Atlan - König von Atlantis Nr. 455
Die dunkle Region von Horst Hoffmann
Jagd auf Lennia und Sator Synk
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Atlan - König von Atlantis Nr. 455
Die dunkle Region von Horst Hoffmann
Jagd auf Lennia und Sator Synk
Atlantis‐Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, ist wieder einmal mit unbekanntem Ziel unterwegs. Das Unheil, das Pthor vormals über unzählige Zivilisationen auf den verschiedensten Planeten gebracht hatte, scheint nun, seit dem Erreichen der Schwarzen Galaxis, auf den fliegenden Kontinent selbst zurückzuschlagen. Jedenfalls hatten die Pthorer in jüngster Zeit schwere Prüfungen über sich ergehen lassen müssen, denn ihre Heimat wurde das Ziel mehrerer Invasionen – zuletzt der des Duuhl Larx. Auch wenn die Truppen, die Duuhl Larx bei seinem überstürzten Abzug hatte zurücklassen müssen, längst keine Gefahr mehr darstellen, kommt Pthor gegenwärtig nicht zur Ruhe. Schuld daran ist Chirmor Flog, der seinerzeit mit dem Schwarzschock das Böse in die Große Barriere von Oth brachte. Und dieses Böse wirkt weiter fort und führt dazu, daß die Bewohner der Barriere, die Magier, nun über die Grenzen ihres Landes ausgreifen und die Herrschaft über das restliche Pthor beanspruchen. Im Zuge dieser neuen Auseinandersetzungen kommt es zur Jagd auf Leenia, die ehemalige Körperlose, und Sator Synk, den Mann von Orxeya. Die beiden, die zu den letzten Freiheitskämpfern gehören, sind auf der Flucht. Ihr Weg führt sie in DIE DUNKLE REGION …
Die Hauptpersonen des Romans: Leenia und Sator Synk ‐ Die ehemalige Körperlose und der Orxeyaner begeben sich in die Dunkle Region. Diglfonk ‐ Anführer der Robot‐Guerillas. Brantent ‐ Ein Valjare. Bördo ‐ Sigurds Sohn auf dem Weg zur FESTUNG. Sadak ‐ Ein alter Seher.
1. Bördos Weg zur FESTUNG – Kampf am Taamberg Das Feuer erhellte die Ruinen rund um den freien Platz und warf gespenstisch tanzende Schatten auf die Felsen, die die verfallene Siedlung umrahmten. Sie befand sich in einem wie mit Desintegratoren in das graue Gestein am Fuß des Goscholth, des kleinsten und südlichsten Gipfels des Taamberg‐Massivs, geschnittenen Kessel. Vor langer Zeit lebten hier Berserker‐ Nachkommen. Nun tanzten katzenartige humanoide Gestalten um die Flammen und den quaderförmigen schwarzen Stein, auf dem das Kind lag. Es war dunkelhäutig, vollkommen entkleidet, höchstens fünf Jahre alt. Es war kein Kind der Katzenmenschen. Die Augen waren ihm verbunden. Es konnte nicht sehen, wie die Katzenmenschen, monströse Geschöpfe mit Löwenmähnen, Schwänzen und Pranken, in denen primitive Speere mit Steinspitzen geschwungen wurden, sich näherten, die Speere auf seinen Körper herabsenkten, ohne es zu verletzen, und wieder zurücksprangen. Doch es hörte ihre Schreie, Knurr‐ und Zischlaute, die sich in ihrer Wildheit steigerten, je mehr die Tanzenden in Ekstase gerieten. Es hatte keine Kraft mehr, an seinen Fesseln zu zerren. Es weinte leise und schrie immer wieder Namen. Die Eltern des Kindes konnten nicht mehr antworten. Sie lagen tot neben dem Opferstein. Die Katzenmenschen verstummten, als einer von ihnen, der sich
bisher im Hintergrund gehalten hatte, in den Schein des Feuers trat. Er war etwa zwei Meter groß, als er sich nun hoch auf die Hinterbeine aufrichtete. Sein Kopf und die weit in den Nacken gezogene Mähne waren unter einer Holzmaske verborgen. Hinter zwei Schlitzen funkelten grüne Augen. Der Riese trat von hinten an das Kind heran. Nur das Weinen des Fünfjährigen war noch zu hören. Die Augen der Katzenmenschen waren jetzt auf den Maskenträger gerichtet, als er ein breites, aus Stein gehauenes Schwert hob und an den Hals des Kindes setzte. Es hörte auf zu weinen, als ob es spürte, daß alles Aufbäumen vergeblich war. Vollkommene Stille. Es war kalt. Nur das Feuer spendete Wärme. Die Nebel, die über dem Talkessel lagen, schimmerten weißlich. Der Maskenträger hob das Steinschwert mit beiden Pranken in die Höhe, schwang es über seinem Kopf, um es auf das Opfer herabsausen zu lassen. Sekundenlang verharrte er in dieser Haltung. Er stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, in das die umstehenden Katzenmenschen einfielen. Aus der Ferne mußte es sich wie das Brüllen hungriger Löwen anhören. Die Blicke der Katzenmenschen waren zum Himmel gerichtet, bis der Maskenträger verstummte. Er holte Schwung, um den tödlichen Hieb zu führen. Seine Arme waren über den Kopf geworfen, als der Pfeil sich in seine mächtige Brust bohrte. Der Maskenträger ließ das Schwert nicht los. Das Gewicht riß ihn nach hinten. Taumelnd stürzte er zu Boden. Die Maske zersplitterte. Augenblicke lang standen die Katzenmenschen wie erstarrt um ihren toten Anführer herum. Das Entsetzen lähmte sie. Als der erste von ihnen die Fäuste ballte und einen furchtbaren Schrei ausstieß, kam Leben in die Bestien. Sie vergaßen das Kind auf dem Opferstein und packten ihre Speere fester. Sie schwärmten aus, um den unbekannten Todesschützen zu finden, doch auf den umgebenden Felswänden, von wo der Pfeil abgeschossen worden sein mußte,
war nichts zu sehen. Die Nebel boten jedem Schutz, der sich im Dunkel der Nacht anschleichen wollte. Sie begannen zu toben, liefen wie von Sinnen und laut fauchend im Talkessel umher und sprangen wütend die Felswände an. Speere zerbarsten am Gestein, wenn die tanzenden Schatten anstürmende Gegner vorgaukelten. So blind vor unbändigem Zorn waren die Katzenmenschen, daß sie den Schützen erst sahen, als er vor dem Opferstein stand, den Bogen über dem Oberkörper und ein im Schein des Feuers blitzendes Schwert in der Hand. Auch er war fast noch ein Kind. * »Zurück mit euch!« schrie der Knabe. Er duckte sich, als er sah, wie einer der Katzenmenschen seinen Speer schleuderte und auf ihn zustürzte. Das Wurfgeschoß verfehlte den Jungen nur knapp. Er sprang zur Seite und wich dem Angreifer geschickt aus. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie weitere Katzenmenschen sich näherten. Derjenige, der den Speer geschleudert hatte, drehte sich im Sprung und war wieder heran, kaum daß der Knabe festen Stand hatte. Die Hand mit dem Schwert zuckte vor, und die metallene Klinge bohrte sich in die Brust des Katzenartigen. Blitzschnell zog der Knabe sie heraus, fuhr herum und empfing die nächsten wild fauchenden Angreifer. Er schwang seine Waffe wie ein erfahrener Kämpfer, wehrte Speere ab und ignorierte die blitzenden Augen und den stinkenden Atem, der ihm entgegenschlug. Fünf Gegner. Der Knabe tötete zwei von ihnen innerhalb weniger Sekunden. Er bewegte sich mit einer Sicherheit und Schnelligkeit, die in krassem Gegensatz zu seinem schmächtigen Körper standen. Ein Blick zurück auf die Leichen neben dem Stein genügte, um ihn voranzutreiben. Die Katzenartigen sprangen. Einer war schon über dem Knaben,
als sich dessen Schwert bis zum Heft in seine Brust bohrte. Die Wucht des fallenden Körpers riß es ihm aus der Hand. Er war waffenlos, und die Bestien schleuderten gleichzeitig ihre Speere. Der Knabe fing einen von ihnen im Flug auf, drehte ihn um, schneller als die Augen der Katzenmenschen die Bewegung verfolgen konnten, und schleuderte ihn zurück. Einer der beiden verbliebenen Gegner sank tödlich getroffen zu Boden. Mit bloßen Händen erwartete der schmächtige Kämpfer den letzten Angriff. Doch der Katzenartige stieß ein markerschütterndes Fauchen aus, fuhr herum und rannte brüllend in die Nacht. Der Knabe sah ihn, wie er oben auf den Felsen auftauchte und im Nebel verschwand. Bördo rang nach Luft. Sein Atem ging schwer. Er drehte den neben ihm liegenden Toten auf den Rücken und zog sein Schwert aus dessen Brust, wischte es an der Mähne des Katzenartigen ab und durchsuchte die Ruinen, bis er sicher sein konnte, daß nur noch er und das an den Stein gefesselte Kind im Talkessel waren. Er blickte an sich herab. Erst jetzt sah er, daß der Katzenartige, der ihn angesprungen hatte, mit einer Krallenhand sein Stoffwams aufgeschlitzt hatte. Blut sickerte dunkel aus vier langen Striemen in seinem linken Oberarm. Bördo riß den ganzen Ärmel des Wamses ab und wickelte den Stoff um die Wunde. Er biß die Zähne zusammen. Die Wunde brannte jetzt wie Feuer. Bördo hatte keine Zeit zu verlieren. Die Katzenartigen konnten zurückkommen. Der Entkommene konnte Verstärkung herbeiholen. Bördo war den Katzenmenschen schon einmal begegnet, gar nicht so weit von hier. In den Schluchten und den verlassenen Berserkerstädten um den Taamberg herum hatten viele Exoten Schutz gesucht, die aus der Senke der verlorenen Seelen entkommen waren. Bördo versuchte, nicht darüber nachzudenken, daß sie im Grunde nichts anderes taten als er: Sie versuchten in einer unheimlich gewordenen Umwelt zu überleben. In den letzten beiden Tagen hatte Bördo vieles gesehen, das ihm unverständlich war. Pthor war
wie verhext. Je schneller er vorankam, je eher er die FESTUNG erreichte, um so besser. Bisher hatte er von den Magiern, die seine Heimat jetzt beherrschten, nur gehört. Er hatte keine große Lust, einem von ihnen zu begegnen. Bördo hatte zu kämpfen gelernt und scheute keinen Kampf gegen reale Gegner, aber mit Magie wollte er nichts zu tun haben. Er konnte das Kind, dessen Eltern erschlagen neben dem Opferstein lagen, nicht schutzlos zurücklassen. Er durchschnitt die Stricke, mit denen es an den Stein gefesselt war, und nahm ihm die Binde von den Augen. Das Kind weinte nicht mehr. Sein Blick war starr auf Bördo gerichtet. Vermutlich sah es ihn in diesen Augenblicken gar nicht bewußt. Bördo war zu spät gekommen. Das Gebrüll der Katzenmenschen hatte ihn angelockt, doch als er den Talkessel erreichte, waren die Eltern des Kindes schon tot gewesen, sinnlos geopfert, weil die Bestien sich die Gnade derjenigen erkaufen wollten, die Pthor in ein Tollhaus verwandelt hatten. Bördo hatte in einer der Ruinen Tücher gesehen. Nun lief er dorthin zurück, holte einige und hob das Kind vom Opferstein, wo es im Blut seiner Eltern gelegen hatte. Er wischte es ab und wickelte die Tücher um den zitternden kleinen Körper. Ein Knabe, dachte Bördo. Vermutlich mit seinen Eltern aus einem der Eingeborenendörfer im Blutdschungel geraubt und von Piraten an die Exoten verkauft. Bördo nahm einen der Stricke und band ihn so um die Hüfte des Kindes, daß die Tücher am Körper hielten. Immer wieder sah er sich um und lauschte. Noch war alles still. Vielleicht war der Katzenartige nicht geflohen, sondern lauerte in der Dunkelheit auf eine Gelegenheit, seine Artgenossen zu rächen. Der Blick des Kindes veränderte sich. Seine Züge entkrampften sich, und nun begann es wieder zu schreien. Bördo kniete sich vor ihm nieder und redete beruhigend auf es ein. Dabei kam ihm zu Bewußtsein, daß er alles andere als einen vertrauenerregenden
Anblick bieten mußte. Seine Haare hingen strähnig über die Augen und weit über die Schultern. Sein Gesicht war voller Narben, und seine Bekleidung bestand aus dem schmutzigen Stoffwams und einem Lendenschurz aus Fellen, die von einem breiten ledernen Gürtel gehalten wurden, in dem das Schwert steckte. So sah der Sohn des stolzen Sigurd aus! Bei dem Gedanken erschauerte Bördo. Drei Männer, denen er auf dem Weg zur FESTUNG begegnet war, hatten mit seinem Schwert Bekanntschaft gemacht, weil sie seinen Vater beschimpft und einen Feigling genannt hatten. Er war verwildert. Die Monate, die er unter Piraten gelebt hatte, hatten ihn geprägt. Die ständige Flucht, der ununterbrochene Kampf ums Überleben. »Sei still«, flüsterte er. Seine Finger fuhren über das Gesicht des Kindes und wischten die Tränen fort. Bördo versuchte, seine Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen. »Kannst du mich verstehen? Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Es ist vorbei. Die Bestien sind tot.« Der Knabe hörte auf zu weinen und sah ihn aus großen Augen an. Dann sah er sich ängstlich um. Bördo verfluchte sich selber dafür, daß er ihn nicht schnell von hier fortgebracht hatte. Das Kind sah die Leichen und schrie von neuem. Es würde alle Kreaturen der Nacht anlocken, die sich in der Nähe herumtrieben. Bördo nahm das Kind auf den Arm, hob mit der freien Hand einen der herumliegenden Speere auf und verschwand von der Stätte des Grauens. Es bereitete Mühe, mit dem Knaben auf dem Arm aus dem Talkessel zu steigen, doch schließlich hatte er die Felswand, an der er abgestiegen war, erklommen und suchte sich seinen Weg durch den Nebel. Er fand eine Felsnische. Dort, wo der Talkessel lag, schien der Nebel rötlich zu glühen. Wer immer durch den Kampflärm und das Geschrei des Kindes angelockt worden war, würde sich dorthin wenden. Vorausgesetzt, Bördo konnte den Knaben endlich zum Schweigen
bringen. Er betrat die Nische mit gezogenem Schwert. Es war stockdunkel. Als er sich davon überzeugt hatte, daß kein anderer vor ihm hier Zuflucht gesucht hatte, setzte er sich hin. Das Kind weinte jetzt leiser. Wieder redete Bördo auf es ein. Er wußte, daß es den Anblick seiner getöteten Eltern in seinem ganzen Leben nicht vergessen würde, doch es mußte zur Ruhe kommen, wenn sein Leben nicht noch in dieser Nacht zu Ende gehen sollte. »Verstehst du mich?« fragte Bördo wieder. Sein Mitleid mit diesem armen Geschöpf wurde stärker als die Vorsicht. Ja, es sollte weinen, so wie er geweint hatte, als er in die Hände der Flußpiraten fiel und unsagbare Schrecklichkeiten mitansehen mußte. Nach einer Stunde lag das Kind erschöpft in seinen Armen. Es dämmerte bereits. Nach einer weiteren Stunde war es hell genug, um einigermaßen gut sehen zu können. Die Nebel lösten sich allmählich auf. Nichts deutete darauf hin, daß sich jemand in der Nähe befand. Wieder sah Bördo den Blick des Kindes auf sich gerichtet. Er versuchte zu lächeln. »Es war alles ein böser Traum«, hörte er sich sagen. »Du mußt ihn vergessen, hörst du?« Keine Antwort, aber der Knabe fing auch nicht gleich wieder zu schreien an. Er blickte Bördo nur an. »Verstehst du, was ich sage?« Jetzt nickte das Kind langsam. »Wer bist du?« fragte Bördo. »Du kommst aus dem Dschungel?« »Jassak und Perlk«, kam es ganz leise über die kleinen Lippen. »Wo sind …« Das Kind schloß die Augen. Seine Finger gruben sich in Bördos Arme. »Sie sind tot! Sie …!« »Ruhig.« Bördo legte sanft einen Finger über den Mund des Knaben. »Du hast es geträumt.« Verdammt, was sollte er ihm denn sonst sagen? Er sprach Pthora, mit einem Akzent, den Bördo kannte. Er stammte also tatsächlich aus dem Blutdschungel. Bördo glaubte
den Stamm zu kennen, dem er angehörte. Doch diese Wilden verließen den Dschungel nie. Widerwillig log Bördo dem Kind etwas vor, sagte ihm, daß Jassak und Perlk es vorübergehend in seine Obhut gegeben hatten. Nur so konnte er es dazu bringen, ihm seine Geschichte zu erzählen. Bördo fluchte innerlich. Warum mußte ihm das passieren? Hätte er das Gebrüll aus dem Talkessel und die Schreie nicht einfach ignorieren und weiterziehen können? Er hatte auch ohne das Kind Schwierigkeiten genug. Nun mußte er zusehen, daß er irgend jemanden fand, der es aufnahm und sich um es kümmerte. Als er Stunden später mit Gorlk, wie der Knabe hieß, aufbrach, hatte er die Bestätigung für seinen Verdacht erhalten. Piraten, deren Schiffe von den Scuddamoren oder Trugen versenkt worden waren, waren in den Blutdschungel eingefallen und hatten den ganzen Stamm niedergemacht, mit Ausnahme derjenigen Eingeborenen, die sie mitgenommen hatten, um sie andernorts als Sklaven zu verkaufen. Wieso Gorlk und seine Eltern dabei ausgerechnet an die Katzenartigen geraten waren, blieb unklar. Bördo trug den Knaben, wenn dieser nicht mehr laufen konnte. Gegen Mittag erreichten sie die Steppe. Das Kind brauchte Wasser und etwas zu essen. Auch Bördo hatte eine trockene Kehle. Wenn er niemanden fand, der ihm das Kind abnahm, würde er es bis zur FESTUNG mit sich schleppen müssen. Nachdem er seine Geschichte kannte, fühlte er sich noch mehr für es verantwortlich als ohnehin schon. In gewisser Hinsicht teilten beide das gleiche grausame Schicksal, nur daß das des Knaben noch schlimmer war als Bördos. Bördo hatte einen Vater. Spätestens in der FESTUNG würde er Gorlk die Wahrheit über den Tod seiner Eltern sagen müssen. Im Augenblick sah es ganz danach aus, daß Gorlk an einen Alptraum glauben wollte, denn er stellte immer wieder Fragen nach Jassak und Perlk. »Ich bringe dich in Sicherheit«, sagte Bördo, mehr zu sich selbst als
zu Gorlk. Seine Miene wirkte versteinert – das Gesicht eines Knaben, der acht Jahre alt gewesen war, als er von jener schwarzen Gestalt, die sich »Sigurds Schatten« genannt hatte, aus dem Haus seines Großvaters entführt worden war. Damit hatte sein langer Leidensweg begonnen. Bördo hatte die Tage, Wochen und Monate nicht gezählt, die seither vergangen waren. Wie alt war er nun? Elf Jahre? Zwölf? Er wirkte älter, war hager, aber ungemein kräftig. Der Blick seiner blauen Augen war ungebrochen. Nie hatte er sein Ziel aus den Augen verloren. Nun war er ihm näher als jemals zuvor. Bis zur FESTUNG waren es für ihn allein noch zwei bis drei Tagesmärsche – für ihn und Gorlk ein oder zwei Tage mehr, falls sie unbehelligt blieben. Der Gedanke an Sigurd ließ Bördos Herz höher schlagen. Nur die Besessenheit von der Idee, seinem Vater endlich gegenüberstehen zu können, hatte ihm immer wieder die Kraft gegeben, selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen nicht den Mut zu verlieren und sich seinen Weg freizukämpfen. Sein Vater war kein Feigling! Sigurd war ein Held, der Sohn Odins! Wahrscheinlich glaubte er längst nicht mehr daran, seinen Sohn eines Tages vor sich zu sehen. Was würde er sagen, wenn Bördo nun vor ihn hintrat – ein Wilder. »Komm!« knurrte Bördo und nahm Gorlk wieder auf den Arm. Er mußte Wasser und Nahrung finden, nur das zählte im Augenblick. Seine Lederbeutel waren leer, der Proviant aufgezehrt. In der Ferne nahm er eine Bewegung wahr. 2. Am Ufer des Xamyhr – Leenia, Sator Synk und dreizehn Roboter »Diglfonk!«
Sator Synk, Held der Schlacht gegen die Krolocs und Drachentöter, stand in Feldherrenpose am Ufer des Flusses und wartete, bis der eiförmige Roboter mit der rotierenden Scheibe und mehreren verschiedenartigen Extremitäten herangeschwebt war. Synk war schlechter Laune, und wie immer waren es seine Robot‐ Guerillas, an denen er sich abreagierte. Diglfonk landete einen Meter vor seinem Gebieter. »Verfüge über uns, Herr!« Synk zuckte zusammen. Fast entschuldigend blickte er zu der Frau im roten Anzug hinüber, die etwas abseits stand und ungeduldig in die Ferne blickte, wo sich auf der anderen Seite des Flusses eine nebelhafte dunkle Wand abzeichnete. Leenia wollte in die Dunkle Region. Was sie dort zu finden hoffte, verstand Synk nicht ganz. Er war mit ihr gezogen und hatte Kolphyr, Koy, den Fenriswolf und Chirmor Flog verlassen, als diese sich auf den Weg zum Wasserschloß Komyr machten. Manchmal fragte er sich, warum er sich von ihr hatte überreden lassen. Wie sehr hatte er danach gefiebert, zur FESTUNG zu gehen und den arroganten Odinssöhnen einen Denkzettel zu verpassen. Statt dessen stand er nun mit knurrendem Magen hier am Ufer des Xamyhr. Weit und breit war nichts von Trugen zu sehen, mit denen er es aufnehmen konnte. Überhaupt war während des ganzen Weges hierher nichts Aufregendes passiert, außer daß Pthor vor fünf Tagen erneut abgebremst hatte und nun in der Nähe einer Sonne stand. Doch noch waren keine neuen Besatzer erschienen. Zumindest hatten Synk und Leenia nichts davon merken können. Synk kam sich überflüssig vor. Auf Pthor trieben sich noch Trugen herum, und Kolphyr hatte von einem bevorstehenden Angriff der Magier gesprochen. Auch hiervon hatte Synk noch nichts gemerkt, aber wenn in anderen Teilen Pthors gekämpft wurde, war sein Platz dort und nicht hier. Andererseits wollte er Leenia nicht allein lassen. Synk war alles andere als begeistert von der Aussicht, sich in die Dunkle Region zu
begeben. Die Dunkle Region war nichts für Pthorer, die ihre Sinne beieinander hatten. Aber Leenia war nicht von ihrem Vorhaben abzubringen. Und sie konnte so oft sie wollte versichern, daß sie bereits im Zentrum dieses finsteren Landstrichs gewesen sei und überlebt hatte – Synk wußte immerhin soviel von ihr, daß sie die Kräfte und Fähigkeiten, die sie einst besaß, fast völlig verloren hatte. Sie konnte sich nicht mehr einfach in Luft auflösen und ihre Gegner ins Leere rennen lassen, wenn sie in Gefahr geriet, und das Verschleudern von Blitzen aus ihren Augen brachte sie nun nach ihrem eigenem Bekunden an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs. Nein, sagte Synk sich immer wieder, sie brauchte jemanden, der sie beschützte. Jemanden wie ihn. Soviel er verstanden hatte, wollte sie etwas finden, das es ihr ermöglichen sollte, wieder in die Höheren Welten zu gelangen. Irgendwelche Hinterlassenschaften eines uralten, längst verschwundenen Volkes. Synk wurde nicht schlau aus ihr. Einerseits war sie froh darüber, ihre Freiheit erlangt zu haben, zum andern aber hing sie immer noch an diesen Höheren Welten. Was, so fragte Synk sich immer wieder, sollte dort so großartig sein, daß sie sich nicht davon lossagen konnte? Insgeheim hoffte er, daß sie keinen Erfolg haben würden, aber das stand auf einem anderen Blatt. Es hatte etwas damit zu tun, daß der bärtige Kämpfer aus Orxeya errötete, wenn Leenia ihn länger ansah, und ins Stottern geriet, wenn er ihr dann etwas sagte. Sator hätte es niemals irgend jemandem gegenüber zugegeben, aber für ihn hatte Leenia das gewisse Etwas, das er bei den Frauen in Orxeya so lange vergeblich gesucht hatte. Gandel Gars! Bei dem Gedanken an sie lief es ihm eiskalt über den Rücken. Suchten sie, Braker Hoyt, sein mißratener Vetter und die anderen sieben Orxeyaner, immer noch nach ihm? »Verfüge über uns Herr!«
Diglfonks Kunststimme riß ihn aus seinen Gedanken. Es hatte keinen Zweck, es länger hinauszuschieben. Sie mußten den Xamyhr überqueren und in die Dunkle Region vorstoßen. Synk hatte einmal »Ja« gesagt (obwohl er damals nüchtern gewesen war) und konnte sich nun keinen Rückzieher erlauben, wollte er nicht vor Leenia als Feigling dastehen. Er setzte eine grimmige Miene auf, gebot Diglfonk zu schweigen und blickte sich noch einmal nach allen Seiten um. Rechts von ihm hatte sich in einigen Kilometern Entfernung die Brücke befunden, über die die von den körperlosen Bewußtseinen befallenen Pthorer und Trugen in die Dunkle Region marschiert waren. Leenia, er und die Roboter hatten sie zerstört vorgefunden. Sie waren weiter flußaufwärts gezogen, nach Nordwesten, um eine seichte Stelle für den Übergang zu finden, doch das Wasser war überall reißend. Es blieb nur eine Möglichkeit. Mit gerunzelter Stirn versuchte Synk weiter flußaufwärts etwas zu erkennen. Dort standen Hütten, aber noch rührte sich nichts. Ein Dorf der Valjaren, hatte Diglfonk erklärt, der besser über die Geographie Pthors informiert war als er selbst. Ein harmloses Völkchen, das seine Dörfer und Felder an den Ufern des Flusses angelegt hatte. Rauhe Gesellen, aber friedlich, solange man sie in Ruhe ließ. Allerdings mußten auch sie durch die Ereignisse der letzten Zeit verunsichert sein. Möglicherweise hatten sie die kleine Gruppe schon aufs Korn genommen und warteten auf den günstigsten Augenblick zum Losschlagen. Und wenn schon! Synk packte den Griff seines Schwertes. Sollen sie nur kommen! Eine kleine Rauferei wäre jetzt so recht nach meinem Geschmack! »Was ist nun?« fragte Leenia ungeduldig. Sie stand plötzlich neben Diglfonk und blickte Synk herausfordernd an. »Wir können nicht hinüberschwimmen.« Synk schluckte und versuchte überlegen zu lächeln. »Deshalb rief ich Diglfonk zu mir.« Der Held von Pthor räusperte
sich. »Diglfonk. Ihr werdet uns über den Fluß tragen. Eins und Zwei nehmen Leenia, Drei und Vier schweben mit mir ans andere Ufer. Die anderen nebenher. Du achtest darauf, daß es keine Pannen gibt.« Er hob die Hand, als Diglfonk zu den in etwa zwanzig Meter Entfernung wartenden anderen zwölf Robotdienern schweben wollte. »Nein, warte. Zehn bis Zwölf sollen tauchen und Fische fangen, während wir den Fluß überqueren. Wir haben Hunger.« Diglfonk, inzwischen wieder Kommandant der Robot‐Guerillas, gab den Befehl lautlos weiter. Die Maschinen hoben vom Boden ab und schwebten heran. Eins und Zwei – in Wirklichkeit hießen sie Gykogsbeeden und Jinterhaleenen, doch Synk brachte die Namen nicht über die Zunge – fuhren vorsichtig einige Tentakelarme aus und legten sie um Leenias Oberkörper und Beine. Drei und Vier taten das gleiche bei Synk. Sie warteten auf sein Kommando. »Hebt jetzt ab, aber vorsichtig! Zerreißt uns nicht!« Er und Leenia wurden gleichzeitig in die Lüfte gehoben. Drei Meter über den Fluten des Xamyhr wurden sie langsam über den Fluß getragen. Synk drehte den Kopf nach unten und sah befriedigt, wie drei Roboter sich ins Wasser sinken ließen. Nur eine Minute später befanden sich Synk und Leenia über dem anderen Ufer. Hatte der Orxeyaner anfangs ein wenig Angst vor der ungewohnten Art der Beförderung verspürt, so empfand er es jetzt als äußerst angenehm, getragen zu werden, anstatt zu marschieren. Als die Roboter sie absetzen wollten, rief er: »Diglfonk! Sie sollen uns weitertragen!« Zu Leenia gewandt, fügte er schnell hinzu: »Das heißt, wenn du einverstanden bist …« »Ich habe nichts dagegen, Sator!« »Du hast gehört, was Leenia sagte, Diglfonk!« »Verfüge über uns, Herr!« Synk biß die Zähne aufeinander und warf Diglfonk eine Reihe von undefinierbaren Blicken zu. Er konnte es nicht mehr hören! Die Roboter trugen sie weiter. Es ging über hohes Gras. Noch war
die dunkle Wand weit. Eine Buschgruppe, und dann … Synk hatte sich gerade umgedreht, um nach den drei Tauchern zu sehen, als er das Gebrüll hörte. Er fuhr so heftig herum, daß Vier, der seinen Oberkörper hielt, ihn losließ, so daß Sator Synk mit nach unten hängendem Kopf sah, wie mehrere Gestalten hinter den Büschen hervorstürmten. Sie hatten lange Stangen und Heugabeln in den Händen, mit denen sie nach den Robotern, Leenia und Synk schlugen und stießen. Bevor Vier ihn wieder packen konnte, erhielt Synk einen Schlag gegen den Kopf und sah Sterne. »Höher!« brüllte er. Um die Hand, die nach dem Schwert greifen wollte, wickelte sich einer der Tentakel von Vier. Synk fluchte hemmungslos. »Höher, sage ich! Diglfonk! Haltet uns diese Kerle vom Hals! Es sind Valjaren! Verdammt, sie müssen uns die ganze Zeit über beobachtet haben!« Ein weiterer Schlag streifte ihn am Kopf, bevor er mit einem Ruck in die Höhe gerissen wurde. Doch nicht hoch genug. Zu seinem Entsetzen mußte er mitansehen, wie Eins und Zwei mit Leenia langsam tiefer schwebten. »Diglfonk!« Von allen Seiten stürmten die Valjaren nun heran. Ihre Schreie hallten in Synks Ohren. Es wurden immer mehr. Synk erkannte auch Frauen unter ihnen. »Es tut mir leid, Herr«, kam es vom Kommandanten der Robot‐ Guerillas. »Aber irgend etwas nimmt uns die Energie. Wir müssen landen!« Zwei Valjaren, die versuchten, Synk mit ihren Stangen zu erreichen, sprangen vor Schreck einige Meter zurück, als Synk zu brüllen begann. * Was Synk über die Valjaren wußte, stimmte in etwa. Sie lebten an
den Ufern des Xamyhr und waren ein an sich harmloses Völkchen von Ackerbauern. Sie waren humanoid, untersetzt und vierschrötig, nicht gerade besonders intelligent, ihr Horizont reichte quasi bis zum nächsten Feldrain und nicht viel weiter. Wer sie in Ruhe ließ, hatte von ihnen nichts zu befürchten. Sie klebten an ihrer Scholle und unternahmen in der Regel keine langen Wanderungen, obwohl jeder Valjare davon träumte, einmal in die Dunkle Region vorzustoßen und dort nach dem Goldenen Vlies zu suchen, von dem sie zwar keine rechte Vorstellung hatten, das für sie aber der größte Schatz war, den sie sich überhaupt vorstellen konnten. Einige Valjaren hatten das Wagnis auf sich genommen und sich auf den Weg gemacht. Niemand von ihnen war jemals zurückgekehrt, falls er nicht auf halbem Weg, als er die Ausstrahlung der Dunklen Region spürte, kehrtgemacht hatte. Natürlich hatten auch sie davon gehört, daß es Atlan, der vor langer Zeit mit seinen Freunden in einem ihrer Dörfer, Florgst, aufgetaucht war, gelungen sein sollte, das Goldene Vlies zu finden und mitzunehmen. Doch glauben wollte niemand daran. Das Goldene Vlies brachte dem, der es besaß, unbegrenzte Macht, so hieß es. Atlan aber war es nicht gelungen, Pthor vor den Scuddamoren und den Trugen zu schützen. Mehr noch: Er war geflohen, wie die Odinssöhne überall hatten verbreiten lassen. Nein, die Valjaren glaubten fest daran, daß sich das Goldene Vlies noch immer im Zentrum der Dunklen Region befand. Das Schicksal hatte den Valjaren übel mitgespielt. Nicht genug damit, daß die Flutkatastrophen viele Dörfer und Felder zerstört hatten. Auch die Besatzer hatten wenig Rücksicht auf sie genommen. So waren sie mißtrauisch allen Fremden gegenüber geworden. Die Besatzer hatten ihren Zorn zu spüren bekommen, was dazu geführt hatte, daß einige Dutzend Valjaren in die Senke der verlorenen Seelen geschafft worden waren, wo sie entweder bereits abtransportiert waren oder zusammen mit anderen Gefangenen noch darauf warteten, von Transportschiffen abgeholt
zu werden. Dann, nachdem die Trugen nach dem Weiterflug Pthors verschwunden und nur einige offenbar Wahnsinnige über den Xamyhr gezogen und nach wenigen Tagen wieder zurückgekehrt waren, war Pthor nun erneut zum Stillstand gekommen. Die Begleitphänomene waren mittlerweile jedem Pthorer wohlbekannt, und selbst die Stämme im Blutdschungel wußten, daß ein neuer Aufenthalt nichts Gutes verhieß. Die Valjaren waren entschlossen, ihre Dörfer und Felder diesmal noch energischer zu verteidigen und nicht erst abzuwarten, bis die erwarteten neuen Besatzer heran waren. Gruppen schwärmten aus und warteten an den Flußufern darauf, daß die neuen Aggressoren sich zeigten. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis eine dieser Gruppen Fremde kommen sah. Brantent, der Anführer der zwanzig Valjaren, wies seine Begleiter an, sich hinter einer in der Nähe stehenden Buschgruppe zu verstecken und zu beobachten. Die Fremden erreichten den Xamyhr – vom Standort der Valjaren aus gesehen das gegenüberliegende Ufer – und schienen unentschlossen zu sein. Ein bärtiger Mann, eine schlanke junge Frau und dreizehn Roboter. Auch die Valjaren hatten dann und wann schon einmal Robotdiener gesehen, doch sie kamen gar nicht erst auf den Gedanken, daß es sich bei diesem bunt zusammengewürfelten Haufen um Pthorer handeln könnte. Die Besatzer sahen jedesmal anders aus. Für Brantent stand fest, daß er es mit einem Vorauskommando zu tun hatte, das die Lage am Xamyhr erkunden und dann Nachricht an die Hauptmacht der Besatzer geben sollte. Er wollte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Als die Roboter über den Fluß schwebten und dabei ihre Begleiter trugen, wartete Brantent noch einige Minuten, bis sie nahe genug heran waren. Dann befahl er den Angriff. Die langen Holzstangen über den Köpfen schwingend, brachen die zwanzig Valjaren, etwa 1,70 Meter hohe Gestalten, aus dem
Gebüsch und stürzten sich schreiend auf die vermeintlichen Besatzer. Daß diese schwebten und nicht gingen, sahen sie als ein weiteres Zeichen dafür an, daß es sich um Aggressoren handelte, die von ihren »Vorgängern« vor dem Zorn der Valjaren gewarnt worden waren. Brantent rannte an der Spitze seiner Gruppe und erwischte den Bärtigen mit seiner Stange am Kopf. Sein Zorn steigerte sich noch, als die Fremden schnell etwas höher stiegen und so für die Valjaren unerreichbar waren. Aber sie flohen! Sie schwebten auf die Dunkle Region zu! Wenn er sie schon nicht verprügeln und damit ein für allemal von dem Gedanken kurieren konnte, sich über die Felder herzumachen, wollte er sie wenigstens in die Flucht schlagen. Er schrie sich fast die Seele aus dem Leib, und als seine Stange einen der Roboter traf, ging sein Fluchen in wildes Triumphgeschrei über. Alle Valjaren um ihn herum, Frauen wie Männer, stürzten sich mit neuem Schwung auf die Fremden, als sie merkten, daß die Roboter an Höhe verloren und zur Landung ansetzten. »Auf sie!« brüllte er. »Tötet sie nicht, aber verpaßt ihnen einen Denkzettel, den sie nie vergessen werden!« * Synk landete unsanft auf dem Rücken, als Drei und Vier ihn urplötzlich fallen ließen. Neben ihm trudelten sie ebenfalls ins Gras. Alle Roboter stürzten ab. Wo sie landeten, blieben sie wie desaktiviert liegen, alle Tentakel eng um den Körper gelegt. Und die Valjaren waren überall. Synk sprang mit einem wilden Schrei auf, riß sein Schwert aus der Scheide und schlug dem erstbesten Angreifer die flache Klinge gegen den Kopf. Als die anderen den Stahl in Synks Hand blitzen sahen, erstarrten sie für einen Augenblick. Synk sah Leenia, wie sie sich zweier Valjaren erwehrte, und stürzte sich auf die Männer.
»Diglfonk!« brüllte er, als er eine der Holzstangen in der Mitte durchschlug und den Stoß einer Heugabel parierte, indem er das Schwert zwischen die langen spitzen Zähne schlug. Leenia riß dem Valjaren die Gabel aus der Hand und stellte sich so, daß sie und Synk Rücken an Rücken gegen die näherkommenden Bauern kämpfen konnten. Sie stellte sich ungeschickt an. Immer wieder mußte Synk sich umdrehen und ihr zu Hilfe kommen. Leenia hatte sich bis vor kurzem auf die Strahlen verlassen können, die ihre Augen verschickten. Sie hatte niemals mit einer »handfesten« Waffe kämpfen müssen. Jetzt blieb ihr keine Zeit, Energien in sich aufzubauen. Synk kämpfte wie ein Berserker, aber die Valjaren wurden immer mehr. Er sah, wie aus der Richtung des Dorfes weitere herbeigeeilt kamen, durch das Gebrüll angelockt. Und sie hatten nicht nur Holzknüppel und Heugabeln in den Händen, sondern schwangen scharfe Sensen und Äxte. »Diglfonk! Verdammt, haut uns hier ʹraus! Diglfonk!« Der Robotdiener schwebte heran, aber viel langsamer als sonst. Seine Tentakel schnellten vor. Er umrundete Synk und Leenia einmal und riß dabei allen Angreifern die Waffen aus den Händen. Synk holte Luft. Diglfonk hatte ihnen eine kleine Atempause verschafft, nichts weiter. »Was ist mit euch los, Diglfonk? Sag deinen verdammten Blechfreunden, daß sie uns helfen sollen. Ich bringe euch um, das schwöre ich! Ich …« »Sie sind nahezu gelähmt«, verkündete Diglfonk. Synk trat einem Valjaren, der sich auf Leenia stürzen wollte, vors Schienbein und schlug einem anderen die linke Faust in die Magengrube. Einer dicken Valjarin, die sich wie ein Panzer auf ihn zuschob, hieb er leicht mit der flachen Klinge gegen die Stirn. »Was heißt gelähmt?« »Es muß die Nähe der Dunklen Region sein«, erklärte der Robotdiener, während er zu einer zweiten Umrundung ansetzte.
Synk sah jetzt mit Entsetzen, daß er nicht log. Diglfonk hielt sich nur mit Mühe in der Luft. Eine Heugabel wurde nach ihm geschleudert und prallte mit singendem Ton an ihm ab. Synk ritzte mit der Schwertspitze die Haut eines Valjaren am Oberarm auf. »Wir können nicht weiter an die Dunkle Region heran. Wir würden völlig bewegungsunfähig.« »Das seid ihr jetzt schon!« »Wir müssen zurück, wenn wir euch helfen sollen!« Synk fluchte, trat und schwang das Schwert. Leenia schlug ungeschickt mit ihrer Waffe um sich. Natürlich! Er hatte befohlen, zur Dunklen Region zu marschieren, und die Roboter würden nicht eher umkehren, bevor er nicht den ausdrücklichen Befehl dazu gegeben hatte. Sie würden bis in alle Ewigkeit hier liegenbleiben, aus Angst, andernfalls wirklich desaktiviert zu werden. Synk machte sich in diesen Momenten keine Gedanken darüber, wie es möglich sein sollte, daß Maschinen durch die Aura der Dunklen Region gelähmt werden konnten. Er sah, wie Diglfonk kaum noch seine Tentakel bewegen konnte. Das genügte ihm. »Ich kehre nicht um!« sagte Leenia. Die Entschlossenheit in ihrer Stimme jagte Synk einen kalten Schauer über den Rücken. Synk fluchte. Was sollte er denn tun? Sie mußten zurück, wollten sie nicht von den Valjaren aufgespießt werden. Andererseits konnte er aber Leenia nicht im Stich lassen. Seine ganze Wut richtete sich gegen den Valjaren, der ihm vorhin den Schlag gegen den Kopf versetzt hatte und seine Artgenossen immer dann vorantrieb, wenn sie eingeschüchtert waren. Synk sprang vor, als der Mann den anderen gerade wieder etwas zurief, und setzte ihm die Spitze des Schwertes an die Kehle. Der Valjare erstarrte. Synk ritzte leicht seine Haut. »Sag deinen Freunden, daß sie aufhören sollen!« brüllte der Orxeyaner. »Na los, oder ich spieße dich auf! Sie sollen sich verziehen!« Aus den Augenwinkeln heraus nahm Synk wahr, wie Diglfonk zu
Boden sank. Ein halbes Dutzend Valjaren, die Leenia schon umringt hatten, senkten ihre Waffen und blickten entsetzt zu ihrem Anführer herüber. »Na los! Worauf wartest du?« »Laßt sie in Ruhe!« rief der Stämmige seinen Artgenossen zu. »Sehr gut!« Synk ließ die Schwertspitze am Hals des Mannes. »Wie heißt du?« »Brantent, aber ihr habt keine Chance! Du kannst mich töten, aber dann …« »Was dann?« Synk trat Brantent vors Schienbein, zog schnell das Schwert zurück und setzte es ebenso schnell an die Brust des Valjaren. »Wir wollen nichts von euch! Seid ihr verrückt geworden? Laßt uns in Ruhe ziehen, und ich vergesse den Vorfall!« »Du kannst lügen, soviel du willst!« krächzte Brantent, die Augen auf die Schwertspitze gerichtet, die sich in sein Fellwams drückte. »Ihr könnt einige von uns umbringen, aber wir sind dann immer noch genug, um euch verdammte Besatzer im Xamyhr zu ersäufen!« »Besatzer?« Synk kniff die Augen zusammen. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß die anderen Valjaren sich noch zurückhielten. Aber nun waren die aus dem Dorf fast heran. Es waren mindestens fünfzig. »Was soll der Unsinn? Wir sind keine Besatzer! Wir kämpfen ja gegen sie!« »Du lügst!« Der Kerl meint, was er sagt! durchfuhr es Synk. Fieberhaft dachte er über einen Ausweg aus dieser verrückten Situation nach. Leenia war ebenso stur wie die Valjaren. Ihre Blicke ließen keinen Zweifel daran, daß sie keinen Schritt mehr zurück machen würde, selbst auf die Gefahr hin, daß die Valjaren sie überwältigten. Synk sah es kurz in ihren violetten Augen aufblitzen. Sie war dabei, ihre Energien zu konzentrieren! Sie würde vielleicht einige Valjaren töten können, aber dann erschöpft zusammenbrechen. Beides durfte nicht geschehen. In seiner Verzweiflung faßte der Orxeyaner einen Entschluß, von dem
er hoffte, daß Leenia ihm diesen später einmal verzeihen würde, wenn sie zur Vernunft gekommen war. Er durfte sie nicht allein weiterziehen und in den Tod rennen lassen, aber auch die Roboter wollte er nicht im Stich lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er wieder Roboterwracks vor seinem geistigen Auge. Er haßte sie! Wollten sie ihn zwingen, sie zerstören zu lassen, damit sie oder die, die für sie kommen würden, ihn noch mehr moralisch unter Druck setzen konnten? »Diglfonk!« brüllte er erneut, nicht sicher, ob dieser ihn überhaupt noch zu hören in der Lage war. Brantent schien entschlossen zu sein, sich zu opfern. Jetzt bildeten die Valjaren einen Kreis um die Gruppe. »Diglfonk, befehle Eins bis Zwölf, daß sie sich zum Ufer zurückziehen! Du nimmst Leenia und bringst sie mit uns!« Leenia stieß einen Schrei der Entrüstung aus. Doch Diglfonk war aufgestiegen und bei ihr, bevor sie reagieren konnte. Seine Tentakeln wickelten sich so schnell um ihre Arme und Beine, daß Synk Mühe hatte, ihren Bewegungen zu folgen. Sekundenlang befürchtete er, daß die anderen Roboter tatsächlich schon so gut wie desaktiviert waren, doch sie kamen im gleichen Augenblick in die Höhe, in dem Brantent Synks Unaufmerksamkeit nutzte, zurücksprang und den wartenden Valjaren den erneuten Angriffsbefehl gab. Als diese sahen, daß er außer Gefahr war, stürmten sie mit lautem Gebrüll los. Synk sah Sensen blinken und Holzkeulen heranfliegen. Eine traf ihn an der Schulter. Er stürzte und sah Brantent, wie er eine Grimasse schnitt und sich auf ihn stürzen wollte. Mit den Füßen trat er ihm vor die Brust. Dann fühlte er sich von hinten gepackt und in die Höhe gerissen. Er schlug kreischend um sich, doch sein Schwert traf auf Metall. Die Roboter waren nun überall. Diglfonk schleppte Leenia fort. Die anderen fuhren zwischen die Valjaren und entwaffneten sie. Synk glaubte, daß es Eins war, der ihn über den Boden schleifte. Genau konnte er seine Guerillas jetzt nicht auseinanderhalten. Alles
ging viel zu schnell. Plötzlich lag er neben Leenia im Gras, die immer noch an Diglfonk gefesselt war. Um sie herum befanden sich die Roboter und schirmten sie gegen die Valjaren ab. Doch auch ohne ihre Gabeln, Knüppel und Sensen kamen diese immer näher. Sie würden sie einfach erdrücken. Synk sah in ihre Gesichter und fand grimmige Entschlossenheit. Entsetzt wurde er sich erst jetzt völlig bewußt, daß diese Leute in den Tod gehen würden, um ihre Dörfer vor den vermeintlichen Besatzern zu schützen. Synk wußte keinen Ausweg. Er konnte Leenia nicht im Stich und sie auch nicht für immer von Diglfonk festhalten lassen. Er konnte nicht mit ihr ziehen und die Roboter allein lassen. Wenn ihnen etwas geschah, würde er sich bis zu seinem Lebensende schuldig fühlen. Und sein Leben konnte schneller zu Ende sein, als ihm lieb war. Er konnte den Robotern doch nicht befehlen, einfach auf die Valjaren zu schießen. Sie waren im Grunde Widerstandskämpfer wie er, nur hatten sie sich die falschen Opfer ausgesucht. Er brüllte die Valjaren an, versuchte ihnen klarzumachen, daß sie im Irrtum waren. Ebensogut hätte er zu Wänden sprechen können. Und jetzt bückte Brantent sich und hob einen Stein auf. Die anderen folgten seinem Beispiel. An den Robotern kamen sie nicht vorbei, wohl aber ihre Geschosse, die jetzt auf Synk und Leenia geworfen wurden. Synk hörte Leenia laut aufschreien. Er selbst schlug sich die Hände schützend vor den Kopf. Das war das Ende. Er war nicht mehr imstande, sich zu rühren. Die Verzweiflung lähmte seine Sinne. Ein Stein traf ihn am Kopf. Es wurde schwarz vor seinen Augen. * Als Sator Synk zu sich kam, spürte er einen Augenblick lang überhaupt nichts. Dann kamen die Schmerzen. Er schrie auf, riß die
Augen auf und sah – Nebel. Dunkler Nebel, der zu leben schien. Er lag dicht über dem Boden, der auch grau und kaum bewachsen war. Wo es Gras gab, schien jemand alle Farbe daraus genommen zu haben. Die Sicht reichte kaum dreißig Meter weit. Neben Synk stand Leenia. Sie atmete auf, als sie sah, daß er zu sich kam, und schon wieder stand dieser ungeduldige Blick in ihren Augen. Synk sprang auf. Er erinnerte sich wieder an alles. Die Schmerzen im Kopf waren kaum auszuhalten. Synk fuhr sich mit der Hand über die Stirn und fand eine Beule und verkrustetes Blut. »Diglfonk! Die Roboter und die Valjaren! Wo sind sie?« Der Orxeyaner drehte sich um die eigene Achse. Nebel, wie schwarzer Rauch, der aus dem Boden kam. Und er begriff. »Wo sind wir? Das ist die … die Dunkle Region?« »Noch nicht«, sagte Leenia. Der ungeduldige Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. Das Mädchen mit den violetten Augen und dem langen Haar beugte sich über Synk, als dieser sich wieder setzte, und betastete vorsichtig die Platzwunde. Sie versuchte zu lächeln. »Die eigentliche Dunkle Region beginnt erst hinter der Teufelsfurche. Wir müssen hinüber.« Synk ahnte, was geschehen war. Er spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Dann aber sah er Leenias Lächeln, und seine Wut schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Er kam sich noch hilfloser vor als vorhin. »Wie sind wir hierhergekommen?« fragte er, und mit erhobener Stimme: »Wo sind die Roboter?« »Sie halten uns die Valjaren vom Leibe«, erklärte Leenia, und augenblicklich verfinsterte sich ihr Gesicht. »Diglfonk und der Roboter, den du Eins nennst, haben uns so weit bis zur Grenze der Dunklen Region getragen, wie es ihnen möglich war. Dann trug ich dich.« Leenia atmete tief ein. Sie schloß die Augen. »Es war furchtbar,
viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich war im Zentrum der Dunklen Region und wußte in Wirklichkeit nichts über sie.« »Was meinst du?« »Du warst bewußtlos und mußtest es nicht erleben. Die Aura, Sator! Sie wurde um so schlimmer, je näher wir der Dunklen Region kamen, dem, was wir als dunkle Wand sahen. Sie muß auch die Roboter beeinflußt haben. Sie versetzt jeden, der sich der Dunklen Region nähert, in grenzenlose Panik. Und wir mußten hindurch.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte es fast nicht geschafft. Vermutlich liegt diese Zone, die wir hinter uns haben, wie ein Gürtel um diesen Landstrich, um die Pthorer von vorneherein davon abzuhalten, die Dunkle Region zu betreten. Als ich vom Xamyhr aus ins Zentrum der Region sprang, kam ich nicht mit ihr in Berührung. Kolphyr warnte mich davor, aber ich glaubte nicht, daß es so schlimm sein würde.« Sie lachte bitter. »Ich las in seinen Gedanken, bevor ich diese Fähigkeit verlor. Kolphyr war selbst schon einmal mit Atlan, Razamon und Koy zu Fuß in die Dunkle Region eingedrungen und hatte das gleiche gespürt wie ich eben, nur war es in seiner Erinnerung schon ein wenig abgeschwächt. Von ihm weiß ich auch, daß wir die eigentliche Dunkle Region nur über die Teufelsfurche erreichen können. Auch von deren Existenz ahnte ich nichts, als ich mich zum Ruinenschloß begab.« »Was ist das, die Teufelsfurche?« fragte Synk, sehr kleinlaut geworden. »Wir werden es früh genug sehen, Sator. Es muß ein sehr tiefer Cañon sein, aus dem Dämpfe steigen, die jeden Menschen in den Wahnsinn treiben, wenn er ihnen zu lange ausgesetzt ist. Aus ihr soll auch die Dunkelheit kommen, die diesem Gebiet seinen Namen gibt. Wie ich schon sagte, sind Kolphyrs Erinnerungen nur vage gewesen. Nur eines verstehe ich nicht.« »Was?« »Ich gelangte ins Emmorko‐Tal, indem ich sprang. Die von den Bewußtseinen der Körperlosen befallenen Pthorer und Trugen aber
mußten über die Teufelsfurche.« »Es wird eine Brücke geben«, sagte Synk. Leenia schüttelte wieder den Kopf. »Kolphyrs Erinnerungen waren klar genug, um aus ihnen zu ersehen, daß es weit und breit nur eine Brücke gibt, eine schmale Hängebrücke, die von bösartigen Wesen besetzt ist. Im Kampf mit ihnen hätten er und seine Begleiter damals fast das Leben verloren.« Synk ließ Leenias Worte eine Weile auf sich wirken, dann gab er sich einen Ruck. »Es muß einen anderen Weg geben, sonst wären die Befallenen nicht ins Emmorko‐Tal gekommen.« Er kniff die Augen zusammen. »Was ist mit meinen Robotern? Ich gab ihnen nicht den Befehl, sich mit ihren Energiewaffen gegen die Valjaren zu wehren. Sie tun das nie, wenn ich es ihnen nicht ausdrücklich befehle. Sie sind dieser Horde unterlegen!« Leenia schüttelte den Kopf. Sie bückte sich und hob ein kleines Gerät von der Stelle am Boden auf, wo sie gestanden hatte, als Synk bewußtlos war. Der Orxeyaner hatte es im Nebel nicht bemerkt. Sie reichte es ihm. »Diglfonks Abschiedsgeschenk an dich«, sagte sie. »Abschiedsgeschenk?« Synk wurde blaß. »Was soll das heißen?« Er betrachtete das Gerät. Es war ein Würfel. Eine Seite bestand aus einem winzigen Bildschirm. »Der grüne Knopf an der Seite«, sagte Leenia. Synk fand ihn und drückte ihn in den Würfel. Augenblicklich erhellte sich der Schirm. Synk sah, wie die Roboter den Valjaren, deren Übermacht inzwischen durch Neuhinzugekommene noch größer geworden war, ein erbittertes Scheingefecht lieferten. Daß es sich um ein Scheingefecht handelte, wurde dem Orxeyaner klar, als die Maschinen sich bald darauf zugleich in die Luft erhoben und so schnell über den Xamyhr hinweg davonschossen, daß sie schon nach Sekunden nicht mehr zu sehen waren. Sie ließen die verblüfften Valjaren einfach stehen.
»So war es ausgemacht«, erklärte Leenia. »Sie deckten zunächst unsere Flucht, indem sie die Valjaren daran hinderten, Diglfonk und mir und Eins und dir zu folgen. Dann, als die beiden Roboter zurück waren, beschäftigten sie die Valjaren so lange, bis sie sicher sein konnten, daß wir einen genügend großen Vorsprung haben würden, wenn die Valjaren sich an unsere Fersen heften würden.« »Das würden sie tun?« fragte Synk leise. »In die Dunkle Region gehen, um uns zu verfolgen? Durch diesen … Angstgürtel?« Sein Kopf fuhr mit einem Ruck in die Höhe. »Du hast Diglfonk beschwatzt, uns im Stich zu lassen?« In Wirklichkeit wollte er sagen: Diglfonk zum Verrat verleitet, ihm gesagt, daß er Eins befehlen solle, mich zu überwältigen und von ihnen fortzuschleppen. Doch Leenias Blick lähmte seine Zunge. »Der Vorschlag kam von Diglfonk, nicht von mir«, antwortete die verbannte Körperlose. »Er sagte, daß nur so dein Konflikt gelöst werden könnte.« »Mein … Konflikt?« »Das waren seine Worte.« Diglfonk! dachte Synk wütend. Du verdammter Verräter! Du hast es also geschafft! Aber glaube nicht, daß ich euch auch nur eine Träne nachweinen werde, wenn ich eines Tages vor euren Wracks stehe. Ihr könnt mich nicht mehr erpressen. Ihr nicht! Keinen Gedanken werde ich mehr an euch verschwenden! Synk sollte vorerst auch gar nicht dazu kommen. Auf dem Bildschirm des Würfels war nun zu sehen, wie die Valjaren sich formierten und in Bewegung setzten. Sie kehrten nicht in ihre Dörfer zurück, sondern marschierten mit entschlossenen Mienen auf die Dunkle Region zu – mit Knüppeln und Heugabeln, Sensen und anderen Mordinstrumenten. »Wir sollten einen ausreichenden Vorsprung haben«, murmelte Synk. »Wir sind noch keinen Meter weiter vorangekommen.« »Und für die Valjaren muß es nun so aussehen, als ob wir ihre wirklichen Gegner wären, die durch das Manöver der Roboter vor
ihnen in Sicherheit gebracht wurden«, fügte Leenia hinzu. »Komm jetzt, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« Synk setzte sich in Bewegung, als Leenia losmarschierte. »Aber jetzt müssen sie doch erkennen, daß wir nichts von ihnen wollen! Wenn wir ihre Felder verwüsten wollten, würden wir nicht in die Dunkle Region flüchten!« »Du siehst, daß sie offensichtlich anders darüber denken!« Leenia war ungehalten. Sie drehte sich nicht um, und Synk mußte zusehen, daß er mit ihr Schritt hielt. Er verstand das alles nicht. Er konnte ebensowenig wie Leenia vom Traum der Valjaren wissen – dem Traum, den jeder von ihnen träumte: einmal in die Dunkle Region gelangen um das Goldene Vlies erobern können. Für die Valjaren mußte es nun so aussehen, als wären die vermeintlichen Besatzer nicht gekommen, um ihre Felder und Dörfer zu verwüsten oder auszuspionieren, sondern allein deshalb, um das Goldene Vlies zu rauben. Und das gab ihnen den Mut, ihnen in die Dunkle Region zu folgen. Die ersten erreichten die Angstbarriere, als Leenia und Sator Synk vor der Teufelsfurche standen. * Leenia hatte aus dem Schock, den sie beim Passieren des Angstgürtels erlitten hatte, ihre Lehren gezogen. Was die Teufelsfurche betraf, so orientierte sie sich nicht mehr an Kolphyrs Erinnerungen. Und als sie nun die mindestens einhundert Meter breite Schlucht vor sich sah, deren gegenüberliegendes Ende nur dann zu erkennen war, wenn sich die aus der Tiefe aufsteigenden schwarzen Dampfschwaden hin und wieder teilten, war sie vorbereitet. Sie hielt Synk zurück, als er sich über den Rand der
Schlucht beugen und in die Tiefe sehen wollte. »Nicht, Sator.« »Warum nicht? Ich spüre nichts.« Er riß sich los, legte sich auf den Bauch und kroch auf den Rand der Schlucht zu. Gerade hatte er den Kopf über den Abhang geschoben, als er in Panik aufschrie und um sich zu schlagen begann. Im letzten Augenblick bekam Leenia seine Füße zu fassen und zog ihn von der Schlucht fort. Es dauerte einige Sekunden, bis der Orxeyaner wieder bei Sinnen war. »Was … was ist geschehen?« fragte er benommen. »Du hättest dich um ein Haar hineingestürzt. Die hochsteigenden Dämpfe verursachen die gleiche Panik wie die Zone vor der Dunklen Region.« »Aber wir müssen hinüber«, sagte er, als er sich aufrichtete. »Das heißt, du willst hinüber.« Leenia nickte mit versteinert wirkendem Gesicht. Synk fluchte leise vor sich hin. Er hatte gehofft, daß sie es sich jetzt doch noch anders überlegen würde. Er zwang sich zu schweigen. Jeder Versuch, sie von ihrem wahnsinnigen Vorhaben abzubringen, würde von ihr als Schwäche ausgelegt werden. Wie stur diese Frau war! Und er? Wieso rannte er nicht einfach davon? Warum stellte er ihr kein Ultimatum? Synk verstand sich selbst nicht mehr. Nein, er wollte und durfte sich nicht eingestehen, daß eine Frau ihn in ihren Bann gezogen hatte – ihn, den freien Mann aus Orxeya. »Wir gehen an der Furche entlang«, entschied Leenia. »Paß auf, daß du ihr nicht wieder zu nahe kommst. Irgendwann müssen wir den Übergang finden, über den die Befallenen gelangten.« »Vielleicht haben sie die Brücke zerstört, nachdem sie zurückgekehrt waren.« Leenia gab keine Antwort. Wieder ging sie einfach weiter, ohne
sich nach ihm umzusehen. »Ich glaube, du würdest mich einfach hier stehenlassen, oder?« »Ja«, sagte Leenia kalt. Sie ging noch einige Schritte, dann blieb sie stehen und drehte sich um. Entschuldigend zuckte sie die Schultern und lächelte. Dieses Lächeln! »Es tut mir leid, Sator. Vielleicht hättest du mich wirklich nicht begleiten sollen. Du kannst nicht verstehen, wie wichtig es für mich ist, noch einmal zum Ruinenschloß zu gehen und herauszufinden zu versuchen, was es mit den Maschinen auf sich hat. Vielleicht war ich zu egoistisch, aber …« Als sie nach Worten suchte, erwachte der Held in Synk. Leenias Blick genügte, um ihn alle Gefahren für den Moment vergessen zu lassen. Diese wunderschöne, begehrenswerte Frau war auf seine Hilfe angewiesen. Sie brauchte Schutz. »Unsinn«, sagte er also. »Du sagtest, daß du nicht zu diesen Maschinen vordringen könntest, weil du mit diesen Lunen, die das Emmorko‐Tal einmal bewohnten, verwandt wärest. Du sagtest, daß vielleicht ich an die Maschinen herankomme. Ich gehe mit dir. Worauf warten wir?« Synk preßte die Lippen aufeinander und umklammerte mit der Rechten den Griff des Schwertes, das auf unerklärliche Weise wieder in seinen Gürtel gelangt war, nachdem er es im Kampf verloren hatte. Mit grimmiger Miene marschierte er an Leenia vorbei. »Danke, Sator«, hörte er. Ich tue es nur, um ihr zu helfen! redete der sich ein. Ich bin nicht in sie verliebt. Verliebtsein bedeutet Abhängigkeit. Und Frauen, von denen man abhängig ist, sind schlimmer als Roboter! Nach etwa drei Stunden erreichten sie die Hängebrücke. Synk unterdrückte einen Aufschrei, als er die Leichen sah, und Leenia erkannte, daß sie sich geirrt hatte. Die Befallenen waren doch über die Hängebrücke gegangen, von
deren Existenz sie aus Kolphyrs Erinnerungen wußte. Wie eine Lawine mußten sie sich über sie gewälzt haben. Als Leenia die schwankende Brücke sah, fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, daß diese das Gewicht von Hunderten von Pthorern und Trugen ausgehalten hatte. Aber sie war noch über die Schlucht gespannt, wenn auch überall Planken fehlten oder an einem der beiden Seile, an denen sie befestigt waren, herunterhingen. Die Froijos, die »Zöllner«, die Kolphyr, Atlan, Razamon, Koy und Fenrir damals so zu schaffen gemacht hatten, waren ohne Chance gewesen. Die Besessenen hatten sie erschlagen. Vielleicht war einigen die Flucht gelungen. Leenia zählte ein halbes Dutzend Leichen. Die Wesen waren affenartig, unglaublich dürr, und hatten lange Schwänze. Noch im Tod klammerte sich einer von ihnen damit an eine Planke. Sator Synks Mut war inzwischen wieder verflogen. Er konnte sein Zittern nicht verbergen, als er auf die schwankende Hängebrücke deutete. »Und dort sollen wir hinüber?« »Einige tausend Befallene haben es geschafft«, sagte Leenia. In Gedanken fügte sie hinzu: Allerdings waren diese in ihrem Zustand kaum in der Lage, Angst zu empfinden. Und es war die Angst, die sie beschleichen und zu erdrücken versuchen würde, sobald sie die Brücke betraten. Aber auch Atlan und seine Begleiter hatten die Brücke passiert. Leenia nickte dem Orxeyaner aufmunternd zu. »Komm, Sator, bringen wirʹs hinter uns.« Sie betrat die Brücke zuerst. Die Planken schwankten unter ihren Füßen. Einen Augenblick spürte sie die Panik, wie sie sich in ihr Bewußtsein schieben wollte. Sie hörte das Rauschen eines unendlich wilden Flusses unter sich, der am Boden der Schlucht dahinfloß. Der schwarze Rauch hüllte sie ein. »Nicht denken, Sator. Konzentriere dich auf, irgend etwas. Es muß dich ganz ablenken.«
Aber noch stand der Held von Orxeya am Rand der Schlucht, einen Fuß auf die erste Planke gesetzt. Leenia wartete auf ihn. Er holte tief Luft. Plötzlich war aus der Ferne Lärm zu hören. Schreie. Die Valjaren. Die Stimmen wurden schnell lauter, und nun gab es auch für Sator Synk kein Zurück mehr – selbst, wenn er gewollt hätte. Er holte noch einmal Luft und betrat die Brücke, verzweifelt darum bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. 3. Pthor – die Situation Der Dimensionsfahrstuhl befand sich fest in der Hand der Magier. Nicht mehr so zerstritten wie noch vor kurzem, beherrschte jeder einen kleinen Teil Pthors. Jeder war ein Herrscher, wenn auch einige größere Macht hatten als die anderen. Die Odinssöhne residierten in der FESTUNG, im Glauben, daß tatsächlich ihnen die Ergebenheitsadressen der Pthorer galten, die, von den Magiern dazu gezwungen, in Scharen zur FESTUNG pilgerten und den Odinssöhnen huldigten. Thamum Gha, der Neffe des Dunklen Oheims und Beherrscher des Guftuk‐Reviers, in dem Pthor nun stand, hatte es bei einem persönlichen Auftritt bewenden lassen. Er brauchte nicht auf Pthor präsent zu sein. Über die FESTUNG stand er in ständiger Verbindung zu den Magiern. Bessere Statthalter hätte er sich gar nicht wünschen können. Widerstand gegen sie schien es nicht zu geben. Die Magier hatten bisher noch keinen Pthorer getötet, aber sie hatten Mittel genug, um jeden Aufruhr im Keim zu ersticken. Niemand wagte aufzumucken. In der Senke der verlorenen Seelen stand immer mindestens ein Organschiff bereit, damit die letzten Wesen aus den Glaspalästen abtransportiert und ihrer schrecklichen Bestimmung als lebende
Galionsfiguren zugeführt werden konnten – falls es ihnen nicht
gelungen war, aus der Senke zu entkommen und in Verstecken in der Umgebung des Regenflusses, im Blutdschungel oder am Taamberg zu überleben. Und nur in der Senke der verlorenen Seelen waren die Diener des Neffen zu finden. Diese großen, kräftigen Zweibeiner mit dunkler Haut und düsteren Augen nannten sich Ugharten. Sie zeigten sich nirgendwo anders auf Pthor. Thamum Gha machte nicht die gleichen Fehler wie Chirmor Flog und Duuhl Larx. Die Ugharten erinnerten mit ihren platten Nasen und dichten, schwarzen Mähnen an riesige Affen, waren jedoch überaus intelligent. Das Pthora beherrschten sie perfekt. Ihre Arbeit verrichteten sie völlig unauffällig. Den Magiern gegenüber verhielten sie sich nach außen hin neutral und hüteten sich, sich in deren Geschäfte einzumischen. Mit geringerem Aufwand hatte Thamum Gha schon jetzt mehr erreicht als Flog und Larx zusammen. Die Generalamnestie hatte den erwarteten Erfolg gebracht. Schon in den ersten Tagen waren zahlreiche Rebellen erwischt und von Pthor weggeschafft worden. Es sah so aus, als könnte Thamum Gha schon bald eine Erfolgsmeldung an den Dunklen Oheim absetzen. Jene, die die Lage durchschauten, waren verzweifelt. Sie wußten, daß auch die allergeheimste Verschwörung von den Magiern unweigerlich entdeckt und auf der Stelle geahndet werden würde. Niemand hatte mehr den Mut, irgend etwas zu tun. Koy, Kolphyr und Fenrir waren auf freiem Fuß. Auch sie verhielten sich abwartend, um die Aufmerksamkeit der Magier nicht unnötigerweise auf sich zu lenken. Noch waren sie unerkannt. Es hatte nicht den Anschein, als ob nun noch irgend jemand das Steuer herumreißen und die neue Gewaltherrschaft brechen könnte. Sator Synk und Leenia waren in der Dunklen Region und wußten noch nichts von der neuen Lage. Wie durch Zufall waren sie auf ihrem Weg keinen Magiern begegnet, doch irgendwann würden auch sie es mit ihnen zu tun bekommen und ihrer Bewegungsfreiheit verlustig werden, falls sie die Gefahr nicht
rechtzeitig erkannten. Das gleiche galt für die dreizehn Robotdiener, die in der Nähe des Xamyhr auf Synks und Leenias Rückkehr warteten. Noch hatten sie die Aufmerksamkeit der Magier nicht auf sich gezogen. Natürlich überwachten die Magier auch die Valjaren, aber diese galten für sie als harmlos, so daß der Zwischenfall am Xamyhr nicht bemerkt worden war. Die Zeit arbeitete für die Magier und Thamum Gha. Früher als erwartet, so hatte es den Anschein, würde Pthor wieder zu jenem Instrument des Schreckens werden, als das es vor dem Sturz der Herren der FESTUNG durch die Dimensionskorridore geflogen war. 4. Bördos Weg zur FESTUNG – der Seher Im Südosten lag Donkmoon, im Osten die FESTUNG. Bördo hütete sich davor, in diesen Tagen, in denen so vieles geschah, das er nicht verstand, zu nahe an die Stadt der Gordys heranzukommen. Sein Weg führte durch die Wildnis. Wenn er mit dem, das sich auf Pthor breitgemacht hatte, konfrontiert wurde, dann sollte es in der FESTUNG sein. Noch einmal wollte er nicht von seinem langen Weg abgebracht werden, wie so oft zuvor, als er schon glaubte, seinem Vater in wenigen Tagen gegenüberstehen zu können. Bördo war nicht bekannt, daß hier, zwischen dem Taamberg‐ Massiv und der FESTUNG, jemand lebte. Natürlich hatten bis vor kurzem überall auf Pthor Zugors patrouilliert, aber ansonsten hatte er die Gegend hier für verlassen gehalten. Bördo war mittlerweile nahe genug herangekommen, um erkennen zu können, daß es sich bei der Gestalt, die er aus der Ferne gesehen hatte, um einen alten Mann handelte. Sein Gesicht war voller Falten, die Haare lang und schneeweiß. Er mußte sehr alt sein, aber seine Bewegungen waren sicher.
Gorlk ging neben Bördo her, als dieser dem Alten im Schutz der hohen Gräser folgte. Fast schien es so, als wüßte das Kind, wie es sich zu verhalten hatte. Es hatte nicht mehr gesprochen, seitdem sie den Alten gesehen hatten. Brav war es neben Bördo her gegangen oder hatte sich von ihm tragen lassen, wenn sie in Gras mit scharfen Blättern gerieten. Der Alte schien etwas zu sammeln. Immer wieder blieb er stehen und bückte sich. Dabei bewegte er sich auf ein kleines Wäldchen zu, Gebüsch und kaum mehr als ein Dutzend Bäume, die verloren in der Steppe standen. Vielleicht befanden sich dort Hütten. Vielleicht lebten dort die Angehörigen des alten Mannes. Bördo konnte sich kaum vorstellen, daß er hier allein lebte. Doch wie dem auch sein mochte – der Mann mußte Wasser haben und sich von irgend etwas ernähren. Bördo war nicht gerade begeistert von der Unterbrechung seines Weges. Aber er konnte nicht stur geradeaus in die Richtung gehen, in der die FESTUNG lag. Sein Magen knurrte, und Gorlk mußte irgendwo untergebracht werden. Bördo hatte eingesehen, daß er ihn nicht mit sich schleppen konnte. Im Fall eines Angriffs war er gerade in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Noch etwas kam hinzu, das ihn hoffen ließ, Leute zu treffen, die sich nicht gleich über ihn hermachten, wenn sie ihn sahen. Seine Armwunde hatte sich entzündet und mußte behandelt werden. Hitze strahlte von ihr aus, und sie klopfte, wenn er sich bewegte. Sie eiterte. Bördo zwang sich also zur Geduld und folgte dem Alten, bis er die Hütte zwischen den Bäumen sah. Niemand kam dem Mann entgegen. Es war kein Laut von dort zu hören, und Bördos scharfe Augen konnten keine Bewegung wahrnehmen. Bördo wartete, als das Gras zu niedrig wurde, um ihm weiterhin Schutz zu bieten. Er sah, wie der Alte hinter den Blumen verschwand. Er trug irgend etwas in einem zusammengebundenen Leinentuch. Seine Kleidung schien nur aus einem weißen, an vielen
Stellen beschmutzten Umhang zu bestehen, der bis über die Knie reichte. Bördo fühlte sich von dem Alten seltsam angezogen. Irgend etwas ging von ihm aus, das ihn faszinierte. Der Mann strahlte Würde aus, aber da war noch etwas anderes, nicht Greifbares. Er mußte inzwischen in der Hütte sein. Noch immer keine Stimmen. Warum er sich nun so übertrieben vorsichtig bewegte, als er mit Gorlk an der Hand das freie Land überquerte, um zu den Bäumen zu gelangen, verstand Bördo selbst nicht. Nichts deutete darauf hin, daß von der Hütte Gefahr drohte. Bördo schlich sich an wie ein Dieb – und genauso kam er sich vor, als ob er im Begriff sei, in ein Heiligtum einzudringen. Unsinn! dachte er. Ich will nichts von dem Alten, nichts außer etwas Wasser und Brot. Gorlk hingegen schien überhaupt keine Angst zu haben. Er hatte plötzlich einen eigenartigen Glanz in den Augen, und zum erstenmal, seit Bördo ihn vom Stein geschnitten hatte, war ein Lächeln auf seinem Gesicht. Die Hütte war klein. Direkt über dem türlosen Eingang, der gerade hoch genug war für einen erwachsenen Mann, begann das Dach. Sie bestand ganz aus dicken Gräsern und jungen Baumstämmen oder starken Ästen. Bördo sah keine Fenster. Das Dach lief zur Mitte hin spitz zu. Langsam näherte sich Bördo. Gorlk ging brav neben ihm. Bördo hatte das Schwert in der Hand, und wieder hatte er das Gefühl, daß dies allein schon ein Frevel sei. Aber er war vorsichtig geworden. Der Schein konnte trügen. Dann stand er im Eingang der Hütte. Obwohl es noch Tag war, brannten in ihrem Innern Kerzen auf dem Boden. Zwischen ihnen saß der Alte. »Du hast lange gewartet«, sagte er mit heller, leiser Stimme, ohne von der Matte, auf der er saß und auf der er einige Wurzeln ausgebreitet hatte, aufzusehen. »Kommt herein und setzt euch zu
mir.« Bördo fühlte sich miserabel. »Du hast die ganze Zeit über gewußt, daß wir dich beobachteten?« »Und daß ihr kommen würdet. Ihr seid hungrig. Nehmt euch aus dem Kessel. Und trinkt.« Bördo sah, daß er immer noch das Schwert in der Hand hielt, und steckte es schnell in den Gürtel zurück. Jetzt erst blickte er sich um. Die Matte, auf der der Mann saß, war etwa drei mal zwei Meter groß. Um sie herum standen alle möglichen Gegenstände, mit denen er auf den ersten Blick nichts anfangen konnte. Kisten und Körbe, in denen er ähnliche Wurzeln sah wie die, die der Alte offensichtlich gesammelt und in seinem Tuch gehabt hatte. Zwei große Kessel auf einer auf vier Stützen ruhenden Platte aus Eisen, unter der noch ein paar Steine glühten. Daneben einige Krüge mit Wasser. Und überall zwischen den Kisten, den Körben und den Gefäßen standen Töpfe mit Pflanzen, wie Bördo sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das hatte zwar nichts zu bedeuten, denn die Artenvielfalt auf Pthor war groß. Dennoch faszinierten sie ihn ebenso wie der Alte. Sie waren knapp zwanzig Zentimeter hoch, hatten breite, fleischige grüne Blätter, sie sich wie gefaltete Hände um dunkelrote Blüten legten. Es war Gorlk, der Bördo anstieß und auf die Krüge deutete. Bördo gab sich einen Ruck, blickte noch einmal zum alten Mann hinüber, der ihn immer noch nicht ansah, und nahm einen der Krüge. Zuerst gab er Gorlk zu trinken, dann leerte er das Gefäß in hastigen Zügen. In einem der Kessel war noch warmer Brei. Es roch nach nichts, das Bördo kannte. Der Sohn Sigurds nahm zwei Schalen, die neben der Feuerstelle standen, und füllte sie mit einer Holzkelle. Eine reichte er Gorlk, und das Kind begann den Brei zu schlürfen. Noch etwas verunsichert folgte Bördo seinem Beispiel. Er nahm sich noch zweimal, bis er gesättigt war. Er fühlte sich jetzt wohler, bis auf das Brennen und dumpfe Hämmern der Wunde. Der Alte blickte auf.
»Setzt euch. Sagt mir eure Namen.« Unsicher antwortete Bördo: »Ich danke dir für deine Freundschaft und die Nahrung, alter Mann.« Er nannte seinen Namen und den des Kindes. »Aber ich muß weiter. Ich …« »Du wirst nirgendwohin gelangen, wenn deine Wunde nicht versorgt wird, Bördo. Setzt euch. Ich habe mit dir zu reden, bevor du deinen Weg fortsetzt.« Bördo glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Ohne daß er sich dessen bewußt wurde, setzte er sich auf die Matte, dem Alten gegenüber. Gorlk machte es sich neben ihm bequem. Bördos Blick traf den des Alten. »Du weißt von meiner Wunde? Und du wußtest, daß wir dir folgten. Bist du einer von ihnen? Bist du ein Magier?« »Nein, Bördo. Ich bin Sadak, und man nennt mich den Seher.« Der Greis lächelte. »Zumindest tat man dies zu der Zeit, als noch Pthorer zu mir kamen, um mich um Rat zu fragen oder um Hilfe zu bitten.« Bördo spürte einen Kloß im Hals. Er versuchte, dem Blick des Alten standzuhalten. Es war, als ob er durch die großen Pupillen hindurchsehen könnte, in eine fremde Welt. Irgend etwas störte ihn. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Der Greis blickte ihm nicht direkt in die Augen. Sein Blick haftete auf seinem Mund. »Du bist … blind?« fragte er leise. »Ich war es, doch ich habe wieder zu sehen gelernt, wenn auch auf andere Weise als du.« Wieder lächelte Sadak. »Die Herren der FESTUNG schätzen es nicht, daß jemand Dinge wußte, die er nicht wissen sollte. Sie ließen mich blenden, doch das ist lange her.« Bördo erschauerte. In die Ehrfurcht, die er empfand, mischte sich Mitleid. »Die Ungeheuer leben nicht mehr«, knurrte er. »Mein Vater hat sie bestraft.« Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Alten. »Auch hierüber habe ich mit dir zu reden, Bördo. Es gibt vieles,
das du wissen mußt, bevor du dich wieder auf den Weg zur FESTUNG machst.« »Du weißt, wohin ich will? Du weißt, daß ich … daß Sigurd mein Vater ist?« Die Stimme des Greises klang traurig, als er antwortete: »Dies und noch mehr, mein Junge. Vielleicht wirst du mich töten, wenn ich dir sage, was ich sagen muß. Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Ich weiß nur Dinge, die jetzt geschehen oder schon geschehen sind.« Bördos Miene verschloß sich augenblicklich. Er sprang auf. »Ich danke dir nochmals, Sadak. Aber ich glaube, daß es besser ist, wenn ich jetzt gehe.« »Du hast Angst davor, daß ich dir das gleiche sagen werde wie die, die dafür sterben mußten?« »Hör zu, alter Mann. Ich habe dir gesagt, daß ich dir danke. Ich schulde dir nichts, denn ich bat dich um nichts.« »Dann gehe. Setze deinen Weg fort, wenn du die Wahrheit nicht ertragen kannst und wenn du glaubst, mit der entzündeten Wunde den nächsten Tag überleben zu können. Was ist mit dem Kind, Bördo? Wolltest du mich nicht bitten, es bei mir zu behalten und für es zu sorgen?« Sekundenlang starrte der Sohn Sigurds den Alten mit offenem Mund an. Seine Gefühle waren aufgewühlt. Wieder fühlte er sich hilflos. Er wollte wegrennen, fort von hier, aber er sah ein, daß er tatsächlich nicht weit kommen würde. Und irgend etwas in ihm drängte ihn, den Alten reden zu lassen. Wieso versuchte jedermann, ihm einzureden, daß sein Vater ein Feigling war, der mit den Feinden Pthors zusammenarbeitete? Bördo setzte sich wieder. Es hatte keinen Sinn, immer wieder davonzurennen. Er wollte sich anhören, was der Greis zu sagen hatte, so schwer es ihm auch fiel. Er spürte, daß er es gut mit ihm meinte. »Dann rede«, sagte er knirschend.
»Vorher werde ich mich um deine Wunde kümmern, Bördo. Du wirst gesund und stark sein müssen, wenn du vor deinem Vater stehst.« * Bördo saß schweigend da, den Blick auf seine Knie gerichtet. Auch der Alte sprach nicht mehr. Das, was er gesagt hatte, mußte verdaut werden. Bördo war nicht aufgesprungen, hatte das Schwert nicht herausgerissen, hatte es dem Greis nicht ebenso wie den anderen in den Leib gestoßen, die den Namen seines Vaters in den Schmutz gezogen hatten. Doch immer noch sträubte sich alles in ihm dagegen, das Gehörte zu akzeptieren. Seine Gefühle waren in Aufruhr geraten, während der Verstand ihm sagte, daß etwas dran sein mußte, wenn die verschiedensten Leute ihm erzählten, sein Vater sei eine Marionette der Dunklen Mächte und nun der Magier geworden. Die Magier … Auch über sie hatte der Alte berichtet. In groben Zügen wußte Bördo nun, wie es auf Pthor aussah. Er zweifelte nicht an den Worten Sadaks. Einige Fragen hatten diese Zweifel endgültig ausgeräumt. Fragen und Antworten, die nur jemand geben konnte, der tatsächlich in der Lage war, Dinge »aus der Ferne zu sehen«. Bördos Wunde war verbunden. Der Alte hatte sie gereinigt und mit einer starkriechenden Salbe bestrichen. Sie schmerzte nicht mehr so sehr wie vorher, und auch das Brennen hatte aufgehört. Die Präsenz der Magier überall auf Pthor erklärte die Dinge, die Bördo auf seiner Wanderung gesehen hatte. Auch die Katzenmenschen am Taamberg mußten ihre Macht gespürt und versucht haben, sie durch heidnische Opfer zu besänftigen. Bördo warf Gorlk einen traurigen Blick zu. Das Kind schlief ruhig und fest.
»Es ist nicht nur dein Vater, Bördo«, sagte nun der Alte. »Auch seine Brüder Balduur und Heimdall haben sich demütigen lassen und unterworfen. Ich weiß, wie schwer es für dich sein muß, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen, aber du mußt es tun. Vielleicht bist du allein in der Lage, etwas für sie zu tun.« Nur ein winziger Hoffnungsschimmer stand in Bördos Blick, als er den Seher anblickte. »Ausgerechnet ich? Was sollte ich tun können, wenn schon mein Vater …?« »Du sträubst dich also nicht mehr gegen die Erkenntnis.« Sadaks Stimme verriet keinen Triumph. Sie war voller Mitgefühl. »Glaube mir, nur so kann den Odinssöhnen geholfen werden, wenn es auch nicht mehr als eine vage Hoffnung ist. Du bist so, wie du dir deinen Vater vorstellst, Bördo. Du glaubst, ihm nur unter die Augen treten zu können, wenn du dich als ebenbürtig erwiesen hast. Er wäre stolz auf dich, wenn du deine Kraft und deine Geschicklichkeit mit dem Schwert für das Gute gebrauchen würdest. Du hast Männer dafür getötet, daß sie dir die Wahrheit sagten. Du weißt, daß das nicht recht ist.« »Ich habe gelernt, daß nur der überlebt, der zuerst zuschlägt«, entgegnete Bördo trotzig. »Dann mußt du nun lernen, daß die Götter dir deinen starken Arm und deine Schnelligkeit nicht dazu verliehen haben, um sinnlos zu töten. Überleben und Morden sind zweierlei Dinge.« Bördo schwieg lange. »Was soll ich tun?« fragte er schließlich. »Niemand wird von dir verlangen, dein Schwert stecken zu lassen, wenn du angegriffen wirst, mein Junge. Du sollst kämpfen, um dich zu verteidigen, um dein Leben und das anderer in Not befindlicher zu schützen. Es ist der blinde Jähzorn, den du bekämpfen mußt, und dieser Kampf wird schwerer sein als alle anderen. Du hast bereits damit angefangen.« »Ja«, sagte Bördo.
»Es wird von dir abhängen, ob du deinem Vater und seinen Brüdern vielleicht helfen kannst. Bisher glaubtest du, daß du deinem Vater als strahlender junger Held unter die Augen treten müßtest. Es ist nun umgekehrt, Bördo. Jetzt mußt du dafür sorgen, daß Sigurd wieder zu dem Mann wird, der er einstmals war. Ich sagte, daß ich nicht in die Zukunft sehen kann, aber vielleicht wird dein Erscheinen in der FESTUNG Sigurd zur Besinnung kommen lassen. Es ist dein Weg, und du mußt ihn allein gehen. Schone deinen Vater nicht. Zeige ihm, was du von ihm hältst, wie er jetzt ist. Liebe ihn, wie er war, und verachte ihn für das, was er geworden ist.« »Du verlangst viel, Seher.« »Dein Vater verlangt es.« Sadak griff neben sich und reichte Bördo einen Krug mit Wein. Bördo trank. Dann fragte er: »Wie soll ich überhaupt zu ihm gelangen können, wenn die FESTUNG von den Magiern kontrolliert wird. Wieso hielten sie mich bisher nicht auf?« »Du warst für sie nicht gefährlich. Vielleicht sogar zu harmlos, um überhaupt ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Du warst auf dem Weg zu Sigurd, ihrer Marionette, und voller Bewunderung für ihn, weil du die Wahrheit nicht kanntest oder nicht kennen wolltest. Nun ist das anders. Ich werde dir helfen, zur FESTUNG zu gelangen.« Das war ein Stichwort für den Jüngling. »Wenn du so vieles weißt, bist auch du für sie gefährlich. Wie kommt es, daß sie dich noch nicht …?« »Dieser Ort ist für sie nicht existent. Sie kontrollieren Pthor nicht so, wie es die Scuddamoren und die Trugen taten. Sie ziehen nicht umher, um potentielle Gegner ausfindig zu machen. Sie haben andere Mittel. Kaum ein Gedanke an Widerstand entgeht ihren Sinnen, aber dieser Ort ist wie ein blinder Fleck für sie. Weder deine noch meine Gedanken, noch das, was hier gesprochen wird, kann von ihnen wahrgenommen werden. Du hast die Blumen gesehen. Eine von ihnen wirst du mitnehmen, wenn du morgen früh aufbrichst. Unter ihrem Schutz wirst du ungeschoren die FESTUNG
erreichen.« »Die Blumen …?« Sadak lächelte. »Versuche das nicht zu verstehen, Bördo. Sie haben die Fähigkeit, die Gedanken derjenigen, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden, zu verschlucken, um es vereinfachend auszudrücken.« Bördo pfiff durch die Zähne. »Aber dann könnten …« Er sah sich nach den Pflanzen um und gestikulierte heftig mit den Armen. »Dann könnten jene, die gegen die Magier zu kämpfen bereit wären, aber zuviel Angst vor ihnen haben und schweigen, diese Blumen als Waffe benutzen! Unter ihrem Schutz wären sie …« Sadak hob eine Hand. »Vergiß es, Bördo. Sie leben nur hier. Frage nicht, weshalb das so ist. Auch die, die ich dir mitgebe, wird in dem Augenblick zu sterben beginnen, in dem du meine Hütte verläßt, aber sie wird gerade lange genug leben, um dich sicher zur FESTUNG zu bringen. Du läßt dich schon wieder von deinen überschäumenden Gefühlen leiten. Du mußt lernen, logisch zu denken und einen Blick für das mögliche zu gewinnen.« Wieder herrschte Schweigen. Lange saß Bördo mit gesenktem Kopf vor dem Alten. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, nachdem eine Welt für ihn zusammengebrochen war. »Dein Vater ist nicht wirklich schlecht, Bördo«, hörte er nach einiger Zeit die wie aus weiter Ferne kommende Stimme Sadaks. »Du wirst ihn verstehen, wenn du bereit bist zu vergessen, was man dir über ihn erzählte, als du noch ein Kind warst, und wenn du verstehen kannst, daß er kein Göttersohn ist, sondern ein Mensch wie du, mit all seinen Schwächen.« Sie redeten bis spät in die Nacht hinein. Oft versetzten die Worte des Sehers Bördo Stiche ins Herz, Stiche, für die er noch vor kurzem bereit gewesen wäre, einen Mann zu töten. Als sie sich schlafen legten, damit er am Morgen ausgeruht sein
sollte, quälten ihn viele Gedanken. Er schlief unruhig und träumte in Etappen von den Stationen seines Lebens. Die glückliche Kindheit bei seinem Großvater Kruden, mit dessen Tochter, einer Valjarin, Sigurd ihn gezeugt hatte. Die Flucht vor den Piraten, die Gefangenschaft und die Kämpfe ums Überleben. Seine Suche nach Sigurd, die neuerlichen Gefangennahmen und Kämpfe. Als er früh am Morgen erwachte, wußte er, daß er sich während der letzten Jahre seines Lebens auf einem gefährlichen Weg befunden hatte. Zu willig hatte er die Verhaltensweisen und die moralischen Normen der Wilden übernommen, bei denen er gehaust und sich durchgesetzt hatte. Damit war es jetzt vorbei. Vielleicht spielte der Seher eine Rolle bei Bördos Läuterung. Vielleicht hatten auch die geheimnisvollen Blumen während seines Schlafes irgend etwas in ihm bewirkt. Sadak gab ihm Nahrung und Wasser mit auf den Weg. Die Wunde spürte er nicht mehr. Gorlk blieb bei dem Alten, der versprach, sich gut um ihn zu kümmern und ihn großzuziehen, falls er lange genug lebte oder nicht andere fand, die dieser Aufgabe besser gerecht werden konnten. »Ich danke dir für alles«, sagte Bördo im Eingang der Hütte. »Du hast mir nicht zu danken, mein Junge. Vielleicht kommt der Tag, an dem dir Dank gebühren wird. Lebe ohne zu große Hoffnung, Bördo, um nicht zu sehr enttäuscht zu werden. Die Macht der Magier ist größer, als du sie dir vorstellen kannst. Überschätze deine Gegner eher, als sie zu unterschätzen. Und nun sei der Segen der Götter mit dir.« Ein letzter Händedruck. Dann drehte Bördo sich wortlos um und trat seinen Weg an. In einem Beutel an seinem Gürtel befand sich die kleine Schale mit der Blume, die der Seher ihm mitgegeben hatte. Bördo hatte ihm versprechen müssen, niemandem von ihm zu erzählen. Er wollte weiterhin so leben, wie er es bisher getan hatte – allein und ohne
daß jemand von ihm wußte. Bördo respektierte diesen Wunsch. Nur eines bezweifelte er. Er glaubte dem Greis nicht ganz, daß er gewisse Ereignisse nicht voraussehen konnte. Und wenn er dann trotzdem geschwiegen hatte, mußte er stichhaltige Gründe haben. Gründe, die Bördo Angst machten. 5. Zwischenspiel: Zehn Orxeyaner und die Magier Sie waren aufgebrochen, um ihren Helden zu finden und zurückzuholen, den verlorenen Sohn der Händlerstadt Orxeya: Sator Synk. Zehn Orxeyaner, an ihrer Spitze Gandel Gars, eine Zweizentnerfrau mit nur wenig Sinn für Humor. Unter den Männern befanden sich Braker Hoyt, bis zum Aufbruch »Gewicht« von Orxeya. Sie hatten ihn gefunden und erlebt, wie er in heldenhaftem Kampf eines der Ungeheuer von Kalmlech tötete, das den Untergang der Horden der Nacht durch unbekannte Umstände überlebt hatte. Sie hatten mit Synk getrunken und gefeiert, bis dessen Roboter ihn entführten und die Orxeyaner verprügelten. Doch unerschrocken, wie sie waren, wollten sie sich erneut auf Synks Fersen heften. Nach Tagen sinnlosen Umherziehens war Pthor wieder zum Stillstand gekommen. Bald darauf begann es zu spuken. Nun nahmen Orxeyaner es mit jedem leibhaftigen Gegner auf. Doch das, was jetzt mit ihnen geschah, vor allem immer dann, wenn sie an Synks – und damit ihren – Feldzug gegen Besatzer und Feinde Atlans dachten, sorgte dafür, daß sie ihr Vorhaben schnell vergaßen und nur noch den Wunsch hatten, so schnell wie möglich nach Orxeya zurückzukehren. Magie war nichts für sie. Als sie nun die Stadtmauern vor sich sahen, war die Erleichterung so groß, daß Gandel Gars sich in einer Reihe von Flüchen auf die
unheimlichen Plagegeister Luft machte. Die Männer, durch den Anblick der Stadtmauern ebenfalls wieder mutig geworden, stimmten mit ein und stießen wüste Verwünschungen aus. Im nächsten Augenblick begannen ihre Reittiere zu tanzen, dann erhoben die Yassels sich einige Meter in die Luft und überschlugen sich. Die Reiter fielen aus den Sätteln und kamen hart auf. Sofort begannen kleine Flämmchen um sie herum zu züngeln. »Hört auf damit!« schrie Gandel schreckensbleich. »Es ist ja gut! Ich sage nie mehr etwas gegen euch!« Der Spuk verschwand so schnell, wie er gekommen war. Langsam schwebten die Yassels zu Boden. Die Orxeyaner rappelten sich auf und gingen, teilweise hinkend, mit aufeinandergepreßten Lippen und Angst in den Augen zu Fuß weiter, bis sie das Stadttor erreichten. Immer wieder blickten sie sich scheu um, doch nichts war von den Magiern zu sehen, die allein für den Spuk verantwortlich sein konnten. Sie hielten sich versteckt oder waren unsichtbar. Aber sie hörten alles, sahen alles, wußten sogar, was die Orxeyaner dachten. Das Stadttor war nicht bewacht, und auch auf der Mauer waren keine Posten zu sehen. Wie im Trauermarsch betraten die zehn ihre Stadt. Kaum ein Orxeyaner zeigte sich. Es gab keinen triumphalen Empfang, und als sie das Goldene Yassel betraten, fragte niemand nach Sator Synk. Der Wirt wirkte völlig eingeschüchtert und setzte sich nur zögernd zu den Heimkehrern, nachdem er ihnen Krüge mit Bier vorgesetzt hatte. »Paßt auf, daß nichts damit passiert«, warnte er und sah sich um, als fürchtete er, daß jemand hinter ihm stünde. »Was soll mit dem Bier passieren?« fragte Gandel, die jetzt an nichts anderes dachte, als allen Spuk mit ein paar Dutzend Krügen hinunterzuspülen. Ihr Tonfall war schon wieder gereizt. Sie wußte nicht, was auf Pthor und allem Anschein nach auch in Orxeya selbst vorging, aber sie wollte es auch nicht mehr wissen.
»Ruhig!« warnte der Wirt mit abwehrend ausgestreckten Händen. »Seid ganz ruhig. Sie hören euch!« Gandel war ruhig, doch in Gedanken wünschte sie den Magiern Tod und Teufel an den Hals. Der Krug in ihrer Hand explodierte. Zischend fuhr ihr das schäumende Bier ins Gesicht. Drei Männern erging es nicht anders. »Ich habe euch gewarnt«, sagte der Wirt leise. »Ihr vier habt an sie gedacht und sie beleidigt. Tut das nie wieder!« Gandel fluchte. »Wer sind ›sie‹?« Und nun erfuhren die Heimkehrer, was es mit ihren »Plagegeistern« auf sich hatte. Der Wirt berichtete, daß vor wenigen Tagen ein Magier in Orxeya aufgetaucht sei und den Bewohnern der Händlerstadt auf drastische Weise klargemacht hatte, wer nun auf Pthor das Sagen hatte. Diejenigen, die versucht hatten, ihn zu vertreiben, lagen zum großen Teil in ihren Betten und wurden von ihren Angehörigen gesundgepflegt. »Sator könnt ihr vergessen«, flüsterte der Wirt. »Er kommt ebensowenig gegen sie an wie wir. Zieht euch in eure Häuser zurück und verhaltet euch still. Tut nichts, was euch nicht von den Magiern befohlen wird. Sonst …« »Sonst?« fragte Gandel, und sie konnte die Gedanken, die sich ihr dabei aufdrängten, einfach nicht zurückhalten. Ihre Haare fingen Feuer. Es war ein kaltes Feuer, und ihre Kopfhaut war unversehrt, als sie entsetzt mit den Fingern über ihre Glatze fuhr. »Versteht ihr jetzt endlich?« fragte der Wirt. Sie verstanden. Diejenigen, deren Krüge noch heil waren, tranken sehr vorsichtig ihr Bier aus und versuchten dabei, an nichts zu denken. Dann standen sie nacheinander auf und schlichen wie geschlagene Hunde zu ihren Häusern. Den meisten passierte nichts mehr. Nur bei Gandel Gars würde es
noch eine Zeitlang dauern, bis sie sich soweit unter Kontrolle hatte, daß sie in relativer Sicherheit leben konnte. Sie sagte nichts mehr und fluchte nicht. Doch daß sie auf dem Heimweg Unerwünschtes gedacht hatte, war daran zu erkennen, daß sie völlig nackt und mit seltsamen Mustern auf der Haut zu Hause ankam. 6. Das Ruinenschloß im Emmorko‐Tal Es waren schlimme Minuten gewesen, vielleicht die schlimmsten im Leben des Sator Synk, das an Alpträumen reich war. Zweimal hatte Leenia ihn führen müssen, bis er wieder in der Lage gewesen war, allein zu gehen. Die schwankende Brücke unter seinen Füßen, darunter der gähnende Abgrund und die nach oben steigenden dunklen Schwaden, die plötzlich nicht nur die Todesangst brachten, sondern pure Verheißung. Synk hatte es geschafft, die Angst zu bekämpfen, als er die Mitte der Brücke erreicht hatte, doch gegen den Wunsch, der plötzlich in ihm war – den Wunsch, hinabzuspringen in die Dunkelheit, die ihm Erfüllung und tausend Freuden versprach, war er machtlos gewesen. Leenia konnte ihn im letzten Augenblick zurückhalten. Auch sie mußte gegen die Verlockung ankämpfen, doch ihr fiel es unendlich leichter. Sie erreichten die andere Seite der Schlucht. Synk fiel kraftlos in Leenias Arme und ließ sich tragen, bis sie endgültig außer Gefahr waren. Leenia legte ihn ab und kehrte zur Teufelsfurche zurück. Am gegenüberliegenden Ende der Brücke standen Valjaren und schienen unentschlossen zu sein, ob sie die Verfolgung fortsetzen sollten. Es waren bei weitem nicht mehr so viele wie anfangs. Nur die Mutigsten waren ihnen bis hierher gefolgt, und die Mutigsten dieser Tapferen würden es sein, die über die Teufelsfurche gehen
würden. Leenia wollte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Sie hatte Synks Schwert in der Hand und holte aus, um die Halteseile zu kappen, als sie begriff, wie töricht dies wäre. Sie würde sich den eigenen Rückweg abschneiden. Synk und sie brauchten die Brücke noch. Sie konnte jetzt nur eines tun. Leenia warf das Schwert zur Seite, betrat vorsichtig noch einmal die Brücke, bis sie etwa fünf Meter vom Rand der Schlucht entfernt war, und begann damit, die Planken von den Halteseilen zu lösen. Eine nach der anderen fiel hinunter und verschwand im aufsteigenden Rauch. Drüben, auf der anderen Seite, brüllten die Valjaren. Ein paar geschleuderte Heugabeln erreichten Leenia nicht. Langsam zog sie sich zurück, Planke für Planke lösend und in die Tiefe werfend. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, gab es auf eine Länge von fünf Meter nur die Seile. Wenn die Valjaren ihr und Synk nun immer noch folgen wollten, mußten sie sich an ihnen herüberhangeln. Das würde sie aufhalten und ihr einen Vorsprung geben. Leenia sah noch, wie die ersten Valjaren heftig gestikulierend die Brücke betraten und dadurch ein starkes Schwanken auslösten. Daß sie dennoch, nun sorgfältig balancierend, weitergingen, zeigte Leenia, wie groß der Zorn dieser Wesen auf sie sein mußte. Als sie zu Synk zurückkehrte und ihm sein Schwert in den Gürtel steckte, hatte dieser sich schon wieder einigermaßen von dem Erlebten erholt. Er stand auf, blickte sie unsicher an und ließ sich von ihr berichten, was sie getan hatte. Er nickte grimmig. Wortlos, nur dann und wann leise Verwünschungen von sich gebend, folgte er Leenia. Die Spuren, die die Befallenen auf ihrem Marsch zum Emmorko‐ Tal hinterlassen hatten, wiesen ihnen den Weg. Büsche waren niedergetrampelt und Moose aus dem Boden gerissen worden. Wie
eine mächtige Dampfwalze hatten sich die Befallenen, durch die in ihnen gefangenen Bewußtseine getrieben, ihren Weg gebahnt. Leenia gönnte sich und Synk keine Rast, bis es allmählich dunkler wurde – noch dunkler. Die Nacht brach herein, und bald war die Finsternis vollkommen. Weiterzugehen hatte keinen Sinn. Auch die Valjaren mußten, falls sie über die beschädigte Brücke gelangt waren, bis zum Anbruch des nächsten Tages warten. »Wir rasten«, entschied Leenia. »Versuche zu schlafen, Sator.« »Schlafen?« Synk lachte rauh. »Hier?« Er sah sich um. Während des Marsches hatte er einige Male geglaubt, Geräusche in den Büschen zu hören, und einmal hätte er schwören können, zwei glühende Augen im Halbdunkel zu erkennen, die verschwanden, als er einen Stein danach Warf. Er suchte den Himmel ab. Das Flattern von Flügeln war zu hören. Die Dunkle Region lebte. Das Leben war zwar spärlich, dafür aber um so unheimlicher. »Wenn wir wenigstens einen Roboter bei uns hätten«, knurrte der Orxeyaner. »Mit seiner Infrarotoptik hätte er uns weiterführen können.« Aber Diglfonk und die anderen zwölf waren weit. Es fiel Synk schwer, vor sich selbst zuzugeben, daß er sie vermißte. Pah! dachte er. Ich bin nicht auf sie angewiesen! Sollen sie sehen, wie sie ohne mich auskommen! Ich brauche sie nicht! Ich will sie nie mehr sehen! Das Wissen, daß er sich nur selbst etwas einzureden versuchte, trieb die Wut in ihm hoch. Er riß das Schwert aus dem Gürtel und stocherte wild in den Büschen um den Lagerplatz herum. »Du schläfst, Leenia«, sagte er. »Ich werde Wache halten.« Sie gab keine Antwort. Synk konnte kaum sehen, wie sie sich ins Moos legte und ausstreckte. Sie wollte tatsächlich schlafen! Mußte er sich denn ausgerechnet mit einer Frau zusammentun, die wahnsinnig war? Synk setzte sich neben sie, immer wieder um
sich blickend, und er betete darum, daß diese Nacht schnell vorbei sein möge. Irgendwo schrie ein Tier. Das Geräusch fuhr Synk durch Mark und Bein. * Etwa dreißig Valjaren hatten die Verfolgung aufgenommen. Siebzehn davon hatten die Hängebrücke erreicht, und zwölf befanden sich nun auf der anderen Seite der Teufelsfurche. Alle anderen waren umgekehrt. Brantent führte die Unerschrockenen immer noch an. Die Überquerung der Brücke hatte wertvolle Zeit gekostet. Nun waren die beiden Gejagten weit voraus, und vor Anbruch des Morgens war an eine Verfolgung nicht zu denken. Auch die Valjaren suchten sich einen geeignet erscheinenden Platz zur Übernachtung. Abwechselnd hielten sie Wache. Sie hätten ein Feuer machen können, doch sie verzichteten darauf, um nicht die Geschöpfe anzulocken, von denen ihre Legenden berichteten. Für Brantent stand nun fest, daß die beiden Fremden das Goldene Vlies rauben wollten, um dessen Macht im Sinn ihrer Herrn gegen Pthor einzusetzen. Brantent war ebenso wenig Widerstandskämpfer wie seine Artgenossen. Aber längst ging es ihm nicht mehr nur um den Schutz der valjarischen Dörfer und Felder. Das Goldene Vlies durfte nicht in die Hände der Fremden fallen. Es war ein Heiligtum. Es gehörte den Valjaren – zumindest in ihren Träumen. Doch die Aussicht, selbst das Goldene Vlies zu finden, trieb die Gruppe zusätzlich an. Ohne die Fremden hätte keiner von ihnen es gewagt, die Dunkle Region zu betreten. Nun schien die Erfüllung des tief in ihnen sitzenden Traumes zum Greifen nahe.
* Wieder einmal waren es die schlimmsten Stunden in Sator Synks Leben – zumindest aus seiner Sicht. Als es zu dämmern begann und Leenia sich erhob, war er mit den Nerven fertig. Voller Erstaunen sah er, daß Leenia viel frischer wirkte als am Tag zuvor. Ihre Augen hatten wieder den gleichen violetten Schimmer wie bei seiner ersten Begegnung mit ihr. Schon glaubte er, daß sie ihre alten Fähigkeiten wiedererlangt hatte, doch ihre Antwort auf eine entsprechende Frage ernüchterte ihn schnell. »Ich habe nicht wirklich geschlafen, Sator«, sagte die verstoßene Körperlose. »Ich habe neue Kräfte in mir aufbauen können. Wir sind nicht mehr ganz so schutzlos wie noch gestern.« Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Sie brachen auf. Bald war es hell genug, um der Spur der Befallenen wieder folgen zu können. Gegen Mittag breitete sich das Emmorko‐Tal vor ihnen aus. Aber schon waren die Verfolger wieder zu hören. Sie waren noch weit, aber sie folgten ebenso wie sie den Spuren. Noch hatte Leenia keine genaue Vorstellung davon, wie sie versuchen wollte, an die Maschinen unter dem Ruinenschloß zu gelangen. Zuerst würde sie noch einmal selbst versuchen, die Barriere zu durchdringen, von der sie mittlerweile annahm, daß sie nur auf Wesen wirkte, die – wie sie – erfassen konnten, was mit den Lunen geschehen war, und deshalb mit ganz bestimmten Absichten an die Maschinen heran wollten. Die Lunen waren umsichtig gewesen, wie die Signale gezeigt hatten, die plötzlich ausgestrahlt worden waren, als die Bewußtseine der Körperlosen, die sich dem Sog aus der Barriere von Oth anvertraut hatten, auf Pthor gestrandet waren. Als sie vor dem Dunkel flohen, indem sie sich vergeistigten und auf eine neue Heimat in anderen Dimensionen hofften, hatten sie Vorkehrungen für den Fall eines Scheiterns getroffen. Dazu gehörten die Signale, die nun längst verstummt waren und die
gestrandeten Körperlosen in ihren Trägerkörpern zum Ruinenschloß gelockt hatten, so wie sie die Lunen hätten zusammenführen sollen, und die Abschirmung der Anlagen, von denen Leenia annahm, daß sie ihr erlauben konnten, aus eigener Kraft in die Höheren Welten zurückzukehren, um sich zu rechtfertigen. Diese Sperren sollten verhindern, daß jene, vor denen die ehemaligen Bewohner der Dunklen Region vor langer Zeit geflohen waren, ihnen folgten oder, was Leenia wahrscheinlicher erschien, auf andere Weise Einfluß auf jene Räume ausübten, in die sie geflohen waren. Die Lunen hatten sich durch Meditation vereinigt. Die Maschinen unter dem Schloß konnten hierbei nur eine unterstützende Rolle gespielt haben. Leenia war auf Vermutungen angewiesen. Sie gab sich vielleicht irrationalen Hoffnungen hin, aber sie wußte, daß sie sich ewig Vorwürfe machen würde, wenn sie nicht wenigstens versucht hätte, sich die Anlagen zunutze zu machen. Sie mußte immer wieder an die Wandzeichnungen der Lunen denken, aus denen sie deren Geschichte erfahren hatte, und die davon Zeugnis gaben, daß irgend jemand den Lunen bei ihrem Schritt geholfen haben mußte. Vielleicht ein Mitglied der Gemeinschaft der Körperlosen. Es gab einen Zusammenhang, den Leenia nur spüren konnte. Und nur in jenem für sie gesperrten Raum mit den Maschinen konnte sie eine Antwort finden – wenn überhaupt. Der Gedanke, dieses Potential an hochmoderner Technik gegen die Gegner Pthors einzusetzen, war inzwischen in weite Ferne gerückt. Falls mit diesen Anlagen etwas gegen die Dunklen Mächte auszurichten gewesen wäre, hätten die Lunen nicht zu fliehen brauchen. Nein, Leenia ging es einzig und allein darum, noch einmal in Kontakt mit der Gemeinschaft zu treten, um dann vielleicht für immer als Körperliche an der Seite Atlans, von dem sie nicht wußte, wo er sich befand und ob er überhaupt noch lebte, und der noch freien Pthorer zu kämpfen. Zu lange waren die Höheren Welten ihre Heimat gewesen, als daß sie den Abschied im Zorn so einfach
hinnehmen konnte. Wenn sie wieder scheiterte, mußte Synk versuchen, zu den Maschinen zu gelangen. Deshalb hatte sie ihn mitgenommen. Leenia sah Synk von der Seite an. Hatte sie das Recht, ihn als Werkzeug zu benutzen und damit sein Leben in Gefahr zu bringen? Sie schwor sich, das, was sie von ihm verlangte, eines Tages zurückzugeben, falls sie dazu in der Lage war. Er konnte seine Angst nicht vor ihr verbergen. Dennoch ließ er sie nicht im Stich. Sie wollte alles an ihm wiedergutmachen, soweit es in ihrer Macht stand. Macht! Leenia mußte immer wieder erkennen, daß sie sich noch lange nicht mit dem Verlust ihrer Fähigkeiten abgefunden hatte. Das war gefährlich. Wenn sie sich im entscheidenden Moment selbst überschätzte, konnte dies für sie und Synk das Ende sein. Sie verscheuchte die quälenden Gedanken. Die Valjaren holten auf. Ihre Stimmen wurden lauter. Auch sie mußten spüren, daß sie dem Ziel nahe waren, obwohl noch keiner von ihnen jemals das Ruinenschloß gesehen hatte. Nun schälten sich seine Umrisse aus den Nebeln. Leenia führte Synk direkt auf den halb verborgenen Eingang zu, durch den sie schon einmal unter das Schloß gelangt war. Die Valjaren würden den Spuren weiter folgen, die die Befallenen verursacht hatten. Tausende hatten sich vor der gewaltigen Treppe gedrängt, die zum eigentlichen Schloß hinaufführte. Die Verfolger mußten annehmen, daß Leenia und Synk irgendwo dort oben in den Säulenhallen waren, wo Atlan tatsächlich das Goldene Vlies gefunden hatte. Leenia betrat das Labyrinth der aus dem Felsgestein gehauenen Gänge als erste. Synk folgte ihr auf dem Fuß. Er wirkte entspannter. Hier, in den alten Gängen mit dem Licht spendenden fluoreszierenden Moos an den Felsen, war die Dunkle Region nicht mehr allgegenwärtig. Sie hätten sich ebenso an anderen Orten
Pthors befinden können. Leenia und Synk erreichten den Raum mit den Anlagen. Die Sperre war unsichtbar, und doch wußte Leenia sofort, daß sie nach wie vor existierte. Mattes Licht ging von den leise summenden Maschinen aus. Sie lauschte kurz. Von den Valjaren war noch nichts zu hören. Doch die Zeit drängte. Früher oder später würden sie das Schloß durchsucht haben und den Eingang finden. Die Frau im roten Anzug atmete tief durch. Dann streckte sie vorsichtig die Hand nach der Barriere aus, nicht sicher, ob sie die Berührung auch diesmal unbeschadet überstehen würde. Dies war etwas, was sie noch nicht wußte: war ihr Körper nach wie vor in der Lage, Energien zu absorbieren und zu verarbeiten, wie es beim erstenmal geschehen war, als sie in die Barriere gerannt war? »Tritt weiter zurück, Sator«, bat sie den Orxeyaner, ohne den Blick von ihren Fingerspitzen zu nehmen. »Suche dir eine Deckung.« Denn sie wußte nicht, was die Berührung auslösen würde, und ob sie es kontrollieren konnte. * Es war, wie Leenia vermutet hatte. Die Valjaren stürmten die Treppe zum Schloß hinauf, das in etwa einem Maya‐Tempel ähnelte, mit ineinander verschachtelten Aufbauten, Säulenhallen und großen runden Türmen. Sie betraten die unteren Hallen, stürmten durch die Korridore, rannten Treppen hinauf und wieder hinunter. Überall lagen Steinbrocken herum, die sich aus den Mauern und Decken gelöst hatten, und versperrten ihnen den Weg. Hier war gekämpft worden, doch schon vor einiger Zeit. Die Valjaren drangen schließlich in die Halle vor, in der der Kampf um das Goldene Vlies
zwischen Atlan und Blodgahn, dem Wächter der Dunklen Region, stattgefunden hatte. Sie fanden den leeren Schrein und wußten, daß sie zu spät gekommen waren. Hier hatte es gelegen – das Goldene Vlies, der Traum von Macht und Größe. Sie alle hatten den Schrein in ihren Träumen gesehen, wenn auch nur vage. Nun standen sie vor ihm. »Sie sind uns zuvorgekommen!« sagte einer von ihnen voll bitterer Enttäuschung. »Nicht die beiden, Kerhan«, sagte Brantent mit tonloser Stimme. »Hier.« Er fuhr mit dem Finger fast ehrfürchtig durch den Staub, der sich auch auf dem Boden des Schreins angesammelt hatte. »Das Goldene Vlies ist schon lange fort. Vielleicht ist doch etwas Wahres an den Worten derer, die wissen wollen, daß Atlan es erobert hat.« »Ich glaube nicht daran«, widersprach Seltah, eine noch junge Valjarin und die einzige Frau, die sich nun noch in der Gruppe befand. »Ich denke vielmehr, daß die beiden es doch genommen und irgendwo versteckt haben. Ich meine, daß sie schon einmal hier waren und es damals raubten. Nun sind sie zurückgekommen, um es zu holen.« Einige der Männer nickten. »Du könntest recht haben«, sagte Brantent. Er versuchte, Spuren der Gejagten auf dem Boden der Halle zu finden, doch die Valjaren hatten schon zu viele Spuren gemacht, als daß man erkennen konnte, ob vor ihnen jemand hier gewesen war. »Aber dann müssen wir zurück!« rief Kerhan. »Sie kennen sich hier aus und sind vielleicht schon nicht mehr im Schloß!« Brantent wollte zustimmen und einen entsprechenden Befehl geben, als von irgendwoher ein langgezogener, markerschütternder Schrei kam und die Valjaren heftig zusammenfahren ließ. Er wurde von den Wänden zurückgeworfen. Die Richtung, aus der er gekommen war, ließ sich nicht bestimmen. Ein zweiter Schrei. Es war die Stimme einer Frau – der Fremden im roten Anzug.
Brantent nahm all seinen Mut zusammen und hastete aus der Halle hinaus auf einen der sie umgebenden Säulengänge. Er beugte sich über die niedrige Mauer, hinter der eine Freitreppe nach unten führte. Und wieder schrie die Frau. Jetzt war es ganz deutlich zu hören. Die Stimme kam von unten, doch nicht vom freien Gelände vor dem Schloß. Die beiden Fremden mußten sich unter dem Bauwerk befinden. Der Gedanke daran, daß sich dort, von wo die Schreie kamen, auch das Goldene Vlies befinden könnte, ließ Brantent und seine elf Artgenossen ihre Angst vergessen. Sie stürmten geschlossen aus der Ruine, die großen Treppen hinab, bis sie auf dem freien Platz standen, der so zertrampelt war, als hätte hier tagelang eine Viehherde gestanden. Wild entschlossen, alles zu tun, um das Goldene Vlies aus den Händen der Fremden zu befreien und im Triumphzug in ihr Dorf zu bringen, suchten sie die unmittelbare Umgebung des Schlosses ab. Die Frau schrie nicht mehr, dafür war jetzt das Geräusch herabfallender Steine zu hören. Es wies den Valjaren den Weg. Brantent hatte seine Heugabel und eine Sense nach der Fremden geschleudert, als diese die Planken von der Hängebrücke löste. Jetzt umklammerten seine kräftigen Hände den Knüppel, der ihm geblieben war. Die Valjaren stürmten nacheinander in das Labyrinth unter der Schloßruine. Zunächst spendeten nur die an den Wänden wachsenden, fluoreszierend schimmernden Moose Licht, dann erfüllte eine andere Helligkeit die Gänge, je mehr sie sich der Quelle der Geräusche näherten. * Es war anders! Leenia war sich dessen, was in und mit ihr vorging, nicht bewußt. Sie hatte die Energiewand berührt. Die wie aus dem Nichts
entstandenen Blitze hatten sie geblendet. Ihr ganzer Körper drohte zerrissen zu werden. Halb war ihr das, was sie fühlt, vertraut, halb erfüllte es sie mit Panik. Sie schrie. Sie hatte die Hand längst zurückgezogen. Von ihr ging der Schmerz aus, der sich in den ganzen Körper zu fressen schien. Aber sie lebte. Irgend etwas baute sich in ihr auf, staute sich und drängte nach draußen. Ihr Körper wandelte die in sie übergeflossenen Energien um, doch sie konnte sie nicht mehr in sich halten, wie dies früher der Fall gewesen wäre. Sie mußte sie abgeben, wenn sie nicht von innen heraus zerfressen werden wollte. Irgendwo stand Synk. Leenia konnte ihre Umgebung wieder schwach erkennen, doch den Orxeyaner sah sie nicht. Sie wand sich und schrie wieder. Sie sah nur eine einzige Möglichkeit. Ihre Augen brannten! Leenia machte ein paar Schritte von der Sperre zurück und gab die Energien frei. Violette fingerdicke Strahlen fuhren aus ihren Augen und schlugen in den Schirm. Wo sie auftrafen, bildeten sich blutrote Punkte, die Adern nach allen Seiten hin ausbildeten. Der Eingang zur Halle mit den Instrumenten strahlte für kurze Zeit. Dann war wieder alles so wie vorher. Nur die erleuchteten Kontrollen der Geräte spendeten ihr schwaches Licht. Leenia geriet ins Taumeln und fand erst Halt, als sie eine der Wände im Rücken spürte. Sie atmete schwer. Noch immer waren Energien in ihr, aber es bestand nicht mehr die Gefahr, daß sie sie von innen heraus verzehrten. Unbewußt, mit Sinnen, die nur ein Wesen haben konnte, das lange jenseits der Dimensionen gelebt hatte, spürte sie, daß es sich tatsächlich, wie sie vermutet hatte, um Energien auf einem unglaublich hohen Niveau handelte, die ihr den Weg versperrten. Sie konnte sie aufnehmen, aber nicht durchdringen. Nur dies hatte ihr ja die Hoffnung gegeben, daß ein Normalsterblicher ohne Schaden zu nehmen in die riesige Halle mit den Geräten eindringen konnte. Es war kein Energievorhang, wie ihn die raumfahrenden Rassen dieses Universums als Schirm vor
ihre Schiffe legten. Es war viel komplexer. Eine Hand legte sich auf Leenias Arm. Sie zuckte zusammen und sah Synk vor sich stehen. Der Orxeyaner lächelte sie aufmunternd an. Welche Überwindung mochte ihn dieses Lächeln kosten, ihn, der wußte, was sie nun von ihm verlangen würde, der beobachtet haben mußte, was mit ihr geschehen war. »Bist du in Ordnung?« fragte Synk leise. Leenia nickte zögernd. »Sator, ich weiß nicht mehr, ob ich dich …« Sie suchte nach Worten. »Ob ich dich in Gefahr bringen darf. Es …« »Warte«, sagte der Orxeyaner. Verwirrt registrierte Leenia, daß die Rollen nun plötzlich vertauscht waren. Jetzt war sie es, die zitterte, und Synk derjenige, der Ruhe ausstrahlte. Synk bückte sich und hob einen Stein auf. Gebannt verfolgte Leenia, wie er ihn warf. Jenseits der Sperre fiel er auf den Boden der Gerätehalle. Er hatte den Schirm durchdrungen. »Ich werde es jetzt versuchen«, verkündete der Orxeyaner mit fester Stimme. Leenia wollte ihn zurückhalten. Plötzlich hatte sie Zweifel an ihren Überlegungen. Wenn das energetische Niveau des Vorhangs nun doch so beschaffen war, daß Synk und jeder, der ihn passieren wollte, darin vergehen mußte …? Sie schrie ihm eine Warnung zu, doch schon war er dort, wo sich noch eben das rote Strahlen wie ein feines Spinnennetz im Eingang zur Halle befunden hatte. Synk prallte gegen etwas. Leenia schrie auf und schlug sich verzweifelt die Hände vor die Augen. Sie erwartete Synks Todesschrei. Doch der blieb aus. Sie nahm die Hände herunter und sah, wie der Orxeyaner mit Gewalt versuchte, gegen ein Hindernis anzurennen. Es war, als prallten seine Schultern gegen eine feste, unsichtbare Wand. Keine Blitze, keine Entladungen. Leenia an Synks Stelle wäre verbrannt. Sie hatte also recht gehabt – und doch unrecht.
»Komm zurück, Sator«, flüsterte sie. Wieder hatte sie das Gefühl, von innen heraus verbrennen zu müssen. Leenia drehte sich so, daß ihr Blick in den Korridor gerichtet war, durch den sie gekommen waren, und gab einen weiteren Teil der Energien ab. Die violetten Strahlen fuhren in die Wände und einen Teil der Decke. Große Gesteinsbrocken kamen polternd herab. Staub wurde aufgewirbelt. Synk gab die sinnlosen Versuche auf. Leenia erholte sich diesmal schneller als vorhin. Sie spürte, daß sie noch einmal Energien abgeben mußte, sobald diese sich genügend angestaut hatten. Im Augenblick hatte sie Ruhe. Synks Gesicht war im aus der Halle dringenden Schimmer gut zu erkennen. Es zeigte Resignation. Er breitete die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit aus und zuckte mit den Schultern. Plötzlich waren die Stimmen der Valjaren wieder zu hören. Sie waren im Labyrinth. Sie hatten ihre Spur gefunden, ihre Schreie gehört und kamen schnell näher. Leenia und Synk saßen in der Falle. Der Gang endete hier. Es gab Abzweigungen, die jedoch nach wenigen Metern endeten und bestenfalls als Versteck für wenige Sekunden dienten. »Ich versuche es noch einmal«, sagte Synk trotzig, wobei er in der Richtung, aus der sie gekommen waren, etwas zu erkennen versuchte. Noch waren die Valjaren nicht heran. Noch blieben ihnen wertvolle Sekunden. Wenn sie erst einmal hinter der Barriere waren … Leenia ahnte, was Synk sich ausrechnete. Aber er täuschte sich. Selbst falls er doch noch durch die Barriere gelangen konnte, würde sie hier im Gang bleiben müssen. In der kurzen Zeit, die ihnen blieb, konnte er unmöglich die Geräte finden, die für die Barriere verantwortlich waren, und diese zerstören oder abschalten. Die Sperre war noch komplexerer Natur, als Leenia gedacht hatte. Unberücksichtigte Faktoren mußten eine Rolle spielen. Synk weiß, was mit den Lunen geschah! durchfuhr es die verbannte Körperlose. Die Sperre reagiert auf Gedanken! Er kennt die Geschichte
der Lunen, auch wenn er sie vielleicht nicht begreift, aber wenn es Mechanismen gibt, die auf die Gedanken derer, die sich der Sperre näherten, reagierten, so müssen sie verhindern, daß Synk als Wissender eindringt. Er könnte einer von jenen sein, vor denen die Lunen geflohen waren! Nur so konnte es sein. Leenia hatte von Anfang an keine Chance gehabt. Als sie sah, wie der Orxeyaner das Schwert fester packte und Anstalten machte, den Valjaren entgegenzugehen, packte sie seinen Arm und zerrte ihn mit sich in den nächstbesten Nebengang, der nach nur fünf Metern endete. Er mündete einige Meter hinter dem Eingang zur Halle mit den Geräten. Vielleicht hatten sie so wenigstens die Chance, in den Rücken der Valjaren zu gelangen und aus dem Labyrinth zu entkommen. Synk wehrte sich. Jetzt wollte er kämpfen. Zu lange hatte er sich zur Untätigkeit verdammt in einer unheimlichen Umgebung bewegen müssen. Nun waren handfeste Gegner da. Wesen aus Fleisch und Blut, mit denen er es aufnehmen und sein angekratztes Selbstbewußtsein aufpolieren konnte. Leenia hielt ihn fest. Sie schlang ihre Arme um ihn und legte ihm eine Hand auf den Mund. Plötzlich war der Orxeyaner ganz still. Die Hand mit dem Schwert sank herab. Die Valjaren waren heran. Aus der Dunkelheit heraus konnten Leenia und Synk sie sehen, wie sie aus dem Hauptgang auftauchten. Das Licht aus der Halle beleuchtete entschlossene, wilde Gesichter. Und jetzt war der erste durch die Barriere! Leenia schrie in ungläubigem Erstaunen auf. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hatte keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Die Valjaren fuhren herum, versuchten, im Dunkel des blinden Ganges etwas zu erkennen, und stürmten dann vor. Synk riß sich los und rannte ihnen brüllend entgegen, das Schwert schwingend und bereit, sein Leben für Leenia zu geben.
* Der kleine bärtige Mann aus Orxeya schlug um sich wie ein Besessener. Er trieb die Valjaren aus dem Nebengang heraus, ohne sich nach Leenia umzusehen. Sie sollte im Hintergrund bleiben. Zum erstenmal seit langer Zeit dachte Synk nicht an sich, sondern schlug sich für einen anderen. Leenia durfte nichts geschehen. Synk traf auf Widerstand. Die Valjaren sammelten sich vor dem Eingang in die große Halle und konterten. Synk mußte Harken und Knüppeln ausweichen. Mit wilden Schreien trat er nach allem, was ihm zu nahe kam, und ließ die flache Klinge auf die Köpfe der Flußanwohner herabsausen. Er wollte keinen von ihnen töten, und sie hatten es allem Anschein nach auch nicht auf sein Leben abgesehen. Synk mußte einige Schläge einstecken. Er war unermüdlich in Bewegung. Der kleine Mann glich jetzt einer Kampfmaschine, vor der die Valjaren langsam, aber sicher weiter zurückwichen, auf den Eingang der Halle zu. Zwölf Gegner. Synk mußte darauf achten, daß sie sich nicht an ihm vorbei in seinen Rücken schleichen konnten. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit nützte ihnen hier im kaum zwei Meter breiten Gang wenig, solange er sie alle vor sich hatte. Die Hinteren drängten nach vorne und schoben die vor ihm Stehenden gegen Synk. Ein paar Schläge mit der flachen Klinge sorgten dafür, daß diese nicht vorankamen. Sie brüllten ebenso laut wie Synk, der nicht bemerkte, wie Leenia hinter ihm aus dem Nebengang kam und sich mit dem Rücken an eine Wand preßte. Dafür sahen die Valjaren sie, und die Art, wie sie sich bewegte, vorsichtig und langsam an der Wand entlang zurückweichend, mußte sie denken lassen, daß sie sich davonstehlen wollte, während Synk sie davon abhalten wollte, ihr zu folgen. Diese Frau mußte wissen, wo das Goldene Vlies versteckt war, und nun versuchen,
sich damit aus dem Staub zu machen. Die Angst davor machte in den Valjaren zusätzliche Kräfte frei. Ein Ruck ging durch die Gruppe, und Synk wurde überrannt, bevor er begriff, wie ihm geschah. Sie drückten ihn einfach gegen eine Wand und stürmten an ihm vorbei auf Leenia zu. Diese sah ihre Chance. Die Valjaren waren zwischen ihr und dem Eingang zur Halle – zwischen ihr und der Sperre. Und was sie gesehen hatte, als Synk gegen sie kämpfte, hatte blitzschnell einen Plan in ihr reifen lassen. Deshalb hatte sie bewußt den Anschein erweckt, sich wie eine Diebin davonschleichen zu wollen. Leenia wartete, bis die ersten Flußanwohner fast heran waren, dann gab sie die in ihr angestauten Energien ab. Die violetten Strahlbahnen aus ihren Augen standen für fast drei Sekunden im Raum und erhellten den Gang. Sie fuhren dicht vor den Füßen der Angreifer in den Boden. Zischend stieg heißer Dampf auf. Die Valjaren schrien in Panik. Sie machten kehrt und rannten zurück – in die Halle. Leenia war am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Als sie zusammenbrach, sah sie gerade noch, wie der letzte der Valjaren in abergläubischer Furcht vor diesem Wesen, das aus den Augen Blitze verschleudern konnte, die unsichtbare Sperre passierte. Sie saßen in der Falle. Synks Gesicht erschien vor Leenias Augen. Sie nahm es nur undeutlich wahr. Er kniete sich neben ihr nieder und stützte sie, immer wieder zu den Valjaren hinüberblickend, die sich jetzt zwischen den fremden Maschinen befanden und sahen, daß ihre Gegnerin kraftlos am Boden lag. Einige faßten neuen Mut, überwanden ihre Scheu und versuchten, aus der Halle zurück in den Gang zu gelangen, um sich erneut auf sie zu stürzen. »Bleib hier, Sator«, flüsterte Leenia, als Synk aufspringen und sich ihnen entgegenwerfen wollte. »Sie … sie können nicht mehr heraus …«
Im gleichen Augenblick prallten die Valjaren wie zuvor Sator Synk gegen das unsichtbare Hindernis, das eben noch nicht da gewesen war; einer mit solcher Wucht, daß er sofort ohnmächtig zu Boden ging. Die anderen sprangen zurück, fluchten laut und streckten vorsichtig ihre Hände nach der unsichtbaren Wand aus. Synks Kinnlade war vor Staunen nach unten geklappt. »Aber …«, brachte er stammelnd hervor, »… aber das … das ist verrückt! Sie konnten ohne weiteres in die Halle hinein, und nun …« »Ich verstehe es selbst nicht, Sator. Ich sah, wie der, der sich schon in der Halle befand, als sie uns entdeckten, den anderen zu Hilfe kommen wollte, aber nicht mehr aus der Halle herauskam. Ich hatte gehofft, daß sie dorthin fliehen würden, wenn ich meine Energien abgab. Sie sind abergläubisch. Wer weiß, was sie jetzt in mir sehen.« Sie stieß eine Verwünschung aus. »Sie sehen aber jemanden, der seine Kräfte verbraucht hat. Ich bin bald wieder in Ordnung, Sator, obwohl es wohl Tage oder Wochen dauern wird, bevor ich wieder ein solches Feuerwerk veranstalten kann. Solange mußt du mit ihnen reden.« »Reden? Ich? Aber was soll ich …?« »Du mußt ihnen beibringen, daß sie die Anlagen zerstören sollen, die für die Sperre verantwortlich sind. Sie müssen jetzt das tun, was ich eigentlich dir zugedacht hatte, Sator. Du sprichst ihre Sprache besser als ich, außerdem würden sie mir gar nicht zuhören, wenn ich jetzt aufstehen und zu ihnen sprechen würde. Wahrscheinlich machen sie mich dafür verantwortlich, daß sie nicht herauskönnen. Ich …« Leenia mußte eine Pause machen. Sie atmete heftig. »Ich sage dir, was sie tun sollen.« Die verstoßene Körperlose schrie heiser auf, als die Valjaren in der Halle nun begannen, in Panik und Verzweiflung auf alles einzuschlagen, was ihnen gerade im Weg stand. »Sie dürfen die Maschinen nicht wahllos zerstören, Sator! Geh zu ihnen und … und sage ihnen, daß wir es nicht haben!« »Was haben wir nicht?« »Sie sind wie besessen von dem Gedanken, daß wir das Goldene
Vlies haben und mitnehmen könnten. Ich konnte für einen Augenblick ihre Gedanken auffangen.« »Aber Atlan hat das Goldene Vlies!« »Dann sag es ihnen! Schnell, bevor sie sich und uns in die Luft jagen und …« Und mir den vielleicht einzig gangbaren Weg noch einmal zurück in die Höheren Welten abschneiden, wollte sie hinzufügen, aber schon war Synk aufgesprungen. Der Orxeyaner blieb in respektvoller Entfernung vor der Barriere stehen. »He!« brüllte er so laut, daß Leenia sich die Ohren zuhalten mußte. »Ihr da drinnen! Hört auf mit dem Unsinn! Ihr wollt das Goldene Vlies haben. Ich kann euch sagen, wo ihr es findet!« Leenia erstarrte. War Synk verrückt geworden? * Die Valjaren schlugen nicht nur auf die Maschinen ein, die das unheimliche Licht spendeten und leise summten, als wären sie lebendig, sondern hatten mittlerweile auch damit begonnen, sich gegenseitig zu verprügeln. Vor Angst konnten sie nicht mehr klar denken. Die Fremde, die mit den Augen Blitze verschleudern konnte, die unsichtbare Wand, die sie am Verlassen der Halle hinderte, die Maschinen, die zu leben schienen. All das kam für sie zusammen und stellte ein einziges Werk eines finsteren Dämons dar. Vielleicht war die Frau der Dämon, vielleicht auch der Bärtige. Nur ein Besessener konnte so kämpfen wie er. Jeder gab jedem die Schuld an ihrer Lage. Kerhan stieß die Zähne seiner Heugabel in das nächstbeste leuchtende Feld auf einer der Maschinen und sprang schreiend zurück, als eine Stichflamme daraus hervorfuhr und es Funken von der Decke regnete. Alle schrien, dann waren sie über
Kerhan. Brantent machte keine Ausnahme. Dieses Teufelswerk mußte zerstört werden, aber wenn dies nur weiteren, furchtbaren Zauber zur Folge hatte, mußte eben andere, ungefährlichere Objekte herhalten, an denen die Valjaren ihre Aggressionen abreagieren konnten. Und am ungefährlichsten waren die anderen Valjaren. Sie konnten weder explodieren noch Stichflammen werfen. Dann hörten sie die Stimme des Bärtigen. Sie fuhren herum, wollten sich auf ihn stürzen, doch wieder prallten sie gegen die unsichtbare Wand. Er rief etwas vom Goldenen Vlies! Brantent vergaß allen Spuk. Mit ein paar gezielten Faustschlägen brachte er die neben ihm Tobenden zur Ruhe, nicht ohne sich selbst einige zusätzliche Beulen und Schrammen einzuhandeln. »Hört auf, ihr Narren!« brüllte er. »Der Kerl will verhandeln!« Ganz so sah er es natürlich nicht. Aber allein die Erwähnung des Goldenen Vlieses ließ ihn neue Hoffnung schöpfen. Wer das Goldene Vlies suchte, konnte nicht allmächtig sein. Unbewußt stellte Brantent Synk und die Fremde wieder mit sich auf eine Stufe. Sie alle waren hinter dem Goldenen Vlies her. »Seid ihr endlich wieder normal geworden?« brüllte der Bärtige jetzt. »Du da!« Synk deutete mit der Schwertspitze auf Brantents Brust. »Du bist doch ihr Anführer. Sage ihnen, daß sie aufhören sollen, die Maschinen zu zerschlagen, wenn ihr hier wieder herauskommen wollt!« »Was ist mit dem Goldenen Vlies?« schrie Brantent zurück. »Ich weiß, wo es ist, und wenn ihr vernünftig seid, können wir darüber reden.« »Es gehört uns! Und wir werden es uns holen!« »Dann solltet ihr zuerst einmal dafür sorgen, daß ihr aus der Halle herauskommt. Ich schlage euch einen Handel vor. Ihr tut jetzt das, was ich euch sage, und als Gegenleistung verrate ich euch, wo ihr euch das Goldene Vlies holen könnt!« »Du lügst!« Der Bärtige zuckte die Schultern. Er grinste.
»Warum sollte ich lügen? Ich und meine Begleiterin sind frei – ihr nicht. Wenn wir jetzt verschwinden würden, könntet ihr hier verschmachten, wenn ihr euch nicht vorher selbst die Hälse umdreht oder in die Luft sprengt. Ich verspreche euch, daß weder Leenia noch ich das Goldene Vlies für uns haben wollen. Würden wir sonst noch hier sein?« Brantent sah den Bärtigen forschend an. Dann wechselte er einige Blicke mit den anderen Valjaren. Die Frau neben ihm sagte: »Er lügt, Brantent. Ich traue ihm nicht.« »Aber er hat recht«, widersprach Kerhan. »Die beiden könnten uns hier sterben lassen.« »Sie wollen etwas von uns«, knurrte Brantent. »Natürlich«, bestätigte Synk. »Wir sind an den Maschinen interessiert, können aber erst an sie heran, wenn ihr draußen seid. Und nur durch die Maschinen läßt sich die unsichtbare Mauer auflösen. Also tut, was wir euch sagen, und geht vorsichtig mit den Geräten um.« »Wer garantiert uns, daß du uns nicht betrügen willst?« Synk stöhnte. »Wir schlagen euch einen fairen Handel vor. Ihr helft uns, an die Maschinen zu kommen, und ich sage euch, wo das Goldene Vlies zu finden ist.« »Damit ihr die Maschinen gegen Pthor verwenden könnt!« rief ein Valjare aus dem Hintergrund. »Jetzt reichtʹs!« knurrte Synk. Dann explodierte er förmlich. »Wir sind keine Besatzer, ihr Trottel! Wir kämpfen doch gegen sie! Jeder kennt Sator Synk und seine Taten!« »Synk …« Kerhan schien zu überlegen. »Ja, den Namen habe ich schon einmal gehört. Er kämpfte gegen die Krolocs. Was ist mit ihm?« »Was mit ihm ist?« Sator Synk machte große Augen, schnappte nach Luft und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Er steht vor euch! Ich bin Sator Synk. Habt ihr noch nie einen Orxeyaner
gesehen? Ich weiß genau, daß meine Leute schon einmal bei euch waren, um mit euch Handel zu treiben. Wer kauft denn eure Ernte, wenn ihr mehr aus dem Boden holt, als ihr für euch braucht? Ich bin Synk. Und die Frau hinter mir ist Leenia; die dafür sorgte, daß die Kranken, die vor kurzem über den Xamyhr setzten und in die Dunkle Region eindrangen, wieder gesund wurden.« »Die Wahnsinnigen«, murmelte Brantent. Er hatte sie zwar nicht selbst gesehen, doch genug davon gehört, daß sie Zusammenstöße mit anderen Valjaren weiter unten im Süden gehabt hatten, vor allem, als sie aus der Dunklen Region zurückkehrten. Er versuchte, sich ein Bild von der Situation zu machen. Schließlich war er bereit, dem Bärtigen zu glauben. »Was sollen wir tun?« fragte er. Die anderen Valjaren protestierten nicht. Sie waren jetzt ruhig. Selbst als nun die Frau herankam, hielten sie an sich. Sie hatten Angst vor ihr, aber sie begriffen, daß sie allein ihnen das Leben retten konnte. »Die Maschinen«, sagte Leenia, die einsehen mußte, daß Synk die Mentalität der Valjaren tatsächlich viel besser hatte einschätzen können als sie selbst. »Ich will versuchen, euch zu dirigieren.« Brantent sah sich unsicher um. Diese blinkenden, leuchtenden und summenden Kästen waren für ihn etwas völlig Fremdes. In den Dörfern der Valjaren gab es keine Maschinen. Die einzigen, die sie zu Gesicht bekommen hatten, waren die Zugors der Technos gewesen, die in regelmäßigen Abständen gekommen waren, um überschüssige Ernte abzuholen. Viel seltener war es vorgekommen, daß Händler aus Orxeya erschienen waren. Für Brantent war diese Halle Teil einer fremden, unverständlichen Welt. Und als Leenia nun die ersten Anweisungen gab, dauerte es Minuten, bis die Valjaren sich trauten, die Knöpfe und Hebel an den Geräten zu berühren, auf die sie eben noch eingedroschen hatten. Sie verließen sich darauf, daß die Fremde wußte, was sie von ihnen verlangte. Dabei hatte Leenia ebensowenig wie sie eine Ahnung, wo sie
anzusetzen hatte. Die Maschinen mußten der Reihe nach »ausprobiert« werden, bis die Barriere fiel. Es konnte durchaus sein, daß dabei diejenigen aktiviert wurden, von denen sie sich eine Rückkehr in die Höheren Welten erwartete. Leenia wußte gar nichts. Nicht einmal, welchen Anteil die Anlage am Exodus der Lunen hatte. Vielleicht hatte sie sich in eine fixe Idee verrannt. Sie mußte es herausfinden. * Sator Synk hatte die Hand gegen die unsichtbare Wand gelegt, so daß er es augenblicklich merken würde, wenn sie sich auflöste. Leenia stand neben ihm und dirigierte die Valjaren. Nur zwei von ihnen durften an die Geräte. Die anderen befanden sich dicht aneinandergedrängt in der Mitte der schätzungsweise zehn mal zwanzig Meter großen Halle. Sie gaben sich keine Mühe, ihre Furcht zu verbergen. Was Brantent und der andere, ein junger Valjare namens Teynelt, da taten, war ihnen nicht geheuer. Doch ein Blick auf Synk und ein Wort vom Goldenen Vlies zur rechten Zeit ließ sie ruhig bleiben. Derjenige, der mit dem Schädel hart gegen die Barriere geprallt war, hatte keine schwere Verletzung davongetragen, und auch die anderen hatten vom Kampf nur Schrammen und Beulen. Noch war es nicht zur von Leenia und Synk befürchteten Katastrophe gekommen. Wieso hatten die Valjaren in die Halle laufen können, wenn sie sie nun nicht mehr verlassen konnten? fragte sich die verstoßene Körperlose. Daß sie die Sperre überwinden konnten, erschien ihr logisch, denn kein Valjare wußte, was vor langer Zeit im Schloß gewesen war und wozu die Maschinen dienten. Aber wieso war ihnen dann der Rückweg abgeschnitten?
Leenia scheuchte die Fragen beiseite. Sie brachten nichts ein. Die nächste Maschine. Jeder der rechteckigen Blöcke konnte über die Schaltungen für den Auf‐ und Abbau der Sperre verfügen. Leenia kam sich vor wie ein Kind, das mit Bomben spielte. Sie gab ihre Anweisungen, immer wieder, fast schon wie ein Automat. Diese Knöpfe dort – drückt sie vorsichtig ins Pult. Die Hebel daneben – legt sie um, aber einen nach dem anderen. Jetzt, achtet auf die Lichter! Wohin bewegt sich der Zeiger der erleuchteten Skala? Sie wußte nicht, wie lange sie so ihre unfreiwilligen Helfer dirigiert hatte, als Synk, der sich mittlerweile in gekünstelter Lässigkeit mit der Hand gegen die unsichtbare Wand gestützt hatte, in die Halle fiel. Sie begriff nur, daß sie es geschafft hatten, und Augenblicke lang weigerte sich ihr Bewußtsein, das zu akzeptieren. Die Valjaren standen wie erstarrt da und sahen zu, wie Synk sich fluchend aufrichtete, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ihn zu überwältigen. Brantent und Teynelt schienen nur langsam zu begreifen, daß sie die unsichtbare Wand bezwungen hatten. Ungläubig blickten sie zuerst auf Synk, dann auf Leenia, schließlich auf ihre Hände. Leenia betrat die Halle. Vorsichtig schritt sie über die Schwelle, an der der Schirm gestanden hatte. Sie blieb unversehrt. Sie war am Ziel. Sie konnte die Maschinen berühren. Jetzt würde sie bald wissen, ob ihre Hoffnungen berechtigt gewesen waren. Leenia war von dem Gedanken so in den Bann geschlagen, daß sie die Veränderung, die in den Valjaren vor sich ging, erst bemerkte, als Synk schrie. »Wir haben getan, was ihr wolltet«, knurrte Brantent. »Jetzt gebt uns das Goldene Vlies!« »Wartet! Verdammt, bleibt stehen!« brüllte Sator Synk, das Schwert drohend auf Brantents Brust gerichtet. »Ich sagte euch, daß wir an die Maschinen müssen. Ihr werdet warten, bis Leenia sie … sie untersucht hat.« Synk warf ihr einen schnellen Blick zu, und in
seiner Stimme lag eine seltsame Betonung. Erst jetzt schien ihm bewußt zu werden, worauf er sich da wirklich eingelassen hatte. Vielleicht hatte er auch nicht daran geglaubt, daß sie in die Halle kamen. Auf jeden Fall fragte er sich jetzt, was geschehen würde, falls Leenia Erfolg haben würde. Sie konnte einfach verschwinden und ihn hier allein zurücklassen. Nicht, daß er Angst vor den Valjaren hätte – mit ihnen würde er sich schon irgendwie arrangieren können, bis die aus der Dunklen Region heraus waren. Und dort warteten, so hoffte er, die Roboter. Aber plötzlich ohne Leenia sein? Durfte er überhaupt zulassen, daß sie sich in Gefahr begab? Er sah doch, daß sie völlig im dunkeln tappte. »Warum redest du nicht weiter?« fragte Brantent drohend. »Wozu will sie die Maschinen untersuchen? Gebt uns das Goldene Vlies und bleibt hier, solange ihr wollt. Aber versucht nicht, uns hinzuhalten!« Synk kniff die Augen zusammen. »Ist das eure Dankbarkeit dafür, daß wir euch vor dem Verhungern und Verdursten gerettet haben?« Wieder sah er zu Leenia hinüber, die nun wie in Trance vor einem länglichen, zwei Meter hohen Kasten stand, der mit kleinen Lämpchen und Knöpfen übersät war. Ihre Finger berührten einige der Knöpfe, und nun schlugen die Zeiger verschiedener Skalen aus. »Noch habt ihr nichts anderes getan, als euch selbst zu retten – mit unserer Hilfe. Wenn ihr wissen wollt, wo ihr euch das Goldene Vlies abholen könnt, dann müßt ihr schon etwas Geduld haben. Vielleicht brauchen wir euch noch einmal. Oder ist euch das Goldene Vlies so wenig wert?« Brantent zuckte zusammen. Fast hilflos blickte er sich nach den anderen Valjaren um. Auch sie wußten nicht, was sie den »Argumenten« Synks entgegenkommen hatten. Darüber hinaus schienen sie von der Art, wie Leenia nun vor den Maschinen stand und sie betastete, seltsam beeindruckt zu sein. Sie war für sie nicht mehr das Schreckenswesen, das sie mit ihren Augen fast
umgebracht hatte, sondern nun fast so etwas wie eine Göttin. »Ich sehe, ihr seid vernünftig«, stellte Sator Synk fest. »Bitte verlaßt die Halle«, hörte er Leenia sagen, als spräche sie zu sich selbst. »Ich weiß nicht, was geschehen wird, falls …« Synk überzeugte sich davon, daß die Valjaren keine Anstalten machten, über ihn und Leenia herzufallen, dann trat er an ihre Seite. »Willst du es dir nicht lieber noch einmal überlegen, Leenia?« fragte er leise. »Du weißt nicht, ob es klappt. Ich verstehe nicht viel von dem, was du tun willst, aber du bringst dich in Gefahr. Du könntest für immer … verschwinden.« Für Sekunden löste sie ihren Blick von den Maschinen. Leenia lächelte Synk an und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Der Raufbold mit dem weichen Herzen errötete und blickte zu Boden. »Ich werde ja zurückkommen, Sator. Ich weiß, was dich bewegt.« »So?« fragte er leise. »Das glaube ich nicht …« »Ich weiß es, auch wenn du es nicht sagen kannst. Mach dir kein Sorgen. Bringe dich und die Valjaren in Sicherheit. Wartet im Gang. Wahrscheinlich finde ich sowieso nicht das, wonach ich suche.« Synk blickte ihr in die violetten Augen. »Das sagst du nur, um mich zu beruhigen, Leenia. Ich werde nicht mit ansehen, wie du …« »Sator, ich werde niemals glücklich sein können, wenn ich nicht versuche, diese Anlage zu benutzen. Willst du das?« Als er schwieg, zog sie seinen Kopf an sich heran, strich ihm die Haare aus der Stirn und gab ihm einen Kuß. »Geht jetzt. Und wartet. Sollte ich verschwinden, so werde ich den Weg zurück finden. Ich komme zurück, Sator, ich verspreche es.« »Aber …« »Kein Aber. Bitte …« Und Synk drehte sich mit gesenktem Kopf um und knurrte die Valjaren an: »Worauf wartet ihr! Ihr habt gehört, was sie sagte. Raus aus der Halle!« Leenia wartete, bis sie allein im Raum war. Sie hatte Synk
angelogen, denn sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Kein Normalsterblicher hätte spüren können, was von den Maschinen ausging. Es war in ihr, und es war wie ein Wegweiser. Indem sie die Tastatur des Pultes vor ihr bediente, konnte sie ihr Ziel erfassen und die Maschinen darauf einpendeln, ihre Energien auf ihr Ziel justieren wie die Zielerfassung einer Waffe. Sie drückte Knöpfe und lauschte den Strömen, die sie mit Sinnen wahrnahm, wie sie die hochentwickelten Lunen gehabt haben mochten. Es war ein stummer Dialog zwischen ihr und der Anlage. Alle Maschinen, so isoliert voneinander sie auch in der Halle wirkten, waren ein einziger Verbund. Leenia spürte, daß sie ihr die Kraft geben konnten, zu entmaterialisieren, so wie sie den Lunen die Kraft dazu gegeben hatten. Sie sandten Ströme aus, legten Sektoren in ihrem Gehirn frei, die sonst selbst ihr für immer unzugänglich sein mußten. Auf diese Weise nur hatten die Lunen ihr Projekt verwirklichen können. Nicht durch bloße Meditationen. Diese Maschinen waren das, was die Körperlosen ihnen gegeben hatten. Die Lunen hatten sie nicht selbst konstruieren können. So mußte es sein. Alles schien zusammenzupassen. Als Leenia den Drang verspürte, sich von den Maschinen zu lösen und eine ganz bestimmte Position in der Halle einzunehmen, wußte sie, daß dieser Drang von den Maschinen kam. Sie vertraute sich ihnen vollkommen an. Leenia stand kerzengerade etwa in der Mitte der Halle. Ebensogut hätte sie sich irgendwo oben im Schloß befinden können. Es spielte keine Rolle mehr, wo sie war. Die Anlage hatte sich auf sie eingependelt. Das Summen in der Halle wurde lauter. Rotes Licht hüllte Leenia ein und erweckte bei Synk, der sie mit wild schlagendem Herzen beobachtete, den Eindruck, als würde sie von innen heraus strahlen. Als würde sie jetzt zu flackern beginnen! Zu brennen!
Leenia löste sich auf. Ihre Konturen verschwammen. An der Stelle, an der sie gestanden hatte, war nur noch rotes Licht. Es blendete nicht und füllte nun die ganze Halle und den Gang aus. Synk wischte sich Schweiß von der Stirn. Die Valjaren hielten den Atem an und waren unfähig, ihre Blicke von dem Ungeheuerlichen zu lösen, das vor ihren Augen geschah. Wieder flackerte das Licht. Dann durchschnitt der Schrei die Stille, jener Schrei, den Synk bis an sein Lebensende in den Ohren haben würde. Leenia kehrte zurück! Synk wollte sich auf sie stürzen, ihr entgegenlaufen, sie aus diesem furchtbaren Licht, das sie gefangenhielt, herausziehen, doch jemand hielt ihn mit eisernem Griff umklammert. Er fluchte, trat und schlug um sich. Hilflos mußte er mitansehen, wie Leenia halbstofflich in einer Blase aus rotem Licht festhing. Sie schien ihn anzusehen, die Hände nach ihm ausstrecken zu wollen. Ihre Augen flehten stumm um Hilfe, denn kein Laut kam über ihre aufgerissenen Lippen. Dennoch war der stumme Hilferuf direkt in Synks Gehirn. Der schreckliche, nie enden wollende Schrei eines Geschöpfes in höchster Todesangst. »Leenia!« schrie der Orxeyaner. »Du darfst nicht sterben! Komm zurück!« Sie konnte ihn nicht hören – nicht dort, wo sie war. Ihr Körper verschwand und kehrte zurück, einmal halb durchsichtig, dann fast wieder stofflich, nur um sich sogleich wieder aufzulösen. Sie glich einer Fackel, einer Flamme, die sich wild flackernd gegen das Erlöschen wehrte. Synk schrie und trat. Er zerbiß sich die Lippen. Blut rann von seinen Lippen in den Bart. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen, als er sich dem Griff desjenigen, der ihn umklammert hielt, zu entziehen versuchte. Nur hin zu ihr! Sie brauchte ihn! Synk wurde herumgewirbelt. Er sah in Brantents Gesicht, das im Schein des flackernden Lichts der Grimasse eines Dämons glich.
Von den anderen Valjaren war nichts zu sehen. Sie waren in panischem Entsetzen davongerannt, als das Grauen sie überkam. Nur Brantent war geblieben. Er hielt Synks Schwert in der einen Hand und drückte die Klinge gegen den Hals des Orxeyaners. Mit der anderen Hand hielt er ihn jetzt am Haarschopf im Nacken fest. »Das reicht«, knurrte der Valjare. »Du wirst nicht zu ihr gehen. Du wirst mich zum Goldenen Vlies führen, auf der Stelle!« Synk wagte sich nicht zu bewegen. Brantent drückte die Klinge fester gegen seinen Hals. Es schmerzte, als sie die Haut ritzte. 7. Bördos Weg zur FESTUNG – die Macht der Magier Bördo hatte sich während der Nacht nur zwei Stunden Rast gegönnt. Ansonsten war er ununterbrochen marschiert, auf gerader Linie seinem Ziel entgegen. Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten. Nun mußte die mächtige Pyramide der FESTUNG bald zu sehen sein. Immer häufiger sah Bördo nun Zugors am Himmel, die entweder zur FESTUNG flogen oder von dort kamen. Die FESTUNG mußte von Pthorern, die sich um die Gunst der neuen Herrscher bemühten, förmlich belagert sein. Die neuen Herrscher! Drei Marionetten, die glaubten, wieder die Macht über Pthor zu haben. Drei Narren, die sich mißbrauchen ließen, die zu dumm waren, um das unwürdige Spiel zu durchschauen, das mit ihnen getrieben wurde. Zu starrsinnig, um Fragen zu stellen, deren Antworten sie vielleicht fürchteten. Zu feige, um sich gegen die Magier zu stellen. Bördo fluchte in Gedanken, als er sich bewußt wurde, daß er schon wieder leichtfertige und voreilige Schlüsse zog. Er stand seinem Vater und dessen Brüdern in nichts nach, was den Starrsinn anbetraf. Sadak hatte ihn davor gewarnt, voreilig zu urteilen, ihn
beschworen, sich nur durch das, was er sah und hörte, ein Urteil zu bilden, die Augen offenzuhalten und zweimal zu überlegen, bevor er handelte. Aber es war so schwer. Noch vor kurzem hätte er sein Leben für seinen Vater gegeben. Konnte Liebe so schnell in Haß umschlagen? Durfte er seinen Vater für das, was er aus sich hatte machen lassen, verachten? War es nicht sein eigener Fehler gewesen, etwas in Sigurd sehen zu wollen, das dieser nie gewesen war und niemals sein konnte? Wenn er ihn liebte – jemals geliebt hatte –, mußte er dann nicht versuchen, ihm zu helfen? Ihn zu verstehen? Diese Gedanken hatten den Knaben die ganze Nacht über beschäftigt, als er die Müdigkeit bekämpft und die Zähne zusammengebissen hatte. Er wußte noch zu wenig – viel zu wenig. Bördo blieb stehen und sah, wie erneut drei Zugors über ihm hinwegzogen. Nichts deutete darauf hin, daß jene, die in ihnen saßen, ihn bemerkten. Er öffnete vorsichtig den Beutel mit der Blume. Sie war fast verwelkt. Die Blüten waren geschlossen, die Blätter hingen schlaff am Topf herab. Wie lange würde die Pflanze ihn schützen? Wenn Sadak recht hatte, und daran zweifelte Bördo keinen Augenblick, dann mußten sich Magier in der FESTUNG befinden, um die Odinssöhne zu kontrollieren. Würde er ungehindert in die FESTUNG eindringen können, bis er vor Sigurd stand? Bördo schloß den Beutel, nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch und ging weiter. Er hatte noch keinen genauen Plan, wie er bis zu Sigurd vordringen konnte. Es kam alles darauf an, wie er die FESTUNG vorfinden würde. Die Pthorer, die zu ihr pilgerten, um ihre Ergebenheit zu erklären. Wenn er sich unter sie mischen konnte … Der Zufall schien ihm wenige Stunden später zu Hilfe zu kommen. Einer der Zugors, die jetzt fast in Minutenabständen über
ihn hinweg auf die FESTUNG zujagten, verlor plötzlich an Höhe. Bördo blieb stehen und beobachtete, wie das Fahrzeug nicht weit von ihm niederging. Der Pilot versuchte alles, um es wieder in die Höhe zu bringen. Zweimal schien es ihm zu gelingen, doch das, was den Zugor nach unten drückte, war stärker. Bördo spürte einfach, daß es sich nicht um einen normalen Absturz handelte. Er spürte Gefahr, und er dachte an die Worte des Sehers. Vielleicht sollte er einfach weitergehen, den Zugor und seine Besatzung links liegen lassen und sich nicht weiter darum kümmern. Andererseits, so überlegte der Knabe, könnte er von der Besatzung vielleicht wertvolle Informationen erhalten, wenn nicht sogar mit ihnen zur FESTUNG fliegen, falls es gelang, den Zugor wieder flugfähig zu bekommen. Wenn Magier dahintersteckten, konnte ihnen nichts daran gelegen sein, daß das Fahrzeug hier liegenblieb. Sadak hatte von seltsamen Vergeltungsmaßnahmen denen gegenüber gesprochen, die auch nur an Widerstand gegen sie dachten. Er hatte aber auch gesagt, daß sie bisher keinen einzigen Pthorer getötet hatten. Bot die Blume ihm auch Schutz, wenn er sich zu den Notgelandeten begab, auf die sich, sollte seine Vermutung zutreffen, wahrscheinlich die Aufmerksamkeit mindestens eines Magiers konzentrierte? Bördo ging das Risiko ein. Wenn die Blume hier versagt, würde sie es auch vor der FESTUNG tun. Er hatte also nicht viel zu verlieren. Als er den Zugor erreichte, der tatsächlich keine Spuren einer Beschädigung aufwies, sah er vier etwa eineinhalb Meter große, humanoide Wesen, die sich wie in Krämpfen am Boden wanden. Bördo kannte sie. Während seiner Odyssee war er unter anderem auch an die Ostküste Pthors verschlagen worden, nach Panyxan, wo die Guurpel lebten. Es handelte sich bei ihnen um harmlose Fischer, die auf dem Land ebensogut wie im Wasser leben konnten. Ihre Körper waren von silbrigen Schuppen bedeckt, der Kopf saß übergangslos auf dem Körper und war kaum drehbar. Die Guurpel
verließen Panyxan so gut wie nie. Sie unternahmen ihre Fischzüge immer dann, wenn Pthor in einem Meer materialisierte, und hatten den größten Teil ihrer Fänge an die FESTUNG abzuliefern. Dies war ihr Lebensinhalt. Sie waren viel zu furchtsam, um aus eigenem Antrieb in andere Gebiete Pthors vorzudringen. Und nun fand Bördo sie hier – und in welcher Verfassung! Bördo warf sich hinter einem Busch in Deckung und beobachtete entsetzt, wie sich über den vieren wie aus dem Nichts heraus ein gewaltiger Wasserball bildete, der sich auf sie herabsenkte und sie völlig einhüllte. Was Bördo mitansehen mußte, widersprach allen Naturgesetzen. Es war, als ob sich der Inhalt eines Teiches, durch unbekannte Kräfte zusammengehalten, über sie gesenkt hätte. Die Guurpel mußten ihre Atmungsweise umstellen, um nicht darin umzukommen. Und als sich wenig später der Wasserball wieder einige Meter über die Köpfe der Unglücklichen hob, um sie nach kurzer Zeit erneut einzuhüllen, wußte Bördo, was Sadak mit den »seltsamen« Methoden der Magier gemeint hatte. Der Wasserball hob und senkte sich ein halbes Dutzend Mal, bis er sich auflöste und die Guurpel zuckend am Boden lagen. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie sich viel zu oft und zu schnell von Mund‐ auf Kiemenatmung umstellen müssen. Sie mußten furchtbare Qualen erlitten haben. Bördo wartete, bis er sicher war, daß die Bestrafung vorüber war, dann verließ er seine Deckung und näherte sich ihnen vorsichtig. Zwei Guurpel richteten sich auf, noch immer von heftigen Krämpfen geschüttelt. Sie sahen Bördo kommen und stießen ein Zischen aus, das dem Knaben durch Mark und Bein fuhr. »Habt keine Angst«, rief er. »Ich will nichts von euch.« Doch die beiden Geschöpfe waren halb verrückt vor Angst. Sie sprangen auf die Beine und machten sich daran, ihre noch bewegungsunfähigen Artgenossen zum Zugor zu schleppen, wo sie sie ablegten und sich selbst zitternd mit dem Rücken gegen das Metall der Hülle preßten. Ihre Fischaugen waren starr auf Bördo gerichtet, der zwei Meter vor ihnen stehenblieb.
»Ich möchte euch helfen«, sagte er und breitete die Arme zum Zeichen aus, daß er keine bösen Absichten hatte. Vielleicht verstanden sie die Geste. Bördo hatte nur kurz mit ihnen zu tun gehabt und sie niemals richtig begriffen. Daß die Magier selbst sie zur FESTUNG schickten, zeigte, wie total ihre Herrschaft schon war. Die Guurpel hatten noch niemals für Ärger gesorgt. Sie waren immer ergebene, kritiklose Diener der Mächtigen gewesen, und wenn sie verzweifelt waren, wandten sie sich an ihre Götter, von denen sie mehr als genug hatten. Bördo sah keinen Techno. Insgeheim hatte er erwartet, daß mindestens einer bei den Guurpel sein würde, um den Zugor zu fliegen. Daß dies nicht der Fall war, verwirrte ihn noch mehr. Die Guurpel hatten großen Respekt vor den Technos und ihren Flugmaschinen. Niemals würden sie sich trauen, einen Zugor zu erobern und selbst zu fliegen. Sie konnten das gar nicht – falls sie nicht von jemandem dazu befähigt wurden. Aber einer von ihnen mußte versucht haben, den Absturz zu verhindern, auch wenn der Zugor selbst von Magiern bewegt wurde. Bördo versuchte nicht, etwas zu verstehen, das jenseits seines Begriffsvermögens lag. Er mußte das akzeptieren, was er sah. »Ich will euch helfen«, wiederholte er, als er keine Antwort erhielt. Nun kam auch in die beiden anderen wieder Leben. Sie kamen auf die Beine und drängten sich neben ihre Artgenossen an den Zugor. »Ihr seid auf dem Weg zur FESTUNG? Wieso geschah dies?« Bördo deutete zuerst auf den Zugor, dann auf die Stelle, an der sich der Wasserball niedergesenkt hatte. Verblüfft sah er, daß das Gras dort völlig trocken war. »Nicht zur FESTUNG!« rief nun einer der Guurpel in seiner zischenden Sprache. »Wir wollten nicht dorthin! Wenn du uns helfen kannst, dann bringe uns zurück nach Panyxan, bevor sie …« Das Wesen merkte wohl gerade nach rechtzeitig, daß es auf dem besten Weg war, eine neue Strafaktion heraufzubeschwören. Es schwieg, und es dauerte eine Weile, bis Bördo von den anderen
dreien erfahren hatte, was sich ereignet hatte. Die Angst der Guurpel. Nur mit Gewalt waren sie dazu gebracht worden, den Zugor zu besteigen, der plötzlich ohne Pilot mitten in Panyxan gelandet war. Eine mächtige Stimme hatte zu ihnen gesprochen und sie dazu aufgefordert, eine Delegation zur FESTUNG zu entsenden, um den neuen Herren zu huldigen. Unter ähnlichen Umständen, wie Bördo es hatte beobachten können, waren sie gezwungen worden, das Fahrzeug zu besteigen. Sie waren auf dem Weg zur FESTUNG, bevor sie begriffen, was mit ihnen geschah. Doch ihre Angst vor der Fremde war stärker als die Angst vor den Magiern gewesen. Sie hatten getobt und den Zugor fast zur Explosion gebracht. Zwei der ursprünglich sechs Bedauernswerten waren in ihrer Panik über Bord gesprungen, bevor der Zugor landete und die Magier versuchten, sie zur Räson zu bringen. Das hatten sie geschafft. Bördo sah es, als eine mächtige Stimme aus dem Nichts ertönte und sie dazu aufforderte, den Zugor wieder zu besteigen. Es war die gleiche Stimme, die in Panyxan zu ihnen gesprochen hatte. Die Guurpel drehten sich um, ohne Bördo weiter zu beschwören, sie nach Hause zu bringen. Einer nach dem anderen bestiegen sie mit eingezogenen Köpfen das Fahrzeug. Bördo sprang über den Rand des Zugors, bevor dieser abhob. Die Guurpel nahmen ihn nicht mehr wahr. Sie lagen apathisch auf dem Boden der offenen Flugschale und beteten vermutlich zu ihren Göttern. Der Zugor erhob sich wie von Geisterhand gezogen und nahm wieder Kurs auf die FESTUNG. Nichts deutete darauf hin, daß der oder die Magier, die ihn bewegten, Bördo bemerkt hatten. Er atmete auf und strich fast zärtlich über den Beutel mit der Blume. Kurz darauf sah er die große Pyramide am Horizont auftauchen. Nun dauerte es nicht mehr lange, bis er vor seinem Vater stand. Wieder beschlichen ihn trübe und finstere Gedanken. Und irgendwo im Hintergrund befand sich ein Magier, der sich
nicht lange darüber Gedanken machte, zu wem die Guurpel gesprochen hatten. Bördo war ein blinder Fleck für ihn. Er nahm ihn nicht wahr. Doch der Magier kannte die Mentalität der Küstenbewohner und amüsierte sich darüber, daß sie von ihren Göttern Hilfe erwarteten. Nur zu ihren Göttern konnten sie gesprochen haben. Bördo verdankte es den Göttern der Guurpel, daß die Magier noch nicht auf ihn aufmerksam geworden waren oder zumindest begannen, sich gewisse Fragen zu stellen. Einmal in der FESTUNG, sahen die Dinge allerdings anders aus. Und er hatte nur eine geringe Kostprobe der Macht zu sehen bekommen, in deren Griff sich Pthor befand. 8. Unter dem Ruinenschloß – der Weg in die Resignation Sator Synks Gedanken überschlugen sich. In der Halle befand sich Leenia, oder zumindest ein Teil von ihr. Sie rang um ihr Leben. Vor ihm stand Brantent und wartete darauf, daß er ihn zum Goldenen Vlies führte. An der Entschlossenheit des Valjaren, ihn zu töten, falls er noch länger zögerte, bestand kein Zweifel. Synk dachte keinen Augenblick daran, Leenia im Stich zu lassen. Entweder verließen sie beide diesen verfluchten Ort, oder sie würden beide hier sterben. Aber nicht durch Brantent. »Bewege dich!« brüllte der Valjare. »Meine Geduld ist zu Ende. Du hast uns angelogen. Du weißt nicht, wo das Goldene Vlies ist! Du …« Synk nutzte die Chance, die sich ihm bot, als Brantents Hand vor Zorn zitterte. Er warf den Kopf in den Nacken, riß die Hände nach oben und stieß die Klinge zur Seite. Gleichzeitig trat er Brantent mit aller Kraft vors Schienbein, um sofort danach das Knie in die
Magengrube des Valjaren zu stoßen. Brantent schrie gurgelnd auf und ließ ihn los. Synk sprang zurück, sah, wie der Valjare das Schwert schwang, und duckte sich. Die Klinge schlug mit solcher Wucht gegen den Fels der Wand, daß es Brantent den Griff aus der Hand riß. Synk hatte einen kopfgroßen Stein in der Hand, als er wieder hochkam, und schleuderte ihn. An der Schulter getroffen, sank Brantent ächzend zusammen. Synk war über ihm und betäubte ihn mit einem gezielten Faustschlag gegen die Schläfe. Er fuhr herum. Leenia hing immer noch im roten Leuchten gefangen. Synk glaubte, daß ihre Blicke ihn durchdringen müßten, und doch wußte er, daß sie ihn nicht wirklich sehen konnte. Eine Hälfte von ihr befand sich hier – und die andere? Synk ballte die Fäuste. Langsam, das Schwert wieder in der Hand, näherte er sich der Halbstofflichen, die nun wieder ganz verschwunden war. Was konnte er nur tun, um sie aus ihrer furchtbaren Lage zu befreien? Er konnte sie nicht berühren. Seine Hand fuhr durch sie und das rote Leuchten hindurch. Die Maschinen! Synk versuchte, sich daran zu erinnern, was Leenia an dem großen Rechteckigen Kasten getan hatte. Die Knöpfe, die Lämpchen – ihre Finger waren über die Schaltungen gehuscht, als ob ihr eine innere Stimme genau gesagt hätte, was sie zu tun hatte. Synk hörte diese Stimme nicht. Ohnmächtiger Zorn packte ihn. Leenias Schrei in den Ohren, begann er wie ein Wahnsinniger auf die Kontrollen einzudreschen. Er stieß sein Schwert in die leuchtenden Anzeigen. Einige erloschen. Eine kleine Stichflamme fuhr aus dem Kasten. Synk schreckte das nicht mehr. Er sah sich um. Keine Veränderung. Leenias Körper flackerte wie eine Flamme im Wind. Er war nicht mehr fest. Synk sah seine Umrisse wie in einem Zerrspiegel. Es war, als ob sie sich aufblähte.
»Nein!« brüllte er. Mit Tränen der Verzweiflung in den Augen schlug er einige Leitungen entzwei, die aus dem Kasten kamen und im Boden der Halle verschwanden. Blaue Funken stoben durch den Raum. Synk nahm es nicht bewußt wahr. Er wollte nur noch zerstören. Was Leenia dort im roten Leuchten festhielt, kam von den Maschinen. Wenn sie zerstört waren, mußte sie frei sein – lebend oder im Tod. Synk warf das Schwert fort, als er einsah, daß er damit nichts gegen die Maschinen ausrichten konnte. Er rannte zum Eingang der Halle und hob im Gang liegende Felsbrocken auf, so schwer, daß er sie gerade noch heben konnte. Dann kehrte er zurück und begann, die Anlage damit zu bearbeiten, indem er sie hochstemmte und einfach von sich stieß, so daß sie krachend auf den blinkenden Anzeigen landeten. Wieder fuhren Blitze aus den Geräten, doch Synk war schon wieder unterwegs, um weitere Munition zusammenzusuchen. Er nahm kleinere Steine und schleuderte sie gegen die Kästen. Nun fuhren die Stichflammen direkt aus dem roten Leuchten um Leenia. Synk geriet immer mehr in seinen Zerstörungsrausch hinein. Noch ein paar Steine, dann nahm er wieder das Schwert und suchte nach weiteren Kabeln und Rohren, die er zerschlagen konnte. Nun blitzte es überall. Die Halle war in grelles, flackerndes Licht getaucht. Synk sah, wie Leenias Körper sich stabilisierte. Er glaubte schon, das Wunder vollbracht zu haben, als sie wieder transparent wurde. Brüllend vor Zorn und unbändiger Verzweiflung stürzte er auf die kleineren Maschinen zu und rüttelte an ihnen, brach alles ab, was sich abreißen ließ, und stürzte einige Pulte um. Eine Maschine im gegenüberliegenden Teil der Halle explodierte. Synk war für Augenblicke geblendet. Metallteile schossen an seinem Kopf vorbei und bohrten sich in andere Geräte oder krachten gegen die Wände. Überall Stichflammen. Synk brauchte nichts mehr zu tun. Er hatte einen Prozeß in Gang gesetzt, an dessen Ende die vollständige Zerstörung dieser Anlagen stehen mußte. Er würde darin
umkommen, wenn er nicht schnell verschwand. Als er sah, wie Leenia abermals stofflich wurde, stürmte er auf sie zu. Er rechnete nicht wirklich damit, daß seine Hände etwas packen würden, doch diesmal fuhren sie nicht durch den Körper hindurch. Vom eigenen Schwung mitgerissen, stürzte er mit Leenia zu Boden. Sie war frei! »Weg hier! Schnell!« brüllte er, um das Krachen und Zischen zu übertönen, das nun die Halle erfüllte. Rauch stieg von durchschmorenden Kabeln und implodierenden Maschinen auf. Es stank fürchterlich. Nach Luft ringend, hob Sator Synk Leenia auf und legte sie sich über die Schulter. Sie war bewußtlos. Synk trug sie aus der Halle, aber er glaubte, unter der Last versinken zu müssen. Der Amoklauf hatte an seinen Kräften gezehrt, und sie war schwer. Sie wurde mit jedem Schritt schwerer. Synk biß die Zähne aufeinander. Nicht stehenbleiben. Immer weiter! Er erreichte den Gang. Weiter! Um die nächste Biegung. Hier waren sie nicht sicher. Sie waren nirgendwo in diesem Labyrinth sicher, wenn es durch die Explosionen in der Halle zum Einsturz kam. Synk arbeitete sich weiter vor und registrierte am Rande, daß Brantent nicht mehr im Gang lag. Er bewegte sich wie ein Automat. Leenia begann sich zu rühren. Synk blieb stehen, sah sich um, und setzte sie behutsam ab. Die Blitze aus der Halle blendeten selbst hier noch. Gestein löste sich aus der Decke und kam polternd herunter. Synk ergriff Leenias Hand und zog sie mit sich, stolpernd und hustend. Wann sah er endlich Tageslicht? Immer mehr Explosionen erfolgten in immer kürzeren Abständen. Der Boden unter Synks Füßen bebte. Er stürzte, kam auf die Beine, zog Leenia mit sich, bis er helle Punkte vor seinen Augen tanzen sah. Er hatte das Gefühl, alles würde sich um ihn drehen. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Irgend jemand packte seinen Arm. Das war das letzte, das der Orxeyaner wahrnahm, bevor er das Bewußtsein verlor.
* Leenia hatte die Augen aufgeschlagen. Sie sah die Umgebung, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Synk und der Valjare. Das Ruinenschloß. Graue Büsche und Gräser. Leenia wußte, daß sie gerettet war, doch sie konnte keine Erleichterung darüber empfinden. Zu groß war ihre Ettäuschung. Mit ihrem Bewußtsein hing sie noch in jenem Feld, das sie eingefangen hatte, als sie durch die Kraft der Maschinen entmaterialisierte. Sie hatten sie gesteuert, so wie sie die Lunen vor langer Zeit gesteuert hatten – ihre Sinne, jene Sektoren des Geistes, die ohne die Hilfe der Maschinen niemals freigelegt worden wären. Ohne die Hilfe derer, die den Lunen die Maschinen gaben oder ihnen sagten, wie sie sie zu konstruieren hatten … Leenia war auf dem Weg gewesen. Sie hatte bereits vertraute Empfindungen gehabt, als sie in das Feld geriet, das sie festhielt und in alle Ewigkeit gehalten hätte, falls Synk nicht in seiner Verzweiflung das Richtige getan hätte. Wie dumm sie gewesen war, anzunehmen, die Lunen hätten keine weiteren Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um zu vermeiden, daß ihnen jemand folgte, dem es gelungen war, die Sperre zur Halle zu durchbrechen. Es gab keinen Weg zurück in die Höheren Welten. Nicht für sie. Nicht, solange sie verbannt war. Leenia gab sich einen Ruck. Sie mußte endlich den Realitäten wirklich ins Auge sehen. Auf unbestimmte Zeit würde sie von den Höheren Welten abgeschnitten sein. Hatte sie es nicht selbst so gewollt? Mußte es nicht so sein, wenn sie den Pthorern und jenen helfen wollte, die wie Atlan in der Schwarzen Galaxis gegen die Dunklen Mächte kämpften? Sator Synk kam auf sie zu und redete beschwörend auf sie ein. Sie
nickte, obwohl sie kaum etwas von dem verstand, das er sagte. Er wollte zurück zum Xamyhr. Hier hatten sie nichts mehr verloren. Sie nickte wieder und ergriff Synks ausgestreckte Hand. Fast apathisch ließ sie sich von ihm führen. Der Valjare ging neben ihnen. Woher kam er? Wo waren die anderen? Leenia hatte so viele Fragen. Was war geschehen, während sie in diesem Feld festhing – ein Teil ihres Körpers im Universum der Körperlichen, der andere irgendwo zwischen den Dimensionen? Sie wußte nur, daß Synk für die Vernichtung der Anlagen verantwortlich sein mußte, sonst nichts. Als sie das Emmorko‐Tal verlassen hatte, konnte sie allein gehen. Es war so furchtbar schwer, sich mit der Niederlage abzufinden. Und plötzlich hatte auch sie es eilig, diesem Ort der verlorenen Hoffnungen den Rücken zu kehren. Synk atmete auf, als er die Veränderung bemerkte, die mit ihr vorging. Während des Fußmarschs erklärte er ihr, was sich ereignet hatte, nachdem sie vom roten Leuchten eingehüllt worden war. Er schloß damit, daß Brantent, der ihm in seiner Besessenheit fast die Kehle durchgeschnitten hätte, sie vermutlich vor dem Tod in den zusammenstürzenden Gängen des Labyrinths gerettet hatte, als er, Synk, keine Kraft mehr hatte, Leenia weiterzuziehen. Nachdem der Valjare zu sich gekommen war und sah, was Synk in der Halle anrichtete, hatte er die Flucht ergriffen. Draußen war er zur Besinnung gekommen und hatte erkannt, was er fast angerichtet hätte. Denn Brantent war zwar ein rauher Geselle, aber kein Mörder. »Also riskierte er sein Leben, um uns zu Hilfe zu kommen, als er hörte, wie die Gänge einstürzten, und er uns noch im Labyrinth wußte.« Synk grinste den Valjaren an. »Vielleicht hoffte er immer noch, daß ich ihm doch noch das Goldene Vlies beschaffen konnte.« Brantent murmelte etwas Unverständliches. »Du hättest ihn nicht anlügen sollen«, sagte Leenia tadelnd. »Ich habe nicht gelogen! Ich sagte ihm, daß ich wüßte, wo er sich das Goldene Vlies holen kann, nicht, daß es im Ruinenschloß oder im
Tal sei. Und als wir in Sicherheit waren, habe ich mein Versprechen gehalten. Ich sagte ihm, daß Atlan das Goldene Vlies trägt, und daß er es also dort finden kann, wo Atlan ist.« »Wir wissen beide nicht, wo er sich befindet, Sator.« »Leider. Aber ich habe mein Versprechen gehalten.« Synk grinste wieder. Er kam sich mächtig schlau vor. Einige Augenblicke fürchtete Leenia, der Valjare würde wieder die Kontrolle über sich verlieren. Doch Brantent blieb ruhig – zumindest nach außen hin. »Es ist wahr«, sagte Leenia zu ihm. »Atlan trägt das Goldene Vlies, aber es verleiht ihm nicht jene Macht, die ihr mit ihm verbindet. Allerdings wäre Pthor schon lange verloren gewesen, hätte er es nicht gehabt, als Pthor im Korsallophur‐Stau steckte und die Krolocs angriffen.« »Das kann ich dir sagen, Brantent«, brummte Synk. »Ich war dabei. Es hat nicht nur ihn schon oft gerettet, sondern auch uns. Und glaube mir, wenn er jetzt irgendwo um sein Leben zu kämpfen hat, wird es ihn wieder schützen. Und vielleicht wird es nur dem Goldenen Vlies zu verdanken sein, daß er eines Tages zurückkehrt und Pthor befreit.« Noch ist es nicht soweit, dachte Leenia verbittert. Sie konnte sich gut in Brantent hineinversetzen. Auch er hatte einen Traum verloren – genau wie sie. »Ich glaube es euch«, sagte der Valjare. »Ich habe gesehen, daß es nicht mehr im Schrein ist, und weiß nun, daß ihr es nicht versteckt habt. Ihr würdet die Dunkle Region nicht ohne es verlassen. Niemand anders kann es haben, denn jeder wäre der Versuchung erlegen, die es für ihn darstellte.« Dies war das letzte, das Leenia und Synk von Brantent hörten. Er würde zu seinem Dorf zurückkehren. Ob er den Valjaren die Wahrheit sagen und ihren Traum zerstören würde, oder ob er sein Wissen für sich behielt, konnte nur er selbst entscheiden. Noch einmal mußten die drei in der Dunklen Region übernachten,
bevor sie die Teufelsfurche erreichten und noch einmal Blut und Wasser schwitzten, als sie sich dort, wo Leenia die Brücke beschädigt hatte, bis zu den Planken an den Seilen entlang hangelten und schreckliche Minuten frei über den aufsteigenden dunklen Dämpfen hingen. Das Rauschen des nicht sichtbaren Flusses tief unter ihnen, erreichten sie die andere Seite. Gegen Mittag verließen sie die Dunkle Region. Am Xamyhr warteten die RobotGuerillas, die sich verteilt hatten und das ganze Gebiet unter Beobachtung hielten. Wortlos trennte sich Brantent von Synk und Leenia. Er schüttelte beiden die Hände und sah sie lange an. Dann fuhr er auf dem Absatz herum und machte sich auf den Weg in sein Dorf. Hier war weit und breit nichts von den anderen Valjaren zu sehen. Leenia vermutete, daß jene, die aus dem Emmorko‐Tal geflohen waren, als sie sahen, was mit ihr geschah, ihnen die ungeheuerlichsten Dinge berichtet und sie beschworen hatten, auf schnellstem Weg in ihre relativ sicheren Behausungen zurückzukehren. Leenia setzte sich ins feuchte Gras des Ufers, als sie Diglfonk heranschweben sah. Synk und seine Roboter würden sich einiges zu sagen haben. Zeit für sie, mit sich selbst endgültig ins reine zu kommen. * Sator Synk erwartete Diglfonk mit todernster Miene. Er hatte das Schwert in der Hand und wartete, bis der Roboter heran war, einen Meter vor ihm zum Stillstand kam und schnarrte: »Verfüge über uns, Herr!« Die Klinge fuhr herab und krachte mit voller Wucht auf den Metallkörper. »Was bildet ihr euch eigentlich ein, ihr mißratenen Blechkerle!« donnerte Synk los. »Ihr habt mich im Stich gelassen, die Hand gegen
euren Herrn erhoben! Ihr hättet mich in der Dunklen Region umkommen lassen, ohne euch zu rühren! Diglfonk, meine Geduld mit euch ist zu Ende! Ich verlange eine Erklärung, und ich rate dir gut, daß sie stichhaltig ist, sonst …« Synk sagte nicht, was sonst geschehen würde. Er wußte es auch nicht. Das Schlimme daran war ja, daß er den Robotern nichts anhaben konnte. Keine weitere Roboterleiche, hatte er sich geschworen. Aber in seinen Augen hatten Diglfonk und seine Kumpane ja gerade dies provozieren wollen. Es war längst keine Verschwörung mehr, die er von Wolterhaven aus gegen sich angezettelt sah. Die Roboter gingen offen gegen ihn vor. Sie wollten ihn unter Druck setzen, um ihn ganz in ihrer Hand zu haben. Synk war am Ende seines Lateins. Wenn die Roboter sich jetzt schon nicht mehr damit begnügten, im geheimen gegen ihn zu arbeiten, sondern ihn offen angriffen, was würde dann ihr nächster Schritt sein? Wie konnte er sich wieder Respekt verschaffen? Synk steckte das Schwert in den Gürtel zurück. Sie wollten ihn psychologisch fertigmachen. Also bitte! Dann hieß die Parole von nun an psychologische Kriegsführung. Synk hatte nicht viel Ahnung auf diesem Gebiet, aber er wollte sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, ihnen den Wind aus den Segeln nehmen. Noch bevor Diglfonk zu einer Erklärung ansetzen konnte, erschienen Zehn, Elf und Zwölf. In ihren Greifhänden hatten sie Fische. »Was soll das?« fragte Synk. »Deine Fische, Herr«, sagte Zehn. »Du hast den Befehl gegeben, daß wir sie für dich fangen sollten. Hier sind sie.« Und sie stanken fürchterlich. Sator Synk stand mit offenem Mund da, als die verfaulten Fische vor seinen Füßen landeten, und wußte nicht, ob er nun weinen oder lachen sollte.
Womit hatte er das verdient? War auch das Provokation, oder waren die Roboter so dumm, wie sie sich gaben? Sie waren es. Er hatte den Befehl gegeben und nicht widerrufen. Sie waren gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, frische Fische zu fangen. Sie hatten ihren Auftrag ausgeführt und auf seine Rückkehr gewartet. Wie treue Hunde. Synk spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals festsetzen wollte. War das nun Treue oder Hohn? Diglfonk schwebte vor ihm, als könnte ihn kein Wässerchen trüben. Eins bis Neun konnte er in der Ferne sehen. Sie verließen ihre Positionen nicht. Warum? Was ging hier vor? Synks Wut verflog, aber er blieb mißtrauisch. Gerade das war es ja, was diese Halunken so ausgezeichnet verstanden. Immer dann, wenn er entschlossen war, sie zu Klump zu hauen oder sie ein für allemal fortzuschicken, taten sie etwas, das ihn glauben ließ, sie hingen tatsächlich an ihm und – Synk hätte es nie laut ausgesprochen – liebten ihn wie einen Vater. Synk beschloß noch abzuwarten, bevor er darüber entschied, wie er vorgehen wollte. Wieder sah er zu Eins bis Neun hinüber, die teilweise weit jenseits des Flusses schwebten. Irgend etwas ging vor, von dem er nichts wußte. »Ich will deine Rechtfertigung noch nicht hören, Diglfonk«, sagte er ernst. »Berichte mir vorher, was während unserer Abwesenheit geschah.« Leenia stand auf, als der Robotdiener zu sprechen begann. Synks Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und mehr als einmal unterbrachen seine Flüche Diglfonks Bericht, als er nun erfuhr, daß die Guerillas in der Zwischenzeit durchaus nicht untätig auf ihn gewartet hatten. Sie hatten »Ausflüge« bis hin zum Wachen Auge unternommen und genug über das herausgefunden, was sich auf Pthor tat, um Synk und Leenia ein ungefähres Bild der Situation geben zu können.
Das, was sich bereits vor der Trennung von Koy, Kolphyr, Chirmor Flog und Fenrir angekündigt hatte, war nun eingetreten. Nach dem neuerlichen Anhalten des Dimensionsfahrstuhls war ein dritter Neffe erschienen und hatte die immer noch negativen Magier zu seinen Statthaltern gemacht. Diglfonk berichtete von der Amnestie und der Rolle der Odinssöhne. Von Synks eben noch zur Schau getragener Selbstsicherheit war nichts mehr geblieben, als er fragte: »Aber Pthor hielt fünf Tage, bevor wir den Xamyhr erreichten, an. Wieso behinderten uns die Magier nicht, wenn sie also schon die Macht hatten? Wieso hielten sie uns nicht auf? Wir sind doch ihre Gegner.« »Es gibt keine Erklärung dafür, die einen befriedigenden Grad an Logik enthält«, antwortete Diglfonk. »Unter ihnen lautet die wahrscheinlichste, daß die Magier Zeit brauchten, um sich zu etablieren und sich während der ersten Tage ihrer Herrschaft auf die FESTUNG und andere strategisch wichtige Punkte Pthors konzentrierten. Die Umgebung der Dunklen Region ist relativ harmlos. Außerdem bewegten wir uns sehr langsam. Leenia war mit ihren Gedanken bei ihrer verlorenen Heimat, und du, Sator Synk, dachtest daran, wie du uns für die Verschleppung des Tempos bestrafen könntest. Niemand dachte an die Magier, und wenn doch, dann nur schwach.« »Das ist wahr«, knurrte Synk. »Ich hatte einen furchtbaren Zorn auf euch, weil ihr nicht vorankamt und immer wieder …« Er stieß pfeifend die Luft aus. »Ihr habt es gewußt! Ihr bewegtet euch absichtlich langsam und provoziertet mich, damit ich …« Synk wurde sich erst jetzt dessen bewußt, was er da sagte. Er kniff die Augen zusammen und fragte drohend: »Ihr habt es die ganze Zeit über gewußt, Diglfonk? Ihr wußtet, daß die Magier die Barriere von Oth verlassen hatten, und inszeniertet das ganze Theater nur, um mich abzulenken?« »Um die Magier von dir abzulenken, Sator Synk. Wir wußten, daß
sie Oth verlassen würden, aber noch nicht, wann genau und unter welchen Umständen, das geschehen würde. Auch waren wir noch nicht darüber informiert, daß Thamum Gha erschienen war. Es war allerdings wahrscheinlich, daß die Magier von uns wußten und uns aufzuspüren versuchen würden. Die Gruppe, die sie vielleicht sahen, war harmlos für sie. Und es wäre gut, wenn du und Leenia so wenig wie möglich an sie denken würdet, um nicht jetzt noch ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Im Moment scheint jedoch kein Magier in der Nähe zu sein.« »Woher willst du das wissen?« fuhr Synk auf. Sofort dachte er wieder an Wolterhaven und die Verschwörung der Roboter. Doch die Wahrheit ahnte er nicht. Diglfonk hatte vom Herrn Soltzamen die Anweisung bekommen, vorerst nicht zu erwähnen, daß alle dreizehn Robot‐Guerillas beim letzten Aufenthalt in Wolterhaven ohne Synks Wissen neu ausgerüstet worden waren und daß es nur diesen Veränderungen an ihnen zu verdanken war, daß sie bisher nicht von den Magiern entdeckt worden waren. Denn Roboter konnten sich nicht »verstellen«. Sie gaben Emissionen von sich, die jeder anmessen konnte, der gezielt nach ihnen suchte. Die Zusatzaggregate, die die Robotdiener nun besaßen, verhinderten dies. Für die Magier waren alle dreizehn einfach nicht vorhanden – blinde Flecke. »Ich vermute es nur«, antwortete Diglfonk daher ausweichend. »Unsere Beobachtungen legen diesen Schluß nahe. Aber unter den gegebenen Umständen ist es für uns alle besser, wenn wir uns zunächst auf das Beobachten beschränken. Es ist sinnlos, schon jetzt etwas gegen die Magier unternehmen zu wollen. Wir müssen stillhalten.« »So!« brüllte Synk. »Ist es das? Und du gibst neuerdings die Befehle, oder?« »Ich erlaubte mir nur, dir einen Vorschlag zu machen, Sator Synk. Niemals würde ich mir anmaßen, über deinen Kopf hinweg zu entscheiden. Du bist unser Herr, dem wir zu gehorchen haben.«
Was nun kam, wußte Synk schon im voraus. Er hielt sich die Ohren zu, als es von allen Seiten her erscholl: »Verfüge über uns, Herr!« »Das werde ich! Ich werde …« Synk verstummte. Was wollte er anordnen? Was konnte er tun? Hatte Diglfonk nicht recht? Die Magier waren ihm unheimlich. Andererseits aber war es ganz und gar nicht in seinem Sinn, stillzuhalten und lediglich zu beobachten, wie Pthorer geknechtet wurden. Leenia mochte ahnen, wie es in ihm aussah. Sie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist besser so, Sator. Ich glaube, Diglfonks Vorschlag ist akzeptabel. Die Zeit zum Handeln kann früher kommen, als wir alle glauben.« Synk sah sie wehmütig an, und wieder schmolz sein Widerstand unter dem Blick dieser großen, violetten Augen dahin. »Ja«, sagte er schließlich leise. »Aber wohin sollen wir gehen? Wo sind wir sicher vor ihnen? Ich kann nicht tagelang nicht an sie denken! Ich denke ja jetzt an sie, und wenn sie meine Gedanken lesen können, warum tauchen sie dann noch nicht auf?« »Weil sie sich nicht auf dieses Gebiet konzentrieren«, schnarrte Diglfonk nun wieder. »Es wird sich ändern. Es gibt nur wenige Orte auf Pthor die nicht ständig von ihnen kontrolliert werden. Einer davon ist das Wache Auge.« »Ausgerechnet das Wache Auge!« Synk lachte rauh. »Etwas Besseres fällt dir nicht ein, wie? Wenn das Wache Auge kein strategisch wichtiger Punkt ist!« »Die Magier brauchen es nicht, denn sie haben andere, mindestens ebenso wirksame Beobachtungsmethoden. Außerdem befinden sich keine Technos mehr dort, wie du weißt, Sator Synk, und auch die Trugen, die wir dort zurückließen, sind geflohen, nachdem Fünf und Sieben das Lähmfeld abschalteten. Die Anlage ist völlig verlassen, und für die Magier besteht kein Grund, es zu
überwachen.« Das leuchtete nach einigem Hin und Her auch Synk ein. Am Nachmittag setzte die Kolonne sich in Bewegung. Die Robotdiener trugen Synk und Leenia über den Fluß und setzten sie auch nicht ab, als sie das andere Ufer erreicht hatten. Synk fragte nicht danach, warum sie sie schwebend weitertrugen. Es war bequemer als zu Fuß zu gehen, und seine Beine taten ihm ohnehin weh. * Sie erreichten das Wache Auge ohne Zwischenfall. Für Synk und Leenia war dies nach all dem, was die Roboter unterwegs noch berichtet hatten, unfaßbar. Leenia ahnte, daß die Roboter über einen Trumpf verfügen mußten, den sie zu gegebener Zeit ausspielen wollten. Synk dagegen sah sich den Maschinen hoffnungslos ausgeliefert – auf Gedeih und Verderb. Nur Leenia war es zu verdanken, daß er nicht Amok lief, als kurz nach dem Eintreffen einige der Robot‐Guerillas ohne Vorankündigung so plötzlich verschwanden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Synk stellte Diglfonk zur Rede, aber der gab nur ausweichende Antworten. Synk war so schlau wie zuvor. Auch bei Androhung massiver Gewalt und als Synk seinen Selbstmord für den Fall ankündigte, daß er ihn nicht sofort darüber informierte, wohin und zu welchem Zweck die Roboter aufgebrochen waren, gab Diglfonk sein Geheimnis nicht preis. Synk beging keinen Selbstmord. Er wechselte die Taktik und tat so, als habe er volles Vertrauen zu Diglfonk und würde alles gutheißen, das dieser vorschlug oder tat. Auch dies nützte nichts. Die Robot‐Guerillas blieben verschwunden. Synk, Leenia und die verbliebenen Roboter richteten sich in einem Nebengebäude des Wachen Auges ein, nachdem eine gründliche
Durchsuchung der gesamten Anlage ergeben hatte, daß diese tatsächlich verlassen war. Einige Geräte arbeiteten noch und zeigten das, was man durch Diglfonk ohnehin schon wußte: Pthor befand sich in einer Umlaufbahn um eine Sonne, und ganz in der Nähe gab es einen Planeten: Lamur. Leenia spürte die Gefahr, die von dort ausging, doch sie schwieg vorerst, um Synk nicht noch mehr zu beunruhigen. Wieder einmal zur Untätigkeit verurteilt, war er ein einziges Nervenbündel und suchte Streit, wo und wann es ging. Leenia glaubte ein System in der Reaktion der Roboter erkennen zu können. Sie lenkten Synks Emotionen, ohne daß dieser es merkte. Er durfte nicht zur Ruhe kommen, nicht zu stark an die Magier denken. Leenia hatte einen Schlußstrich gezogen. Immer mehr war sie bereit, an eine Fügung zu glauben, die dafür gesorgt hatte, daß sie hier, an der Seite der Körperlichen, gegen die Dunklen Mächte kämpfte. Gegen die Gefahr, die von Lamur drohte. Leenia war entschlossen, alles zu tun, um Pthor vor dieser Gefahr zu schützen, soweit es in ihren Kräften lag. Sie gehörte nun zu den Sterblichen. Ihr Schicksal war mit dem ihren verbunden. Sie mußte das Beste daraus machen. Die Frage war nur, was sie tun konnte. Sie dachte an Koy, an Kolphyr und Fenrir. An Chirmor Flog. Was war aus ihnen geworden? Waren sie frei oder in der Gewalt der Magier? Während die verstoßene Körperlose sich diese und ähnliche Fragen stellte, landete der Zugor mit Bördo und den vier Guurpeln vor der FESTUNG. Bördo stieg aus. Das, was er sah, übertraf all seine Erwartungen. Er biß die Zähne zusammen, tastete über den Beutel mit der Blume des Sehers und folgte den anderen Pthorern, die in Gruppen in die große Pyramide geführt wurden.
ENDE Weiter geht es in Atlan‐Band 456 von König von Atlantis mit: Marionetten der Magier von Horst Hoffmann