß Marschall Bordvin die Inseln wahrscheinlich ganz übel ausgepreßt hatte, kam man überein, erst einmal in Skogalang den Frühling abzuwarten. Eines der Schiffe sollte unterdessen Sir Ludomir über die Blaue See nach Stassia bringen. Schließlich erhoben sich alle, und als sie auf Deck gingen, hielt der Zauberer Meliboë Airar am Ärmel fest und sagte: »Hört zu, junger Meister, ich weiß ebenso wie Ihr, daß Euer Plan kein Plan ist, sondern lediglich ein Lippenbe-
kenntnis, um Tratschmaul so lange ruhigzuhalten, bis die Zeit neuen Rat bringt. Das habt Ihr gut hingekriegt; aber ich sage Euch eines im Vertrauen: Hütet Euch vor Gentebbi!« Aus dieser Warnung wurde Airar nicht recht schlau; und ebensowenig Argyra, als er ihr davon erzählte, während sie in einem der Waldhäuser von Skogalang beim Feuer saßen, Apfelwein tranken und würzig duftende Kastanien aßen. Aurea war an jenem Tage zusammen mit Alsander ausgegangen, der sich, unter dem Vorwand, ihr Beschützer sein zu wollen, in gewisser Weise zu ihrem Freier gemacht hatte. Der Winter schleppte sich träge dahin, während sie gespannt auf neue Nachrichten aus dem Norden warteten. Der einzige Zeitvertreib, mit dem sie sich bisweilen ein wenig Kurzweil verschafften, war die Jagd. »Ihr könnt Euch glücklich schätzen, Meister Airar, ein Mann zu sein, dem man um seiner selbst willen Freundschaft bezeigt. Im Palast lernen wir, wenn man auch immer von Freundschaft spricht, auf das zu achten, was gewünscht wird.« »Das mag auch hier der Fall sein; doch was habe ich schon zu geben? Nur wenig.« »O nein, o nein, nicht wenig! Ihr seid mehr, als Ihr selbst von Euch glaubt; Ihr seid ein kluger Kopf im Rat, sagt Sir Ludomir, und ein gutes Schwert im Felde, wofür zum Beispiel ich allen Grund habe, Euch zu danken, habt Ihr mich doch den Klauen dieses Sthenophon entrissen. Doch vorher müßt Ihr noch lernen, so wie wir es bei Hofe tun, daß eine Freundschaft immer im Widerspruch zu einer anderen steht, daß
ein Wunsch sich nicht mit dem anderen verträgt und daß das eine zu geben bedeutet, das andere zurückzuweisen.« »Und Liebe? Ist Liebe ein Geschenk?« »Darüber sollten wir jetzt nicht sprechen.« »Wovon sonst soll ich sprechen, wenn ich mit Euch zusammen bin?« »Keiner verlangt, daß Ihr mit mir zusammen seid. Geht, redet mit Eurem Freund, dem Zauberer, der in die Zukunft blicken kann, der Euch gegen unsichtbare Mächte schützt, der sogar die lachende Furcht besiegt. Vielleicht kann er Euch auch sagen, was das für ein Fluch ist, der da auf Gentebbi lastet.« Sie ist im Augenblick in schlechter Stimmung, sagte er sich. Sicher geht das bald wieder vorüber – oder hat sie gar Wind bekommen von meinem Verhältnis mit Gython auf den Gentebbi-Inseln?
34 Rückkehr vom Meer Und so verging der Winter in Erwartung neuer Nachrichten. Aus dem Norden drang nur spärliche Kunde zu ihnen durch; es hieß, eine große Armee von Vulkingern sei in das größere Lectis gekommen und habe dort ihr Lager aufgeschlagen, mit allerlei Gezänk über die Frage, wer nun Marschall sein sollte. Die Bergbewohner aus Korosh nagten am Hungertuch; alle Städte, aus denen sie gewöhnlich ihre Lebensmittel bezogen, waren in die Hände der Vulkinger geraten, und es ging das Gerücht, daß viele von ihnen sich von garstigem Getier aus Micton ernährten. Vom schwarzen Gallil von Västmanstad erfuhren sie, daß Baron Vanette-Millepigue im Mond des Storches, also etwa zur Zeit, als sie mit ihrer kleinen Flotte den Heyr erreicht hatten, mit sechs Abteilungen seiner Tercia über die große Straße, die entlang des Naar verläuft, nach Norden marschiert war. Es war anzunehmen, daß auch er seinen Anspruch auf den freien Posten des Marschalls angemeldet hatte. Die Bewohner von Skogalang waren überaus freundliche Menschen; sie hausten wohl verborgen und zurückgezogen in ihren Wäldern und ernährten sich von Früchten, Nüssen und den berühmten Schweinen, die von den Nüssen lebten Und da Skogalang nicht zu der Art von Region gehörte, aus der ein Vulkinger besonderen Nutzen ziehen konnte, führten seine Einwohner vergleichsweise unbehelligt von den Vulkingern ihr gewohntes Leben und litten nicht so stark unter der Fuchtel jener wie die übrigen
Dalekarlier. Trotzdem waren sie mit Leib und Seele Dalekarlier – manch eine Hand ballte sich zur Faust, als Rogai ihnen erzählte, wie schrecklich die Vulkinger in Mariupol gewütet hatten. Und so war es nicht verwunderlich, daß nicht wenige von ihnen zum Heyr kamen – zu Besuch, wie sie vorgaben; in Wirklichkeit jedoch, um sich dem Kriegsbanner Dalekarliens anzuschließen; alles erfahrene Waldbewohner, die wie der Teufel mit dem Bogen umgehen konnten und niemals ihr Ziel verfehlten. Und als schließlich der Frühling ins Land zog und der Schnee schmolz, waren nicht weniger als vier Schiffsladungen kampfeswilliger Männer beisammen. Noch immer hatten sie keine Nachricht von Sir Ludomir Ludomirson erhalten, und das Schiff, mit dem er losgefahren war, war noch nicht zurückgekehrt. Somit hatten sie nicht einmal die nötigen Schiffe, derer es bedurft hätte, die Krieger aufzunehmen. So kam es, daß nicht wenige von ihnen mit den kleinen Fischerbooten, die im Heyr vertäut lagen, vorliebnehmen mußten. Aber auch davon waren nicht viele vorhanden, da die Bewohner von Skogalang ihren Fisch größtenteils aus Gentebbi einführten. Doch die Boote, die sie hatten, stellten sie bereitwillig zur Verfügung. Es war schon eine seltsam anmutende Kriegsarmada, was sich da eines schönen Morgens in Bewegung setzte. Nicht zuletzt mußte ja auch einiges an Raum für die Damen reserviert werden, für die goldene Prinzessin und für die silberne dazu für Aurareus, den man als halbe Frau betrachtete, sowie für die Dienerinnen der Schwestern. Auch ein paar Frauen aus Skogalang machten die Reise mit – während des lan-
gen, kalten Winters hatte bei Airars Männern der Naturtrieb wie ein Fieber um sich gegriffen. Sogar die carrhoenischen Sergeanten waren von heftiger Zuneigung zu den Waldmädchen aus Skogalang erfaßt worden und wollten sich nicht mehr von ihnen trennen. Von den Tanzmädchen dagegen, die auf der Burg von Os Erigu für manche kurzweilige Nacht gesorgt hatten, baten etliche den Herzog um Erlaubnis, in Skogalang bleiben zu dürfen. Prinzessin Aurea nahm dies zum Anlaß, die Bemerkung fallenzulassen, das sei ein deutliches Beispiel dafür, wie sehr sich Gegensätze anzögen, worauf Meliboë entgegnete, dieser Drang sei lediglich auf den Mangel an gewohnter Tätigkeit zurückzuführen und zwei Drittel dieser Liebschaften schmelze sicher unter der Sonne des baldigen Sommers rasch wieder dahin. Über diese Bemerkung war Aurea so erzürnt, daß sie sich mehrere Tage lang weigerte, mit dem Magier zu sprechen. So segelten sie los. Es war, wie schon erwähnt, ein schöner Tag zu Beginn des Frühlings. Nur wenige weiße Wölkchen zogen am blauen Himmel dahin, als sie Kap Shäta mit seiner bizarr geformten Felsnadel auf der äußersten Spitze umsegelten. Als es auf den Abend zuging, nahmen die Wolken an Umfang zu, ein frischer Seewind kam auf, und bald begannen die Schiffe heftig zu schlingern und zu stampfen. Es war mühevoll, dagegen anzukommen, doch dann waren sie um die breiten Vorgebirge, die das äußere Skogalang beschützen, herum und konnten vor der immer steifer werdenden Brise segeln. Als der Wind jedoch zunahm, ergab sich sehr bald ein anderes, äußerst schwerwiegendes Problem: daß nämlich ihre gesamte
Flottille Richtung Osten, zur Naarmündung hin, abgetrieben wurde und trotz aller Anstrengungen nicht auf südlichem Kurs, Richtung Gentebbi, gehalten werden konnte. Das Gesicht des langen Erb wurde noch länger. Die Schiffe legten sich dicht nebeneinander, und die Mannschaften beratschlagten, was zu tun sei, während langsam die Abenddämmerung aufs Meer heruntersank. Das Beste, was sie für die Nacht tun konnten war, auf den größeren Schiffen alle Segel herunterzuholen, so daß sie rückwärts treiben konnten, indem ihre hohen Hinterteile den Wind wie eine Wetterfahne auffingen. Die kleineren Fischerboote zurrte man in einer langen Reihe ein, um sie gleichsam zu einem verlängerten Steuerruder zu machen und ihnen gleichzeitig ein wenig Schutz gegen die rauhe See zu geben. Diese Aufgabe war überaus mühselig; und einer der Schiffer fragte Meliboë, ob er keinen Zauber wisse, mit dem er den Wind zum Abklingen bringen könne. Worauf der Magier erwiderte, daß er, wenn er solches vermöge, kein Zauberer mehr sei, sondern ein Gott. Die Nacht brachte wenig Vergnügen und noch weniger Schlaf; der Wind blies in unverminderter Stärke, und auch der junge Tag verhieß Airar und seinen Genossen wenig Freude. Links vor ihnen schaukelte das andere Schiff im Wasser, den Schwanz aus Fischerbooten im Schlepptau. Einer der Kähne hatte seinen Mast verloren. In seinem Schanzkleid war ein Loch, und es schien in arge Seenot geraten zu sein. Zu ihrer Rechten, um ein Stück achteraus, spritzte bleigraues Wasser weiß schäumend in einer wahren Wolke von Gischt mit lautem Krachen in die Höhe. Airar beugte sich über die Reling, um das Schauspiel
zu beobachten; einer der freien Fischer lachte grimmig auf: »Ein Glück, junger Meister, daß wir nicht noch weiter nach Süden in diesen Wind hineingeraten sind. Der Kuß jener weißen Frauen dort bedeutet den sicheren Tod; es sind die Felsenriffe der Naarmündung.« Das Glück war ihnen in der Tat hold gewesen; viel hätte wirklich nicht gefehlt, und sie wären mit Mann und Maus untergegangen. Aber sie konnten noch einiges mehr von dieser Art Gunst gebrauchen, denn den ganzen Tag über trieben die Schiffe und Schaluppen weiter in der aufgewühlten See dahin, und die Wellen schlugen heftig gegen ihre hölzernen Leiber. Die Fugen der Dragg begannen Wasser einzulassen; alles, was Beine hatte, mußte an die Pumpen oder an die Eimer, um das Schiff leerzuschöpfen. Auf einem der Fischerboote sahen sie, wie ein Mann über Bord gespült wurde und mit einem spitzen Schrei in den Fluten verschwand. Ihm zu helfen war so gut wie aussichtslos. Ein rasch hinterhergeworfenes Tau fiel weit vor der Stelle, wo er verschwunden war, ins Wasser. Airar hatte schon genug riskante Situationen erlebt, um mit der Gefahr vertraut zu sein. Aber gegen diese Art von Gefahr, die so sinnlos erschien, die nicht etwa entstand, indem man sich ehrenvoll der Herausforderung aussetzte, sondern die purem Zufall entsprang, hegte er einen unbändigen Groll. Während der zweiten ruhelosen Nacht wurde seine ohnmächtige Wut gegen die Launen der Natur noch größer, bis ihm schließlich der Gedanke kam, daß dies eine Frage für Doktor Meliboë war. Dieser jedoch lag, von See-
krankheit gebeutelt, zu Bett. Da stieg in Airar der Gedanke empor, warum der Zauberer eigentlich mehr tun sollte, als er selbst, tun seine Schwierigkeiten zu lösen... Doch jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln – während die kalten Seen an der Kuhl des Schiffes vorüberglitten und es galt, die Männer an den Eimern und Pumpen aufzumuntern, die unermüdlich im flackernden Licht der Laternen schufteten. Kurz vor Tagesanbruch, als alle hohläugig und mit hungrigen Mägen trostlos auf Deck herumstanden (denn es war bei dem schweren Seegang nicht möglich gewesen, das Feuer auf dem Rundstein in Gang zu halten), begann das Schiff, stärker als je zuvor zu schaukeln. Airar brachte seine Sorge darüber Erb gegenüber zum Ausdruck, aber der lange Kerl beruhigte ihn und meinte, dies sei ein gutes Zeichen; denn das heftiger werdende Schaukeln bedeute, daß sie in die Turbulenzen geraten waren, die von der Strömung der Naarmündung verursacht wurden, und vielleicht würden sie schon bald Schutz innerhalb des westlichen Kaps der Mündung finden. Die Morgendämmerung zeigte, daß er ein guter Prophet war. Der Tag begann heller als die zwei voraufgegangenen, und die Wolken dräuten nicht mehr ganz so dicht, und der Wind blies weniger heftig. Bald konnten sie in weiter Ferne, hinten im Norden und wegen des großen Abstands zwergenhaft bläulich schimmernd, die unverwechselbaren Umrisse des Spanhävid erkennen. So als wolle sie der Wind hier endlich aus seinem Machtbereich entlassen, ließ er schlagartig nach. Weniger als eine Stunde später schlug Erb vor zu versuchen, ein kleines Segel hochzubekommen,
und nachdem dies bewerkstelligt war, wurde die Dragg – die nur schwerfällig auf ihr Ruder regierte, wegen all der Fischerboote in ihrem Schlepptau – wieder ein Schiff. Sie wendete und begab sich aus der Gefahr, unter dem Wind auf die Felsen, die am Fuße des Spanhävid liegen, zuzutreiben. Herzog Mikalegon auf dem anderen Schiff war ein ausgezeichneter Seemann; er hatte schon früher versucht, Segel zu setzen, dabei jedoch Probleme gehabt, da ein Mast gebrochen war. Doch nun hatte auch er es geschafft, und die beiden Schiffe fuhren so nah wie möglich aneinander heran, um eine Beratung abzuhalten. Auf alle Fragen gab es nur eine Antwort: Man mußte geradewegs die Naarmündung hinaufsegeln und sich der Gefahr aussetzen, von den vulkingischen Wachen der Stadt Naaros aufgestöbert zu werden. Nach Gentebbi zu segeln war bei dem widrigen Wind unmöglich, ganz abgesehen davon, daß die Dragg ein Leck hatte und auch die Fischerboote ziemlich angeschlagen waren. Flußaufwärts also ging nun die Fahrt. Die Fischerboote aus Skogalang setzten wieder ihre eigenen Segel, sobald die Strömung der Naarmündung die wild wogenden Fluten der See ein wenig geglättet hatte. Von dieser Stelle aus konnte man schon klar und deutlich die Zitadelle von Naaros auf ihrem Felsen erkennen; bald darauf kamen auch die beiden Prinzessinnen an Deck, Argyra, um die Männer dafür zu loben, daß sie mit soviel Geschick und Mut die drohende Gefahr gemeistert hatten, Aurea hingegen, um eine warme Mahlzeit zu verlangen; ansonsten befürchte sie, von der ewigen kalten Kost Durchfall zu bekommen.
Sie machten einigermaßen gute Fahrt, da die Strömung an dieser Stelle des Naar, wo sich der Fluß gleichsam um das Küstengebirge herumwindet, weniger von vorn als mehr von der Seite her kommt. Doch nun wurde es immer mehr an der Zeit, eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen. Das Spanhävid-Ufer der Naarmündung ist felsig und unzugänglich, und das gegenüberliegende Ufer liegt ziemlich dicht an der Stadt Naaros. Man verständigte sich durch Rufen von Schiff zu Schiff; dann liefen die Schiffe in das stillere Wasser am Ufer, die Segel wurden im Schutz überhängender Baumwipfel gerafft, und als man sich gerade anschickte, zu einer Entscheidung zu kommen, löste sich die Frage des weiteren Vorgehens von selbst: Ein Wachboot mit dem roten Dreieck am Heck kam wie ein Wasserkäfer die Mündung heruntergekrochen. Die Katapulte auf den großen Segelschiffen hatte der Sturm arg in Mitleidenschaft gezogen, und wo nicht, waren doch die Seile so durchnäßt, daß die Kriegsmaschinen unbrauchbar waren. Dies galt allerdings nicht für die Bogenschützen aus Skogalang, die ihre Waffen in Kästen aufzubewahren pflegen und ihnen ähnlich zärtliche Fürsorge angedeihen lassen wie eine Mutter ihrem Kind. Sie gingen daher sofort hinter dem Schanzkleid in Deckung und spannten ihre Bögen schußbereit, während alle anderen sich unter Deck zurückzogen, um den Vulkingern den Eindruck eines friedlichen Schiffs zu vermitteln. All dies geschah in Minutenschnelle, während das Wachboot der Vulkinger zu voller Größe herangewachsen war und rasch auf sie zukam. Hätte ihr Führer ein wenig mehr Grütze im Kopf gehabt, dann wä-
re ihm aufgefallen, daß irgend etwas am Anblick zweier großer Segelschiffe zusammen mit so vielen kleineren Fischerbooten faul war. Aber das Patrouillenboot der Vulkinger hatte nicht mehr als zwanzig Mann Besatzung, und unter der väterlich gestrengen Herrschaft von Briella macht sich ein kleiner Anführer von zwanzig Mann nicht viel Gedanken. So kamen sie immer näher heran, ohne Verdacht zu schöpfen, bis Mikalegon mit einem Satz hinter der Reling hochsprang und das Kommando zum Angriff brüllte. Die Vulkinger versuchten zwar noch, das Boot zu wenden oder ihre Schilde hochzureißen, aber der größte Teil von ihnen wurde von dem unmittelbar darauf einsetzenden Pfeilhagel umgemäht – bis auf ein paar wenige, denen es nicht besser erging, als die freien Fischer auf Deck sprangen und mit ihren Speeren und kurzen Schwertern gnadenlos alles niedermetzelten, was sich noch bewegte. Und so kam es, daß die Anführer schon einen eindrucksvollen Sieg hinter sich hatten, als sie sich auf dem Achterschiff der Dragg trafen, um sich erneut zu beraten, während im Westen ein aufgerissener, rot übergossener Abendhimmel für den kommenden Tag besseres Wetter verhieß. Zunächst wurde nicht viel gesprochen, und die wenigen Worte, die fielen, kamen von den Schiffsführern – Mikalegon, dem langen Erb und den Führern der Nußschalen aus Skogalang. Sie alle waren sich über einen Punkt einig: daß eine Überfahrt zu den Gentebbi-Inseln ausgeschlossen war, selbst wenn der Wind sich drehen sollte. Man brauchte neue Masten, und eines der beiden Segelschiffe mußte dringend kielgeholt werden, damit man die Lecks ausbessern konnte.
»Mit anderen Worten: Wir müssen das von Vulkingern starrende Naaros betreten und unser Leben aufs Spiel setzen, um es dadurch vielleicht zu retten«, rief Pleiander hitzig. »Eure Feigheit und Widersprüchlichkeit stinken zum Himmel!« Mikalegon schnaubte wütend und griff zu seinem Dolch, doch schon war Airar dazwischen. »Nennt es, wie Ihr wollt, aber laßt uns nicht darüber in einen Streit ausbrechen, denn wenn wir uns mit Euch anlegen wollen, Meister Sternenhauptmann, müßt Ihr schon schwerere Geschütze auffahren als dieses eine Wort ›Feigheit‹. Nennt es meinetwegen Feigheit; der Herzog hat lediglich festgestellt, daß wir nicht segeln können, solange sich die Schiffe in diesem Zustand befinden. Aber können wir nicht versuchen, den Vulkingern ein Schnippchen zu schlagen, wie wir es schon in Lectis Mini na getan haben? Wir müssen es bloß schlau genug anstellen.« »Ihr habt gut reden – schlau genug anstellen! Und was ist mit dem überfälligen Patrouillenboot? Bei der Quelle! Wie soll man das bloß in die Schädel von euch Nordländern hineinkriegen, daß Krieg Tod bedeutet – Tod, Blutvergießen, Zerstörung! Habt ihr schon vergessen, was wir damals während des großen Festes geschworen haben?« »Da ging's um das Hohe Haus von Carrhoene, aber was hat das hiermit zu tun?« fragte Rogai. »Schlagt Ihr noch immer vor, dorthin zu segeln? Mich nennt Ihr unbesonnen, dabei grenzt es an Wahnwitz, wenn Ihr, da die Überfahrt nach Gentebbi schon unmöglich ist, die ungleich beschwerlichere Reise nach Carrhoene vorschlagen wollt!« »Meister Rogai«, mischte sich Airar ein, »darf ich
auch etwas sagen? Jetzt frage ich Euch, Meister Pleiander: Wißt Ihr einen besseren Plan als den, nach Naaros zu segeln und zu versuchen, die Vulkinger übers Ohr zu hauen – indem wir so tun, als brauchten wir ihre Hilfe?« »Und ob ich den habe; meiner ist sogar hundertmal besser! Bald bricht die Nacht an; es wird noch eine Weile dauern, bis sie das Patrouillenboot vermissen. Laßt uns an Land gehen, an der Küste entlang zur Stadt marschieren, sie angreifen und im Sturm nehmen. Unser Schiff hat einen gebrochenen Mast; wir benutzen ihn als Rammsporn und sprengen damit das Stadttor auf.« Herzog Mikalegon zupfte sich am Bart und murmelte: »Er hat recht. List und Tücke sind was für Weiber.« »Wir vernichteten eine ganze Abteilung von ihnen mit kaum mehr als sechzig Mann«, meinte Alsander nachdenklich, »mehr als vier Abteilungen dürften kaum in der Stadt sein, und jetzt sind wir mehr als vierhundert.« Bei diesen Worten änderte sich Rogais Miene. Evimenes schnippte mit den Fingern: »Dazu kommt noch, daß es dunkel ist; ein Überraschungsangriff bei Nacht – damit schaffen wir es bestimmt.« »Nun denn, liebe Freunde«, sagte Airar, »sind wir damit nicht fast alle der Meinung, daß dies die geeignete Stunde zum Losschlagen ist, da nichts anderes uns weiterbringt?« »Bei Gott, ja«, stimmte Mikalegon zu. »Meister Pleiander«, fuhr Airar fort, »gebt zu, daß dies nicht die Sprache von Feiglingen ist!« Der Carrhoener schüttelte den Kopf, aber er reichte
Airar die Hand, und die Falten um seinen Mund zuckten. Damit war die Versammlung beendet, und sie machten sich auf der Stelle daran, den Abmarsch vorzubereiten. Die Zeit drängte jetzt, und trotz der anstrengenden Tage im Sturm gab es kaum einen, dessen Müdigkeit nicht sofort verflogen wäre, als der Plan verkündet wurde. Die Männer aßen hastig noch einen Bissen kalten Fleisches, holten ihre Waffen zusammen und versammelten sich in Windeseile am Flußufer. Es gab einen richtigen Streit darum, wer zurückbleiben mußte; keiner wollte bei den Schiffen bleiben und die Schlacht verpassen. Einen mußte Airar zum Hauptmann der Nachhut ernennen. Er wählte den langen Erb, der diesem Befehl nur unwillig grunzend nachkam. Sie landeten zwischen den Felsen der kleinen Bucht, und mit großer Mühe schleppten sie den gebrochenen Mast durch die dichte Baumreihe, die die von Naaros nach Skogalang führende Küstenstraße verdeckte. Mit dem Sturm auf See war starker Regen an Land einhergegangen, so daß der Boden sehr morastig war und ihnen das Vorwärtskommen erschwerte. Die Marschordnung war so ausgerichtet, daß die Männer aus Skogalang in der Mitte der Gruppe gingen und den Mast trugen, da ihre Bögen in der Dunkelheit ohnehin nicht von großem Nutzen waren. Airars Fischer hatten sich mit ihren Speeren unter die schwerbewaffneten Carrhoener gemischt, die in ihren Rüstungen wie Hummer vorankrebsten. Airar selbst marschierte mit der Vorhut. Dumpf dröhnten die Schritte der Männer in der Dunkelheit, und Airar hatte das Gefühl, als ließe die anfängliche Begeisterung nach und als mache sich immer mehr
Müdigkeit breit, je länger der Marsch sich hinzog und je beschwerlicher er wurde Doch dann ging es wie ein Ruck durch die Reihen, als sie nach einem kleinen Hain hinter einer Biegung die Stadtmauern auf Bogenschußweite vor sich sahen – auf der einen Seite die Zitadelle auf ihrem Felsen und davor das südöstliche Stadttor. In der Zitadelle brannte Licht Mauer und Tor waren dunkel, doch sollte dies nicht lange der Fall bleiben. Als sich die dunkle Menschenflut über den Weg ergoß und sich dem Tor näherte, stieß jemand am Fuß der Mauer einen Schrei aus, und von oben rief einer: »Wer da?« »Bordvins Geist!« schrie Rogai. »Er ist gekommen, um sich den Roten Baron zu holen!« Gleichzeitig erhoben die Angreifer einen dröhnenden Kriegsschrei und stürmten mit dem Mast auf das Tor zu. Vor dem äußeren Tor war ein leichtes Gitter. Es fiel klirrend zu Boden, als er von dem Mast gerammt wurde, und mit lärmendem Geschrei stürmten Airars Männer durch den Torweg. Oben schrie jemand mit gellender Stimme nach Fackeln, der Wache, Speeren und Bögen. Im Torweg war es stockfinster, aber in den Seitenmauern befanden sich Schießscharten, und an jede dieser Scharten postierte Airar je zwei Männer mit Speeren und gab ihnen den Befehl, sofort hineinzustoßen, falls sich dahinter Licht oder ein Gesicht zeigen sollte. Die Männer mit dem Mast drängten sich schwer atmend in den Torweg. »Hau ruck!« schrie Pleiander. Mit einem dumpfen Aufschlag rammte der Mast gegen das Tor. »Hau ruck!« Im Dunkeln sah Airar, wie die Männer den Mast zurückzogen und mit erneutem Anlauf gegen das Tor
rammten. Die Spitze prallte mit solcher Wucht gegen das Tor, daß sie splitterte; das Tor ächzte, aber es hielt. Ein oder zwei Männer gingen von der Wucht des Aufpralls zu Boden. Von weitem hörte man jetzt hastiges Fußgetrappel, der vulkingische Schlachtruf »A pax!« hallte gellend durch die Nacht, und mit einem dumpfen Geräusch landete der erste von oben geworfene Stein auf dem Boden. »Alle zusammen – haltet eure Schultern dagegen!« brüllte Pleiander, und seine Stimme hallte im Torweg wider. »Seid ihr von Kaninchen gesäugt worden? Hau... ruck!« Wieder schlug der Mast mit donnerndem Krachen gegen das Tor; zwar hielten auch diesmal die beiden Flügel und die Riegel, aber die Angeln waren der Wucht nicht gewachsen; das ohrenbetäubende Krachen berstenden Holzes erfüllte den Weg, als das Tor aus den Angeln fiel und wippend auf halber Höhe hängenblieb. Stolpernd und taumelnd brachen Dalekarlier, freie Genossen und Carrhoener in wildem Getümmel durch die Öffnung und ergossen sich auf den dunklen Vorplatz. Airar war einer der ersten. Bevor er sein Schwert ziehen konnte, war schon einer der Wachtposten heran und hieb mit dem Schwert nach ihm. Der junge Mann sah den verdeckten Hieb zu spät; er versuchte zu parieren, was auch noch halbwegs gelang, aber er konnte nicht verhindern, daß ihn die Klinge, wenn auch nur leicht, am Bein verletzte. Daß der Hieb nicht tiefer ging, hatte er Mikalegon von Os Erigu zu verdanken. Der Herzog, der hinter ihm stand, hob seine große Streitaxt und ließ sie auf den Arm des Angreifers hinabsausen. Die Schneide trennte den Arm glatt ab, und ein dicker Strahl Blut schoß aus der Wunde.
»Starrt nicht so darauf«, sagte der Herzog; »er ist ab, und damit fertig.« Airar sah, wie der Bursche zu Boden ging, als er losstürmte und laut »Ullu!« brüllte, den Schlachtruf Dalekarliens. Links von ihnen war ein Treppenaufgang, der zur Mauerkrone führte; dort hinauf stürmte jetzt Pleiander mit seinen Schwerbewaffneten, um die Mauertürme einzunehmen, während der größere Teil der Angreifer Airar, Rogai und Mikalegon und Oddel in die Straßen nachfolgte. Waffengeklirr klang auf, als die Bogenschützenwache der Vulkinger angerannt kam. Aber es waren zu wenige, und überdies nicht gerüstet, um gegen schwerbewaffnete Angreifer ankommen zu können. Im Handumdrehen waren die Männer überrannt, und ohne auf weiteren Widerstand zu stoßen, flogen die Banner von Katze, Otter und Seeadler vorwärts durch die Straßen. Überall gingen die Fensterläden auf, die Leute steckten die Köpfe aus den Fenstern und schrien »Ullu, Ullu!« »Zum Marktplatz!« rief Rogai. »Was glaubst du, wohin ich sonst will?« fragte Airar zurück. Auf dem Marktplatz steht die Statue von König Argimenes, der sein sagenumwobenes Schwert erhoben hält. Auf diesem Platz begannen jetzt Leute mit Fackeln zusammenzulaufen, viele noch ungläubig, daß tatsächlich dalekarlische Rebellen in der Stadt waren, und es für irgendein abgefeimtes Spielchen der Vulkinger haltend. Jemand zündete ein Feuer an; und als die Leute sahen, daß tatsächlich keine vulkingische List im Spiel war, kamen auch die Zweifler aus ihren Häusern gelaufen, um sich auf dem Marktplatz einzufinden. Manche hatte sogar ihre sorgsam versteckten blanken Waffen bei sich. Binnen kürzester Zeit
hatte sich die halbe Stadt vor dem Feuer auf dem Marktplatz eingefunden; Unbekannte schüttelten sich begeistert die Hände, verbrüderten sich auf offener Straße, und bald hallten längst vergessene Lieder aus den alten Zeiten durch die Straßen der Stadt: Vorwärts, o Freunde, auf blutiger Bahn! Der Wolf von Dalarna uns eilet voran. Unser Führer ist Gott, Der uns hilft in der Not. Auf, fliegender Wolf, bring den Heiden den Tod! Unerhörtes geschah in jener Nacht in Naaros: Türen wurden eingeschlagen, Verbündete der Vulkinger aus ihren Betten gezerrt und verprügelt, ihre Habe flog aus den Fenstern auf die Straße. Airar hatte alle Hände voll zu tun, die Männer zur Besinnung zu rufen; Mikalegon und Rogai wüteten wie die Wilden, und die Carrhoener waren um keinen Deut besser. Pleiander wenigstens kühlte sich so weit ab, daß ihm zu Bewußtsein kam, daß die Zitadelle, die droben auf ihrem Felsen thronte, noch immer nicht eingenommen war. Zusammen mit einer Gruppe seiner Sergeanten und zahlreichen Leuten aus der Stadt marschierte er an der Einfriedung auf, die sonst die Zitadelle von der Stadt abschloß, nun jedoch die Stadt von der letzten Zuflucht der Vulkinger. Ein Bote wurde losgeschickt, um den Schwarzen Gallil zu suchen; ein weiterer, der die Schiffe mit den Frauen zu den Kais bringen und den Damen einschärfen sollte, auf keinen Fall an Land zu kommen. Als der Morgen schon zu grauen begann, saß Airar von Trangsted am Fuß der Statue von König Argimenes zu Gericht;
mehrere Bürger hatten sich zu ihm gesellt, um ihn dabei zu unterstützen. Eh er sich's versehen hatte, war er nämlich kurzerhand zum Richter ernannt worden, als er ein paar erboste Bürger davon hatte zurückhalten wollen, einen Mann, den sie als bezahlten Spitzel der Vulkinger erkannt zu haben glaubten, an der Spitze von König Argimenes' bronzenem Schwert aufzuknüpfen. Jemand drückte ihm einen Becher Schnaps gegen die Kälte und die Müdigkeit in die Hand. »Der nächste«, rief Airar. »Dieser Kerl hier ist Lavén ›Langzunge‹ Havaldson, ein Verbündeter der Vulkinger; hat damals bei der Schlacht am Dammweg mitgemacht, als Salmonessa besiegt wurde.« »Wer sagt, daß er ein Verbündeter der Vulkinger ist?« »Ich.« Einer der umstehenden Bürger zupfte Airar am Ärmel. »Der Mann ist der Bruder der Frau dieses Lavén, und er kann seinen Schwager nicht ausstehen.« »Ich ordne an, daß Lavén zwei Tage lang festgehalten wird, bis sein Fall vor einem regulären Gericht unter Zeugen verhandelt werden kann.« »Was ich gegen ihn vorzubringen habe, kann ich auch hier an Ort und Stelle bezeugen«, schrie der Ankläger. »Und wie wollt Ihr das beweisen? Wart Ihr etwa auch als Verbündeter der Vulkinger damals bei der Schlacht zugegen?« Ein Pfeifen und Zischen erhob sich aus der Menge, Lavén wurde abgeführt, und gleich darauf wurde schon der nächste nach vorn gestoßen, dem Aussehen nach ein echter Vulkinger. Er
winselte, er sei zwar Vulkinger von Geblüt, aber ein Morarday, ein einfacher Wollhändler aus Mariupol, und er habe geschäftlich in der Stadt zu tun. »Wollhändler? Ein Spion ist er!« schrie einer, und ein anderer: »Aber er hat einen guten Preis gezahlt!« Der Fall schien Airar schon unlösbar zu sein, als plötzlich Rogai vortrat und den Mann einen Augenblick anstarrte. »Ha, ha, ha, du bist mir doch schon mal über den Weg gelaufen, Bürschchen«, rief der Bergjäger. »Du warst Hauptmann und Deserion bei Vicomte Iselé; du warst damals bei dem Massaker in Mariupol dabei und später im Haus von Madame Schlitzgurgel, stimmt's? Und sicherlich kannst du dich auch noch daran erinnern, daß du dieses Haus damals ohne Wams und Abzeichen verlassen hast – die habe ich jetzt nämlich.« Er nahm einen tiefen Schluck Schnaps. »Auf deinen Hals! Lange wirst du ihn nämlich nicht mehr haben. Meister Airar, dieser Kerl ist Mitglied der vulkingischen Armee, ganz offensichtlich ein Spion. Das kann ich beschwören.« »Enthauptet ihn!« befahl Airar. Der Kerl begann auf der Stelle zu winseln, er habe unter Befehl gehandelt und nicht aus freiem Entschluß. Als das nichts fruchtete, schrie er, man solle einen Priester kommen lassen, der ihm den himmlischen Trost spende. Rogai erwiderte etwas mit spöttischem Grinsen. Airar glaubte, für einen kurzen Moment einen der Söhne Viclids in der Menge gesehen zu haben, und fragte sich, was der alte Nachbar jetzt wohl denken würde, wenn er ihn so sähe. Aber für solcherlei Gedanken war jetzt keine Zeit, denn schon wurden die nächsten beiden Angeklagten unter Püffen und Knüf-
fen der wütenden Menge nach vorn gezerrt. Als er sie anblickte, stockte ihm der Atem, und drei Nächte schlaflosen Kampfes senkten sich wie eine bleierne Last auf seine Schultern und Lider Durch den Nebel, der sich vor seine Augen legte, sah er Alvar Airarson von Trangsted – seinen eigenen Vater, zusammen mit Tholo, seinem Onkel. Airar erhob sich; der Schnaps machte ihn schwanken, die Wunde in seinem Bein brannte wie Feuer, und als er an sich herunterblickte, sah er im heller werdenden Morgenlicht, daß er über und über mit Schmutz und Blut besudelt war. »Genug der Urteile für heute«, stammelte er, »dies sind Verwandte von mir, und über Verwandte läßt sich nicht gut richten. Gibt es irgendwo in Naaros ein freies Bett?«
35 Naaros: »Ich bin frei!« »Ich habe immer danach gestrebt, dir ein guter Vater zu sein, Airar«, sagte der alte Mann. »Deine Mutter wäre sehr traurig, wenn sie dich jetzt so sähe.« Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick; seine Kleider waren zerrissen, seine Wangen mit grauen Bartstoppeln übersät, und er erschien viel kleiner und weißhaariger, als Airar ihn in Erinnerung hatte. Doch die Art und Weise, wie er sprach, war die gleiche geblieben; Wut stieg in Airar hoch, als ihm mit einemmal bewußt wurde, daß der Schauer, der ihm über den Rücken lief, nichts anderes war als die Angst, gleich von seinem Vater eins hinter die Ohren zu bekommen. Zähneknirschend sagte er: »Ich bin nicht der Ansicht, daß es um mich so schlecht steht; wäre es anders gewesen, dann stände es um dich selbst jetzt nicht so schlecht.« Alvar Airarson streckte seine runzlige Hand vor. »Mein Sohn, mein Sohn, du bist noch zu jung, um die Dinge zu erkennen. Du fandest es unklug von mir, den Hof aufzugeben; doch sieh, wohin es dich gebracht hat, daß du darauf beharrtest zu bleiben. Soweit ist es nun also gekommen, daß du ein Ausgestoßener bist, ein Rebell, der offen gegen unseren verehrten Grafen kämpft, der unter der Acht des Reiches steht. Ich weiß nicht einmal, ob Leonce Fabrizius, der doch soviel Einfluß in Briella hat, noch etwas für dich tun könnte, damit man dich begnadigt.« »Ich pfeife auf die Gnade von ihm oder seinesgleichen! Fabrizius und Leute seines Schlags jagen wir
zum Teufel – ja, und auch deinen geliebten Grafen, der sich nicht scheut, in seinem Namen Kinder umbringen zu lassen.« Der alte Mann stieß einen tiefen Seufzer aus, wie jemand, den man eine zu schwere Last aufgebürdet hat. »Airar, glaub mir und hör auf mich; du solltest dich einem Priester anvertrauen oder vielleicht für eine Weile ein Kloster aufsuchen und dort Buße tun. Weißt du denn nicht, daß all diese schlimmen Geschichten über Mord und andere Missetaten nichts anderes sind als grobe Lügen, die von jenen bösen Menschen in die Welt gesetzt wurden, mit denen du dich eingelassen hat, die den Frieden der Quelle gebrochen haben, so wie diese Mordgenossen aus Os Erigu, die nichts sind als Diebe und Räuber; oder diese Rebellen aus Carrhoene, die in ihren Städten wieder die alten, schlimmen Zustände errichten wollen, wo nur ein paar wenige Macht und Reichtum haben und niemand vor ihren Willkürakten sicher ist?« Airar schnaubte verächtlich. »Herr«, sagte er, »es scheint nicht gerade, als wären unter Vulk alle so gleich, wie immer behauptet wird.« »Nur die sind frei, die sich nicht jener Woge widersetzen, die alle unsere Gebrechen von morgen heilt. Alle anderen sind Verräter am Volk und an ihren Mitmenschen. O Airar, mein lieber Sohn, wie gern würde ich dich überzeugen. Mit wie vielen Freunden habe ich mich überworfen, und wieviel habe ich erdulden müssen, oftmals dem Tode nahe! Und wofür all dies? Doch nur für dich – um dir einen Platz zu schaffen in jener neuen Welt, in der Vulkinger und Dalekarlier wieder ein geeintes Volk sind. Enttäusch mich nicht; alle meine Hoffnungen ruhen auf dir, seit
du ein Kind warst.« Airar wurde von einer Woge schwarzer Verzweiflung gepackt. Briella! Und es gab noch so viel zu tun! Er ließ den Blick durch die kleine Kammer mit dem steinernen Fußboden schweifen. »Herr, Ihr seid mein Vater, und ich liebe Euch nicht weniger, als ich meine Mutter geliebt habe. Ich werde später erneut nach Euch schicken lassen. Vor der Tür steht eine Wache, um Euch zu beschützen.« »Und um aufzupassen, daß ich nicht fliehe«, seufzte der alte Mann und spreizte die Hände vor. Doch nun war erst einmal anderes wichtiger; der Schwarze Gallil war eingetroffen und machte ein ziemlich düsteres Gesicht. Sogleich wurden die Führer zu einer Beratung zusammengerufen. Pleiander war bei bester Laune, würde doch seine hervorragende Rolle bei der Einnahme von Naaros als mindestens so ruhmvoll wie bei der berühmten Belagerung von Poliolis, der die fünf Sternenhauptmänner den Löwenanteil ihres Ruhms verdankt, in die Annalen des Kriegswesens eingehen. Alsander war da weitaus zurückhaltender; als der Schwarze Gallil tadelte, ihr Handstreich habe die Stadt in eine nicht zu unterschätzende Gefahr gebracht, nickte er zustimmend mit dem Kopf. »Mag sein; aber wir befinden uns im Krieg, und wir vergeuden alle Energie, wenn wir immer bloß vorsichtig sind und Zurückhaltung üben. Das schwächt auf die Dauer nur den Kampfgeist der Männer. Laßt uns jetzt nicht ins Lamentieren und Bedauern verfallen, sondern überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen.« »Ich schlage vor«, begann Pleiander, nie um einen
Plan verlegen, »daß Ihr, Gallil, so schnell wie möglich die ganze Provinz zu den Waffen ruft. Dann können wir der Welt die Stirn bieten. Wir beherrschen die Meere und haben das Geld einer großen Handelsstadt. Damit ist...« »Wo wir gerade davon sprechen«, unterbrach ihn Evimenes; »wir Brüder sind immer gute Kameraden gewesen, ohne auch nur einmal auf die Erfüllung des Vertrages zu drängen, der uns überhaupt erst hier in den Norden verschlagen hat. Aber jetzt, wo ihr Dalekarlier durch die Beschlagnahme der Kasse eurer Feinde über reichlich Geld verfügt, finde ich, daß es an der Zeit ist, auch einmal über Bezahlung zu sprechen.« Alle Augen richteten sich auf Alsander, der den Blick senkte, ohne jedoch seinem Bruder zu widersprechen. Rogai ergriff als erster das Wort: »Ich sage rundweg nein; nicht, was Euren Zahlungsanspruch betrifft, Meister Evimenes – ich selbst half mit, daß der Vertrag zustande kam, und ich werde auch dafür sorgen, daß er erfüllt wird; nur keine Angst. Aber wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen, nämlich einen exakten Kriegsplan. Ich bin dagegen, hier auf einen Angriff zu warten. Auf lange Sicht ziehen wir damit den kürzeren. Ich schlage statt dessen vor, den Eisernen Ring zu den Waffen zu rufen – ganz Skogalang, Hestinga, die Weißflußtäler. Eines Tages müssen wir das ohnehin tun, und einen günstigeren Zeitpunkt als den jetzigen, wo der Feind mit dem größten Teil seiner Streitmacht im Norden festsitzt, werden wir nie wieder finden. Dazu kommt noch, daß Sir Ludomir uns von Übersee her unterstützen kann.« Der lange Erb räusperte sich. »Meine Herren, ich
bin zwar kein großer Kriegsplaner, aber ich finde, am besten ist, wir gehen nach Gentebbi, wie es schon einmal vorgeschlagen worden ist. Wo sind die Männer, die wir brauchen, um gegen alle diese Tercias ankommen zu können, sei es nun in der Stadt oder in der offenen Feldschlacht?« »Herr«, entgegnete der Schwarze Gallil, »ich kenne Euren Namen nicht, aber das, was Ihr sagt, ist völlig richtig. Wir sind einfach zu gering an Zahl. Wir könnten vielleicht in den Wäldern von Skogalang gegen den Feind kämpfen oder auf den Höhen des Schweinerückens, aber was wird aus dieser tapferen Stadt? Ich befürchte, noch bevor wir diese Suppe, die ihr uns mit eurer Unüberlegtheit eingebrockt habt, ausgelöffelt haben, verfaulen schon die ersten Köpfe auf Pfählen über dem Stadttor.« Bis zu jenem Augenblick hatte Airar nur zugehört, ohne sich selbst in die Debatte einzuschalten. Doch als er nun seine Stimme gegen diesen entmutigenden Ratschlag erheben wollte, kam ihm schon der Herr von Os Erigu zuvor, der laut herausplatzte: »Bah! Ihr Dalekarlier mit eurem ewigen Brabbel-BabbelHickhack um Eure Versammlungen und Schlachtpläne! Selten habe ich Menschen weniger aus ihren Erfolgen machen sehen als euch! Was wollt ihr denn mehr? Ihr habt eine große Stadt eingenommen, mit manch einem tapferen Herzen und manch einer tapferen Hand, die euch helfen können, sie auch zu halten. Os Erigu hat sich hundert Jahre lang gehalten, und das mit weit weniger Mitteln!« Er schneuzte sich mit Daumen und Zeigefinger. »Und warum? Weil mein Urgroßvater sich einen Dreck um Versammlungen scherte und ganz einfach Herr im eigenen Haus
war, der selber bestimmte, was zu geschehen hatte, einmal abgesehen davon, daß es jedem freistand, den freien Bund zu verlassen, wann immer er wollte. Was ihr braucht, ist ein Herzog, ein Führer, einer, der euch sagt, was ihr zu tun habt; leider bin ich selbst nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem meine Vorväter waren, und so sage ich euch, ihr könnt gar nichts Besseres tun, als den jungen Meister Airar hier zu wählen. Er kann euch vielleicht sogar ein bißchen kaiserliche Unterstützung verschaffen, über diese Prinzessin ›Hab'-den-Namen-vergessen‹, um die er immer mit verliebten Augen herumscharwenzelt.« »Ach, nein«, stotterte Airar verlegen und um den Bescheidenen herauszukehren, aber Evadne fuhr gleich dazwischen: »In unserem Lande ist es nicht üblich, einen einzelnen zum Führer zu machen, nur zu schnell schwingen sie sich nämlich zum Tyrannen auf, so wie dieser Sthenophon. Es ist eine sehr weise Regel, daß jeder eine Stimme bei den Abstimmungspunkten hat, die alle betreffen, außer, wenn wir uns in bestimmten Situationen dem Wissen eines einzelnen beugen, wie zum Beispiel Pleiander, wenn es um eine Belagerung geht.« »Ja – weise für Carrhoener!« schrie Rogai wütend, und Airar merkte sofort, daß es diesmal Mikalegon war, der den Jäger mit seinen Argumenten beeindruckt hatte. Doch ehe wieder Gezänk losbrach, mischte sich der Herzog erneut ein: »Hört«, rief er, »was ich zu sagen habe, ist schnell gesagt. Vor ein paar Minuten noch ging es darum, daß die Carrhoener für ihre Dienste bei den Dalekarliern bezahlt werden wollten. Recht so; Vertrag ist Vertrag. Aber mir scheint, daß der Mietling sich selbst zum Tyran-
nen macht, wenn er dem, der ihn bezahlt, vorschreiben will, was er zu tun hat. Ist es nicht so, altes Knochengerippe?« Alsander nickte schmollend. »Du hast in gewisser Hinsicht recht, aber...« Er hielt inne, als Gallil die Hand hob, um zu sprechen. »Alles, was ihr gesagt habt, hat etwas Richtiges an sich, und ich will nicht in Frage stellen, daß Meister Airar sich zu einem hervorragenden Hauptmann entwickelte. Ich will ihm auch unterstellen, daß seine Ziele aufrichtig sind, und auch sein großes Geschick will ich nicht bezweifeln, aber es gibt da einen dunklen Fleck, den wir nicht hinwegreden können – nämlich, daß sein Vater ein Verbündeter der Vulkinger ist. Der Eiserne Ring wird ihn daher niemals als Oberbefehlshaber akzeptieren. Ich schlage euch statt dessen Meister Rogai vor.« Meliboë saß bei ihnen, Airar sah, wie der Zauberer sich anschickte zu sprechen, doch kam ihm Rogai zuvor: »Nein. Der Eiserne Ring wird auch mich nicht haben wollen, denn ich bin nicht geeignet zum Herzog und will es auch nicht sein. Airar ist der Passendste von uns allen; er ist der beste Heerführer, und er ist am wenigsten von uns allen in irgendwelchen Intrigen verstrickt. Und außerdem ist er Zauberer. Nun hört, was ich Euch zu sagen habe: Ich schwöre hiermit, Airar Alvarson zu folgen, bis dieser Krieg zu Ende ist, und wenn nötig, auch länger. Ich schwöre dies in meinem Namen und im Namen des Ringes von Mariola, Mariupol ausgenommen, denn die Stadt gehört nicht zu meinem Bezirk. Wer schließt sich mir an?« Er legte seine Hand in die Airars, der fühlte, wie
ihm die Brust schwoll. »Ich schwöre dasselbe für Norby«, rief Oddel, und: »Ich für die Gentebbi-Inseln, soweit ich das Recht dazu habe«, schloß sich der lange Erb an. Nun konnte sich auch Gallil nicht ausschließen. Während er schwor, schossen seine Blicke nervös von einem zum andern, und Airar wurde klar, daß er entweder neidisch auf ihn war oder sich fürchtete, Airar würde ihn dafür bestrafen, daß er ihm einst Prügel und Folter angedroht hatte. »Ich, der ich nur wenig über solche Dinge Bescheid weiß«, sagte Airar, »muß einen Hauptbevollmächtigten haben für solche Dinge wie Gerichte und Verwaltungen in der Stadt und in Västmanstad, und deshalb möchte ich nun, da ihr mich zu eurem Führer gewählt habt, als erstes einen von euch dazu ernennen, und zwar soll es Gallil sein.« Die Züge des Genannten entspannten sich ein wenig – schließlich und endlich war er ja auch ein guter Hauptmann! Man ließ eilig Becher und Met holen, und dann tranken die Männer auf den Ring und den Eid, während Airar seinen Schlachtplan darlegte, nicht ohne von jedem einzelnen Rat einzuholen. »Ich bin«, hub er an, »Mikalegons Ansicht, was die Stadt Naaros anbetrifft: Sie aufzugeben, hieße, alle Zweifelnden auf die Seite der Vulkinger zu drängen. Aber eine Belagerung? Meine Herren, wir kämpfen doch, damit Dalekarlien lebt! Hier stehenzubleiben bedeutet seinen Tod, denn die Stadt würde mit Sicherheit dem Erdboden gleichgemacht, viele Menschen würden getötet oder verwundet, die in der offenen Schlacht davonkämen. Ich will aber keinen in diesen Krieg hineinziehen, der dies nicht aus freien Stücken tut.«
»Brav gesprochen«, rief Alsander lobend, »und ich will dem noch eines hinzufügen: Liegt nicht die Stärke Briellas gerade auf dem Schlachtfeld, und müssen wir es nicht gerade dort schwächen? Dies wird uns nicht gelingen, wenn wir uns hier in der Stadt einschließen lassen. Meister Airar?« »Was das anbetrifft«, sagte Airar, »so ist mir folgendes aufgefallen – und zwar jedesmal, seit wir mit Herzog Roger damals von Markshaun in die Schlacht am Dammweg zogen: Die Feinde haben nämlich eine ganz bestimmte Schlachtordnung – sie marschieren so auf, daß Leichtbewaffnete zusammen mit Leichtbewaffneten sind und Schwerbewaffnete mit Schwerbewaffneten, während wir noch immer nach Provinzen geordnet vorrücken. Wenn ich Euer Anführer bin, will ich das abschaffen, erst recht, wo wir doch unter uns genügend erfahrene Hauptmänner für jeden Flügel besitzen. Hiermit ernenne ich somit Rogai zum Hauptmann der Bogenschützen; er soll alle jene anführen, die einen Bogen tragen oder einen leichten Speer, ob sie nun aus Skogalang oder aus Mariola kommen, aus Gentebbi oder aus Korsor. Evimenes hingegen soll die Lanzenträger führen, denn darin hat er große Erfahrung. Und ihr Hauptmänner aus Carrhoene sollt die Abteilungen unter ihm anführen. Euch, edler Herzog, vertraue ich die schwerbewaffneten Fußtruppen an, also alles, was Speere und Äxte mit sich führt.« »Und was ist mit unserem Bruder Pleiander?« fragte Evimenes. »Ah! Auch ihn habe ich nicht vergessen. Habt Ihr bemerkt, daß sich diese Vulkinger, wenn sie auf dem Schlachtfeld von Reitern bedrängt werden, sofort zu
festen Blöcken zusammenschließen, wie eine lebendige Festung? Ich hatte zuerst daran gedacht, daß wir diese Blöcke vielleicht mit Hilfe von Bogenschützen aufreiben könnten. Aber meint Ihr nicht auch, Meister Pleiander, daß man Maschinen bauen sollte, ähnlich jenen, die wir auf den Mauern benutzten, aber leicht genug, um sie aufs Schlachtfeld mitzunehmen und diese Festungen aus Fleisch damit zu zerschmettern?« Nun begannen alle, über dieses und jenes zu reden, und manch einer fragte sich, wie wohl Meister Soundso aus Shalland, der ein Axtkämpfer war, damit zurechtkäme, sich plötzlich unter dem Kommando von Herzog Mikalegon, dem ehemaligen Erzfeind seines Landes, wiederzufinden. Die meisten jedoch bekundeten Airar ihre Zustimmung für seinen Vorschlag, die Schlachtordnung neu einzuteilen. Und so herrschte eigentlich Zufriedenheit, bis schließlich Gallil die Stimmung wieder trübte, indem er abrupt sagte: »Alles schön und gut, und fast sehe ich schon Vulk den Unvernünftigen vor mir, wie er an einem Strick vom Tor seines eigenen Palastes baumelt. Nur eines ist mir leider noch nicht ganz klar: Wo sollen wir denn bitte schön diese große Armee herkriegen, die Ihr hier schon so unbeschwert und leichthändig in die Schlacht führt?« Das führte sie, wie schon erwähnt, sehr rasch auf den Boden des Alltags zurück, und sie machten sich ans Rechnen. Etwas mehr als vierhundert Mann waren mit den Schiffen gekommen. Gallil war jedoch der Ansicht, daß sie sich nicht besonders gut auf den Umgang mit Waffen verstanden. Hätte sich die Revolte erst einmal herumgesprochen, dann würde man aus der Provinz Västmanstad mit Sicherheit viermal
so viel erstklassige Kämpen zusammenbekommen können, und dazu noch ein paar mehr, die vielleicht nicht ganz so waffenkundig und kampferprobt waren. Das Umland würde nicht viele Krieger liefern können, da zu viele Bauern von den Vulkingern vertrieben worden waren. Mariola war von Iselé derart verwüstet worden, daß es sich, auch wenn der Eiserne Ring dort sehr stark war, in einem schlimmen Zustand befand. Skogalang war zwar nicht sonderlich menschenreich, aber seine Waldmeister galten in der Mehrzahl als so erfahrene Jäger, daß jeder von ihnen doppelt zählte; diejenigen aus Skogalang, die sie jetzt schon bei sich hatten, sagten, daß man dreizehnhundert Mann sofort aufbieten könne und noch einige mehr, sobald erst einmal die Kriegsfackel erhoben wäre. Was Gentebbi betraf, tappte man völlig im dunkeln; seine Fischerboote waren den ganzen Winter über nicht nach Naaros gekommen. Als man alles zusammengerechnet hatte, stand fest, daß zumindest genügend Männer zusammenkämen, um es mit einer Tercia aufnehmen zu können, vielleicht auch mit zweien, wenn der Baron, der sie kommandierte, ein Dummkopf war und m a n die Überzahl durch Geländevorteile oder einen günstigen Zeitpunkt zum Angreifen wettmachte. Die Führer schauten einander an; schließlich kam Airar mit dem Vorschlag, mit allen Truppen über die große Straße nach Norden in die Weißflußtäler zu ziehen. Die Schluchten und Engpässe dort würden es ihnen leichter machen, gegen die Übermacht der Vulkinger anzukommen. Auch würden sich in jener Provinz genug Männer bereitfinden mitzumachen, und so brauchten sie eine zweite Tercia nicht länger zu fürchten.
»Und was, wenn sie über den Umweg durch Markshaun, Mariupol und die südliche Küstenstraße nach Naaros marschieren?« fragte einer. »Dann wird Hestinga uns rechtzeitig warnen.« »Nein«, rief Airar und hielt einen Augenblick lang die Hände erhoben, um die anderen zum Schweigen zu bringen, während er sich angestrengt bemühte, den Gedanken, der ihm schon die ganze Zeit über im Kopf herumspukte, auszudrücken. »Hestinga muß sich ebenfalls erheben und gemeinsam mit den anderen Provinzen Glück und Leben riskieren. Alsander hat recht – wir dürfen niemals die Schlacht aus den Augen verlieren, und ich sehe keine Möglichkeit, wie wir jemals die Vulkinger ohne eine starke, gut bewaffnete Reiterei besiegen sollen; denn unsere schwerbewaffneten Fußsoldaten sind weder von der Anzahl noch von der Erfahrung her den Feinden ebenbürtig, die ja ihr ganzes Leben mit nichts anderem verbringen.« An dieser Stelle bemerkte Gallil trocken, daß er das meiste dieser Diskussion doch schon einmal gehört habe – nämlich in der Taverne ›Zum alten Schwert‹, hier, in derselben Stadt, vor langer Zeit. Damals schon sei der Vorschlag gemacht worden, die mittleren Provinzen zu den Waffen zu rufen, und schon damals sei dieser Vorschlag abgelehnt worden, und zwar aus schwerwiegenden Gründen: »Und trotzdem ohne Zweifel eine Fehlentscheidung!« Da sagte der Zauberer Meliboë versonnen, aber doch laut genug, daß jeder ihn hören konnte: »Da habt Ihr den Nagel auf den Kopf getroffen, lieber Freund, auch wenn Ihr es vielleicht etwas anders gemeint habt. Wenn uns ein Irrtum unterläuft, taucht
dasselbe Problem mit Sicherheit irgendwann einmal erneut vor uns auf – in dieser Welt oder in einer anderen –, bis es richtig gelöst wird. Und hierin liegt der tiefere Grund dafür, daß so viele Ereignisse so sehr denen ähneln, die längst vergangen sind. Denn Gott oder die Götter wollen, daß die Völker ihre eigene hohe Stufe erklimmen, wo alles richtig gemacht wird. Und daher müßt ihr Dalekarlier jetzt die Entscheidung korrigieren, die vor langer Zeit zu der Schlacht bei den Roten Hügeln führte, jener Schlacht, in der Kaufmann und Bauer nicht zusammen kämpfen wollten. Desgleichen jene spätere Fehlentscheidung, die dazu führte, daß sich nicht alle ausnahmslos erhoben, als Mariupol zu den Waffen rief. Und so plage auch ich, ein Stassianer, mich damit herum, daß ich einmal geglaubt habe, Vulks Herrschaft würde uns alle vorwärtsbringen. Wer diese Götter allerdings sind, von denen ich spreche das kann ich euch auch nicht sagen, und auch nicht...«, hier sank seine Stimme zu einem unverständlichen Gemurmel. Durch Airars Kopf schoß der Gedanke an Gython und Argyra. Rogai sagte, es wäre nicht nötig, jetzt überstürzt in die Weißflußtäler aufzubrechen; es daure ohnehin bestimmt einen Monat, bis Vulk in Lectis Minima von dem Fall der Stadt Naaros erführe: »Und sollen wir daraus nicht irgendeinen Nutzen ziehen? Ich meine, mit denen von der Zitadelle; wir könnten ihnen eine goldene Brücke bauen, sie unbehelligt mit einem Schiff zum Grafen fahren lassen, wo sie ihm berichten, wir wären nicht viel mehr als eine kleine Bande von Freibeutern. Wenn er das hört, kommt er schnell herbeimarschiert, aber natürlich mit einer viel kleineren Truppe als tatsächlich nötig; oder vielleicht
schickt er uns auch einen kleinen Baron her, den wir genüßlich verspeisen können.« Meliboë bezweifelte, daß der Vicomte, der das Kommando über die Burg hatte, so leicht übers Ohr zu hauen war; aber Airar war der Meinung, daß man es zumindest einmal versuchen könne. Damit war die Beratung beendet, und sie erhoben sich – die Unterführer, um sich sogleich daran zu machen, Männer zu rekrutieren, Truppen auszuheben, Waffen zu zählen, und Airar, um Prinzessin Argyra seine Aufwartung zu machen, die er, seit sie die Schiffe verlassen hatten, nicht mehr gesehen hatte. Alsander war schon da und unterhielt sich mit Aurea, die sich laut plappernd darüber beklagte, was für ein roher und ungehobelter Klotz dieser Erb doch sei. Airar fragte sich, wie jemand es überhaupt aushalten konnte, sich solches Geschwätz anzuhören, ohne daß ihm dabei übel wurde. Die dunkelhaarige Schwester bemerkte sein Unbehagen und zog ihn vom Kamin, wo die anderen saßen, fort an ein Flügelfenster, von wo aus man auf einen grünen Baum mit rosa Blüten blickte. Naaros hatte die beiden Kaisertöchter ihrem Stande gemäß untergebracht. So neugierig Argyra darauf war, Airars Abenteuer zu erfahren, so froh war er seinerseits, sie ihr erzählen zu können. Er fing dabei gleich von hinten an, nämlich damit, daß er nun oberster Führer im Kampf gegen Vulk und Sthenophon den Tyrannen war (wobei er klug genug war, das letztere besonders hervorzuheben). Doch je länger er erzählte, desto schweigsamer wurde sie, und als er schließlich geendet hatte, saß sie da, beide Hände in den Schoß gelegt, und seufzte tief. »Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte er unsicher.
»Wie kann ich das wissen? Ich mußte nur einen Augenblick an den Mann denken, den Ihr auf dem Platz enthaupten ließet, und keiner war da, ihm beizustehen, obwohl er nicht mehr und nicht weniger verbrochen hatte als Euer Vater auch.« »Wäre Euch lieber gewesen, ich hätte meinen Vater auf den Richtblock geschickt?« Er machte Anstalten aufzustehen. Sie drückte ihn sanft zurück. »Nein, natürlich nicht, das wißt Ihr ganz genau. Aber es ist in der Tat ein hartes Gesetz, das den einen bestraft und den anderen nicht – ein carrhoenisches Gesetz.« »Man hat mich von Kindesbeinen an gelehrt, daß es das erste und heiligste aller Gesetze ist, die zu ehren, die uns das Leben schenkten«, antwortete er, worauf sie erwiderte: »O ja, und wo Liebe ist, da bedarf es keiner Gesetze, denn Gesetze werden gemacht, um die Menschen von Taten abzuhalten, die mit der Liebe nichts gemein haben. Und doch meine ich noch immer, ist es ein harter Schritt, das Leben eines Menschen zu beenden, der nichts weiter tat, als seine Pflicht gegenüber seinem Grafen und seinem Staat zu erfüllen, so wie Alvar Airarson seine Pflicht seinem Sohn gegenüber erfüllte.« »Mit dem Unterschied, daß mein Vater nicht wußte, daß er etwas Schlechtes tat, während sich dieser Vulkinger darüber im klaren war, daß das, was er tat – was Ihr seine ›Pflicht‹ nennt –, verbrecherisch war...« Er hielt inne. »Argyra! Ich bin frei!« »Das zu hören macht mich froh. Doch wovon und wozu?« »Briella! Nein, es wird niemals Briella sein! Ich erkenne es nun ganz klar, und mein Vater hat doch
nicht recht. Ihr habt mich auf die richtige Spur gebracht. Graf und Staat – was ist ihr Graf anderes als ein Abbild des Staates? O ja, es ist gut, dem Willen der Allgemeinheit zu dienen, wie es der Deserion so schön ausdrückte! Aber wenn man Graf und Staat beiseite läßt, dann ist da noch eine dritte Hand im Topf, und der Staat ist nicht Diener, sondern Herr; denn seine Gesetze bestimmen, daß niemand ohne Not seinem Nachbarn Liebe bezeugen darf oder Großzügigkeit.« Sie hob die Hände vors Gesicht. »Wenn ich richtig verstehe, was Ihr sagt, dann kann es sein, daß Ihr recht habt. Auch die Einhornquelle ist in gewisser Weise so, jenes große Wunder, das allen soviel Freude und Nutzen brachte, als es entdeckt wurde, und das nun zu einem Ding geworden ist, das um seiner selbst willen verehrt wird, ohne daß jemand darüber nachdenkt, warum es wünschenswert sein sollte, über eine solche Quelle zu verfügen. Doch sprecht mit meiner Schwester darüber; sie versteht mehr von Politik als ich.« Es war ein Befehl. Er verschluckte die Worte, die er schon auf der Zunge hatte, um weiter in das Problem zu dringen, und begann statt dessen, vom Frühling in Västmanstad zu sprechen und vom Tanz um die Freudenfeuer in der Nacht der Sonnenwende der bis zum Morgengrauen ging. »... obwohl es schon lange her ist, daß ich es zum letztenmal erlebte, denn der Priester unseres Ortes war ein Vulkinger, der solcherlei Festlichkeiten als heidnische Bräuche ansah und daher nicht zuließ.«
36 Naaros: Pflicht Es kam so, wie Doktor Meliboë prophezeit hatte: Der Vicomte in der Zitadelle war so weit davon entfernt, die Burg räumen zu wollen, daß er sogar Speere nach der Trompete der Unterhändler werfen ließ. Und es kam auch so, wie Gallil prophezeit hatte: Die ganze Stadt Naaros strömte mit Feuereifer zu den Waffen, kaum daß zum Generalaufstand aufgerufen wurde – von Lehrburschen mit Knüppeln, denen man erst einmal den Umgang mit der Waffe beibringen mußte, bis zu beleibten Kaufleuten, die schon in den wilden Ländern des Südens gekämpft hatten, um ihre Güter zu retten, und die ihre Klingen nicht weniger geschickt handhabten als Evimenes. Es waren nicht gerade viele Waffen vorhanden. Doch in den Schmieden der Stadt brannten die Feuer bis tief in die Nacht, und in den Reeperbahnen war man eifrig damit beschäftigt, Sehnen für die Bögen zu drehen und Seile für Pleianders neue Maschinen, die er an der Zitadelle erproben wollte. Mit den Kriegsvorbereitungen lief alles nach Plan. Die Boten die von Norden her über die große Straße kamen, wußten nichts von Truppenbewegungen der Vulkinger zu berichten, und tagtäglich trafen neue Männer aus Skogalang ein, mit ihren Bögen und Köchern, die sie um die Schultern geschnallt hatten, ihren stählernen Kappen und ihren kleinen silbernen Flöten, zu deren martialischer Musik sie durch die Stadttore marschierten. Auch Västmanstad schickte seine Kämpen, größtenteils ältere Männer, die zu
zweit oder dritt eintrafen, alte Haudegen, die sich dem Druck der Vulkinger, ihre Höfe zu verlassen, erfolgreich widersetzt hatten. Einige von ihnen waren schon ergraut; sie konnten sich noch gut an die Schlacht bei den Roten Hügeln erinnern. Auch sie waren voll ausgerüstet und kampfbereit. Die ersten Mariolaner trafen kurz darauf ein. Sie waren meist arg zerlumpt und machten einen erbarmungswürdigen Eindruck. Auch fehlte es ihnen an Waffen. Keiner verübelte ihnen, daß sie am liebsten auf der Stelle die Zitadelle gestürmt und ihrer Besatzung genüßlich der Reihe nach das Lebenslicht ausgeblasen hätten, hatten sie doch am meisten unter der grausamen Herrschaft der Vulkinger leiden müssen. Airar unterstellte sie Mikalegon, wo sie die Hauptlast des Kampfes tragen mußten, und sie freundeten sich rasch mit der rüden Art des alten Rauhbeins an. Drei Wochen später kehrte das Schiff, das sie nach Gentebbi gesandt hatten zurück und brachte schlimme Kunde mit: Auf den Inseln ging alles drunter und drüber, halb Vagai war niedergebrannt worden, der größte Teil der Schiffe im Hafen versenkt, und von Rudr, dem Meisterfischer, keine Spur. Das Schiff brachte nichtsdestoweniger ein paar Männer mit, die Airars Leuten weinend um den Hals fielen und unter Tränen berichteten, wie schrecklich Marschall Bordvin in Vagai gewütet hatte. Als nächstes kam das erste Kontingent aus Hestinga: dreißig Mann aus dem Süden der Provinz, die alle ihre feurigen Rosse mitbrachten. Evimenes stand diesen zunächst mit gemischten Gefühlen gegenüber, doch bald hatte er sie schon in sein Herz geschlossen und pries sie über alle Maßen, indem er sagte, sie wären bessere Gentauren als die Gentauren.
Bald waren Tavernen und Häuser gefüllt, und die Stadt glich einem einzigen Heerlager. In den folgenden vier Tagen sollte sich die Welt völlig auf den Kopf stellen. Der erste Tag sah Airar zusammen mit seinen Freunden vor einem Tisch im Rathaus der Stadt stehen. Man hatte Sand auf die Tischplatte gestreut – ein Einfall der Carrhoener; ein Mann aus den Weißflußtälern malte gerade mit dem Finger den Verlauf der großen Straße nach Norden in den Sand und bezeichnete die Stellen längs der Straße, die sich am besten für einen Hinterhalt eigneten: »Schaut einmal, hier, in der Nähe von Torgsted...« – als plötzlich jemand in den Raum trat und meldete, es sei eine Delegation der Syndizi von Naaros da, die Airar zu sprechen wünsche, und zwar nur ihn allein. Wäre er damals schon erfahren in der Politik gewesen, hätte er sicherlich darauf bestanden, daß auch die anderen Hauptmänner an dem Gespräch teilnahmen. Aber er war eben noch ein junger Mann. Er entschuldigte sich bei den anderen und suchte die Männer auf. Es waren drei an der Zahl; ihr Wortführer war ein großer hagerer Mann, dessen Lippen sich ständig in dem erfolglosen Versuch kräuselten, so etwas wie ein überlegenes Lächeln zustande zu bringen. Seine Kleidung war von ausgesuchter Vornehmheit, und der ganze Kerl machte einen äußerst protzigen Eindruck. Airar hatte trotz seines Aufstiegs noch immer nicht so viel Selbstbewußtsein gewonnen, daß ihm das Erscheinungsbild eines solchen Mannes kaltgelassen hätte; er forderte die drei auf, sich zu setzen, und ließ Wein aus Uravedu heranschaffen. Man plauderte über das frühlingshafte Wetter und darüber, daß es in
der Stadt ziemlich laut herging, seit so viele bewaffnete Männer ein und aus gingen. Schließlich sprach Meister Protz (Airar hatte seinen Namen gleich wieder vergessen), als alle unverbindlichen Plauderthemen erschöpft waren: »In der Tat, Herzog Airar, wirklich eine große Menge bewaffneter Kämpen; die Stadt hat schwer daran zu tragen; und Nutzen und Gewinn haben wir nicht viel davon. Sie machen nichts als viel Geschwätz; zwar kaufen sie Waren, aber sie treiben ihre Preise hoch, indem einer den anderen überbietet, und so kommt es, daß das Geld immer mehr an Wert verliert. Der größte Teil von dem, was die Kaufleute durch diese Leute umsetzen, bringt kaum Gewinn. Sie kamen hierher ohne einen Aina in der Tasche, und nun nehmen sie Naaros' Silber, um es gleich darauf der Stadt über den Umweg des Kaufs wieder zurückzugeben.« »Das leuchtet ein«, antwortete Airar und fragte sich gleichzeitig, worauf, im Namen der siebzehn grünen Teufel, der Bursche hinauswollte. »Es ist immer dasselbe mit dem Krieg«, seufzte Meister Protz kummervoll und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Gewinnen tun daran nur solche Leute wie diese Söldner aus den Zwölf Städten, so wie an einer Gerichtsverhandlung schließlich und endlich nur die Advokaten verdienen.« »Ha, ha, ha«, lachten die beiden anderen mechanisch. Und Airar, dem das Gerede um den heißen Brei langsam auf die Nerven ging: »Auch für Söldner hat der Krieg nicht nur seine angenehmen Seiten; diese Carrhoener haben immerhin einen ihrer Brüder verloren, vergeßt das nicht.« »Ah, das ist genau der Punkt, über den wir mit
Euch reden wollten.« Meister Protz beugte sich vor und tippte Airar mit dem Finger aufs Knie; dabei verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen, das ihn aussehen ließ wie einen Flußdrachen. »Ich bin Obersyndikus der Wollgilde; die anderen zwei Herren hier vertreten die Gilde der Stockfisch..., äh, der Lederhändler. Aber auch wenn die Handelszweige, die sie vertreten, weit weniger wichtig sind als die Wolle, ha-ha-ha, so sind sie doch mit uns der Meinung, daß wir, die wir die Oberschicht von Naaros' blühendem Handelsgewerbe bilden, eine Pflicht und Verantwortung gegenüber der Stadt und darüber hinaus gegenüber ganz Dalekarlien haben – nämlich jene, dafür zu sorgen, daß der Handel weiterhin blüht und daß jeder weiterhin sein tägliches Huhn im Topf hat und unsere fleißigen Bürger ihr täglich Brot verdienen, um ihre Kinder ernähren zu können. Wir geben ja zu, daß die Forderungen des Grafen manchmal ein wenig unverschämt sind, denkt man etwa an die Mauersteuer und an die Faktoreien mit ihren Sklaven, deren Konkurrenz uns das Leben schwermacht...« Er hob die Hände, um Airar, der mit einer Miene des Protestes aufgesprungen war, zum Schweigen zu bringen. »... ich will sagen, sehr unverschämt. Und wir freuen uns ungemein darüber, daß Ihr gekommen seid, seiner Herrschaft ein Ende zu bereiten. Wir kommen jedoch nicht umhin festzustellen, daß die Herrschaft des Grafen uns Frieden, Ruhe und Ordnung garantierte, anstelle des Tumultes, der jetzt mehr und mehr um sich greift; und jeder, der mit Handel zu tun hat, wird Euch versichern, daß das der springende Punkt ist. Und als Händler, als ehrbare Kaufleute sind wir gekommen, Euch mit unserem Rat
zur Seite zu stehen, Meister Airar, nicht als schwertschwingende Recken. Ihr habt es weit genug gebracht, Herzog Airar; unser Rat ist: Laßt es nun genug sein und seht zu, daß wir alle unseren Nutzen daraus ziehen.« »Und wie soll ich das, bitte schön, anstellen?« fragte Airar spöttisch, der spürte, wie es in ihm zu kochen begann. »Nun, nichts leichter als das: Setzt dieser Schlächterei so schnell wie möglich ein Ende und sorgt dafür, daß die Beschlagnahmen von Waren aufhören, die letztendlich nur den Aufständischen von Nutzen sind. Was das Volk braucht, ist Frieden; Frieden und Sicherheit, die es einem jeden ermöglichen, zufrieden am Kamin zu sitzen und sich ein Auskommen zu schaffen und vielleicht auch ein kleines Vermögen, das er seinem Sohn hinterlassen kann. Diesen Zustand zu erlangen ist so einfach, und der Weg dahin liegt so klar auf der Hand, daß ich mich wirklich wundere, daß Ihr noch nicht von selbst auf diesen Gedanken gekommen seid. Oder vielleicht habt Ihr ja auch schon daran gedacht und wollt nur noch warten, bis die Stimmung dafür im Volk günstig ist, bevor Ihr damit beginnt. Schaut, Ihr seid Führer und Herzog der einen Seite, aber Euer Onkel, Tholo Airarson, genießt hohes Ansehen, sehr hohes Ansehen sogar, bei der anderen Seite... Eine Schande, daß wir Meister Fabrizius in dem Tumult verloren haben; er war ein vernünftiger Mann... Schön, man nennt zwar Graf Vulk den ›Unvernünftigen‹, aber nur im Scherz. Wir kennen ihn besser und messen ihn an seinen Taten. Er ist für vernünftigen Rat immer empfänglich, und wenn wir redlich mit ihm verhandeln, wird er si-
cher bereit sein, uns alles, was wir wirklich brauchen, vertraglich zuzusichern.« In Airars Kopf erklangen tausend Glocken. Einen Augenblick lang schwankte er, ob er den Kerl verprügeln sollte oder ob er sie alle aus dem Saal werfen sollte; doch bevor er seine Entscheidung getroffen hatte, blitzte in ihm die Erinnerung auf, wie Mikalegon und Rogai beide gesagt hatten, sie wollten ihn zum Führer haben, weil er von allen am ehesten einen kühlen Kopf bewahren konnte und sich am wenigsten in Streitigkeiten verwickeln ließ. »Das ist ein Plan, den ich noch gar nicht bedacht habe«, sagte er, sich zu Ruhe und Besonnenheit zwingend, »aber er ist von solcher Tragweite, daß ich unmöglich darauf eingehen kann, ohne mich vorher mit den anderen darüber besprochen zu haben. Doch sagt mir worin liegt für uns darin der Nutzen? Was würde Vulk uns zugestehen?« Meister Protz hatte sehr wohl das Blitzen in Airars Augen und das Zucken seiner Mundwinkel wahrgenommen. »Wir wollen Euch vor allem eines raten«, sagte er. »Beratet Euch nicht mit denen, die Unruhe stiften um des Aufruhrs willen, sie werden niemals den Frieden und die Ordnung gutheißen, für die Graf Vulk eintritt. Ihr seid der Herzog; nun erweist Euch auch als solcher. Nutzt Eure Macht zum Besten aller, von denen die meisten unfähig sind zu erkennen, welches der rechte Pfad ist. Was nun die Einzelheiten der Übereinkunft mit Vulk betrifft, so können wir fast sicher damit rechnen, daß er uns einen Teil der Mauersteuer erläßt. Was hingegen völlig feststeht, ist ein Dekret, welches es verbietet, Sklaven auf einem Hof oder in einer Faktorei zu halten. Er ist ein Mann, der
sich der alten vulkingischen Tradition verpflichtet fühlt, nach welcher die eigentliche, hervorragende Bestimmung seines Volkes in Krieg und Eroberung liegt, und daher bereiten ihm Lordkanzler Lannoy und die Magnaten schon seit langem ziemliches Unbehagen. Bedenkt doch, wie sehr das unser Problem vereinfacht, daß er schon fast auf Eurer Seite ist, bereit, Zugeständnisse zu machen. Hier ein leise ins Ohr geflüstertes Wort, da ein Schulterklopfen, und er stellt seinen Rat und Ihr Eure Hauptmänner vor vollendete Tatsachen, und sie können es nicht abschlagen, da alle ehrlich denkenden Menschen beider Seiten Euch dafür preisen werden, daß Ihr ihnen das Leben gerettet habt, indem Ihr nutzloses Blutvergießen verhindertet. Und was die Waffen und Geschütze betrifft, so kann man sie ja immer noch dazu verwenden, ein paar der Zwölf Städte von der Herrschaft der Volkspartei zu befreien.« Airar schaute dem Mann ins Gesicht. Keine Frage, er meinte es ehrlich. »Aber ich bin ein Führer in der Schlacht, kein Politiker«, wandte er schließlich ein, »und daher bin ich mir unsicher. Ich muß die ganze Sache erst einmal mit Doktor Meliboë besprechen. Er ist ein Philosoph und wird mir sicherlich den besten Weg zeigen können.« Einer der anderen – der fette Kerl – sagte jetzt zum erstenmal auch etwas in einer hohen, quäkigen Stimme, die sich anhörte wie die eines Knaben. »Aber er steht unter der Acht des Reiches!« »Ich auch«, erwiderte Airar trocken. Er war froh darüber, sich mit diesem Einwand elegant aus der Affäre gezogen zu haben, und deutete mit einer Geste an, daß er die Unterredung für beendet hielt.
Er ging geradewegs zu Meliboë, ziemlich am Ende seiner Weisheit. »Wie kann es bloß möglich sein, daß sie Gefallen an der Herrschaft Briellas finden? Oder glaubt Ihr, daß sie mich dies bloß fragen, um mich in eine Falle zu locken?« Der Zauberer war gerade dabei, mit magischen Apparaten, wie Destillierkolben und ähnlichem, herumzuhantieren. Er setzte sich erst einmal und stützte den Kopf auf die Handfläche. »Keine Falle, nach allem, was Ihr mir erzählt habt. Junger Herr, Ihr solltet einfach sagen, daß Ihr jung seid – noch feucht hinter den Ohren. Seht zu, daß Ihr diese Eigenschaft beibehaltet; sie sichert Euch die Anhänglichkeit aller, die sich selbst für klug halten. Eure Syndizi? Sie wünschen sich weder Briellas Herrschaft noch die Eurige, sondern einzig und allein ihre eigene, in allen Dingen zumindest, die für sie von Wichtigkeit sind. Sie glauben, dies zu erreichen, indem sie einen gegen den anderen ausspielen: hier ein bißchen reden, da ein bißchen schmieren; denn in ihrer Welt des Feilschens und Schacherns ist schon alles getan mit einem Richter in langer Robe, der demjenigen den Preis zuerkennt, der am besten reden kann, und mit einem Gesetz, das es allen verbietet, die Klinge zu erheben.« »So wollen sie also tatsächlich Briella – diese Schurken, diese Verräter! Ist das Dalekarlien? Ich hatte gehofft...« »Verschont mich mit Euren Träumereien. Ich zweifle nicht daran, daß Ihr ernsthaft geglaubt habt, die Welt würde zum Paradies, kaum daß Vulk besiegt ist. Leider ist das jedoch nicht so; Ihr, der Ihr an den Krieg glaubt und gar bereit seid, für ein hehres Ziel in den Tod zu gehen, werdet umsonst fallen,
denn andere Vulks mit anderen Namen werden sich erheben, und das wird immer so sein. Wie könnt Ihr es daher wagen, diese Männer als Schurken und Verräter zu bezeichnen? Das Dalekarlien, von dem Ihr träumt, mag ihnen genauso verabscheuenswürdig erscheinen wie Euch das Ihre.« »Bei uns wäre ein jeder frei.« »Frei wovon, frei wozu? Der Syndikus steht Euch da in nichts nach. Wenn ich Euch richtig verstanden habe, sprach er von Aufhebung der Mauersteuer und vom Ende der Sklaverei. Eure Verwandten, Verbündete der Vulkinger, wie Ihr ja wißt, würden gerne sehen, wenn Ihr frei wäret vom Hader zwischen Blutsverwandten. Wollt Ihr, daß solche Männer wie Mikalegon das Recht haben sollen, andere, die ihnen nichts getan haben, zu berauben, wann immer es ihnen gerade in den Sinn kommt? Nein, nein, junger Mann – so nicht! Erhebt meinetwegen Euer Banner, blast Eure Trompete zur Schlacht, legt Stätte in Schutt und Asche – aber nicht zum Wohle anderer, ehe sie nicht gesagt haben, ob sie sich dieses Wohl auch wünschen. Ihr tut es zu Eurem eigenen Vergnügen, so wie ich zu meinem eigenen Vergnügen die Philosophie betreibe.« Bis hier hatte seine Stimme so schneidend geklungen, daß man Eisen damit hätte zersägen können; doch nun glitt plötzlich ein Lächeln über seine Züge. »Doch versteht mich nicht falsch! Ich will mich nicht zum Advokat der Vulkinger machen; Briella und ich, das sind zwei unvereinbare Pole. Nieder mit ihm, sage ich, und ich stehe hierin mit ganzem Herzen auf Eurer Seite... Übrigens, es gibt da noch ein weit schwerer wiegendes Problem als Eure kindlichen Skrupel. Habt Ihr schon den Hauptmän-
nern von diesem Plan, einen Frieden mit den Vulkingern zu schließen, erzählt – ich meine, den Carrhoenern, Gallil und vor allem Rogai, der so mißtrauisch ist, daß er sogar seine Mutter verdächtigen würde, die Milch aus ihrer eigenen Brust zu stehlen?« »Nein. Sie würden sofort nach Tod und Folter schreien; ich möchte nicht erleben, wie den Syndizi oder meinen eigenen Verwandten die Fingernägel ausgerissen werden.« »Das habe ich befürchtet.« Wo sich Nase und Stirn des Zauberers trafen, bildete sich eine tiefe Falte. »Ihr könnt Gift darauf nehmen, daß Euer feiner Freund, der Syndikus, ihnen allen zu dieser Stunde schon brühwarm von Euren Verhandlungen berichtet hat. Und er wird sicher nicht verschwiegen haben, daß Ihr ihm wohlwollend zugehört, ihn nicht gerügt oder ihm Strafe angedroht habt, weil Eure Familie mit in den Fall verwickelt ist.« »Das sind die Syndizi doch selber auch.« »O nein, schöner junger Mann und Herzog! Der Ankläger hängt selbst nie mit drin Diese Besitzbürger haben immer bloß eines im Sinn: alles auf die Ebene des Geplauders zu reduzieren, wo sie selbst ihre große Stärke besitzen. Ihr seid ein großer Mann der Schlacht, desgleichen Vulk. Nehmen wir einmal an, der Mann, der am besten die Klinge zu führen versteht, obsiegt. Was werden sie dann tun, diese Gildenmänner? Sie werden euch beide herunterziehen, einen Rat nach dem anderen abhalten, und die Goldaurar werden wie Sterne in der Ferne funkeln. Das ist die Art von Welt, wie sie sie sich wünschen.« Airar dachte, er könnte sich nie vorstellen, daß Menschen so niederträchtig waren, aber er behielt
diesen Gedanken für sich und sagte: »Und was soll ich tun, um nicht in ihre Falle zu tappen?« »Ah!« Der Zauberer Meliboë legte den Zeigefinger neben die Nase. »Ihr denkt vielleicht, ich sei bloß auf meinen eigenen Vorteil aus. Aber dem ist nicht so; Ihr habt in der Vergangenheit oft genug mit eigenen Augen gesehen, wozu ein armer Doktor der Philosophie imstande ist. Ich werde Euch dagegen mit solider Magie wappnen. Doch da der Graf sein Dekret gegen meine Kunst erließ, meine Hütte niederbrennen und meinen Zwerg Cobbo töten ließ, fehlt es mir nun an gewissen Utensilien, die ich unbedingt brauche Könnt Ihr nicht jemand schicken, jene Apparate – sofern es sie in Naaros gibt – für mich zu beschaffen?« »Es widerstrebt mir, mich dagegen mit Hilfe der Zauberei zu wappnen«, sagte Airar. »Dies Problem ist etwas, das wir mit den natürlichen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, lösen müssen; sonst bleibt am Ende Stückwerk, und nichts ist von Dauer. Doch wenn ich Euch damit eine Freude machen kann, will ich gern einen Mann beauftragen, die Instrumente, die Ihr benötigt, zu beschaffen.« Alsdann verabschiedete sich Airar und trat hinaus. Dort wartete man schon auf ihn: Man hatte ein Schiff gesichtet, das die Naarmündung heraufgesegelt kam. Es trug die kaiserliche Standarte. Airar begab sich zum Hafen, wo es inzwischen angelegt hatte – es war das langerwartete Schiff mit Sir Ludomir Ludomirson an Bord. Er war im Heyr gewesen und hatte dort vom Fall der Stadt Naaros gehört. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er auf die Kaimauer trat; seine Mission war von Erfolg gekrönt gewesen. Wie er berichtete, sei ein voller Reichsrat im Palast von Stassia ein-
berufen worden, auf dem er den Söhnen der Quelle vorgeworfen hatte, von den Vulkingern mit Gold bestochen worden zu sein. ›Nein! Lüge!‹ hatten sie darauf lauthals geschrien, woraufhin er mit bewegten Worten das traurige Los Dalekarliens unter der Herrschaft der Vulkinger geschildert hatte. Auch von den Morden von Mariupol hatte er berichtet und dann ausgemalt, was noch alles geschehen würde, sollte die Heirat Aureas mit Vulk tatsächlich zustande kommen. Daraufhin wurde der Vertrag, der diese Heirat besiegeln sollte, sofort annulliert, und niemand wagte, ihn zu verteidigen, um nicht sofort in den Verdacht der passiven Bestechung zu geraten. Die Edlen von Scroby waren inzwischen von dem Zauber befreit worden, durch den sie zu der Fehlentscheidung gezwungen worden waren. Sie waren äußerst erbost darüber, derart mißbraucht worden zu sein, und sprachen davon, sich bitter an Vanette-Millepigue zu rächen. Der kaiserliche Bann, mit dem Dalekarlien bei seiner Erhebung gegen Vulk belegt worden war, wurde aufgehoben – nicht hingegen der Bann der Quelle; ihre Söhne und Priester hatten nun einmal nichts für Kriege übrig. Als Sir Ludomir mit seinem Bericht fertig war, wurde er seinerseits über alles informiert, was sich seit seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Als er erfuhr, daß man Airar zum obersten Feldherrn gewählt hatte, machte er für einen Moment ein sehr ernstes Gesicht. Gegen Abend bat er Airar um eine Unterredung unter vier Augen; er bestand darauf, daß kein anderer zugegen war. Als der Diener, der die Sessel gerichtet und einen Krug frischen Met gebracht hatte, gegangen war,
blieben die beiden Männer eine Weile wortlos stehen. Der alte Ritter stellte seinen Becher ab und kniete sich plötzlich vor Airar nieder, dem das Ganze ein wenig peinlich war. »Nehmt meinen Treueid entgegen!« »Oh, ich bitte Euch, erhebt Euch wieder«, sagte der Erbe von Trangsted mit hochrotem Kopf und bestand darauf, sich erst zu setzen, wenn Sir Ludomir sich wieder erhöbe. »Ich danke Euch. Ihr seid sehr gütig, Herr Herzog...« Sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Ich hoffe doch, Ihr dürft diesen Titel auch tragen; ich bin mir nicht sicher, wie die Gesetzeskundigen am Hofe von Stassia einen solchen Titel, der ja nicht vererbt wurde, sondern durch Wahl entstanden ist, aufnehmen werden.« »Ich bin kein Herzog«, erwiderte Airar fast ein wenig ungehalten, »noch erhebe ich Anspruch auf diesen Titel. Man hat mich lediglich zum obersten Heerführer gewählt, weil ich der einzige bin, der nicht in irgendwelche Intrigen verwickelt ist. Schon morgen werde ich diesen Scheintitel wieder ablegen.« Der Ritter nahm einen Schluck und schaute ihn über den Rand des Bechers an. »Mein lieber Herr, genau dies befürchtete ich von Euch zu hören. Niemals, nie und nimmer, könnt Ihr, ja dürft Ihr diese Führerschaft niederlegen, genausowenig wie unser allerhöchster Herr und Prinz, Kaiser Auraris, das darf, wenngleich er über Regenten regieren muß, deren Rat er befolgen muß.« »Ich will über niemanden herrschen, noch glaube ich, jemals den Wunsch dazu zu haben«, erwiderte Airar. »Mein Herr und Gebieter, bitte hört mich zu Ende
an, auch wenn Ihr mich später in die Verbannung schickt, weil ich über meine Befugnisse hinausgegangen bin. Ich sage Euch, Ihr dürft dieses Amt nicht niederlegen, zu dem Gott Euch nach seinem unergründlichen Plan berufen hat. Alles hängt nun davon ab, daß Ihr dieses Amt innehabt, Ihr und kein anderer, denn Rogai ist zu frech und unverschämt dafür, Gallil und ich sind zu alt, Oddel ist verheiratet, und die Männer aus Skogalang, die dafür in Frage kämen, sind uns zu wenig bekannt. Alles, wirklich alles hängt davon ab: das Heil Dalekarliens, vielleicht sogar die Zukunft des Kaiserreiches selbst! Nur Ihr seid imstande, diese anmaßenden Eroberer aus Briella in die Schranken zu weisen.« Trotz des feierlichen Gesichtes, das der alte Ritter dabei machte, konnte sich Airar ein Lächeln nicht verkneifen. »Eine große Last, die Ihr mir da auf meine schmalen Schultern ladet. Ist die Frage des Alters denn ein solch schwerwiegender Hinderungsgrund für die Führerschaft?« »Eure Hoheit belieben ein wenig zu scherzen – ein gutes Merkmal dafür, daß Ihr einen klaren Verstand besitzt. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, daß es von höchster Wichtigkeit ist, daß der, den wir zum Führer haben, jung ist und frei von ehelichen Banden. Das, was ich heute morgen berichtete, war, wie ich gestehen muß, nur die halbe Wahrheit. Die ganze wollte und konnte ich in Anwesenheit so vieler Lauscher nicht erzählen. Schließlich befindet sich zwischen jedem dieser Ohrenpaare ein Mund, dessen Flüstern man nur allzuleicht bis nach Lacia hinauf hören könnte, was alle unsere Pläne über den Haufen werfen würde. Die ganze Geschichte mit dem
kaiserlichen Rat, der Aufhebung des Bannes und der Annullierung der Heirat hat nämlich einen großen Haken.« »Und der wäre?« fragte Airar, verunsichert darüber, daß sich die guten Nachrichten, die der Ritter mitgebracht hatte, schon als Windei erweisen sollten. Sir Ludomir zuckte mit den Achseln. »Wie das bei solchen Sachen eben so ist. Kein vollzähliger Rat, genau wie bei jenem verhängnisvollen letzten – keine Delegierten aus den beiden Lacias, aus Bregonde und Acquilème, obwohl dies Provinzen des Reiches sind; keine aus Permandos, Barbixana und Carrhoene, und die von Scroby waren auch nicht vollzählig erschienen. So zu verfahren war vielleicht feige und wenig ritterlich von mir, und ich werde dafür ein Bußgelöbnis erfüllen, um dafür zu sühnen. Doch der springende Punkt ist folgender: daß alles so leicht zusammenfällt, wie es aufgestellt wurde, und wahrscheinlich auch zunichte gemacht wird, wenn nicht ohne Krittelei und unmißverständlich dafür Sorge getragen wird, daß Ihr mit dem Kaiserhaus in verwandtschaftliche Beziehung tretet.« »Und wie soll dieses Problem gelöst werden?« fragte Airar (aber sein Herz begann gleichzeitig wie rasend zu klopfen). »Ich will es Euch erklären: Als ich all die bitteren Folgen, die sich aus dieser Verbindung Vulks mit unserer verehrten Hoheit Prinzessin Aurea, ergeben würden, in den schillerndsten Farben ausmalte, da flehte mich seine Majestät an – und der Rat stimmte ihm ebenfalls darin zu – die Vormundschaft über die kaiserlichen Kinder in meiner Eigenschaft als Reichsverweser zu übernehmen.« Er nestelte aus seiner Ta-
sche ein Pergament mit der betreffenden Urkunde hervor. Aber Airar bedeutete ihm mit einer Geste, daß er ihm auch so glaube. »Nun denn, mein Gebieter und Herzog«, sagte der Ritter in feierlichem Ton, »ich schlage somit vor, unsere Zukunft zu sichern, indem ich Euch in ehelichem Bündnis mit einer Prinzessin des Hauses der Argimeniden vereinige. Das ist auch der Grund, warum es eines jungen Menschen bedarf, der für immer Herzog sein wird.« »Nicht Aurea!« kam es fast wie ein Aufschrei über Airars Lippen, doch Sir Ludomir lächelte nur. »Ich habe schon gewisse Gerüchte gehört, die mich erwarten ließen, daß Eure Wahl auf die jüngere der beiden Schwestern fallen würde, Herr. Kann ich also davon ausgehen, daß es abgemachte Sache ist?« »O ja... ich meine, wenn sie mich überhaupt haben will.« Doch dann verfinsterte sich seine Miene. »Aber die Vulkinger mit all ihrer Macht!« »Ihr werdet gegen sie die Klinge des Reiches führen! Doch wo wir gerade diesen Punkt berühren... verzeiht, Gebieter, einem alten Mann, der viel erlebt hat, aber... es gibt da noch einen kleinen Dorn an der Rose Eures Glückes, deren noch junge Knospe ansonsten so vollkommen ist.« »Und welches ist dieser Dorn, Herr?« »Mein Gebieter, Ihr braucht mich nicht länger Herr zu nennen. Es ist nur, daß Ihr mit Leuten verkehrt, die mit Wort und Tat auf der Seite Briellas stehen.« Airar von Trangsted stand ganz langsam auf. »Meint Ihr damit meinen Vater? Wollt Ihr, daß ich über meinen Vater richte?« Auch Sir Ludomir stand auf; trotz Airars Größe überragte er den jungen Mann noch um einen halben
Zoll. »Mein Gebieter und Herzog, wer hat denn von ›richten‹ gesprochen? Ich nicht. Doch wenn wir uns der Treue eines Mannes versichern wollen, dann müssen wir jeden Zweifel ausräumen. Es gibt Orte, wo man ihn sicher verwahren könnte – die GentebbiInseln, zum Beispiel, oder gewisse befestigte Höfe in Skogalang...« »Mein Vater!« »Überlegt es Euch gut, Herr. Ein neuer Tag bringt oft guten Rat mit sich.« Er verbeugte sich und ließ Airar mit den verwirrenden Bildern seiner Geliebten und einer ruhmreichen, glücklichen Zukunft vor Augen allein – sollte er alles wegen eines Mannes, der mit den Vulkingern gemeinsame Sache machte, fahrenlassen? Würde es Dalekarliens Ende bedeuten, wenn er das täte? ›Alles hängt von Euch ab‹, das waren die Worte von Sir Ludomir gewesen, einem Mann, der viel wußte und über große Erfahrung verfügte. Mußte er das alles fahrenlassen? – Doch wo war da noch Treue, wenn er selbst die alte Treue brach?... ›Hier, mein Sohn‹ – der fröhliche Ruf des Vaters, als er ein Wiesel aus den Bergen mit nach Hause brachte, aus dessen Fell Mutter dem kleinen Airar eine Mütze für den Winter nähte... das Lachen seiner Mutter, und wie sie immer so fröhlich zusammen am Kamin gesungen hatten, Strophe um Strophe. Die erste Lektion in Magie... die Sterne am Himmel über Västmanstad in einer Winternacht... ›Da reitet der Mann mit der Keule, und sieh doch, mein Sohn, jenen großen Lichtpunkt, das Horn des Einhorns.‹
37 Naaros: Hochzeitstag Doch die Aufregungen der Nacht wurden sehr bald durch die Ereignisse des folgenden Tages in den Schatten gestellt; e s war schon s p ä t a m Morgen, Airar lag noch im Bett, döste im Halbschlaf vor sich hin und grübelte darüber nach, wie er es anstellen sollte, den Kreis seines Lebens, in dem er herumirrte, zu quadrieren, als draußen jemand rief. Als er ins Freie trat, sah er, daß ein Schiff stromaufwärts kam. Der Form nach war es eins aus den Zwölf Städten; mit seinen hohen Bordwänden sah es eher nach einem Handelsschiff aus denn nach einem Kriegsschiff. Die Standarte, die es trug – ein grüner, brennender Busch – hatte keiner zuvor jemals gesehen. Als es angelegt hatte, trat ein Herold mit einem Wappenrock, begleitet von einem Trompeter, ans Ufer und rief, man möge ihn zum Baron von Naaros führen. »Dann müßt Ihr kehrtmachen und nach Lectis Minima segeln«, rief Rogai, der vorsichtshalber ein paar seiner Bogenschützen mit zur Kaimauer gebracht hatte, »denn dorthin war er unterwegs, als wir zum letztenmal von ihm hörten.« »Dann führt mich zu seinem Stellvertreter, dem Vicomte.« »Ihr findet ihn auf der Zitadelle, aber ich werde Euch nicht dorthin begleiten, da es ein unfreundlicher Akt gegenüber den Bewohnern dieser Stadt wäre.« Der Herold war ein kleiner Mann mit durchdringendem Blick. Seine Augen huschten blitzschnell von einem zum anderen, und er rümpfte argwöhnisch die Nase, so als wolle er gleichsam erschnüffeln, was ge-
schehen war. »Wer ist denn Euer Führer? Ich bringe eine Botschaft von den Zwölf Städten.« Airar trat vor. »Ich.« »Trompeter! Musik!... Ich komme im Auftrag ihrer Hoheiten der sechs Spadarione von Pernandos, um Eurem Baron und Führer – wer immer das sei – folgendes kundzutun: Da Graf Vulk von Dalekarlien jenem üblen Tyrannen und Hochverräter, Sthenophon, zusammen mit anderen Führern der Volkspartei von Permandos, Carrhoene und Xiphon, Zuflucht gewährt hat, fordern die besagten Städte ihn auf, Sthenophon unverzüglich auszuliefern, damit er seiner gerechten Strafe zugeführt werden kann. Sollte er sich weigern, so wird sein Land mit Krieg überzogen, und seine Häfen werden so lange blockiert, bis er sich eines Besseren besinnt. Und Euch werfe ich ebenfalls den Fehdehandschuh hin!« Er erblich in Erwartung eines Schlages, doch war tapfer genug, seinen eisernen Handschuh aus dem Gürtel zu zerren. Und er hätte ihn auch Airar vor die Füße geworfen, wenn er nicht im selben Moment von Dutzenden von Männern umringt worden wäre, die ihn zu seiner Verblüffung mit lauten Jubelrufen überhäuften. Doch gleich darauf bahnte sich Evimenes einen Weg durch die Menge, trat vor den Herold und nahm den Helm ab. »Wißt Ihr, wer ich bin?« schrie er. »Ja.« Der Herold lächelte ein wenig gequält. »Das heißt, ich kenne Eure Familie, Herr; doch welcher davon Ihr seid, kann ich nicht sagen.« Man schaffte Bier und Met für alle herbei und führte den Herold ins Rathaus, wo er gemeinsam mit dem Schiffer, der ihn hergebracht hatte, erzählte, was sich in den Zwölf Städten zugetragen hatte: Während
der Abwesenheit Sthenophons hatte die Bevölkerung von Permandos ihrem Haß gegen seine unmenschliche Tyrannei in immer unverhohleneren und lauteren Klagen Ausdruck verliehen. Aus Worten war bald blutiger Ernst geworden; schließlich hatte sich das Volk erhoben und die Anhänger des Tyrannen hinweggefegt. Die Gildenpartei war wieder in Amt und Würden gesetzt worden. Als sich die Nachricht von dem erfolgreichen Umsturz nach Carrhoene herumgesprochen hatte, war auch dort die Bevölkerung aufgestanden, um sich gegen die dort ebenfalls herrschende Volkspartei zu erheben, der man schwere Vergehen vorwarf, so zum Beispiel, daß sie das Volk mit erdrückenden Steuerlasten auspreßte und daß sie der Bevölkerung die Möglichkeit nahm, in den Städten Stassias Handel zu treiben oder von der Einhornquelle zu trinken, indem sie keine Delegierten mehr zum kaiserlichen Rat entsandte und sich somit selbst aus dem Reichsverband ausschloß. Als die Wollschiffe von Dalekarlien ausgeblieben waren, hatte man daraus geschlossen, daß oben im Norden, dort wo Sthenophon sich aufhielt, irgend etwas im Gange war; man hielt es nicht für unwahrscheinlich, daß er selbst in irgendeinen Zwist verwickelt war. Und als dann schließlich das Gerücht durchgesickert war, daß Vulk nicht mehr unter dem Schutz des Reiches stünde, hatte man sich kurzerhand entschlossen, dem Grafen das Ultimatum zu stellen. Als die beiden ihren Bericht beendet hatten, rief Evimenes fröhlich: »Meister Airar, günstiger hätte es für uns gar nicht kommen können! Permandos und Carrhoene! Jetzt können wir nicht weniger als zwölfhundert schwer gepanzerte Reiter aufbieten – sogar
noch mehr, wenn wir genügend Zeit haben, sie auszuheben; über die besagten zwölfhundert können wir jedoch sofort verfügen. Ihr braucht nur den Befehl dazu zu geben.« Airar fühlte, wie ein seltsames Gefühl einer Woge gleich durch ihn hindurchging – wie in jener Nacht, als er in einem plötzlichen Entschluß den Plan gefaßt hatte, die Desa der Vulkinger am Krähenturm zu überfallen. Während er noch diesen Freudenschauer spürte, wußte er, daß er die ganze Zeit über entsetzliche Furcht vor einer Schlacht gegen diese schier unbezwingbar scheinenden Tercia-Männer gehabt hatte. Doch diese Furcht war nun wie weggeblasen – nein, mit den Reitern aus den Zwölf Städten im Rücken brauchte er wahrlich keine Angst mehr zu haben. Der Plan! durchfuhr es ihn... es dauerte einen Moment, doch dann hatte er ihn schon im Geist vor Augen: Man mußte gegen die Vulkinger die Schlachtordnung, die sie kannten, einfach umkehren. Doch bevor er noch seine Vorstellung in Worte fassen konnte hatte Sir Ludomir das Wort ergriffen: »Welchen Preis verlangt Ihr dafür?« »Was wollt Ihr?« ereiferte sich der Sternenhauptmann und zog einen Schmollmund. »Wir sind Verbündete und wollen nicht feilschen, aber Ihr seht doch ein, daß die Männer bezahlt sein wollen. Mein Vorschlag: Jeder Reiter erhält pro Monat einen Goldaura, das Fußvolk die Hälfte, und wir Führer bekommen die Hälfte von dem, was alle anderen zusammen erhalten, dazu das Recht auf Plünderung im Felde, im Lager und in der Stadt. Darüber hinaus ein Herrschaftsgebiet auf den Gentebbi-Inseln, das wir wiederaufbauen und als Stützpunkt behalten.«
»Eine gewaltige Summe«, brummte der Schwarze Gallil und blickte die Carrhoener mit düsterer Miene an. »Mehr, als Ihr seinerzeit von Mariola verlangt habt«, fügte Rogai hinzu. Evimenes kräuselte die Lippen und antwortete auf diesen Einwand: »Als wir damals in die Dienste Mariupols traten, waren wir Ausgestoßene, Vagabunden, die nicht viel mehr zu bieten hatten als ihre Erfahrung. Doch nun sind wir Hauptmänner, die Euch das bringen können, was ihr am dringendsten nötig habt. Pah! Glaubt ihr vielleicht, eure dummen dalekarlischen Bauern können ohne die Hilfe wohlausgebildeter Söldner gegen diese Eisenfresser aus Briella bestehen? Euer Herzog Airar weiß das ebensogut wie ich; ich habe gesehen, wie er stirnrunzelnd und kopfschüttelnd die Übungen beobachtete. Abgesehen davon ist der Preis, den wir fordern, nicht so hoch wie der, den wir damals von Poliolis forderten; und auch der König von Gesebus in Uravedu bot uns mehr dafür, daß wir ihn wieder auf seinen Thron hievten.« Einen Augenblick lang herrschte Totenstille. Gallil jedoch schien nicht gewillt zu sein, sich von seiner Position abbringen zu lassen: »Eine gewaltige Summe«, wiederholte er ungerührt, »damit wäre Dalekarlien so gut wie ruiniert. Die Syndizi werden nie und nimmer bereit sein, diesen Preis zu zahlen; seid Ihr Euch darüber im klaren, daß Ihr sie auf diese Weise geradewegs Vulk in die Arme treibt?« Rogai klopfte auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen: »Der Preis, den man für Sieg und Freiheit entrichten muß, ist immer hoch; aber da ist ein Punkt in dem Vertrag, den ich auf keinen Fall hinnehmen kann: Wie können wir davon sprechen, daß wir uns
von fremder Herrschaft befreien wollen, wenn wir uns gleichzeitig schon wieder eine neue aufhalsen? Wollt ihr nicht wenigstens diese Bedingung wieder zurücknehmen?« »Nein«, sagte Evimenes entschieden. »Zu lange sind wir als heimatlose Wanderer umhergeirrt; wir brauchen eine sichere Zuflucht, falls in einer unserer Städte ein neuer Umsturz stattfindet. Über den Preis könnten wir handeln; doch nicht über diesen einen Punkt.« Airar sah, wie sich die Mienen der Männer verdüsterten; er selbst bildete da keine Ausnahme, denn auch er war vollkommen einer Meinung mit Rogai, daß Gentebbi nicht von Dalekarlien abgespalten werden durfte. Doch da meldete sich Sir Ludomir zu Wort: »Verehrte Herren aus Carrhoene, was wäre, wenn ich Euch anstelle von Gentebbi als Gegenleistung für all Eure Hilfe einen Lehnstitel anböte, der größer und schöner ist als alles, was Ihr je zu träumen wagtet? Einer, der Dalekarlien und Carrhoene für immer in Freundschaft vereinigen wird.« »Nennt ihn«, sagte Evimenes. »Nichts lieber als das, meine Herren.« Er holte das Pergament, das er schon Airar hatte zeigen wollen, hervor und legte es mit würdevoller Miene auf den Tisch. »Kraft dieses Dokuments bin ich befugt, als Regent und Vormund über die Kinder des kaiserlichen Hauses, die sich gegenwärtig in dieser Stadt befinden, zu bestimmen. Nichts scheint mir näherliegend und vernünftiger, als die Schwerter von Carrhoene um das alte Schwert des Argimenes zu scharen. Was würdet Ihr zu einem kaiserlichen Bündnis, besiegelt durch Heirat, sagen? Gemeint ist
eine Heirat mit ihrer Hoheit, Prinzessin Aurea.« Pleiander fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und warf einen Blick auf seine Brüder. Da sprach Alsander knapp, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: »Nicht für ein Dutzend Kronen; sie schwätzt zuviel.« Jemand lachte; Airar konnte nicht sehen, wer es war, aber der Lautstärke nach mußte es Mikalegon sein. Evimenes schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Nicht sie, aber die andere, die jüngere Schwester, gern...«, worauf Airar mit sich überschlagender Stimme brüllte: »Nein!« »Tut mir leid, mein Herr«, entgegnete Sir Ludomir. »Prinzessin Argyra heiratet schon unseren Führer, Herzog Airar, den Oberbefehlshaber der Recken von Dalekarlien; das ist beschlossene Sache, und daran kann nichts mehr geändert werden. Ist das Euer letztes Wort, Ihr wollt tatsächlich unser großherziges Angebot in den Wind schlagen? Ich warne Euch im guten; geht nicht zu weit! Wir sind Dalekarlier und Söhne des Reiches, und wenn nichts anderes mehr hülfe, würden wir sogar so weit gehen, gemeinsame Sache mit Vulk zu machen, um unser Land frei von fremden Herren zu halten.« »Wie Ihr wollt«, versetzte Evimenes trocken. Dann wandte er sich den anderen drei Carrhoenern zu. »Brüder, laßt uns diese fruchtlose Debatte abbrechen, an Bord des Schiffes aus Permandos gehen und wieder in unsere Heimat zurückkehren.« Alsander und Pleiander machten, noch unentschlossen, ebenfalls Anstalten, sich zu erheben. Ihre Gesichter waren zorngerötet. »Brüder«, rief da plötzlich Evadne von Carrhoene, »so besinnt euch; ihr seid im Unrecht!«
Alle drei hielten in ihren Bewegungen inne. »Ihr seid im Unrecht. Es gibt einen Punkt, da treibt man den Handel zu weit, und die Ware verfault. Schämt euch! Habt ihr in eurer Gier unseren Bruder Alcides vergessen, für den wir noch eine Rechnung zu begleichen haben? Sollen wir bis ans Ende unserer Tage herumschweifen und Schlachten schlagen, mit keinem anderen Ziel als dem, Geld zu raffen, das wir bei der nächsten Sauftour durch die Tavernen wieder auf den Kopf hauen? O nein, meine Brüder; wenn ihr so an eurer Freiheit und Unabhängigkeit hängt, dann will ich die meinige für uns alle opfern. Herr Ritter und Regent, so sagt doch, ist in Eurer Regentschaft auch das Recht eingeschlossen, über den Prinzen zu bestimmen?« Sir Ludomir runzelte die Stirn und studierte aufmerksam das Pergament. »Hier steht nur etwas von den Kindern des kaiserlichen Hauses im allgemeinen, Madame, woraus ich schließe, daß ich Eure Frage mit Ja beantworten darf.« »Dann erkläre ich hiermit vor euch allen, daß ich um die Hand Aurareus' anhalte, und zwar allein, ohne das Dazutun meiner Brüder, ist der Titel eines Spadarion von Carrhoene; aber ich glaube, daß meine Brüder hier mit mir einer Meinung sind und damit alle unsere Forderungen als abgegolten betrachten, einmal abgesehen vom Recht auf Plündern, auf das wir nicht verzichten werden.« Den drei Sternenhauptmännern quollen fast die Augen aus dem Kopf, doch dann nickten sie zustimmend, erst Alsander, dann die beiden anderen. Herzog Mikalegon hieb seine Faust auf den Tisch, daß es nur so krachte. »Ein halber Mann und anderthalb
Frau! Ihr zwei werdet wirklich ein tolles Paar abgeben!« Danach schwätzten alle wild durcheinander, man holte rasch einen Schreiber und schickte einen Boten zu dem Schiff, mit dem Auftrag, es auf dem schnellsten Weg nach Carrhoene zurückzubringen, wo es mit der Vollmacht der Sternenhauptmänner Truppen an Bord nehmen sollte. Als sie kurz darauf den Saal verließen, bahnte sich Evadne den Weg zu Airar und sagte: »Lieber Herr und verlorene Liebe, betrachtet dies als Wiedergutmachung dafür, daß ich Euch vielleicht manchmal gekränkt habe; es ist der letzte Dienst, den ich meinem kleinen Frosch erweise. Werdet glücklich und behaltet mich immer in guter Erinnerung.« Er wollte sie küssen, doch sie entschlüpfte seinen Armen wie Rauch. Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, sah er, daß ihre Augen von Tränen feucht waren. Er hatte das Bedürfnis, zu Argyra zu gehen und mit ihr zu reden, aber Sir Ludomir sagte kurzerhand nein. Da die Zeit drängte, hatte man seine Hochzeit schon für den darauffolgenden Tag geplant, und in Dalekarlien ist es ebenso wie in Dzik Brauch, daß der Bräutigam seine Braut am Tag vor der Hochzeit nicht sehen darf. Es gab noch allerlei Dinge zu erledigen; ein kleiner Mann mit krummem Rücken von der Schneidergilde trat ein, begleitet von zwei Helfern, von denen der eine seltsam verdrehte Augen hatte während der andere ständig sabberte wie ein Greis, um beim Sproß von Trangsted für die Hochzeitskleider Maß zu nehmen. Wahrend die drei noch damit beschäftigt waren, kam ein Bote aus dem Norden herein und meldete, daß der Nachrichtenfluß aus Stavorna plötzlich abge-
schnitten sei. Das konnte nur eines bedeuten: Vulk hatte sich endlich in Marsch gesetzt. Airar zappelte unruhig hin und her; der Schneider mit dem krummen Rücken hüpfte wie ein Irrwisch um ihn herum. Endlich war er fertig, und die drei verschwanden wieder. Lautes Hufgetrappel von der Straße sagte Airar, daß wieder eine Abteilung von Reitern aus Hestinga in der Stadt eingetroffen war. »Was sollen wir mit der Truppe der mariolanischen Verbannten anfangen, die mit Vardo kamen? Sie weigern sich, unter dem Banner der Carrhoener zu kämpfen, weil sie den Sternenhauptmännern die Niederlage am Dammweg von Markshaun anlasten, sind aber exzellente Reiter und Lanzenmänner.« Der Höhepunkt dieses unangenehmen, nervenaufreibenden und hektischen Tages kam nach dem Abendessen. Es begann damit, daß Airar sich schlichtweg weigerte, das freundlich gemeinte Angebot von Oddel und Rogai anzunehmen, die letzte Nacht seines Junggesellendaseins gemeinsam mit den beiden in fröhlicher Runde zu verbringen. Er sah, wie sich Enttäuschung auf ihren Gesichtern breitmachte, und hörte, wie sie etwas in den Bart murmelten, das sich anhörte wie ›... zu Kopf gestiegen‹ oder so etwas Ähnliches. Und während er noch darüber nachsann, wie wenig von seinem eigenen Lebensglanz ihn zu verlassen schien, tauchte schon wieder eine Delegation von Syndizi auf – der Wortführer war derselbe wie schon beim erstenmal, doch seine Begleiter waren neu. Sie wollten wissen, ob Airar über ihren ersten Besuch nachgedacht hatte und zu welchem Resultat er gelangt war. Ja, er habe darüber nachgedacht, brüllte er in einer
plötzlichen Aufwallung von Wut und Müdigkeit; doch jetzt Frieden zu schließen wäre Verrat an jenen, die ihn zu ihrem Feldherrn gewählt hätten – und ebenso am Kaiserhaus, dessen Banner er tragen würde. Dann fragte er bissig, ob sie nicht schon überall in der Stadt herumerzählt hätten, er sei bereit, alles an die Freunde Vulks zu verkaufen. Der Woll-Syndikus überhörte die Beschuldigung geflissentlich und fragte, ob denn der Friede etwas so Schreckliches sei. Schließlich wünschten sich doch alle Menschen nichts sehnlicher. »Und auf die kaiserliche Standarte würde ich nicht allzusehr bauen. Der alte Kaiser ist schon ein ziemlicher Tattergreis und wechselt seine Meinung je nach dem Berater, den er gerade hat. Ihr seht es doch selbst: Erst war unser Graf erster Anwärter auf seine Tochter, und jetzt ist er es plötzlich nicht mehr.« Mitten in dieses fruchtlose Wortgeplänkel kam Sir Ludomir hereingeplatzt, warf den Männern vielsagende Blicke zu und sagte, sie würden später über die Sache weiterreden. »Nein, Sir, das werdet Ihr nicht – nicht mit mir«, widersprach Airar. Der Unterhändler setzte sein glattes Lächeln auf. Als er draußen war, ermahnte der alte Ritter Airar aufs neue, daß so etwas nicht anginge; er müsse sich nun bald entscheiden, auf wessen Seite er stehe, und zu dieser Entscheidung dann auch ein für allemal stehen. »Intrige, mein Herr, ist das Privileg des Führers, aber er muß es durch die Hände seiner Diener spielen.« Und wieder stießen zwei Meinungen aufeinander, ohne daß etwas dabei herauskam, wie schon bei dem
vorherigen Zusammenprall. Er endete damit, daß der Ritter schließlich mit der Bemerkung den Raum verließ, er werde persönlich dafür sorgen, daß der Beweis dafür erbracht würde, Airar hege sicherlich keine verräterischen Absichten, wenn er sich schützend vor seine Verwandten stelle. Der zukünftige Ehemann legte sich, unzufrieden und unglücklich über den verwirrenden Tag vor seiner Heirat, aufs Bett, um dem Morgen entgegenzugrübeln. Jede Faser seines Körpers war vor Nervosität angespannt, und er machte sich auf eine schlaflose Nacht gefaßt. Er bemühte sich, abzuschalten und an Argyra zu denken. Allein die Vorstellung, dieses anmutige und holde Geschöpf zu besitzen, war schon berauschend und erregend genug. Doch kaum hatte er sich zugedeckt und auf die Seite gedreht, als er schon in eine andere Welt hinüberglitt, und noch während er einschlief, wußte er, daß es wieder eine dieser von wirren Traumgespinsten heimgesuchten Nächten werden würde, die schon so oft eine bedeutsame Veränderung in seinem Leben angekündigt hatten. Wilde Reiter galoppierten durch den Traum, und eine goldene Krone erschien, die es zu erringen galt. Am klaren Winterhimmel erschien das Sternbild des Einhorns. Er versuchte, es zu erreichen aber der schreckliche Wurm, dem er vor langer Zeit einmal in der Hütte des Zauberers Meliboë begegnet war, nagte an seinen Flügeln, so daß er kopfüber einen langen Abhang hinunterstürzte. Dann umgab ihn Totenstille. Weiße Arme reckten sich nach ihm... ›Ist dies der Tod?‹... und dann sang er inmitten seines Traumes, wohl wissend, daß er träumte, ein Lied:
Ich gehe in die Nacht, da der Mond versinkt. Ich sehe das Nordlicht erglühen wie Geister Und Flammen der Stadt, die im Schatten ertrinkt. In der Ferne die kraftlos glühenden Heerscharen... Er war noch immer verzweifelt darum bemüht, irgendeinen Reim in den Vers hineinzubekommen, als Poë der Dummkopf ihn hinter dem Ohr berührte, um ihn ohne Lärm zu wecken. Er stand neben dem Bett und hielt ein Binsenlicht in der Hand. Der Himmel, den Airar durch den viereckigen Fensterausschnitt sah, war stahlblau vom Lichte des herannahenden Tages. »Was ist los, mein Freund?« fragte Airar. »Ich befürchte, etwas Schreckliches ist geschehen. Während der ganzen Nacht ertönten Trampeln und Stöhnen von jener Stelle, wo Ihr die Wache für die beiden Verbündeten der Vulkinger – ich meine Eure beiden Verwandten – aufgestellt habt. Und dann hat jemand geschrien, und ich habe blaue Flammen gesehen.« Airar war mit einem Satz aus dem Bett. »Schnell, mir nach!« Die Straßen waren totenstill; keine Menschenseele war zu sehen, bis auf einen Betrunkenen, der schwankend an einem Türpfosten lehnte. Irgendwo miaute eine Katze. Die beiden Männer sprachen nur im Flüsterton miteinander. Der Mann an der Tür des kleinen Steinhauses am Juwelenmarkt umklammerte seinen Speer so fest, daß die Knöchel an seinen Händen weiß hervortraten. Er schwor Stein und Bein, daß
nichts und niemand in das Haus gekommen war oder es verlassen hatte, und eine zweite Tür gab es nicht. Eine Stunde zuvor hätten er und sein Kamerad jedoch von oben lautes Getrampel gehört, und dann hätten sie blaue Flammen gesehen, und jemand hätte laut geschrien. Die Diele hinter der Eingangstür hatte früher zu einem Geschäft gehört, war jedoch jetzt leer. Airar rannte die Treppe hinauf, aber die Tür des Obergeschosses war von innen durch einen Riegel versperrt. Als niemand auf sein Klopfen antwortete, wollte er sich mit der Schulter gegen die Tür werfen, doch Poë hielt ihn zurück und sagte: »Herr, die Tür besteht aus massiver Eiche.« Gleichzeitig zog er sein Schwert und begann, mit kräftigen Hieben die Täfelung zu bearbeiten. Lange Späne fielen auf die Fliesen des Fußbodens. Es dauerte nicht lange, und, aufgescheucht von dem plötzlichen Lärm, beugte sich ein Kopf aus dem Fenster des schräg gegenüberliegenden Hauses. Andere Neugierige folgten, und schon war ein wüstes Geschimpfe im Gang, bis jemand den Einfall hatte, nach der Wache zu brüllen. Der Mann, der die Tür bewacht hatte – das Emblem des Seeadlers, das auf seinem Helm prangte, wies ihn als einen der freien Genossen von Os Erigu aus –, ging nach unten, um die Leute zu beruhigen. Alle jene, die sich inzwischen auf der Straße versammelt hatten, begannen wild durcheinanderzureden. Einer brachte das Gerücht auf, man wolle die Verräter aufhängen. Gleich schrie jemand: »Ein Seil, ein Seil!« Und ein anderer: »Zündet ein Feuer an!« Das Loch in der Tür war erst ein paar Zoll groß, und Airar spürte, wie ihn die schreckliche Ahnung, zu spät zu kommen gleich einer Woge durchraste. Doch es half nichts; er
mußte jetzt mit dem Hacken aufhören, vor die Tür treten, den Hut ziehen und sich von der Menge bejubeln lassen, während Poë losrannte, um eine Bogenschützenpatrouille zu holen und Äxte aufzutreiben. Jemand hörte, wie er Poë den Befehl gab, und noch ehe der Mann von Os Erigu zurück war, gab es schon eine Axt und mit ihr auch gleich ein kräftiger Mann, der damit umzugehen verstand. Ein paar kräftige Hiebe, die Füllung brach splitternd auseinander, und die Öffnung wurde so groß, daß man mit dem Arm hindurchlangen und den Riegel von innen öffnen konnte. Als Airar die Tür aufstieß, fiel sie halb aus den Angeln. Kaum war er in den Raum gestolpert – die Menge der Schaulustigen auf den Fersen –, als ihm auch schon dämmerte, daß hier Meliboë der Zauberer am Werk gewesen war: Nicht nur der Geruch von Tod hing in dem Zimmer, sondern noch ein anderer, der so widerlich und ekelerregend war, daß der kräftige Kerl, der die Tür eingeschlagen hatte, sich würgend abwenden und übergeben mußte; das Gefühl geballter Magie traf Airar wie ein Keulenschlag und ließ ihm schier die Augen aus den Höhlen quellen. »Zurück!« schrie er. »Keinen Schritt näher, wenn euch euer Leben lieb ist.« Er taumelte zurück zur Tür und rief, man solle ihm schnellstens einen Beutel Korn bringen. Der Beutel war rasch aufgetrieben. Er wankte wieder zurück, streute das Korn in Form eines Drudenfußes auf den Boden und sprach mit zitternder Stimme den stärksten Bannspruch, den er kannte. Ein Schauer von Traurigkeit überkam ihn, und die Gesichter, die sich am Ende des Treppenaufgangs drängten, nahmen allmählich wieder menschli-
che Züge an. Dann verschwanden sie, als Poë, leider zu spät, mit den Bogenschützen hereingestürzt kam. Hinter dem kleinen Vorraum, in dem sie sich befanden, schloß sich ein weiterer Raum an. Das Fenster zwischen beiden Gemächern war nur angelehnt. Quer durch den Raum und über das Fensterbrett hinweg zog sich eine lange Spur grünen, übelriechenden Schleims mit schmutzigen Krallenspuren zu beiden Seiten bis in die Schlafkammer, und nun wußte Airar, warum er von dem grünen Lindwurm geträumt hatte. Seine Furcht sollte sich nur allzubald als berechtigt erweisen: In der Schlafkammer lag sein Vater, der Mann, der ihn gezeugt hatte und der sein Freund gewesen war, den Blick starr an die Decke gerichtet, leblos in sich zusammengesunken Sein Gesicht war völlig blutleer; es schien wie aus Elfenbein geschnitzt. Daneben lag Onkel Tholo, das Gesicht nach unten, mit zerfleischtem Hals. Die Wunde war weiß und zeigte keine Spur von Blut. Airar stieß einen verzweifelten Schrei aus und warf sich auf den Boden; er wußte nicht, wie lange er dort lag, als er draußen das Läuten der Kirchenglocken vernahm und Männer kamen, die ihm sagten, es sei sein Hochzeitstag und höchste Zeit, sich anzukleiden. Gestützt auf hilfreiche Arme, die ihm die Treppe hinunterhalfen, wankte er auf die Straße. Gemurmel erhob sich, die Leute zogen betroffen Hüte und Mützen; der Eifer, mit dem sie vorhin noch seinen Vater und seinen Onkel hatten hängen wollen, war angesichts seines Leids echtem Mitgefühl gewichen. Ein Stück weiter, wo sich die Nachricht von dem tragischen Ereignis noch nicht herumgesprochen hatte, empfing ihn stürmischer Jubel. Hüte flogen in die
Luft, laute Hochrufe erschollen, die dem Führer Dalekarliens eine glückliche Hochzeit wünschten. Sir Ludomir wartete schon auf ihn. Bei ihm waren Rogai und Mikalegon, die Trauzeugen sein sollten. »Mein Vater ist tot!« schrie Airar; Trauer und die Nachwirkungen seines Zauberspruchs ließen ihm die Beine unter den Körper wegknicken. Man bettete ihn auf eine mit Teppichen behängte Ruhebank. Sein Körper wurde von solch heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, daß er kaum atmen konnte. Sir Ludomir, der alte Ritter, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und versuchte, ihn mit freundlichen Worten des Trostes zu beruhigen. Aber auch er konnte den Schmerz nicht lindern; und auch nicht der wie ein Spuk durch seinen Kopf schießende Gedanke, daß es nur einen gab, dessen Worte jetzt hätten von Nutzen sein können; und dieser eine war Meliboë, Meliboë der Zauberer, Meliboë der Philosoph, der, welcher all dies verschuldet hatte! Er hatte das Gefühl, als krampfe sich sein Gehirn zu Knoten zusammen; doch wenigstens lenkte ihn dieses Gefühl von seiner abgrundtiefen Verzweiflung ab, und nach einer Weile hörte er auf zu weinen. Sir Ludomir, der sichtlich stolz darauf war, daß seine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, sagte: »Ich muß jetzt gehen; es ist noch eine Menge zu tun. Als Vormund und offizieller Vertreter des Vaters obliegt es mir, die Brautrede zu halten.« »He, mein Freund«, rief Mikalegon erfreut, als er sah, daß Airar sich wieder einigermaßen gefangen hatte, »hast du dich nun doch entschlossen, deine Vorfahren zu überleben?« Und reichte ihm einen Becher Glühwein. Dann kam der bucklige Schneider
herein, um die Kleider zu bringen, und darauf der Priester, um ihn in das Ritual einzuweihen, während draußen laute Jubelrufe erschollen und sich der Klang der Glocken mit dem schrillen Zirpen der Pfeifen aus Skogalang vermengte. Die Stimmung in den Straßen strebte ihrem Höhepunkt entgegen; Weinbecher kreisten, und einer ermunterte den anderen zu Jubel und Händeklatschen. Da Aurareus kaiserlicher Thronerbe war, mußte natürlich seine Trauung als erste stattfinden. Dadurch ergab sich eine längere Wartezeit. Airar konnte nichts essen; die Zeit schien unendlich langsam zu verrinnen, die Worte des Priesters kamen ihm sinnlos und leer vor, und immer wieder schweifte er mit seinen Gedanken ab, so daß der gute Mann ihn schließlich etwas bestürzt ansah, als er immer wieder die richtigen Antworten vergaß. Schließlich – eine Ewigkeit schien vergangen zu sein – kam ein Bursche, auf dessen Ärmel ein nagelneues Emblem mit dem Katzenkopf prangte, mit glühenden Wangen die Treppe heraufgehüpft und rief, es sei soweit. Airar riß sich zusammen und rief: »Wo ist Meliboë?« Worauf der junge Mann antwortete, daß ihn heute noch niemand gesehen habe; seit dem Tag, an dem er die philosophischen Geräte, um die er gebeten hatte, in Empfang genommen hätte, wäre er nicht mehr vor die Tür gegangen, sondern hätte sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Auf der Straße begannen die Trompeten zu spielen; obgleich Airar sich noch immer fühlte, als sei die Haut über seinem Gesicht fest wie ein Trommelfell gespannt, stellte er doch fest, daß die Musik, die frische Luft und die begeisterte Stimmung der Menge bewirkten, daß seine Lebensgeister allmählich wieder erwachten. Mikale-
gon half ihm auf den Hochzeitswagen, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Brav gemacht, junger Mann; wie seinerzeit im Bärenfjord; ich wußte schon damals, daß Ihr einer von denen seid, die nicht so leicht unterzukriegen sind.« Die Trauungszeremonie, die in der Kathedrale stattfand, wurde nicht vom Bischof vorgenommen, sondern von einem einfachen Priester; der höchste Geistliche von Naaros war nämlich ein Vulkinger, den man auf seinen Wunsch hin hatte gehen lassen. Als Airar neben Argyra kniete, warf er ihr einen raschen Blick von der Seite zu; er hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie genau merkte, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Nun, jedenfalls schaffte er es, sich so zu konzentrieren, daß er alle Antworten an der richtigen Stelle gab. Nur eine vergaß er, und zwar die, daß er von seiner Braut keine andere Mitgift forderte als das Blut des Königs Argimenes. Und diese Antwort war auch nicht Bestandteil des üblichen Trauungszeremoniells, sondern war eigens für die Tochter des Kaiserhauses hinzugefügt worden. »Du bereitest mir Kummer«, flüsterte sie ihm zu (es waren die ersten Worte, die sie als seine Frau sprach!), als sie unter den Klängen der Flöten und Saiteninstrumente und unter den Hochrufen der ausgelassen hüpfenden Hochzeitstänzer vom Altar durch den Chorgang zum Portal der Kathedrale schritten. Da der Prinz ranghöher war als seine Schwester, hatte man natürlich für sein und Evadnes Hochzeitsmahl das Rathaus zur Verfügung gestellt, wohingegen Airar für seine Feier mit dem Haus der Ledergilde vorliebnehmen mußte; zwar war auch dieses
Haus kaum minder prunkvoll, doch war der etwas eigenartige Geruch gegerbten Leders allgegenwärtig. Airar hatte alle Hände voll zu tun, die Gäste, die ständig zwischen beiden Festen hin und her pendelten, zu begrüßen oder zu verabschieden; Mikalegon soff wie ein Loch und riß eine Zote nach der anderen, und es war schon dunkel, als sie sich schließlich erhoben und das Hochzeitslied sangen. »... und so verlassen wir euch nun...«, hallten die Worte der letzten Strophe noch in Herzog Airars Ohren, als er, während sie die Treppe hinuntergingen, in einer plötzlichen Aufwallung heftiger Leidenschaft die Frau, die zu erlangen er einst geschworen hatte, in die Arme nahm und schweratmend an sich riß. Sie jedoch erwiderte seine Umarmung nur mit einem kurzen, sanften Druck, dann ließ sie ihre Arme schlaff herunterhängen und bot seinen fordernden Lippen kühl die Wange, wie einst Gython. Er hatte plötzlich das Gefühl, einen Eisblock im Arm zu haben. Er löste seine Umarmung, trat einen Schritt zurück und flüsterte kaum hörbar: »Keine Liebe also? O meine geliebte Argyra, meine Angebetete...« Auf der Straße blies jemand ein paar schräge Töne auf einem Horn; ein schepperndes Geräusch ertönte, wie wenn hundert Hände mit den Stöcken auf Metall klopfen, und die freien Fischer brüllten mit heiseren Stimmen die anzüglichen Hochzeitsgrüße, die in ihrem Volk Brauch sind. Prinzessin Argyra schaute Airar fest in die Augen: »Herzog Airar, ich bin nun dein angetrautes Weib, und du hast damit das Recht, meinen Gürtel zu lösen und mit mir zu verfahren wie es dir beliebt. Doch
Liebe? Ich sagte dir schon früher einmal. Zwischen dir und mir stehen die sieben Mächte. Ich bin eine Tochter der Quelle, doch du kommst zu mir in dieser Nacht, die einer Frau so lieb und teuer sein muß, behaftet von dem üblen Gestank schmutziger, tödlicher Magie! Ich kann dir nicht mehr geben als das, was ich in mir fühle.« Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, sie gebieterisch an sich zu reißen und sein Recht zu fordern. Sein Blick fiel auf das gemachte Bett, doch die Nachwirkungen von Meliboës und seinem eigenen Zauber waren noch immer so stark, daß ihm Tränen in den Augen standen und er sich unfähig fühlte wie ein alter Wallach. Und als sich im selben Moment unten auf der Straße aufs neue das obszöne Geschrei erhob, brüllte er in einer plötzlichen Aufwallung höchster Trauer und Verzweiflung: »Hört auf! Ich will, daß ihr endlich aufhört!« Er riß sein Schwert aus der Scheide und rannte die Treppe hinunter.
38 Die Weißflußtäler: Hochzeitsnacht »Junger Herr«, sprach Meliboë, »nicht wenige würden eher sagen, ich habe Euch Eures schlimmsten Feindes entledigt. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber der Zufall der Geburt schlägt den Menschen in solch starke Bande, daß er nicht mehr selbst frei entscheiden kann, zu welchen Freunden er gehen soll. Eure ganze Zukunft hing davon ab; und nicht nur Eure, sondern die von vielen anderen ebenfalls. Es bestand keine Hoffnung, den alten Mann auf unsere Seite zu ziehen. In diesem Punkt waren wir uns einig, der alte Ritter und ich, auch wenn er in vielem anderen ein übler Schurke ist.« Voller Bestürzung starrte Airar den Zauberer an: »Ein Schurke? Sir Ludomir?« »Ganz recht; Sir Ludomir Ludomirson. O ja, natürlich ist er von hehren Zielen erfüllt, von goldenen Phrasen, das will ich gern zugeben; von der Sorte habe ich schon so manchen kennengelernt. Vulk, der Unvernünftige, ist auch einer; ebenfalls ganz von dem Wunsch beseelt, die beiden Völker zu vereinigen, so sehr, daß ihm dazu jedes Mittel recht ist – auch wenn er damit das Ziel ad absurdum führt, etwa wie ein Vater, der seinem Kind das Schwimmen beibringt, selbst auf die Gefahr hin, daß es dabei ertrinkt.« »Ich kann dazu nichts sagen«, erwiderte Airar, »denn ich weiß zu wenig darüber. Doch scheint mir, daß Ihr selbst mehr den Zweck als die Mittel im Auge hattet bei dem, was Ihr soeben angerichtet habt. Dar-
über hinaus habt Ihr Euch nicht gescheut, für andere Menschen Schicksal zu spielen, obwohl Ihr mir einmal sagtet, kein Mensch habe das Recht, dies zu tun. Ich weiß nur eines: Ihr habt mir mit einem Streich meinen Vater und meine Geliebte genommen; und Ihr könnt ebensowenig im freien Dalekarlien geduldet werden, wie ein reißendes Ungeheuer!« Da sprach Meliboë: »Ihr habt nichts verloren, was Euch nicht schon längst genommen war. Und was die philosophischen Punkte betrifft, seid Ihr natürlich im Unrecht; denn ich verfolge kein höheres Ziel als das zu betrachten, wie sich der Lauf der Welt gestaltet. Es bringt mir selbst keinen Nutzen, das zu tun, wozu ich anderen rate. Doch wie Ihr wollt: Verbannungen sind nichts Neues für mich, und wie ich hörte, ist Dzik ein schönes Land, und seine Bewohner gebärden sich nicht so wählerisch und empfindlich. Würden Eure herzogliche Hoheit die Güte haben, mir ein Schiff zur Verfügung zu stellen, um dies Land zu verlassen?« So nahm denn auch diese Zusammenkunft ein unrühmliches Ende. Am Morgen brachte ein Reiter die ersten brauchbaren Nachrichten aus dem Norden. Vulk bewegte sich langsam nach Süden, in der Absicht, Naaros einzunehmen; er führte eine riesige Menge an Kriegsmaschinen mit sich, wenn auch nur drei Tercias, da er Schwierigkeiten hatte, Nahrung für eine größere Armee aufzutreiben. Auch Gentauren hatte er nicht viele bei sich, waren diese doch vor allem hoch oben im Norden gebunden, wo die Bergleute aus Korosh und die Hochländer aus Korsor immer wieder die Straßen, die von den beiden Lacias nach Süden führten, unsicher machten, so daß Vulk große Schwierigkeiten hatte, über die Hauptstraßen
Proviant aus Briella heranzubringen. Aber eine andere Wahl hatte er nicht, denn Norby war noch immer ausgelaugt vom Krieg im Winter, und aus Übersee kam kein Nachschub. Wer gab Korsor den Auftrag, sich zu erheben? Egal – Vulk befand sich in Stavorna, und Feldherr Airar mußte nun zusehen, so schnell wie möglich nach Norden zu reiten, um diese Nessel aus Briella möglichst in den Weißflußtälern zu überrumpeln. Noch in derselben Nacht ritt er mit den Hestingernern und den Lanzenträgern aus Carrhoene los. Rogai und die leichtbewaffneten Fußtruppen sollten so schnell wie möglich nachkommen: ebenfalls Mikalegon. Pleiander und Evimenes blieben in Naaros, um mit den Truppen, die aus Carrhoene erwartet wurden, und dem Rest, der sich noch in der Stadt befand, nachzurücken. Man schickte Boten nach Hestinga, mit dem Auftrag, den restlichen dort befindlichen Truppen zu befehlen, nicht nach Naaros zu kommen, sondern den Drachengrat über den Paß am Grafenkissen zu überqueren, ohne aus ihrem Ritt ein Geheimnis zu machen. Dort sollten sie sich mit den anderen vereinigen. Kamen sie zu früh an, gut! Kamen sie zu spät, dann hatte dies den Vorteil, daß Graf Vulk seine Armee schwächen mußte, indem er gezwungen war, einen Trupp nach Osten zu werfen. Außerdem konnten die beweglichen Hestingerner seinen Nachschub empfindlich stören. Argyra küßte Airar zum Abschied, als er sein Pferd bestieg; er hatte ihr noch nichts von Meliboës Verbannung erzählt (da er dies nicht als Mittel benutzen wollte, sie zu gewinnen), und ihre Lippen blieben geschlossen, als sie die seinen berührten. Die Bäume
hatten schon ihre ganze Blätterpracht entfaltet, als Airar gen Norden ritt, entlang jenem Weg, auf dem er einst in Begleitung des freundlichen vulkingischen Bogenschützen nach Süden gezogen war – wie hatte jener noch geheißen? Er konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern. Als er an die Stelle kam, wo der Pfad zu Meliboës Haus abzweigte, sah er, daß die Bäume links und rechts des Pfades schwarz und verkohlt aussahen. Der Anblick der Hütte beschwor deutlichere Erinnerungen in ihm herauf als Trangsted, das er bald darauf ebenfalls passierte. Denn die Hütte des Zauberers war völlig zerstört und bot ein trauriges Bild des Ruins. Trangsted sah noch genauso aus wie damals, alles war stehengeblieben, nichts zerstört, doch auch nichts vertraut. Nur die Zäune, die das Anwesen im Süden gegen die Söhne des Viclid begrenzt hatten und im Norden gegen Sumarbo, waren eingerissen, um aus den drei Höfen eine riesige, von Sklaven bewirtschaftete Latifundie zu machen, und das Haus war anders gestrichen als früher. Nichts wies darauf hin, daß es bewohnt war. In der darauffolgenden Nacht kampierten die Männer in dem Hügelgebiet zwischen Västmanstad und den Weißflußtälern. Airar als Führer wurde zum Übernachten ein Haus zur Verfügung gestellt, aber er lehnte ab, obwohl es zu nieseln begonnen hatte. Eine Nacht später, als sie in dem Dörfchen Kobbing auf der Erde schliefen oder in Scheunen, brachte man ihm eine salmonessische Hure, die schon die Schnüre ihres Leibchens öffnete. Aber er wollte nichts mit ihr zu schaffen haben und schickte sie zu Alsander, der in solchen Dingen nicht sehr wählerisch war. Wenn man Kobbing hinter sich gelassen hat, befindet man sich
schon mitten in den Weißflußtälern, auch wenn das Land hier noch immer Västmanstad heißt. Der Schweinerücken im Osten ist hier in eine sanfte Hügellandschaft übergegangen, die jedoch bald abrupt ansteigt und in die schroffen Ausläufer des Drachengrats übergeht, während sich im Westen die Hügel etwas sanfter erheben, um zur Bergkette des Schildträgers zu werden, die Västmanstad von Skogalang und Shalland abgrenzt. Die Straße ist in dieser Gegend äußerst kurvenreich, sehr zum Ärger der Vulkinger, die sie erbauten und ansonsten möglichst gerade Straßen bevorzugten. An jeder Biegung hatten sie ein Kastell errichtet. Diese standen jetzt ausnahmslos leer – ein paar lediglich verlassen, andere jedoch ausgebrannt. Das war das Werk der Männer aus den Weißflußtälern, die nicht lange gezögert hatten bei der Kunde des bevorstehenden Krieges. Die Talmänner stießen jetzt einzeln oder in Gruppen von zwei oder drei Leuten zu ihnen; doch leider pflegten nur wenige von ihnen zu Pferde in den Krieg zu ziehen. Um den Marsch nicht unnötig zu verlangsamen, ließ Airar die Parole ausgeben, sich in den naheliegenden Kastellen zu verschanzen und dort auf Mikalegon zu warten. Es war ebenfalls Airars Idee, den Frauen aus den Weißflußtälern zu raten, dort Zuflucht zu suchen, da nicht ausgeschlossen war, daß es in dem betreffenden Gebiet zum Kampf kommen konnte; aber Alsander hatte schon, noch bevor sie aufbrachen, verfügt, allen verfügbaren Proviant in die Kastelle zu schaffen, damit die nachrückenden Einheiten sich rasch versorgen konnten. Die Hestingerner stießen in kleine Gruppen nach Osten und Westen vor, um Neuigkeiten zu er-
fahren. Die Kunde, die sie mitbrachten, besagte nicht viel Neues: Graf Vulk saß noch immer in Stavorna fest, wo er Wagen und Proviant sammelte. Es hieß, daß Vanette-Millepigue, der Rote Baron von Naaros, inzwischen sein Marschall war. An einem trüben, regnerischen Frühlingsmorgen erreichten sie Torgsted, jene Stadt, die das Herz der Weißflußtäler darstellt und auch so genannt wird. Die Stadt ist nicht besonders groß – sie besteht aus etwa vierzig festen Häusern aus Stein, der Rest sind Holzhäuser, die vor nicht allzulanger Zeit erbaut wurden. Die Vulkinger hatten ganz in der Nähe eine ihrer salmonessanischen Kolonien hingepflanzt, deren hilflose Bewohner nicht einmal soviel Verstand aufgebracht hatten zu fliehen, als die Kunde vom drohenden Krieg nahte. Airar befahl, sie aus den Häusern zu holen, die einstmals Dalekarliern gehört hatten, und sie unter Aufsicht zu stellen, da es für seinen Plan sehr nützlich war, wenn die Söhne Briellas sich möglichst keine klare Vorstellung darüber machen konnten, wie er sich ihnen zur Schlacht stellen wollte. Die große Straße nach Norden geht mitten durch Torgsted hindurch und spaltet die Stadt in zwei etwa gleich große Hälften. Der Naar fließt so dicht an der Stadt vorbei, daß man von den Häusern, die am äußersten Rande der Stadt stehen, über seine Ufer blikken kann. Eine Steinbrücke führt über den Fluß, an die sich ein Weg – nicht viel mehr als ein Pfad – anschließt, der über die Bergkette des Schildträgers nach Skogalang führt Der Fluß, zum Durchwaten zu tief, sollte nach Airars Plan als Graben vor der linken Flanke seiner Schlachtreihe dienen. Sein westliches Ufer bot mit dichtem Baumbewuchs und schwer
durchdringbarem Unterholz eine hervorragende Deckung. Längs dem anderen Ufer hatten die Vulkinger ihrer Gewohnheit entsprechend allen Bewuchs abgeholzt, doch seitdem war schon wieder üppiges Buschwerk nachgewuchert, das bis dicht ans Ufer reichte und ebenfalls ein gutes Versteck darstellte. An der Stelle, wo es am dichtesten war, ließ Airar mit Hilfe aller verfügbaren Handwerker vier provisorische Brücken errichten, die nur für diese eine Schlacht gedacht waren. Zwischen den mehr im Norden gelegenen Häusern der Stadt verlief ein Graben, der in den Naar mündete. Dieser Graben, ausgetrocknet und fast gänzlich mit Unrat gefüllt, hatte zur Zeit der Heidenkriege die Vorderfront einer Einpfählung gebildet. Die Salmonessaner wurden mit dem Versprechen auf Entlohnung darauf angesetzt, diesen Graben wieder freizuschaufeln. Und als Rogai mit den Männern aus Skogalang eintraf, die von allen Dalekarliern am geschicktesten mit Holz zu bauen verstehen, machten sie sich gleich daran, die alte Befestigung neu zu errichten; denn hier sollten nach Airars Vorstellung Mikalegon und die Schwerbewaffneten den Ansturm des Feindes aufhalten. Der Gedanke, vielleicht zu schwach zu sein, um den ausgebildeten TerciaSoldaten zu widerstehen, bereitete ihm große Sorgen. Als nächstes hieß er die Männer aus Skogalang, die Straße selbst zu verbarrikadieren, doch mit einer beweglichen Barrikade, da dies der Ausgangsweg war, über den die carrhoenischen Sergeanten den Gegenstoß führen sollten. Ein hohes Steinhaus überragte den Graben an der Stelle, wo die Straße ihn kreuzte. Dieses Haus war als eine Art Festung gedacht. An der
Stelle, wo das Obergeschoß vorsprang, ließ Airar den Fußboden durchbohren, damit man von unten Waffen und Pech, das er in großen Kesseln hinaufschaffen ließ, an einem Feuer erhitzen konnte. Die Ostflanke bereitete ihm weit mehr Sorgen. Hier waren die freien Flächen nicht wie auf der anderen Seite durch das Abholzen von Bäumen entstanden, sondern natürlichen Ursprungs. Sie stiegen auf eine Länge von etwa hundert Schritten sanft an, bevor sie die Bäume am Fuß eines klippenartigen Felsens erreichten. Die Männer und Frauen, die Torgsted einst gegründet hatten, waren dem Befestigungsproblem auf dieser Seite ganz einfach aus dem Weg gegangen, indem sie Graben und Einpfählung zurückgebracht und südlich um die Stadt herumgeführt hatten. Dies schien Airar auf keinen Fall ausreichend, da die Vulkinger mit Sicherheit an jener Stelle vorbeikommen, sich hindurchdrängen und seine Streitmacht, bevor sie weiter vorstieß, in den tiefen Naar zurückwerfen würden. Er fürchtete jedoch, daß die Zeit nicht ausreichte, dort einen neuen Graben zu ziehen; Alsander pflichtete ihm bei. Aber sie taten, was sie konnten, indem sie aus dem Knick des alten Grabens ein Gewirr aus gefällten Bäumen heranschleppten, dessen Äste sich ineinander verheddert hatten. Sie spitzten die nach außen ragenden Äste an und füllten den Platz bis zu den Büschen und Bäumen am Fuß des Felsens so gut wie möglich damit aus. Hinter diesem Wall sollten alle mit Speeren ausgerüsteten Dalekarlier Posten beziehen, ob sie nun, wie die Fischer von Gentebbi, ihre Waffen als Wurfgeschosse benutzten, oder ob sie, wie die Männer aus den Weißflußtälern oder die Mariolaner, damit zu-
stießen. Alles, was an Bogenschützen aufzubieten war, sollte hinter dem Naar am gegenüberliegenden Ufer auf der Lauer liegen, da sie dort von den Feinden nur schwer zu erreichen waren und auf die rechte Flanke des vorrückenden Marschblocks zielen konnten, auf die Seite also, wo sie keine Schilde schützten. Diese Schlachtordnung bot den Vorteil, daß die Vulkinger gezwungen waren, erst einmal die Gasse durch den beiderseitigen Geschoßhagel zu passieren, wenn sie zum Zentrum vordringen wollten. Dort aber wartete schon Mikalegon hinter der Einpfählung mit seinen Axtmännern. Dahinter wiederum würde, zwischen den Häusern verborgen, die Tagoi gepanzerter Reiter aus Carrhoene (hoffentlich trafen sie noch rechtzeitig ein!) auf sie lauern, bereit, sofort vorwärtszustürmen, falls die Vulkinger ins Wanken gerieten oder, wenn erforderlich, den Rückzug Mikalegons zu decken. In vorderster Front jedoch würden die leichten Reiter aus Hestinga den Feind erwarten und Mikalegon und die Carrhoener decken. Sobald die Vulkinger zum Hauptstoß ansetzten, konnten sie leicht durch die Stadt entkommen und sich über die jüngst errichteten Holzbrücken über den Naar absetzen. Alsander behauptete, sie hätten nun alles getan, was man tun könne; einen besseren Plan gäbe es nicht, und nun müsse man eben abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Die ganze kleine Stadt Torgsted geriet von Tag zu Tag mehr in Schlachtfieber, während immer neue Gruppen von Kämpen eintrafen. Airars Tage waren mit hektischer und doch erwartungsvoll gespannter Aktivität gefüllt; hier mußte er einen Unterführer für einen neugebildeten Trupp
benennen, dort sich um die Herstellung von Pfeilen kümmern. Seine Nächte hingegen waren kummervoll; sein Herz brannte, und er verzehrte sich geradezu nach Argyra, von der er nun schon seit vierzehn Tagen kein Lebenszeichen mehr empfangen hatte. Er fing an, sich zu fragen, wie lange er diese Armee noch würde zusammenhalten können; denn der Proviant schmolz beängstigend schnell zusammen, trotz der beständig einrollenden Karawane von Wagen, die Evimenes von Naaros heraufschickte. Auch fragte er sich, was passieren würde, wenn Vulk die Route über Shalland und längs der Küste von Skogalang wählte und damit den ganzen Schlachtplan über den Haufen warf. Alsander meinte allerdings, was das letztere anbetreffe, brauche er sich keine Sorgen zu machen. Die Richtigkeit dieser Einschätzung sollte sich bald darauf bestätigen, denn eines schönen Tages, als die Sonne vom blauen Himmel strahlte, traf ein Mann aus Norby ein, den die Reiter aus Hestinga bei einem ihrer Erkundungsritte aufgelesen hatten. Er war bei den Hilfstruppen der Vulkinger gewesen und auch an seiner Ausrüstung und Kleidung leicht als solcher zu erkennen konnte jedoch sehr schnell eindeutig beweisen, daß ihn der Eiserne Ring seiner Provinz als Spion eingeschleust hatte. Vulk, so berichtete er, habe sich nun endlich mit ausreichend Proviant versorgt und rücke mit allen drei Tercias und einigen Gentaurenabteilungen über die Hauptstraße nach Süden vor. In seinem Lager kursiere das Gerücht, das ganze südliche Dalekarlien habe sich erhoben und in den Weißflußtälern zur Schlacht gesammelt; und nun habe er die Absicht, die Revolte in einer Entscheidungsschlacht im Keim zu ersticken, bevor sie auch auf die
nördlichen Provinzen übergreife. Seine Belagerungsmaschinen und die schweren Wagen, auf denen diese transportiert würden, habe er zurückgelassen; Naaros wolle er nach siegreicher Schlacht im Handstreich nehmen. Er habe so viele Gentauren wie nur eben möglich von der Bewachung der Straßen abgezogen, um eine möglichst unbezwingbare Schlagkraft für die bevorstehende Entscheidungsschlacht zu erlangen. Eine halbe Tercia, so berichtete der Mann weiter, sei nach Shalland marschiert, um die Provinz in Schach zu halten; eine weitere halbe Tercia solle, sobald genügend Proviant aufgetrieben wäre, durch Korsor und über die Nordflanke des Drachengrats nach Hestinga marschieren und dort sämtliche Höfe in Brand stecken. Inzwischen sei überall die Rede davon, daß sich auch das kaiserliche Banner gegen Vulk erhoben habe, was ihn mächtig in Wut versetze. Der Graf habe Herolde in alle vier Himmelsrichtungen ausgeschickt, die verkünden sollten, daran sei kein Wort wahr, und er, Vulk, wäre nach wie vor Statthalter des Kaisers. Es sei jedoch kein Geheimnis, daß gleich zwei Barone von Stavorna aus mit prunkvollem Gefolge nach den beiden Städten Lectis geeilt seien, was doch nur ihre Absicht verriet, nach Stassia zu fahren. Nun war also klar: Die Schlacht würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und es sollte auch nicht einmal mehr drei Tage dauern, da kam eine Gruppe von Hestingernern von einem ihrer Streifzüge mit drei schwerverletzten Kameraden zurück, die leblos über die Rücken ihrer Pferde hingen Sie waren ein Stück weiter nördlich mit einem Trupp Gentauren aneinandergeraten. Alsander, nie um einen klugen Einfall verlegen, ließ sie durch das Lager führen, da-
mit alle die Verwundungen sehen und ihren Haß gegen die Vulkinger vertiefen konnten. Davon versprach er sich noch wilderen Kampfeseifer. Airars Stimmung hingegen sank immer tiefer; fast war er schon soweit zu wünschen, er wäre nie zum Führer gewählt worden. Evimenes und die Reiter von Carrhoene waren noch immer nicht eingetroffen, und dabei war nur ein entscheidender Sieg ein Garant dafür, die Herrschaft der Vulkinger endgültig zu zerschlagen. Wenn sie nicht mehr erreichten als den Feind hinter die Barrikade zurückzuwerfen, würde er sich wieder sammeln und erneut angreifen. Er hätte sich den Kummer sparen können. Einen Tag später setzte ein Trupp leichter Reiterei einem Flügel Gentauren nach und brachte ihnen erhebliche Verluste bei. Doch dann wurde er von einer Tercia aufgehalten und mußte kehrtmachen. Die Tercia war nicht einmal mehr zwei Tagesmärsche entfernt. Und als unser Held an jenem Abend schlaflos in seinem Bett saß und finsteren Gedanken nachhing, hörte er von draußen laute Rufe. Beim Hinaustreten sah er, wie Fackeln geschwenkt wurden. Da war er endlich, der treue Evimenes! Und mit ihm drei volle Tagoi carrhoenischer Lanzenreiter, fünfzehnhundert Mann, die, in eine riesige Staubwolke gehüllt, mit donnerndem Hufgetrappel in die Stadt geritten kamen und sich unter dem Jubel der Menge in Häuser und Straßen des kleinen Torgsted verteilten. Sie erzählten, eine carrhoenische Flotte liege im Hafen von Naaros vor Anker; und eine weitere sei schon mit Lanzenreitern an Bord unterwegs. Argyra, so hieß es, habe wohl irgendeinen Streit mit Sir Ludomir Ludomirson gehabt. Der alte Ritter sei ganz plötzlich nach Stassia
aufgebrochen; bei der öffentlichen Abschiedszeremonie im Hafen habe sie ihn kaum eines Blickes gewürdigt und nur wenig mit ihm gesprochen. Aurareus, so berichtete man weiter, halte mit großem Pomp in der Stadt Hof; die meisten Leute jedoch zögen es vor, sich in Streitfällen an Gallil zu wenden, wenn sie um ein Urteil ersuchten, oder sogar an seine Frau. Als die Männer ihren Bericht geendet hatten, erläuterte Airar ihnen seinen Schlachtplan Evimenes fand ihn hervorragend; er wandte sich halb um, riß sein Schwert aus der Scheide, fuchtelte damit in der Luft herum und schrie mit leuchtenden Augen: »Diese verdammten Bastarde! Wir werden ihnen unsere Zahnstocher ins Hinterteil rammen!« Ein weiterer Tag verging, und die Kundschafter berichteten, die Vulkinger hätten ihr Lager kurz nach Mittag aufgeschlagen, was gegen ihre Gewohnheit sei, aber es wie üblich mit einer rasch errichteten Einpfählung umgeben. Sie wüßten genau, wo Dalekarliens Truppen lägen, und hätten die Absicht, genau in der Mitte durchzustoßen. Unter großen Anstrengungen sei eine Abteilung Gentauren zum linken Ufer des Naar übergesetzt, und diese schlage sich gerade durch den Wald, in die Richtung, wo Dalekarliens Bogenschützen auf der Lauer lagen. Airar schickte die Hestingerner los, sie dort aufzuhalten – obwohl das bedeutete, einen Teil seines Überrumpelungsplans im Zentrum preiszugeben und die Männer aus Skogalang, die über die Brücken angreifen sollten, ihrer Deckung zu berauben. Er hatte nicht geglaubt, daß die Vulkinger auf diese Idee kämen. »Tja«, sagte Alsander und schaute ihn dabei mit wissendem Blick an, »im Krieg ist es immer so, daß der Feind gerade
das herauskriegt, was man selbst vergessen hat. Damals in Uravedu zum Beispiel...« Den Rest hörte der Herr von Dalekarlien schon nicht mehr. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders: Wieder war der Vorabend einer Schlacht gekommen, wieder hieß es, Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod, und diesmal hing für ihn selbst mehr als jemals zuvor alles vom Ausgang der Schlacht ab. Dennoch hatte er das Gefühl, als sei er selbst kaum davon betroffen, es kam ihm vor, als wäre das Ganze nicht mehr als eine uralte Sage, die jemand am Kamin erzählte und die von Menschen handelte, die längst tot waren. Argyra, dachte er, und dann stellte er sich vor wie es gewesen wäre, sie am Abend seiner Hochzeit zu liebkosen und zu streicheln, ohne daß diese Mauer dunkler Magie zwischen ihnen stand. Trotzdem fand er, daß er nicht falsch oder schlecht gehandelt hatte, als er den Bannzauber angewendet hatte, um in den Raum eindringen zu können, in dem sein Vater tot auf dem Boden lag. Worin bestand dann aber seine Schuld?... Daß sein Vater ihm das Zaubern beibrachte, als er noch ein kleiner Junge war?... Daß er die Gesellschaft von Meliboë dem Zauberer angenommen hatte, als sein Glück und das Dalekarliens auf den absoluten Tiefpunkt gesunken waren, in jener Nacht in den Sümpfen Salmonessas? Ja, vielleicht hatte er damals und dort den entscheidenden Fehler begangen. Es schien, dieser Fehler hatte ihn die Liebe gekostet, die nur der Schatten einer Liebe war – und nun auch diese große Liebe, die sein Herz, sein ganzes Leben ausfüllte. Was machte es da schon für einen Unterschied, ob er aus dieser Schlacht als Sieger oder Verlierer hervorging? Konnte das denn wahr
sein? Mußte er nun sein ganzes Leben lang für diesen einen Fehler bezahlen? Das ist mir zu hoch, dachte er. Und während er dies alles überlegte, schüttelte er alle quälenden Gedanken wie Staub von sich ab, setzte seinen Helm auf und ging hinaus, um noch einmal seine Schlachtordnung zu kontrollieren und nachzusehen, ob alles richtig gemacht war, denn wenn die Vulkinger so früh schon ihr Lager aufgeschlagen hatten, war es wahrscheinlich, daß sie früh am Morgen angriffen. Über der Straße hing Rauch von den Feuern der Kochstellen, um die sich die Männer scharten; hier und da machte eine Flasche die Runde. Die Soldaten unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Sie begrüßten Airar fröhlich, als sie ihn aus der Tür treten sahen. Vom unteren Ende der Straße, dort, wo sie eine Biegung machte, bevor sie die Stadt erreichte, drangen laute Rufe herüber. Als er in die Richtung spähte, aus der die Geräusche kamen, glaubte er eine Bewegung wahrzunehmen, die marschierenden Männern ähnelte. Gleich darauf vernahm er auch Laute, die nichts mit dem normalen Lärm eines Feldlagers zu tun hatten. Er kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in jene Richtung; die Gruppe näherte sich rasch. Und in der Tat: Es war ein Trupp Bewaffneter, der die Straße heraufmarschierte. Vornweg drei Männer zu Pferd. Einer von ihnen trug ein Banner, das in der stillen Abendluft so schlaff herabhing, daß sein Wappen nicht zu erkennen war. Die Soldaten dahinter marschierten alle in Reih und Glied. Auf ein Signal ihres Anführers blieben sie mit einem Ruck stehen. Die drei Reiter lösten sich von der Spitze und kamen auf Airar zu, der noch immer im Türrahmen
stand. Ein junger Mann mit einer roten Rose auf seinem Umhang sprang behend aus dem Sattel. »Meine Herren«, rief er und zog seinen Hut, an dem eine Fasanenfeder steckte, »ich suche den hochwohllöblichen Airar von Trangsted, Oberbefehlshaber der dalekarlischen Recken.« »Er steht vor Euch.« Der zweite Mann war inzwischen ebenfalls abgestiegen. Fasanenfeder drehte sich um. »Dies ist Baron Ioventinian, Herrscher von Scroby und Reichsfürst.« Der Baron reichte Airar die Hand. »Ich komme im Auftrag des Rates und der Regenten des Kaiserreiches und habe den Befehl, diese Truppen gegen den Hochverräter und Zauberer, Graf Vulk von Briella, ins Feld zu führen – fünfhundert wohlgerüstete Kämpen aus Scroby. Dies jedoch nur unter der Bedingung, daß keine Magie, Hexerei oder sonstige Zauberkunst im Spiel sind, denn dies verstößt eindeutig gegen die Ordnung der Quelle, wie sie festgesetzt wurde von seiner Majestät, dem ruhmreichen Kaiser Aureolus.« »Keine Magie«, bekräftigte Airar und drückte dem Baron herzlich die Hand. »Ihr kommt wie gerufen. Denn just an dieser Stelle werden wir morgen gegen Graf Vulk höchstpersönlich kämpfen, und gerade gut ausgerüstete Männer sind es, die uns am meisten fehlen. Darf ich Euch Mikalegon vorstellen, einst Herzog von Os Erigu, jetzt Kämpfer in unseren Reihen für ein freies Dalekarlien?« Ioventinian zögerte einen Moment und warf den Kopf ein wenig zurück, denn der Name des Herzogs hatte nicht eben einen guten Klang in kaiserlichen Ohren. Aber dann drückte er auch Mikalegon die
Hand. »Wollt Ihr nicht etwas essen?« fragte Mikalegon. »Ihr habt einen langen und harten Marsch hinter Euch; es ist erstaunlich, wie Ihr zu Fuß und mit den schweren Rüstungen so schnell hiersein konntet. Denn erst gestern kamen die Carrhoener an, und sie sind ausnahmslos hervorragend beritten.« »So schlimm wie Ihr meint, war es gar nicht«, erwiderte der Baron. »Als wir in Naaros ankamen, trafen wir den Spadarion Pleiander, dessen Schwester mit unserem gnädigen Prinzen verheiratet ist. Und der sagte uns, er habe zwar Kriegsmaschinen herzuschaffen, aber wir wären im Moment von weit größerem Nutzen. So brachte er uns freundlicherweise mit einer Anzahl Wagen, die er in der Zwischenzeit hatte bauen lassen, nach hier... Doch wo ich gerade von den Wagen spreche«, fuhr er, an Airar gewandt, fort, »in einem davon sitzt unsere gnädige Herrin, Prinzessin Argyra, und wartet auf Euch. Ich wollte...« Die Männer aus Scroby mit ihren großen, stachelbewehrten Helmen und ihren glänzenden Schulterund Brustpanzern starrten ihn mit offenem Mund an, als er wie ein Wilder an ihnen vorbeistürmte. Obwohl Argyra freundlich lächelte, wagte er es nicht sie in die Arme zu schließen, als er ihr vom Wagen half. Unter dem Zwang, etwas sagen zu müssen, sprach er von der bevorstehenden Schlacht und von der Gefahr, in die sie sich durch ihr Kommen begeben hatte. Und während er sie zu dem Haus führte, das sein Quartier bildete, befielen beide Spannung und Befangenheit. Er hatte nun alle Hände voll zu tun – Schlafplätze für den unerwarteten Nachschub aus Scroby im Lager herrichten, überlegen, wie er sie am besten in den Schlachtplan einordnete (er kam zu dem Entschluß,
den größeren Teil von ihnen Mikalegon zuzuteilen und den geringeren auf die rechte Seite, wo die Speermänner waren), und er mußte Nahrung für alle beschaffen. Es war schon sehr spät, das Lagerfeuer schon niedergebrannt; nur die Wachtposten standen noch draußen, als Airar endlich seine Ungeduld lindern und zu seiner Frau gehen konnte. »Warum bist du gekommen?« »Wünschest du denn nicht, daß ich bei dir bin, mein Gebieter? Ich bin hier, dein Los mit dir zu teilen, wie immer die Schlacht ausgehen mag. Denn ich will nicht die Frau von Sthenophon werden und, mein Geliebter, möchte dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir unrecht getan. Sir Ludomir selbst war es, der, seinem Eid als Mitglied des kaiserlichen Rates zum Hohn, den Zauberer dazu brachte, seine Kunst bei deinem Vater anzuwenden.« Airar fühlte, wie die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. »Sir Ludomir, den ich immer für einen großmütigen und edlen Mann hielt... Aber schätztest du mich so niederträchtig ein? Es stimmte also, als du sagtest, daß du... du sagtest... daß du nicht... und ich bin noch immer ein Zauberer.« »Willst du mich dazu bringen, daß ich dir etwas gestehe? Ich habe lange darüber nachgedacht, als ich allein dort unten in Naaros lebte. Ich kann dich nicht ändern und will es auch nicht. Bleib ruhig ein Zauberer, wenn es dein Wunsch ist, aber laß mich dir sagen, daß ich dich liebe und daß ich dich wahrscheinlich morgen verliere, wenn du gegen diese mächtigen Männer in die Schlacht ziehst.« Während sie ihn anschaute, löste sie ihren Gürtel und ließ ihre Kleider fallen.
39 Die Weißflußtäler: Kein Ende Nachdem sie erschöpft Wange an Wange wieder nebeneinander lagen, fragte Airar: »Sag mir, Argyra, du, die du doch soviel von den Menschen weißt – warum hielt ich so lange an ihm fest, an dem alten Zauberer?« »Oh, das ist leicht zu beantworten. Weil er dir Tag für Tag neues Wissen bot. Selbst ganz zum Schluß, nachdem er diese grausame Tat begangen hatte, ließest du ihn nicht töten, weil selbst da seine Antworten noch neu für dich waren und dich faszinierten. Auch ich bin jetzt noch neu für dich, aber der Tag wird kommen, an dem du meiner überdrüssig bist.« »Nein, niemals!« rief er und erstickte ihre Worte mit Küssen. »Ich liebe dich; nichts anderes auf der Welt zählt für mich. Habe ich doch den Mann, der gut zu mir war wie ein zweiter Vater und ohne den wir zwei niemals einander begegnet wären, in die Verbannung geschickt.« Sie schmiegte sich an ihn und schnurrte wie ein Kätzchen. »Du irrst. Seine Magie ist und bleibt böse und schlecht, wie du die Sache auch drehst und wendest. Alles scheitert mit ihr. Auch ohne deinen Zauberer hättest du eines Tages gegen Vulk und Sthenophon aufbegehrt und irgendwie auch deinen Weg nach Os Erigu und zu mir gefunden. Es liegt ein Zauber in der Liebe, der stärker ist als all deine Magie.« Auf diesen Ausspruch, dessen Richtigkeit er im übrigen stark bezweifelte, antwortete er, glücklich in den Armen seiner Geliebten liegend, lediglich mit ei-
nem zufriedenen Seufzen. Daß der neue Tag begonnen hatte, erfuhren beide, als jemand heftig gegen die Tür pochte und rief, die Vulkinger hätten ihr Lager abgebrochen und marschierten auf Torgsted. Als er draußen war, wußte Airar Alvarson, kaum daß er seine Lungen mit dem ersten Atemzug würziger Frühlingsluft gefüllt hatte, warum ihn vorher der Gedanke an die Schlacht und ihren Ausgang so wenig berührt hatte. Nun, da seine Geliebte nicht mehr bei ihm war, gab es wieder Blut und Tod und all das, was er auch früher schon angesichts der nahenden Schlacht gefühlt hatte. Er schickte zwei Hestingerner als Wache zu Argyra mit dem Auftrag, sie in Sicherheit zu bringen, falls die Schlacht eine schlimme Wende nahm. Ein hastiger Schluck, ein Bissen Fleisch, dann ritt er die Reihen seiner Männer entlang, in voller Rüstung zwar, doch den Helm unter den Arm geklemmt – denn es ermutigte die Männer vor der Schlacht, ihren Anführer zu sehen – und Nene von Busk trug die Katzenkopfstandarte vor ihm her. Doch die Zeit drängte jetzt; Airar hatte kaum das Ende der Reihe erreicht, als laute Rufe und metallisches Klirren aus der Ferne verkündeten, daß die Gentauren bereits zwischen den Bäumen am anderen Ufer des Naar auftauchten. Er hoffte nur, daß Rogai so klug war, ein paar seiner Bogenschützen auf die Reiter anzusetzen, und als er Alsander gegenüber diesbezüglich seine Bedenken äußerte, erwiderte dieser: »Keiner erledigt eine Sache so gut wie jeder selbst. Das ist auch der Grund, warum wir auf den Himmel hoffen, statt uns schon hier auf der Erde unser Paradies ohne die Hilfe anderer zu errichten. Seid getrost – Meister Rogai wird sein Bestes geben – wie jeder
andere auch. Ha!« Er streckte aufgeregt den Arm aus: Hinter der Anhöhe der Straße stieg eine Staubwolke auf. Sie kamen! In breiter Marschordnung rückten die Vulkinger an, bereit, mitten durch Torgsted hindurchzumarschieren. Immer näher rückten sie heran, die Schilde auf den Schultern, die Flöten bliesen im Takt ihres Marschtrittes, und die roten Dreiecke wippten auf ihren Stangen. Airar riß sein Pferd herum und sprengte los, in der Hoffnung, die gegenüberliegende Flanke zu erreichen, bevor der unbesonnene Rogai seine Pfeile zu rasch abschnellen ließ; aber er kam zu spät. Er hatte noch nicht die Stadt erreicht, als die Pfeifen der Männer aus Skogalang erschollen, die Bogenschützen auf der anderen Seite des Naar hinter ihren Büschen aufstanden und auf ein Kommando ihre Pfeile abschossen. Gleich dutzendweise gingen die Vulkinger zu Boden; der Pfeilhagel, der auf ihre ungedeckte Flanke einprasselte, nagelte Helme an Köpfe, Panzer an Arme, Arme an Rippen, so daß die vordersten Reihen der Tercia nach links abgedrängt wurden, dahin also, wo die Speermänner hinter ihrem Baumgewirr lauerten. Die Vulkinger schienen kluge Anführer in ihren Reihen zu haben. Als sie sahen, wie es der ersten Tercia erging, drängte die zweite nicht sofort nach, sondern schwenkte auf das Zentrum des Pfeilhagels zu, schwärmte aus und griff im Schutz der Schilde an. Viele Männer gingen zu Boden; der Rest erreichte das Ufer, und als der breite Strom sie aufhielt, drängten sie zu den Holzbrücken, die Airar für seine eigenen Männer hatte bauen lassen, und versuchten, sich den Übergang zu erzwingen. Jetzt warfen sich die Überre-
ste der ersten Reihen – und das waren nicht wenige – auf das Baumgewirr vor dem Felsen. Ohne die sausenden Speere zu beachten, hackten und zerrten sie sich einen Weg durch das Gestrüpp und schlugen den Speermännern, die nach ihnen stießen, reihenweise die Köpfe ab. Und während nun beide Flanken der Dalekarlier verzweifelt mit dem Feind rangen, marschierte die dritte Tercia in die freigewordene Gasse, um ins Zentrum des Dorfes durchzubrechen. Airar hörte, wie die Trompete des Feindes zum Angriff blies; von seinem linken Flügel kam atemlos ein Bote angerannt: »Sie brechen an der zweiten Brücke durch! Wir brauchen sofort Verstärkung!« Eine halbe Togai Carrhoener mußte sofort an die Brücke geworfen werden und mit dem Schwert in der Hand den bedrängten Männern dort zu Hilfe eilen. Airar hatte jedoch keine Zeit, sich jetzt darum zu kümmern oder gar selbst zur Brücke zu reiten. Denn inzwischen brandete schon die erste Welle von Vulkingern gegen die Einpfählung und stieß und hackte mit kurzen Schwertern auf Mikalegons Axtmänner ein. Die Schlacht war voll entbrannt. Die Pfeile der Männer aus Skogalang kamen noch immer von der Flanke, jedoch nur noch sehr spärlich, da der größte Teil von ihnen im Kampf Mann gegen Mann damit beschäftigt war, die Brücken zu halten. Dennoch waren es noch immer so viele, daß die Hauptmasse der Vulkinger mehr und mehr auf die andere Seite hinüberschwenkte. Viele von ihnen sanken, tödlich getroffen von den Speeren der Mariolaner, in das Baumgewirr. Aber einer ganzen Reihe von ihnen gelang es, sich mit dem Schwert einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen; es dauerte nicht lange, und eine
kleine Gruppe kämpfte schon innerhalb der Barriere. Die Zahl wuchs, und bald war es schon eine ganze Schlachtreihe. Dagegen standen die mariolanischen Speermänner bald auf verlorenem Posten, und wie schon so oft sah man daß mit Hingabe allein keine Schlacht zu gewinnen war. Der Schlachtruf der Vulkinger erscholl jetzt kräftiger; Airar sah, wie einer oder zwei seiner eigenen Männer die Waffe zu Boden warfen und feige davonrannten. »Wo ist Ioventinian?« schrie er, und als er den Baron (der glücklicherweise Feldherr genug war, um nicht loszuschlagen bevor es nicht unbedingt erforderlich war), entdeckt hatte: »Mein Herr, wir sind verloren, wenn es uns nicht gelingt, die Vulkinger auf dem rechten Flügel aufzuhalten. Holt alle Männer zusammen die Ihr kriegen könnt, und kommt!« Er drehte sich im Sattel. »Sagte Evimenes, er solle so schnell wie möglich von der Straße her angreifen. Es ist zwar noch nicht an der verabredeten Zeit aber wir dürfen nicht länger warten.« Viele der Kämpen aus Scroby waren erschöpft, und die meisten von ihnen hatten den geschickten und wohlausgebildeten Tercia-Männern aus Briella noch nie zuvor gegenübergestanden. Aber ihre Panzerung bot hervorragenden Schutz, und die kurzen Wurfspeere der Vulkinger prallten klirrend von ihren Brustplatten ab, wie Regentropfen vom Panzer einer Schildkröte. Und als es zum Zweikampf kam, hieben sie mit ihren schweren Schwertern Schild und Arm mit einem Streich zugleich nieder. Airars Pferd sackte getroffen zusammen. Er sprang auf die Füße und zog sein Schwert. Aus dem Augenwinkel sah er, während er focht, daß der Vorstoß der Vulkinger auf der rech-
ten Flanke zum Stehen gebracht worden war und die Entscheidung der Schlacht sich an einen anderen Ort verlagerte. Dieser andere Ort war das Zentrum, längs der Straße. Die Einpfählung war schon an zwei oder drei Stellen durchbrochen, als die Carrhoener die Lanzen senkten und angriffen. Sie erwischten den Gegner voll, als er gerade in geöffneter Formation in kleinen Gruppen kämpfte. Sie trieben die Vulkinger vor sich her, ritten zahlreiche von ihnen einfach nieder und durchbohrten andere mit ihren Lanzen. Airar, der selbst in einen heftigen Kampf verstrickt war, hörte, wie sich die Schlachtrufe der Vulkinger in Schmerzensschreie verwandelten. Der Mann, mit dem er gerade kämpfte, ließ sein Schwert zu Boden fallen und hob den Schild zum Zeichen der Aufgabe. Airar blickte gerade rechtzeitig nach vorn, um zu sehen, wie sich die eiserne Masse der Carrhoener über die Uferwiese ergoß und den fliehenden Vulkingern nachsetzte. Er war überrascht zu sehen, daß die Sonne sich schon gen Westen neigte. Bis tief in die Nacht hinein wurde inmitten der Gefangenen, Toten und Verwundeten gefeiert, während die wilden Carrhoener sich mit Hestinga und Skogalang um die Beute aus dem Lager der Vulkinger stritten und rauhe Kämpen aus Scroby Wache vor der Tür des Hauses standen, in dem Airar mit seiner Frau saß. Sie strich ihm über eine tiefe Wunde, die er erst bemerkte, als die Schlacht schon zu Ende war. Er hatte sie davon abgehalten hinzuschauen, als Herzog Mikalegon mit einer Miene tiefster Befriedigung den Kopf von Graf Vulk dem Vierzehnten hereinbrachte; und er hatte sie ebenfalls davor bewahrt, erfahren zu
müssen, daß Rogai aus Mariola Baron VanetteMillepigue erst die Finger der Reihe nach abgehackt hatte, bevor er ihn getötet hatte – zu einem Zeitpunkt, als der Baron schon Gefangener war. Nun war also endlich der Sieg errungen und Dalekarlien frei! Der Carrhoener Evides wurde aus dem Gewahrsam entlassen und ewiger Ruhm war allen gewiß, so daß man annehmen könnte, die Geschichte sei hier zu Ende. Mitnichten – sie endet eine Weile später, als die Blätter an den Bäumen sich schon rot färben und ein Bote in der Stadt Naaros ein Haus betritt, in dem der Herr von Dalekarlien sitzt und süßen Wein schlürft. »Fürst Airar, die Heiden von Dzik sind mit einer großen Armee auf den Gentebbi-Inseln gelandet. Sie lehren mit ihrer Magie unsere Männer das Fürchten und sagen, daß sie mit Euch keinen Vertrag haben, da Ihr nicht den Frieden der Quelle besitzt.« »Mein geliebter Herr und Gebieter«, sagt da Argyra, »willst du nicht gemeinsam mit mir von der Quelle trinken, damit all dies endlich ein Ende hat?« Und Airar erwidert: »Wir werden die Truppen von Mariola und Västmanstad zu den Fahnen rufen. Es gibt keinen Frieden als den, der in uns ist«... und fragt sich, warum sie weint.
Nachwort Fletcher Pratts Einhornquelle und die phantastische Literatur Fletcher Pratt (1897–1956) ist den Anhängern der phantastischen Literatur vor allem durch seine gemeinsam mit Lyon Sprague de Camp geschriebenen Erzählungen und Romane bekannt, wie die humoristischen Geschichten über Harold Shea, einen jungenhaften amerikanischen Psychologen mit zwei linken Füßen, den seine unachtsamen Versuche mit der magischen Wissenschaft zwangsläufig in verzwickte Situationen bringen. Im Verlauf seiner Erlebnisse macht er Bekanntschaft mit verschiedenen phantastischen Parallelwelten, die der Mythologie und Literatur entlehnt sind: Zunächst wird er in die Welt der nordischen Eddas versetzt, dann in die höfischritterliche Atmosphäre von Edmund Spensers Faerie Queene; schließlich findet er sich vor dem Hintergrund von Ariosts Orlando Furioso wieder. Zwei in den fünfziger Jahren geschriebene abschließende Abenteuer führen in das Universum der finnischen Kalevala (The Wall of Serpents) und in die irische Sagenwelt (The Green Magician). Wie oft bei literarischen Folgen dieser Art werden die Einfälle nach einem bravourösen Auftakt zunehmend schwächer, die Phantasie der Autoren erlahmt und sackt schließlich zu einer Aneinanderreihung müder Gags ab. Die ersten beiden Novellen jedoch, ›The Roaring Trumpet‹ und ›The Mathematics of Magic‹, die zuerst in dem berühmten amerikanischen Fantasy-Magazin Unknown (Mai bzw. August 1940) und dann sehr bald
in Buchform unter dem Titel The Incomplete Enchanter (1942) erschienen, sind wirklich gut und haben bis heute mehrere Neuausgaben erlebt. Zumindest sind sie weit qualitätsvoller als der Durchschnitt dessen, was heute unter dem Begriff ›Schwert und Zauberei‹, ›heroische Fantasy‹ (der Terminus, den de Camp selbst vorzieht) oder einfach als ›Fantasy‹ bekannt ist. Das Autorengespann de Camp/Pratt war nicht umsonst Anfang der vierziger Jahre eine der Hauptstützen der Zeitschrift Unknown (später: Unknown Worlds), die eine ganz eigenständige Richtung innerhalb der phantastischen Literatur entwickelte. Die klassischen Geschöpfe und Einfälle des Gespensterund Schauergenres wurden verspottet und verulkt, die Autoren trieben mit Entsetzen Scherz und ergötzten ihr Publikum nicht nur durch die Beschreibung komischer Situationen, sondern häufig auch durch raffiniert erfundene logische Paradoxa. Doch überwog die Raffinesse in der Regel den Tiefsinn, und auch ein puritanisch-kleinbürgerlicher Zug ist nicht zu übersehen – de Camps Helden etwa sind häufig damit beschäftigt, sich den Nachstellungen hübscher junger Frauenzimmer zu entziehen. Abgesehen von den schließlich in drei Büchern gesammelten Harold-Shea-Geschichten (The Incomplete Enchanter, 1942, The Castle of Iron, 1950, und Wall of Serpents, 1960) schrieb das Autoren-Duo noch den SFRoman The Carnelian Cube (1948), die Erzählungen Tales from Gavagan's Bar (1953) und den FantasyRoman The Land of Unreason (1942), möglicherweise sein bestes Buch. Darin wird ein während des Zweiten Weltkriegs in Irland stationierter Soldat von betrunkenen Elfen (er hatte ihnen mutwillig Whiskey in
die für sie vor die Tür gestellte Milch geschüttet) in das Reich Oberons entführt – in eine Phantasiewelt, in der eine aberwitzige Logik herrscht. Dieses Buch enthält einige höchst skurrile Einfälle, die an Lewis Carroll denken lassen, vor allem in der Art, wie die Autoren mit der Logik und der Bedeutung von Namen jonglieren. Die Tales from Gavagan's Bar sind Münchhausiaden in der Art von Lord Dunsanys Jorkens-Erzählungen. Als Alleinautor ist Fletcher Pratt in der SF weit weniger bekannt und geschätzt als zusammen mit Lyon Sprague de Camp. Seine eigene Science Fiction kann man getrost als miserabel bezeichnen. Er gehört zu den Autoren der ›ersten Stunde‹ und schrieb schon Ende der zwanziger Jahre für die ersten SF-Magazine. Für Gernsback übersetzte er auch französische und deutsche Science Fiction, unter anderem Friedrich Freksas interplanetarischen Invasionsroman Druso, oder: Die gestohlene Menschenwelt (1931), ein interessantes Buch, das aber in der amerikanischen SF keinerlei Spuren hinterlassen zu haben scheint. Bis in die fünfziger Jahre veröffentlichte Pratt in verschiedenen Magazinen auch Erzählungen und Romane, wie Startling Stories und Thrilling Wonder Stories: typische Beispiele von Space Operas. SF-Literatur spielt in Fletcher Pratts Gesamtwerk allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Als Schriftsteller war er in erster Linie mit seinen historischen Sachbüchern erfolgreich. Sein Buch Ordeal by Fire wird gelegentlich als die beste einbändige Darstellung des amerikanischen Bürgerkriegs bezeichnet, und er ist der Autor einer Reihe anderer Titel zur Kriegs- und Seefahrtsgeschichte. Diese Sachbücher
bilden möglicherweise eine Brücke zu jenen zwei Werken, die ihn in der phantastischen Literatur am bekanntesten gemacht haben: den Kurzroman The Blue Star (1953; Der blaue Stern, HEYNE-BUCH Nr. 3570) und das umfangreiche epische Werk The Well of the Unicorn (Die Einhornquelle; 1948), das auf Verlangen des Verlegers ursprünglich unter dem Pseudonym George U. Fletcher veröffentlicht wurde. Beide Werke gehören der Gattung an, die man heute allgemein als ›heroische Fantasy‹ bezeichnet und die Produkte ganz unterschiedlichen Niveaus umfaßt. Man könnte sagen, daß sie sich in eine ›hohe‹ und eine ›niedrige‹ Form aufgespalten hat – sagen wir Tolkiens Werke einerseits (was immer man von Tolkien als Schriftsteller halten mag) und die primitiven Abenteuer muskelstrotzender halbdebiler barbarischer Helden andererseits. Urzeitliche oder pseudomittelalterliche Welten sind Trumpf. Auch bei den anspruchsvollsten Beispielen der Gattung besteht die Hauptattraktion eines Buches so gut wie nie in den psychologischen Problemen der Figuren, sondern in der Ausmalung einer phantastischen Welt, die unweigerlich einen starken Zug zurück in die Vergangenheit aufweist, als das Leben noch einfacher, naturverbundener war. Diese ›Fantasies‹ sind im Grunde historische Romane, mit der gewohnten romantisierenden Verklärung früherer Zeiten, jedoch losgelöst von der Naturgesetzlichkeit der realen Welt, losgelöst auch von historischer Wahrhaftigkeit. An die Stelle der Naturgesetze tritt die Zauberei als wirkende Kraft. Diese Parallelwelten sind einfach in einem mythischen Niemandsland angesiedelt oder auch in grauer Vorzeit (›... vor dem Untergang von Atlantis‹
etwa, wie die Conan-Geschichten Robert E. Howards), in jedem Fall aber gelten meist physikalische Gesetze parallel neben übernatürlichen Mitteln. Die Phantasiewelten sind zwar übernatürlich beeinflußt, aber kaum übernatürlich bestimmt, denn das Übernatürliche ist zumeist eher ein zusätzliches Gewürz als das Um-und-Auf der Geschichte. Das Handikap einer immer und unfehlbaren wirksamen Zauberei ist ja, daß die Erzählung jede Dramatik verliert, weil die Überwindung beliebiger Hindernisse durch allmächtige Helden ein Kinderspiel wäre, und damit – von der Ebene infantiler Wunscherfüllung abgesehen – für den Leser langweilig wird. Die Wirksamkeit der Zauberei muß daher immer wieder in ihre Schranken gewiesen werden. So sind in der literarischen Praxis die Zauberer oft leicht komische Gestalten, die die Auswirkungen ihrer schwarzen oder weißen Kunst selbst nicht recht abschätzen können, sich daher wie Zauberlehrlinge aufführen und mehr Schaden anrichten, als ihre Zauberkunst an echten Hindernissen zu beseitigen vermag. Die daraus zu ziehende Lehre: man bediene sich der Magie besser nicht! Allerdings bringt sie auch farbige und häufig weise Nebenfiguren hervor. In der Einhornquelle ist der alte Zauberer Doktor Meliboë so eine Gestalt, der zeitweilige Mentor des ebenfalls zauberkräftigen Helden Airar Alvarson. Ein weiteres Charakteristikum für diese Art von Phantastik ist die Vernachlässigung historischer Genauigkeit ohne Verzicht auf Farbe und Fülle eines geschichtlichen Hintergrunds. Kostüme und Waffen, Sitten und Gebräuche vergangener Zeiten werden anschaulich und detailliert beschrieben, aber der Autor
braucht sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es das alles in einer realen Zeit und an einem realen Ort wirklich und gleichzeitig gab. Geografie, politische Gegebenheiten und selbst die Figuren seiner Geschichte kann er nach Belieben aus historischen Versatzstücken zusammenfügen, ohne seine und des Lesers Geschichtskenntnisse zu strapazieren, ohne Anachronismen vermeiden zu müssen – und er kann frei Erfundenes hinzufügen. Wo aber die ganze Form anachronistisch ist, wird ihr niemand mehr Anachronismen im Detail vorwerfen. In den Niederungen dieser Literatur bleiben die fiktiven Welten zumeist schattenhaft, in der Hand eines geschickten Autors aber werden sie oft sehr konkret und komplex. Die Abenteuer eines Helden können gar zu einer Art Erziehungsroman geraten, der nicht bloß Unterhaltung bietet, sondern auch Reflexionen über die beste Regierungsform, zwischenmenschliche Beziehungen, das Erwachsenwerden usw. Solche Erziehungsprogramme sind etwa die Bücher der Erdsee-Trilogie von Ursula K. Le Guin (Der Magier der Erdsee, HEYNE-BUCH Nr. 3675; Die Gräber von Atuan, HEYNE-BUCH Nr. 3676; Das ferne Ufer, HEYNEBUCH Nr. 3677). Hierher gehört auch Fletcher Pratts Einhornquelle. In einer an das mittelalterliche Skandinavien erinnernden Provinz Dalarna wird der junge Airar Alvarson durch die Steuereintreiber der herrschenden Vulkinger von seinem Besitz vertrieben als er die hohen Abgaben nicht aufbringen kann. Vor die Wahl gestellt, entweder in den Dienst der Herrschenden zu treten oder gegen sie zu kämpfen, schließt er sich den Rebellen, dem ›Eisernen Ring‹, an, darin bestärkt von
Doktor Meliboë, der gerade selbst die Seiten gewechselt hat. Der Roman beschreibt Airar Alvarsons Weg durch alle Gegenden und Schichten der phantastischen Welt, zunächst als Sendbote Meliboës, dann als Führer freier Männer. Vergleichen könnte man die kriegerischen Vulkinger mit den Franken Karls des Großen oder mit den Angehörigen eines deutschen Ritterordens. Fletcher Pratt verrät eine gewisse Vorliebe für alles Nordische, und so ist sein etwas steif wirkender Held ein strammer, blonder Recke, geradlinig und grundehrlich, tapfer und offen. In beinahe spiritueller Ferne vom Geschehen befindet sich das Reich, ein phantastisches Gegenstück zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dem die Dalekarlier und Vulkinger nominell untertan sind, dessen Macht aber mehr symbolischer als geistiger Natur ist. Der Heilige Gral dieses Reiches ist die mythische Einhornquelle, die allen, die aus ihr trinken, innere Ausgeglichenheit und seelischen Frieden verleiht und sie ihren weltlichen Ambitionen entfremdet. Die Mitglieder des regierenden Hauses sind dekadent und überheblich geworden, und der Führer der Vulkinger strebt nach der Macht über das Reich. Am Rande der zivilisierten Welt liegen die Zwölf Städte, eine Mischung aus italienischem mittelalterlichen Stadtstaat und griechischer Polis; ein Fürst Mikalegon und die Seinen, ansässig im Norden, widmen sich der Piraterie, und jenseits des Meeres, im Westen, gibt es blonde Wilde, die Dziks. Die Belagerung der Piratenfestung Os Erigu durch die Vulkinger liefert eine der interessantesten Episoden des Buches, das sich indessen nicht in der Beschreibung der äußeren Handlung erschöpft. Um Politik, Recht und Freiheit, um die be-
ste Regierungsform geht es auch in diesem Roman, unter sehr konkret und detailliert ersonnenen Bedingungen. Als Fletcher Pratt sein Buch 1948 veröffentlichte, war diese Art phantastischer Literatur von der gegenwärtigen Popularität noch weit entfernt. Dennoch steht der Roman nicht völlig isoliert da gab es doch damals schon eine Tradition dieser Gattung, die in den letzten Jahren von Theoretikern und Historikern der ›heroischen Fantasy‹ wie Lyon Sprague de Camp (Literary Swordsmen and Sorcerers, Sauk City, Wisc. 1976) und Lin Carter (Imaginary Worlds, 1973) dokumentiert worden ist. Zum Teil führt man sie auf die alten Sagas und Mythen zurück, vom GilgameschEpos angefangen. Manche der heutigen Autoren haben beispielsweise die nordische Mythologie im Original gelesen; E. R. Eddison hat sogar einiges davon übersetzt. Aber der Beginn der modernen Alternativwelt-Geschichte liegt näher im 19. Jahrhundert. Ihr Begründer war der Utopist, Architekt, Sozialreformer, Dichter, Verleger und Künstler William Morris (1834–1896), der sich von der Häßlichkeit der modernen Maschinenwelt abgestoßen fühlte und nach der angeblichen Einheit und Einfachheit des Mittelalters zurücksehnte. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb er eine Reihe pseudomittelalterlicher, sehr langer und reichlich romantischer Romane in einer artifiziellen, altertümlichen Sprache, die in ritterlichen Phantasiewelten spielten, darunter The Wood Beyond the World (1895), The Water of the Wondrous Isles (1895) und, möglicherweise sein Meisterwerk, The Well at the World's End (1896). Keiner dieser Romane wurde bisher ins Deutsche über-
setzt. Was es bei uns an ähnlicher Literatur gegeben haben mag, etwa die ungeheuerlichen Schriften eines Friedrich de la Motte Fouqué (z.B. Sigurd der Schlangentöter), ist vergessen. Die nächste wichtige Gestalt in dieser Tradition ist Edward John Moreton Drax Plunkett (1878–1957), der achtzehnte Lord Dunsany, ein irischer Adeliger, der seine Erzählungen prinzipiell nur mit dem Federkiel schrieb und der sich konsequenterweise ebenfalls heftig nach vergangenen und unerhört heroischen Zeiten zurücksehnte. Doch ist sein Heroismus stark durch Ironie gedämpft, und seinen Helden widerfährt gar oft ein böses Geschick. Dunsany hinterließ ein ziemlich umfangreiches Werk, darunter einige phantastische Schauspiele, von denen King Argimenes and the Unknown Warrior Pratt übrigens den Vorwurf für die Welt der Einhornquelle lieferte. Er schrieb außerdem mehrere im allgemeinen sehr langweilige Romane und Bände mit kurzen phantastischen Erzählungen, die in Niemandsländern der Phantasie spielen. Der manierierte Stil Dunsanys hat begeisterte Anhänger gefunden, aber mehr als kultivierte Unterhaltungsliteratur sind seine rein spielerischen Werke kaum. Bewußt nichts als ein Unterhaltungsschriftsteller wollte Eric Rucker Eddison (1881–1945) sein, der Autor von The Worm Ouroboros (1922). Dieses Buch ist ein völlig für sich stehendes, originelles Werk der Literatur (wenn auch von den Sagas beeinflußt) und für meinen Geschmack der Höhepunkt dieser ganzen Untergattung der phantastischen Literatur. In einer durch und durch phantastischen Welt Merkur, die
mit dem Planeten dieses Namens nichts gemein hat, tragen grandiose Rittergestalten einen epischen Kampf aus: Lord Juss, Goldry Bluszco und Spitfire, drei Brüder aus dem Dämonenland, streiten mit ihrem Vetter Brandoch Daha gegen die Herren des Hexenlandes. Das Buch steckt voller Heldentaten und mitreißender Rhetorik, und nach dem Sieg über das Hexenland beginnt die ganze Geschichte wieder von vorn. Der Sieg des Guten über das sogenannte Böse interessiert Eddison nicht, ihn fasziniert das Erlebnis des Kampfes an sich. Geschrieben ist der Roman in einer höchst artifiziellen, altertümlichen Sprache, aber mit unleugbarer Würde. Eddison wurde nie so bekannt wie John Ronald Reuel Tolkien (1892–1971), der als der bedeutendste moderne Vertreter der Gattung gilt; der erfolgreichste ist er sowieso, denn Der Herr der Ringe stellt ein Verkaufsphänomen dar. Tolkien war ein englischer Literaturprofessor, für den Literatur ein lebenslanges Steckenpferd bedeutete, ein sprachschöpferisches Spiel. Das Erstaunlichste an seiner Weltschöpfung Mittelerde ist wohl ihr ungeheurer Erfolg beim Leser, denn eigentlich spannend sind seine Romane nicht. Was nach Tolkien kam, ist großteils Imitation, und die Masse der amerikanischen ›Sword and Sorcery‹, obwohl sie sich auf Tolkien beruft, leitet sich in Wirklichkeit unmittelbar von Robert E. Howard (1907–1937) und seinem Conan ab, bei dem es auf eine phantastische Welt fast gar nicht, auf die blutrünstigen Schlächtereien muskelstrotzender Schwachköpfe fast ausschließlich ankommt. Dort sind wirklich alle Probleme einfach und mit dem Schwert in der Hand
zu lösen, alle Frauen schön und alle Männer stark und heldisch. Diese zeitgenössischen Autoren liefern einfach ein kommerzielles Produkt, um einen Bedarf auf dem Taschenbuchmarkt zu befriedigen: die rasche Flucht aus den Zwängen der modernen Industriegesellschaft; Morris, Lord Dunsany und Tolkien hingegen waren gelehrte Dilettanten, die zwar auch die moderne Welt verabscheuten und in die Vergangenheit flüchteten, aber auf eine durchaus reflektierte und schriftstellerisch achtbare Weise. Fletcher Pratts Roman Die Einhornquelle steht Morris, Lord Dunsany, Eddison und Tolkien näher als den Produkten der typischen heroischen Fantasy; wie sie entwirft er mit einer gewissen Würde, nicht ohne Humor und mit sprachlicher Akribie eine quasi-mittelalterliche Welt, um in einer spannenden Geschichte bestimmte universelle Probleme des menschlichen Zusammenlebens zu erörtern. Sein Roman ist einer der anspruchsvollsten dieser Art in der amerikanischen Phantastik. Franz Rottensteiner