Höllenjäger Band 6 Die dunkle Zitadelle von Des Romero
Prolog Peking, 3. Oktober 2012 - heute Kato Saykushi schob die...
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Höllenjäger Band 6 Die dunkle Zitadelle von Des Romero
Prolog Peking, 3. Oktober 2012 - heute Kato Saykushi schob die Flügeltür des Schwebegleiters nach oben, verstaute das Notebook in seiner Jackentasche und wandte sich beim Aussteigen kurz dem Fahrer zu. »Die Kiste ruckelt noch ordentlich. Die Flugstabilisatoren setzen zu oft aus. Ehrlich gesagt kann ich mir so etwas nicht im normalen Straßenverkehr vorstellen.« »Er wird kommen. Mittelfristig.« Als wäre damit alles gesagt, blickte der Fahrer Saykushi mit der stummen Aufforderung an, das Fahrzeug zu verlassen. »Schreiben Sie was Nettes.« »Das werde ich.« Der Reporter klappte die Flügeltür zu und sah dem stotternden Flugfahrzeug hinterher. Mittelfristig, schüttelte er den Kopf. Das kann in zehn Jahren sein,
aber auch erst in fünfzig.
Der Expresslift brachte ihn in die einundsechzigste Etage des Bürokomplexes, auf der sich die Verlagsräume von OCCULT SCIENCES befanden. Als sich die Glastüren über den Fußsensor öffneten, wurde Saykushi direkt lautstark empfangen. »Da ist ja unser Testfahrer wieder!«, lachte ihm ein dürrer und leicht zu kurz geratener Chinese entgegen, der an einem Schreibtisch lehnte und etwas aus einer Serviette verspeiste, was wohl eine Frühlingsrolle darstellen sollte. »Geht man bei euch in Japan auf die Piste, wenn man keine brauchbaren Meldungen bekommt?« »Krieg dich wieder ein, Chow-Yun«, wiegelte Saykushi ab. »Für schlappe dreißig Zeilen wird doch irgendwo Platz sein. Und mampf nicht so viel von dem Mikrowellenfraß; der bringt dich noch ins Grab.« Der schmächtige Chinese bleckte die Zähne zu einem breiten Grinsen und kaute mit offenem Mund weiter. Kato Saykushi verschwand schnellen Schrittes in seinem aus drei Aufstellwänden bestehenden Abteil des Großraumbüros und stellte seinen Rechner auf Zuruf an. Die Sprachsteuerung brachte ihn sicher zu dem gewünschten Menüpunkt. 4
Die Präzession der Tagundnachtgleichen!, kommentierte er die Grafik auf dem Bildschirm. Die Menschheit erwacht aus ihrem Schlaf. Große Veränderungen bahnen sich an.
Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und ließ das Bild auf sich wirken. »Dieser mysteriöse Cartlewood beschäftigt sich doch damit«, sagte Saykushi vor sich hin. »Habe schon einige Zeit nichts mehr von ihm gehört. Auch Ravenmoor hat sich rar gemacht. War sonst immer dankbar für eine Information.« »Nichts zu tun, Kato? Du kannst bei mir aushelfen.« Saykushi drehte den Kopf zur Seite. »Komm rein, Ho«, winkte er seinen Kollegen heran. »Ich hab' an sich genug Arbeit, döse nur gerade was rum.« »Darüber?«, fragte Ho. Er trug ein weißes Hemd und eine weite, dunkle Bundfaltenhose. Er war schlank, ohne dürr zu wirken. Sein ausgestreckter Arm deutete auf die Grafik am Computer. »Auch darüber. Ich habe das Bild nach einer Skizze von diesem Engländer angefertigt...« »Ravenmoor!«, kam es von Ho wie aus der Pistole geschossen. Er ging dramatisch und betont langsam einen Schritt zurück, legte beide Hände an die Hüften und riss sie hoch, als würde er zwei Revolver ziehen. »Höllenjäger!« Ho schüttete sich aus vor Lachen. Kato musste unweigerlich einfallen. »Ja, ja, Höllenjäger. Komm Ho, geh'n wir auf einen Happen in die Kantine. Ich bezahle.« Kato Saykushi warf noch einen beiläufigen Blick auf das Bild, das einen Sternenhintergrund und darüber eine Ellipse zeigte, auf der die Bahn des Sonnensystems mit seinen zwölf Sternzeichendurchläufen dargestellt war. Am Anfang des unteren Ellipsenbogens gab es einen leuchtenden Punkt, der die Erde zeigte. Darunter war eine Jahreszahl eingeblendet. Noch als Saykushi und sein Reporterkollege beim Essen saßen, ging ihm die Zahl nicht aus dem Kopf. Ständig hatte er die 2012 vor Augen. In seinen Gedanken war sie stets gegenwärtig. 5
Und irgendwie beschlich den Japaner die Vermutung, dass das nichts Gutes bedeuten konnte...
1. »Erster!« Völlig außer Atem kam der Junge zum Stehen. »Du hast mich abgelenkt und bist früher gestartet, Djuq-O!« Der Verfolger kam den Bruchteil einer Sekunde später ins Ziel. »Du weißt genau, dass ich schneller bin!« Djuq-O - eigentlich Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O, aber verständlicherweise nur mit der letzten Namenssilbe angesprochen - ging in die Hocke. »Ich verliere halt nicht gerne«, entgegnete er lapidar. Er hätte auf telepathischem Wege antworten können, doch er liebte es, die Stimm-Membranen zu beanspruchen und seine Lungen zu belasten. »So geht das aber nicht«, wurde Djuq-O von seinem jüngeren Spielkameraden belehrt. »Schließlich gibt es Regeln. Und die besagen, dass man zumindest gleichzeitig startet...« »Hast ja recht, Sha'am-O. Komm, lass uns da rüber gehen auf die kleine Anhöhe und ein wenig erzählen.« Jokk-Ar Le-Ong-Sha'am-O trippelte flink hinter seinem Freund her. Obwohl beide unterschiedlichen Familien entstammten, betrachtete er Djuq-O als eine Art großen Bruder, dem er sich anvertrauen konnte und der ihm immer zur Seite stand. Nicht einmal - oder vielleicht vor allem nicht - mit seinem Vater konnte er sich derart offen und ungezwungen unterhalten, wie er es in Djuq-Os Gegenwart tat. Das lag nicht daran, dass sein Vater die Wünsche und Sehnsüchte seines Sohnes nicht nachvollziehen konnte nein, es hatte ganz eindeutig damit zu tun, dass er es nicht wollte. Sha'am-O hatte seinem Freund sogar anvertraut, er glaube, seinem Vater eine Last zu sein. Dieser lebte einzig für sein Amt. Sein Wissen und seine Erfahrung gab er permanent an seinen Sprössling weiter. Drakonische, erzieherische Maßnahmen, die sich nicht selten in physischer Züchtigung äußerten, waren stets Ausdruck von Jokk-Ar Le6
Ing-Sha'ams Unzufriedenheit bezüglich der Auffassungsgabe und des Lerneifers Sha'am-Os. Djuq-O hatte ihm damals zu erklären versucht, dass dessen Vater sich wohl von der Fruchtbarkeitsphase in seiner Arbeit gestört gefühlt hatte und sein Amt während der Verschmelzung mehr schlecht als recht hatte ausfüllen können. Diese negativen Eindrücke hatte er offensichtlich auf seinen Abkömmling projiziert. »Setz dich hier neben mich«, forderte Djuq-O den Kameraden fröhlich auf. »Ist zu Hause alles in Ordnung? Wie kommst du mit deinem Vater klar?« Es war keine zwei Tage her, dass er dieselben Fragen gestellt hatte. »Ist alles ganz in Ordnung.« Sha'am-O wirkte abwesend, redete nicht gern über familiäre Dinge. »Schon gut«, winkte sein älterer Freund ab. »War nur 'ne Routinefrage. Ich weiß ja, was bei euch los ist.« »Ja, sicher.« Sha'am-O druckste rum. Es schien fast, als wollte er, dass Djuq-O ihm weitere Fragen stellte, als hätte er etwas mitzuteilen, was er nur auf Anfrage und nicht aus sich selbst heraus preiszugeben bereit war. Djuq-O allerdings zeigte sich an diesem Tag ungewöhnlich unsensibel dem Gemütszustand des kleineren Sha'am-O gegenüber. Und so plauderten die beiden eine ganze Zeitlang über Gott und die Welt, bis Djuq-O plötzlich aufsprang. Er schien sich über irgendetwas sehr zu freuen; dementsprechend aufgeregt war er. »Ich muss los, Sha'am-O!«, stieß er hervor. »F'att-Enoq erwartet mich!« Sha'am-O war richtiggehend verblüfft, vielmehr jedoch erschrocken. »Was willst du bei dem Alten? Er soll... seltsam sein. Unheimlich. Vater hat mich vor ihm gewarnt, weil er...« »Unfruchtbar ist, klar. Mein Vater sagt, ich kann ruhig zu ihm gehen. Der Ajar ist sehr weise und ich kann viel von ihm lernen.« »Das hat dein Vater gesagt...?« Sha'am-O konnte es kaum glauben. Sein Erstaunen war nicht gespielt. »Meiner würde mich nie auch nur in die Nähe des Alten lassen.« Es klang traurig. Sicher war Sha'am-O auch neugierig, was F'att-Enoq zu bieten hatte. Djuq-O tat 7
es ehrlich leid, dass der Erzeuger seines jungen Freundes so hartherzig und engstirnig war. Und einerseits wunderte es ihn schon, dass er die zwei Freunde zusammen spielen ließ. Es gab da schließlich auch gewichtige Kontroversen ihrer beider Väter bezüglich deren Amtsausübung. Solche Unvereinbarkeiten wirkten sich naturgemäß auch auf die Nachkommen aus. Zumindest hatte F'att-Enoq diese Verhaltensweisen bei den Menschen beobachtet, ganz gleich, welcher Berufung sie nachgingen. Warum sollte es bei einem Priestervolk anders sein. »Komm gut heim«, verabschiedete sich Djuq-O hastig und setzte sich gleichzeitig in Bewegung. »Wir sehen uns morgen.« »Ja, bis morgen«, wehte Sha'am-Os helle Stimme ihm hinterher. Und leise, dass der große Freund es nicht hören konnte, murmelte er: »Ich muss auch los. Vater hat bestimmt neue Lektionen für mich.« Schweren Schrittes marschierte er zurück. Bis zur gelben Höhlung war es nicht sehr weit. * Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq befand sich in tiefer Meditation, als Djuq-O dessen Höhlung betrat. Der Junge war so voll überschäumender Vorfreude, dass er den Mentalzustand des Ajar gar nicht erst zur Kenntnis nahm und gleich lospolterte. »Hallo, da bin ich!« Die Antwort klang wie ein lang gezogenes Seufzen. »Was nicht zu überhören ist.« F'att-Enoq brauchte einige Sekunden, um sich neu in der Wachphase zu orientieren. »Hast du nicht gelernt, dich respektvoll zu nähern?« Es war weniger ein Vorwurf als die Überraschung, die aus den Worten des Alten sprach. Djuq-O allerdings fühlte sich beschämt. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören. Bitte verzeih.« »Kein Grund, betrübt zu sein, mein junger Freund«, beschwichtigte F'att-Enoq. »Du bist auch sicher nicht hier, um Anstandsunterricht zu nehmen, richtig?« 8
Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-Os Gemüt hellte sich auf, was sich in einem unterdrückten Kichern äußerte. Wieder benutzte er dazu die Stimm-Membranen. »Wie geht es dir und deinem Vater?« »Gut, sehr gut.« Djuq-O trippelte heran und hockte sich neben den Alten. »Vater sagt, es kommt eine Zeit großer Veränderungen. Ein neuer Anwärter ist unterwegs. Aber Sha'am-Os Vater hält das für Unsinn. Die beiden streiten sich oft darüber. Das finde ich dumm.« »Das ist es auch«, folgte nüchtern die Bestätigung. »Wieso können sie nie die gleiche Meinung haben? Vater sagt, dass es keinen Zweifel gibt für seine Behauptungen. Er hat mir seine Berechnungen gezeigt. Trotzdem hält Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am sie für falsch.« »Das ist schwierig zu verstehen, nicht wahr?« »Was meinst du denn? Hat mein Vater Recht? Glaubst du, es kommt ein Anwärter?« »Du weißt, dass meine Meinung im Rat nicht zählt.« »Das ist mir egal. Für mich ist deine Meinung wichtig.« F'att-Enoq überlegte einen Moment. »Dein Vater weiß sehr viel über das Wesen der Dinge. So wie wir alle. Und er weiß diese Kenntnisse sinnvoll einzusetzen.« Der Alte wollte seine Formulierungen sehr genau überdenken, um seinen Schützling nicht zu manipulieren. Ihm war klar, dass der Kleine seinem Wort übermäßiges Gewicht zuschrieb. »Ich unterstütze die Thesen deines Erzeugers...« »Ich wusste es!«, jubilierte Djuq-O aufgeregt. »Dann ist alles in Ordnung!« »... aber«, lenkte der Ajar ein, »ich kann die Bedenken der anderen Partei auch nachvollziehen.« »Das begreife ich nicht«, gab Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O unumwunden zu. »Du hast doch gerade gesagt...« »Verstehe mich richtig. Es ist kein Widerspruch, beiden Seiten Gehör zu schenken.« »Nein, natürlich nicht, aber...« 9
»Und ich vertraue den Berechnungen deines Vaters. Du musst dir jedoch unbedingt darüber im Klaren sein, dass dieses Thema politisch wie spirituell äußerst sensibel ist. Ich würde es niemals mit dir diskutieren, wenn ich nicht wüsste, dass die Lehrstunden Linh-Schi'in-Djuqs dich darauf vorbereitet hätten.« F'att-Enoq versuchte einen neuen Ansatz, als er seinen jungen Freund widerspruchslos und sogar aufmerksam dasitzen sah. »Wir Priester - und ich zähle mich einfach einmal dazu - arbeiten von Generation zu Generation daran, den T'ott'amh-anuq zu finden und seiner Bestimmung zuzuführen. Viele vor unserer Zeit wähnten sich diesem Ziel nahe. Auch ihre Berechnungen waren von höchster Präzision, ihre Überlegungen logisch geprägt. Nichtsdestotrotz scheiterten all ihre Bemühungen am Widerstand ihrer Gegner. Und das war ein Segen. Wäre der Initiierungsprozess an einem Untauglichen vollzogen worden, dann hätte man unweigerlich den großen Plan zunichte gemacht...« »Der große Plan...«, hauchte Djuq-O beinahe ehrfürchtig. »Vater hat mir davon erzählt.« »Natürlich hat er das. Er musste es sogar. Schließlich bereitet er dich auf große Aufgaben vor. Er muss dir alles beibringen, was er weiß, damit du seinen Platz einnehmen kannst, wenn er eines Tages nicht mehr sein wird.« »Ja.« Andächtig verharrte Djuq-O regungslos. »Es tut mir nur so weh, wenn ich Vaters Bemühungen sehe und dann den Lohn dagegenhalte, den er von den anderen bekommt.« Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq fühlte mit seinem Schützling, bereute fast schon seine klaren Worte, die durchdrungen waren von der Weisheit des Alters und doch auch so überaus wichtig für die Jugend. »Er arbeitet hart. Doch er tut dies nicht für bloße Anerkennung. Er will etwas bewegen, verändern und sich nicht auf seinen Ruhm betten, wenn seine Vorhersagen eintreffen. Daher solltest du die Reaktionen der anderen Priester - insbesondere die des Vaters deines Freundes Sha'am-O - nicht als Lohn werten. Betrachte sie als Ansporn für noch mehr Engagement. Und denke immer an eines: Wer sich nicht helfen lassen will, der darf im nach hinein auch nicht jammern.« 10
»Haha, genau!«, ereiferte sich der kleine Djuq-O. »Sie alle werden sich noch umschauen, die Besserwisser. Am Ende nämlich wird Vater Recht behalten.« Leicht verunsichert streckte er seine Mentalfühler nach F'att-Enoq aus.
Das wird er doch, oder?
Zum zweiten Mal an diesem Tag seufzte der Alte. Schleich dich jetzt nach Hause, du Rabauke, entgegnete er in lachendem Unterton. Und denk darüber nach, was ich dir beigebracht
habe.
»Das werde ich. Ganz bestimmt«, verfiel Djuq-O erneut in die Lautsprache. Als er die Höhlung des Ajar ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, befand sich dieser bereits wieder in tiefer Meditation. Und so wie der Junge als Fragender zu ihm gekommen war, so machte F'attEnoq sich nun selbst auf, nach Antworten zu suchen. * »Gott stehe uns bei! Das ist das Ende!« Fassungslos stand Richard immer noch vor dem Fenster in diesem kleinen Raum ganz am Ende des gewaltigen Tunnels. »Die Epidemie hat sich über den gesamten Globus ausgebreitet. Die Erde hat sich vollständig verdunkelt.« Der Siebenundzwanzigjährige schluckte. Die Betroffenheit stand mehr als deutlich in seinen Zügen. »Das kann doch nur ein Alptraum sein...« »Nein, mein Junge, nein«, meldete sich nun wieder der Schrein zu Wort. »Leider ist es die Wahrheit.« Das Mitgefühl in seinen Worten wirkte echt. Der aufgesetzte, bemüht väterliche Ton war auf ein Minimum reduziert. »Was bedeutet sie?« Richard verkrampfte sich; seine Finger krallten sich um den Stein, aus dem die technischen Apparaturen wie gewachsen erschienen. »Es - kann doch unmöglich so schnell gegangen sein...« »Zeit verliert an diesem Ort jegliche Bedeutung, mein junger, lieber Freund«, folgte die Belehrung und Richard spürte den Ärger in sich 11
hochsteigen über die der Situation unangemessene, ja, herabwürdigende Artikulation. Entsprechend war seine Reaktion nicht mehr zurückhaltend freundlich. »Jetzt lass doch die albernen Spielchen sein!«, erhob er die Stimme und drehte sich von der Scheibe fort, um zornig suchend den Raum mit Blicken abzutasten. Natürlich konnte er seinen Gesprächspartner nicht sehen. »Ich bin kein kleines Kind und du nicht mein Lehrer. Gib doch einfache, klare Antworten und verzichte auf die restlichen Schnörkel. Das geht einem mächtig auf den Geist.« Erst herrschte Ruhe. Der Schrein –w as immer er auch in Wirklichkeit war - schien die Aussagen zu analysieren, um sie direkt im Anschluss verwerten zu können. »Was du in dem Fenster siehst, liegt nach deinem Ermessen noch in der nahen Zukunft.« Die Aussprache war nüchtern, hart und - kalt. Sie hatte nichts mehr gemein mit der warmherzigen Art, die Richard so ›auf den Geist‹ gegangen war. Der Schrein lernte schnell. Vielmehr war er anpassungsbereit und -fähig. »Das temporale Gefüge kennt kein Vorher oder Nachher, weil es nur Illusion ist. Es geschieht alles zur selben Zeit. Daher ist es unerheblich, ob das, was du siehst, zum Zeitpunkt an dem du es siehst, deiner Einschätzung nach bereits geschehen ist oder nicht. Es lässt sich nicht mehr ändern. Das musst du begreifen.« »Ich... ich verstehe trotzdem nichts«, gab Richard kleinlaut zu. »Weil dein Verständnis der Welt unzureichend ist. Weil ihr Menschen euch durch eure Naturwissenschaften selbst einengt und Grenzen schafft, die es euch unmöglich machen, über den Tellerrand eurer kleinen heilen Welt hinauszublicken.« Richard spürte den Stich in der Magengrube. Der Spott - sofern es solcher war - tat weh. Es war genau dieser Moment, in dem er sich die Frage stellte, ob Großvater Schrein nicht doch angenehmer gewesen war als Feldwebel Schrein, ob er nicht das lediglich Nervige gegen das schier Unerträgliche eingetauscht hatte. Ob er nicht lieber dem Reizgas statt der Säure den Vorzug gegeben hätte. 12
»Willst du mehr wissen?«, fragte die Stimme von überall her angriffslustig. »Ich bezweifle allerdings, dass deine eindimensionale Wahrnehmungsfähigkeit in der Lage ist, selbst einfachste kosmologische Grundsätze auch nur ansatzweise zu verstehen.« »Warum machst du die Menschen denn jetzt so schlecht?«, begehrte Richard auf, dem der Sinneswandel des Schreins allmählich unheimlich wurde. »Wir haben doch nicht nur Schlechtes hervorgebracht. Wir haben die Künste, die Forschung, Ethik und - ja, unseren Glauben!« War da ein Lachen? Amüsierte sich das Wesen mit dem eigenartigen Namen über ihn? Sicher, es war kein Mensch. In keinster Form. Doch es wies erschreckend menschliche Züge auf. »Du badest dich in der Vorstellung, etwas von Wert hervorgebracht zu haben, Mensch.« Da war er wieder, der Spott. Diesmal ätzender, bewusst verletzend. »Die Situation eines Menschen hat viel von der eines Maulwurfs, der in den höchsten Tönen die Schönheit eines Sommertages preist, ohne jemals ans Tageslicht hervor gekrochen zu sein.« »Du bist anmaßend und ungerecht!«, regte sich Jordan auf. Er hatte genug davon, weich gekocht zu werden und seine Existenz heruntergespielt zu bekommen. »Ein feiner Lehrmeister bist du! Redest einfach alles schlecht und weißt es doch nicht besser!« »Und du hast eine wichtige Lektion noch nicht gelernt!«, donnerte es zurück. »Diese Lektion heißt Demut. Solange du dich als den wichtigsten Teil der Schöpfung siehst, wirst du das Wunder, das sie darstellt, niemals erkennen. Ihr Menschen bildet euch ach soviel auf euer Ego ein, redet von Individualität, Selbstverwirklichung und ähnlichem, diffusem Wahn. Dabei geht euch vollkommen der Blick dafür verloren, dass genau das Ego es ist, das all eure Probleme verursacht. Das Ego ist die Wurzel eurer Streitigkeiten, kleinbürgerlichen Auseinandersetzungen und sogar in letzter Konsequenz eurer Kriege. Jeder will dem anderen seinen Willen aufzwingen, weil die eigenen Ansichten natürlich wesentlich besser sind als alle weiteren. Und da ein jeder so denkt, beginnt der aussichtslose Kampf des hoch gelobten Individua13
lismus, dessen Prinzip die Unmöglichkeit seiner eigenen Umsetzung bereits beinhaltet und sich damit gleichermaßen selbst zerstört. - Ja, Erdenmensch, aus deiner Sicht musst du tatsächlich stolz auf eure Errungenschaften sein...« Das war heftig! Richard war zu kaum einer Äußerung fähig. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er seine Fehler einsehe und sich bessern wolle? Genau das hätte wahrscheinlich eine weitere Verbalattacke des Schreins ausgelöst. Und die wollte Richard erstmal nicht mehr über sich ergehen lassen. Umso erstaunter war er über die nachfolgende Frage: »Erkennst du dein Verhalten wieder?« Richard überlegte. Sollte er wahrheits- oder erwartungsgemäß antworten? »Sicher«, gab er der ersten Variante den Vorzug. »Und billigst du es?« »Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es sind zu viele Aspekte...« »Ja oder nein?«, schnitt der Schrein ihm das Wort ab. Der Student mahlte die Kiefer aufeinander und senkte den Kopf, als könnte er seine Mimik vor dem unsichtbaren Wesen verbergen. »Nein.« »Gut. Dann habe ich dir schon etwas Elementares beigebracht. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?« Jordan hob verblüfft den Kopf und schaute - irgendwohin. Fast mechanisch verlieh er dem Gedanken Ausdruck, der schon eine Weile in seinem Geist herumspukte. »Wenn es keine Umstände macht, dann sei doch bitte wieder der alte.« Zwei, drei Sekunden passierte nichts. »Gefällt dir meine Art nicht?« »Du kannst es so ausdrücken«, antwortete der Student zaghaft. »Mir drängt sich der Gedanke auf, dass du nicht weißt, was du willst. Liege ich da richtig?« »Natürlich weiß ich, was ich will, aber...« »Ja oder nein! Das Prinzip sollte dir doch aus der Computertechnologie bekannt sein. Es gibt nach der Extraktion des Wesentlichen 14
immer nur diese beiden Möglichkeiten. Kein Wenn und auch kein Aber.« Richard presste die Lippen zusammen, entspannte sich dann schnell wieder. »Dann lautet die Antwort Ja.« »Siehst du ebenfalls den Umstand, dass jegliche Äußerung außerhalb der bestechend klaren Ja-Nein-Konstellation bestenfalls unnütze Kraftakte deines schuldbewussten Egos, deines Gemütes, sind?« »Wie darf ich das verstehen?« Der Student runzelte die Stirn. »Ja oder nein!« »Du meinst, ich versuche eine potentielle Schuld durch ihre Leugnung zu rechtfertigen...?« Keine Antwort. Einzig leises Hintergrundsummen technischer Apparaturen. »Ja«, bekannte er verhalten. Und mit sicherer Stimme: »Schon wieder Ja.« »Jetzt hast du bereits zwei elementare Dinge gelernt: Überlege, bevor du sprichst. Stelle die richtigen Fragen. Gib präzise Antworten. Die Einhaltung dieser einfachen Regeln legt den Grundstein für eine aufblühende Zivilisation. Bedenke: Dein größter Feind lauert in dir selbst! Es ist das Gemüt, das alle negativen Dinge wie Ego, Triebhaftigkeit und etwa Gier steuert. Gib ihnen nach und nicht ein Kapitel in der menschlichen Geschichtsschreibung wird dich mit Unverständnis oder gar Abscheu erfüllen. Nicht ein einziges! Denn du kennst ja die Ursachen. Du hast den wahren - den einzig wahren - Feind erkannt. Und käme mir die Aufgabe zu, den Menschen auf seine einprägsamste Eigenschaft reduzieren zu müssen, so wäre dies seine Unzufriedenheit.« Richard Jordan kehrte seine Aufmerksamkeit nach innen. Während dieser Zeit machte der Schrein keinerlei Äußerung, wartete geduldig, bis der junge Mann sich ihm aufs Neue zuwandte. »Wenn du diese Dinge aussprichst, klingen sie tatsächlich logisch.« »Sie sind es. Die Mathematik ist die Matrix des Ursprungs. Sie funktioniert jedoch nur mit der ihr eigenen Präzision, weil sie eine Ein15
heit bildet mit der Intuition. Der Mensch kann die ihn umgebenden Rätsel und Geheimnisse niemals lüften, da sein Bestreben darin liegt, genau diese Elemente zu trennen. Er handelt entweder nur logisch oder nur intuitiv. Menschen aber, die beides vereinen, ernten von ihren Brüdern und Schwestern Verständnislosigkeit bis hin zur angstvollen Ablehnung.« »Ich denke, das habe ich verstanden. Mein Vater muss auch einer dieser Menschen gewesen sein, deren Verhalten in der Öffentlichkeit mit Skepsis beäugt wurden. Er hatte sich damals sehr verändert; ich war noch klein. Erst jetzt begreife ich die Last, die auf seinen Schultern lag. Er wusste mehr über die Mysterien der Welt, als er einem Normalsterblichen je hätte anvertrauen können.« »Dein Vater steht hier und jetzt nicht zur Debatte.« Der Schrein legte eine ungewöhnliche Strenge an den Tag. »Es geht um dich! Um deine Bestimmung! Du weißt, warum du hier bist.« Ein Hauch von Unbestimmtheit schwang in der Feststellung mit. Ich weiß es, dachte Richard. Aber was ist mit dir? »Es geht um meine Weihung zum Höllenjäger, zum Layshi-Pan.« Es erfolgte keine unmittelbare Reaktion. »Exakt«, kam es schließlich. Was soll nun geschehen?, fragte sich der junge Mann, der sich verloren vorkam angesichts der globalen Bedrohung und der Fremdartigkeit seines Aufenthaltsortes. Erschüttert nahm er das schreckliche Bild in sich auf, das er durch die Scheibe sehen konnte. Die Erde war unter einem wabernden, schwarzen Tuch begraben, das selbst das Licht heller Sterne zu dimmen schien. Auf diesem Planeten konnte kein Leben im ursprünglichen Sinne mehr existieren. Eine unerklärliche Furcht sandte Schauer über seinen Körper und erzeugte einen unangenehmen Druck im Magen. Richard schloss die Augen, doch das schwarze Wabern drang mühelos durch seine Lider. Abrupt wandte er sich ab. Hilfesuchend irrte sein Blick von einem Winkel des Raums zum nächsten. »Sie sind alle verloren«, keuchte der Sohn des Archäologen, »wenn wir nicht sofort etwas unternehmen!« 16
Klar, kraftvoll und aufmunternd erwiderte der Schrein: »Dann lass uns keine weitere Zeit verlieren, mein Freund!«
2. Die Atmosphäre in der Versammlungshalle war von einer Spannung erfüllt, wie sie unter den Priestern nur zu ganz besonderen Anlässen vorzufinden war. Der Mischung aus erwartungsfroher Erregung und banger Neugier fehlte auch nicht eine gehörige Portion Ehrfurcht; Ehrfurcht vor den Thesen, die die beiden konträr orientierten Sprecher des Priestervolks vorzubringen hatten. Die fünfundzwanzig Angehörigen des Volkes bildeten mit ihren Kindern einen geschlossenen Kreis. Die teils noch sehr jungen Nachkommen würden sich erheblich konzentrieren müssen, da die Kommunikation auf telepathischer Ebene stattfand. Der Älteste aus den Reihen der Priester ließ per Gedankenbefehl das natürliche Gelb der Höhlung in hellstem Weiß erstrahlen; das war der mentalen Korrespondenz förderlich. Er war es auch, der die Zusammenkunft eröffnete.
Ich möchte mich nicht mit ausschweifenden Floskeln aufhalten, auch wenn unser Zusammentreffen nicht einer gewissen Feierlichkeit entbehrt. Ein ganz besonderer Anwärter auf die Würden der LayshiPan wird nun bald Col'Shan-duur erreichen. Das bedeutet, dass nun endlich die Erfüllung jener Aufgabe, der wir alle unser Leben geweiht haben und die unser einziger Existenzzweck ist, in greifbare Nähe rückt. Dabei ist es kaum glaublich, dass die Krönung nicht nur unseres Lebenswerkes, sondern dessen aller vorausgegangenen Generationen von Priestern, die Initiierung des T'ott'amh-anuq sein wird. Das mentale Echo hallte durch die Köpfe der Anwesenden. Zufrieden stellte der Älteste ein allgemeines, anerkennendes Raunen fest. Obwohl sie alle über das feinstoffliche Gitternetz der Zitadelle miteinander verbunden waren und jeder alles wusste vom anderen, bedurfte 17
es in einigen Fällen der gezielten Gedankenprojektion, um tiefgehende Details oder kürzlich erworbene Einsichten ins Bewusstsein zu rufen. Dieser Ansicht erlaube ich mir zu widersprechen, ergriff Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am das Wort. Ihm war durchaus klar, dass der Älteste noch nicht geendet hatte und sein Handeln einen - wenn auch geringfügigen - Akt der Unhöflichkeit darstellte. Ich werde meine Deutungen der
Angelegenheit im Anschluss erläutern und belegen. Dessen bin ich mir sicher, gab der Älteste mild zurück. Damit scheint mir der Zeitpunkt gekommen, die Debatte zu eröffnen. Da LeIng-Sha'am bereits seinen Standpunkt verdeutlicht hat, sollten wir nun ebenfalls der Gegenseite Gehör schenken.
Dakk-Ar Linh-Shi'in-Djuq war an der Reihe. Kurz nahm er den Aufmunterungsimpuls seines Sprösslings wahr, bevor er mit seinen Ausführungen begann.
Ja, in der Tat kann ich mich den Ansichten meines geschätzten Amtsbruders nicht anschließen. Meine kosmologischen Berechnungen in Verbindung mit den Inhalten der Akasha-Chronik lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Geburt des T'ott'amh-anuq unmittelbar bevor steht. Geringen Raum zur Interpretation will ich nicht leugnen, doch ist dieser meiner Meinung nach vernachlässigbar. Und ich bin hingegen überzeugt, gerade auch kleineren Abweichungen höchste Bedeutung beizumessen, erwiderte Jokk-Ar sachlich. Meine eigenen Berechnungen beruhen auf denselben Grundlagen, doch in Anbetracht der Wichtigkeit unseres Vorhabens bin ich nicht bereit, auch nur das unscheinbarste Detail außer Acht zu lassen. Ein bedeutungsloser Anlass kann verheerende Wirkung zeitigen. Ein einziges Streichholz kann eine stolze Stadt verzehren. Ich bitte euch: Zwingt mich mit eurer Entscheidung nicht, zum Mitverursacher eines Strohfeuers zu werden. Dramatische Worte, äußerte sich der Älteste ohne Spott. Sei jedoch versichert, dass jedem von uns die immense Bedeutung des Initiierungsrituals absolut bewusst ist. Ebenso sind wir alle uns darüber im Klaren, den großen Plan, der selbst zu den Zeiten der Uralten bereits nach Äonen zählte, durch jede Unachtsamkeit zu gefährden. Die wohlgesetzte Pause diente nicht nur der Akzentuierung. Sie war gleichfalls
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ein geistiges Luftholen. Um eine vernünftige Entscheidung treffen zu
können, werdet ihr beide uns sämtliche eurer Fakten präsentieren. Niemandem ist daran gelegen, durch Ignoranz und fehlende Sachkenntnis etwas zu zerstören und somit den letzten Pfeiler, auf dem unsere gegenwärtige Existenz beruht, einzureißen. Ich darf jedoch daran erinnern, wie begrenzt unsere Zeit ist. Die Konstellationen sind einmalig. Zu Zeiten dieses Universums werden sie sich keinesfalls wiederholen. Auch das sieht die große Konzeption in dieser Form vor. Dann lasst mich bitte schnellstens zur Sache kommen, meldete sich Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am. Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq öffnete den Geist für den Vortrag seines Kontrahenten. Oft und heftig hatten sie ihre gegensätzlichen Thesen zum Streitpunkt erhoben, daher wusste er genau, was ihn im Folgenden erwartete. Und genau dieses Wissen war der Auslöser für die innere Unruhe des Priesters. *
Ravenmoor. Das ist mein Name. Philip Ravenmoor. Wo bin ich? - Dumme Frage! Ich habe Mühe, einen klaren Gedanken zufassen. Ich sehe immer noch den kleinen Jungen, der im Krankenzimmer meinen Körper zerstückelt. Ein furchtbarer Anblick, als ich von oben auf mich selbst herunterschaute. Eine entsetzliche Erkenntnis, kein Zuhause mehr für meine Seele zu haben. Und dann habe ich es wahrhaftig hierher geschafft - nach Col'Shan-duur! Aber ich habe nicht viel Zeit. Ohne meinen Körper kann ich nicht existieren. Sie rufen bereits nach mir. Sie wollen mich in den Reinkarnationsprozess einreihen. Wieder mal. Ich habe eine Menge Karma auf mich geladen in diesem verstrichenen Leben und den endlos vielen davor. Wenn ich ihrem Ruf nun folge - und über kurz oder lang habe ich keine andere Möglichkeit - werden sie über mich richten und nicht mehr aus ihren Fängen lassen. Sie werden mir die Erinnerung nehmen 19
und meine Seele mit dem Körper eines Neugeborenen verschmelzen. Das ist der Kreislauf. So schreibt es das Gesetz vor. Die Seele ist unsterblich, doch das Bewusstsein vergeht. Ein Scheißspiel. Also muss ich mich beeilen. Meine astrale Existenz zählt bestenfalls nach Tagen, eher nach Stunden. Ich werde einen Körper übernehmen, um weiter handlungsfähig zu sein. Vor allem anderen darf ich Richard nicht seinem Schicksal überlassen. Hoffentlich bekomme ich eine neue Chance zur Erde zu gelangen und ihm beizustehen. Er ist so hilflos - und so wichtig! Ich kann einfach nicht glauben, dass er sangund klanglos von der Bildfläche verschwindet. Die hohen Mächte werden es nicht zulassen, denn es war ja ihr Plan. Andererseits können selbst sie nicht jede Kleinigkeit einkalkulieren, denn immerhin operieren sie im ›Feindesland‹. Genau hier - unterhalb der ersten Großebene - sind die negativen Kräfte am stärksten. Und der große Plan ist bereits so unfassbar alt, seine Entwicklung liegt so unermesslich weit in der Vergangenheit... Da sind sie wieder! Ich nehme sie deutlich wahr, wie sie rufen. Der Sog wird stärker. Sie machen sich nicht mal die Mühe, mich ins helle Licht zu führen, denn sie wissen genau, dass ich nicht freiwillig kommen werde. Ich darf nicht die Nerven verlieren! Mich nicht zu unüberlegtem Handeln hinreißen lassen! Noch ist Zeit! Meine Gedanken sind wieder bei mir. Ich will mich neu orientieren und mit der Umgebung vertraut machen. Dann suche ich mir einen Wirt. Komisch. Alles sieht mehr fremd aus als bekannt. Diese weiten Ebenen, gespickt von stählernen Stümpfen und gigantischen Verbindungsröhren, die schwindelerregend in den künstlichen Himmel ragen. Es ist wohl eher ein Déjà-vu, der Hauch einer vagen Erinnerung. So, wie viele Menschen sie spontan haben und nicht begreifen, dass sie auf Fragmente eines früheren Lebens gestoßen sind. Im Gegensatz zu ihnen weiß ich aber sehr genau um meine gewesenen Jahre. Doch die Bilder aus diesen Tagen wollen nicht überspringen. - Verrückte Welt! Es ist ziemlich ungewohnt, mich derart schnell zu bewegen. Entfernungen spielen überhaupt keine Rolle mehr. Mir wird mehr und 20
mehr bewusst, was ich vermisst habe. Ein Leben ohne Schranken. Zurück zum Ursprung des Seins. Allein die Gewohnheit treibt mich zurück in die materielle Existenz. Es ist unlogisch und widerspricht dem Naturell, doch ohne Körper fehlt mir einfach ein Stück Realität. Die Freiheit, die Ungebundenheit berauscht mich. Unter mir rast die Oberfläche dahin. Halt! Da bewegt sich etwas! Ich muss langsamer werden, damit ich Einzelheiten erkennen kann. Bin ein wenig übers Ziel hinausgeschossen, aber ich hatte recht. Da laufen zwei Viecher mutterseelenallein in der Weltgeschichte rum. Ich bleibe auf Höhe dieser Röhre und warte ab, bis sie bei mir sind. Ein weiterer Vorteil, wenn man materielos ist: Ich brauche mich nicht zu verstecken und werde trotzdem nicht entdeckt. Hm, die sehen ja drollig aus. Wie Dreibeine. Dass die überhaupt gehen können. Kurios. Und der rechte ist mindestens doppelt so groß wie sein Begleiter. Ist bestimmt das Männchen. Ich lasse sie näher kommen. Es scheint sich um ein Pärchen zu handeln. Bewegen sich immer eng zusammen. Vielleicht sind noch mehr in der Nähe, die sich nicht bemerkbar machen wollen. Ein Rudel. Sehen aber nicht wirklich gefährlich aus. Und mentaler Widerstand ist kaum zu erwarten. Das Bewusstsein um die eigene Seele ist bei Tieren nicht vorhanden. Also, Philip, greif zu. Soll ja nur eine Übergangslösung sein... * »Wohin gehen wir?« Eher beiläufig hatte Richard die Frage gestellt, nachdem der Schrein ihn aufgefordert hatte, den kleinen Raum zu verlassen und sich zurück in den gigantischen Tunnel zu begeben, den er nun bestaunte. Wie beim ersten Mal offenbarte sich ihm die Konstruktion denn nur um eine solche handelte es sich - als äußerst rätselhaft, war sie durchsetzt von organisch gewachsenen Bestandteilen. Dem Sohn des Archäologen erschienen sie wie Wucherungen einer an sich makel21
losen Technologie, ähnlich Unkraut, das eine Asphaltdecke durchstieß. Auf eine furchtbare Art und Weise stellte es eine Analogie zu dem fleischigen Gewebe in der Londoner Kanalisation dar. »Wir suchen die Priester auf. Sie werden wissen, was zu tun ist. Dafür sind sie da.« »Wie weit ist es?« Die Beantwortung der Frage ließ auf sich warten. »Schrein...?« »Nicht... sehr weit.« Unsicherheit schwang in der Stimme. »Zwei Tagesmärsche.« »Was?!« Richard glaubte, sich verhört zu haben. »Bist du dir deiner Sache auch sicher?« »Ich... weiß nicht. In meinen Erinnerungen gibt es Unvollständigkeiten, leere Bereiche. Es war mir nicht mehr möglich, sie zu komplettieren.« Der 27jährige schüttelte demonstrativ den Kopf. »Na, das fängt ja gut an. Wovon soll ich leben? Gibt es hier irgendwo Nahrung?« »Col'Shan-duur ist kein Ort für Lebewesen, die biologische Nahrung zu sich nehmen müssen.« Ruckartig blieb Richard stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften. Seine Augen beschrieben einen Halbkreis durch das Nichts, das der Schrein darstellte und seine Mimik signalisierte Argwohn. »Und was, meinst du, bin ich? Ich bin ein Lebewesen, das biologische Nahrung benötigt. Sonst werde ich sterben. Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders sein.« »Verspürst du Hunger oder Durst?« »Ich habe vor zwei Tagen zuletzt gegessen! Natürlich habe ich...«
Verdammt, das ist doch nicht möglich! Aufmerksam horchte Richard in sich hinein. Doch es folgte kein beunruhigendes Echo. Da war weder ein Hunger- noch ein Sättigungsgefühl. Der junge Mann befand sich in einem völlig neutralen Zustand. Auf der Erde hatte er von ähnlichen Vorkommnissen gelesen. Menschen, die reine Lichtnahrung zu sich nahmen. War tatsächlich etwas daran? Er hatte es nie glauben können. 22
»Col'Shan-duur ist ebenfalls kein Ort für Lebewesen, deren einzige Motivation ihre Triebhaftigkeit ist, sei es essen, trinken oder kopulieren.« »Du redest von den Menschen, als wären sie Tiere.« »Du scheinst großen Wert auf die Unterscheidung dieser Begriffe zu legen. Nur weil der Mensch in der Lage ist, das Tier zu unterjochen, heißt das lange nicht, dass er - in welcher Hinsicht auch immer - über ihm steht. Lebewesen zu töten ist ein Akt schwerster karmischer Belastung. Am'nla-crnn - in deiner Sprache Amalnacron - macht ständig davon Gebrauch. Indem er Menschen zum Töten manipuliert, schafft er eine Aura höchster Negativität. Auch seine jetzige Manifestation wurde derart eingeleitet. Der Tod zweier Menschen öffnete das Tor in unsere Welt. Dem Mörder bist du bereits begegnet...« Richard schluckte und holte tief Luft. Er hatte zwei, drei Atemzüge einfach ausgelassen. »Amalnacron hat meinen Vater getötet! Jetzt ist er hinter mir her!« Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Deutlich spürte er, wie sie aus den Poren traten. »Du sagst, ich kenne denjenigen, der für die Beschwörung des Dämons verantwortlich ist«, redete er ruhig und gefasst weiter. »Wer ist es?« Er hatte eine Ahnung, einen konkreten Verdacht. Eigentlich fehlte ihm lediglich die Bestätigung. »Der Verkrüppelte in der Geisterstadt«, sagte der Schrein lapidar. »Ein Freund deines Vaters.«
Mein Gott! Daher wusste er, wer ich bin! Kannte - oder vermutete - die Verflechtungen mit den Höllenjägern! Richards Gedanken über-
schlugen sich und er war momentan nicht fähig, nur ein einziges Wort hervorzubringen. »Amalnacron wäre soundso über die Erde hergefallen«, wiegelte die allgegenwärtige Stimme ab. »Die Konstellation war und ist einmalig. Es hat ihm schlichtweg gefallen, ein paar winzige, neue Linien auf dem Reißbrett der Schöpfung zu ziehen. Er gehört zu jener Sorte Wesenheiten, die außerhalb karmisch bedingter Abläufe stehen - im direkten Gegensatz zu euch Menschen. Wenn dir das Prinzip der Schöpfung 23
erst geläufig sein wird, kannst du die Rolle des - wie sagtest du vorhin? - Dämons besser einordnen.« »Lass mich erstmal verdauen, was du mir um die Ohren geschmissen hast.« Spontan musste er dann aber doch noch eine Anmerkung loswerden: »Gibt es hier eigentlich keine Fahrzeuge? Gleiter vielleicht, oder wie immer ihr das hier nennt...?« »Es gibt auf Col'Shan-duur keine mechanischen Transportmittel.« »Als wenn ich das nicht schon geahnt hätte...« Mehr sagte er vorerst nicht, setzte schweigend seinen Weg fort. »Woher weißt du soviel über das, was auf der Erde vorgeht?«, stellte Richard irgendwann später die Frage, die sich aus dem Gewirr von Fragen, das in seinem Kopf herumspukte, zuerst gelöst hatte. »Nichts, was auf der materiellen Ebene vor sich geht, kann sich vor mir verbergen«, orakelte der Schrein. Und als wüsste er schon, welche Frage sein Begleiter zu stellen beabsichtigte, ergänzte er: »Manches Wissen aus der Vergangenheit ist mir allerdings abhanden gekommen. Doch verwundert dich das tatsächlich, wenn du dich hier umblickst?« Was soll das werden?, runzelte Richard die Stirn. Kommt jetzt
womöglich noch eine Entschuldigung?
»Früher war alles ganz anders. Es hat sich vieles verändert. So ist es nun mal im Kosmos mit seinen mannigfaltigen feststofflichen Spielarten: Das Leben ist Veränderung. Jegliches Festhalten an Vergangenem und Traditionellem ist zur selben Zeit auch ein Ritual der Zerstörung.« Es klang nicht belehrend. Eher melancholisch. »Daher habe ich den Wandel Col'Shan-Duurs nicht aufgehalten.« Er meint die Verschmelzung von Organischem mit Anorganischem, überlegte Richard und ließ den Blick kreisen. Diesmal nicht, um nach seinem imaginären Gesprächspartner Ausschau zu halten, sondern um das außergewöhnliche Bild, das die dunkle Zitadelle ihm bot, in sich aufzunehmen. Kristalle und Fossilien aller Art verfolgten eine befremdende Symbiose mit Plastik, Kunstfasern und Stahl. Der chromblitzende Glanz aus den Zeiten der Erbauer war erblasst zu einer matten Abschattung. »Was bist du?« 24
»Du äußerst den Verdacht, dass ich keine Person bin?« Der Tonfall des Unsichtbaren verriet Neugierde. »Ich äußere den Verdacht, dass du ein Wesen jenseits meiner Vorstellungskraft bist.« »Das eine schließt das andere nicht aus.« »Ist es dir so verdammt wichtig, ein Jemand zu sein und nicht ein Etwas?« »Der Unterschied entsteht einzig in deiner Vorstellung. Alle Lebewesen, die ihr nicht begreift, sind nur Dinge für euch.« Richard Jordan seufzte. »Also gut: Wer bist du?« Auch hinsichtlich der Gefahr, eine neuerliche Diskussion ausgelöst zu haben, blieb Richard gelassen. »Dein Interesse ehrt dich. - Komm! Ich werde es dir zeigen!« * Die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit. So jedenfalls kam es Richard Jordan vor und auch der Blick auf die Armbanduhr bestätigte nur seinen subjektiven Eindruck. Mehrere Stunden waren vergangen. Doch was bedeutete schon die Anzeige eines Quarz-Uhrwerks an einem Ort wie diesem? »Du sorgst dich wegen der Zeit?«, erkundigte sich der Schrein. Er hatte beobachtet, dass der Höllenjäger in spe in unregelmäßigen, aber kürzer werdenden Intervallen auf sein Handgelenk schaute. »Ich traue der Anzeige meiner Uhr nicht«, gestand Richard. »Mir fehlen die Vergleichsmöglichkeiten, um einen absoluten Zeitbegriff zu bestimmen.« »Erstens«, erklärte der Schrein, »kann deine Uhr keine verstreichende Zeit anzeigen, da sie einzig auf die Erdrotation geeicht ist. Sie ist damit ein Wiedergabegerät für eine physikalische Bewegung. Daraus - und das ist Punkt zwei - leitet der Mensch eine chronometrische Relation ab, die es ihm ermöglicht, sich ständig unter Zeitdruck zu stellen. Verstehst du die Ironie? Ihr schafft etwas vollkommen Abstraktes und Irrationales, kreiert stümperhaft physikalische Gesetzmäßigkei25
ten und nutzt das ganze dann, um euer ohnehin schon enges Daseinskorsett noch weiter zuzuschnüren. - Alle Achtung! Das muss euch mal einer nachmachen.« »Du stellst da gerade mein ganzes Weltbild auf den Kopf«, versicherte Richard nachdrücklich. »Dein Weltbild ist ohne Wert, da es losgelöst ist vom Rest des Universums. Du wirst lernen müssen, in anderen Kategorien zu denken. Die weitere Erforschung der Quantenphysik hätte euch auf den rechten Weg geführt.« Hätte, wiederholte Jordan in Gedanken. Wenn Amalnacron nicht
alles Leben auf der Erde ausgelöscht hätte...
Nachdenklich setzte er seinen Weg fort, nahm kaum Notiz von der Umgebung und folgte lediglich den Richtungsanweisungen des Schreins. Wieder kam er sich verloren und hilflos vor. Wieder fragte er sich, was er Besonderes darstellte, dass ihm dieser beschwerliche Gang auferlegt wurde. Ein Mensch allein im Kampf gegen einen Dämon. Gegen ein Wesen von unbeschreiblicher Fremdartigkeit und Überlegenheit. Gab es überhaupt Hoffnung? Belog er nicht sich selbst, indem er sich ständig aufs Neue einen Ruck gab und vorwärts ging. War denn nicht alles sinnlos? Hatte Gott den Mächten der Finsternis nicht mehr entgegenzusetzen als gerade ihn? Gab es keine übermächtigen Streitkräfte, die nur darauf warteten von der Kette gelassen zu werden, um alle Dämonen zurück zum Teufel zu schicken? Ein mentaler Impuls brachte Richard zum Stehen. »Gon'O'locc-uur«, intonierte der Schrein. »Wir sind da. - Das bin ich.« *
Intermezzo I London, 5. Oktober 2012 Cliff Warwick saß an einem kleinen Rundtisch im hintersten Winkel vom ›Eagle's Inn‹ und sah den Tabakschwaden seiner Pfeife nach. Er war nicht in seiner Funktion als Yard-Inspektor unterwegs, sondern als Privatmann nach Feierabend. Und dementsprechend ließ er sich auch 26
das Guinness schmecken. Dabei hatte er endlich Zeit, sich mit ein paar Dingen zu beschäftigen, die ihm bereits seit vielen Tagen im Kopf herumspukten. An erster Stelle fiel natürlich der Name Richard Jordan. Er hatte im Verdacht gestanden, am Tode der Haushälterin seiner Eltern und einer Besucherin, die sich im Hause der Jordans aufgehalten hatte, beteiligt gewesen zu sein. Hinzu waren Delikte schwerer und schwerster Körperverletzung gekommen. Warwick hatte unter größten Mühen die Freilassung des Jungen erwirkt, dessen Vater nun tot und dessen Mutter auf nicht absehbare Zeit ein Pflegefall sein würde. Praktisch stand der Student alleine und von allen verlassen da.
Kein unbedingt erstrebenswerter Zustand und sicherlich eine immense psychische Belastung. Der Inspektor nahm einen großen
Schluck Schwarzbier, kaute ausdauernd darauf herum, bis er wieder einen einigermaßen neutralen Geschmack im Mund hatte und zog anschließend genussvoll an seiner Pfeife. Sorge bereitete ihm die Tatsache, dass er Richard mehrmals aufgesucht, jedoch nie angetroffen hatte. Er hatte sich erneut über die lebende Tote in der Leichenhalle und die Schrecknisse in dem verfallenen Haus weit außerhalb Londons unterhalten wollen. Warwick hätte niemals vermutet, dass ihn ein Fall aus der Bahn werfen und nachhaltig verfolgen könnte. Irgendjemandem musste er sich anvertrauen und Jordan war der einzige, der ihn nicht als verrückt und weltfremd abweisen würde. Wo aber war der Junge geblieben? Es schien fast, als habe der Erdboden ihn verschluckt. Das konnte natürlich alles eine Verkettung unglückseliger Zufälle sein. Möglich sogar, dass Richard zu einem Verwandten gefahren war oder irgendwo Urlaub machte, um Abstand zu den grauenerregenden Vorfällen zu gewinnen. Warwick hingegen war zu sehr Kriminologe, um bei dieser Vorgeschichte einen harmlosen Hintergrund zu vermuten. Außerdem war die Villa nicht verschlossen gewesen und der Knauf der Eingangstür wies massive Beschädigungen auf. Cliff Warwick hatte all das für sich behalten. Er wollte die Aufregung um den Jungen nicht wieder schüren und unnötig die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Damit war niemandem gedient. So 27
hatte der Yard-Mann sich immer wieder unauffällig in der Nähe der Villa gezeigt und das Gebäude in seiner Freizeit observiert. Gebracht hatte es indes nichts. Weder war der junge Jordan aufgetaucht, noch hatten sich andere Personen gezeigt, denen er nach dem Verbleib des Studenten auf den Zahn hätte fühlen können. Die derzeitige Lage war - gelinde gesagt - ziemlich bescheiden. Warwick legte die Pfeife in den Aschenbecher und nahm sich die zusammengerollte Tageszeitung vor. Er schlug sie auf und starrte ausdruckslos auf die zweite Sache, die ihm noch weitaus größere Sorgen machte. Es handelte sich um einen Artikel, den die Times vielleicht ganz bewusst nicht als Titelthema aufgemotzt hatte und der sich als Dreispalter im Lokalteil wieder fand. In einem der Backsteinmietshäuser im Hafenviertel war es zu Ausschreitungen der Bewohner untereinander gekommen. Ein Aufgebot der Polizei war ausgerückt, um eine Eskalation der Streitigkeiten zu unterbinden. An und für sich eine Routineangelegenheit. Bis die Beamten es mit Menschen zu tun bekamen, die aufgrund einer unbekannten Krankheit nicht nur völlig schwarze Augen hatten, sondern von der Polizeipräsenz vollkommen unbeeindruckt jeden Nichtbefallenen drangsalierten und ansteckten. Die Inkubationszeit mochte nur wenige Minuten betragen haben. Es hatte ein entsetzliches Massaker gegeben, in dem die Infizierten nicht nur getötet worden waren; man hatte sie regelrecht zersieben und zerschießen müssen. Eine oder mehrere Kugeln alleine hatten sie nicht aufhalten können. Der Yard hatte diese Informationen in stark abgeschwächter Form an die Presse weitergegeben. Die Polizeiakte enthielt Details, die man der Masse einfach nicht zumuten konnte. Eine Panik unter überdrehten Bürgern, die mit Argusaugen ihren Nachbarn beobachteten, um beim geringsten Anzeichen einer Absonderlichkeit überzuschnappen, wünschte sich wohl niemand in der Millionenmetropole. Der Inspektor kratzte die Asche aus dem Pfeifenkopf und klopfte ihn über dem Ascher aus. Er führte den Bierkrug zum Mund und leerte ihn in drei kräftigen Zügen. 28
Was war in der Mietsbaracke wirklich vorgefallen? Woher war diese Krankheit gekommen? Handelte es sich um Einzelfälle oder gab es noch weitere Ausbruchsherde? In seine Überlegungen vertieft stand Warwick auf und zog sich den Trenchcoat über, ging bedächtig zum Tresen und bezahlte sein Bier. Als er durch die Tür auf die Straße trat, empfing ihn angenehm frische Abendluft.
Richard Jordan! Was geschieht nur mit uns? Aber aller Wahrscheinlichkeit nach könntest du mir doch keine Antwort auf meine Fragen geben... Die Hände des Inspektors verschwanden in den Seitentaschen seines Mantels. Während er zielstrebig den Weg zu seiner kleinen Wohnung zurücklegte, wusste er bereits tief in seinem Innern, dass große Dinge in Bewegung geraten und nicht mehr aufzuhalten waren. Der beklemmende Druck in seiner Brust verriet ihm, dass eine unerfreuliche Zukunft auf ihn wartete...
3. Die Wohnhöhlung von Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am und seinem Zögling Sha'am-O befand sich im Nordwesten eines geometrischen Gebildes aus insgesamt zwölf Behausungen, in deren exaktem Mittelpunkt sich die Versammlungshalle befand. Ein mehrlagiges Energiegitter mit präzise festgelegten Kreuzungs- und Knotenpunkten umgab die Siedlung. Es unterstützte die Ausgewogenheit des polaritätsbezogenen Denkens und Handelns der Priester und war gleichzeitig Speichermedium des Kollektivgedächtnisses. Jokk-Ar teleportierte gemeinsam mit seinem Sohn durch die Kraftfeldhaube auf den Grund der Wohnwabe. Die Wabe war halbkugelförmig in den Untergrund gewölbt; sie bestand aus einem gelborange schillernden Mosaik handtellergroßer Pentagone. Der Durchmesser der Höhlung, die durch die Energieglocke zur Kugel komplettiert wurde, 29
betrug sieben Meter. Es gab keinerlei Mobiliar oder technisches Instrumentarium. Aktiviere deinen Tachyonenschirm, wies der Priester seinen Nachkommen an. »Sofort, Vater.« Und unterlasse bitte das Modulieren. So nannte er es, wenn sein Sohn die Stimm-Membranen benutzte. Das trübt deine Instinkte.
Entschuldige, Vater.
Aus dem Nichts baute sich eine holografische Kugel auf.
Überprüfe die Extraktion der Ikosaeder aus ›unseren‹ FünfeckZwölfflächner, berechne eine räumliche 70-Grad-Drehung der Körper voneinander weg und verbinde die Zentrumspunkte aller entstehenden Flächen. Sha'am-O brummte etwas Unverständliches.
Deine verbale Äußerung habe ich nicht verstanden, ließ ihn sein Vater wissen, deine Gedanken schon. – Also nimm dich in Acht! Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am stand in einem grotesken Winkel von annähernd fünfzehn Grad zu seinem Sohn in der Wabe. Das Kraftfeld sorgte dafür, dass sich losgelöst vom restlichen Umfeld individuelle Gravitationskonstanten festlegen ließen. Die Kontrolle der Konstanten erledigte das Gehirn des Priesters praktisch als Subroutine. Bestätigung der Sprialsequenz, gab Sha'am-O das Ergebnis seiner Untersuchung bekannt. Wieder mal.
Deine leiernden Gedanken verraten gewisse Ermüdungserscheinungen, kritisierte Jokk-Ar. Trotz allem müssen die Berechnungen wieder und wieder ausgeführt werden. Ich muss absolute Sicherheit haben, was meine Thesen angeht. Und ich muss Schi'in-Djuqs Ansichten klar widerlegen können. Sollte dir die Signifikanz unserer Angelegenheiten entgangen sein, dann wärst du wohl besser bei deinem Freund Djuq-O und dessen Vater aufgehoben. Der Schreck fuhr dem Jungen durch alle Glieder. Und im Gegensatz zu seinem Elter war er nicht in der Lage, seine Überlegungen abzuschirmen. Er will mich verstoßen!, schrie es in ihm. Sha'am-O wusste nur zu genau, dass sein Vater den mentalen Angstschrei aufgefangen hatte. 30
Sein Entsetzen wurde jedoch umso größer, da sein Erzeuger ihn ignorierte. Du solltest mich jetzt alleine lassen, erhielt er zur Antwort. Im Ge-
gensatz zu dir sorge ich mich um das Fortbestehen allen Lebens.
Der Tachyonenschrim erlosch. Grußlos teleportierte Sha'am-O durch die Energiekuppel.
Dummer Junge! Aber ich kann mich nicht mit ihm beschäftigen. Nicht jetzt! Auch wenn es mir das Herz bricht, ihn derart hart anzufassen. Irgendwann wird er mich verstehen.
Le-Ing-Sha'am erzeugte unmittelbar vor sich ein eigenes Hologramm. Ihre Mentalkräfte erlaubten es den Priestern, freie Elementarteilchen zu bündeln und als Projektionsfläche ihrer Gedanken einzusetzen. Momentan lief die von Sha'am-O bestätigte Spiralsequenz ab. Eine Unmenge verschiedenfarbiger Verknüpfungspunkte, Linien und sequentiell generierter geometrischer Körper überlagerten, wechselten in rasender Abfolge und bildeten einen turmartigen Komplex. Der Priester fror einen Abschnitt ein, separierte ihn und ließ ihn um seine drei Achsen rotieren. Da ist die Störung wieder, kommentierte er seinen Eingriff. Voll-
endet in ihrer Struktur. Perfekt akkomodiert. Und trotzdem ein Fehler... – Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O, rief er sich den Namen seines Amtsbruders und Kontrahenten ins Gedächtnis, wie konntest du das nur übersehen?
Die Drehbewegung der holografischen Darstellung endete. Jokk-Ar reihte sie wieder in die Sequenz ein und begutachtete wie oftmals zuvor ihre heimtückische Unscheinbarkeit. Der T'ott'amh-anuq darf nicht initiiert werden!, füllten die Worte seidnen Kopf aus, hart und unnachgiebig. Unter keinen Umständen! * »Du willst schon wieder Ajar besuchen?« Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq sah zweifelnd auf seinen Sohn herab. In dessen Beisein gebrauchte auch er häufig die Form der verbalen Kommunikation. Kinder empfanden den andauernden telepathischen 31
Kontakt noch als anstrengend. Die Benutzung des Stimmorgans erfüllte außerdem den Zweck des emotionalen Abreagierens. Selbst ein so hoch entwickelter Körper wie der eines Priesters war im Anfangsstadium seiner Entwicklung solchen Faktoren unterworfen. Nur wer alle Aspekte des Lebens kannte, konnte auch mit allem in Harmonie leben. »Ja, Vater. Das möchte ich. Er war letztens sehr beschäftigt und ich war nur kurz da. Ich bin doch so gerne bei ihm.« »Schön. Ich gebe dir Bescheid, wenn der Älteste die Versammlung einberuft. Bis dahin werde ich weitere Untersuchungen der Spiralsequenz vornehmen. Für die kommende Erörterung muss ich bestens vorbereitet sein.« Djuq-O war bereits aus der Wohnwabe teleportiert. Sein Vater registrierte es an dem Luftzug gleich neben ihm, mit dem die Atmosphäre in den Leerraum gesogen wurde, den der Junge hinterlassen hatte. Guter Dinge suchte Djuq-O die Höhlung von Ajar-Nukk-Ar F'attEnoq auf. Dieses mal war er vorsichtiger und klopfte mental an. Erstaunt stellte er fest, dass er bereits erwartet wurde. »Mein lieber, gelehriger Freund«, wurde er nach der Materialisation empfangen. Der Ajar stand seitlich im rechten Winkel zu Djuq-O.
Was führt dich zu mir?
»Oh, nichts Besonderes. Vater beschäftigt sich wieder mit seinen Berechnungen. Die kenne ich beinahe alle in- und auswendig.« »Und da hattest du Langeweile, was?« »Na ja, vielleicht ein bisschen... – Ich störe doch nicht?« »Das tust du ganz sicher nicht.« F'att-Enoq verfolgte einen bestimmten Gedanken, den er dann auch spontan aussprach: »Komm, lass uns ein wenig spazieren gehen.« Hinter dem Energieschirm sahen sie über die weite Ebene. Dürr und zerbrechlich wirkten die mächtigen Generatortürme und Kraftwerkszuleitungen, die Himmel und Erde miteinander verbanden, aus der Entfernung. Kurz noch streckten sie beide ihre geistigen Fühler nach dem Gitternetz aus, das als vielschichtige Schale den Siedlungskomplex umschmiegte, ihnen Tatkraft und Ausgeglichenheit schenkte sowie das Kollektivgedächtnis aufrechterhielt. Dann traten sie hinaus in das Land.
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»Es wird heute zur Erörterung des Themas T'ott'amh-anuq kommen«, stelle Ajar fest. »Das stimmt. Vater wollte mich rufen, wenn es soweit ist.« »Die Anfänge liegen weit zurück«, sinnierte F'att-Enoq. »Viel weiter, als du dir vorstellen kannst. Col'Shan-duur, das von den Menschen die dunkle Zitadelle genannt wird, war nicht immer an diesem Ort. Und in ferner Vergangenheit hat es auch ganz anders ausgesehen.« »Vater hat davon erzählt. Doch nur wenig. Ich will ihn auch nicht von der Arbeit ablenken.« »Guter Junge«, lobte der Alte. »Warum benutzen die Menschen diesen seltsamen Namen für unser Zuhause? Es hat doch nichts Negatives an sich.« »Die Erdenbewohner bedienen sich gerne sehr farbiger Ausdrucksformen. Col'Shan-duur war zurzeit der ersten Layshi-Pan Ausgangspunkt für schwere Auseinandersetzungen mit den negativen Kräften der dritten Ebene. Das hat die Namensgebung entscheidend geprägt.« »Vater sagt, die Menschen seien ebenfalls negativ. Das Kollektiv sei ihnen fremd, es zähle nur das eigene Wohl.« »Man kann es in der Tat so sehen. Doch ist diese finstere Phase Teil der Entwicklung dieser Spezies. Der Übergang zur nächsten Ebene steht kurz bevor. Das Bewusstsein der Menschen wird sich drastisch erweitern. Die verschollenen Inhalte ihrer Existenz werden zurückkehren. Die materielle Orientierung wird zugunsten der spirituellen sinken. Dies wird allerdings mit beträchtlichen Opfern verbunden sein.« »Was hat der T'ott'amh-anuq damit zu tun? Was wird er bewirken?« »Das ist mit wenigen Worten nicht gesagt. Ihn zu beschreiben ist schier unmöglich, da es noch niemals zuvor etwas Vergleichbares gegeben hat. Einzig die Notwendigkeit seiner Schaffung wurde von den ordnenden Mächten jenseits des großen Horizonts vorhergesehen. Er wird kommen und die Finsternis verdrängen. Er wird dem Leben breiteren Raum schaffen und die Lebewesen dieser und anderer niederer Existenzebenen ihrer wahren Bestimmung zuführen. Er wird bemüht 33
sein um die Ausgewogenheit der Gegensätze. Um genau das möglich zu machen, sind wir hier. In irdischen Maßstäben ausgedrückt sogar schon seit einigen hunderttausend Jahren.« »Wir initiieren doch auch die Layshi-Pan, sagt Vater. Hast du schon mal einen gesehen?« Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq brauchte nicht lange nachzudenken. »Nein, noch nie. Das Problem sind die Menschen. Anfangs war es leicht, geeignete Anwärter zu rekrutieren, doch der immense Bewusstseinsverlust dieser Rasse hat es stets schwieriger gestaltet, den Erfordernissen angepasste Novizen zu finden. Zu unserer Zeit, mein lieber Djuq-O, sind es gerade einmal fünfzig innerhalb eines Sternzeichendurchlaufs. Die Bewohner der Planetenschwester Sirius bezeichnen die Menschen gar als Schlafwandler, weil ihre Wahrnehmungsfähigkeit dermaßen eingeschränkt ist.« »Aber wie können sie in diesem Zustand überleben?« Der kleine Djuq-O hatte Mühe, diese Tatsache zu akzeptieren. »Sie haben sich ein angepasstes Weltbild geschaffen. Was sie sich nicht erklären können wird nicht zur Kenntnis genommen oder derart verdreht und bearbeitet, dass es Bestandteil ihrer Realität werden darf. Sie nutzen fast ausschließlich den männlichen Aspekt ihres Gehirns; die Trinität der Dinge ist für sie ein verschwommener Mythos fern der Wirklichkeit.« Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O war fassungslos. »Das... das sind ja Verrückte!« Der Ajar lachte. »Urteile nicht zu streng. Das Dasein der Menschheit lässt sich nicht mit ein paar oberflächlichen Worten beschreiben. Der erste Eindruck täuscht. Und halte dir immer vor Augen: Auch diese Wesen sind ein Teil der Schöpfung. Der Ursprung ist allem, was ist, derselbe. Das darfst du nie vergessen.« Er fügte hinzu: »Das gilt auch für die negativen Kräfte.« Der Junge ließ einen tiefen Seufzer hören. »Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis ich das verstanden habe.« Sie waren ein gutes Stück weit gegangen. Die Siedlung war nur schwach am Schimmern der Kuppelschirme zu erkennen. Vor ihnen baute sich ein viele Meter im Durchmesser starker Energiemeiler auf. 34
»Spürst du es auch?«, fragte F'att-Enoq seinen Begleiter. »Diese eigenartige Präsenz...« »Ja«, flüsterte er. »Direkt über...« »Was ist los?«, erkundigte sich der Alte, als Djuq-O mitten im Satz verhielt. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Nein, nein. Ich höre nur gerade...«
Sohn! Der Älteste hat zur Versammlung gerufen. Ich erwarte dich. »Vater hat sich gemeldet«, erklärte Djuq-O stockend. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, alle seine Wahrnehmungen zu koordinieren. »Ich muss zurück.« »Ich werde dich begleiten«, erwiderte der Ajar. »Ich bin gespannt, zu welchen Erkenntnissen unser Volk gelangt ist. Ich fühle förmlich, dass große Veränderungen in der Luft liegen.« Gemeinsam traten sie den Heimweg an. Djuq-O fiel die leichte Abwesenheit seines alten Freundes während ihres weiteren Gesprächs nicht auf. F'att-Enoq hatte seine geistigen Fühler immer noch nach dem Energiemeiler ausgestreckt. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, wie ihnen die eigenartige Präsenz folgte... * Als Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O die gelbe Höhlung im Zentrum des Wohnkomplexes in Begleitung des Ajar F'att-Enoq betrat, standen die Angehörigen des Priestervolkes bereits in Kreisformation. Für die Neuankömmlinge hatte man Lücken gelassen, als ihr Kommen telepathisch-empathisch erfasst worden war.
Es ist erfreulich, dich nach langer Zeit wieder in unserer Mitte zu haben, wandte sich der Älteste an Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq, auch wenn dir keine Entscheidungsbefugnis zugebilligt wird. Ich danke für die bereitwillige Aufnahme in den Zirkel, formulierte der Angesprochene höflich.
In Anbetracht der Situation, fuhr der Älteste fort und wandte sich damit an alle Anwesenden, bitte ich um zügige Abhandlung der Fakten. Unsere gemeinsame Entscheidung bedarf einer soliden Grundlage. 35
Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am betrachtete dies als direkt an sich gerichtete Aufforderung.
Die Verpflichtung zur Sorgfalt hat mich getrieben, meine Berechnungen immer und immer wieder in Frage zu stellen, neu anzufertigen und dabei mit sämtlichen mathematischen Modellen abzugleichen. Ich will euch über das Resultat meiner Forschungen nicht weiter im Unklaren lassen.
Im Zentrum des Kreises flammte eine Tachyonen-Kugel auf. Sie zeigte ein im Zeitraffer bewegtes Modell des irdischen Sonnensystems. Eine imaginäre Kamera zoomte aus dieser Einstellung heraus, fokussierte die Ellipse des Planetensystems um das galaktische Zentrum und stellte in raschem Wechsel lineare Bezugspunkte zu den zwölf Sternzeichen her. Aus diesen bildeten sich durchscheinende Spiralen, deren Quotienten ein wirres Muster senkrecht verlaufender Sinuskurven ergaben. Ein weiteres Kurvenmodell legte sich über das soeben erstellte, dann noch zwei, noch vier, acht, sechzehn, hunderte. Ein blinkender Cursor sprang im Hochgeschwindigkeitstempo die Quotientenpunkte ab, reduzierte die Kurven auf ihre Spiralformen und führte sämtliche Berechnungswerte auf eine Grundsequenz zurück, die zwei Spiralen zeigte aus Quadraten in fortlaufendem 45-Gradwinkel. Er unterlegte die Darstellung mit einem Polardiagramm, blendete die Quadrate ab und verknüpfte mehrere Ankerpunkte in und außerhalb der Doppelspirale. Es entstand ein Sterntetraeder. Dieses wiederholte sich im Hexagon seines eigenen Zentrums. Und in dessen Zentrum erschien ein Kreis, der wiederum an sechs Stellen die Außenbegrenzungen berührte. Kreise exakt der gleichen Größe zeichneten sich um die sechs Eckpunkte des äußeren Sterns, spiegelten sich zur Mitte des Gesamtobjektes hin und schufen damit eine Verbindung zur Zentrumskugel. Das Resultat war ein Gebilde aus dreizehn Kreisen, das sich strahlenförmig ausdehnte.
Ihr seht vor euch das zweite universale Informationssystem, die Frucht des Lebens, kommentierte Le-Ing-Sha'am knapp. Er vergrößerte einen bestimmten Ausschnitt, extrahierte einen Teil des Sequenzmusters und schlüsselte diesen auf. 36
Hier, sagte er sachlich, liegt der Fehler. - Können das alle sehen? Der Versuch des Begreifens war stark in dem Kollektiv, doch schließlich herrschte Ratlosigkeit vor. Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq, begann der Älteste, vielleicht ist es dir
möglich, ein wenig Transparenz in die Aussagen deines Amtsbruders zu bringen. Dir fällt die Deutung sicher leichter als dem Rest von uns.
Schwang da eine Unsicherheit mit? Hatte der Älteste Angst, die Verantwortung der Entscheidung alleine tragen zu müssen? Schi'in-Djuq verwarf den Gedanken; er konnte ihm hier und jetzt keine Beachtung schenken.
Das will ich gerne übernehmen. Zum einen kann ich keine Anomalie erkennen... Das ist nicht dein Ernst!, unterbrach Le-Ing-Sha'am. Er schien starr vor Entsetzen.
...zum anderen ist das, was mein Kontrahent als Fehler bezeichnet, lediglich eine Korrekturmaßnahme der Natur. Sie kennt zwar - rein theoretisch - die Endlosigkeit, aber sie kann nichts schaffen, was keinen Ursprung hat. Daher diese ›mathematische Aufrundung‹. Möchtest du dich dazu äußern?, fragte der Älteste Le-Ing-Sha'am. Schi'in-Djuq hat unrecht!, stieß er hervor, immer noch sachlich, nur unterschwellig unbeherrscht. Die Sequenz ist nicht korrigiert, sondern nachträglich eingefügt worden! Jetzt war die Verblüffung auf Seiten des Gegners.
Weißt du, was du da behauptest? Du redest von einer Manipulation des ›großen Plans‹. Wer sollte Derartiges fertig bringen?, wurde nun auch die Frage des Kollektivs laut.
Das kann ich nicht beantworten. Bedenke, worum es geht!, sprach der Älteste eindringlich. Eine Entscheidung für oder gegen das Ritual aufgrund eines vagen Verdachts herbeizuführen, der sich niemals beweisen lassen wird, ist verantwortungslos. In diesem Fall müssen wir dir die Unterstützung verweigern. Bedrückendes Schweigen. Jokk-Ar Le-Ing-Sha'ams Befürchtungen bestätigten sich. Man war nicht gewillt, auf die bevorstehende Gefahr 37
zu reagieren. Was sollte er jetzt tun? Er würde an die Mehrheitsentscheidung gebunden sein, obwohl die prekäre Situation seiner Einschätzung nach einen Verstoß gegen dieses Gesetz durchaus rechtfertigte. Auch, wenn es noch nie geschehen war. Vielleicht ist es mir erlaubt, einen Ansatz zumachen?, erkundigte sich Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq. Es spricht nichts dagegen, erhielt er nach kurzem Zögern von allen die Antwort. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche
Maßnahmen.
Djuq-O konnte sich noch weniger als bei seinem Vater zurückhalten und schickte einen begeisterten Anfeuerungsimpuls. Der Ajar schmunzelte innerlich. Was ich feststelle, begann F'att-Enoq, ist die allgemein zuneh-
mende Beschränkung auf das Logische, das Sicht- und Greifbare. Das männliche Prinzip innerhalb des Polaritätsdenkens wird - ganz wie bei den Menschen der letzten sechseinhalbtausend Erdenjahre - mehr und mehr zur Norm.
Niemand unterbrach ihn. Auch - oder gerade - Le-Ing-Sha'am hing wie gebannt an seinen Worten. Ausgerechnet der ›Unfruchtbare‹, der wegen seines Defekts eher geduldet als gebilligt wurde und damit vom Rat des Kollektivs ausgeschlossen war, konnte für die Akzeptanz seiner These die Wendung bringen.
Wir müssen uns unbedingt auf das Gleichgewicht der Prinzipien besinnen. Jede logische Entscheidung ist unvollständig ohne ihre intuitive Komponente. Der Älteste besann sich als erster.
Ich stimme dir bei.
Dann fügte er eine Frage hinzu, die allein aufgrund der gesellschaftlichen Stellung des Ajar mehr als unüblich war: Wie würdest du
dich in unserem Fall verhalten? Öffnet euch den gegensätzlichen Prinzipien, fuhr er ohne Zögern fort. Und überlasst den Rest eurer inneren Stimme. Ich habe mich bereits entschieden.
Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am fühlte eine Spannung in seinem Körper, von der er geglaubt hatte, sie nach den Kindertagen nie mehr erfahren 38
zu dürfen. Nur Augenblicke würden jetzt noch über seinen Triumph entscheiden - und gegen Schi'in-Djuq! Schon folgte die Bewertung des Kollektivs, das seine Gedanken abgeschottet hatte, um frei von Beeinflussung durch die gegnerischen Parteien entscheiden zu können. Ich danke dir für die Korrektur unserer Verhaltensweise, richtete der Älteste sich an F'att-Enoq. Unser Urteil ist nun rein und ganz im
Geiste der polaren Prinzipien. Sobald Gon'O'locc-uur die Ankunft des Anwärters bekannt gibt, werden wir das Initiierungsritual einleiten. Nein!, hallte Le-Ing-Sha'ams mentaler Schrei und jeder konnte ihn hören. Das dürft ihr nicht tun! Ihr werdet alles zerstören! Leiser und seine Emotionen im Zaum haltend ergänzte er: Meine Berechnungen sind richtig. Und in der Mathematik spielt die Intuition keine Rolle. Es wird keine weiteren Anhörungen geben, betonte der Älteste. Der Beschluss des Kollektivs ist endgültig.
Jokk-Ar erkannte zweifelsfrei, dass alle Bemühungen, den Rat noch umstimmen zu wollen, im Sande verlaufen würden. Die Anwesenden lösten den Kreis auf und begaben sich zu ihren Wohnwaben. Draußen vor der gelben Versammlungshöhlung verstellte Le-IngSha'am dem Ajar den Weg. Wie lautete deine eigene Entscheidung?, fragte der Wissenschaftler. Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq überraschte das ungebührliche Verhalten des Priesters fast noch mehr als die ungewöhnliche Frage. Und da er nicht gleich antwortete, präzisierte Jokk-Ar: Du sagtest vor dem Kol-
lektivbeschluss, du hättest dich bereits entschieden. - Wofür? Für den Rat - und gegen dich! Ohne eine weitere Äußerung setzte
der Ajar den Weg zu seiner Höhlung fort. War es Betroffenheit oder die Erkenntnis der ihn umgebenden Kurzsichtigkeit, die Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am unfähig machte zu jeglicher Reaktion? Nachdenklich sah er dem sich entfernenden Ajar hinterher und erst das feine Stimmchen - behutsam tastend und doch ein wütender Störenfried im Tempel seiner Gedanken - holte ihn auf die Ebene der bewussten Wahrnehmung zurück. »Geht es dir gut, Vater?« 39
Benutze deinen Verstand!, folgte die rüde Erwiderung. Nicht dein Sprechorgan! Hast du denn gar nichts bei mir gelernt? Der kleine Sha'am-O erschrak ob der groben Zurechtweisung. Er hatte helfen wollen. Sein Bestreben war von tiefster Aufrichtigkeit erfüllt gewesen. Jetzt war er geknickt und sehr, sehr traurig.
Verzeih mir bitte, Vater. Es soll nicht wieder geschehen. Der Priester nahm von diesen Worten schon keine Notiz mehr. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken, türmten sich auf zu Assoziationsketten und Wahrscheinlichkeitsdiagnosen. In seinem Hirn entstand die Vision einer grauenhaften Pararealität, sollte tatsächlich das Initiierungsritual vollzogen werden. Das durfte er unter gar keinen Umständen zulassen! Augenscheinlich war er nämlich der Einzige, dessen Blick für die Wirklichkeit noch nicht getrübt war. Eine vernünftige, eine absolut plausible Argumentation, sollte er einmal zur Rechenschaft gezogen werden für das, was seinen Verstand von dieser Minute an beseelte.
4.
Cartlewood-Manor, Südengland, Erde Immer noch stand die gesamte Mannschaft des Industriellen Denningham-Cartlewood unter dem Schock, den der wissenschaftliche Mitarbeiter Gregory Andersen mit seiner Aussage ausgelöst hatte. Das Siegelbewusstsein hatte neben Richard Jordan eine weitere - Person...? zur dunklen Zitadelle transferiert. Niemand konnte die Frage beantworten, um wen oder um was es sich handelte, geschweige denn, wie dieser schier unmögliche Akt hatte vollzogen werden können. Die Strukturdaten von Richard Jordan waren einzigartig. Nur auf diese war der Siegelgeist geeicht. Auf nichts anderes. Trotzdem hatte er entgegen seiner Konditionierung gehandelt. Welche Lösung sich hinter dem Rätsel verbarg, entzog sich derzeit noch der Kenntnis aller Anwesenden. 40
»Ich danke Ihnen allen für Ihren großartigen Einsatz«, erklang die computergenerierte Stimme von Lord Cyprus Denningham-Cartlewood. »Suchen Sie jetzt wieder Ihre Quartiere auf. Es gibt hier nichts mehr zu tun.« »Gute Nacht, Sir«, verabschiedeten sich die Männer und Frauen des wissenschaftlichen Stabs. Sie verließen die Kontrollebenen und begaben sich zum Fahrstuhl, der sie zu ihren Räumlichkeiten an der Erdoberfläche bringen würde. Es war früh am Morgen und der PurpleAlarm hatte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Die wenigen verbleibenden Stunden bis zum nächsten Schichtantritt konnten sie nun etwas Ruhe finden. An der Aufzugstür blieb Gregory Anderson unvermittelt stehen. »Kommst du noch rein?« Sybil Stratford sah ihren Kollegen aus der Kabine auffordernd an. »Geht ihr schon vor«, winkte er ab. »Ich komme bald nach.« Der Fahrstuhl schloss sich. Ein stetig leiser werdendes Summen kündete davon, dass die Kanzel hochfuhr. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Mister Anderson?«, meldete sich die angenehm modulierte Computerstimme, die die Gedanken Cartlewoods abtastete und tonal interpretierte. Über ein ausgeklügeltes Lautsprechersystem erreichte sie jeden Winkel seines unterirdischen Kontrollzentrums. »Sie müssen müde sein und sollten sich ausruhen.« »Dafür ist immer noch Zeit«, versetzte der Projektleiter und geheimnisvoll fuhr er fort: »Haben Sie es nicht bemerkt, Sir?« »Was meinen Sie?« »Ja, natürlich.« Anderson lachte. »Mir wäre es beinahe selbst entgangen in dem ganzen Trubel. Das hier hat mich wieder daran erinnert.« Er zog ein kleines graues Kästchen aus seiner Kitteltasche. »Habe ich mir selbst gebastelt. Ist so was wie 'ne Eieruhr und mit dem Rechnersystem verbunden.« Er schmunzelte. »Gerade eben hat sie geklingelt.« »Die Sequenz ist beendet!«, erkannte der Mann in der Plexiglasröhre noch in derselben Sekunde. »Jahr - nach - endlich - all den Ende! - Ende - .« Der Computer konnte die Sturmflut der Gedanken 41
kaum filtern. Denninghams Körper schien sich wie unter leichten Stromstößen zu bewegen, was ihm aus eigener Kraft nicht mehr möglich war, da er vom Kopf bis zu den Füßen gelähmt und zu keinerlei Regung fähig war. Und dennoch entstand der Eindruck. »Zeigen Sie es mir«, sagte er schließlich beherrscht und drängte seine Aufregung zurück. Das an die Röhre angeschlossene Rechengehirn konnte die Stimmungen mitunter recht gut nachempfinden. Gregory Anderson befand sich mittlerweile auf der obersten, der vierten Ebene. Da das Gesamtsystem zeitverzögert über diverse Redundanz-Weichen gesteuert wurde, konnte Denningham-Cartlewood die aktuellen Daten noch nicht auf dem riesigen Plasmaschirm gegenüber seiner Liegestatt sehen. Anderson synchronisierte die Server. Auf dem Plasmaschirm gab es einen Bildsprung. Die gewohnt fließenden Bewegungen der Zahlenkolonnen, Diagramme und Rasterfelder waren arretiert und zu einem abstrakten Stillleben erstarrt. Der taubstumme und blinde Mann, dessen Gehirn das einzig intakte Organ in einem mehr toten als lebendigen Körper war, ließ die Jahre der Suche in höchstem Tempo vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Sie hatten von Beginn an nach dem Ursprung gesucht. Dem Ursprung von Col'Shan-duur, der dunklen Zitadelle. Dem Ursprung der Artefakte, die auf teilweise verschlungenen Pfaden in ihren Besitz gelangt waren. Und dem Ursprung derjenigen, die weit vor den Konstrukteuren der Zitadelle existiert hatten. Das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen projizierten die Laserobjektive der Computerdrohne direkt in seinen Geist. Präzise, scharf konturiert und exakt farbgetreu. »Was stellt das dar, Mister Anderson?« Leise und ehrfürchtig schlichen die Worte über die Boxenmembranen. »Geben Sie mir einen Augenblick Zeit«, fand der Wissenschaftler nach langen Momenten staunender Fassungslosigkeit seine Routine wieder. »Ich checke die Liste der Eingabeparameter.« Es dauerte lange. Viel zu lange. Besonders für jemanden, dem nach drei Dekaden des Wartens jede verstreichende Sekunde schmerzhaft unter den Nägeln brannte. »Gibt es Probleme?« 42
»Nein. - Nein, Sir. Ganz und gar nicht. Es ist nur...« Anderson suchte nach Worten, während seine Finger wieselflink über Sensorfelder glitten und seine Augen zahllose Anzeigen überflogen. »... zu fantastisch. Daher überprüfe ich die Messwerte. Eine tiefgehende Analyse könnte allerdings bei der Datenmenge Monate in Anspruch nehmen.« »Stellen Sie diese überflüssigen Untersuchungen ein!« Laut und schneidend erscholl die Anweisung. »Ich bin keinesfalls gewillt, noch mehr Zeit in dieses Projekt zu investieren. Nicht, wenn der Schlüssel zum Tor der universellen Erkenntnis zum Greifen nahe ist.« Denningham-Cartlewoods Blick fraß sich förmlich fest an dem strahlenden Gebilde, das einem geschliffenen Diamanten glich. Wenn man es intensiv genug betrachtete und die Flächen der abgewandten Seite denen der sichtbaren hinzuzählte, so erhielt man ein Dodekaeder, einen Zwölfflächner. Dieser Diamant war transparent und zeigte in seinem Innern faszinierende Kristallstrukturen von atemberaubender Schönheit und verwirrender Vielfalt. Man konnte in der Anmut verschwenderischer Pracht regelrecht versinken und tagelang die irrwitzigen Verästelungen studieren, die sich wie Eisblumen an einem kälteklirrenden Wintermorgen vernetzten. Ein winziger Funken des Verstehens glomm in Cartlewoods Überlegungen auf. Er konnte ihn nicht festhalten und augenblicklich verlosch er. Als Gregory Anderson zu einer Erklärung ansetzte, da war es dem Verkrüppelten in der Plexiglasröhre, als spräche der Wissenschaftler genau das aus, was er selbst nicht mehr hatte definieren können und was lediglich ein feiner Spuk in seinen Betrachtungen der Wirklichkeit gewesen war. Und genau diesem Spuk bereitete Anderson nun ein Ende. Seine Aussage war mehr als deutlich. Das Zittern in seiner Stimme versuchte er so gut es ging zu unterdrücken. »Das ist eine Außenansicht des Universums. - Des gesamten Universums.« Andersens Herzschlag beschleunigte sich, was in seiner Aussprache allerdings nicht zum Tragen kam. »Die kristallinen Strukturen stellen Galaxiencluster dar. Ich spreche hier von Ansammlungen im Millionenbereich. Die Astronomen heutzutage sprechen in diesem Zusammenhang von Super-Super-Haufen. Leider ergehen sie sich 43
größtenteils noch in Vermutungen, da sie nicht in der Lage sind, das Gesamtgebilde zu überschauen. So wie Sie und ich es jetzt tun.« »Haben Sie... die Spur weiterverfolgen können...?« Der Computer ahmte jede aus Denningham-Cartlewoods Gedanken entspringende Emotion nach. Die Informationen dafür holte er aus seiner Ursprungsprogrammierung und den Erfahrungsroutinen aus dem Umgang mit den Menschen in seinem direkten Umfeld. Diese zeigten ihm in diesem Fall besondere Betonungen und Sprechpausen sowie die daraus resultierende Stimmfärbung. »Das habe ich. Auf dem Schirm erkennen sie sie als hauchfeinen, blauen Streckenstrich.« »Gott im Himmel!«, entfuhr es Cartlewood. »Er führt aus dem Dodekaeder hinaus! - Wohin?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie genau hinschauen, entsteht auch nur der Eindruck, dass die Linie den geometrischen Körper verlässt. Alles, was außerhalb des Dodekaeders liegt, entzieht sich unseren Messungen, entzieht sich jeglicher Wahrnehmungsmöglichkeit.« »Das heißt, wir werden nie erfahren, wohin die Uralten gegangen sind...« »Sie sollten das nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, Sir«, versetzte Gregory Anderson aufmunternd. »Vielleicht ist es trotzdem geboten, sich mit den gegenwärtigen Problemen zu beschäftigen. Richard Jordan. Philip Ravenmoor. Die dunkle Zitadelle. Und natürlich Amalnacron. Oder das, was er zur Zeit darstellt.« »Sie haben Recht. Unsere Bemühungen sollten sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Die Erde ist in großer Gefahr. Es gibt jedoch kaum eine Möglichkeit, aktiv in das aktuelle Weltgeschehen einzugreifen...« Schweren Herzens formulierte er die daraus resultierende Konsequenz: »Anscheinend besteht unsere einzige Aufgabe nur noch darin, unser eigenes Überleben zu sichern.« »Ich denke, wir haben alles getan, was in unseren Kräften stand.« »Soviel ist sicher, Mister Anderson. Wir brauchen uns keine Vorwürfe zu machen. Unsere momentane Ohnmacht ist Teil eines Kon44
zepts, das wir nicht durchschauen. Und Selbstvorwürfe bringen niemanden weiter.« Gregory Anderson blinzelte und deckte sein Gähnen mit dem Handrücken ab. Es gab nichts mehr zu sagen. »Ich lege mich noch ein paar Stunden hin, Sir. Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen.« »Erholsamen Schlaf, Mister Anderson.« Kurz darauf war Lord Cyprus Denningham-Cartlewood allein. Wie jeden Abend. Nur dass in dieser Nacht ein wesentliches Detail hinzugekommen war, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen würde. Er hatte das Universum in seiner ganzen Ausdehnung gesehen – ein Umstand, den er in seiner gesamten Tragweite unmöglich erfassen konnte! Der Mensch betrachtete das Universum als unendlich. Doch das war es nicht. Was aber umgab diesen endlichen Kosmos? Gab es weitere Dodekaeder dort draußen, die jeder für sich ein eigenes Universum darstellten? Cartlewood fröstelte. Er konnte die Gedankenkette ohne Unterlass weiterknüpfen, bis er an jenen Punkt gelangte, der ihn in angsterfüllter Bewunderung im Angesicht der Schöpfung erstarren ließ und sich ihm eine völlig neue Dimension seiner unvollkommenen Vorstellung von Unendlichkeit eröffnete... * »Es ist - wunderschön.« Ein Gefühl der Erhabenheit bemächtigte sich des jungen Jordans, als er das weite Rund in Augenschein nahm, das sich aus den Falten eines die Wirklichkeit verschleiernden Vorhangs hervorschälte und alle seine fünf Sinne bis zum Äußersten mit willkommenen Reizen überflutete. Höchst intensiv übten die Bilder, Töne, Gerüche, der angenehme Geschmack und das sanfte Streicheln der Atmosphäre als einzigartige Komposition ihre Wirkung auf seinen gesamten Körper aus, drangen in jede einzelne Faser vor und stimulierten sie auf eine Weise, die Richard glauben ließ, die Beschränkungen eines tumben Traums abge45
legt zu haben und zum ersten Mal die eigenen Möglichkeiten der Wahrnehmung auszuschöpfen. Sein Blick wanderte gelassen hoch hinauf zum Kuppeldom, der sich beschützend um das spannte, was der Schrein mit den Worten ›Das bin ich‹ bezeichnet hatte, vollzog eine nach unten gerichtete Kreisbewegung, verweilte geraume Zeit auf unbeschreiblich fremdartigen... Geräten? - und einer Gruppe von Menschen, deren Gesichter über die Entfernung noch nicht sichtbar waren und glitt weiter hinab zu seinen Füßen... Siedendheiß fuhr der Stich durch seine Magengrube, als er sich haltlos über einem bodenlosen Abgrund wähnte und der Meinung war, sich nur durch einen eher weniger eleganten Hüpfer nach hinten retten zu können. »Was treibst du denn da? Ist das ein Tanzschritt?« Der Schrein gab sich verblüfft und obwohl es keinen verwertbaren Hinweis dafür gab und das erfahrbare Spektrum seiner emotionalen Ausdrucksfähigkeit hinlänglich unbekannt war, konnte sich Richard Jordan des Eindrucks nicht erwehren, dass sein unsichtbarer Führer sich diebisch amüsierte. »Verdammt!«, keuchte Richard. »Beinahe wäre ich abgestürzt!« »So?«, wunderte sich der Schrein. »Warum tust du es dann jetzt nicht?« »Wie?« Der Sohn des Archäologen sah erneut zu Boden - und wieder erschrak er bis ins Mark! Obwohl er fühlte, dass er auf festem Grund stand, konnten seine Augen diesen nicht sehen. »Eine ganz neue Erfahrung, nicht wahr? Zumindest aus deiner Warte.« »Die physikalischen Gesetze scheinen an diesem Ort wirkungslos zu sein«, suchte Richard eine Erklärung des Phänomens. Seine Knie schlotterten immer noch und ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, über einer bodenlosen Tiefe zu schweben, ohne zu wissen, warum das so war. »Was weißt du von physikalischen Gesetzen?«, ermahnte der Unsichtbare. »Erkenne zuerst dein eigenes Wesen, dann wirst du auch deine Umwelt verstehen.« 46
Jordan stieß hörbar die Luft aus. »Wird das wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen?« »Aber nicht doch, nicht doch, mein wissbegieriger Freund«, kehrte der Schrein den nachsichtigen Großvater ans Tageslicht, der ausdauernd den Enkel auf dem Schoß wiegte und geduldig jede noch so einfältige Frage beantwortete. »Es war nur ein Hinweis, der dich daran erinnern sollte, deine Wahrnehmung zu hinterfragen. Deine Augen sind trainiert auf irdische Verhältnisse. Du berührst den Grund und er ist fest und unnachgiebig. Du siehst den Grund, weil er opak ist. Du hörst den Grund, wenn du dagegen klopfst. Die Summe dieser Wahrnehmungen verleitet dich zu dem Glauben, dass der Grund dich auch trägt. Könntest du seine Struktur erkennen, die gewaltigen Löcher im Atomgitter, du würdest nicht eine Sekunde lang denken, darauf gehen zu können.« Das Gesagte zog heilend durch die Poren von Richards Verstand. »Ist denn alles, was ich erkenne, nur Illusion?« »Das fragst du vielleicht besser die Damen und Herren dort hinten.« Richard sah voraus. Diese Menschen - er hatte sie fast vergessen. Eben noch hatte er sich gefragt, wer sie wohl waren und woher sie kamen - hierher, nach Col'Shan-duur, das für Sterbliche der Erde unter normalen Umständen unzugänglich war. »Doch ich muss dich warnen«, raunte der Schrein ungewohnt leutselig. »Lass dich von deinen Augen nicht täuschen. Deine Wahrheit ist nicht die ihre.« Damit konnte Richard nun wirklich nichts anfangen, auch wenn er sich größte Mühe gab zu verstehen, was sich hinter dieser Äußerung verbarg. Anfangs zögerlich, dann stetig forscher werdend - konsequent die Tatsache verdrängend, über nichts zu gehen - näherte sich der 27jährige der Gruppe von Leuten, die ungezwungen beieinander saßen oder standen und ins Gespräch vertieft waren. Erst als Richard auf Rufweite heran war, wurden sie auf ihn aufmerksam und wandten sich dem Neuankömmling zu. 47
Schlagartig wurde Jordan bewusst, worauf der Schrein angespielt hatte. Und ihn beschlich leises Grauen... *
Echnaton! Nofretete! Bedrohlich wirkte der Hall dieser Namen in Richards Kopf. Seine Gesichtszüge spiegelten unmissverständliches Entsetzen wider. Nicht die Art von Angst, wie sie einer lebensbedrohlichen Situation zu eigen ist, sondern jene unergründliche Furcht, die von einem Besitz ergreift, wenn die Erkenntnis die meterdicken Mauern des vernunftmäßig Erfassbaren sprengt. Richard schluckte etwas herunter, was scheinbar seinen Hals verengt hatte. »Echnaton... Nofretete...«, wiederholte er flüsternd die Namen. Er hatte die Ägypter nicht direkt an ihren Gesichtern erkannt; diese waren ihm eh nur von Reliefzeichnungen und Büsten aus den Geschichtsbüchern seines Vaters geläufig. Es waren ihre Körperformen, die weit ausladenden, ungewöhnlich hoch sitzenden Hüften und die eigentümlichen, länglichen Köpfe, die nach hinten herausgewölbt waren. Diese Auffälligkeiten hatte Richard wahrhaftig auf mangelndes Talent der zeitgenössischen Bildhauer zurückgeführt. Sollte er sich geirrt haben...? »Ihr... ihr seid nicht echt!«, konstatierte der junge Mann und kam zum wiederholten Male über ein beklommenes Flüstern nicht hinaus. Gleichzeitig rief er sich die Warnung des Schreins in Erinnerung und schalt sich einen Narren, so offensichtlich und mit Ansagen einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein. Die Zurechtweisung seines geistigen Führers konnte eigentlich nicht lange auf sich warten lassen. »Sie sind echt!«, beließ es der Schrein bei einer Korrektur. »Was auch immer deine Definition dieses Begriffes sein mag.« »Bitte, komm doch zu uns herüber«, lud Nofretete den verblüfften Richard mit einer Geste ihrer Hand und freundlichem Lächeln ein. Auch Echnaton nickte auffordernd und bekräftigte die Einladung seiner Gat48
tin mit gleicher Geste. Erst jetzt schenkte der Höllenjäger der Tatsache Beachtung, dass beide nackt waren. Verwirrt blickte Richard die weiteren umstehenden oder sitzenden Personen an, konnte jedoch auf Anhieb niemand sonst sehen, der ihm bekannt war. Er schien auch ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr wert, denn die Grüppchen setzten ungerührt ihre Gespräche fort, nachdem sie ihn beiläufig gemustert hatten. Nofretete setzte sich auf einen Quader und schlug die Beine übereinander. Echnaton nahm auf einem schmucklosen Würfel halbschräg gegenüber Platz. Für Richard blieb ebenfalls ein Würfel als Sitzgelegenheit, so dass sie in der Konstellation als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks zueinander saßen. Jordan überwand seine Scheu und das anfängliche Unverständnis gemessen an einer Absurdität wie der Anwesenheit einer ägyptischen Königsfamilie relativ schnell. Er sah die unwiederbringliche Gelegenheit, die Erdhistorie hautnah zu erleben, Dinge in Erfahrung zu bringen, über die in Wissenschaftlerkreisen lediglich spekuliert wurde. Seine Hoffnung fußte auf der Befähigung, in dieser Hinsicht auch die richtigen Fragen zu stellen. Allerdings kam Echnaton ihm zuvor. »Wir haben lange keinen wie dich gesehen«, sagte er anerkennend. »Es gab noch nie einen wie ihn«, berichtigte die Königin. »Er ist in der Tat einzigartig. Auch wenn ihn auf den ersten Blick nichts von einem Menschen unterscheidet.« Er wandte sein Gesicht Nofretete zu, dann sah er Richard wieder an. »Du bist der Anfang oder das Ende all dessen, was auf dieser Ebene der Existenz ist. Bist du dir dessen bewusst?« Darauf hatte der Sohn des Archäologen gewartet. Genau auf eine solche Frage! »Wie kann ich das?«, blaffte er und breitete die Arme aus. »Mir sagt ja keiner etwas! Jeder Eingeweihte scheint alles über mich zu wissen, redet von meinen Aufgaben, der großen Verantwortung der Menschheit und wer weiß wem noch gegenüber! Ich bin doch vollkommenhilflos! Und ich bin kein Höllenjäger! Aber das scheint außer 49
mir noch niemand mitbekommen zu haben!« Richard hatte sich in Rage geredet. Die Aufregung ließ sein Herz in einer hohlen Brust schlagen. Weitaus ruhiger fuhr er fort, während seine beiden Zuhörer gespannt dasaßen. »Auch ich habe Fragen, doch keiner beantwortet sie mir...« Echnaton wechselte einen kurzen Blick mit seiner Gattin. Es hatte den Anschein, als würden sie sich telepathisch verständigen. Nofretete verschränkte die Arme vor dem Brustkorb. Die Beine mit den überaus kräftigen Oberschenkeln, die sich zu den Fesseln hin extrem verjüngten, hatte sie nun nebeneinander geschlagen. »Wenn du Fragen hast, kannst du sie uns stellen.« »Wer seid ihr?«, reagierte Richard spontan. »Und wie könnt ihr hier sein?« Es war Echnaton, der die Frage aufgriff. »Ich bin Echnaton, direkter Nachfolger von Amenophis. Ich entstamme nicht der Blutlinie der Herrscherfamilie, sondern wurde als neuer Pharao eingesetzt. Diejenigen, die Amenophis überzeugten, nicht dem eigenen Sohn die Königswürde zu verleihen, hatten großes Interesse daran, den Monotheismus einzuführen. Einzig und allein das war meine Aufgabe.« Beinahe schulbuchmäßig, hakte Richard die Erzählung erst einmal wertungslos ab. »Dass wir beide« - Echnaton deutete mit der Fläche der rechten Hand auf sich selbst und schloss mit der ausholenden Linken seine Gattin ein - »heute gemeinsam mit dir auf Col'Shan-duur sind, wird für dich schwer zu begreifen sein. Gleichzeitig sind wir beide auch im Ägypten der 18. Dynastie um das Jahr 1500 deiner vorchristlichen Zeitrechnung. Diesen Zustand kannst du beschreiben mit dem Erwachen aus einem Traum und der damit einhergehenden Erinnerung an abstrakte Erlebnisse, die der gegenwärtigen Realität nicht oder nur unzureichend zuzuordnen sind.« »Ich stimme dir zu: Es ist schwer zu begreifen.« Beschäftige dich mit der Quantenphysik, machte sich der Schrein in Richards Kopf bemerkbar. Sie ist gleichsam eine Schwingungslehre
und beschreibt die Frequenzen aller Objekte und Lebewesen. Du exis50
tierst an unendlich vielen Orten gleichzeitig. Durch die extrem hohe Wiederholrate deines Schwingungsmusters dringt dieser Umstand nicht an dein Bewusstsein. »Danke. Vielen, vielen Dank. Du hast mir sehr geholfen.«
Der ägyptische Pharao legte die Hände in den Schoß. »Er ist eine durchaus nützliche Komponente«, kommentierte Echnaton die Aufklärung des Schreins, die ihm durchaus nicht entgangen war. Anders verhielt es sich mit dem Sarkasmus in Richards Worten. »Möchtest du mehr wissen?«, erkundigte sich Nofretete sanft. In ihren Zügen lag das Antlitz einer gütigen Mutter. »Ja«, erwiderte Richard. »Ja, das will ich.« Die Nacktheit der Königin irritierte ihn, auch wenn sie aufgrund ihrer ungewohnten Proportionen kaum einen sexuellen Reiz ausübte. »Wir tragen keine Kleidung«, erkannte Nofretete Richards Unsicherheit, »da wir an unseren Körpern nichts zu verbergen haben. Diese Philosophie stößt allerdings bei den Priestern unserer Zeit auf Unbehagen und sogar Ablehnung.« Mit einem Seitenblick auf ihren Gemahl fügte sie süffisant hinzu: »Tutenchamun wird die alten Zustände wieder herstellen.« Unmittelbar griff sie das ursprüngliche Thema wieder auf. »Bitte, Richard. Nutze die Gelegenheit und stelle deine Fragen. Wir werden dir keine Antwort verwehren.« Und endlich kam der zukünftige Höllenjäger auf das zu sprechen, was ihm wirklich am Herzen lag... *
Ich habe Angst!, wisperte die Stimme in Jokk-Ar Le-Ing-Sha'ams Geist. Eine tiefgehende, unergründliche Angst! Sorgsam achtete er darauf,
seine Empfindungen nach außen abzuschirmen. Was für eine Vorstellung! Ein Lebewesen auf so hohem ethischem und intellektuellem Niveau konnte für gewöhnlich dieses an sich primitive Gefühl namens Furcht gar nicht registrieren. Genau das war der Umstand, der den Wissenschaftler schockierte und der seine Gedanken in ungewohnte Bahnen lenkte. 51
Hat das Studium der Menschen - Wesen der zweiten Bewusstseinsstufe - meinen Mentalkörper vergiftet? Ist sein Schutz nicht mehr wirksam? Unruhig bewegte sich der Priester auf der Stelle. Über ihm fluktuierte der Kuppelschirm der Wohnwabe wie im Einklang mit seinen dunkelsten Empfindungen. Sekundenlang blieb der Blick Sha'ams auf seinem Sohn hängen, der eifrig und hochkonzentriert eine geometrische Aufgabe an seinem Tachyonenmonitor löste. Jokk-Ar hätte Freude - zumindest Achtung - empfinden müssen für die Lernbereitschaft seines Sohnes und dessen Willen, folgsam zu sein. Doch nichts davon fand Zugang in den lichtlosen Tempel seiner Seele. Du stellst dich unbeholfen und linkisch an!, störte der Vater die Lektion des Kindes. Seine Worte waren glühende Nadelstiche. Sha'amO verlor die Kontrolle über den Sichtschirm. Er erlosch noch im selben Moment. Ich habe mir allergrößte Mühe gegeben. Kein Vorwurf, kein Affront. Mehr die Befangenheit, das eigene Versagen nicht selbst aufgedeckt zu haben. Ausreden hast du mir bereits genug präsentiert!, erfolgte der schnelle, unbarmherzige Konter. Wäre dein Einsatz beim Studium pro-
portional zu deinem angeborenen Talent der Selbsttäuschung und überschätzung, ich wäre ein unbedeutendes Licht neben der Fackel deiner Weisheit. Der Priester spürte den sengenden Zorn - nicht über
den Sohn, sondern über sich selbst! Warum quälte er das Kind? Weshalb malträtierte er es mit seinen gnadenlosen Attacken und demontierte dessen Stolz und Ego? Die Gegensätzlichkeiten und Widersprüche im Innern des Wissenschaftlers erhoben sich zu stählernen Titanen, die mit bloßen Faustschlägen Gebirge zerschmettert hätten und sich in diesen angstbebenden Augenblicken im Zentrum des regungsunfähigen Gemüts lustvoll zerfleischten. Verschwinde!, herrschte Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am seinen Sohn und Schüler an. Ich will dich nicht mehr sehen! Der Schmerz über das Unrecht stach in seinen Eingeweiden. Er wollte das alles nicht sagen, 52
doch den eigenen Spross zu verletzen und leiden zu sehen entwickelte sich zum lockenden Zwang. »Papa, bitte... nein...«, weinte das Kind.
Du sprichst schon wieder? Du verhöhnst meine Lehren und benutzt deine Membranen? »Warum sagst du das alles?« Unter dem Schluchzen war Sha'amO nur undeutlich zu verstehen. »Ich weiß doch, dass du das gar nicht möchtest...« Ich habe meine Abschirmung vernachlässigt!, durchzuckte es Jokk-Ar. Wenn das Kollektiv etwas mitbekommen hat, dann... Sein Zorn schwoll erneut an. Und da er ihn nicht gegen sich selbst richten konnte - und wollte! -, schleuderte er den telekinetischen Schlag seinem Sohn entgegen. Einen scheußlichen Trieb befriedigend, sah der Priester den Jungen stürzen. Was habe ich getan?! Die Ernüchterung hielt jedoch nicht lange vor. Der Drang, den Schwachen weiter zu verletzen wurde zunehmend mächtiger. Als der kleine Sha'am-O aus Hilflosigkeit eine Notteleportation durchführte, da verspürte der Vater weder Reue noch Scham - sondern Enttäuschung! Ja, geh nur hin!, zischte es höhnisch in seinem Gehirn. Flieh nur
zu deinem Freund - und meinem Feind! Du bist mir nur im Weg! Ich will dich nicht mehr se... Etwas zerbrach in ihm. Etwas sehr Wertvolles!
Oh nein! Nein! Nein!!! Das bin doch nicht ich! Ich hasse mich! Ich hasse mich! Sha'am-O, mein geliebter Sohn, bitte lass mich jetzt nicht alleine! War es Zufall oder Fügung, dass im Sturm höchster Verzweiflung das Signal erging? Gon'O'locc-uur ruft!, fand Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am seine Beherrschung wieder. Der T'ott'amh-anuq ist eingetroffen! Sofort säte die finstere Seite seiner Überlegungen Zwietracht. 53
Das Kollektiv mit dem Ältesten hat es ebenfalls gehört. Doch ich
muss ihnen zuvorkommen. Der Auserwählte darf nicht initiiert werden. Wenn ich mich beeile, kann ich das Schlimmste verhindern. Die dunklen Flecken in der Aura des Priesters zeugten von der Verwandlung, die schon vor langer Zeit eingesetzt haben musste und derzeit in voller Blüte stand. Der Wissenschaftler in ihm geriet zum kümmerlichen Ableger neben der sprießenden Pflanze rohen Instinkts. Dieser Instinkt hatte nur Platz für einen Gedanken. Der Gedanke hieß Mord! * »Ist euch der Name Philip Ravenmoor ein Begriff?« Richard Jordan sah seine beiden ungewöhnlichen Gesprächspartner erwartungsvoll an. »Er ist ein Layshi-Pan«, bestätigte Echnaton. »Warum wollte er gemeinsam mit meinem Vater die Siegelkammer unter unserem Haus öffnen? Was hat es damit auf sich?« »Es geschah auf Initiative von Lord Denningham-Cartlewood«, setzte der Pharao an, wurde jedoch augenblicklich von Jordan unterbrochen. »Philip hat von ihm erzählt! Ich sollte ihn kennen lernen und im Anschluss zum Höllenjäger geweiht werden. Oder so ähnlich.« »Diese Zwischenstufe wurde gemäß den Umständen übersprungen. Das gegenseitige Bekanntmachen hat mit dem eigentlichen Ritual nichts zu tun. Es wäre ein einfacher Akt der Begegnung gewesen, um dem Namen ein Gesicht zuzuordnen.« Nofretete hob die Augenbrauen und nickte Richard zu, als sollte er ihr sein Verstehen signalisieren. »Denningham-Cartlewood ist ungeduldig geworden«, fuhr Echnaton fort. »Sein Leben hat er der Suche nach den Gängern des dreizehnten Weges verschrieben, Wesenheiten, die lange vor den Konstrukteuren Col'Shan-duurs existierten. Er wollte über Ravenmoor eine Verschmelzung mit dem Siegelbewusstsein erreichen, um damit seine Forschungen voranzutreiben. Ein äußerst gefährlicher Vorgang. Die Verschmelzung birgt uneinschätzbare Risiken für einen Menschen. Cartlewood hat am eigenen Leib Schreckliches erfahren. Er selbst war 54
nicht mehr in der Lage, eine Verschmelzung herbeizuführen und hat seinen Gesandten in dein Heim geschickt.« »Warum habt ihr ihm nicht geholfen?« Für Richard waren die Erklärungen unverständlich; für ihn war klar, dass die Höllenjäger einander unterstützten. »Wir haben kaum etwas gemein mit den Layshi-Pan«, stellte Nofretete unmissverständlich fest. »Wir dienen allein dem Einzigen, das ist. Uns liegt die Rückbesinnung der Menschen und aller Lebewesen der materiellen Daseinsstufen auf ihren spirituellen Ursprung am Herzen. Wir beobachten und reden den Lebewesen zu. Kampf und Konfrontation entsprechen in keinster Weise unserem Naturell. Daher können wir die Bestrebungen der Höllenjäger lediglich akzeptieren, nicht gutheißen und noch weniger unterstützen.« Die Königin studierte Richards Miene. Sie schloss ab: »Lord Cyprus Denningham-Cartlewood hat sein Talent und seine Möglichkeiten vergeudet. Seine jahrzehntelangen Bestrebungen, die er mit maximalem körperlichen und finanziellen Aufwand durchführte, hatten weder einen Nutzen für die Layshi-Pan noch für die spirituelle Bewusstwerdung der Menschheit. Im Glauben an die Gemeinnützigkeit seines Tuns hat er einzig seine Selbstsucht genährt.« So gut er konnte verarbeitete Richard die Informationen. Er wollte schnellstmöglich zu der nächsten Frage kommen, die förmlich an ihm nagte und die er andererseits vor sich her schob, weil er sich insgeheim vor der Antwort fürchtete. Ein beklommenes Gefühl machte sich in ihm breit. Seine Mundhöhle war seltsam trocken. »Was ist meinem Vater zugestoßen?« Richard Jordans Puls stieg unaufhörlich. Der Gedanke an den Archäologen, der ihm in den letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr zum Fremden geworden war, schürte sein Unbehagen. Amalnacron hatte Edward Jordan in einer Blitzentladung zu Asche verbrannt. Doch das hatte nicht das Ende seiner Existenz bedeutet. Mehrmals war er danach noch erschienen. Auf der Galerie in der Villa in Kensington. In einem Traum des jungen Richard. Sogar zu Philip Ravenmoor hatte er nach seinem physischen Tod Kontakt aufgenommen. Die intensivste 55
Erinnerung aber verband Richard immer noch damit, dass das Wesen, das einst sein Vater gewesen war, ihn hatte töten wollen. »Es tut mir leid, Richard«, sagte die ägyptische Königin behutsam. Sie fühlte, dass jedes unpassende Wort das emotionale Gleichgewicht ihres Gegenübers stören würde und die Waagschale zu Ungunsten des rationalen Denkens verschob. »Die Seele deines Vaters ist verloren. Amalnacron hat sich ihrer bemächtigt und sie zu seinen Zwecken manipuliert, um dich und die Menschen um dich herum in die Irre zu führen. Der Anschlag auf dein Leben konnte von dem - Dämon - nur indirekt ausgeführt werden.« War es ein Seufzer, den Nofretete von sich gab? »Die Spur von Edward Jordans Seele verliert sich im Gewirr der Astralebenen. Sie wird an anderer Stelle und anderer Zeit inkarnieren und - ohne es auch nur zu ahnen - darauf warten, von Amalnacron heimgesucht und erneut missbraucht zu werden.« Das war heftig. Lange Minuten war Richard nicht fähig, irgendetwas zu sagen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Innerstes war erfüllt von diffusem Nichts. Plötzlich erhob sich Echnaton, wies voraus und auch Nofretete stand auf. »Sieh nur Richard. Man kommt dich holen, um das Einweihungsritual zu vollziehen.« Die Königin lächelte aufmunternd. Auch Echnatons freundliches Gesicht wirkte noch eine Spur heller. Neugierig drehte sich Richard um - und blieb wie vom Donner gerührt festgewurzelt stehen! »Allmächtiger...!«
5.
Über den Himmeln... UNSERE ZUGRIFFSMÖGLICHKEITEN WERDEN RASCH GERINGER. Es erschien nicht, als ob die Stimme eine Reaktion erwartete. Doch sie erfolgte. 56
DAS PROJEKT HAT JENEN STATUS DER EIGENDYNAMIK ERREICHT, DESSEN KONTROLLE UNS NICHT MEHR OBLIEGT. ES IST SICH SELBST ÜBERLASSEN. NUN ENDLICH WIRD SICH ZEIGEN, WIE PRÄZISE UNSERE PLANUNGEN WAREN. Mehrstimmiges Wispern, aus dem sich ein weiterer Sprecher löste. ES WIRD UNVERMEIDLICH SEIN, AUF FEINSTOFFLICHER EBENE EINZUGREIFEN. Die Antwort kam prompt: DAS WAR TEIL DES KONZEPTS VON BEGINN AN. Der Hauch von Ungewissheit schwang in dem Gedanken mit. Die nachfolgende Stimme verlieh diesen Bedenken Gestalt. IHR STRAFGERICHT WIRD DIESMAL KEINE MILDE WALTEN LASSEN. Eine nüchterne Peststellung, der ehrfurchtsvoll ein Name folgte. DIE GÄNGER DES DREIZEHNTEN WEGES... Das vielstimmige Wispern vertausendfachte sich. Ein Orkan, der unhörbar das filigrane Geflecht astraler und kausaler Wirklichkeiten erschütterte. WIR VERSPÜREN... UNBEHAGEN, meldete sich ein Teil des Kollektivs und wurde umgehend belehrt und reintegriert: DIE KONSEQUENZEN UNSERES EIGENVERANTWORTLICHEN HANDELNS WAREN NIE BESTANDTEIL VON ZWEIFELN. MASSREGELUNGEN WAREN UNVERMEIDLICH. WIR WERDEN UNS IHNEN STELLEN. DIE GESETZE MÜSSEN EINGEHALTEN WERDEN. Ein neuer Gedanke brachte die Erörterung zurück an den Ursprung. DIE ENTSCHEIDUNG FINDET STATT AUF COL'SHAN-DUUR. JETZT. ALLES NÄHERT SICH DEM ENDE UND EINEM NEUEN ANFANG. SO ODER SO. RETTEN WIR DIE ERDE, GEBEN WIR DEM UNIVERSUM EINE LETZTE CHANCE. WIR NUTZEN DIE VERBLIEBENE FRIST ZUR BEOBACHTUNG UND LEGEN DEN EXAKTEN ZEITPUNKT DES EINGRIFFS FEST. Das Kollektiv war eins und doch unzählbar viele. Sie alle stimmten zu. ES WIRD BEACHTLICHE KOMPLIKATIONEN GEBEN. 57
Mahnend schwangen die Worte durch das Nichts. DER FLUSS DER DINGE IST NICHT MEHR AUFZUHALTEN. Sekunden...? Jahre...? Äonen...?, angespannten Schweigens. DIE REALITÄTEN BRECHEN AUF. ES WIRD UNMÖGLICH SEIN, JEDEM FRAGMENT DIESER ERUPTION AUFMERKSAMKEIT ZU SCHENKEN. Damit war alles gesagt. Jeder weitere Kommentar erübrigte sich. Vorerst.
6. Ziellos streifte Jokk-Ar Le-Ong-Sha'am-O umher. Sein Weg führte ihn in weitem Bogen um die Siedlung und schließlich wieder zurück. Die innere Orientierungslosigkeit hatte er nicht abstreifen können. Zu tief hatten sich ihre Wurzeln in ihm festgekrallt, zu groß war das Unverständnis gegenüber dem unerklärlich aggressiven Verhalten seines Vaters. Ähnliches war ihm nie zu Gehör gekommen, geschweige denn selbst passiert. Er sah seine Schulung und seinen Erzeuger in einem anderen, einem ungewohnten Licht, das seine Sinnesorgane blendete und einen dumpfen Druck hinterließ. Doch empfand er keine Abscheu, keinen Hass und auch keinen Zorn; der junge Priesteranwärter betrachtete diese Erfahrung als unverzichtbaren Teil seiner Ausbildung. Emotion und Logik sollten gleichberechtigt miteinander existieren als lebendige Symbiose und Sinnbild einer aus der Polarität erwachsenen Einheit: das war der Schlüssel zur Vollkommenheit. Sha'am-O wusste all dies - doch mit seinen wenigen Lebensjahren tat er sich schwer, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Seine Seele war verletzt. Es würde geraume Zeit dauern, bis die Schrammen verheilt waren. Plötzlich umfing ihn eine unerklärliche Leichtigkeit. Beschwingt war sein Schritt und die trüben Gedanken erhellten sich im Licht des ewigen Tages auf Col'Shan-duur. Ohne es zu merken war er auf die Höhlung des Ajars zugewandert. 58
Vater hat es nicht ausdrücklich verboten, ihn aufzusuchen, resümierte der Kleine in Gedanken. Aber er würde es keinesfalls gutheißen. Der Ajar, der Unfruchtbare, war Teil des Priestervolks und gehörte trotzdem nicht richtig dazu. Seine Zeugungsunfähigkeit wurde als Makel auf dem Weg zur spirituellen Vollkommenheit gewertet. Es war ein Hemmnis, das die mentale Entwicklung zum Erliegen brachte. Gleichzeitig gaukelte der Geist dem Individuum absolute Erleuchtung vor. Dieser Widerspruch war von dem Betroffenen nicht auszumachen; er war nicht in der Lage, seinen Irrtum zu erkennen. Daher hatte das Priestervolk von jeher die Ajars von allen wichtigen Beratungen und Entscheidungen ausgeschlossen. Deren Kompetenz und Erfahrung wurden zwar anerkannt, doch war es aus Sicht der Priester zu unsicher, ob Verwirrtheit oder Besonnenheit aus ihren Ratschlägen sprach. Wenn Djuq-O doch nur bei mir wäre, gab Sha'am-O seiner Neugier weiteren Auslauf. Er wüsste genau, was ich zu tun hätte. Er hat
die Freiheit der eigenen Entscheidung...
Ein Anflug von Bitterkeit wehte durch sein Gemüt. Unschlüssig wankte er um die Wabe herum. Vielleicht störe ich den alten F'att-Enoq. Er drehte eine weitere halbe Runde um die Höhlung. Der Energieschirm schimmerte matt.
Möglicherweise wartet er aber auch auf Besuch. Sicher ist er sehr einsam... Jetzt mach's nicht so spannend und komm runter zu mir!
Die scharfe Stimme schnitt durch seine Gedanken und der kleine Sha'am-O torkelte vor Schreck zwei Schritte zurück.
Worauf wartest du noch?! Nicht einmal eine Sekunde benötigte der Priesterschüler, um seine Scheu zu überwinden und den bevorstehenden Zorn seines Vaters einfach in den Wind zu schlagen. Die Luft flimmerte. Ein knappes, dumpfes Zischen und die Stelle, an der Sha'am-O gerade noch gestanden hatte, war leer. Im Rücken Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoqs materialisierte der Junge einen Lidschlag später wieder. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier sein darf...«, murmelte er. 59
»Aber ganz sicher darfst du das«, erwiderte der Alte freundlich. »Dein Freund Djuq-O besucht mich ebenfalls. Und das sehr häufig.« »Das weiß ich, ja...« Es klang traurig. »Mach dir keine unnötigen Sorgen, mein Junge. Und komme auf gar keinen Fall auf die unendlich dumme Idee, dir einreden zu wollen, du hättest keinen freien Willen und könntest nicht selbst entscheiden.« Er hat in meinen Gedanken gelesen!, durchfuhr es Jokk-Ar LeOng-Sha'am-O siedendheiß. Das Schamgefühl brachte seinen Kreislauf auf Touren. Natürlich habe ich das, konterte F'att-Enoq mental. Sie waren ja
nicht zu überhören! Und es gibt nichts, wessen du dich schämen müsstest. Du bist immer bei mir willkommen. Ganz genau wie dein großer Freund.
»Es geht um meinen Vater. Es wird ihm nicht gefallen, dass ich hier bin. Wenn er es erfährt, wird er mich sicher bestrafen...« »Ich werde ihm nichts sagen«, schwangen beruhigend die Worte durch die Wohnwabe. »Er soll dich nicht noch einmal schlagen.« Bevor der Junge antworten konnte, sprach F'att-Enoq weiter: »Du brauchst dazu nichts zu sagen, denn auch das habe ich in dir gelesen. Ganz außergewöhnlich, diese Anwendung physischer Gewalt. Und doch bezeichnend für die Tage, in denen wir leben.« »Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?« Die Entgegnung folgte wie aus der Pistole geschossen, so rasch, dass auch dem jungen Sha'am-O unweigerlich und in drastischer Deutlichkeit gewahr wurde, dass man den Ajar nicht unterschätzen durfte und er seinen Verstand gleich einer präzisen Waffe einzusetzen wusste. Was er sagte war bar jeglicher Floskeln und durchtränkt vom abstoßenden Sud gallebitterer Wahrheit. »Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am ist ein kluger Mann. Doch er ist ebenso ein verblendeter Mann. Niemand will solche Reden von mir hören, darum erzähle ich sie auch niemandem. Und doch will dein Vater seine Wirklichkeit zu unser aller Wirklichkeit machen. Er will aus Klarsichtigen Kurzsichtige machen! Nur weil die Logik seine Intuition tot redet!« Der Ajar war sehr laut geworden. Sha'am-O stand unbeweglich und sprachlos da. Doch der Alte war noch nicht fertig. 60
»Ich bin deinem Erzeuger nach der Ratsbesprechung begegnet. Nur ganz kurz haben wir gesprochen. Aber ich habe intensiv gespürt, was in ihm vorgeht. Er ist ein Besessener, mein Junge! Ein zu allem entschlossener Mann! Und er wird etwas sehr, sehr Schlimmes tun!« Umständlich löste F'att-Enoq sich aus der Wand schräg über dem Jungen und glitt zu ihm hinunter. Ganz nah kam er an ihn heran und beugte sich weit zu ihm herab. Was er sagte, war äußerlich nicht zu hören und doch war es immens viel lauter und einprägsamer als das gesprochene Wort.
Etwas unbegreiflich Schreckliches wird in Gang gesetzt! Es ist dein Vater, der den Weg dafür ebnet! *
Ich werde den Kleinen übernehmen. Der ist sicher jünger und agiler. Glaube ich wenigstens. Ich komme mir schon komisch vor; lauere hier auf Beute wie eine Raubkatze. Oder ein Vampir. Nein, eher wie ein Dieb. Ich will etwas stehlen. Ich will mir etwas aneignen, was nicht mir gehört, was auch nicht für mich geschaffen wurde. Wenn ich mir die beiden so betrachte, kann ich gar keine Augen und Ohren erkennen. Da ist nur eine Öffnung, aus der ab und an komische Lautfolgen kommen. Und dann ist da noch ein sehr feines Geflecht langer Härchen. Es bildet einen Kranz im oberen Bereich des Körpers, so etwa zwanzig Zentimeter über diesem... diesem Mund. Möglich, dass sie ihre Umwelt nur tastend erfahren. Nicht unbedingt erstrebenswert, wenn man audiovisuell orientiert ist wie ich. Merkwürdig. Da ist doch... - Nein! Verdammt noch mal! Nein!! Das sind keine Tiere! Ich... ich spüre deutlich ein hoch entwickeltes Bewusstsein. Es ist sehr stark verankert. Selbst wenn ich wollte, würde ich es nicht problemlos ausschalten können. Aber mir läuft die Zeit davon! Dieser gottverfluchte Sog! Bald schon werde ich ihm nachgeben müssen. Dann hat mich die negative Kraft wieder voll und ganz in ihren Fängen. Dann wird es niemals wieder einen Philip Ravenmoor geben! Niemals! Dann war alles umsonst! 61
Warte! Moment! Ich kann versuchen, dieses Wesen zu übernehmen! Was habe ich zu verlieren? Ich werde mich auf einen Kampf mit dem Bewusstsein einlassen, es gewaltsam vertreiben und seinen Platz einnehmen. Damit hätte ich mich gerettet. Ja, Philip. DU hättest dich gerettet und dabei jedoch ein Lebewesen ausgelöscht. Ist dein Leben so viel besser, dass du entscheiden kannst, wer überlebt und wer stirbt? Hast du denn gar nichts gelernt während dieser ewig langen Zeit auf Erden? Scheiße! Die Selbstvorwürfe bringen mich echt nicht weiter. Alle Theorie kapituliert kläglich vor der Wirklichkeit! Man kann viel über den Wert des Lebens diskutieren, solange das eigene nicht in Gefahr ist. Sobald man aber selbst in Bedrängnis gerät, ist alles tugendhafte Reden nur leeres Geschwätz gewesen. Der Trieb siegt wieder einmal über den Geist. Haben diese eigenartigen Wesen mich bemerkt? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ihr Haargespinst zittert. Nein, nur das von dem Großen. Vielleicht das Anzeichen einer Wahrnehmung. Ich werde mal etwas Abstand halten. Ich habe mich nicht getäuscht! Er hat mich gespürt! Sein Körper macht eine kaum merkliche Drehung in meine Richtung und der Haarkranz scheint sich nach mir zu strecken. Soll ich auf mich aufmerksam machen? Es scheinen friedfertige Naturen zu sein. Doch irgendwie habe ich keinen Zugriff auf den Großen. Er lässt sich nicht sondieren, blockt mich ab. Der andere scheint diese Fähigkeit nicht zu haben. Jetzt stupst ihn der Kleine an. Sie wenden sich ab und marschieren zurück, woher sie kamen. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss ihnen folgen. Außer den beiden sehe ich weit und breit keine Lebensformen, die mein Bewusstsein aufnehmen könnten. Vielleicht führen sie mich zu anderen ihres Volkes. Wenn alles gut läuft, ergeben sich dort neue Möglichkeiten für mich. Ich muss mich zur Ruhe zwingen! Ich darf jetzt nicht die Kontrolle über mich verlieren! 62
Der Sog! Dieser entsetzliche Sog, der an jedem einzelnen Bestandteil meiner selbst zerrt! Gebe ich ihm nach, ist alles aus! Durchhalten! Nur das zählt! Schon lässt die negative Kraft wieder ab von mir! Sie ist wie ein hämmernder Kopfschmerz, der überraschend kommt und von Zeit zu Zeit abebbt, um fast unmerklich im Untergrund zu schlummern. Diese Momente muss ich nutzen. Ich rede viel mit mir selbst. Das lenkt mich ab. Es geht weiter. Erst mal. * Dem erstickten Keuchen beim Anblick der Kreatur folgte ohne Übergang die Kraftlosigkeit in den Beinen, die den Mann beinahe in die Knie und damit zu Boden zwang. Er musste einige Schritte zurückweichen, um den Fleischberg, der sich vor ihm aufgebaut hatte, vollständig im Blickfeld zu haben. Das Geschöpf - eine andere, eine treffendere Bezeichnung wollte Richard auf die Schnelle nicht in den Sinn kommen - mochte zweieinhalb Meter in der Höhe und zwei Drittel davon in der Breite messen. Es besaß keinen Körper in der eigentlichen Bedeutung. Es bestand aus drei kräftigen Säulen, die dort zusammenliefen, wo ein Mensch einen Kopf vermutet hätte. Doch auch dort war nicht alles so wie erwartet. Es gab keinerlei Sinnesorgane, die mit denen eines Menschen der Erde vergleichbar gewesen wären; da war lediglich ein Kranz hauchfeiner, vibrierender Härchen. Viel weiter darunter gab es eine Art Schlitz, der sich ab und an öffnete und zu einem dunklen Oval wurde, aus dem eigenwillige, dröhnende Töne drangen. »Teufel auch«, wandte sich Jordan heiser an die beiden Ägypter und hatte dabei den größten Schock bereits überwunden. »Das da... er - also, wer oder was auch immer - will mich abholen?!« Echnaton und Nofretete waren zu dem Sohn des Archäologen getreten und entschärften damit eine Situation, die man unter anderen Vorzeichen durchaus als lebensbedrohlich hätte einstufen können. 63
»So ist es!«, bestätigte der König. »Er hat den Status eines Priesters - wie alle Vertreter seines Volkes. Sein Name ist Jokk-Ar Le-IngSha'am.« Zweifelnd versuchte Richard in der Miene Echnatons zu lesen, doch er fand nichts, was der Ehrlichkeit des Gesagten entgegenstand oder Anlass zu der Befürchtung gab, einem eigentümlichen Scherz aufgesessen zu sein. Flüchtig waren selbst die weiter im Hintergrund stehenden Frauen und Männer aufmerksam geworden; sie maßen dem Auftauchen des Priesters kaum Beachtung bei. Es stand eher Desinteresse in ihren Augen und sogleich vertieften sie sich wieder in ihre Gespräche. Wer auch immer diese Leute waren - darauf hatte der Höllenjäger bisher noch keine befriedigende Antwort erhalten -, sie schienen den Vorgang an sich als höchst gewöhnlich einzustufen. »Kann er sprechen?«, raunte Richard Echnaton zu, wobei er ihm den Kopf zuneigte, um leiser reden zu können und dabei das stämmige Ungetüm keinen Augenblick unbeobachtet lassen musste. »Er kann sprechen, Mensch!«, dröhnte ihm ein Tiefbass aus der einzigen sichtbaren Körperöffnung des Priesters entgegen. »Er würde es begrüßen, direkt angesprochen zu werden!« Jordan zeigte sich leicht beschämt, aber mehr noch in die Enge gedrängt. Es war schon reichlich schwierig, sich mit jemandem zu unterhalten, wenn man ihm nicht in die Augen sehen konnte oder wenigstens einen Anhaltspunkt hatte, wo sich dessen Wahrnehmungszentrum befand. »Du wirst jetzt mit Jokk-Ar gehen«, stellte Echnaton, der ägyptische König, der so gar nicht in die Reihenfolge der alten Regenten passen wollte, gleichmütig fest. »Wartet!«, wandte der 27jährige ein. »Ich habe noch so viele Fragen!« Nofretete glitt an ihrem Gemahl vorbei. In ihrem Gesicht lagen nur Güte und Wärme. »Jokk-Ar kann dir alle deine Fragen beantworten. Vielleicht sogar noch besser als wir beide. Für mich und meinen Gatten ist es nun an der Zeit, das Kontinuum zu wechseln und uns um die Belange Ägyptens zu kümmern.« 64
»Es gibt noch sehr viele Dinge zu richten«, führte Echnaton die Ausführungen fort. »Die spirituelle Ausrichtung in unserem Land muss dringend korrigiert werden. Nur so schaffen wir das Fundament für eine goldene Gegenwart und eine sorgenfreie Zukunft.« »Ihr sprecht von Dingen in der Gegenwartsform, die für mich lange Vergangenheit sind!« Der junge Jordan tat fast einen Hilferuf. »Die Zeit ist eine der größten Illusionen«, belehrte ihn Echnaton. »Der Mensch hat ihr Realität verliehen, um nicht an seiner eigenen Existenz zu verzweifeln«, ergänzte Nofretete sanft. Ganz leicht wiegte sich ihr nackter Körper wie unter der Brise eines Sommerwindes. »Wir müssen jetzt gehen«, verflogen die Worte als leises Flüstern und die Leiber der Ägypter taten es ihnen gleich. Lange noch sah Richard Jordan auf die Stelle, an der Echnaton und Nofretete gestanden hatten; seine Augen bekamen einen stieren, glasigen Glanz. »Sei doch nicht wehmütig, mein Junge!« Es war der Schrein, der sich nach längerem Stillschweigen meldete und Richard abrupt aus seinem Tagtraum weckte. Diesmal war ihm der väterlichfreundliche Tonfall seines unsichtbaren Mentors sogar angenehm; etwas Vertrautes in einer Welt, die ihm ständig neue Fremdartigkeiten offerierte. »Nun, mein Freund, auch ich werde dich nicht dahin begleiten können, wohin dieser Priester dich bringt. Es gibt für mich nun andere wichtige Arbeiten auszuführen. Die dunkle Zitadelle bedarf meiner Obhut. Und dich kann ich guten Gewissens dem Schutz des Priesters überlassen. Deswegen habe ich ihn gerufen.« »Du hast ihn gerufen?« Richards Verblüffung war echt. »Du hast doch vorgegeben nicht zu wissen, wie man die Priester erreicht!« »Ja, ich erinnere mich.« Es klang melancholisch. »Manchmal wundere ich mich über mich selbst, mein Junge. Einiges funktioniert nicht, wie es sollte.« Die Worte kamen gedehnt, als riefe sich der Schrein die besseren Tage einer weit zurückliegenden Vergangenheit ins Gedächtnis. »Es gibt automatisierte Subroutinen, die unbemerkt von mir agieren und das Signal deiner Ankunft ausgesandt haben. Eigentlich dürfte das nicht so sein... Vieles hat sich verändert.« 65
Dann schwieg der Schrein und er machte keine Anstalten, in nächster Zeit wieder etwas von sich hören zu lassen. Unvermittelt wurde Richard bewusst, wie wenig er über diesen Ort wusste, der doch eine Schlüsselfunktion im Bestreben der Layshi-Pan, der Höllenjäger, einnahm, das Böse in der Welt und außerhalb zu bekämpfen. Auch gesehen hatte er reichlich wenig und über die allgemeinen Zustände hatte es ebenfalls keine Seele für nötig befunden, ihn zu informieren. Er hingegen legte sein Leben in die Hände völlig fremder Wesen. Geschah es aus der Regung heraus, mutterseelenallein sowieso nichts ausrichten zu können? Fraßen die Zweifel ihn innerlich derart auf, dass es ihm mittlerweile ganz egal war, ob er ins offene Messer lief? Oder war es der Einfluss Ravenmoors, der sein Denken neu justiert hatte? Philip Ravenmoor! Was mochte aus ihm geworden sein, seit der Kontakt unverhofft und aus heiterem Himmel abgebrochen war und seitdem nicht wieder hatte hergestellt werden können? Was war weiter mit der Erde geschehen, deren letzter Eindruck in seiner Erinnerung aus einer unter einem schwarzen Seuchenmantel erstickenden Pestkugel bestand, auf der Milliarden Leben verlöschten? Die Fäuste des jungen Mannes ballten sich, bis die Knöchel weiß hervortraten. Wirbel aus verdrängten Bildern und verblassten Emotionen rissen immer wilder an seinem Verstand, füllten ihn mit klagenden Echos von Namen und den Zerrbildern vertrauter Gesichter.
Mutter! Vater! Mrs. Penworth! Ich habe ihnen nur Kummer und Tod gebracht! Ist es nicht nur gerecht, wenn ich ihnen nachfolge?! Wie kann ich meinem Leben noch einen Sinn geben mit dieser unermesslichen Schuld? Wie kann ich ein Erretter sein, wenn ich bloß zum Vollstrecker tauge?
»Du solltest mir nun folgen, Mensch!«, tönte das Sprachorgan des Priesters. »Das Initiierungsritual muss eingeleitet werden!« Benebelt schüttelte Richard den Kopf und kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um die aufgescheuchten Gefühle zu vertreiben und wieder klar zu werden. Unentschlossen wanderte sein Blick über die 66
grobschlächtige Statur seines neuen Begleiters. Nicht unerwartet stellte sich ein Druck in der Magengegend ein und schien ihm damit eine eindeutige Warnung zukommen zu lassen. Initiierungsritual!, wiederholte Jordan verächtlich. Die scheinen
hier ja keine große Auslese zu betreiben!
Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am stampfte voran, wobei er die Körperstümpfe wechselweise als Geh- und Greifwerkzeuge benutzen konnte. Sorgsam achtete er auch im Zentrumskern des Schreins, jener organischpsionischen Rechnerkomponente, die die Geschicke von Col'Shan-duur auf unvergleichliche Weise steuerte, darauf, seine Gedanken nach außen hin abzuschirmen und sein eigentliches Vorhaben zu verschleiern. Lediglich das Königspaar Nofretete und Echnaton hätte den Betrug aufdecken können, doch ein günstig gestimmtes Schicksal hatte ihnen einen anderen Wirkungsbereich bestimmt. Der abtrünnige Priester hatte gierig die Gedankeninhalte des Initianden aufgenommen, um sich mit dessen Geist und Charakter vertraut zu machen. Schließlich hatte er freiwillig darauf verzichtet. Er hatte genug erfahren. Mit diesem Menschen würde er leichtes Spiel haben. *
Intermezzo II London/Kensington, 10. Oktober 2012
»Nachdem, was hier los war, wagt man sich ja kaum noch zu den Patienten.« Dr. Vanderkoop sah den Fachkollegen aus großen Augen an. Er nestelte ohne Unterbrechung an seiner Brille, als müsste er ständig ihren Sitz korrigieren; ein markantes Zeichen von Nervosität. Dr. Stephen Cuttier bestätigte: »Ich habe auch schon überlegt, ob ich überhaupt noch zur Arbeit erscheinen soll.« Die beiden Männer saßen sich in einem abgedunkelten Raum an einem kleinen, viereckigen Tisch gegenüber, wie man ihn sonst nur in den Aufenthaltsräumen und den Raucherzimmern des St. Mary Abbott's Hospitals vorfand. »Erst bringen sie uns diesen Kriminellen in die Klinik...« 67
»Der hieß doch auch Jordan, nicht wahr?«, erkundigte sich Cuttier, doch Vanderkoop überging die Frage. »... und drei Wochen später geschehen diese mysteriösen Morde. Direkt hier bei uns!« Fassungslos schüttelte er den Kopf, um dann doch Dr. Cuttiers Einwurf zu beantworten. »Ja, der hieß ebenfalls Jordan. Er ist ihr Sohn.« Mit dem Kinn deutete er hinüber zu der Frau, die vor den heruntergelassenen Jalousien in einem Rollstuhl saß. »Seit Dr. Molesworth tot ist, darf ich mich auch noch darum kümmern.« Es war offensichtlich, dass er die Aufbürdung der zusätzlichen Arbeit mehr bedauerte, als den Tod des Kollegen. »Was hat die Patientin? Sie wirkt apathisch.« Stephen Cuttier konnte den Blick nicht mehr von ihr abwenden und fügte in gedämpftem Ton hinzu: »Kann sie uns hören?« »Höchstwahrscheinlich. Aber sie ist nicht in der Lage, auf ihre Umwelt zu reagieren. Das liegt nicht an den Frakturen, die sie davongetragen hat. In ihrem Verstand hat sich etwas ausgeklinkt. Sie soll psychotherapeutisch weiterbehandelt werden, obwohl man einhellig der Meinung ist, dass da nichts mehr zu machen sei. Diese Patientin lebt in einer anderen Welt. Sie wird den Weg in die Realität...« ... nie mehr zurückfinden. Heather Jordan nahm die Worte wie durch Watte wahr und war sich doch nicht sicher, sie tatsächlich gehört zu haben. Es kam einer transzendenten Erfahrung gleich, diese Menschen, die ab und zu in ihre Nähe gelangten, als verwaschene Schatten vorbeihuschen zu sehen und ihre Gespräche aufzuschnappen, deren Inhalte fad und belanglos waren. Die Sinne der einstmals bildschönen Frau, die durch den Trümmerbruch ihres Kiefers und die nachhaltige Deformation der linken Gesichtshälfte entstellt wirkte, schotteten sich allmählich zur Außenwelt hin ab. Ihren Körper selbst empfand sie als Ballast und so kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Es waren die strahlenden Welten in ihrem Geist, die sie anzogen. Ihre Seele stieg langsam auf und kehrte heim zum Gottvater, der sie bereits ihr ganzes Leben lang gerufen hatte. Jetzt erst war es ihr möglich, ihn zu hören - und zu verstehen! Und mit einemmal wusste sie auch, dass die Tage der Erde und der Menschen gezählt waren, dass gewaltige Veränderungen schon seit sehr, sehr langer Zeit auf sich 68
aufmerksam gemacht hatten, jedoch unter höchstem Einsatz anerkannter Wissenschaftlerriegen als lapidar abgetan, ins Lächerliche gezogen und schließlich gänzlich ignoriert worden waren. All das wusste Heather Jordan, seit sie sich in einem Zustand befand, der von den Ärzten als abnormal und krank deklariert wurde. Der Menschheit war nicht mehr zu helfen, sie hatte immer wieder die gereichte Hand weg geschlagen. Tiefes Mitleid rührte das Herz der Frau. Dann aber besann sie sich wieder auf den Ruf, der nicht nur ein Echo in ihrem Verstand war, sondern sich stetig wiederholte. Sie beschloss, darauf zu antworten.
Vater, ich bin da. Nimm mich auf in deinem Haus.
7. Der kleine Djuq-O stand noch immer im Bann der Ältestenversammlung, als er mit seinem Vater schon lange die heimische Höhlung erreicht hatte. »Da hat's der Ajar aber allen gezeigt!«, gab er sich nachhaltig beeindruckt.
Er hat überlegt gesprochen, auch wenn seine Meinung normalerweise kein Gewicht hat. Möglicherweise begünstigt die eingetretene Situation eine Ausnahmeregelung. Ich persönlich wüsste das sehr zu schätzen. Wie gewohnt konzentrierte Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq sich auf seine Berechnungen. Er stand derart in der Halbkugel der Wohnwabe, dass seine Körperachse im Winkel von fünfunddreißig Grad zur Ebene stand. Seine Sinne waren auf den Tachyonenschirm gerichtet, der weit mehr als ein simpler Monitor – auch Ereignisse übergeordneter Ebenen darstellte, die aktiv beeinflussbar waren und als Medium der projizierten Gedankenkraft ihres Benutzers dienten. »Wann wird der T'ott'amh-anuq eintreffen?«
Er ist bereits da, mein Sohn! Gon'O'locc-uur hat es signalisiert. 69
»Dann müssen wir sofort zu ihm!« Djuq-O's Aufregung bekam neue Nahrung. Er war kaum zu bändigen. »Du hast doch gesagt, wie wichtig er ist und wie knapp die Zeit!«
Einige Augenblicke der Besinnung werden uns sicher noch gestattet sein, wiegelte Schi'in-Djuq ab und versetzte die Tachyonenanzeige in Leerlauf. Bedenke, wie lange wir auf die Ankunft des Auserwählten gewartet haben. Der Priester dachte kurz nach und legte dabei beruhigend einen Körperstumpf auf Djuq-O, um dessen hektisches Stampfen auf der Stelle einzudämmen. Ich habe da eine Idee. Der sensorische Haarkranz des Vaters richtete sich auf den Sohn. Ich werde erst mal nicht die Zeit haben, mich
um den Ankömmling zu kümmern. Und sicher hat der Älteste bereits jemanden geschickt, der ihn abholt... »Ooch, schade«, murmelte Djuq-O enttäuscht.
... aber ich denke, es kann nur von Vorteil sein, wenn du dich ebenfalls auf den Weg machst, um den T'ott'amh-anuq zu begrüßen. »Wirklich?!« Der Junge konnte es nicht fassen, stellte sich auf einen Strunk, spreizte die beiden anderen ab und drehte sich einmal im Kreis. »Du meinst das im Ernst? Ich gehöre zum Empfangskomitee?« Wenn du dich wieder beruhigst, schränkte sein Vater ein und gebrauchte diesmal zwei seiner Arme, um den nur halb so großen DjuqO zum Stillstand zu bringen. Du sollst doch einen vernünftigen Ein-
druck bei unserem Gast von der Erde machen. Es ist eine große Ehre, ihm zu begegnen. Ich habe verstanden, antwortete der Junge mental und unterstrich damit seine Bereitwilligkeit, dem Vater zu gehorchen. Bevor ich es vergesse, begann Linh-Schi'in-Djuq, da draußen vor
der Höhlung ist etwas. Es ist uns vom Ort der Versammlung aus gefolgt.
»Es... ist noch da?«, fragte Djuq-O unsicher, als sei ihm erst jetzt aufgefallen, dass es sich um ein fremdes Wesen handelte und nicht einfach nur um eine Stimmung, die er nicht zuzuordnen wusste. »Ich habe es bereits draußen in der Ebene gefühlt, als ich mit dem Ajar unterwegs war.« Der Kleine bemerkte aufkeimende Furcht. »Ist es gefährlich...?« 70
Das glaube ich nicht. Seine Ausstrahlung zeigt keinerlei Aggressi-
onspotential. Sei trotzdem auf der Hut. Ich passe auf. Ganz bestimmt, Vater. Ich übermittle dir die Koordinaten für die Teleportation.
Wenige Herzschläge darauf war Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq alleine. * Sie nahmen einen anderen Weg als den, der in das Herzstück Col'Shan-duurs geführt hatte, um wieder in die weiten Ebenen zu gelangen. Der Priester legte ein ordentliches Tempo vor und seine Bewegungen spiegelten eine Eleganz wider, die man dem groben Leib nicht zugetraut hätte. Die drei Gliedmaßen waren extrem gut koordiniert. Größere Erhebungen bewältigte das Wesen mit dem Namen Jokk-Ar Le-IngSha'am durch weites Vorgreifen und gleichzeitiges Rollen des Körpers über die stabilisierende Extremität. Richard mutmaßte, dass eine solche Kreatur in einer Kampfhandlung ein mehr als ernstzunehmender Gegner war. Sie konnte auf Bewegungsabläufe zurückgreifen, die kein Feind vorhersehen konnte. Wohin geht die Reise?, hatte Richard fragen wollen und es sich im selben Moment noch anders überlegt. Hatte er nicht schon den Schrein nach dessen Vorhaben gefragt? Und war es nicht dasselbe bei Philip Ravenmoor gewesen? Jordan hatte stets den passiven Part übernommen und anderen die weitere Vorgehensweise überlassen. Stand ihm denn selbst nicht auch eine Meinung zu? Mussten es immer die anderen sein, die für ihn entschieden und damit die Verantwortung übernahmen? Eigentlich wusste er gar nicht so genau, welchen Umstand er denn nun kritisierte: seine Handlungsunfähigkeit oder die Tatsache, dass ihm niemand die Chance für eigenverantwortliches Handeln gab... Gleich voraus lag eine Brücke. Beim Näher kommen zeigte sich, dass es eine Verbindungsstrebe zwischen zwei Generatortürmen war. Der gegenüberliegende Turm schraubte sich weit in den künstlichen Himmel der Zitadelle und ging in eine blauschwarze Fläche über, die Richard nicht zu definieren vermochte und die auf diese große Entfernung ebenso keinerlei Details erkennen ließ. Jordan sinnierte aufs 71
Neue über die befremdende Symbiose zwischen Stahl und organischer Materie. Diese Kombination traf man an jeder Ecke an und irgendwie vermutete er, dass dies nicht der ursprüngliche Zustand gewesen sein konnte. Hatte nicht auch der Schrein etwas Ähnliches verlauten lassen? Jordan konnte es sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Doch irgendetwas beunruhigte ihn. Eine Art schlafender Instinkt war erwacht, der nur an die Oberfläche seines Bewusstseins trat, wenn dazu die Notwendigkeit bestand. Lag tatsächlich Gefahr in der Luft? »Müssen wir dieses Verbindungsstück wirklich überqueren?«, rief Richard dem vorauseilenden Priester nach. Eine lediglich unvollständig beschreibbare Beklemmung griff nach seinen Eingeweiden, als er die steil in endlose Tiefen abfallenden Hänge begutachtete. Gab es denn hier keine Transportmittel? Nein, verdammt!, holte er sich die Äußerung des Schreins ins Gedächtnis. Nicht für Menschen geeignet! »Es wird sich nicht vermeiden lassen!«, erwiderte Sha'am kalt.
In Transsylvanien haben sie wahrscheinlich bessere Verkehrsanbindungen!, dachte Richard sarkastisch. An der Infrastruktur müssen die Bewohner noch hart arbeiten. Dann sagte er: »Wie weit ist es
noch?« Der 2-Meter-50-Koloß blieb abrupt stehen, noch bevor er den meterbreiten Träger erreichte. Seine haarfeinen Sinnesorgane schwenkten dem Menschen zu. Einige vibrierten leicht in ihrer Starre, andere schlängelten sich grazil hin und her und vollführten einen geschmeidigen Tanz. Die rumpfstarken Gliedmaßen wirkten wie in die Landschaft gemeißelt. Richard ließ sich davon allerdings nicht täuschen und wusste, dass sie blitzschnell reagierten und in höchstem Maße wendig waren. »Wir sind bald da. Sehr bald.« Auch wenn sich die Intonation der englischen Sprache aus dem Mund dieses Wesens gewöhnungsbedürftig zeigte, so glaubte Jordan doch deutlich eine Spitze herauszuhören, als hüte es ein Wissen, das es nicht zu teilen bereit war. 72
Jokk-Ar versucht mich hinters Licht zu führen!, konstatierte er. Er hat etwas ausgeheckt, was er vor mir verbergen will!
Alles Einbildung? Es konnte durchaus sein, dass Richard dem Priester Unterstellungen machte, weil er bereits sein Äußeres als unangenehm empfand. Abneigungen verdichteten sich gewöhnlich durch das Hinzufügen eigeninterpretatorisch gefärbter Animositäten. Mit anderen Worten: Der Mensch neigt generell dazu, sich in seinem Ablehnungsdenken zu bestätigen und alle weiteren Beobachtungen entsprechend negativ auszulegen. Richard nahm sich vor, ein wenig mehr Toleranz walten zu lassen und dabei trotzdem wachsam zu bleiben. Sein Herz pochte ihm schon jetzt bis zum Hals, wenn er das ehrfurchtgebietende Panorama betrachtete, das es in dieser Form nirgendwo auf der Erde gab. Unter seinen Füßen, die zaghaft über den Stahlträger schlurften, erstreckte sich ein gebirgshoher Abgrund. Viel weiter unten gab es ein regelrechtes Netz aus Verbindungsstreben, Röhren und filigranen Strukturen, die wie gewebt wirkten. Der Energiemeiler am Ende ihres Trägerelements lag hinter einer flirrenden Schicht, die eine ungefähre Ahnung davon aufkommen ließ, wie weit dieser Turm noch von ihnen entfernt war. Viel, sehr viel zu weit!, murrte Richard gedankenverloren und ließ den Blick in weitem Bogen kreisen, um alle diese gewaltigen Eindrücke in sich aufzunehmen. Und da war es auch schon fast zu spät! Der 27jährige sah lediglich einen Strunk des Priesters gleich einem Betonpfeiler auf sich zuschießen. Parallel dazu gellte in seinem Rücken ein Schrei auf! Dann stieß ihn etwas wuchtig um, schleuderte ihn zu Boden. Wieder ein Schrei! Laut und qualvoll! Das Geräusch berstenden Stahls malträtierte Richards Trommelfelle, erzeugte ein Stechen in seiner Stirn und verschleierte zusätzlich seine Wahrnehmung. Er hob die rechte Hand vors Gesicht, wie um einen Vorhang zu zerteilen, doch eine klare Sicht war ihm weiterhin verwehrt. Erneutes Bersten, dem ein klägliches Winseln folgte! 73
Was, um alles in der Welt, ging da vor sich?! Ein heftiger Aufschlag erfolgte in Jordans unmittelbarer Nähe. Er spürte noch den Luftzug und wich instinktiv zur Seite aus. Er fühlte sich erbärmlich und hilflos. Hatte der Priester ihn angegriffen? Hatte er, Richard, ihn zu Recht mit Misstrauen bedacht? Plötzlich wurde es sehr ruhig. Und je mehr sich die Stille über den Kampfplatz senkte, desto klarer wurde Richards Blick. Bis er sah, was sich zugetragen hatte... *
Ich kann nicht verstehen, worüber sich die zwei unterhalten. Merkwürdige Sprache. Aber ich kann in den Geist des Kleinen schauen. Die Gedanken bedürfen keiner Sprache. Sie sind universell verständlich. Mein Glück! Da findet wohl eine Versammlung statt. Ja, genau im Zentrum all dieser Erdlöcher. Dieses ist besonders tief und strahlt in hellem Gelb und da sind bereits viele andere Dreibeine. Ich höre unterschiedliche Stimmen. Es findet rege Kommunikation statt, ohne dass sie miteinander sprechen. Diese Wesen scheinen telepathisch veranlagt. Sie können beide Möglichkeiten der Verständigung wählen. Ich muss mehr erfahren! Meine zwei Schützlinge reihen sich in den großen Kreis ein. Es ist überhaupt nicht ersichtlich, wer mit wem redet. Keine Gesichter, die sich ansehen, keine Gesten, keine sich bewegenden Münder. Trotzdem reden sie gerade jetzt miteinander. - Sehr verwirrend. Es sieht danach aus, dass sich ein Hauptsprecher gefunden hat. Die Menge steht in Empfangsbereitschaft, ohne selbst eigene Gedanken zu produzieren. Bei einigen Einzelindividuen spüre ich eine unnatürliche Leere des Geistes. Ich kann es mir nur so erklären, dass diese Wesen ihren Verstand nach außen hin abriegeln können. Bei dem Kleinen habe ich nichts dergleichen wahrgenommen. Ich kann nur Bruchstücke von dem verstehen, was der Sprecher gerade erklärt. Er scheint seine Ausführungen lediglich auf den Kreis der Anwesenden zu fokussieren. Ich will nicht viel näher herangehen, 74
um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Noch nicht. Ich möchte keine Störung der Versammlung provozieren und erst recht keinen Anlass für Feindseligkeiten geben. Es wird mühselig sein, dem Gesagten einen Sinn zuzuordnen wenn das überhaupt möglich ist! Hm, jetzt ist alles still. Warum sagt keiner mehr etwas? Ist irgendwie unheimlich, sie alle dastehen zu sehen - so reglos und stumm. Wie lange dauert das noch? Meine Güte, da muss sich doch mal was tun! Mir rennt die Zeit davon! Ich kann förmlich sehen, wie sich die negativen Kräfte in den Astralebenen die Hände reiben, in der Vorfreude, mich wieder in den Reinkarnationszyklus einzureihen. Wenn man bedenkt, wie lange ich, sie um dieses Vergnügen betrogen habe, wage ich mir nicht auszumalen, was sie sich für mich ausgedacht haben. Meine ganz persönliche Hölle! Vielleicht sollte ich mich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, dass die Ära Ravenmoor zügig zu Ende geht. Da! Es geht weiter! Es spricht der, der auch vor der langen Pause geredet hat. Wenn mich nicht alles täuscht, hat da ein Dialog stattgefunden. Da gab es noch einen weiteren Sprecher, von dem ich nichts gehört habe. Es kann nur so sein, dass dieser seine Gedanken perfekt abgeschirmt hat - wenigstens vor mir! Die anderen hatten wohl keine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Das würde ja auch gar keinen Sinn machen... Außer, er hätte etwas vor seinem Volk zu verbergen! Seine Gedankenblockade wäre wie ein Filter, der einzig ausgewählte Ausführungen kanalisiert und dem Kollektiv zugänglich macht. Ich kann mir indes nicht denken, dass diese Verfahrensweise unbemerkt bliebe... Was soll's! Ich habe weiß Gott andere Probleme, als mich als Exopsychologe zu betätigen! Es muss irgendwie vorangehen! Ich könnte den Verstand darüber verlieren, zur Untätigkeit verurteilt zu sein! Wo ist da der Sinn? Was haben sich die hohen Mächte in all ihrer Weisheit diesmal ausgeknobelt? Verflucht! Ich will nicht bloß der Spielball einer Mannschaft sein, deren Strategie ich nicht durchschaue! Wo bleibt da meine eigene Kompetenz? Bin ich nicht wichtig genug, um eingeweiht zu werden? Schön, ich bin ein Höllenjäger. Man hat mir also eine Tür 75
geöffnet, mir Zugang zu verschiedenen Mysterien gewährt. Und plötzlich tauchen viel, viel mehr Türen auf. Aber sie alle sind verschlossen! Keine Möglichkeit, in die Räume dahinter zu blicken! Was für eine Taktik: Sie locken dich mit der Enthüllung eines Geheimnisses und präsentieren dir im Anschluss ein ganzes Bündel neuer Rätsel! Zermürbung hoch drei! Reiß dich zusammen, Philip! Zeit für Selbstmitleid gibt es in der Hölle in Hülle und Fülle! Na bitte! Die Dreibeine sind fertig. War ja doch nicht so wild. Ich werde mal an meinem Schützling dranbleiben. Schade, ich habe mir nicht gemerkt, wo der Große gestanden hat. Hätte gerne gewusst, was er mit dem ›Jugendlichen‹ zu schaffen hat. Scheint aber nicht sein Vater zu sein, sonst hätten sie wohl nebeneinander gestanden. Vermute ich mal. So, da geht's zurück in die heimeligen Gruben. Wäre doch bestimmt mal ein attraktives Titelthema für ›Schöner wohnen‹. Philip, mein Freund, du hast dir immer noch deine Kaltschnäuzigkeit bewahrt im Angesicht des drohenden Untergangs. Wenn mir nicht so elend zumute wäre, könnte ich fast schon drüber lachen. Olala! Meine dreibeinigen Kameraden verfügen über jede Menge eindrucksvoller Talente. Sind einfach durch die Energiekuppel ihrer Behausung teleportiert. Ob ich ihnen folgen soll? Aber erstens weiß ich nicht, ob das Energiefeld für mich durchlässig ist und zweitens ist so wenig Platz da unten, dass die beiden meine Anwesenheit annähernd körperlich spüren müssten. Nein, ich bleibe weiter auf Distanz und beobachte, auch wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass ich nicht lediglich meine allzu knappe, wertvolle Zeit verschwende. Wo sollte ich auch nach einem geeigneten Körper suchen? T'ott'amh-anuq! Hat der Kleine das gerade wirklich gedacht? Das kann doch nicht sein! Ich konnte den Zusammenhang nicht verstehen! Hat es mit Richard zu tun? Ist er hier? Hat er es doch noch geschafft? Denk nach, Philip: All das muss nichts bedeuten. Diese Wesen scheinen irgendetwas mit dem Initiierungsritual zu schaffen zu haben. - Zu dumm, dass ich mich an nichts erinnern kann! Ich war selbst auf 76
Col'Shan-duur, doch die Erinnerung ist nicht einfach nur schwächer geworden, sie ist vollständig ausgelöscht! Die Gedanken des Kleinen überschlagen sich. Der andere dort ist sein Vater. Das steht jetzt fest. Was er sagt, bekomme ich nur anhand der Reaktion seines Sohnes mit, obwohl seine Abschirmung einiges durchsickern lässt. Allem Anschein nach ist er in eine Arbeit vertieft, die mit dem Lichtfenster direkt vor ihm zu tun hat. Jetzt schaltet es sich ab. Ich sehe die sich bewegenden Haarkränze. Der Vater greift nach dem Jungen. Wieder wirbelnde Gedanken! Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, soll der Kleine jemanden abholen. Ist damit der T'ott'amh-anuq gemeint?! Soll er ihn abholen? Das würde bedeuten, dass Richard ganz in der Nähe ist! Ich kann's nicht glauben! Ruhig, Philip, ruhig. Reine Spekulation. Setz dich auf die Fährte des Dreibeins und finde heraus, um wen es geht. Wow! Damit habe ich nicht gerechnet! Der Junge ist teleportiert! Ich kann der Spur seiner Körpermatrix folgen, einer Art subatomarer Kondensstreifen. Dazu muss ich mich durch die vierte Dimension bewegen und komme gleichzeitig den negativen Kräften näher, als gut für mich ist. Wenn ich dem Sog nicht nachgebe, ist es zu schaffen! Ich werde akzeptieren müssen, dass die Auswahl an Möglichkeiten zur Rettung meiner Existenz sich ständig weiter verkleinert. Aber solange noch ein Hoffnungsfunken besteht, darf ich nicht aufgeben! Ich kann es nicht! Auch jetzt noch trage ich Verantwortung für die Dinge, die vor mir liegen... Da ist die Spur! An ihrem Ende wird sich zeigen, ob sich meine geheimsten Hoffnungen erfüllen... * »Wo... bin ich...?« Anfänglich verwirrt blickte sich Dominique Beaumont ängstlich um. Es war wieder geschehen! Ein weiteres Mal war sie aus ihrer Wohnung in Lyon entführt worden, um an einem Ort auszukommen, der nicht 77
für Menschen der Erde geschaffen schien. Sie sah weite Ebenen und mächtige Türme, die sich in einen diffusen Himmel reckten und deren Spitze nicht mehr auszumachen war. Unter ihren nackten Füßen fühlte sie warmen, rauen Stein und nach einigen vorsichtigen Schritten etwas wie Moos. Sie ging in die Hocke und strich darüber, drückte es danach mit den Fingerspitzen ein und fand, dass es eher die schwammige Oberfläche eines Pilzes hatte. Sie wollte zurückschrecken, als sich dünne Fäden herausbildeten, die sich zögerlich an ihrem Handgelenk hoch schlängelten, doch die Berührung war auf eine Weise sogar wohltuend. Es kamen immer mehr der langen Fäden hinzu, die neugierig unbekanntes Terrain erforschten. Auch an den Füßen spürte die Frau nun die vertrauten Berührungen. Es war anders als noch vor ein paar Wochen, sah sie die traumatischen Bilder ihrer ersten Begegnung mit übersinnlichen Mächten vor sich. Es hat sich nicht angekündigt. Von gleich auf jetzt hat es mich hierher verschlagen! Ob ich Philip wieder sehe? Und... Richard? Sie wurde sehr nachdenklich, als sie an den Engländer dachte, der von der ersten Sekunde an eine unbegreifliche Faszination auf sie ausgeübt hatte. Beide wussten sie, dass es ein gemeinsames Band gab, das sie zusammengeführt hatte. Es lag ein viel größeres Geheimnis um ihre unerklärliche gegenseitige Zuneigung, als sich ihnen auf Anhieb offenbarte. Stammte diese Bindung eventuell noch aus einem früheren Leben? Oder mehreren...? Die junge Frau konnte nicht ewig hier knien. Vorrangig musste sie ihre neue Umgebung erkunden und herausfinden, wo sie sich befand und was mit ihr geschehen war. Äußerst behutsam, um nichts kaputtzumachen, löste sie einige der Fäden. Doch als wären sie magnetisch, fanden sie unverzüglich den Weg zurück auf ihre Haut. Ein paar Mal noch versuchte sie, die filigranen Auswüchse abzustreifen, aber immer stellte sich der gegenläufige Effekt ein. Außerdem stellte sie nicht ohne Besorgnis fest, dass sich der Griff der Fäden verstärkte. Schon war es ihr nicht mehr möglich, aufzustehen. Alle Vorsicht war verflogen! Mit ganzer Kraft zerrte Dominique an den Fasern - ohne Erfolg! Die Zugkraft der Lebensform erhöhte sich dagegen permanent; die Fäden wurden mehr und mehr, zogen sich 78
länger und länger, schwollen dabei auch noch an und erreichten bereits den Hals ihres Opfers. »Bitte... bitte! Lasst mich doch in Ruhe!« Die Stimme war ein halbersticktes Röcheln, das keinen Platz mehr fand, um auch noch die hoch drängende Panik aufzunehmen. »Ihr... nehmt mir... die Luft!« Der Boden unter ihren Füßen gab nach, beulte sich ein. Die Fäden schnitten in ihr Fleisch und rissen heftig daran, wollten sie in die Ausbuchtung ziehen, die sich stetig vertiefte und wohl irgendwann ihren ganzen Körper verschlucken würde. »Nein! Bitte nicht! Ich will nicht sterben...!« Wenn sie mit ihrem gurgelnden Schrei irgendeine Reaktion zu erzielen gehofft hatte, dann höchstens die, dass der Vorgang ihrer Assimilation sich weiter beschleunigte. Es schien beinahe so, als spürte der fremde Organismus seine Zeit davoneilen und damit die Chance, seiner Beute habhaft zu werden. Noch einmal verstärkte er seine Bemühungen. Weitere Bündel fingerdicker Fortsätze schossen hervor und umschlangen den Kopf der Französin, die nun zu keinerlei Gegenwehr mehr fähig war. Die Stellen an ihrem Leib, die noch nicht von der fremdartigen Substanz umschlossen waren, ließen sich an den Fingern beider Hände abzählen. Das war der Augenblick, als etwas in ihrem Kopf aussetzte. Ihre Ängste waren verschwunden, als hätten sie niemals existiert! Eine unheimliche Ruhe strömte durch Geist und Körper - gepaart mit einer Kraft, die jenseits aller Vorstellung lag! Ihr eigenes Denken wurde überlagert, erdrückt und ausgemerzt! Sie war nicht mehr Mensch, nur noch wilde Energie und zügellose Emotion! In ihr kochte und brodelte die neue Kraft. Diese Frau war nun ein Vulkan, der kurz vor der Eruption stand! Die Kraft wollte heraus! Und selbst wenn es Dominique Beaumonts Wunsch gewesen wäre, sie zurückzuhalten, so hätte sie nicht die winzigste Gelegenheit gehabt, diese verheerende Energie am Ausbrechen zu hindern! Ihre Sinne verlöschten in einer gewaltigen Feuersbrunst! Ihre Wahrnehmung bestand einzig aus lodernden Fackeln, aus tausend 79
gleißenden Sonnen und wieder tausend, die so hell waren, dass alles andere in ihrem Glanz verging! Als die junge Frau ihre Besinnung wieder fand, war um sie herum nur Asche. Das Fadengewürm war verbrannt, das Loch in der Erde ein verkohlter Krater. Im Umkreis mehrerer dutzend Meter vollständige, tief greifende Zerstörung. Die verbrannten Kleider der Frau hatten dunkle Rußflecken auf ihrer nackten Haut hinterlassen, doch ihre Haut zeigte keine Verbrennungsspuren. Solche Äußerlichkeiten waren es auch nicht, die ihre Aufmerksamkeit erregt hätten. Ihr Streben galt von nun an einem bestimmten Ziel. Tief in ihr verankert war das Metaprogramm gestartet! Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen!
8.
Wir sind angekommen! Ich habe zuviel Speed drauf und schieße über den Zwerg weg auf die Brücke zu. Muss drosseln und... - jetzt schlägt's dreizehn! Da steht noch ein Dreibein! Und bei ihm ist ein Mensch! Ich fliege näher ran. Das ist... das kann doch nicht sein! Da steht Richard! Gott steh mir bei! Ich habe den Jungen gefunden! Aber er ist in Gefahr! Der Große will ihm etwas antun! Er holt aus mit seinen Tentakeln! Richard!!! Verdammt! Renn doch weg! Er kann mich nicht hören! Warum denn bloß? Schirmt der Große ihn ab? Hat er mich erspürt? Oder... nein. Es ist der Kleine! Er stürmt auf die Brücke los! Hat er denn den Verstand verloren? Das hat doch keinen Sinn! Er wird an der puren Masse des anderen zerschellen! 80
Ich muss beschleunigen, mich in den Weg werfen und versuchen, den Jungen aus der Bahn zu schleudern, sonst wird der Große ihn töten! Ich bin schnell! Da ist er! Wir werden kollidieren und dann... Gott nein!!! Ich rase hindurch! Ich bin nicht materiell! Ich besitze keine Kraft! Die Gefühle sind mit mir durchgegangen. Mein Verstand hätte mir sagen müssen, dass meine Aktion vollkommen nutzlos ist. Muss umdrehen und sehen, was weiter geschieht! Nein! Richard ist am Boden! Und der Winzling ist in eine Höhenstrebe gerauscht. Er steht wieder auf, seine Bewegungen sind abgehackt, träge. Er kriecht mehr auf seinen Gegner zu, als dass er geht. Was hat er nur vor? Begreift er nicht, dass er seinem Widersacher nicht gewachsen ist? Und ich kann nichts tun! - ICH KANN NICHTS TUN!!! Der Zweieinhalb-Meter-Brocken schlägt gnadenlos zu. Ansatzlos und brutal kraftvoll. Ich kann nicht hinsehen, doch ich darf Richard nicht aus den Augen verlieren! Der Kleine kracht gegen eine Hauptstrebe. Ein fürchterliches Geräusch! Ich glaube kaum, dass er noch mal aufsteht. Armes Ding... Das habe ich befürchtet! Richard ist noch nicht ganz bei Sinnen. Ich kann es deutlich an seinem Gesichtsausdruck erkennen! Er erfasst die Situation nicht! Und die Absichten dieses Monsters sind eindeutig! Ich lege einen hektischen Zickzack-Kurs vor, möchte möglichst gleichzeitig an allen Brennpunkten sein. Jeder Blickwinkel, durch den ich die Szene betrachte, zeigt mir ohne Umschweife die drohende Gefahr für meinen Freund! Und ich bin machtloser als ein Windhauch, der einen Grashalm streift! Ich mache mir nur selber etwas vor! Ich agiere sinnlos vor mich hin, um später nicht eingestehen zu müssen, nichts unternommen zu haben. Was für eine verrückte Philosophie! Wie menschlich! Jetzt wird's aber wirklich ernst! Richard kommt auf die Füße, sieht das leblos daliegende Dreibein! 81
Dreh dich um, Partner! Sieh hinter dich!!! Ich fliege auf Richard zu. Es geht um wenige, ganz, ganz wenige Sekunden. Ich stehe direkt neben ihm, kann jede Pore in seiner Haut sehen. Muss mich konzentrieren. Nur auf den Jungen. Die Zeit tickt viel zu schnell dahin. Der Brecher holt schon wieder aus, mit gleich zweien seiner Betonarme! Er macht es langsam, irgendwie genüsslich! Er lässt sich viel Zeit, weil er denkt, dass sie auf seiner Seite ist... Ich sammle mentale Energie, dringe in Richards Körper ein und werde alles freisetzen, was ich aufzubieten habe. Ich habe nur eine einzige Gelegenheit. Und die ist... JETZT!!! * Der Körper eines Priesters - höchstens halb so groß wie der Jokk-Ars lag ohne Regung und aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Bewusstsein zwischen geborstenen und verbogenen Stahlpfeilern und -stützen. Richard Jordan dachte keinen Moment an den Fleischberg in seinem Rücken und dass nur er für die Tat verantwortlich sein konnte; der junge Höllenjäger wollte jetzt nur dem Bewegungslosen zu Hilfe eilen. Noch bevor er den ersten Schritt machen konnte, fühlte er eine beklemmende Kälte in sich aufsteigen. Und ebenfalls noch bevor er in irgendeiner Weise auf dieses Gefühl reagieren konnte, explodierte der Schrei in seinem Kopf!
RENN WEG!!! Es riss Jordan regelrecht von den Beinen! Noch im Fallen presste er die Handflächen auf die Ohren, zog den Kopf zwischen die Schultern und verkrümmte sich. Der schneidende Luftzug sich überkreuzender und ins Leere dreschender Körperstümpfe fuhr kalt über seinen Nacken. Richard fing sich mit der Schulter an einer Art Geländer ab und konnte erst in diesem Augenblick eine neuerliche Attacke des Priesters erahnen und entsprechend ausweichen. Stolpernd erreichte er festen 82
Grund, lief ein paar Schritte, hielt dann erschöpft und von Druckschmerz geplagt inne und sah sich um. Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am ruderte mit den Armen in der Luft herum, als wolle er seine körperlichen Fertigkeiten demonstrieren und sein Gegenüber abschrecken. »Jetzt weiß ich also, wie der Hase läuft«, rief Richard der unförmigen Kreatur zu. »Das wird dich nicht retten, Erdenmensch!« Dunkel und tieftonlastig quollen die Worte aus der Sprechöffnung. »Dein Tod wäre schnell und ohne Ankündigung gekommen. Nun wird dein Leiden wahrhaft größer.« »Wer ist das?«, deutete Richard auf das mehr tot als lebendig wirkende Geschöpf aus dem Volk der Priester. Zwei seiner Geh- und Greifwerkzeuge zuckten unmerklich; aus seinem Mundschlitz drang dumpfes, kaum vernehmliches Atmen. »Was hast du mit ihm gemacht?« »Der Sohn eines Amtsbruders«, antwortete Jokk-Ar bereitwillig und setzte sich in Marsch. »Er ist wegen dir hier, Mensch! Welche Ironie, dass du ihm dadurch den Tod gebracht hast. Nur, um gleich darauf selber zu sterben. Sag selbst: Sind die Wege des Schöpfers von Himmel und Erde nicht unbegreiflich...?« Ein mentaler Hieb traf Richard hart vor die Brust, fegte ihn von den Beinen und gleich darauf zu Boden. Er musste würgen, als er sich auf die Ellbogen stützte; in seinem Brustkorb brannten tausend sengende Nadeln. »Ist das alles, was du kannst?«, presste der Sohn des ermordeten Archäologen zwischen den Zähnen hervor. »Dich an Schwachen und Wehrlosen vergreifen?« »Deine Provokation mag einen Menschen treffen, nicht mich. Ich sehe nur das Ziel, das ich erreichen muss. Die Mittel wähle ich nach ihrer Erfordernis, nicht nach dem Gegner aus. Dieser dort« - und es war offensichtlich, dass er das halb zu Tode geprügelte Wesen zwischen den stählernen Trümmern meinte - »steht noch am Anfang seiner Entwicklung. Er ist jung, unerfahren und mental wie physisch schwach und mir bei weitem unterlegen. Ich hege weder Freundschaft 83
für noch Groll gegen ihn. Das macht es einfach, ihn dem Ziel unterzuordnen.« »Was genau ist das Ziel?«, wollte Richard weitere Zeit schinden, um den nächsten unvermeidlichen Angriff parieren zu können. »Der Erhalt des Kosmos«, grollte es Richard entgegen. »Genau deshalb muss deine Existenz jetzt enden!« Ohne weitere Warnung rollte der Priester als ein Gebirge fleischgewordenen Gewitterdonners dem Höllenjäger entgegen! * So träge, gemütlich und daher harmlos die Priester normalerweise wirkten, hatte sich Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am diesem Anschein zum Trotz in eine tödliche Kampfmaschine verwandelt. Jeweils ein Arm griff weit voraus und zog den Körper heran. Die beiden anderen Arme stabilisierten die Vorwärtsbewegung und griffen im Uhrzeigersinn nach. Dadurch entstand ein fließendes und sehr schnelles Rollen. In Richards Knochen pochte noch der Schmerz. Es würde ihm allerdings nicht schwer fallen, dem Ungetüm auszuweichen; seine Geschwindigkeit war gut abzuschätzen. Der Stich im Oberschenkel traf Richard vollkommen überraschend. Er hatte sich ruckartig zur Seite werfen wollen und dabei die Muskeln des rechten Beins überlastet. Glühend heiß sengte der scharfe Schmerz bis in die Hüfte. Aus dem rasant ausgeführten Sprung wurde eine zähe, halbe Drehung. Der Priester streifte Richard hart und fegte ihn wie ein Spielzeugpüppchen von den Füßen. Der Junge sah funkelnde Sterne vor dem dunklen Hintergrund seiner geschlossenen Augen - nicht zum ersten Mal an diesem Tag und bei weitem nicht zum ersten Mal seit seiner frühen Begegnungen mit dem Übersinnlichen. Hinzu kam die Taubheit seines Körpers, die die gesamte linke Hälfte erfasste. Dieser Zustand war ihm ebenfalls in schwächerer Ausführung vom Kampf in der Vorhalle der Jordan-Villa bekannt. Jetzt wie damals kam er äußerst ungelegen. 84
Richard hustete und versuchte, dem Schmerz keine Beachtung zu schenken.
Ich muss hochkommen! Liege schon viel zu lange rum! Der Clown kann sich ja in aller Ruhe aussuchen, mit welchem Tentakel er mich erledigen will! Hinter Richard rumpelte es, als hätten sich Tonnen von Gestein gelöst, die tosend ins Tal stürzten. Auch ohne hellseherische Fähigkeiten war klar, dass der Priester einen neuen Anlauf genommen hatte. Der Schreck mobilisierte Kräfte in Jordan, auf die ein Mensch normalerweise keinen Zugriff hat. Die halbseitige Lähmung war vergessen, der Schmerz in der untersten Schublade eines Aktenschranks verstaut, der im dunkelsten Kellerloch eines verlassenen und weit abgelegenen Bürogebäudes stand. Nur an seinen verkrampften Gesichtszügen war die Überwindung ersichtlich, die es Richard kostete in einer Bewegung aufzuspringen und sich dabei umzudrehen. Im gleichen Augenblick wurde aus Verkrampfung beginnendes Entsetzen, als der Schatten der ZweiMeterfünfzig-Kugel bereits auf ihn fiel und ihm so gut wie keine überlegte Reaktionsmöglichkeit offen ließ. Hit and run!, schoss es ihm durch den Kopf und er katapultierte sich aus dem Stand aus der Angriffsbahn seines Gegners. Federleicht rollte er sich auf dem schwammigen Boden ab. »Lassen wir's lieber beim Rennen. Fürs Zuschlagen bleibt mir da wenig Zeit.« Es lag eine Unbekümmertheit in den Worten, der jeglicher Sarkasmus fehlte und die nicht recht an diesen Ort und in diese Zeit passen wollte. So dauerte es naturgemäß nicht lange, bis sie unter dem Druck der Ereignisse zerbrach. Jokk-Ar war zum Stillstand gekommen. Gut dreißig Meter von Richard entfernt hatte er sich zu einem unüberwindlichen Monument der Kraft aufgebaut, das seine Wirkung nicht verfehlte; Richard Jordan spürte sie als unbestimmbare Reizung in der Magengrube. Was heckte der Priester aus? Ging ihm die Vernichtung seines Feindes nicht schnell genug? Oder hatte er erkannt, dass er mit seiner Niederwalztechnik 85
nicht weiterkam? Es war nicht mit Bestimmtheit zu sagen, was im Gehirn dieser Kreatur vorging. Sicher war indes, dass es darin arbeitete. »Na komm schon, Jocky!«, stichelte Jordan laut. »Schon ausgepowert, was? Ich könnte hier den ganzen Tag rum springen!« Bedächtig setzte der Priester einen Arm vor, um seinen Körper erneut in ein tödliches Geschoß zu verwandeln.
Geht doch! Dann lass mal sehen, was du sonst noch zu bieten hast. Keine zwei Atemzüge später erfuhr er es! * Das Gefühl von Schmerz war ihm nicht unbekannt; es gab tausend Gelegenheiten tagtäglich, ihn zu erfahren. Es waren die Intensität und das Anhalten dieses Gefühls, die weit jenseits von Dakk-Ar LinhSchi'on-Djuq-Os Erfahrungswerten lagen. Nie zuvor hatte der Priestersohn sich derart hilflos wieder gefunden. Nie zuvor war ihm sein physisches Unvermögen so vehement und schonungslos ins Bewusstsein gebrannt worden. Würde er sterben? Seltsamerweise war das erste, woran er in diesem Zusammenhang dachte, nicht sein ihn umsorgender Vater oder sein geduldiger Lehrer, der Ajar, oder sein versonnener Freund Sha'am-O... Nein, es war der Fremde, jener, der nur als Gedankenmatrix erfassbar war. Jener, der seit dem Spaziergang mit Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq nicht von seiner Seite gewichen war. Djuq-O schickte seine Sinne auf Reisen, doch der Fremde war nicht mehr in seiner Nähe. Genau wie sein Vater nicht hier war, der ihn auf diese Mission geschickt hatte. Genau wie der greise Ajar nicht hier war, um mit weisen Worten Trost und Zuwendung zu spenden. Unsicher und zittrig richtete sich der Härchenkranz aus, um die Wahrnehmung der Sinnesorgane zu reaktivieren. Vorrangig noch vor dem Licht registrierte er Klang und einen sonderbaren Geruch, der vom Erdboden aufstieg. In seiner Erinnerung verband er etwas mit diesem Geruch, doch es war zu vage, da es lediglich erlernt und nicht 86
erfahren worden war. Der Klang hingegen war eindeutig: Jokk-Ar Le-
Ing-Sha'am - Vater seines kleinen Freundes Sha'am-O und Widersacher seines eigenen Erzeugers - bekämpfte den T'ott'amh-anuq! Kurz bevor die nach Äonen zählende Prophezeiung sich erfüllen konnte, würde sie einfach ausgelöscht werden. Der schwache Mensch, der ein Fanal der Hoffnung sein sollte, würde sich zu ihrer bittersten Enttäuschung manifestieren. Ich spüre, wie es zu Ende geht. Glasklar stand diese unverrückbare Tatsache in Djuq-Os Geist. Er nahm sie ohne Bedauern an und erging sich auch nicht in Vorwürfen und Anschuldigungen. Niemand außer ihm trug die Verantwortung für die Dinge, wie sie sich bis hierher entwickelt hatten. Er wollte die Greifarme heben, doch selbst die losen Trümmer hielten sie unnachgiebig unten. Würde er je begreifen, ob es nur ein zweifelhafter Zug des Schicksals war, der ihn an diesen Schauplatz großer Entscheidungen geführt und gleichzeitig zum handlungsunfähigen Beobachter degradiert hatte, oder ob ein verschlungenes Karma eine Absicht hegte, die sich seinem Verstand entzog? Der Kampf lärm verebbte. Vielmehr hörte er ihn nicht mehr. Der kleine Priesteranwärter konzentrierte sich einzig auf sein innerstes Selbst, das in nahezu perfektem Einklang stand mit dem Universum und den höheren Ebenen der Schöpfung. Nicht mehr lange und die Entbehrungen seiner physischen Existenz würden wieder zu dem werden, was sie im Grunde genommen immer schon gewesen waren: nichts als Illusion! Freudig reckte er seinen Geist dem Licht immerwährenden Friedens und absoluter Liebe entgegen... * Die Bewegung Jokk-Ars war nun nicht mehr geradlinig. Er war unglaublich schnell und schien sich um mehrere Achsen gleichzeitig zu drehen. Die komplexe Motorik seiner Laufwerkzeuge erweiterte die Palette seiner Handlungsmöglichkeiten immens und ließ die Folge sei87
ner Aktionen nicht mehr vorhersehbar werden. Als wäre das nicht schon genug, peitschten seine Auswüchse im Rhythmus der Kreiselbewegungen durch die Luft und schufen einen undurchdringlichen Schutzschild um den unförmigen Leib. Oder eine verheerende Waffe, die den Aktionsradius beträchtlich erweiterte - je nachdem, von welcher Warte aus man die Angelegenheit betrachtete. Einmal kann ich ihm vielleicht ausweichen, überlegte Richard.
Wenn ich schnell bin und eine gute Portion Glück habe...
Er fühlte sich reichlich unwohl. Der Priester erinnerte ihn an einen wirbelnden Derwisch, der seine Schwerter nach präzisem Schema durch die Luft rotieren ließ und mit seinem höllischen Veitstanz ein Stahlgewitter entfachte, das einen Widersacher in Nullkommanichts zu feinen Scheibchen verarbeitete. Bei dem rasanten Tempo einer Derwischattacke würde der Betroffene davon allerdings nicht das mindeste mitbekommen. Der Unterschied war der, dass Jokk-Ars Betonarme anstelle von Scheibchen nur klebrigen Matsch hinterlassen würden. Philip!, durchzuckte Richard die Erkenntnis wie ein Stromschlag. Er
hat mich gewarnt! Er hat mir mental zugerufen!
Wieso musste ihm das ausgerechnet jetzt auffallen? Er hatte genug damit zu tun, sich auf den Angriff der Bestie zu konzentrieren. Falsch!, widersprach er sich selbst und beobachtete unter unerträglicher Anspannung, wie der Abstand zwischen ihnen beiden rasend schnell dahin schmolz. Die Logik wird versagen! Ich muss meiner In-
tuition vertrauen...
Für Sekundenbruchteile schloss er die Augen. Er sah mit den Ohren und hörte mit den Augen. Seine physischen Sinne bildeten eine berauschende Symbiose. Instinktiv duckte sich Richard, beschrieb eine Dreivierteldrehung und stieß sich mit den Füßen waagerecht zum Boden ab, so dass er sich mit den Schulterblättern abfing und nach einer Rückwärtsrolle auf den Knien landete. Die wuchtigen Keulenarme des Priesters hatten ihn nicht einmal berührt. Richard Jordan beobachtete den Koloss beim Abbremsen, als er seine drei Beine Stemmeisen gleich in den Grund rammte. Schon be88
reitete sich Richard auf einen neuerlichen Angriff vor. Jokk-Ar zeigte sich als kraftstrotzende Lokomotive, deren grobe Beschaffenheit so manchen Betrachter in trügerischer Sicherheit wähnte. Aus dem Stand beschleunigte der Priester mit zuvor unerreichten Werten, als wollte sein Aufbäumen einen letzten - jedoch endgültigen - Sieg herbeiführen.
Wenn ich weiter immer nur ausweiche, kann sich das Spiel noch eine ganze Weile so dranhalten, überlegte der 27jährige und war be-
reits im Begriff seine Augen zu schließen, um seine Wahrnehmung auf ein höher liegendes Level zu heben. Es war dieses unmerkliche Zwinkern, das einen im Nachhinein nicht mehr sagen ließ, ob man tatsächlich etwas gesehen hatte oder einer Täuschung erlegen war. Jokk-Ar jedenfalls löste sich mitten im Lauf auf! Er war einfach verschwunden! Jordan klappte die Kinnlade herunter. Wenn man bedachte, was er in kürzester Zeit alles schon auf der Erde erlebt hatte, dauerte seine Fassungslosigkeit fast zu lange. Für das Phänomen, mit dem er sich urplötzlich konfrontiert sah, dauerte sie in jedem Fall viel zu lange. Es gab ein Geräusch von verpuffender Luft unter größter Hitzeeinwirkung. Und als Richard in dunkler Vorahnung auf dem Absatz herumwirbelte und strauchelte, weil irgend etwas seine Füße umschlungen hielt, sah er nur noch den gewaltigen Schatten Jokk-Ars, der hinter seinen Gegner teleportiert war und dessen Greifarme als stahlharte Pfeiler herabsausten und dieses Mal ihr Ziel unmöglich verfehlen konnten! »Genug jetzt!« Die Stimme war ein Orkan, der grollend über das Land donnerte und durch ihrer aller Gehirne fegte. Jokk-Ar war in der Bewegung erstarrt. Man sah ihm an, dass er sich massiv gegen eine Art Kraftfeld sträubte. Seine Anstrengungen verliefen allesamt im Sande. Richards Herz pochte, als er sich unter den wenige Handbreit über seinem Gesicht zum Stillstand gekommenen Granitarmen durchschob. Etwas wackelig kam er auf die Beine. Befremdet befreite er sich von 89
den abgestorbenen Resten einiger Schlinggewächse, die schon hoch bis zu seinen Unterschenkeln gekrochen waren. Dann blickte er in die Reihe der ihn Umstehenden: »Sieh an. Die Kavallerie ist da.« * »Das ist er? Das ist der T'ott'amh-anuq?«
Ich spüre Zweifel in deiner Feststellung, Sha'am-O. Aber du solltest nicht vorschnell urteilen, nur weil sein Aussehen nicht deiner Vorstellung entspricht.
Der Haarkranz des Kleinen, der alle Sinne zur Wahrnehmung der Außenwelt beherbergte, zitterte erregt. Erst nach einer genauen Musterung richtete sich sein Interesse auf den starren Koloss, der im Fesselfeld mentaler Energien mehrerer Priester eingeschlossen war - seinen Vater! Er trat ganz nahe an ihn heran. Es war sein Wunsch gewesen, unbedingt mit hierher kommen zu wollen, als berichtet worden war, was sein Vater zu tun beabsichtigte. Klar und intensiv nahm der Junge die physische Potenz des Gefangenen wahr, die sich wesentlich präsenter darstellte, als die Macht des Geistes. Und wie selbstverständlich bediente sich Sha'am-O nicht des gesprochenen Wortes, sondern transportierte sein Denken direkt in den Geist seines Erzeugers. Diesmal tat er es nicht aus Angst vor Strafe, sondern aus einem tiefen inneren Bedürfnis heraus.
War es das, was du mich lehren wolltest? Habe ich deshalb in deinen Augen versagt, weil ich dich so grundsätzlich missverstanden habe? Für den Priesteranwärter war der Wandel des Vaters nicht nachvollziehbar. Allen Gegebenheiten zum Trotz legte er keinen Vorwurf in seine Frage. Das kannst du nicht verstehen, Sohn, hallte es zurück. Mein Ver-
halten hat nichts gemein mit dem, was du bei mir lernen solltest. Es war auch für mich eine neue Situation, die gemeistert werden wollte. Du wolltest bewusst ein Leben auslöschen! Das widerspricht in jeglicher Hinsicht den Grundsätzen nicht nur unserer Gemeinschaft, sondern aller kosmischen Schöpfung! 90
Ich sagte doch bereits: Du kannst es nicht verstehen! Es war eine Situation eingetreten, die sich auf herkömmliche Art und Weise nicht mehr lösen ließ. Du hast recht, erwiderte der kleine Sha'am-O gefasst, ich verstehe es nicht. Und ich verstehe dich nicht. Wie es aussieht, möchte ich das zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht. Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq nahm den Priesterschüler sanft beiseite. Auch der ›Unfruchtbare‹ hatte es sich nicht nehmen lassen, an vorderster Front dabei zu sein.
Gehen wir herüber zu dem Menschen. Schließlich sind wir seinetwegen hier.
Damit zog er Sha'am-O mit sich und beobachtete leicht unbehaglich, dass Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq sich auf den ausladenden Stahlträger zu bewegte, auf dem reglos inmitten von Trümmern sein Sohn Djuq-O lag. Es war offensichtlich, dass er tot war, denn die Seele hatte seinen Körper verlassen und nur die leere Hülle zurückgelassen. Schi'in-Djuq bedauerte zutiefst, die Ausbildung seines Sohnes nicht beenden zu können. Er hegte allerdings den Glauben, dieses einer göttlichen Fügung zu verdanken. Ohne Zweifel erfüllte eine Schulung ihrer Nachkommen nun keinen Zweck mehr, denn die Prophezeiung würde sich unmittelbar erfüllen. Die Lebensaufgabe der Priester war nach tausenden Generationen gelöst.
Ich werde dir irgendwann nachfolgen, mein Junge, damit wir uns im Geist der Ewigkeit erneut vereinen... Er nahm den Körper des Kindes und warf ihn in den Abgrund. Tief unten würde der vergängliche Leib aus Fleisch und Blut, der aus der Metamorphose von Materie und Geist entstanden war, dem biologischen Kreislauf zugeführt werden. Schweigend wandte sich Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq der Gruppe der Priester zu, die den T'ott'amh-anuq umstanden. Sie schienen sich überaus vorsichtig aneinander heranzutasten; ein Gespräch hatte sich noch nicht entwickelt. Allenfalls waren sprachliche Bruchstücke ausgetauscht worden. Schi'in-Djuq registrierte das Zusammenfahren des Menschen, als er sich an diesen heran schob. Es war die Größe des Priesters, die das 91
bewirkte, in Verbindung mit den negativen Erlebnissen der vorausgegangenen Kampfhandlungen. »Fürchte dich nicht, Richard Jordan«, modulierte Schi'in-Djuqs Sprechorgan dröhnend und verzichtete vorerst auf mentale Kommunikation. »Wir werden dich nicht weiter im Unklaren lassen.« Das letzte, was Richard empfand, bevor die Gruppe gemeinsam mit ihm und dem Mordpriester teleportierte, war das wärmende Gefühl, dass man ihm endlich erklären würde, was bei allen Heiligen hier gespielt wurde...
9.
Über den Himmeln...
ES IST SOWEIT! DER EINGRIFF KANN BEGINNEN! Von anderer Seite wurden letzte Zweifel vorgetragen: DER DIENST, DEN WIR DER MENSCHHEIT DAMIT ERWEISEN, MAG KAUM ÜBER DIE AUSSERORDENTLICHEN VERLUSTE HINWEGTÄUSCHEN. NACH IRDISCHEN MASSSTÄBEN IST DAS RICHTIG, folgte die Erwiderung als frostiger Hauch in der Ewigkeit. WICHTIG IST ALLEIN, DASS DIE MENSCHEN ÜBERLEBEN. IHRE ZAHL IST OHNE BEDEUTUNG. DAS STRAFGERICHT DER GÄNGER DES DREIZEHNTEN WEGES WIRD NICHT LANGE AUF SICH WARTEN LASSEN... Logische Akzeptanz und metaphysisches Unbehagen waren das Fundament dieser Feststellung. Sicher und beruhigend war die Antwort: SIE SIND KEINE RICHTER. SIE KORRIGIEREN. IHRE WARTE IST EINE GÄNZLICH ANDERE ALS DIE UNSRIGE. DOCH VON UNSEREM STANDPUNKT AUS KÖNNEN WIR NUR SO HANDELN, WIE WIR ES TUN. DAS DILEMMA BESTEHT NICHT IN DER HANDLUNG SELBST, SONDERN IN DEM WISSEN, GEGEN UNIVERSELLE REGELN ZU VERSTOSSEN. DAS AUSMASS DIESES VERSTOSSES MAG JEDOCH JENES DES ERSTEN EINGRIFFES BEI WEITEM ÜBERSTEIGEN... 92
WIR KENNEN NICHT DIE PLÄNE JENER ENTITÄTEN, DIE FERN UNSERES EIGENEN WIRKUNGSKREISES BESTEHEN. DER BLICK HINTER DEN GROSSEN HORIZONT WURDE UNS NOCH NICHT GEWÄHRT. SCHLUSS MIT DEN ÜBERLEGUNGEN!, zerschnitt eine scharfe Stimme...? den Kosmos. DIE ENTSCHEIDUNG IST LANGE GEFALLEN! LASST UNS NUN DIE CHROMATISCHE ERHÖHUNG VORNEHMEN... Es wurde still über den Himmeln. Vielleicht für immer... *
Intermezzo III London, Lambeth, 14. Oktober 2012 »Mami!« Das kleine blonde Mädchen stand hinter seiner Mutter, die Arme im Rücken verschränkt. »Ma-mi!« Die Achtjährige zupfte an der Hemdbluse, die ihrer Mutter lang über die Hüften fiel. »Mami...?« Als hätte sie sich verbrüht oder etwas Unrechtes getan zuckte ihre rechte Hand von dem Stoff zurück. »Was ist denn, Schatz?« Die Stimme klang müde und abwesend. Es hörte sich nicht danach an, als hätte die Frau ihre Frage aus echtem Interesse gestellt. In ihr schwang die Hoffnung mit auf eine Antwort, die einem ›Ist schon gut‹ entsprach. »Was machst du da?« Sharon Farnhams Geist tauchte schneller werdend aus den Nebeln der Gedankenlosigkeit auf. Immer lauter wiederholte sie in ihrem Kopf die Worte ihrer Tochter, bis sie greifbare Wirklichkeit waren. »Da draußen steht ein Mann. Ich beobachte ihn.« Leise Bitterkeit, aber auch ein Anflug von Wehmut mischten sich in das Gesagte. Sharon spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, als ihr stumpfer Blick die Einfahrt zu ihrem Reihenhaus streifte, auf der ihr 93
Mann Dan sonst den Wagen parkte. Der Platz war leer. Er würde es auch in Zukunft bleiben. Der BMW stand irgendwo in der Innenstadt, nicht weit von dieser Kirche in Southwark, in der das Drama begonnen hatte, was sie und ihre Kinder zuerst in die Tiefen der Kanalisation und ihren Ehemann schließlich in den Tod getrieben hatte. »Was macht der Mann denn?« Dann hatten sie diesen Richard Jordan getroffen, der auf ihrer Seite gekämpft hatte, als Dan Farnham zu einem monströsen Abbild seiner selbst mutiert war und die Horden von Besessenen sie überrennen wollten. Es hatte entsetzliche Szenen ausufernder Gewalt gegeben, bis Jordan, in einem finalen Kraftakt nicht nur die Massen ihrer Angreifer, sondern höchstwahrscheinlich auch sich selber vernichtet hatte. Jedenfalls war von da an jede Spur von ihm verschwunden. »Er schaut zu mir herüber, Carol.« Mrs. Farnham zog in einer wie einstudiert wirkender Bewegung überflüssigerweise die Gardinen vor dem Küchenfenster ein Stück zusammen. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, in dem hell erleuchteten Raum gut sichtbar zu sein. »Ist das ein Einbrecher?«, flüsterte Carol ihrer Mutter zu. »Nein.« War sie sich wirklich sicher? »Nein, ich denke nicht. Er...« »Was? Was tut er?« Sharons Tochter stellte sich auf die Zehenspitzen und stützte sich an der Fensterbank ab. Viel sehen konnte sie in der einsetzenden Dämmerung jedoch nicht. »Er geht aufs Haus zu.« Völlig gelassen machte Sharon Farnham eine Feststellung, die ihr ansonsten einen Schauer über den Rücken gejagt, zumindest aber für gelindes Unbehagen gesorgt hätte. Über den Zustand der Angst war sie hinweg, ganz im Gegensatz zu ihrer ältesten Tochter Jessica, die sich von morgens bis abends in ihrem Zimmer verkroch und sich in die Welt ihrer Hörbücher flüchtete. Die kleine Carol schlang die Arme um den Oberkörper und presste sich rücklings an den Herd. »Mum, der Mann wird doch nicht bei uns...« Klopfen! Langes, dreimaliges Klopfen! »Nicht aufmachen, Mum! Bitte nicht aufmachen!« 94
Doch ihre Mutter hatte mit wenigen Schritten bereits den Weg zur Haustür zurückgelegt und machte sich daran, die aufwendige Verriegelung zu lösen, die sie nach den grausigen Vorfällen der letzten Tage installiert hatte. Die Gegend war unsicher geworden und nur unter größten Anstrengungen und der Mithilfe von Nachbarn war es ihnen gelungen, einige Vorräte anzulegen, um vorerst das Haus nicht mehr verlassen zu müssen. Jetzt war Sharon Farnham dabei, entgegen ihrer Überzeugung und schweren Bemühungen den vermeintlichen Schutz aufzugeben. »Geh nach oben, Schatz. Und hab keine Angst.« Was war es, was sie förmlich bedrängte, dem Fremden die Tür zu öffnen? Sie hätte sich aus der Sicherheit der verschlossenen Wohnung nach dem abendlichen Besucher erkundigen können, hätte ihn fragen können, warum er das Gebäude observierte und schließlich hereinzukommen gedachte. Alle Spekulation wurde hinfällig, als Sharon das letzte Schloss öffnete und ruckartig die Tür nach innen zog. Sie sah in das bärtige Gesicht eines Mannes, der jedes und alles ausstrahlte - nur absolut nichts, was auch nur entfernt als böse oder negativ hätte bezeichnet werden können. Der Mann wirkte nicht übermäßig gepflegt, doch auch nicht verwildert. Er trug einen anthrazitfarbenen groben Stoffmantel und ausgetretene Schnürschuhe. Insgesamt war er eine Erscheinung, die nicht direkt Vertrauen einflößte, die man andererseits aber ebenfalls nicht gleich wieder verscheuchte. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen...?«, wollte die Mutter eine Reaktion erzwingen. Hatte sie das Richtige getan, als sie dem Fremden Zutritt zum Haus gewährte? Sharon Farnham konnte sich weitere Überlegungen schenken; es wäre in jedem Fall zu spät für einen Rückzieher. »Ihre Kinder«, begann der Bärtige. »Ich habe sie gesehen.« Was meinte er damit? Und wie sollte das möglich gewesen sein? Jessica hatte ihr Zimmer heute noch nicht einmal verlassen. Wie lange schon mochte sich dieser Mensch hier herumtreiben? »Blau. Sie sind blau.« 95
»Was erzählen Sie da?« Mrs. Farnham war nun fast davon überzeugt, einen dieser betrunkenen Penner vor sich zu haben, die tagsüber und auch nachts die Parks und Straßen unsicher machten. Dieser jedoch machte keinerlei Anstalten aufdringlich oder gar handgreiflich zu werden. Sharon musste plötzlich schlucken und ihre innere Abneigung überwinden, als der Mann seine beiden Hände nach ihr ausstreckte und ihren Kopf sanft umschloss. »Indigokinder«, sagte er lächelnd und nickte bestätigend. »Beides Indigokinder.« Die junge Witwe schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie hatte vor geraumer Zeit einen Artikel über solche Kinder gelesen. Die Farbe bezog sich auf die Aura des Körpers. Nur sehr hoch entwickelte Wesen besaßen eine Aura in dieser speziellen Färbung. Vornehmlich solche, die um das Jahr 2000 herum oder geringfügig früher geboren worden waren, wenn sie sich recht erinnerte. »Sie strahlen so hell. Sie machen mir sehr viel Freude. Ich bin so gerne in ihrer Nähe.« Wieso konnte der Kerl die Auren ihrer Kinder sehen? Das gelang doch nur mit einer bestimmten Art der Fotografie. Der Name war ihr entfallen. »Ich möchte sie bitten, jetzt zu gehen«, lauschte Sharon Farnham dem harten Klang der Worte nach. »Kommen sie nicht wieder.« Der Fremde lächelte immer noch gutmütig, nahm schließlich seine Hände zurück und trat zwei Schritte vom Eingang weg. Lange Sekunden sah er die junge Witwe an, bis er erneut nickte und sagte: »Schwere und finstere Zeiten liegen vor uns. Not und Elend werden die Spielgefährten der Zukunft. Doch ihre Kinder und die vielen tausend anderen auf der Welt geben Grund zur Hoffnung. Sie weisen uns den Weg. Sie werden überleben.« Er drehte sich behäbig um, warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, flüsterte ein »Danke« und schlurfte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo er im Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht verloren ging. Nachdenklich verriegelte Sharon die Eingangstür. Ihre Apathie war verflogen. Liebevoll musterte sie die blonde Carol, die am Treppenab96
satz das Geländer umklammerte und ihren Blick sichtlich erleichtert erwiderte. Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und beide gingen sie die Stufen hinauf zu Jennifers Zimmer, um einfach alle beisammen zu sein. Eigenartig, dachte die Frau, in der Nähe meiner Kinder fühle ich
eine unglaubliche Sicherheit. So, als könne mir in ihrer Anwesenheit kein Leid geschehen.
Es war ein gutes, ein beruhigendes Gefühl. Es überlagerte - wenigstens für kurze Zeit - die Gewissheit, dass der Untergang der Erde nicht mehr aufzuhalten war.
10. Das Volk der Priester war nicht nur geschlechts-, sondern auch namenlos. Sie hatten es nie für nötig befunden, ihrer Art irgendeine Bezeichnung zu verleihen; sie wussten schließlich, wer sie waren. Untereinander benutzten sie jedoch zur Unterscheidung umständliche, lange Namen, eine althergebrachte Tradition, die aus ihrer Warte keiner weiteren Erklärung bedurfte - es war gegeben. Ebenso wie das natürliche Alter dieser Wesen, das ziemlich genau bei 2560 Jahren lag. Dieser Zeitraum entsprach exakt dem Durchlauf eines Sternkreiszeichens, den das Sonnensystem entlang der Ekliptik vollzog. Erst vor wenigen Jahrzehnten war das Wassermann-Zeitalter angebrochen, das das des Fisches abgelöst hatte. Nicht weniger überraschend vollzog sich die Fortpflanzung der Priester. Wenn Körper und Geist eine bestimmte Reife erreicht und in harmonischem Einklang und gegenseitiger Bewusstwerdung standen, konnte durch Meditation eine Zellteilung im Körper erzeugt werden, aus der einmal ein Kind hervorgehen würde. Erstes Anzeichen der spirituellen Reife lange vor dem Zeugungsvorgang war das Ausbilden eines Brutbeutels, der dort, wo die Extremitäten zusammenliefen, heranwuchs. 97
Die Neugeborenen erhielten die Namen ihrer Väter (oder Mütter), die sich lediglich in scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten unterschieden. Im mittleren Teil des Namens wurde der unbetonte Vokal gegen ein ›O‹ ausgetauscht; gleichfalls wurde am Ende des Namens ein ›O‹ angehängt. Auf diese Weise verwandelte sich Dakk-Ar Linh-Schi'inDjuq in Dakk-Ar Linh-Schi'on-Djuq-O. Starb der Erzeuger, nahm man die Vokaländerung wieder zurück. Alles blieb sehr einfach und damit übersichtlich. Komplexe Strukturen kannte das Priestervolk nicht. Es hatte niemals die Notwendigkeit gesehen, solche zu schaffen, ebenso wie es keinen Hang zur Populationsausweitung entwickelt hatte. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben waren derartige Dinge ohne jede Bedeutung. Ihnen oblag einzig der Schutz von Col'Shan-duur, die Selektierung der Layshi-Pan sowie die Suche nach dem T'ott'amh-anuq. Dies alles hatte Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq Richard Jordan erklärt, der in der Runde der Priester in der großen gelben Versammlungshöhlung wie ein Fremdkörper wirkte. Doch schlug ihm allenfalls Neugierde entgegen, keine Ablehnung oder ähnlich Negatives. Viele der Priester hatten zum ersten Mal Kontakt zu einem Menschen, für andere lag dieser erste Kontakt in allzu ferner Vergangenheit, als dass sie in frischen Erinnerungen forschen konnten. Richard nutzte die Ruhe nach den Ausführungen des Wissenschaftlers Schi'in-Djuq, um Philip Ravenmoor einen Gedanken zuzuschicken; laut wollte er sich nicht äußern, um die sakral anmutende Stille nicht zu stören.
Ich bin verdammt froh, dich gesund und munter gefunden zu haben, Philip. Du kannst dir kaum vorstellen, was ich mir alles ausgemalt habe...
Ravenmoor hatte sich unmittelbar nach dem Transfer vom Kampfschauplatz in die Siedlung seinem Protege zuerkennen gegeben. Diesmal hatte es keinerlei Verständigungsschwierigkeiten gegeben, was den Logenbeauftragten in seiner Annahme bestätigte, dass der abtrünnige Jokk-Ar sich - und damit auch Richard, der ständig in dessen unmittelbarer Umgebung gewesen war - massiv abgeschirmt hatte. Lediglich Philips in höchster Verzweiflung ausgestoßener Warnruf hatte die Blockade irgendwie durchdringen können; zumindest hatte Richard anklingen lassen, ihn gehört zu haben. 98
Entgegen allem Grund zur Freude über das glückliche Wiedersehen konnte sich Philip Ravenmoor nun wieder seinem eigentlichen Problem zuwenden. Er ließ Richard darüber nicht im Unklaren.
Gesund und munter ist wohl die Übertreibung schlechthin. Ich habe keinen Körper mehr... - Richard zuckte tatsächlich erschrocken zu-
sammen! Er hatte den Zustand der mentalen Kommunikation mit Philip bereits derart verinnerlicht, dass er sich nicht mehr bewusst gemacht hatte, warum das so war - ... und werde mich auf der materiellen E-
bene nur noch sehr kurze Zeit halten können. Die jenseitigen Mächte fordern ihren Tribut.
Richard war genötigt aufzuspringen, doch unterließ er auch diesen Akt der Unbeherrschtheit und zollte seinen Gastgebern den nötigen Respekt.
Wie soll ich das verstehen? Von welchen jenseitigen Mächten redest du da? Wir haben doch nicht all die Strapazen auf uns genommen, um jetzt für immer voneinander getrennt zu werden! Ich muss noch so vieles lernen. Alleine bin ich...
Ravenmoor wollte eine Antwort geben, doch der Älteste - und diese Bezeichnung bezog sich auf sein physisches Alter und nicht auf eine soziale oder politische Funktion innerhalb der kleinen Gemeinschaft kam ihm zuvor.
Du bist bei uns, junger Erdenmensch. Du bist nicht alleine. Auch wenn dein Freund uns für immer verlassen muss, so ist auch dies Grundlage karmischer Erfüllung und Teil deines Lernprozesses. Er hat Recht, gab Ravenmoor unumwunden zu und es lag deutli-
ches Bedauern in seinen Worten, jedoch keine Angst. Und plötzlich war der Äther erfüllt vom Geist herzlicher, unglaublich sanfter Zustimmung der Versammelten. Sie überschwemmten Richard förmlich mit freundlichen, positiven Eindrücken, die ihm seine Verlustängste nehmen oder wenigstens erträglich machen sollten. »Es ist trotzdem schwer zu akzeptieren, dass es dich in Zukunft nicht mehr geben soll, Philip...«, sagte Jordan mehr zu sich selbst und senkte dabei den Kopf. Philip Ravenmoor blieb eine Reaktion schuldig und überließ das weitere Vorgehen dem Ältesten. 99
Die Konstellation ist einmalig, Richard Jordan und wurde von Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq wissenschaftlich bestätigt. Es ist lange her, dass wir jemanden wie dich in unseren Reihen hatten. Der Älteste sandte Ravenmoor in Anlehnung seiner Worte einen Gruß. Wenn du bereit bist, dann möge das Ritual der Initiation - die Weihung zum Layshi-Pan - beginnen. Die Vorbereitungen sind getroffen.
»Ich... ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin!« In seinem Kopf wirbelte mit einemmal alles kreuz und quer durcheinander. Sein Herzklopfen glich dem Schmetterschlag auf eine Pauke, die sein Körper darstellte. Er suchte nach Ausflüchten, um das Bevorstehende hinauszuzögern: »Was habt ihr mit Jokk-Ar gemacht? Er wollte mich töten! Wohin habt ihr ihn gebracht?«
Le-Ing-Sha'am wird dir kein Leid mehr zufügen. Auch wenn uns Handlungsweisen wie die seine fremd sind, haben wir entsprechend reagiert und zwei Brüder zu seiner Aufsicht abgestellt. Sie kontrollieren seinen Geist und verhindern eine Teleportation. Der Älteste gab Richard einige Momente der Sammlung und Besinnung.
Bist du nun bereit, junger Jordan?
Nein, natürlich war er das nicht! Er wusste nicht im Entferntesten, was vor ihm lag. Selbst Philip, der diese Prozedur bereits vor ewig langer Zeit durchgemacht hatte, hatte sich nicht an Einzelheiten erinnern können - oder wollen! - und war sich in vagen Schilderungen ergangen, die er sich genauso gut hätte sparen können. Nein, er war absolut nicht bereit für das große, unbekannte Abenteuer namens ›Höllenjägerweihung‹. »Wenn ihr es seid, können wir loslegen«, sagte er daher schnell. Ohne dass irgend jemand auf Col'Shan-duur es ahnte, wurde mit dieser Entscheidung eine Saat ausgetragen, die still und heimlich vor sich hin reifte und alles was war und sein würde für immer verändern sollte! *
Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst. Ohne Kraft und ohne Energie. 100
Ravenmoor war überzeugt, dass sie ihn binnen weniger Stunden zu sich holen würden. Es war sogar eher wahrscheinlich, dass er weitaus weniger Zeit zur Verfügung hatte, denn der Sog aus den höheren Ebenen wurde fast unerträglich. Der Gesandte DenninghamCartlewoods sah an und für sich keinen Grund mehr, dagegen anzukämpfen. Nicht alles, was er sich in seinem endlos langen Leben vorgenommen hatte - bei weitem nicht alles! - war von ihm auch verwirklicht worden. Und hätte er gewusst, dass seine irdische Existenz ein so jähes Ende finden würde - sicher hätte er einiges anders gemacht. Nicht besser - denn das zu bewerten oblag nicht seiner Beurteilungsfähigkeit -, sondern einfach nur anders. In sich gekehrt und in philosophische Betrachtungen eingelullt nahm er erst durch die Schönheit des glasklaren, von außerhalb an ihn gerichteten, Gedankens Notiz von dem, was um ihn herum geschah.
Wir würden gerne mit dir reden, Philip Ravenmoor.
Der Angesprochene war trotz der Nennung seines Namens nicht sicher, ob da jemand zu ihm sprach oder die Äußerung einzig der Phantasie seines scheidenden Geistes entsprang. Seine Sinne überschlugen sich und Ravenmoor erkannte, dass er sich wieder hoch an den Energiemeiler in der Weite der öden Landschaft von Col'Shan-duur zurückgezogen hatte. Und wieder sah er zwei dieser Dreibeine, zwei Angehörige des Priestervolks: einen kleinen und einen von mindestens doppelter Größe. Diesmal flanierten sie nicht herum, sondern schienen ihn selbst als Ziel anvisiert zu haben. Kenne ich euch?, gab er verunsichert zurück. Er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, diese ungewöhnlichen Wesen voneinander zu unterscheiden. Waren es die, die er bereits vorher beobachten konnte?
Ich bin Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq und mein Begleiter ist der junge Schüler Jokk-Ar Le-Ong-Sha'am-O. Du kennst seinen Eiter. Es ist der, der den T'ott'amh-anuq, deinen Freund von der Erde, töten wollte. Oh ja. Diese Bestie hatte er kennen gelernt. Und jetzt erinnerte sich Philip auch an Ajar-Nukk-Ar: An ihn hatte er sich mit der Bitte um Beistand in der ungleichen Auseinandersetzung zwischen dem Mordpriester und Richard gewandt. Da es keine Chance zum Eingreifen gegeben hatte, war Ravenmoor blitzschnell zur Siedlung zurückgekehrt 101
und mental über den Erstbesten hergefallen, der ihm in die Quere gekommen war. Der Ajar hatte die Situation und deren Dringlichkeit unmittelbar erfasst und weitere Hilfe mobilisiert. Gemeinsam waren sie an den Ort des Geschehens teleportiert und hatten gerade noch rechtzeitig eingreifen können. Soweit es Richard Jordan betraf jedenfalls. Ich danke für eure Hilfe, begann Philip Ravenmoor gezwungen. Seine Aufmerksamkeit wurde erneut von dem Sog beansprucht. Seine Kraft schien sich mit dem Dahinschmelzen der verbleibenden Zeit zu potenzieren. Was wollten die beiden Priester denn jetzt noch von ihm? Sollten sie ihn doch in Ruhe ziehen lassen; in dieser Welt gab es jetzt nichts mehr für Ravenmoor zu tun.
Mein kleiner Schüler hat ein Geschenk für dich. Bitte? Was sollte das nun wieder? Merkten die beiden denn nicht, in welcher Notlage er sich befand? Natürlich wussten sie davon! Mit ihren Sinnen konnte ihnen nichts auf dieser Ebene verborgen bleiben. War es also eine sonderbare Form von Respekt ihm gegenüber oder einfach Pietätlosigkeit? Was denn... für ein Geschenk?, fragte der Höllenjäger. Der Sinn stand ihm nicht nach Kurzweil; er wollte nur loslassen, um reinkarniert - spirituell recycelt - zu werden. Sich selbst!, antwortete F'att-Enoq. Er selbst ist das Geschenk an
dich. Das... verstehe ich nicht! Mühsam formulierte Philip seine Gedan-
ken, denn der gierige Schlund der Astralwelten riss sie ihm als lebendigen Bestandteil seiner selbst aus der Seele. Vereinige dich mit mir!, sprach jetzt der Kleine. Du wirst alles ver-
stehen. Darum schenke ich dir, was du am nötigsten brauchst: meinen Körper! Das ist nicht dein Ernst! Sollte er lachen oder weinen? Spielten die intriganten Mächte auf der anderen Seite seinem schwindenden Bewusstsein einen Streich? Gaukelten sie ihm Hoffnung vor, wo keine mehr sein konnte, um ihn, Ravenmoor, dann auf dem Gipfel seiner Glücksgefühle umso tiefer in einen schwarzen Abgrund stürzen zu lassen? War es das, was sie wollten, um ihm heimzuzahlen, was sie lan102
ge, lange Jahrhunderte und mehr hatten aufschieben müssen, weil er sich geschickt ihrem Zugriff entzogen hatte? Bitte, erfülle mir diesen Wunsch, drang der Kleine weiter auf Ravenmoor ein. Gib der Leere meines Lebens, die mein Erzeuger hinter-
lassen hat, einen Inhalt.
Konnte das sein? Sprach so ein - Kind? Und wollte es auch wirklich, was es da anbot? Er meint es, wie er es sagt, bestätigte Ajar-Nukk-Ar. Er hat den
Vater und den besten Freund verloren. Immer schon war sein Leben erfüllt von Selbstzweifeln und der Bewunderung anderer. Erfühlt tiefe Schuld in sich, denn als Teil des Kollektivs meint er Mitverantwortung für die Taten seines Vaters zu tragen. Du, Philip Ravenmoor, kannst diese Schuld nicht tilgen, jedoch mit deinem Wirken in seinem Körper dazu beitragen, die Hinterlassenschaften gemäß der universellen Ordnung zu verwalten. Darum bittet Sha'am-O dich und ebenfalls bittet er dich - weiterzuleben! Und nun, Mensch der Erde, überlege nicht zu lange!
Es gab nichts mehr zu überlegen. Und auch nichts mehr zu sagen. Ein allerletztes Aufbäumen - und Philip Ravenmoor hatte sich aus der stählernen Zwinge des Astralsogs befreit. Wenige Sekunden später hätte er unter Umständen nicht mehr die Kraft dazu aufgebracht. Sha'am-Os bewusstes Selbst und Ravenmoors Geistseele berührten einander kurz. Es war Begrüßung und Abschied in einem, denn gemeinsam konnten sie nicht im selben Körper existieren. Philip Ravenmoor würde weiterleben! Hier in der materiellen Welt! In einem Kosmos, der eingebettet war in unzählige Ebenen unterschiedlichster Geist-Materie-Zustände. Bevor er mit den Synapsen des Dreibeins verschmolz, meinte er noch den Donner aus Entrüstung und Enttäuschung zu hören, den ihm die jenseitigen Entitäten entgegenschleuderten. Der Eindruck währte den nicht messbaren Teil eines Augenblicks und entschwand, wie auch der Strudel sich bereits aufgelöst hatte. Beim nächsten Mal wird alles anders!, grinste Philip Ravenmoor in sich hinein. 103
Er wusste, dass wenn dieser Tag kam, er keine Gnade mehr erwarten konnte... * Ajar-Nukk-Ar F'att-Enoq schlang einen seiner Greifarme um Sha'amO/Ravenmoors Schulter. Der ›Unfruchtbare‹ wollte mit dieser Geste seine Verbundenheit und Akzeptanz ausdrücken sowie gleichzeitig eine menschlich wirkende Regung übertragen. Es war nicht schwer nachvollziehbar, dass die Gebräuche und Gewohnheiten, der Umgang der Priester untereinander, gewöhnungsbedürftig waren und das Empfinden eines Menschen stören und sogar verletzen konnten. Du wirst dich rasch bei uns zurechtfinden, redete der Ajar beruhigend auf den gerade mal über einen Meter großen Ravenmoor ein.
Alles kommt dir noch ungewohnt vor und es scheint dir unmöglich, dich den Gegebenheiten anzupassen, doch...
Der Priester brach abrupt ab. Was ist geschehen?, erkundigte sich Ravenmoor. Der Logengesandte hatte körperlich den Schrecken gespürt, den F'att-Enoq empfunden hatte. Er erhielt keine Antwort. Dafür setzte sich der schwerfällige Koloss in Bewegung und Ravenmoor/Sha'am-O hatte Mühe, ihm mit seinen zu kurz geratenen Gliedmaßen zu folgen. Sie hetzten quer durch die Ansiedlung, in der sich bereits niemand mehr aufhielt; die Priester hatten sich zum Ritual der Initiation tief in den Eingeweiden von Gon'O'locc-uur versammelt. Der Höllenjäger im Priestergewand musste verteufelt genau auf seine Bewegungen achten. Der Körper war neu und gänzlich anders als sein früherer. Der Unterschied war vergleichbar mit jenem, der zwischen einem Auto und einem Segelboot bestand. Als er dann jedoch seine Wahrnehmung auf die Außenwelt richtete, sah er wohl dreißig Meter voraus den alten F'att-Enoq stehen. Neben ihm lagen zwei schwere Körper am Boden. Je näher Ravenmoor kam, desto mehr Einzelheiten fielen ihm auf. Er sah scheußliche, klaffende Wunden in den mächtigen Leibern der Gestürzten. 104
So etwas ist noch nie geschehen. Die Leere in diesem Gedanken des Ajars war beinahe noch bestürzender als seine im Zaum gehaltene Fassungslosigkeit. Sie sind beide tot. Ermordet. Und die Wabe ist leer! Äußerst beunruhigt trat Philip Ravenmoor an die Höhlung heran, an deren Rand die hingeschlachteten Wächter lagen, die dem Wahn von Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am zum Opfer gefallen waren. Der hatte den Zeitpunkt des Angriffs so geschickt gewählt, dass dieser unbemerkt geblieben war.
Der Renegat setzt alles auf eine Karte. Ohne Rücksicht auf Verluste will er sein Ziel durchsetzen und die Initiierung des T'ott'amh-anuq verhindern. Er wird Richard töten!, wandte sich Philip aufgeregt an den Alten. Er kann überall auftauchen und blitzschnell zuschlagen! Wir müssen etwas unternehmen! Es gibt nichts zu tun. F'att-Enoq beherrschte sich mühsam. Gon'O'locc-uur hat den inneren Kernbereich Col'Shan-duurs gerade eben abgeriegelt. Wir werden nicht mehr eingelassen. Dann... ist der Verräter auch nicht dort?, wagte Ravenmoor eine Prognose.
Er ist dort, zerstörte der Ajar jeglichen Hoffnungsschimmer. Ich spüre seine Präsenz nicht mehr. Daher muss er sich hinter der Abschirmung befinden. Sha'am-O/Ravenmoor schwieg betroffen. Doch nur kurz.
Ich will mich nicht damit abfinden! Zuerst verliere ich den Freund, dann auch noch dessen Sohn! Es muss eine Möglichkeit geben! Wenn ich meinen Geist hinter die Barriere schicken kann und ein mentales Abbild meines früheren Egos schaffe, kann ich Richard vielleicht rechtzeitig warnen... Erregt richtete er seinen Sensorkranz auf Ajar-Nukk-Ar, als dieser laut sagte: »Unsere Arbeit ist getan. Alles Weitere liegt in Gottes Hand...« Allein auf Gott jedoch wollte Ravenmoor sich nicht verlassen!
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11. »An diesem Ort bin ich vorher noch nie gewesen«, teilte Richard Jordan überwältigt mit, nachdem der Teleportationstunnel ihn in eine Welt entlassen hatte, die an keinem noch so entfernten Platz im Universum möglich schien. »Du glaubst, nach unserem kleinen Rundgang bereits alles gesehen zu haben, mein junger Freund?«, meldete sich väterlich-gemütlich der Schrein. »Nein, sicher nicht. Aber doch vieles.« Richard konnte die Datenflut, mit denen die Rezeptoren seiner Sinnesorgane das Gehirn fütterten, nicht mehr kontrolliert aufnehmen. So schob er auch den emporsteigenden Vorwurf an den Schrein, der ihn in die Klauen eines Meuchelmörders übergeben hatte, beiseite. Dieser Jokk-Ar hatte sich unter Garantie gut zu tarnen gewusst und damit selbst das Zentrumshirn der dunklen Zitadelle getäuscht. »Mein lieber Junge, große Wunder erwarten dich noch. Du hast bisher nur einen Bruchteil geschaut.« Jordan schenkte dem Schrein und auch den Priestern schon keine Beachtung mehr, denn zu sehr stand er im Bann seiner Umgebung. Hatte ihn bereits der Kontrollpunkt, an dem er das ägyptische Königspaar kennen gelernt hatte, fasziniert und überschüttet mit eigentümlichen und gleichfalls wunderlichen Dingen, so glaubte der junge Höllenjäger nun eine Grenze zu überschreiten, von der er sich in seinen abwegigsten Träumen niemals hatte vorstellen können, überhaupt in ihre Nähe zu gelangen. Das Schauspiel aus Farben und warmen Lichtreflexen wurde untermalt von den sphärischen Klängen eines hell klingenden Glockenspiels, dessen Töne wie frischer Tau auf seiner Haut perlten. Höchste Erregung ergriff von Jordan Besitz und forcierte sein Bestreben, mehr und immer mehr von dieser betörenden, anmutigen Atmosphäre in sich aufzunehmen. Er war kein einfacher, unbeteiligter Zuschauer - er fühlte sich als fester Bestandteil seiner neuen und zutiefst wunderbaren Umgebung. Sie weckte - und erzeugte - Glücksgefühle in ihm, die ein Mensch der Erde niemals in seinem Leben würde erfahren können. 106
Es als einen Orgasmus aller Sinne zu beschreiben kam der Sache momentan zwar nahe, würde sich allerdings nachträglich als unzureichende Analogie erweisen. Er sah dieses gewaltige Tor vor sich. Seine Abmessungen ließen sich nicht einmal schätzen, da es keine Bezugspunkte ihm bekannter Größenverhältnisse gab. Vor seinem geistigen Auge sah Richard gigantische Trägerraumschiffe dieses Tor passieren, um zu den entlegensten Winkeln weit entfernter Galaxien vorzustoßen. Viele hunderttausend Mann mochte das Heer der Layshi-Pan umfasst haben, das durch dieses urgewaltige Portal in die Schlacht gegen die Finstermächte aufgebrochen war. Der Kampfeswille und Heldenmut, gepaart mit dem majestätischen Blick auf die langsam über seinen Kopf dahin ziehenden Raumgiganten, lagen ungebrochen als feingeistige Schwingung in der Luft und berauschten Richard, machten ihn trunken wie vom Genuss leichten Alkohols. »Komm wieder zu dir, Junge!« Richard sah auf seinen Pupillen kleine Bläschen zerplatzen. Er eiste seinen Blick von den Wundern hoch oben los und schaute aus geröteten Augen direkt auf... »... Philip! Allmächtiger, ich kann's nicht fassen! Du bist es!« Jordan war in der Tat erschrocken und verblüfft zugleich. Hatte er sich eben noch mit dem Gedanken abfinden müssen, den Freund seines Vaters nie mehr wieder zu sehen, so stand dieser jetzt leibhaftig vor ihm: groß, hager, scharf geschnittenes Gesicht. Ein durchweg lebender, atmender Mensch. So, wie er ihn kannte. »Ich... weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Richard unbeholfen. »Lass dich mal anfassen, ob noch alles dran ist.« Dem Siebenundzwanzigjährigen war der Scherz locker über die Lippen gegangen, doch Ravenmoor zuckte unscheinbar zusammen und wich sofort einige Schritte zurück. Abwehrend hielt er eine Hand vorgestreckt. »Warte mal, Partner! So einfach ist das nicht.« Ein dunkles Summen mischte sich aufdringlich in die moderate Geräuschkulisse. 107
»Was meinst du?« Richard war stehen geblieben, musterte sein Gegenüber halb belustigt, halb irritiert. Unmerklich wurde der Summton um mindestens eine Oktave angehoben. »Du... du bist hier nicht sicher, Richard. Alles ist anders, als es scheint.« Wieso war Philip Ravenmoor plötzlich so nervös? Hatte Richard richtig beobachtet und die Gestalt seines Mentors für den kleinsten Teil eines Lidschlages zerfließen sehen? Zum ersten Mal wurde er sich dieses Summens bewusst, das jetzt dabei war, seinen stetig heller und höher werdenden Klang in seinem Hinterkopf zu vergraben. Richards Umgebung verblasste, wurde grau und unansehnlich; der farbenfrohe Zauber war vergangen. »Jetzt sag mir doch endlich, was los ist, Philip!« Schrill war der Ton! Schrill und drängend! Er signalisierte das blitzartige Dahinrieseln kostbarer Zeit. »Ich... nein... andere... kommen...« Zusammenhangloses Faseln von dem Mann, dem Richard bedenkenlos sein Leben anvertraut hätte. Wie seine Worte verlor nun auch die Gestalt des Logengesandten jegliche Form. Der Summton war markerschütternd grell und zu keiner Steigerung mehr fähig. Die Raumzeit wölbte sich gequält auf, perforierte den papiernen Schleier erstarrter Wirklichkeit. Der elektronische Nachhall, der der metaphysischen Druckwelle folgte, war schon für kein Lebewesen mehr hörbar! * Die Welle raste durch Richards Körper, dass er meinte, seine Gedärme auskotzen zu müssen. Er segelte ein Stück zurück und wurde von dem Leib eines hinter ihm stehenden Priesters aufgehalten. Die Umgebung gewann behände ihre schillernde Pracht zurück. Bei Richard dauerte es ein wenig länger, bis er seine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Du hast unglaubliche Torheit an den Tag gelegt, Jokk-Ar!, grollte es in den Köpfen aller Anwesenden. Jordan vermeinte das mentale 108
Timbre von Dakk-Ar Linh-Sch'in-Djuq herauszuhören. Dein naives, un-
besonnenes Handeln hätte nicht nur die Initiierung verhindert, sondern uns alle auslöschen können!
An der Stelle, an der vor Sekunden noch die vertraute Gestalt des Höllenjägers Philip Ravenmoor gestanden hatte, schälte sich der grobschlächtige Körper des Mörders Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am aus der immer noch wellenförmig bewegten Atmosphäre. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, gab sich Richard geschlagen. Der Abtrünnige, erklärte Dakk-Ar wie selbstverständlich, hat uns
mit seinem unvorhergesehenen Auftauchen überrascht und vorübergehend paralysiert. Er implizierte dir auf Basis deines Gedächtnisinhaltes die Begegnung mit deinem Freund und wollte dich fortlocken, um die Konstellation verstreichen zu lassen. Damit hätte er deine Aktivierung zum T'ott'amh-anuq für immer verhindert. Er war der vehementeste Gegner der Initiation. Auf seine Weise wollte er das Universum vor Schaden bewahren.
»Warum hat er dann sein Vorhaben nicht ausgeführt?«, wollte Richard wissen. »Ich hätte es nicht verhindern können.« Sprich!, donnerte es Jokk-Ar entgegen. Was hat dich bewogen,
deine schändliche Tat selbst zu vereiteln? Sollte doch noch dein Verstand die Oberhand gewonnen haben? Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am sackte ein Stück in sich zusammen. Kraftlos richteten sich die Spitzen seines Sinneskranzes auf.
Das war nicht mein Werk. Jemand anderes hat eingegriffen. Jemand, der nun die Fäden in den Händen hält... Ich habe auf ganzer Linie versagt. Ein Donnern ging von der höchsten Spitze des gebirgshohen Portals aus. Galaxienspiralen setzten sich wie Räder eines kosmischen Uhrwerks in Gang. Zeit und Raum pulsierten sichtbar. In der Ferne erschien ein humanoider Körper, der rasch anwuchs, so geschwind näherte er sich. Gutmütig und sonor verkündete der Schrein: »Der T'ott'amh-anuq ist eingetroffen.« Richard Jordan verschlug es glattweg die Sprache! 109
* Die Sekunden verstrichen viel zu schnell, in denen Richard Jordan einfach verstört und untätig dastand, während das Wesen zügig voranschritt. Es war eine Frau. Und sie war nackt. Und als sie so nahe an Richard heran war, dass er erste Einzelheiten ihres Gesichts erkennen konnte, da brauchte er keinen weiteren Beweis für seine Vermutung, die ihn schon beim ersten vagen Anblick beschlichen hatte. »Dominique...« Er würgte leicht an dem Kloß in seinem Hals. »Wie... kommst du... hierher?« Es war eine jener überflüssigen Fragen in einer ganzen Kette von überflüssigen Fragen, die er nacheinander hätte abwickeln können, ohne dass auch nur die Beantwortung einer einzigen das eigentliche Phänomen beleuchtet, geschweige denn erklärt hätte. Dass er sie trotzdem gestellt hatte zeigte deutlich sein Unvermögen, die Situation zu meistern. »Der T'ott'amh-anuq ist eingetroffen«, wiederholte der Schrein in seiner typisch süffisanten Art. Das ist vollkommen unmöglich! Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq zitterte. Dieser dort - sein rechter Tentakelstumpf deutete auf Richard - ist der
Auserwählte! In meine Aufzeichnungen... ... hat sich ein winzigkleiner Fehler eingeschlichen!, vollendete
Jokk-Ar Le-Ing-Sha'am. Er hatte seine Selbstsicherheit zurückerlangt. Jetzt sah er die Gelegenheit, sich zu rehabilitieren. Hättest du meinen
Berechnungen mehr Beachtung geschenkt, wäre dir die Anomalie aufgefallen. Doch du warst zu beschäftigt, meine Forschungsansätze zu bekämpfen, dass du die Wahrheit nicht sehen wolltest! Das... ist nicht wahr!, wollte Schi'in-Djuq sich verteidigen. Es war nur so... unwahrscheinlich. Wer hätte die Sequenz verändern können? Wer hat die Macht, in den ›Großen Plan‹ einzugreifen...? Und da dachtest du in deiner großen Weisheit, diese berechtigten Zweifel tot reden und den Ältesten belügen zu müssen!, fegte Jokk-Ar die kraftlosen Worte seines Kontrahenten beiseite wie welkes Laub der 110
Sturm. Du meintest, mich der Lächerlichkeit preisgeben zu müssen
und meine qualifizierten Aussagen zu leerem Gewäsch in den Köpfen unserer Amtsbrüder zu machen! Du redest wie ein Mensch, gab sich der Priester, der zuvor noch
seinen Sohn durch die Hand seines jetzigen Anklägers verloren hatte, eher zurückhaltend über den für sein Volk uncharakteristischen Emotionsschwall. Du weichst aus, weil du dich der Wahrheit nicht stellen willst!, ging das Bombardement der Vorwürfe weiter. Denn wenn du sie akzeptierst, ist dein Leben bedeutungslos geworden, weil »auf deinen Schultern nicht nur der Untergang deines eigenen Volkes lastet, sondern auch der des gesamten Universums!« Die Rage hatte den Renegaten die letzten Worte laut und hörbar schreien lassen. Unruhe breitete sich unter den Priestern aus. Ihre Körper blieben annähernd regungslos, während die Fadenkränze der Sinnesorgane sich hektisch bewegten. Es war der Älteste, der sein Augenmerk auf die beiden Menschen richtete, die sich gegenüberstanden, als würde das gegenseitige Erkennen ein Band erneuern, das sich vor langer Zeit schon gelöst hatte. Richard versank förmlich in den dunklen Augen der Französin, die nun unmittelbar vor ihm stand. Er tauchte tief ein in die kristallenen Untiefen ihres Blickes und... ... sprang mit einem Schmerzensschrei auf den Lippen vor ihr weg! »Was... was bist du?« Unverhohlene Furcht lag in Jordans Stimme. Dominique Beaumont ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Erst kontrollierte sie die Vorgänge am Himmelsportal, in dem sich auch weiterhin Sternspiralen, Nebel und Galaxiencluster verzahnten und verwoben. Aus unendlicher Ferne drang der Donner planetengroßer, einschnappender Bolzen an ihr Gehör. Bitte sage uns wer du bist und was du zu tun beabsichtigst, schickte der Älteste seine Gedanken dem Wesen im Menschenkörper entgegen. 111
»Ja!«, zischte Jokk-Ar böse. »Sag diesen Verblendeten, dass ich Recht hatte! Sag ihnen, dass sie auf mich hätten hören sollen!« »Sie hätten auf dich hören sollen«, antwortete die Französin wie gewünscht. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos. »Geändert hätte es jedoch nichts.« Du weißt anscheinend sehr genau, was du da tust, stellte der Älteste fest und wies mit seinen Greifarmen auf das riesige Tor. Du
schuldest uns immer noch eine Erklärung...
»Ich bin J'ott'at-oyyocch-anuq!« Die Stimme der Frau war rau und tiefdunkel. »Die Konstellation hat mich erweckt. Ich existiere einzig zu dem Zweck, den T'ott'amh-anuq zu vernichten.« Was dieser Teufel in Menschengestalt dann tat, konnte niemand sagen oder beschreiben, denn es war nichts zu sehen. Und doch waren sich alle - ob Mensch oder Priester - einig, dass es nur auf das Wirken der Französin zurückzuführen war, als sich Jokk-Ar Le-IngSha'am unaufhaltsam aufblähte, bis sein Hautgewebe dem inneren Druck nicht mehr standhalten konnte und der Körper zerplatzte wie ein reifer Pfirsich unter einem mit Wucht geführten Vorschlaghammer. Gleichmütig warf die Humanoide einen weiteren Blick auf das Portal. Sie schien zufrieden mit dem, was sie sah. Mechanisch wandte sie sich Richard Jordan zu. »Die Zeit ist gekommen...« * Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq sträubte sich innerlich vehement gegen die Beschuldigungen seines Widersachers. Es war ein verzweifelter Kampf, in dem sein Gemüt auf verlorenem Posten stand und seinem eigenen Verstand hoffnungslos unterlegen war. Und dieser trichterte ihm immer wieder dasselbe ein; es war die bitterste Medizin, die er jemals hatte schlucken müssen: ›Jokk-Ar, der Mörder deines Sohnes, hat recht! Er hat gesehen, was du nie sehen wolltest! Die Schuld liegt nun allein bei dir! Alle werden sterben, weil du zu eitel und selbstherrlich warst!‹ 112
Trotz seiner hohen spirituellen Reinheit rebellierte etwas in dem Priester, wollte die Endgültigkeit dieser Aussage nicht akzeptieren. Am Rande nur wurde er Zeuge der Unterhaltung des Ältesten mit diesem Menschenwesen und erst der grausame Tod Jokk-Ars läutete das Erwachen Schi'in-Djuqs ein, der in aller Klarheit erkannte, was die Frau vorhatte, als sie sich dem Auserwählten näherte. Der negative Pol wollte mit dem positiven verschmelzen - und beide würden in einer infernalischen Reaktion vergehen! Waren die Massen seines Körpers erst einmal losgehievt, gab es für den Priesterbruder kein Halten mehr. Mit den Augen seines Geistes sah er die gegensätzlich geladene Aura der Frau nach Richard tasten, sah er die Konstellation durch das Sternenportal in ihren Endzustand rücken, sah er sich sterben und das Universum leben. Beim Aufprall zerstob Dakk-Ar Linh-Schi'in-Djuq augenblicklich in seine atomaren Bestandteile. Und sah es anfangs noch aus, als habe seine Attacke nicht das Geringste bewirkt, so zeigte sich im Anschluss ein anderer Effekt. Dominique Beaumont verhielt im Schritt, schwankte. Das immer noch ausdruckslose Gesicht ließ nichts von dem Schrecken erahnen, der jede Zelle ihres Leibes ausfüllte, als sie zum Tor hinüber sah und die Rückkopplung bemerkte. Ihr Kopf kreiselte zu Richard herum, der von irrlichternden Entladungen niedergestreckt wurde und nicht mehr sah, wie ihre Züge zu einer grauenerregenden, zerfließenden Maske apokalyptischer Agonie wurden und ihre Existenz in kreischender Qual, die sich im Leerraum zwischen den Milchstraßen verlor, endete. *
Epilog I Die Initiation hatte nicht stattgefunden! Jedenfalls nicht so wie erwartet. Philip Ravenmoor, der im unförmigen Körper des Priesterjungen Sha'am-O steckte, ließ die noch frischen Erinnerungen wieder und wieder Revue passieren. Er hatte sich in die Weiten der Ebenen von 113
Col'Shan-duur zurückgezogen und kauerte im Schatten eines ausladenden Energiemeilers.
Das Tor war geöffnet, die Konstellation vollständig. Richards transgenetischer Code hätte aktiviert werden können, um aus ihm das mächtigste Instrument im Kampf gegen die negativen Kräfte zu machen. Dann taucht Dominique auf... Die Priester haben aus ihren Überresten die Gensequenz rekonstruiert. Sie war vollkommen identisch mit der von Richard. Es war also kein Zufall, dass das Mädchen uns über den Weg gelaufen ist. Ihre ›Programmierung‹ hatte Witterung aufgenommen. Meines Erachtens muss Mr. Denningham-Cartlewood Richards Transfer zur dunklen Zitadelle eingeleitet haben, völlig ahnungslos, dass er damit den J'ott'at-oyyocch-anuq und den T'ott'amhanuq zusammenführen würde. Ein Umstand, den man ebenso dem Siegelbewusstsein nicht anlasten kann; der Kammergeist war nicht in der Lage, die genetischen Codes voneinander zu unterscheiden. Daher hat er - gemäß seinen Vorgaben - beide Personen transportiert. J'ott'at-oyyocch-anuq, sinnierte Ravenmoor/Sha'am-O weiter, eine düstere, verdrängte Legende, der niemand die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hat. Man hat uns vor unendlich weit zurückliegender Zeit gewarnt, dass die negativen Kräfte auf die Ankunft des T'ott'amh-anuq vorbereitet sein würden, dass sie ein gleichwertiges Machtmittel bereithielten, um ihre Vorherrschaft in der materiellen Welt zu behaupten. Wir hörten hin, aber wir hörten nicht zu. Was haben wir letztendlich dem Schicksal abringen können? So gut wie nichts! Die energetische Rückkopplung aus der Konstellation, die Dominique Beaumont vernichtete, hat auch Richard getroffen. Der transgenetische Code ist zersplittert und über alle denkbaren Ebenen verstreut. Er enthält zwar ein exaktes Abbild der einzigartigen Konstellation, doch wenn er nicht wieder zusammengefügt werden kann, dann haben wir dieses Terrain für alle Ewigkeit an die Finsternis verloren. Und mein Freund? Wer denkt an ihn - außer mir? Nur für mich stellt er eine Bezugsperson dar und nicht ein Relikt, das zu funktionieren hat und vor dem man jetzt kopfschüttelnd steht, weil es kaputt ist. Was denken sich die höheren Mächte dabei, uns befangene und zer114
brechliche Wesen zu Aufgaben heranzuziehen, denen wir schlichtweg nicht gewachsen sind? Denken sie überhaupt oder greifen sie endlos weiter in den Fundus unerschöpflichen Menschenmaterials? Wenn ja, haben sie erreicht, was ohnehin bedeutungslos für sie ist: Richard wird Jahre zur Rekonvaleszenz brauchen; seine - und meine! - Heimat, die Erde, ist befreit von der Zysstho-Pest, doch auch beinahe entvölkert. Die chromatische Anhebung innerhalb der Ebenen-Oktave haben nur die wenigsten Menschen überlebt. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen werde... ein Sonderling unter den Priestern, ein Fremder im eigenen Körper. Vielleicht haben die negativen Kräfte doch noch ihren Sieg über mich davongetragen, denn schlimmer als das Vergessen in der Wiedergeburt ist das Gedächtnis in der bewussten Existenz... Das Dreibein stand auf und trat aus dem Schatten der riesigen Maschine. Der schwammige Untergrund unter seinen Gliedmaßen war selbst zwei Tage nach den katastrophalen Ereignissen noch nicht ganz zur Ruhe gekommen und bildete hier und da fingerdicke Fadenknäuel, die jedoch von Sha'am-O/Ravenmoor abglitten, da sie ihn nicht als Bedrohung einstuften. Die dunkle Zitadelle lebte! Jeder Quadratzentimeter davon. Alles war im Wandel begriffen - gestern wie heute. Und die Veränderungen hatten gerade erst begonnen! Die Gestalt des Priesterkindes wurde zu einem schmalen Strich am Horizont und verschwand schließlich im gelblichen Dämmerschein. Denn auf Col'Shan-duur wurde es nie richtig dunkel... *
Epilog II Südengland, 15. Oktober 2012 Lord Cyprus Denningham-Cartlewood hatte sich wie im Rausch befunden und auch jetzt war dieser Zustand noch nicht abgeklungen. Er nahm seine Umgebung auf eine Art und Weise wahr, die nur noch als vage Erinnerung in seinem Gedächtnis stand - ohne Apparaturen und 115
Sensoren, frei von Computerprogrammen, die vortäuschten, er selbst zu sein und ihn dabei doch nur unadäquat interpretierten. Etwas absolut Unvorstellbares war geschehen! Die Erde hatte sich verändert! Cartlewood wusste mit untrüglicher Sicherheit, dass die höheren Wesenheiten zugunsten der Menschheit eingegriffen hatten. Die Zysstho-Pest konnte ihnen nicht mehr gefährlich werden. »Bitte, kann mich jemand über den aktuellen Stand der Dinge aufklären.« Hatte er das selbst gesagt oder war ihm der Computer zu Hilfe gekommen? Sie können mich nicht hören, dachte er bei sich. Normalerweise hätte der Großrechner diesen Gedanken bereits in Audiosignale umgewandelt. Doch es war nichts zu hören.
Ich sehe Farben, kaleidoskopartig verschachtelt. Buntglänzende Strukturen und das Rauschen einer Brandung ist zu hören. Der Mann in der Plexiglasröhre zweifelte an der Echtheit dieser Sinneseindrücke. Ein Computerfehler war andererseits aufgrund der hohen Redundanzstufe so gut wie ausgeschlossen. Es dauerte eine geraume Weile, bis die schleierhaften Strukturen Form und Kontur bekamen, bis das Rauschen ausgepegelt war und Klangparameter erkennen ließ.
Mein Körper befindet sich auf einer Existenzebene, die es ihm erlaubt, die abgestorbenen Nerven und Sinnesorgane wie früher zu nutzen. Die Frequenzabstimmung ist noch zu ungenau. Langsam jedoch beginne ich zu erkennen... Es sollte bei der unscharfen Darstellung bleiben. Ein unwiderstehlicher Sog erfasste den neu erstarkten Leib des Industriellen und zog ihn fort von der Stelle, an der er in wenigen Sekunden eine entscheidende Feststellung gemacht hätte. Sein lang gezogener Schrei aus Enttäuschung und nackter Angst blieb ungehört. Selbst von jenen, die sich aus den verwässerten Farbflecken kristallisierten und sich als seine engsten Mitarbeiter entpuppten. Sie sprachen Unverständliches miteinander, wechselten hektische Blicke und ließen auch die flackernden Anzeigen diverser Konsolentafeln nicht aus den Augen. Schließlich kamen sie zur Ruhe. Ihre Blicke 116
blieben nach unten gerichtet auf eine mit unzähligen Schläuchen und Kabeln gespickte Glasröhre, in der ein Mensch lag, der seit Jahrzehnten nicht mehr aus eigener Kraft sehen, hören oder sprechen konnte. Nun hatte auch sein Herz aufgehört zu schlagen. Lord Cyprus Denningham-Cartlewood war tot. Endgültig. Kein noch so raffiniertes Computersystem würde in der Lage sein, seine Seele zu ersetzen. Die Gestalten lösten sich auf wie sich hoch kräuselnder Rauch im leichten Zug. Die Halle verschwand, das oberirdische Herrenhaus. Und auch die Natur gestaltete sich um, erschuf sich neu und anders. Die Wandlung war vollkommen. Verschwindend gering war die Menge dessen, was sich ihr entziehen konnte. Die Welt, wie wir sie kennen, gab es nicht mehr. Die neue Welt hingegen lockte schon, sie zu erforschen...
Ende
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