Maddrax Band 86
Die Bunkerliga von Jo Zybell
Er hieß Putwin und machte seinen Job für zehn Flaschen pro Vollmond und ...
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Maddrax Band 86
Die Bunkerliga von Jo Zybell
Er hieß Putwin und machte seinen Job für zehn Flaschen pro Vollmond und freien Zugang seiner Sippe zum Fluss und zum Kams’koe-See. Das klingt mäßig, war in Wahrheit aber ein guter Preis. Eine Menge Leute zwischen der Ruinenstadt und dem Gebirge hielten sich und ihre Sippen mit Regenwasser, Insekten und Aas am Leben. Fisch? Seewasser? Oder gar Voodka? Luxus. Putwin konnte sich solchen Luxus leisten. Dank seines Jobs. Als er an jenem Tag den Hang hinauf ritt und der Eingang zum Pass in sein Blickfeld geriet, war es schon fast vorbei mit dem Luxusleben. Dabei sprach eigentlich nichts für Schwierigkeiten. Da lag nur einer im Geröll und zuckte. Einer der entfernt aussah wie die Eidechsen, die man manchmal am Seeufer fing; um einiges größer allerdings. Putwin hielt seine Androne an und griff nach dem Funkgerät.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde. Es war Matthew Drax seit langem klar: Die Antworten darauf, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, liegen im Kratersee. Trotz aller Bemühungen kommt ihm aber die Expedition des Weltrats zuvor - und scheitert! Lynne Crow und der irre Professor Smythe gelten als verschollen, seit sie zum Kometen hinab tauchten. Trotzdem wagt auch Matts Gruppe den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kristalls aus dem Kometen wird der Hydrit Mer’ol gefangen. Quart’ol, ein zweiter Hydrit, nimmt mentalen Kontakt mit dem Kristall auf. Sie erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa’muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt einen Organismus zu erschaffen, in den ihre körperlosen Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration der Menschheit über Jahrhunderte und ihre anschließende Reorganisation diente diesem Zweck. Jener Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung - just in dem Moment, als Matt in
einer Bruthöhle unbeabsichtigt eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als Feind höchster Priorität und hetzen ihm die Mutanten auf den Hals, die rund um den Kratersee leben. Die Freunde fliehen in einem russischen Expeditionspanzer. Sie wollen versuchen, die Welt vor den Daa’muren zu warnen. Quart’ol bleibt zurück, um Mer’ol zu retten. Der Barbar Pieroo ist strahlenkrank, und als sich sein Zustand verschlechtert, fahren er, der Cyborg Aiko und die Rebellin Honeybutt mit dem Beiwagen des ARET zu einem Bunker voraus. Unterwegs stoßen sie auf Jed Stuart und Majela Ncombe, zwei WCA-Überläufer, die von Parasiten festgehalten werden. Pieroos verseuchtem Blut ist es zu verdanken, dass sie alle freikommen. Als die Gefährten um Matt Drax in der Hafenstadt Nydda ankommen, werden sie mit der Familie eines Umstürzlers verwechselt und festgesetzt. Nur Mr. Black kann den Häschern entkommen und hilft der Metropolitin von Nydda, den Revoluzzer dingfest zu machen. Dabei trifft er auch auf Jed und Majela und setzt sie in einen Zug nach Kiew. Als die Freunde frei kommen, entschließen sie sich für getrennte Wege: Dave, Rulfan und Wulf fahren auf einem Raddampfer nach Britana, während Matt, Aruula und Black den ARET nehmen... * »Kosak Sieben an Großen Peter, kommen.« »Was gibt’s, Kosak Sieben?« »Da liegt was.« »Machen Sie Angaben zu Ihrem Standort, Kosak Sieben.« Die Übertragung wurde von Störgeräuschen überlagert. Die verdammte CF-Strahlung ließ nur Funkkontakte über vier, fünf Kilometer Entfernung zu. Deshalb war Putwin angewiesen, alle viertausend Meter eine Funkboje auszusetzen, um die Verbindung zu halten. Der Nachteil: Er musste auf dem Rückweg alle wieder einsammeln. Verlorene
Bojen wurden ihm gnadenlos von den Lebensmittel- und Voodka-Rationen abgezogen. Dummerweise hatte er - nicht zum ersten Mal - die Übersicht verloren, wie viele Bojen bereits hinter ihm lagen. »Westhang, Planquadrat neunzehn, Eingang Tura-Pass«, sagte er ins Mikrofon. »Da liegt was.« »Ein Skelett? Ein Fahrzeug? Ein Fass? Ein nacktes Weib?!« Die Stimme aus dem Funkgerät - eine Männerstimme übrigens - klang ungeduldig. »Sind Sie eventuell in der Lage, etwas konkreter zu werden, Kosak Sieben?« »Nun, ein Kerl liegt da, ein... hm...« Der grünliche, schuppige Bursche zwischen Putwin und dem Passeingang wälzte sich im spärlichen Gras auf den Bauch, hob den unförmigen Schädel und spähte zu ihm herüber. Seine Beine und sein Kopf zuckten noch heftiger. »... ein... ›Nuddand‹ sagt ihr, glaub ich. Sieht komisch aus...« »Sie meinen einen Mutanten«, kam es aus dem Funkgerät. »Weiter.« »Ja, komisch sieht er aus, sag ich doch...« Putwins Androne tänzelte nervös zurück, weil der schuppige Kerl vor dem Passeingang sich aufrichtete. »Also: Flache Rübe, Schuppen, grün. Na ja, erinnert mich irgendwie an eine Eidechse. Ist aber so groß wie ein ausgewachsener Mann.« Eine Zeitlang schwieg die Stimme aus dem Funkgerät. Es rauschte ein bisschen im Lautsprecher, es knackte, und endlich räusperte sich jemand, eine Frauenstimme diesmal: »Hier spricht die Zweite Subkommissarin. Hören Sie mich, Kosak Sieben?« »Klar, Großer Peter, ich hör gut. Der Kerl steht jetzt auf...« »Diese Art von Mutation wurde bislang nur östlich des Urals gesichtet, und zwar ziemlich weit östlich. Verstehen Sie, was ich meine?« »Schon, doch... der Kerl will sich jetzt auch Richtung Osthang davon machen...« »Verpassen Sie ihm eine ordentliche Ladung, Kosak
Sieben, und dann bringen Sie ihn zur Basis. Wir wollen wissen, was ihn so weit nach Westen getrieben hat. Wir schicken Ihnen Kosak Eins entgegen, für alle Fälle. Kommen, ob verstanden.« »Alles klar, von mir aus, wenn’s sein muss. Verstanden, Großer Peter, schon klar. Ende.« Putwin steckte das Funkgerät in seinen langen erdfarbenen Mantel zurück. Die Androne bebte zwischen seinen Schenkeln. Merkwürdig eigentlich, die riesigen Insekten waren sonst die Ruhe selbst. Der Kosak beugte sich ein wenig zur Seite. Seine haarige Pranke fuhr unter die Lederlasche der Satteltasche, griff hinein und zog ein faustgroßes Gerät heraus. Als er einen Knopf darauf drückte, begann es zu blinken und leise zu piepsen. Der Schuppenkerl wankte jetzt in den Hohlweg zwischen den Berghängen hinein, sechzig Schritte entfernt, vielleicht auch siebzig. Der Pass war ziemlich schmal hier an seinem westlichen Ende. Just als Weg und Bergschneise den Echsenburschen verschluckten, schüttelte sich die Androne erneut, hört aber auf zu zittern. Ehrlich, das war merkwürdig. Putwin lenkte die Androne an einen verkrüppelten Baum heran und deponierte das blinkende, piepsende Gerät - eine weitere Funkboje - in einer Astgabel. Währenddessen beäugte er misstrauisch den Passeingang. Eins war klar: Weiter als bis zum Kamm würde er nicht reiten. War nicht sein Job. Nicht mal die Herren in ihren Schutzanzügen wagten sich weiter vor. Den Ural überquerte man nur mit einem Spezialauftrag in der Tasche. »Also los, bis zum Kamm und keinen Schritt weiter, alles klar?« Er hieb der Androne die Stiefelabsätze in das vordere Segment. Das Tier trottete auf seinen sechs Beinen los. Zuerst die letzten achtzig Meter bis zum Pass und dann in die enge Schneise hinein. Die buschigen Brauen zusammengezogen, betrachtete
Putwin die vielen Steine am Boden. Als er das letzte Mal am Pass gewesen war - vor sechs Tagen, kurz nach Vollmond -, hatte hier noch nicht so viel Geröll herumgelegen. Aber gut, Steinschlag konnte es immer wieder mal geben hier oben. Im Frühsommer, nach der Schneeschmelze sowieso. Ein warmer Wind blies von Osten her durch die Bergschneise. Putwin klappte den Mantelkragen herunter und die Ohrenklappen seiner Wollmütze hinauf. »Wo steckt der Kerl?«, murmelte er. »Konnte doch kaum laufen...« Er trieb die Androne an. Bald trabte sie durch die sich ständig verbreiternde Schneise. Und plötzlich stand er da, breitbeinig und mit einem rostigen Eisenstab in den Fäusten. Den legte er sich über die Schulter, als er Putwin heranreiten sah. Keine Spur von Zucken mehr in seinen Gliedern. Und allein war er auch nicht: Rechts von ihm stand ein Bursche in einer Kutte, deren Kapuze sein Gesicht größtenteils verhüllte. Putwin sah trotzdem, dass es sehr knochig und seine Haut widerlich grau war. Links vom Echsenmann lehnte ein Kerl mit weiten Hosen, nacktem Oberkörper und bloßen Füßen gegen den an dieser Stelle ziemlich steilen Hang. Ein bisschen sah er aus, als hätte man ihn in die Länge gezogen. Er trug fremdartige Maserungen - oder Zeichnungen? - an Brust und Schultern. Und – hol’s der Teufel! - er hatte vier Arme und Hände! Dann war da noch ein vierter, so ein Kleiner, Verwachsener mit schmutzigbrauner Haut, der hockte hinter den dreien auf einem Felsblock und musterte Tier und Reiter aus seltsam großen Augen unter einem struppigen Bart. Putwin war nicht sicher, ob er zuerst sein Funkgerät oder seinen Para-Strahler aus dem Mantel ziehen sollte. Er griff vorsichtshalber nach beidem. Doch bevor er das Funkgerät ans Ohr drückte, aktivierte er erst einmal den Para-Strahler. Nun, anders herum hätte es auch keinen Unterschied gemacht: Es war sowieso zu spät. Über Kosak Sieben schien ein Gewitter loszubrechen. Die
Androne stieg auf den vier Hinterbeinen hoch und zirpte aufgeregt. Als Putwins Schädel nach oben zuckte, sah er, dass es kein Gewitter war, was da grollte - es war Steinschlag! Die Staubwolke, die sich hinter den heranpolternden Felsbrocken erhob, verschleierte unzählige Gestalten. Kein Steinschlag, eine Falle, schoss es dem Kosak durchs Hirn; und dann ging Geröll auf Reiter und Insekt nieder. Aus irgendeinem Grund überlebte Putwin. Kein Vorteil, wahrhaftig nicht. Benommen und aus vielen Wunden blutend, versuchte er sich aus den Gesteins- und Erdmassen zu wühlen. Er blickte auf, und plötzlich standen da Hunderte solcher schrägen Gestalten in der Bergschneise, über ihm, vor ihm und hinter ihm. Wie nannten die Herren im Großen Peter solche Figuren gleich? Mutanten, richtig. »Was wollt ihr, verflucht noch mal...?«, krächzte Putwin. Er hustete, weil er Staub eingeatmet hatte. Im Geröll tastete er nach seinem Para-Strahler. Mit großen Schritten kam der Kerl in der Kutte auf ihn zu. Ein paar Meter vor ihm griff er über die Schulter hinter sich und zog ein langes Schwert aus der Rückenscheide. »Was willst du, Arschloch?«, knurrte Putwin. »Wo ist mein verdammter Para...?« Er wollte sich hochstemmen, aber Geröllmassen hielten seine schmerzenden Glieder fest. Breitbeinig blieb der Vermummte vor ihm stehen, hob die Klinge mit beiden Händen hoch über die Kapuzenspitze. »Hey, wart mal, Herr!« Putwin bekam den rechten Arm frei und hob ihn abwehrend. »Wie wär’s mit Voodka? Ich hab da was...« Er erkannte eiternde Brandwunden im knochigen Gesicht des Kapuzenmannes. »Wir einigen uns schon irgendwie, oder...?« Es lief mehr auf eine Teilung heraus. Die Klinge sauste auf seinen Schädel herab...
* Sie hieß Dragurowka Bassutschok und machte ihren Job umsonst. Das klingt nach Idealismus, war es aber nicht. Die Gesetze in Perm II sahen für einen Gouverneur die unentgeltliche und unbeschränkte Versorgung mit praktisch allem vor, was man in der Russischen Bunkerliga für lebensnotwendig hielt: Speise, Kleidung, Unterkunft, Geschlechtspartner; und natürlich Voodka. Dragurowka Bassutschok war Gouverneurin von Perm II. An jenem Tag lag eine durchzechte Nacht hinter der Gouverneurin, und wie so oft nach solchen Gelegenheiten plagten sie Kopfschmerzen. »Also los.« Sie ließ die Brausetablette - Acetylsalicylsäure - in ein Glas mit Wasser fallen und stieß sich mit den Schuhen ab. Ihr Sessel drehte sich, bis der Großbildmonitor ihr Blickfeld ausfüllte. »Zeigt mir die Aufzeichnung.« Wichtiger als die Versorgung, die der Posten als Gouverneurin ihr bot, war, dass ihr der Job Spaß machte; sogar übertriebenen Spaß, wie manche in Perm II leise und viele in Perm I sarkastisch und laut zu sagen pflegten. Das Licht im Kuppelraum erlosch, die beiden Männer traten neben sie, im Wasserglas in ihren Händen löste sich sprudelnd die Tablette auf. Auf dem Monitor sah man weiter nichts als einen Sternenhimmel. Seit einem knappen Jahr war Dragurowka Bassutschok die Chefin in Perm II. Sie hielt sich übrigens für die einzig denkbare Besetzung des Gouverneurstuhls. Ihrer Meinung nach konnte niemand den Job auch nur halb so gründlich tun wie sie. Und da war schon etwas dran. In jenen Tagen, bevor ein gewisser Mr. Black in ihr Leben trat, hielt die Bassutschok es zum Beispiel für ihren Job, gründlich mit dem Problem aufzuräumen, das seit einem knappen Jahr im Zentrum der Ruinenstadt wuchs und wuchs und nicht mehr aufhören wollte zu wachsen. Das Problem lag unter der Erdoberfläche und hieß Perm I. Oder Großer Peter,
wie sich das Problem lächerlicherweise selbst nannte. Großer Peter war der Grund, warum die Gouverneurin sich an jenem Tag trotz ihrer Kopfschmerzen die Aufzeichnung eines Waffentests der vergangenen Nacht ansehen musste. »Sehen Sie die Parabel?« Der Wissenschaftler links ihres Sessels - ein Ballistiker, Elektroniker und Waffeningenieur namens Stanis Mosdrowoy - deutete auf den Großbildmonitor. Der war dunkel, und deswegen sah Dragurowka Bassutschok die Parabel sehr deutlich: Wie der Torbogen des Höllenportals stand sie knapp vier Sekunden lang im Nachthimmel. Als Lichtspur stieg sie zuerst aus plötzlich erleuchteten Wäldern und Geröllhängen zu den Sternen, beschrieb dort einen engen Bogen von etwas weniger als hundertachtzig Grad und zog sich dann wieder hinunter auf die Erdoberfläche. Während die Lichtspur verglomm, wölbte sich eine rötliche Feuerkuppel dort, wo sie aus dem Himmel in die Erde gefahren war. Im Wasserglas hörte es auf zu zischen. Die Bassutschok setzte es an die Lippen und leerte es. »Und jetzt Achtung!«, sagte der Mann rechts neben Dragurowka Bassutschoks Birkenholzsessel, ein Informatiker, Ingenieur und Physiker namens Ruslan Raspanuwitsch. Die Feuerkuppel erlosch, es wurde dunkel auf dem Großbildmonitor und im Raum. Die Gouverneurin streckte ihre Rechte nach Raspanuwitsch aus und begann seinen Hintern zu streicheln. Der zweite Chefwissenschaftler von Perm II hatte einen festen schmalen Hintern, genau die Art also, die Dragurowka bevorzugte. Etwas blitzte ungefähr an der Stelle auf, von der die Parabel aufgestiegen war. Der Blitz zuckte knapp über den Berghängen in die Ferne, bohrte sich in die Überreste der noch schwach glimmenden Glutkuppel, und fast im selben Moment stieg an gleicher Stelle eine gewaltige Feuersäule in den Nachthimmel. »Wahnsinn!«, krächzte Dragurowka Bassutschok. Sie hatte eine raue und ziemlich tiefe Stimme. »Und die Stahlkugel ist
hin?« Die Feuersäule verglühte in einem leuchtenden Pilz aus Dampf und Rauch. »Aber selbstverständlich, Gouverneurin!«, sagte Stanis Mosdrowoy mit beleidigtem Unterton. Der Monitor erlosch, die Beleuchtung unter der Holzkuppel flammte auf. Dragurowka Bassutschok gab Raspanuwitschs Hintern einen letzten zärtlichen Klaps und nahm ihre Hand wieder zu sich. »Und jetzt erklärt ihr mir, warum man solch altmodisches Zeug braucht, um das Problem aus der Welt zu schaffen.« Sie drehte ihren Sessel so, dass Mosdrowoy direkt vor ihr und Raspanuwitsch hinter ihr stand. »Aber gern.« Der Waffenexperte deutete eine Verbeugung an. »Die Aufzeichnungen allein beweisen natürlich noch gar nichts. Die Ergebnisse des Tests der vergangenen Nacht jedoch sprechen für sich. Die Stahlkugel hatten wir vierzig Meter unter der Erdoberfläche vergraben. Das erste nukleare Geschoss riss einen gewaltigen Krater, legte die Kugel frei und erhitzte den Stahl bis kurz unter den Schmelzpunkt...« Ihr kantiges Kinn auf die Faust gestützt, hörte Dragurowka Bassutschok ihm zu. Sie saß in einem thronartigen Sessel aus gelblichen Birkenholz. Fuß und Rollachsen waren gedrechselt, die holzgerahmten Polster mit schwarzem Leder überzogen. Aus rotem Leder war dagegen das einzige Kleidungsstück, das die Gouverneurin am Oberkörper trug: ein Büstenhalter, aus dem die gewölbte Pracht ihres Busens quoll. Ansonsten bedeckten lediglich Tätowierungen die gebräunte Haut ihrer Oberarme, Schultern, Brüste und ihres Bauchs. Eine einzige Tätowierung, genauer gesagt: eine Art Flammenmeer, das, an Schultern und Schlüsselbeinen noch weit gefächert, sich nach und nach zu einem Flammenstrahl von einer Handbreite verengte, der unter dem Bund ihres schwarzen Lederrocks verschwand; ein sehr kurzer Lederrock übrigens. Sie hatte eine hohe Stirn und schwarze Augen. Ihre Wangenknochen waren ungemein ausgeprägt, ihr Kinn
ziemlich breit und ihr Mund groß und unwiderstehlich sinnlich. Dichte rote Locken - Haarimitat - fielen ihr auf die Schultern. »... wonach der zweite, lasergesteuerte Flugkörper den Stahlmantel durchschlug und sein nuklearer Gefechtskopf die Kugel in viele Einzelteile zersprengte. Mit modernen Laserkanonen könnte man einem derart tief in der Erde verborgenen Zielobjekt nicht schaden.« Dr. Stanis Mosdrowoy beendete seinen Bericht mit einer zweiten Verbeugung und schloss mit dem Satz: »Der ganze Angriff dauerte insgesamt sechs Sekunden, die Sprengung der Kugel selbst drei Zehntelsekunden. Sie werden gar nicht merken, was passiert. Sie werden nicht einmal Zeit haben, Angst oder gar Schmerzen zu empfinden. Eine ungemein humane Waffe also.« »Schade, aber nicht so schlimm«, sagte Dragurowka Bassutschok. Sie reichte ihm das Glas. Mit den Bleistiftabsätzen ihrer Pumps stieß sie sich ab. Der Sessel drehte sich, bis ihre ausgestreckten Beine gegen Ruslan Raspanuwitschs Knie stießen. »Machen wir’s also, mein Professorchen.« Raspanuwitsch war ein hagerer Mann mit jungem Gesicht und weißhaariger Perücke. Er trug den weißen Overall, an dem man in Perm II die Wissenschaftler erkannte. »Sag meinem General Bescheid. Er soll zwei Panzer mit den Geschossen bestücken. Sobald da oben die Sonne untergegangen ist, erledigen wir das.« »So schnell?«, fragte Mosdrowoy hinter ihr. Wieder stieß sie sich ab, wieder drehte sich ihr Sessel. »Aber ja doch, mein Doktorchen. In der vergangenen Nacht haben wir das Zeugs getestet, also wissen sie spätestens morgen früh Bescheid, also ziehen wir’s noch heute Nacht über die Bühne. Und dann ist das Problem aus der Welt, hab ich Recht?« Mosdrowoy machte ein finsteres Gesicht und nickte. »Und was ist mit unserem Mann in Perm I?«, fragte
Raspanuwitsch hinter ihr. Und noch einmal schwang sie den Sessel herum. »Manchmal muss man Opfer bringen im Leben, mein Professorchen...« »Er ist nicht irgend jemand«, gab Dr. Mosdrowoy zu bedenken. »Also gut.« Wieder eine Sesseldrehung. »Schickt ihm eine Warnung.« * Das Gebirge blieb zurück, und mit ihm eine schroffe, eher abweisende Landschaft. Stattdessen nun kleine Teiche, weite Wiesen, sanfte Hügel und lichte Birkenwälder. »Es ist schön hier.« Aruula hing im Beifahrer-Sessel und blickte verträumt über die wogende Grasfläche. Zwischen zwei Birkenwaldstücken dehnte sich die sattgrüne Lichtung aus. »Fast wie zu Hause.« An manchen Stellen stand das Gras so hoch, dass die prallen Ähren gegen das Frontfenster schlugen, während der Panzer die Grasfläche teilte. »Ja, fast wie zu Hause...« Zu Hause - ein Wort, das Aruula selten benutzte. Und wenn, dann meinte sie damit das Land, in dem sie ihre ersten fünf Lebensjahre verbracht hatte: die Dreizehn Inseln und die Küstenregion vor den Ruinen von Kalskroona. »Nur das Meer fehlt«, seufzte sie. »Dafür bekommst du einen See.« Matthew Drax, neben der Barbarin im Fahrersitz, deutete durch das Frontfenster in Fahrtrichtung. »Siehst du das Schilf dort vorn?« Ihr erster Wortwechsel nach stundenlangem Schweigen. Dass er sich um die Schönheit der Landschaft drehte, schien Matt ein untrügliches Zeichen von Entspannung zu sein. Aruula richtete sich auf, legte den Kopf ein wenig in den Nacken und spähte nach vorn. Tatsächlich: Zwei, drei Speerwürfe entfernt ragte hohes Schilfrohr aus dem Gras. »Wie schön«, seufzte sie. »Lass uns anhalten, Maddrax. Lass
uns fischen und jagen.« Der Commander steuerte den ARET von der Lichtung weg nach Südwesten in den Wald hinein. Fischen und jagen...? Erstaunlich, wie hart im Nehmen seine geliebte Barbarin war. Gut - von den Verfolgern fehlte seit fast zwanzig Stunden jede Spur; seit sie sich von den anderen getrennt und den Pass überquert hatten. Aber fischen und jagen? Jetzt? Nein, das war ihm dann doch zu viel der Entspannung. »Du hast Nerven.« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Der Radar ortet das Mutantenheer zwar nicht mehr, aber wer sagt dir, dass sie nicht immer noch hinter uns her sind? In Nydda saßen sie uns ganz schön dicht auf dem Pelz. Wir können von Glück sagen, dass sie die Stadt nicht überrannt haben.« Ihre Gruppe hatte sich in der Küstenstadt getrennt, um die Chancen zu erhöhen, bis London durchzukommen: David McKenzie, Rulfan und sein Lupa waren auf einem Raddampfer die Küste entlang unterwegs, Jed Stuart und Majela Ncombe, die beiden Ex-Welträtler, fuhren in einem Zug nach Kiew. Der Cyborg Aiko und Honeybutt Hardy waren mit dem schwer kranken Barbaren Pieroo schon Wochen vorher im Beiwagen des ARET, dem Dingi, nach Westen aufgebrochen. Matthew Drax fragte sich, wie die Mutanten, die sie auf Befehl der außerirdischen Kometenwesen seit dem Kratersee verfolgten, nun reagieren würden. Dass zumindest ein Teil des mehrere tausend Köpfe starken Heeres noch immer dem ARET mit Aruula, Mr. Black und ihm an Bord folgen würde, stand für Matt aber außer Frage. Dafür war ihr »Verbrechen« zu groß: Matt hatte unbeabsichtigt eine Brutzelle der Daa’muren, wie die Fremden sich nannten, zertreten. Schon wieder stieg das Waldstück an. Eichen und Erlen mischten sich immer häufiger unter die schwarz gesprenkelten weißen Stämme. Seit sie das Gebirge hinter sich hatten, fuhr der Panzer durch bewaldetes Hügelland. Nach und nach ging es in Gras- und Buschland über. Der Karte nach müssten sie bald auf Flussläufe und eine
Seenplatte treffen. »Einen Tag und eine Nacht noch«, sagte Matthew Drax. »Wenn sie sich dann noch immer nicht zeigen, können wir hoffen, dass sie die Verfolgung endlich aufgegeben haben.« Der ARET pflügte tiefer in den Wald hinein. Moos, feuchter Waldboden und Vorjahreslaub spritzten nach rechts und links. Matt wollte dem Schilf und dem See ausweichen. Aruula blickte auf den Bildschirm, dessen Kamera den Blick zurück nach Osten zeigte. Hinter den Wipfeln der Wälder erhob sich der Ural wie ein zerklüfteter Wall. Er war nicht besonders hoch, aber durch seine dichte Bewaldung und von Erdspalten durchzogenen Hänge ziemlich unwegsam. Sechs lange Tage hatten sie gebraucht, um ihn zu überwinden. Mr. Black, der erfahrenste Pilot des ARET, hatte fast pausenlos hinter der Steuersäule gesessen. Seit etwa vier Stunden lag er hinten im Ruheraum und schlief. »Zumindest war es eine gute Idee, die Gruppe aufzuteilen«, machte sich Matt selber Mut. »Wenn der Befehl der Daa’muren lautete, uns mit allen verfügbaren Kräften zu folgen, haben sie jetzt ein Problem.« Der ARET schob sich über die Hügelkuppe. Dahinter ging es ziemlich steil hinab. Gestrüpp und das Laub tief hängender Äste scheuerte über das Sichtfenster des Daches. Manchmal verdeckten Hecken und Zweige die Frontscheibe vollständig. »Unsere Marschrichtung steht jedenfalls fest«, fuhr Matt fort. »Wir schlagen uns bis zur Community London durch, liefern Queen Victoria und Sir Leonard Gabriel das Serum und all die Neuigkeiten ab und warten dann auf die anderen.« Das Serum liefern... Das war einfacher gesagt als getan. Die bislang einzigen Menschen auf dieser Erde, die über das begehrte Immunschwäche-Mittel verfügten, gehörten dem Weltrat an. Deren Angehörige trugen stets einen Beutel bei sich, über den die gelblich-weiße Flüssigkeit in einer ständigen mikrodosierten Infusion in den Körper gelangte. Ging ihnen das Serum aus, bedeutete das den sicheren Tod; da genügte schon ein einfaches Bakterium.
Die Einzigen aus ihrer Gruppe, die Serumsbeutel bei sich trugen, waren Dr. Jed Stuart und Staff Sergeant Majela Ncombe. Falls sie es nicht nach London schafften... ... war noch immer ein Trumpf übrig. Einer, der sich hier im ARET aufhielt: Mr. Black. Aus dem Blut dieses Klons - sein genetischer Vater war damals der letzte reguläre USPräsident gewesen - hatte der Weltrat vor dreißig Jahren das Serum entwickelt. Und es sprach nichts dagegen dass dies auch heute noch möglich war. Sie mussten Black nur in einen medizinisch dafür ausgerüsteten Bunker bringen. Matt hatte viel über Mr. Blacks Rolle nachgedacht. Seine einzige Qualifikation war doch, dass die Gene des Running Man ihre ursprüngliche Reinheit aufwiesen, unbeeinflusst von Degeneration, Isolation und der Jahrhunderte langen CFStrahlung - oder mit was die Daa’muren die Menschheit noch bombardiert hatten, um ungezählte Mutationen auszulösen. Das aber bedeutete, dass die Gene der Fliegerstaffel, die durch den Zeitriss in diese Zukunftswelt gelangt war - also die von David McKenzie, Jennifer Jensen, seinen eigenen und, ja, auch die des irren Jacob Smythe, wenn er noch lebte - mindestens ebenso für die Serums-Produktion geeignet sein mussten. Nun, sie würden das bei nächster Gelegenheit klären. Anlass zur Hoffnung gab es allemal. Denn wenn die hoch entwickelten Technos der Erde den Daa’muren entgegentreten wollten, konnten sie das kaum in Schutzanzügen. * »... Kosak Sieben, kommen!« Natalja Sem, die Zweite Subkommissarin, verdrehte die Augen. »Kosak Sieben! Antworten Sie endlich!« Natalja warf sich zurück gegen die Sessellehne, trommelte mit den Fingerspitzen auf der Instrumentenkonsole herum und fixierte die Strecke rot blinkender Punkte auf dem
Display, als wären es diese verdammten Insekten, die in letzter Zeit viel zu häufig hier unten zu finden waren; trotz hermetischer UV-Schleusen, Molekularscanner, NanoLibellen und all dem anderen Schnickschnack. Höchste Zeit, dem Hygiene-Beauftragten und den Leuten an den Schotten mal wieder kräftig auf die Zehen zu treten. Es war Natalja Sems Job, nachlässigen, versoffenen oder korrupten Leuten hin und wieder kräftig auf die Zehen zu treten. Sie gehörte nämlich zum Führungstrio der unterirdischen Stadt mit dem schönen Namen Großer Peter. Natalja Sem gehörte darüber hinaus zu den Menschen, denen der Kragen öfter platzte als dem Durchschnitt der russischen Bunkerkolonisten. Jetzt zum Beispiel stand sie mal wieder kurz davor. Sie wandte sich wieder der rot blinkenden Linie von Leuchtpunkten zu, die die Funkkette von Kosak Sieben markierte und die sich bis zum äußersten Ausläufer des Urals hinzog. »Großer Peter an Kosak Sieben, haben Sie den Echsenkerl nun oder haben Sie ihn nicht?!« Natalja schlug mit ihren zierlichen Fäusten auf die hölzernen und mit kunstvollen Schnitzarbeiten dekorierten Armlehnen ihres Sessels. »Melde dich endlich, verflucht noch mal!« An den Schläfen ihres schmalen und sehr weißen Gesichtchens schwollen blaue Venenknoten. »Melden, Kosak Sieben! Melden, verdammt!« Die roten Punkte auf dem Display blinkten, aber die Lautsprecher blieben stumm. »Ist nicht seine Art«, sagte Alexander Koboromajew hinter ihr. »Kenn keinen eifrigeren Barbaren als Putwin.« Alexander Koboromajew stützte sich auf Nataljas Sessellehne und spähte über ihre Schulter. Koboromajew, ein Mann im besten Alter, groß, kräftig und schlank, war Dritter Subkommissar der Kolonie Großer Peter; oder Perm I, wie gewisse andere Zeitgenossen den Bunker auch nannten. Er trug einen goldfarbenen Overall. »Ist nicht Putwins Art, wahrhaftig nicht.«
Natalja verdrehte die Augen erneut. »Leck mich am Arsch, Alex!« »Ich wüsste nicht, was ich lieber...« »Ich sag dir, er ist besoffen! Hast du nicht gehört, wie verwaschen er sprach? Er ist mal wieder besoffen und hält die Rufe aus dem Funkgerät für Vogelgezwitscher...« Wie immer, wenn sie sprach, ruderte Natalja mit beiden Armen. »... oder für die Fürze seiner Androne, was weiß denn ich!« Und wieder schlug die kleine Frau mit beiden Fäustchen auf die Armlehnen. Alexander Koboromajew spitzte die Lippen in Richtung ihres kahlen und filigran tätowierten Schädels; vielleicht aber auch in Richtung der üppigen Brüste, die sich unter ihrem schreiend roten Overall wölbten. »Möglich, Natalja, möglich.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber bedenke doch: Putwin ist ein Barbar, den wir angelernt haben. Er verträgt doppelt so viel Voodka wie du und ich zusammen.« »Du redest Scheiße, Alex!« Sie hob den Kopf, sah zu ihm auf, und ihr Blick sprühte vor Zorn. »Barbareninstinkt hin, Trinkfestigkeit her: Er-mel-det-sich-nicht-mehrl« Sie unterstrich ihre Worte mit Faustschlägen auf die Armlehnen ihres Sessels. »Kapierst du das nicht...?!« Und im gleichen Moment hörte der letzte rote Punkt auf dem Display auf zu blinken. Er verfärbte sich erst gelb, dann orange und schließlich schwarz, und gleichzeitig setzte ein nervtötendes Piepsen ein. Beide starrten sie auf das Display. Alexander Koboromajews Augen waren jetzt ganz schmal, und Natalja Sems weiße Gesichtshaut wirkte fast durchsichtig. Ihre Schläfenadern schwollen ab, ihre Lippen wurden zu grauen Strichen. »Eine Erklärung, Alex, schnell eine Erklärung...«, flüsterte die Zweite Subkommissarin. Ihre Finger flogen über die Tastatur, das Alarmsignal verebbte. Alexander Koboromajew schluckte. Er starrte auf das Display, versuchte Koordinatenangaben, Planquadrate und
Landschafts-Topografie mit seiner Erinnerung in Einklang zu bringen. Auch er hatte in jungen Jahren als Kosak gedient, allerdings für Perm II. Die Bojen übermittelten nicht allein das Funksignal; sie waren darüber hinaus mit einem Peilsender verbunden, der den Kosaken eingepflanzt wurde. Drei Werte gaben sie weiter: die Hirnströme des Spähers, sein EKG und den Blutdruck. Jeder wusste, was die Kombination aus schwarzem Punkt und akustischem Alarm bedeutete. »Erklärung?«, echote der Dritte Subkommissar mit belegter Stimme. »Er ist tot, das ist los...« »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Nataljas kleine Faust schnellte nach vorn, hieb auf einen roten Knopf neben der Tastatur. »Zentrale an Ersten Subkommissar! Wir brauchen Sie hier!« Dann flogen ihre Fingerchen über die Tastatur. »Kosak Eins, kommen! Scheiße!« »Beruhige dich, Schätzchen.« Alexander Koboromajew legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und begann Nataljas Schultern zu massieren. »Bleib ganz ruhig, ja? Ich sende dir neue Energie, fühlst du sie schon?« »Erzähl mir nichts!« Ihre Stimme überschlug sich. »Und nenn mich nicht Schätzchen, Arschloch! Ein Späher fällt aus... wann ist so was zuletzt vorgekommen, sag es mir, wann...?!« »Kosak Eins an Großer Peter, kommen«, tönte es blechern und leicht verzerrt aus den Boxen. »Standort!« Natalja schlug Alex’ Hände von ihren Schultern, beugte sich noch weiter nach vorn, schluckte fast das Mikro. »Standort, verdammt noch mal!« Koboromajew langte an ihr vorbei und schaltete die Funkkette von Kosak Eins auf den Bildschirm. Sie kam von Südwesten herauf und näherte sich dem Endpunkt von Putwins Linie. »Zwischen Kams’koe-See und Westhang, Planquadrat achtzehn, Kilometer neun.« »Gib Gas, Nika, gib Gas!« Die Zweite Subkommissarin lag
schier auf der Tastatur. »Putwin, Kosak Sieben... mit ihm ist was passiert...!« »Etwas genauer, wenn ich bitten darf«, kam es blechern zurück. »Kosak Sieben meldet sich nicht mehr«, sagte Alexander Koboromajew anstelle der Zweiten Subkommissarin. »Sein implantierter Peilsender hat den Dienst eingestellt.« »Exitus?« »Verflucht, Nika!«, schrie Natalja. »Gib deinem Viech die Sporen und mach, dass du zum Pass hinauf kommst!« »Ist ja gut. Ende«, sagte die verzerrte Stimme. Erschöpft fiel Natalja wieder zurück in ihren Sessel. Alexander Koboromajew beugte sich über sie und tippte einen Code in die Tastatur ihres Rechners. Die topographische Karte auf dem Display veränderte sich, der See war jetzt zu sehen, und ein roter Punkt blinkte dicht vor dem Aufstieg zum Ural. Über ihm erschien im DreiSekunden-Takt seine Identifizierung: Kosak Eins. »Es ist gewagt, Nikati allein zum Pass hinauf zu schicken«, sagte Alex. »Er ist ein Encephalorobotowitsch.« Natalja hing mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel. »Was kann ihm groß passieren?« »Sie steckt dahinter«, zischte Alex. »Jede Wette. Sie hat Putwin liquidieren lassen! Und wenn das Miststück dahintersteckt, ist auch Nika erledigt. Sie scheut vor nichts zurück...!« »Du redest schon wieder Scheiße, Alex«, seufzte Natalja ohne die Augen zu öffnen. »Seit wann machen die Moskawiter Jagd auf unsere Späher, noch dazu so weit von Perm entfernt? Die sind doch schon froh, wenn sie unseren Funkverkehr auffangen können.« »Sie war es, ich wette zwei Flaschen Voodka. Sie hat ihn töten lassen.« Alexanders Miene war zur ausdruckslosen Maske erstarrt. Seine zu Schlitzen verengten Augen belauerten die gelbliche, hölzerne Kuppelwand über dem
Display. Von dort grinste ihn eine Frau an, die nur er sehen konnte, einzig und allein er, Alexander Koboromajew, Dritter Subkommissar des Großen Peter. Häufig verfolgte das Gesicht dieser Frau ihn bis in seine Träume; ihre schwarzen Augen, ihre tiefe Stimme, ihr obszönes Lachen - manchmal raubte sie ihm gar den Schlaf. »Sie steckt dahinter, wer sonst?« Er griff in die Beintasche seines schwarzen Overalls, zog eine kleine Flasche heraus, schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen. »Lass mich in Ruhe mit deiner verfluchten Paranoia. Ich habe genug eigene Probleme...« Hinter ihnen summte es. Alex fuhr herum, Nataljas Sessel drehte sich ruckartig um hundertachtzig Grad. Eine Luke hob sich in der Birkenholzvertäfelung, und ein Mann in einem Rollstuhl fuhr in die Kommandozentrale des Großen Peter hinein: klein, fett, kahlköpfig und in schwarzem Overall. Pjotr Smolny, der Erste Subkommissar. Er trug eine Brille mit klobigem schwarzen Gestell und dicken Gläsern. Ein weißblaurotes Emblem zierte die Brusttasche über seinem Herzen. »Was gibt es?«, fragte er kühl. »Kosak Sieben meldet sich nicht mehr. Sein Peilsender hat den Dienst eingestellt«, sagte Natalja. »Glaub ich nicht. Wahrscheinlich ist nur die Funkkette zusammengebrochen.« Der Erste Subkommissar stoppte seinen Rollstuhl direkt vor der Instrumenten-Konsole neben Nataljas Sessel. »Ich will das Protokoll sehen.« Natalja verdrehte schon wieder die Augen, ihre Kaumuskulatur arbeitete. »Es ist wahr, Pjotr«, antwortete Alex an ihrer Stelle. »So wahr wie 2012-02-08!« Der kurze fette Zeigefinger des Ersten Subkommissars deutete auf das Display. »Das Protokoll!«, beharrte er. Noch nie war General Smolny ein Freund vieler Worte gewesen. Natalja zog die Tastatur heran, gab einen Befehl ein, und das Überwachungsprotokoll öffnete sich. Smolnys Miene wurde zusehends düsterer, während er es überflog. »Dr. Rostow ist zu ihm unterwegs...?«
Eine Melodie, wie von einer elektronischen Orgel gespielt, ließ ihn verstummen. Auf dem Display blinkte das Bild eines stilisierten Bären: das ID-Icon von Kosak Eins. »Eine verdeckte Meldung«, sagte Alexander Koboromajew. »Nika benutzt seinen Code!« Um nicht von der Konkurrenz in Perm II abgehört zu werden, wurde der Funkverkehr zwischen Außendienst und Zentrale verschlüsselt. Für besonders wichtige Nachrichten benutzten die Späher einen persönlichen Code. Dr. Nikati Rostow - Kosak Eins - bevorzugte Orgelmusik. Satz um Satz erschien die aus der Melodie errechnete Nachricht auf dem Display: fahrzeug aus richtung westhang in planquadrat 19, kilometer 2 - typ: aret - unterwegs in westliche fahrtrichtung see - id-peilung: perm II - es könnte sich um den heimkehrenden expeditionspanzer handeln, der im auftrag der bunkerliga den kratersee erforschen sollte, k 1. »Der ARET?« Eine steile Falte erschien zwischen Nataljas eintätowierte Brauenimitaten. Fahrzeug und Besatzung galten als verschollen; seit vielen Monaten bereits. »Sie haben den Ural beim Tura-Pass überquert«, zischte Alexander Koboromajew. »Sollten etwa sie Kosak Sieben liquidiert haben...?« »Das glaube ich nicht.« Natalja schüttelte den Kopf. »Sie wissen noch nichts von den Kämpfen. Als sie aufbrachen, nahmen wir noch an den Regierungssitzungen in Perm II teil, und Alex war noch Gouverneur in dem Sauladen. Außerdem passt das nicht zu Majorin Oldriska Karpin, einfach einen Späher zu töten. Und zu Boris Lewkov passt es schon gar nicht.« Beide, die Offizierin und den Linguisten, kannte Natalja gut. Beide hatten ein paar Jahre im Großen Peter gewohnt, obwohl sie, wie die anderen beiden Besatzungsmitglieder auch, ursprünglich aus Perm II stammten. Das Triumvirat des Großen Peter hatte seine Kandidaten für die Expedition seinerzeit zurückgezogen, weil der regierende Kommissar in
Moskau die Leitung der Forschungsgruppe einem Wissenschaftler aus Perm II statt aus dem Bunker Großer Peter übertragen hatte. Das waren kleine Eifersüchteleien, bevor es zum Bruch mit Perm II kam. »Das Miststück könnte sie per Funk informiert haben«, sagte Alex. »Noch zu weit von der Basis entfernt«, schnarrte der Erste Subkommissar. »Und bemüh dich bitte um eine der Situation angemessene Ausdrucksweise.« »Was sollen wir tun, Pjotr?« Fragend sah Natalja den General an. »Der ARET wird in Perm II verschwinden, und ohne unseren Geheimdienst werden wir niemals von den Ergebnissen der Expedition erfahren...« »Wozu haben wir unseren Mann dort?«, sagte Alexander Koboromajew etwas hochnäsig, wie es zuweilen seine Art war. »Wir brauchen die Originaldateien so schnell wie möglich«, widersprach Natalja. Der Erste Subkommissar rieb sich nachdenklich sein Doppelkinn. »Davon abgesehen böte der ARET ein unschätzbares Druckmittel.« Pjotr Smolny ließ seinen Rollstuhl ein Stück von der Konsole wegfahren und drehte ihn so, dass er den anderen beiden Subkommissaren in die Gesichter schauen konnte. »Wir befinden uns im Kriegszustand mit Perm II, das wisst ihr so gut wie ich«, sagte er. »Was ihr nicht wisst: Die Führung der gegnerischen Bunkerstadt hat längst den Angriff auf den Großen Peter beschlossen. Sie wollen uns mit Nuklearwaffen aus der Welt schaffen. Und das nicht erst nächsten Monat oder nächstes Jahr, sondern in den nächsten vierundzwanzig Stunden.« Alexander Koboromajew und Natalja Sem wurden bleicher, als sie ohnehin schon waren. »Woher...« Natalja schluckte. »Woher weißt du...?« »Unser Mann in Perm II hat sich vor einer halben Stunde mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte der General knapp und vieldeutig.
»Dann sollten wir... dann müssen wir...« Die Nachricht gab Natalja Sem den Rest. »Wir müssen sofort Gegenmaßnahmen ergreifen! Wir müssen mobil machen! Wir müssen sämtliche AMOT...!« »Ich habe bereits veranlasst, was nötig ist.« Der General wirkte ungerührt. Das reizte Nataljas Zorn. »Und was?« »Angemessene Maßnahmen. Vertraut mir.« Natalja biss die Zähne zusammen. Pjotr Smolny misstraute allem und jedem; manchmal hasste sie ihn dafür. »Wie auch immer«, fuhr der General fort. »Wenn wir den ARET und seine Besatzung in unsere Gewalt bringen, könnten wir sie von diesem Wahnsinn abhalten und wieder an den Verhandlungstisch zwingen.« »Niemals wird das Miststück mit uns verhandeln«, zischte Alexander Koboromajew. »Wir werden sehen«, sagte Smolny. »Greifen wir uns den ARET.« Natalja Sem aber beugte sich über das Mikro: »Zentrale an Hauptschott - einen schweren Panzer fertig machen, nehmt Kama Eins!« Dann tippte sie eine Antwort an den Encephalorobotowitsch in die Tastatur: Großer Peter an Kosak Eins - das Problem Kosak Sieben wird verschoben. Halten Sie zunächst den ARET auf. Und zwar unter allen Umständen. N.S. * Zwei große Tiere kamen aus dem Gestrüpp - Andronen! Sie liefen eine Zeitlang vor dem metallenen Ungetüm her, krabbelten dann über eine Dornenhecke und flohen ins Unterholz. Der ARET erreichte die Hügelkuppe, bohrte sich ins Gestrüpp zwischen den Stämmen und rollte bergab. Der Hang wurde flacher, der Wald lichtete sich, und plötzlich pflügte der Expeditionspanzer mitten durchs Schilf. Matt
stieß einen Fluch aus - genau das hatte er vermeiden wollen! See und Schilf schienen sich doch weiter auszudehnen, als er angenommen hatte. Schilfrohr teilte sich vor dem Bug des Panzers. Es raschelte, es knackte, Wasservögel kreischten, flatterten davon. Wie blaue Flamingos sahen sie aus. Und dann spritzte Wasser gegen die Frontscheibe. Unerwartet dehnte sich eine weite Wasserfläche vor ihnen aus. Matt schimpfte vor sich hin. Er zog die Steuersäule zurück. Seine Finger flogen über die Instrumentenkonsole. Der ARET sank tiefer und tiefer - bis das Fahrzeug in den Schwimmmodus schaltete: Ruckartig richtete der Bug des Panzers sich auf. Aruula klammerte sich an Matt und ihrem Sessel fest und stieß einen Schrei aus. »Schon gut«, sagte Matthew, »schon okay. Black hätte das sicher eleganter gemacht, ich weiß...« »Ist nicht schlimm...« Aruula küsste seinen Hals. »Egal was du tust: Irgendwie machst du’s immer gut.« »Danke gleichfalls.« Das Motorengeräusch veränderte sich: Dumpfes Stampfen statt Summen und Brummen. Matt lauschte angestrengt - die Geräusche klangen ungewohnt. Dazu das Wasser, das sie umgab; irgendwie unheimlich. Der Birkenwald am anderen Ufer war mindestens vierhundert Meter entfernt. Noch nie hatte der ARET eine derartige Distanz im Wasser überwinden müssen. Matts Blick flog zwischen Bordradar, Head-up-Display und Bordcomputer hin und her. »Da ist etwas«, sagte er wie zu sich selbst. »Eine Bewegung, drüben, im Birkenwald.« Aruula nahm den Arm von seiner Schulter, richtete sich auf und spähte durch die Frontscheibe. Schilf, Birken, Himmel und Wasser, sonst nichts. »Bist du sicher?« »Der Rechner ist sich sicher.« Matt schielte zum BordfunkMikrofon. Sollte er Black wecken? Der Running Man hatte sich seinen Schlaf verdient, wahrhaftig. Also erst einmal abwarten, vielleicht waren es ja wieder nur mutierte
Riesenameisen, deren Bewegung der Radar geortet hatte. Schilfhalme, Federn und von den Rädern aufgepflügtes Seegras schwamm in der Bugwelle, die der ARET vor sich her schob. Sogar ein Fisch sprang aus den Fluten, beschrieb einen hohen Bogen und tauchte wieder ein. Träge dahinschwimmend wie ein riesiges Krokodil überquerte der Panzer den See. Einen halben Speerwurf vom Waldufer entfernt verfärbte das Wasser sich schmutzigbraun: Die Räder berührten wieder Grund. Matt schaltete den Schwimmmodus ab, und der Expeditionspanzer wühlte sich durch den Schlamm den leicht ansteigenden Seegrund hinauf. Stück für Stück hob sich der Bug aus dem Wasser. Bald walzte das Fahrzeug Schilf, Buschwerk und junge Birken an der Uferböschung nieder. »Da!« Aruula deutete auf das Head-up-Display. »Was ist das?!« Zwischen skizzierten Stämmen und Büschen bewegte sich eine große rötliche Gestalt. Der Bordrechner hatte die von Radar und Infrarotsucher erfassten Umrisse eines Lebewesens auf das Head-up-Display geschickt. »Ein Tier! Ein großes Tier!« Matt drosselte die Geschwindigkeit des Panzerfahrzeugs. An Birkenstämmen vorbei bohrte es sich durch Gestrüpp, schob sich über Hecken und junges Gehölz. Und dann sahen sie es mit bloßem Auge: Ein Tier von gut dreieinhalb Meter Höhe stand schwankend zwischen den Birken auf den Hinterläufen im Unterholz. »Ein Izeekepir!«, entfuhr es Matt. »Nein - doch nicht. Er hat braunes Fell.« Mutierten Eisbären waren sie auf ihrem Weg durch Kanada und Alaska begegnet. Der hier sah ähnlich, aber nicht identisch aus. »Ein Taikepir!«, sagte Aruula. »Sorbans Horde ist mal auf einen getroffen, damals...« Sie hatte sich vom BeifahrerSessel erhoben. Die Hände auf die Instrumentenkonsole gestützt, drückte sie sich schier die Nase an der Frontscheibe platt. Den mächtigen Schädel mit der reißzahnbewehrten
Schnauze gesenkt, stapfte der Taikepir im Gestrüpp herum. Sein Zottelfell war schwarz und braun gezeichnet. »Der Bursche scheint irgendwas im Unterholz zu belauern«, sagte Matt. »Wir interessieren ihn überhaupt nicht.« »Vielleicht liegt da seine nächste Mahlzeit«, sagte Aruula. Jetzt ließ sich der Bärenmutant auf die Vorderpranken fallen, senkte die Schnauze ins Gestrüpp, und tatsächlich: Als er den Schädel wieder hob, hing ein menschliches Bein zwischen seinen Fängen. An ihm zerrte das Raubtier einen Körper aus dem Unterholz; einen Körper, der sich bewegte. »Jesus«, stöhnte Matt. »Er hat einen Menschen erbeutet...!« »Er lebt noch.« Angespannt beobachtete Aruula die Jagdszene. »Wir müssen ihm helfen.« »Bist du verrückt?« Die Barbarin schoss einen unwilligen Blick auf ihren Gefährten ab. »Der Mann ist sowieso verloren.« »Vielleicht auch nicht!« Matthew Drax beugte sich nun doch zum Bordfunk-Mikrofon. »Cockpit an Ruheraum! Aufwachen, Mr. Black! Wir brauchen Sie hier vorn!« * Am Pass wimmelte es von mehr oder weniger menschenähnlichen Gestalten: vierarmige, langköpfige Fischfänger, grauhäutige, in Kutten gekleidete Schwertkrieger, zwergenwüchsige Maulwurfsmenschen, reptilienhafte Geistmeister, und überall dazwischen Mutanten mit bizarren Köpfen, muskulösen Rümpfen, verwachsenen Gliedmaßen, falschen Proportionen oder gar pflanzlich anmutenden Körperteilen. Ein Panoptikum des Grauens - und ein Beweis für die unseligen Experimente, die die Daa’muren mit der Flora und Fauna dieses Planeten rund um den Kratersee getrieben hatten. Die Mutanten selbst sahen das anders. Für sie war die Macht im See von jeher eine Gottheit gewesen, deren
Befehlen sie blindlings gehorchten - umso mehr, seit ein überstarker mentaler Befehl sie alle zur Verfolgung des Feindes gezwungen hatte. Doch das Heer war nicht so unorganisiert, wie es vielleicht von fern den Anschein hatte. Späher waren bis zum Passeingang am Westhang vorgerückt, Boten hielten die Nachrichtenkette zwischen ihnen und der Armeeführung aufrecht. In großen Gruppen lagerten die skurrilen Wesen in Felsspalten, auf Anhöhen und in Waldstücken, und immer neue Scharen stiegen die zerklüfteten Waldhänge aus dem Osten herauf. Zehntausende waren es, und viele brachten Beute mit: Menschen und Tiere. Der Vormarsch der bizarren Armee war unaufhaltsam, aber er musste geregelt werden. Verpflegung war wichtig, und von Zeit zu Zeit warteten die Schnellsten unter den Mutanten, damit der Rest nachrücken konnte. Sie wussten, dass der Feind nicht entkommen konnte. Da und dort brannten Feuer, und über der Glut drehten sich an Spießen riesige Fleischstücke. Über einem brutzelte der Hinterkörper von Putwins Androne. Von Putwin selbst war schon nichts mehr übrig. Der schuppige Bursche dagegen, der ihn wenige Stunden zuvor an eine Eidechse erinnert hatte, stand breitbeinig auf einem Felsbrocken am Passausgang. Die Stachelstirn seines Schädels stützte er gegen den rostigen Eisenstab, den er mit beiden Fäusten festhielt. Manchmal bewegten sich seine schwarzen Lippen, manchmal wankte er. Mur’gash - so hieß er - versuchte Kontakt zu der Macht im See aufzunehmen. Mur’gash galt unter seinesgleichen, beim Volk der Mastr’ducha also, als Freund der Macht. Um ihn herum hockten die anderen drei Führer des Mutantenheeres im Geröll: Bulba’han, der Woiin’metcha mit dem verbrannten Gesicht, in seiner Mönchskutte und auf sein Langschwert gestützt; Birgel’wost, der kleine verwachsene Narod’kratow mit dem unbeugsamen Willen, und der
schlaue, vierarmige Rriba’low Taqua’floydan. Alle warteten sie darauf, was die Macht im See entscheiden würde. Eigentlich war ihr Auftrag klar, doch Mur’gash hatte darauf bestanden, sich zu vergewissern: Sie sollten dem Feind folgen, dem Mefju’drex, der den Mächtigen Schaden zugefügt hatte. Doch nun hatten sich seine Begleiter in vier Gruppen geteilt. Sollte das gesamte Heer alleine dem Mefju’drex folgen oder sich ebenfalls teilen und die Verfolgung in verschiedene Richtungen fortsetzen? Scheinbar teilnahmslos starrten die Vertreter der Hauptvölker in das Gewimmel um sie herum. Birgel’wost schlief sogar. Zwei Dutzend Bewaffnete hatten sich um sie gelagert, Geistmeister und alte Gefährten Mur’gashs zumeist. Doch auch zwei Schwertträger in Kapuzenmänteln und ein halbes Dutzend Narod’kratows aus Birgel’wosts Bergwerken fanden sich unter ihnen. Die Leibgarde der Führer. Vier Rriba’low näherten sich von einem der Feuer. Sie brachten Fleischstücke an Wurfspießen oder Schwertern. Die Leibgardisten ließen sie durch. Zuerst boten sie Bulba’han von dem Braten an. Doch der Höchste der Heerführer lehnte ab. Man wusste nicht, wovon er lebte. Manchmal sah man ihn morgens allein aus dem Wald kommen. Taqua’floydan und Birgel’wost nahmen von dem Fleisch. Den meditierenden Mur’gash wagten die Fleischboten nicht zu stören. So vergingen Stunden, doch keiner der Mutanten wurde ungeduldig. Es musste einen Grund haben, warum sich die Macht im See mit der Antwort Zeit ließ. In der Zwischenzeit schlossen die Nachzügler zum Heer auf. Bald waren die Felsen weit über den Pass hinaus mit ihnen überzogen wie mit einer dichten Decke. So jedenfalls sah es von hoch oben aus; oben am wolkenlosen Himmel, wo eine weitere Schöpfung der Daa’muren ihre Bahn zog... *
Fahrzeuge, so weit das Auge blickte: Mehrzweckpanzer, Dingis, Motorschlitten und -segler, Expeditionspanzer, Transporter, und so weiter. Zwei Mehrzweckpanzer wurden für den Einsatz vorbereitet: Ural 3 und Ural 9. Durch die aufgeklappte Dachluke im Heck von Ural 9 versenkte ein Kranwagen eben eine nur leidlich entrostete Abschussrampe. »Das wird ein Fest«, sagte der General und schlug sich lachend auf die Schenkel. Das Hauptschott von Perm II lag fünfundvierzig Meter unter der Erdoberfläche im Zenit des kuppelförmigen Längsschnitts der unterirdischen Stadt. Nicht Birken- oder Erlenholz wie im Inneren des Bunkersystems beherrschten hier das Design, sondern eine schwarze Stahllegierung mit rauer, fast samtener Oberfläche. Nicht einmal der Scheinwerferkranz, der die gut vierhundert Meter durchmessende Kuppelhalle in einer Höhe von neun Metern umgab und sie hell erleuchtete, konnte den Eindruck des Schwarzen, Finsteren neutralisieren. Dragurowka Bassutschok mochte dieses dunkle Ambiente, das in den Außenbezirke von Perm II dominierte. Was anderen archaisch, ja unheimlich erscheinen mochte, vermittelte ihr das Gefühl von Geborgenheit. Mit Professor Ruslan Raspanuwitsch und General Konstantin Cippulacz stand sie im Zentrum der Halle vor dem Vertikaltunnel mit dem Lastenaufzug. »Ein Fest wird das«, wiederholte der General, ein dürrer Greis mit roter Knollennase und wässrigen Augen. Ihm wuchsen allen Ernstes einzelne weiße Haarsträhnen vom Hinterkopf, und zwar genau aus den Stellen, an denen schwarze Pigmentierungen sich in seiner weißen Haut wölbten. »Und wenn es vorbei ist, herrscht endlich Ruhe!« Er kicherte wie ein schelmischer kleiner Junge, der im Begriff war, dem Nachbarn eine geköpfte Ratte in die Zeitungsröhre zu schieben. Die beiden Männer trugen bereits ihre roten Schutzanzüge, allerdings noch ohne Helme. Dragurowka Bassutschok
pflegte den Schutzanzug so spät wie nur irgend möglich anzuziehen. Ein Gräuel waren ihr diese Anzüge, ein Symbol der Schwäche und Gefangenschaft. Darunter hüllte wie eine zweite Haut ein roter Einteiler aus Seide ihren hoch gewachsenen und schlanken Körper ein. Hammer und Sichel in Gelb zierten Rücken- und Brustteil. Uralte Zeichen einer uralten Ideologie. Vor etwa zweihundertachtzig Jahren, als auch die letzten unterirdischen Kolonien des ehemaligen Russlands zur Russischen Bunkerliga stießen und eine folkloristische Tendenz Wissenschaft, Kultur und Mode bestimmte, waren sie neu entdeckt und von einigen der achtzehn Bunkerstädte als eine Art Wappenzeichen wiederbelebt worden. Die Ideologie dahinter kannten nur ein paar Snobs und die wenigen und wenig geachteten Philosophen der Liga. Die meisten Fahrzeuge waren schwarz - wie von feinem Pelz überzogene Raupen. Kein Lichtschein spiegelte sich in ihren Karosserien. Ural 3 und Ural 9 standen knapp zwanzig Meter von den gigantischen Zentralaufzügen entfernt. Wahre Festungen von fünfundzwanzig Metern Länge auf sechs Doppelachsen, vier Meter hoch und nur unwesentlich breiter. Gegen sie wirkte sogar ein ARET klein. Sie waren - wie die Expeditionspanzer - dreigliedrig konstruiert. Lamellen aus einer Teflon-Carbon-Legierung verbanden die einzelnen Teile. Im Winter konnten die Doppelachsen mit den hundertfünfzig Zentimeter hohen Zwillingsreifen durch Kettenschuhe ausgetauscht werden. Militärische Fachleute wie General Cippulacz nannten eine solche schwarze Festung auf Rädern einen AMOT. Die Abkürzung stand für Autarke Multiple Operations-Tanks. Jeder AMOT verfügte über ein medizinisch ausgerüstetes Bordlaboratorium, zwei mobile elektronische Einheiten, drei schwere Lasergeschütze und drei kleine wendige Einsitzer mit Kufen, Sonnensegeln und Antigravitationskissen-Antrieb, so genannte AGA-Gleiter. In das geöffnete Heckdach von Ural 3 senkte sich eben die
Abschussrampe für die altmodische ballistische Rakete mit dem Nuklearsprengkopf. Zwei technische Kolonnen aus jeweils zehn Männern und Frauen trafen letzte Vorbereitungen für den bevorstehenden Einsatz. Dr. Stanis Mosdrowoy überwachte die Arbeit der technischen Kolonnen. »Da kommt es ja, das zweite Prachtstück!« Der General rieb sich die Hände. Ein Kranwagen näherte sich einem der Panzer. Unter dem Kranarm schaukelte ein kleiner Marschflugkörper, höchstens anderthalb Meter lang und dünn wie ein antikes Ofenrohr. Der Kranwagen hielt vor dem AMOT, das altertümliche Geschoss senkte sich durch das geöffnete Dach in die hintere Parzelle des Panzers. Mitglieder der technischen Kolonne nahmen sie entgegen und montierten sie auf die Abschussrampe, die man schon zuvor verladen hatte. »Von wo aus werden wir die Scheißdinger abschießen?«, fragte Dragurowka Bassutschok. »Von einem Hügel am Südrand der Ruinen«, sagte Dr. Raspanuwitsch. »Die elektronischen Systeme sind schon entsprechend programmiert.« Der General rieb sich schon wieder die Hände. »Davon gehe ich aus«, sagte die Bassutschok schroff. »Aber warum bringen wir Rampe und Geschütz nicht einfach nach oben, verballern das Zeug, packen zusammen und Schicht?« »Nun, ich halte es für besser, das Triumvirat nicht zu provozieren...« »Provozieren?!«, unterbrach die Gouverneurin ihren Stabschef. »Mein General! Ich will sie nicht provozieren, ich will sie erledigen!« »Schon, schon, Gouverneurin...« General Konstantin Cippulacz hörte für einen Moment auf, sich die Hände zu reiben. Seine zerfurchte Miene nahm einen Ausdruck an, den man mit ein wenig Wohlwollen durchaus als nachdenklich hätte bezeichnen können. Der Blick seiner kleinen wässrigen
Augen irrte zwischen dem Physiker und seiner direkten Vorgesetzten hin und her. Deren Kopf schmerzte noch immer, und nach Wohlwollen war ihr keineswegs zumute. »Glotz nicht so blöd, Konstantin!«, fauchte sie. »Komm endlich auf den Punkt!« »Nun, also...« Er räusperte sich. »Wir haben lange nicht mit solchem Zeug geschossen. Noch nie, um ganz genau zu sein, jedenfalls solange ich das Kommando habe nicht, und ich habe es bereits seit achtundvierzig Jahren, also länger, als Sie auf dieser Welt...« »Zur Sache, Konstantin!«, herrschte sie ihn an. »...wenn diese Dinger nun nicht richtig treffen...« »Sie werden treffen«, sagte Professor Ruslan Raspanuwitsch kühl. »... wenn sie nun also treffen und nicht explodieren, dann wissen die drüben in Perm II...« »Sie werden explodieren!« Der Physiker verschoss giftige Blicke auf den General. »... dann wissen Pjotr und Natalja, was ihnen zugedacht war, und wer es ihnen zugedacht hatte.« Konstantin Cippulacz fuhr fort, sich in imaginärem Wasser die Hände zu waschen. »Und dann könnten sie sich provoziert fühlen, könnten ihrerseits ihre Waffen auspacken, und peng!« »Aha«, sagte die Gouverneurin. »Na, von mir aus. Und wann erledigen wir den Job?« »Um dreiundzwanzig Uhr dreißig«, antwortete der Physiker. »Also etwa drei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit.« Perm II lag etwa neunundvierzig Kilometer nordwestlich des Stadtbunkers unter den Ruinen eines Militärlagers aus den Zeiten vor »Christopher-Floyd«. Keine Strecke an sich, doch der Lauf der Kama trennte die beiden unterirdischen Städte. Und die Kama, die wenige Kilometer weiter nördlich erst aus dem Kams’koe-See trat, war ziemlich breit nördlich der Ruinen, an manchen Stellen fast so breit wie der Südteil des Sees. Von Perm II aus, das am westlichen Kama-Ufer
lag, musste man an Perm I und den Ruinen der Stadt vorbei und danach noch ein ganzes Stück nach Süden fahren, bis man die Brücke über den Fluss erreichte, und selbst dort war der Fluss noch breit genug. Alles in allem lag eine Strecke von etwa neunzig Kilometern vor ihnen. Die Gouverneurin blickte auf ihre Armbanduhr. »Es ist kurz nach fünf, die Sonne geht in dreieinhalb Stunden unter. Wie lang brauchen wir bis zu Ihrem Hügel, mein Generälchen?« »Höchstens drei Stunden.« Konstantin Cippulacz zuckte die Schultern. »Vielleicht auch ein bisschen mehr. Nun ja, und dann müssen wir die Sprengköpfe noch einsatzbereit...« »Demnach reicht es ja noch für ein Gläschen oder zwei, würde ich sagen.« Die Männer sahen das ähnlich, und der General beorderte über Bunkerfunk einen Kellner herbei. Minuten später rollte ein hüfthoher Roboter heran. Seine Verkleidung bestand aus gelblichem Holz. Er sah ein wenig aus wie eine auf die Spitze gestellte Pyramide. Wäre die halb kugelförmige Steuereinheit mit der Optik, den Sensoren und Antennenstummeln nicht gewesen, hätte man ihn für einen wandelnden Schirmständer halten können. Doch keine Schirme steckten in dem Kranz aus Öffnungen unterhalb der Steuereinheit, sondern eine Flasche und drei Gläser. Ruslan Raspanuwitsch verteilte die Gläser, öffnete die Flasche und schenkte ein. Dragurowka Bassutschok hob ihr Glas. »Auf eine friedliche Zukunft!« »Und auf zwei Volltreffer zuvor«, griente der alte General. Sie leerten die Gläser, und der Physiker schenkte neuen Voodka nach. »Wenn die Sache gelaufen ist, sollten wir uns Gedanken machen, wie wir sie Moskau verkaufen«, sagte der General. In Moskau saß zur Zeit der regierende Kommissar der Bunkerliga. »In Moskau wird man offiziell donnern und toben, hinter den Kulissen aber froh sein, eine rebellische Kolonie von der Karte streichen zu können«, sagte Ruslan Raspanuwitsch. »Die Frage muss lauten: Wie verkaufen wir es den Petersburgern?« Beide Männer sahen ihre Gouverneurin an.
Scheinbar gedankenversunken beobachtete Dragurowka Bassutschok, wie der erste AMOT in den Aufzug rollte. Kaum konnte man die Kuppel des Kommandostandes von der Karosserie unterscheiden. Vor der Kuppel, auf der stumpfen Schnauze prangte das nostalgische Wappen: Hammer und Sichel in Gelb auf rotem Grund. Zwischen ihren Fingern drehte die Bassutschok ihr Glas hin und her. Die fragenden Blicke der Männer hingen an ihr. Sie tat, als merkte sie es nicht - kippte sich den Voodka in die Kehle, blickte versonnen ins leere Glas und deutete endlich mit einer Kopfbewegung auf die beiden Panzer. »Wie weit kann man eigentlich schießen mit euren antiken Ballermännern?« * »Was kann ich für Sie tun, Commander?« Mr. Black streckte den Kopf aus dem Einstieg ins Cockpit und machte »Oh...!«, als er die gigantische Bärenmutation und den menschlichen Körper zwischen deren Fängen sah. »Er lebt noch!«, rief Matt. »Wir müssen ihm helfen!« Der Mann aus der Vergangenheit griff nach seinem LP-Gewehr, bückte sich und machte Anstalten, durch den Notausstieg auf der Fahrerseite ins Freie zu klettern. »Maddrax!« Aruula sprang auf. »Halt ihn zurück, Black, bitte! Der da draußen ist sowieso verloren!« »Warten Sie, Drax!« Black schob sich vollständig in den Führerstand. »Warten Sie, wir verpassen dem Viech erst eine Ladung, dann können Sie aussteigen!« Mit der flachen Hand schlug er auf die Instrumentenkonsole, traf zielsicher den richtigen Schalter, und brummend erhob sich außen die Drehlafette mit dem Energiewerfer aus dem Dach des Führerhauses. Mit ihm konnte man gebündelte Energie verschleudern, die einen Organismus paralysierte. »Sie treffen auch den Verletzten, denken Sie daran,
Black!«, sagte der Commander. »Dosieren Sie die Ladung um Gottes willen so, dass er nicht daran stirbt!«. »Was glauben Sie!?«, knurrte Black. »Ich bin kein Anfänger!« Die Zieloptik erschien auf dem Head-up-Display. Mr. Black nahm das Ungetüm ins Visier und drückte ab. Aruula und Matt lehnten über der Instrumentenkonsole, beobachteten atemlos das Raubtier. Der Taikepir streckte sich plötzlich, machte einen Buckel und riss den Rachen auf. Seine Beute fiel ins Unterholz. Entlang der gebogenen Wirbelsäule stand dem mutierten Tier das lange Fellhaar buchstäblich zu Berge. Seine Flanken und seine Kiefer zuckten. Ohne sich um seine Beute zu kümmern, warf er sich schließlich herum, stimmte ein markerschütterndes Gebrüll an und taumelte ins Unterholz. »Er flieht einfach...!«, wunderte sich Aruula. Sie hatte einen Angriff erwartet. »Umso besser.« Matt bückte sich aufs Neue, öffnete die Luke des Notausstiegs und zwängte sich ins Freie. »So warten Sie doch, Mann!«, knurrte Black. Aruula griff nach dem Bügelrahmen rund um den Durchstieg und schwang sich nach hinten. Black verdrehte die Augen. »Die beiden können’s nicht abwarten, in den nächsten Misthaufen zu treten...« Er warf noch einen Blick zum Frontfenster hinaus. Das LPGewehr im Anschlag, stapfte der Commander durchs Unterholz. Er näherte sich der Stelle, wo der Verletzte liegen musste. »Spitzen Sie die Ohren, Commander!«, rief Black. »Wenn das Viech zurückkommt, bleibt Ihnen nicht viel Zeit!« Der blonde Mann draußen zwischen den Birkenstämmen winkte ab. Mr. Black fuhr herum und zog sich ins Laborsegment hinüber. Vom Heck her hörte er das typische schabende Geräusch der sich öffnenden Hauptschleuse. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, eine Art innere Stimme, wie er sie aus guten alten Waashtoner Rebellenzeiten kannte. Zwischen Kehlkopf und Brustbein raunte sie, und immer
wenn er sie spürte, wusste Black, dass es höchste Zeit war, den Rückzug anzutreten... * Der Boden war weich und sehr feucht. An manchen Stellen sanken die Stiefel zwischen Gestrüpp und Gras bis über die Knöchel ein. Matt nahm Mr. Blacks Mahnung ernst. Er hielt das Teleskoprohr des LP-Gewehrs auf die Wand aus Dornengestrüpp und Buschwerk gerichtet, wo der Taikepir verschwunden war. Sehr behutsam und Schritt für Schritt näherte er sich der Stelle, wo der Verletzte liegen musste. Ein Feld aus Sumpfdotterblumen - jedenfalls erinnerten ihn die langstieligen gelben Blüten mit den großen runden Blättern an Sumpfdotterblumen - und Farn stand dort, noch knapp sieben oder acht Schritte entfernt. Es raschelte, und einzelne Farnzweige bewegten sich. »Hallo?«, rief Matt auf Englisch, und als er etwas wie ein Stöhnen hörte, bedauerte er, den Universal-Übersetzer im Panzer gelassen zu haben. Hinter ihm brachen Äste und raschelte Laub. Er drehte sich um. Aruula lief am Panzer entlang, die blanke Klinge in der Rechten. Bei jedem Sprung über Büsche und Bruchholz flatterte ihr die Haarmähne um die Schultern, und ihre Brüste hüpften auf und ab. »Hast du ihn gefunden?«, rief sie. Er schüttelte den Kopf. Seite an Seite arbeiteten sie sich durch das Unterholz bis ins Farnfeld hinein. Wieder bewegten sich Farnzweige, die Büschel teilten sich und ein Gesicht erschien. »Himmel!«, entfuhr es Matt. »Sind sie verletzt...?« Er lief dem Mann entgegen. »Wir dachten schon...!« Als wäre er gegen eine Glaswand geprallt, blieb er stehen. »Was zum...?!« Ja, es war ein Gesicht, das sich dort zwischen Farnhalmen und Sumpfdotterblumen zeigte, und nein, es war doch kein
Gesicht - das Bild eines Gesichtes war es, eine fleischfarbene Maske, die einem Gesicht ähnelte: starr, ausdruckslos, kalt. Kinnspitze, Wangen, Stirn, Kieferpartien - alles schien aus glanzlosen, gegeneinander beweglichen Kunststoffplatten zu bestehen, die Lippen aus Silikon, die Augen aus gelblichen Kristallen. Die Maske saß fast fugenlos in einem stahlgrauen Metallrahmen - fingerbreit über der Kunststirn und seitlich noch vor zwei Mikrofonausbuchtungen beginnend, die entfernt an Ohren erinnerten. Der Hals unter dem Gesicht war eine hydraulische Säule, umgeben von kleinen Schläuchen, und einer Vielzahl winziger Spiralkabel, Ventile, Schrauben, Nieten und Drähte. Und was Matt und Aruula von Schultern und Brust erkennen konnten, glich einem Harnisch aus stahlgrauen Platten, Scheiben und Lamellen. Der Mann - oder was immer das auch sein mochte - kniete im Farnfeld, und so blickten Matt und Aruula ihm praktisch schräg von oben auf den Schädel. Oder nein, falsch: sie blickten ihm in den Schädel. Umspült von einer gelblichen Flüssigkeit schwamm dort nämlich, hinter seinem Gesicht und unter einer durchsichtigen Wölbung, ein - Gehirn... Pfropfen aus Kunststoff oder Gummi saßen auf der gläsernen Schädelplatte, und Kabel bogen sich aus ihnen hervor. Einige mündeten in Pfropfen, die aus dem Schulterharnisch ragten, andere verschwanden hinter dem künstlichen Schädel im Rücken des Mannes. »Wer... sind Sie?«, brachte Matt endlich hervor. Eine Stimme tönte aus der Gegend des Mundes, ohne dass sich Lippen oder Kiefer bewegt hätten. Worte, die russisch klangen. Matthew Drax spürte die Hand seiner Gefährtin an seinem Oberarm. Kein Wort sagte Aruula, aber der eiserne Griff ihrer Finger verriet ihm ihr Entsetzen. Sie zog ihn weg von der Kunstgestalt zwischen Farn und Sumpfdotterblumen. Der Kunstmensch erhob sich, streckte etwas aus, das entfernt an einen Arm, eine Hand erinnerte: ein vielfach gegliedertes Gewirr von Kabeln, Stangen und
Verblendungen. Und dann öffneten sich seine Kunstlippen. Flirrende Strahlen, milchig und fein, schossen aus einer Öffnung dahinter und trafen Matt und Aruula. In ihren Hirnen nahm er zwar noch Gestalt an, der Wille, das Laserphasengewehr zu aktivieren beziehungsweise das Schwert zu heben, aber ihre Glieder gehorchten nicht mehr. Es war, als wären ihre Muskeln und Knochen ihnen fremd geworden, als hätten sie vergessen, wie man sie bewegt. Matt spürte noch sein Herz rasen, spürte die Panik, keine Luft mehr zu bekommen. Alles summte, unter seiner Haut schien das Blut zu kochen, und dann stiegen ihm Summen und Hitze in den Kopf und sein Bewusstsein versank in einem Sumpf aus Schmerzen und Brechreiz... * Rein in die Stiefel, in die Jacke geschlüpft, wo hing das verdammte Lasergewehr? Über der Koje! Mr. Black nahm es vom Haken und trat in die Schleuse. Halt, vorsichtshalber noch den Driller einstecken! Raus aus der Schleuse, den Driller unter dem Kopfkissen hervorgezogen, in die Beintasche geschoben, und zurück in die Schleuse. Er musste warten, bis sich hinter ihm das Innenschott geschlossen hatte. Warum hörte man so gar nichts mehr da draußen? Endlich schob sich das Außenschott auseinander. Er zwängte sich durch den sich öffnenden Spalt, sprang vom Heck ins Unterholz. »Mr. Drax?« Keine Antwort. Wo steckten der Commander und seine Barbarin? »Commander Drax?!« Am Panzer entlang stapfte Black über umgeknickte Büsche und durch Moos und Gestrüpp Richtung Bug. Dort hatte er den Gefährten zuletzt gesehen, dort, nicht weit von jenem Farnfeld. »He, Mr. Drax! Miss Aruula! Wo stecken Sie?! So antworten Sie doch!« Er ließ den ARET hinter sich. Schlamm und Wasser gurgelten unter seinen Stiefelsohlen. Eine Bresche klaffte
dort vorn, zwanzig, dreißig Schritte entfernt zwischen gelben Blüten und Farn. Je weiter sich Mr. Black der Stelle näherte, desto langsamer bewegte er sich voran. Aus schmalen Augen fixierte er die Bresche im Gestrüpp, sah die umgeknickten Halme, entdeckte die abgerissenen Blätter. Er hob das Lasergewehr, schob den Unterkiefer nach vorn, blieb stehen. Wie immer, wenn alle seine Sinne auf Hochtouren arbeiteten und seine Muskelpakete sich angesichts eines bevorstehenden Angriffs anspannten, presste sich seine Unter- gegen die Oberlippe, bis sie fast unter dieser verschwand und es aussah, als würde er sich größte Mühe geben, ein Getreidekorn mit nicht mehr als zwei Schneidezähnen zu zermalmen. Was ragte dort schräg aus Gestrüpp, Blüten und umgeknickten Halmen? Ein Schwert? Aruulas Schwert! »O nein...!« Black ging ein wenig in die Knie, ließ die Mündung seines Lasergewehrs über die Wand aus Buschwerk, Stämmen, Farn und Blumen wandern. Hatte er’s nicht geahnt? Hatte nicht eine innere Stimme ihn gewarnt? Zu spät. »Shit...«, fluchte er gegen seine sonstige Gewohnheit. Seine Linke fuhr in die Beintasche, zog den Driller heraus. Beide Waffen im Anschlag, näherte er sich der Bresche in der Pflanzenwand. Langsam, Schritt für Schritt. Von der Stelle aus, wo das Schwert schräg im Gestrüpp steckte, führten zwei Schleifspuren in den Wald hinein. Zwei Schleif spuren! Kaum ein Schritt trennte sie. War der Bärentitan zurückgekehrt? Aber wie hätte das Biest zwei leblose Körper durchs Unterholz schleifen sollen, ohne selbst deutliche Spuren zu hinterlassen? Außerdem würde dem Biest so kurz nach dem schmerzhaften Paralyse-Treffer kaum wieder nach Angriff zumute sein, auch wenn Black die Dosis wegen des Verletzten reduziert hatte. Überhaupt - warum lag der Verletzte nicht im Unterholz?
Black stutzte. Der zumindest musste doch gelähmt sein! Da entdeckte er weitere Spuren im weichen Waldboden, genau zwischen den Schleifspuren. Mr. Black ging in die Hocke. Die Abdrücke waren nur unwesentlich größer als die eines durchschnittlichen menschlichen Fußes. Merkwürdig aber: Keine Stiefelsohle hatte ihn hinterlassen, auch kein nackter Fuß, sondern eine Art Gitterrost mit großer kreisrunder Ferse und einer Zehenpartie, die aussah wie der Rand eines halben Tellers. Deutlich zeichneten sich die Formen im feuchten Boden ab. Blacks Nackenhaare richteten sich auf, die Kaubewegungen hinter seinen zusammengepressten Lippen verstärkten sich. Kein Tier, kein Mensch hatte diese Spuren hinterlassen sondern eine Maschine! Ein Roboter musste Drax und die Barbarin irgendwie kampfunfähig gemacht und verschleppt haben! Langsam richtete Black sich wieder auf. Seine Blicke irrten über Stämme, Unterholz und Gestrüpp. Er versuchte sich vorzustellen, wie so ein Roboter aussehen könnte, aber die Vorstellung fiel ihm schwer, verdammt schwer sogar, und der Schweiß brach ihm aus. Er schob es auf die feuchtwarme Luft. Schritt für Schritt pirschte Black sich in den Wald hinein. Zuerst hörte er das Brummen, und dann das Rascheln, und schließlich plätscherte hinter ihm Wasser, und vor ihm brachen Zweige und Äste. Der Bärenmutant! Er kam zurück! Oder die Maschine? Doch was brummte da? Mr. Black lauschte. Näher und näher rückte beides, Brummen und die Schritte eines mächtigen Körpers. Und beides drang aus verschiedenen Richtungen an sein Ohr. Das Brummen stammte eindeutig von einem Motor, und es kam von Osten, aus der Richtung des Schilfs und des Gewässers also. Mr. Black duckte sich, huschte in der Deckung des Unterholzes in eine Birkengruppe und warf sich zwischen Dornenhecken und einem Busch auf den Bauch.
Das Plätschern und Rauschen von Wasser mischte sich in das Motorengeräusch. Ganz nah war es schon. Ein heftiges, lautes Brausen erhob sich. Black spähte durch das Buschwerk zu Schilf und Seeufer hinüber. Auf der anderen Seeseite erkannte er eine gewaltige stromlinienförmige Maschine, die das Schilf drüben niederwalzte und ins Wasser fuhr. Oder nein, nicht hinein: das Gerät glitt auf den See. Schleier zerstäubten Wassers erhoben sich rings um seinen Rumpf, Wellen schossen in allen Richtungen davon. Ein Luftkissen? Ein magnetisches Feld? Schwer zu sagen auf die Entfernung. Jedenfalls schwebte die Maschine über der Wasseroberfläche, und das ziemlich schnell. Sie erinnerte Black an einen jener Hochgeschwindigkeitszüge, die er einst - in besseren Tagen, als er noch hoch im Kurs stand beim Präsidenten und General Crow - in den Datenbanken des Pentagon gesehen hatte. Schwarz war das Gerät, von einem samtenen Schwarz, fast doppelt so lang wie der ARET und eine ganze Ecke höher und breiter! Es schien wie der Expeditionspanzer aus drei Fragmenten zu bestehen. An der Spitze, kurz vor dem stumpf zulaufenden Bug, wölbte sich eine schwarze Kuppel aus dem Rumpf - der Kommandostand, vermutete Black -, und davor zog sich ein Rechteck über die Schnauze, eine Art Flagge: Weiß-BlauRot. Schon erreichte das Gerät das Uferschilf. Knapp zweihundertfünfzig Meter mochten es noch vom ARET trennen. Mr. Black fluchte leise vor sich hin, hörte gar nicht mehr auf zu fluchen. Den ARET würde er mit einem Spurt vielleicht noch erreichen. Aber einsteigen und ihn starten? Vielleicht durch die Notluke am Führerhaus? Einen Versuch war es wert. Halb hatte er sich schon erhoben, da ließ er sich erneut fallen - ein schwarzbraunes Fell tauchte hundert Schritte entfernt zwischen den Birkenstämmen auf.
Vor ihm die gewaltige Maschine, hinter ihm der Bärenmutant und ein humanoider Roboter! Atemlos verharrte Black. Dorniges Gestrüpp bohrte sich in seine Handflächen und durch den Hosenstoff ins rechte Knie. Er spürte es nicht. Feuchtigkeit kroch ihm in den Kragen, ein Insekt krabbelte über seine Wange, doch er rührte sich nicht, atmete nicht, lauschte nur. Als der Motor des schwarzen Schwebepanzers so laut dröhnte, dass sein Lärm sogar das Getrommel in Blacks Schläfen übertönte, da erst holte der Mann aus Waashton wieder Luft. Atmete und wagte es: Er schob sich um neunzig Grad herum und robbte in den feuchten Birkenwald hinein... * Beide hatten sie Haare. Der Mann blonde, das halbnackte Weib nachtschwarze; und schön war sie außerdem. All das erzürnte Natalja zusätzlich. »Das ist nicht wahr!« Um die beiden Bewusstlosen herum stapfte die Zweite Subkommissarin durch das Unterholz und fuchtelte mit den Fäusten. »Was sind das für Leute hier?!« Hin und wieder blieb sie stehen, betrachtete den blonden Mann in dem merkwürdig modernen Overall und die Halbnackte in ihrem lächerlichen Lendenschurz; letztere reichlich angewidert. »Es ist ein ARET der Liga!«, schrie sie. »Was haben diese Leute darin verloren? Wo stecken die Karpin und Lewkov und die anderen beiden?« Ihre Atemluft schlug sich auf der Innenseite ihres Helmes nieder. »Wo ist die ursprüngliche Besatzung? Was haben diese... diese Barbaren in unserem Expeditionspanzer verloren?!« »Nicht unserem, Subkommissarin«, wandte Kosak Eins ein. »Es ist ein ARET aus Perm II.« Der Encephalorobotowitsch zog seinen Spezialsattel aus dem Gestrüpp zwischen zwei Birken. Mit gekrümmtem Metallfinger winkte er Moobydik zu sich. Der Taikepir trottete lärmend und knurrend durch das
Unterholz und ließ sich vor seinem Herrn auf die Gelenke seiner gewaltigen Vorderläufe nieder. Der Kunstmensch warf ihm das Sattelgestell über den Nacken. »Scheißegal! Was haben die Barbaren darin verloren, frag ich!« Natalja Sem deutete auf die halbnackte Frau mit den schönen - geradezu obszön schönen - schwarzen Locken. »Barbaren?« Alexander Koboromajew tat, als betrachtete er das Schwert in seinen Händen. In Wirklichkeit genoss er den Anblick der bewusstlosen Frau - ihre braune Haut, ihre muskulösen Schenkel und ihren atemberaubend schönen Busen. »Ich weiß nicht - nur weil sie mit einem Schwert unterwegs sind?« Wie alle - abgesehen von Dr. Nikati Rostow - trug er einen roten Schutzanzug mit dem weißblauroten Emblem von Großer Peter auf der Brust. »Schließlich haben sie den ARET bedient.« Alex riss sich vom Anblick der Barbusigen los und wandte sich an Natalja. »Vielleicht sind sie ja nur etwas verschroben. Es gibt Leute bei uns, die sammeln leere Voodka-Flaschen aus der Prä-Kometen-Zeit. Oder denke an unseren verehrten Ersten Subkommissar - wie du weißt, pflegt Pjotr sich niemals ohne einen Remington-Revolver aus geradezu prähistorischen Zeiten in seinen altertümlichen Rollstuhl zu setzen...« »Du redest schon wieder Scheiße, Alex!« Nun platzte der Zweiten Subkommissarin doch der Kragen. »Liefert dein Geschwafel irgendeinen Beitrag zur Klärung meiner Fragen?« Vornüber gebeugt stand sie vor ihm und drohte mit der Faust. »Und seit wann läuft ein zivilisierter Mensch nur mit Lendenschurz bekleidet und ohne Schutzanzug herum?!« Kosak Eins mischte sich ein. »Der Blonde zumindest ist kein Barbar.« Dr. Rostow verschloss die Bügel des Spezialsattels. »Sein Kombi ähnelt in vielen Merkmalen den Dienstuniformen unserer Offiziere. Man trug solche Anzüge im späten zwanzigsten Jahrhundert. Bis ›Christopher-Floyd‹, wenn ich mich recht erinnere.« »Aber er trägt keinen Schutzanzug, siehst du das nicht?!«,
beschied Natalja dem Encephalorobotowitsch schroff. »Stimmt. Dieses Rätsel müssen wir noch lösen.« Kosak Eins trat ein paar Schritte von Moobydik weg, nahm Anlauf und sprang in den Sattel auf dem Nacken des Taikepir. Natalja Sem drehte sich zu der Ordonnanz um, die in respektvollem Abstand zwischen ihr und dem AMOT wartete. »Weg mit den beiden! In den septischen Laderaum! Wir verhören Sie, sobald sie zu sich kommen!« Nacheinander sprangen drei Spezialisten in Schutzanzügen aus der Heckschleuse des ARET. Ihr Kommandeur - ein gewisser Leutnant Leonid Onopko - schüttelte den kahlen Quadratschädel unter seinem Kugelhelm. »Niemand sonst drin, Exzellenz.« Natalja ballte die Fäuste, beherrschte sich aber. »Niemand aus Perm II in dem verdammten Panzer?!« Für ihre Verhältnisse blieb sie relativ ruhig. Nur ihr heißer Atem schlug sich schon wieder an der Innenseite ihres Helmes nieder. Die Temperaturregulierung des Überlebenssystems tat sich schwer mit Nataljas Temperament; wie so oft. »Weder Boris noch Oldriska? Ihr seid ganz sicher?« Alle drei Spezialisten nickten. »Allerdings haben wir Hinweise auf einen dritten Insassen gefunden, Exzellenz«, sagte der Offizier. »Nur eine der vier Kojen ist seit längerem nicht benutzt worden. Eine der Matratzen strahlt Wärme ab. Kosak Eins behauptet ja, dass er nur zwei Personen im Cockpit gesehen hat...« »Es saßen zwei Personen im Cockpit!«, rief die blecherne Stimme vom Rücken des Taikepir herab. Dr. Nikati Rostow Kosak Eins - trieb Moobydik zum Heck des Expeditionspanzers. »Und meine Sensoren haben Geräusche aus dem Inneren des ARET empfangen, die von einer dritten Person stammen könnten!« Für einen Augenblick erstarrten alle, die sich in der Nähe des ARET und der Bewusstlosen aufhielten. »Er kann nicht weit sein.« Wie die anderen auch spähte Alexander Koboromajew ins dichte Unterholz. Die drei
Spezialisten und Natalja hoben ihre Lasergewehre - kurze schwarze, keulenartige Rohre, die sich zum Kolben hin verdickten und krümmten - und richteten sie auf Baumstämme, Gestrüpp und Gebüsch. »Schnappt euch zwei Gleiter, sucht ihn!«, sagte der Dritte Subkommissar an die Adresse von Leutnant Leonid Onopko. »Zwei Extraflaschen für jeden, wenn ihr ihn kriegt. Bringt ihn in den Großen Peter und holt euch eure Prämie bei mir ab!« »Verstanden, Exzellenz.« Onopko winkte seine Männer hinter sich her. Im Laufschritt eilten die drei Spezialisten zu Kama I zurück, dem Flaggpanzer der Zweiten Subkommissarin. Vier Unteroffiziere trugen nacheinander die beiden Bewusstlosen in die septische Kabine des AMOT. Danach stiegen drei von ihnen zusammen mit Alexander Koboromajew in den ARET, um ihn zur Bunkerstadt Großer Peter zu steuern. Und kurz darauf öffnete sich ein Schott im Heckteil von Kama I: Zwei AGA-Gleiter mit eingefahrenen Segeln schwebten heraus. Leutnant Onopko steuerte den ersten Gleiter. Seine beiden Spezialisten teilten sich den Sitz des zweiten Fahrzeugs. Die Gleiter beschleunigten. Zwei Fingerbreit über dem Unterholz schwebten sie dahin und verschwanden im Wald. Kosak Eins hatte sich inzwischen auf seinem Spezialsattel festgeschnallt. Er hieb dem Taikepir die Fersenplatten seiner Kunstfüße in die Schultern. Das riesige Tier schaukelte durch Gebüsch und Gehölz in Richtung See. »Wir brauchen dich im Großen Peter, Nika«, sagte Natalja Sem. »Du musst uns bei den Verhören helfen.« »Es wird bald dunkel«, sagte der Encephalorobotowitsch. »Wenn wir nicht zuvor nach Putwin schauen, fressen ihn die Vögel bis morgen früh und wir werden niemals herausfinden, was ihm zugestoßen ist.« Natalja Sem machte eine mürrische Miene, nickte aber.
»Also gut. Doch sieh zu, dass du so schnell wie möglich in den Großen Peter kommst. Wir sollten die Verhöre nicht ohne einen erfahrenen Spezialisten durchführen.« * Etwas näherte sich. Mr. Black hörte es rascheln, hörte manchmal auch das Splittern von Holz, aber kein Motorengeräusch. Auch der Rhythmus von Schritten fehlte. Und dennoch rückte das Geräusch näher und näher. Längst robbte er nicht mehr über den feuchten Waldboden. Der Mann aus Waashton war aufgesprungen und hetzte nun im Laufschritt durch den Wald. Die innere Stimme, die ihm im Kampf gegen den Weltrat so oft das Leben gerettet hatte, trieb ihn voran, tiefer in den Wald hinein. Er wusste nicht, wohin er lief, befürchtete aber, dass der Commander und die unverwüstliche Barbarin gefangen, schlimmstenfalls tot waren, und seine innere Stimme riet ihm, erst einmal so viel Abstand wie nur irgend möglich zwischen ihren Häschern und sich selbst zu bringen. Also rannte er und dachte nicht nach, wohin. Bis er stolperte, lang hinschlug und im gleichen Moment ein dicker flirrender Strahl einen knappen Meter über ihn hinweg ins Gehölz schoss. Nichts brannte, nichts explodierte - Black ahnte, mit was sie ihn da beschossen: mit einer Paralysewaffe ähnlich der im ARET. Dies mehrte seine Hoffnung, dass man Commander Drax und Miss Aruula lediglich paralysiert hatte. Nur - wer war »man«? Tief ins Unterholz gepresst sah er sich um. Dem Geräuschpegel nach waren seine Verfolger noch höchstens fünfzig Meter entfernt. Dennoch war nichts zu sehen von ihnen, zu dicht waren Wald und Unterholz an dieser Stelle. Ein derart gezielter Schuss ohne Sichtkontakt? Sie mussten ihn mit irgendeiner Art von Radar erfasst haben; InfrarotSucher vielleicht. Dann würde ihr nächster Schuss sitzen!
Mr. Black sprang auf, hechtete ins nächstbeste Gebüsch, rollte sich ab und ging hinter einem Eichenstamm in Deckung. Mit dem Rücken gegen die Borke gepresst, riss er sein Lasergewehr hoch, schoss einmal nach links und einmal nach rechts. Die Strahlen zischten ins Gehölz, und im Nu loderten zwei Brandherde auf. »Da habt ihr eure Wärmequellen«, zischte Mr. Black. Ungezielt schoss er weiter um sich, bis es an sechs oder sieben Stellen um ihn herum brannte. Und tatsächlich: In einige der Flammenherde fuhren die Paralyse-Strahlen hinein. Also stimmte seine Theorie: Infrarot-Sucher! Zehn, fünfzehn Schritte vor sich entdeckte er die Kronen eines entwurzeltes Birkenpaares hinter hohen Büschen. Black warf sich zu Boden und robbte dem steil nach oben ragenden und mit schwarzer Erde verklumptem Wurzelstock entgegen. Links und rechts hingen schon Rauchschleier im Gezweig von Büschen und Bäumen. Das Prasseln der Flammen übertönte die Geräusche, die seine Jäger hinter ihm im Wald verursachten. Endlich erreichte er den flachen Erdtrichter unter dem Wurzelstock. Black ließ sich hineinrollen, tauchte bis zur Hüfte in schlammiges Wasser und streckte beide Arme nach oben, um die Waffen zu schützen. Eine Zeitlang lag er so auf dem Rücken, halb im Wasser versunken und die Arme mit den Waffen von sich gespreizt. Er lauschte und versuchte die Geräusche oberhalb des Erdtrichters zu sortieren. Wo waren seine Verfolger? Es roch nach Feuer; Rauchwolken zogen über sein Versteck hinweg. Ein Summen rückte näher, begleitet von Rascheln und Knacken, und gleich entfernte es sich wieder. Sie jagten ihn also mit irgendwelchen mobilen Maschinen. Kurz darauf hörte er Stimmen, gedämpft und nur einzelne Worte sprechend, Worte einer fremden Sprache. Schritte näherten sich, Schritte entfernten sich. Kein Zweifel: Sie kämmten systematisch das Unterholz durch. Länger warten hieße auf die Entdeckung warten. Black zog die Beine an, stemmte sich aus dem Tümpel, kroch
hinauf bis an den Rand des Wurzelloches. Er hatte keine Lust, sich Hirn und Muskeln von einer Energieladung Schachmatt setzen zu lassen. Er spähte über den Rand des Kraters. Eine Gestalt in rotem Schutzanzug und mit kugelförmigem Klarsichthelm entfernte sich. Leute mit Immunschwäche also; Leute, die unter der Erde lebten: Technos. Es konnten praktisch nur Mitglieder jener Russischen Bunkerliga sein, zu der auch Boris Lewkov gehört hatte; seine Mitbürger gewissermaßen. Warum aber griffen sie dann den ARET und seine Insassen an? Doch darüber konnte er auch später noch nachdenken. Erst einmal musste er weg von hier. Dann sah Mr. Black auch die Maschinen. Sie waren orange, fast gelb, und erinnerten ihn an Aufnahmen von Rennwagen, die er als Kind mal in irgendeiner Datenbank gefunden hatte. Eine stand etwa zweihundert Meter links von ihm zwischen einem Farnfeld und einer Hecke voller roter Blüten. Oder schwebte das Ding? Die andere näherte sich aus Richtung des Sees. Ein Schutzanzugträger stand auf dem Sitz hinter der Windschutzscheibe, spähte nach allen Seiten und richtete den Lauf seines keulenartigen Gewehres auf das vorbeigleitende Unterholz. Diese Maschine schwebte ganz bestimmt, daran gab es überhaupt nichts zu deuten! Mr. Black hielt sich nicht damit auf, darüber zu staunen, denn die Maschine bewegte sich direkt auf ihn zu. Keine Zeit für Selbstzweifel, Furcht oder gar Skrupel. Wenn er ein freier Mann bleiben wollte, gab es jetzt nur einen Weg... Sein Lasergewehr hängte er über die Schultern, den Driller steckte er in die Beintasche. Danach rutschte Black zurück in den Erdtrichter, kletterte auf der anderen Seite über den Rand und schließlich in den Wurzelstock der umgekippten Birken. Er duckte sich hinter das Buschwerk, das den Wurzelstock zum größten Teil verdeckte, und zog den Driller. Den Kolben mit beiden Händen haltend, zielte Black auf die unbemannte Maschine und wartete. Zweihundert Meter - selbst für einen
guten Schützen wie Mr. Black eine große Distanz. Der Techno in Rot näherte sich. Nein, auf ihn zielte Black nicht. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ... Unter dem Kugelhelm bewegte sich ein Kahlkopf hin und her; er suchte den Waldboden und das Unterholz ab. Manchmal wich er Flammen aus, manchmal hüllte Rauch ihn ein. Konzentriert glitten seine Blicke über das Gestrüpp. Seltsam, aber auf die Idee, dass der Gejagte in eine Baumkrone geklettert sein könnte, kamen diese Typen wohl nicht. Etwa zwei Meter vor Blacks Versteck stoppte die Maschine. Black hörte den Antrieb summen. Der Techno hatte den Erdtrichter entdeckt, und vermutlich auch Blacks Spuren. Sie zogen sich ja deutlich genug in den Tümpel hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Ein letztes Mal nahm Mr. Black die orangene Maschine zweihundert Meter entfernt neben dem Farnfeld ins Visier. Dann drückte er ab. Während der Gleiter explodierte, sprang Black seinen Jäger an. Oder vielmehr dessen Gleiter. Black erwischte den Rand des Gefährts und brachte es mit seinen hundertneunzig Pfund aus der Balance. Der Insasse verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Unterholz. Im nächsten Moment war Black über ihm und bog ihm die Rechte nach oben, bis es im Schultergelenk krachte und die Schockwaffe ihm entglitt. Für einen Moment nur sah Black das von Entsetzen verzerrte Gesicht unter dem Kugelhelm. Natürlich - der Kerl fürchtete nichts mehr, als dass sein Anzug zerriss oder sein Helm splitterte. »Idiot!«, zischte Black. »Was musst du mich auch jagen...!« Er riss ihn hoch, und stieß ihn in den Erdtrichter hinab. Das Wasser spritzte bis zu ihm herauf, als der Körper unten aufschlug. Aus den Augenwinkeln sah Black die zweite Maschine brennen, sah rote Gestalten im Unterholz stehen. Er schoss ungezielt, um seine Jäger in die Deckung zu zwingen, und
kletterte gleichzeitig auf den breiten Sitz hinter das Steuer des Gleiters. Mit der Rechten feuerte er weiter, mit der Linken tastete er über die Instrumentenkonsole - solange, bis das Ding sich endlich in Bewegung setzte und beschleunigte. Das Gerät glitt über das Unterholz und durch Gestrüpp und Gehölz. Steuern ließ es sich ganz einfach. Black duckte sich hinter die Windschutzscheibe, schoss mit der Rechten hinter sich und hielt mit der Linken das Steuer fest. Er wollte zum See. Äste schrammten an der Karosserie entlang, peitschten über ihn hinweg. Später - nach ungefähr zwanzig Minuten - glitt das orangene Ding über das Wasser. Siebzig, achtzig Stundenkilometer fuhr es jetzt, schätzte Mr. Black. Manchmal drängte sich ihm der Gedanke auf, was geschehen würde, wenn der Maschine der Treibstoff ausgehen mochte. Einfach nicht daran denken. Er suchte ein Mikro, ein Funkgerät. In der gut strukturierten Instrumenten-Konsole berührte er einen Knopf. Es summte. Ein kurzer Mast stieg aus dem Heck des Gleiters und eine Art Segel entfaltete sich daran. Feine Drähte und Chips durchzogen den Kunststoff. Solarzellen vielleicht? Oder wirklich nur ein Segel? Black fand einen zweiten Knopf, den er für den Powerschalter eines Kommunikationsmoduls hielt. Im Zentrum der Steuersäule wölbte sich etwas, das nach einem Mikrophon aussah. Er drückte den Knopf und beugte sich über die Erhebung. »Mein Name ist Black, ich bin in friedlicher Absicht hier!«, rief er alle paar Minuten. Als die Abenddämmerung über das Hügelland fiel, mündete der See in einen Flusslauf, der so breit war, dass das andere Ufer mit dem rot und violett gefärbten Abendhimmel im Westen verschwamm. Mr. Black steuerte den Gleiter nach Norden und fuhr flussaufwärts. »Mein Name ist Black, ich bin in friedlicher Absicht hier...« Plötzlich fiel ihm ein, wie er seine PR-Kampagne noch wirksamer gestalten konnte. »Mein Name ist Black, ich habe
eine Botschaft für Sie, eine Botschaft von Boris Lewkov...!« * Der Lesh’iye Thgäan zog hoch oben am Nachthimmel seine Kreise, dort wo die Atmosphäre schwindet und die tödliche Kälte des Weltalls beginnt. Normalerweise koordinierte er von hier aus die Todesrochen, die Leibgarde seiner Herren. Vor einiger Zeit jedoch waren die Legionen - von einigen weit entfernten Einheiten abgesehen, die besondere Aufträge ausführten - um den Kratersee versammelt worden. Mit einem Befehl, den Thgäan, hätte er Gefühle besessen, vielleicht mit den Begriffen »überhastet« oder gar »ängstlich« belegt hätte. Doch weder wusste er, dass der Schock über die Zerstörung einer Bruteinheit seine Herren veranlasst hatte, sämtliche verfügbare Lesh’iye zu ihrem und dem Schutz der restlichen Brut zusammenzuziehen, noch war sein strikt logisch denkender Verstand zu solchen Einschätzungen überhaupt fähig. Thgäan funktionierte wie ein neuronales Netzwerk; ein Netzwerk allerdings, das in letzter Zeit mit der Koordination der wenigen verbliebenen Einheiten stark unterfordert gewesen war. Darum widmete er dem neuen Auftrag seines Herrn ungeteilte Aufmerksamkeit. Ein Strom psionischer Impulse wisperte in seinem sorgsam gezüchteten Gehirn. Der für ihn zuständige Herr übermittelte ihm die Kennung des Feindes, des Mefju’drex. Dessen Gedankenmuster sollte er auf der Erdoberfläche aufspüren. Es war eine Sache von wenigen Minuten, das Muster zu finden, das wie ein Fanal westlich des Urals leuchtete, und die Richtung zu bestimmen, in der sich der Feind bewegte. Sofort trat Thgäan auf einer besonderen telepathischen Frequenz in Kontakt mit seinem Herrn. Dessen Lebensaura nahm die Datenflut ohne weitere Regung auf. Thgäan lauschte ins Flüstern der Sphären, während sein Herr die Botschaft bewertete.
(Es ist gut), kam schließlich die obligatorische Antwort. Und Thgäan verspürte den Hauch einer Empfindung, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass die Verbindung im nächsten Moment abbrechen und er wieder tatenlos zurückbleiben würde - vielleicht für lange Zeit. Wie gesagt, es war nur der Hauch eines Gefühls - für Thgäans neuronale Struktur jedoch war es gleichzusetzen mit einer Supernova. Zum ersten Mal in seiner langen, von absolutem Gehorsam geprägten Existenz zeigte der Lesh’iye Eigeninitiative. Bevor die telepathische Verbindung erlosch, richtete er das Wort an den Herrn - ein ungeheuerlicher Vorgang ohne Beispiel. (Sieben Lesh’iye halten sich in relativer Nähe des Feindes auf), teilte er seinem Herrn mit. Ein psionischer Widerhall von Erstaunen wehte zu Thgäan empor, doch dann schien sein Herr die Eigenmächtigkeit gutzuheißen. (Wie lautet dein Vorschlag?), fragte er. (Ich könnte einen Angriff koordinieren, wenn er erwünscht ist), wagte Thgäan zu formulieren. Diesmal dauerte die Pause länger, und fast fürchtete der Lesh’iye schon, die Verbindung wäre unterbrochen, da wisperte es erneut in seinem Gehirn. (Leite den Angriff ein), kam die Bestätigung. Mehr nicht. Und in diesen wenigen Worten glaubte Thgäan eine Dissonanz der Schwingungen zu erkennen. Vermutlich war seine Eigenmächtigkeit ein Fehler gewesen. Aber seine neu gewonnene Fähigkeit war noch nicht flexibel genug, sich darüber Gedanken, geschweige denn Sorgen zu machen. Thgäan nahm unverzüglich Kontakt zu den sieben Lesh’iye auf und übermittelte das in Nanosekunden erstellte Konzept in deren Hirne. Dann zog er weiter seine Kreise hoch über dem Kontinent, wo ein winziger Primärrassenvertreter tatsächlich glaubte, sich gegen den Willen der Herren auflehnen und entkommen zu können. Selbst wenn Thgäan imstande gewesen wäre, die
menschliche Existenz zu analysieren - er hätte sie nicht verstanden... * Bis auf den Fettsack im Rollstuhl trugen sie farbenfrohe und weit geschnittene Overalls. Der im Rollstuhl allerdings trug einen schwarzen, und das passte irgendwie zu seinem finsteren Gesicht und dem lauernden Blick hinter den dicken Brillengläsern. Die Schädel der meisten Anwesenden waren kahl, nur eine Frau trug eine weiße Perücke. Der fette und in jeder Hinsicht finstere Bursche im Rollstuhl und die kleine Frau mit den herrischen Augen und der filigranen Tätowierung auf der Kopfhaut hatten sich Mikros an die Kragen ihrer Overalls geklemmt. Fast ausschließlich die Frau stellte die Fragen. Sie sprach eindeutig Russisch, aber die Stimme, die Matts Helm erfüllte - sie hatten ihm natürlich einen Schutzanzug verpasst - klang Englisch. Sie benutzten ihren Universal-Translator, um ihn zu verhören. »Treiben Sie es nicht zu weit, Drax!«, keifte die Stimme aus dem Innenlautsprecher. »Wir verfügen über wesentlich unfreundlichere Verhörmethoden! Also hören Sie endlich auf, uns solche Märchen aufzutischen.« Er hatte ihnen erzählt, dass Boris Lewkov ihm den ARET überlassen hatte. Wahrscheinlich hätte er es an ihrer Stelle auch nicht geglaubt. »Es ist, wie ich es Ihnen sage, Ma’am. Ihre Leute mussten sich mit den Mutanten am Kratersee auseinandersetzen und haben den Kürzeren gezogen.« Das Sprechen fiel ihm schwer; seine Zunge fühlte sich an wie mit Galle gefüllt. Kein Muskel, der ihm nicht weh tat. »Boris trafen wir kurz vor seinem Tod. Er musste schon seit geraumer Zeit als Sklave in einem Erzbergwerk arbeiten. Der Besitzer zwang ihn, primitive Schusswaffen zu bauen und Sprengstoff aus
Ruinen zu bergen. Boris hat sich selbst mitsamt seinem Peiniger in die Luft gesprengt.« Der Stuhl, in dem der Mann aus der Vergangenheit mehr lag als saß, erinnerte ihn an Zeiten, als die Welt noch dermaßen in Ordnung war, dass man sich einbildete ein Problem zu haben, wenn man in einem Zahnarztstuhl Platz nehmen durfte. Doch anders als in jenen goldenen Zeiten auf einem Zahnarztstuhl konnte Matthew Drax sich nicht bewegen, weder Beine noch Arme noch Kopf. Riemen hielten seine Glieder und seinen Hals fest, und der Kugelhelm um seinen Kopf schien irgendwie mit dem Stuhl verwachsen zu sein. Und Aruula? Er hatte sie nicht gesehen, seit er zu sich gekommen war. »Mutanten, soso...« Die Frau musterte ihn aufmerksam. »Was waren das für Mutanten, die Sie dort am Kratersee getroffen haben wollen?« Er berichtete von den vier Hauptvölkern, von den Woiin’metcha, den Narod’kratow, den Rriba’low und den Mastr’ducha. »Aber das alles ist relativ unwichtig, Ma’am. Verzeihen Sie, aber sogar der Tod Ihrer Crew ist unwichtig gemessen an den Neuigkeiten, die ich für Sie habe! Verstehen Sie mich nicht falsch; ich bin Boris sehr dankbar, denn ohne seine Hilfe hätten wir Ihren Bunker nie erreicht.« Er konnte sehen, wie die blauen Adern unter der dünnen weißen Haut ihrer Schläfen anschwollen. Die plötzliche steile Falte zwischen ihren eintätowierten Brauen sprach Bände. Sie drehte sich zu den anderen um. »Wo ist Nika? Wo ist der Encephalorobotowitsch? Funkt ihn an. Er soll Kosak Sieben vergessen und herkommen!« Matt wusste nicht, wovon sie sprach, und die Worte schienen auch nicht für seine Ohren bestimmt zu sein. Der nächste Satz aber ging wieder eindeutig an seine Adresse: »Ich warne Sie, Drax! Wenn Sie nicht freiwillig damit herausrücken, wer Sie sind, warum Sie ohne Schutzanzug auskommen und was Sie mit Boris und seiner Crew
angestellt haben, dann werden wir...« Der Fettsack in Schwarz beugte sich ruckartig in seinem Rollstuhl nach vorn, packte die Zornige am Arm, und augenblicklich verstummte sie. »Was für Neuigkeiten?« Matt sah in eisgraue Augen. Sie wirken überdimensional hinter den dicken Brillengläser. »Eine Warnung vor einer existenziellen Gefahr«, sagte Matt. »Aber bevor ich meine Informationen preisgebe, möchte ich wissen, wo meine Begleiterin ist.« Der Dicke wechselte einen kurzen Blick mit der tätowierten Frau. »Sie liegt hier im gleichen Raum«, sagte er dann. » Wenn Sie den Kopf drehen könnten, würden Sie sie sehen. Es geht ihr nicht schlechter als Ihnen, Mr. Drax.« Er fixierte ihn aus Glubschaugen. Das sperrige schwarze Brillengestell verlieh seinem Gesicht, seinem ganzen Schädel etwas Apparatenhaftes. »Also: Was für Neuigkeiten?« »Die erste kostet die Helmfessel, die zweite den Riemen um meinen Hals.« Matts Bewusstsein gewann an Klarheit. »Ich empfehle Ihnen dringend, mit mir zusammen zu arbeiten anstatt mir Ihre Foltermethoden vorzuführen.« Der Mann im Rollstuhl - er schien hier eindeutig der Chef zu sein - beugte sich vor. »Sie schätzen Ihre Situation nicht richtig ein, Drax. Dass wir uns so zwanglos mit Ihnen unterhalten, hängt mit der ungewöhnlichen Waffe zusammen, die wir bei Ihnen gefunden haben, und mit Ihrer... originellen Kleidung, die Sie unter dem Schutzanzug tragen. Aber strapazieren Sie unser Interesse nicht. Wir können auch anders. Was für Neuigkeiten also?« Matt wusste, dass er mit dem Feuer spielte. Aber er musste seinen Wert unterstreichen, sonst war sein Leben keinen Cent mehr wert - beziehungsweise keine Kopeke. »Die erste Neuigkeit für die Beweglichkeit des Helms, die zweite für den Halsgurt«, beharrte er. Der General nickte langsam. In seinen wässrigen Augen blitzte so etwas wie Respekt für den unbeugsamen Gefangenen auf. Sein Doppelkinn schwabbelte. »Gut, Drax.
Ich hoffe für Sie, dass uns Ihre Neuigkeiten überzeugen.« Ein Kahlkopf im gelben Overall schnallte Matts Hals los. Hinter ihm schnappte es metallen, und er konnte den Kopf bewegen. »Wo ist Black?«, wollte er wissen. »Wer soll das schon wieder sein?«, zischte die Frau. »Unwichtig«, sagte Matt. Und dachte: Sie haben ihn also nicht geschnappt. Sehr gut. Er bewegte den Kopf hin und her. »Wichtig ist allein das, was da am Kratersee ausgebrütet wird. Erste Neuigkeit: In ›Christopher-Floyd‹...« Er unterbrach sich und blickte fragend zu den Gesichtern der russischen Technos auf. »Der Name sagt Ihnen doch etwas, oder?« Sie nickten, und er fuhr fort: »In ›Christopher-Floyd‹ steckt eine unglaubliche Menge grüner Kristalle. Einige haben sich schon damals beim Eintritt in die Erdatmosphäre gelöst; Sie werden sicher den einen oder anderen gefunden haben.« Er sah den Dicken im Rollstuhl an, und der bestätigte seine Vermutung. »In jedem dieser Kristalle steckt ein Bewusstsein«, erklärte Matt weiter, »eine außerirdische Entität! Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist, aber es stimmt. Wir konnten zu einem der Kristalle Kontakt aufnehmen.« Wem das gelungen war, nämlich dem Hydriten Quart’ol, verschwieg Matt. Das Geheimnis um die Existenz jener uralten unterseeischen Lebensform sollte weiterhin gewahrt bleiben. Matthew registrierte, wie sich die Gesichter um ihn herum veränderten - durch jedes schien ein Reißverschluss zu sirren. Doch leider in der falschen Richtung. Hatte er gehofft, die Mienen würden sich öffnen, sah er sich getäuscht. Diese verdammten Narren schienen seine Geschichte von den Daa’muren nicht glauben zu wollen. Okay, er selbst hatte auch lange daran geknabbert, dass eine außerirdische »Reisegruppe« den Kometen benutzt hatte, um auf der Erde einzufallen. Aber er hatte gehofft, zumindest bei der hiesigen wissenschaftlichen Fakultät auf Interesse zu stoßen.
»Sie haben sich doch auch schon mit den Kristallen beschäftigt, stimmt’s?«, fragte er. »Sind Sie nicht zu dem Ergebnis gelangt, dass deren Strahlung unmittelbar mit den Veränderungen auf unserem Planeten zusammenhängt? Seit fünfhundert Jahren haben diese Außerirdischen, die Daa’muren, unsere Rasse degenerieren und die Tier- und Pflanzenwelt mutieren lassen.« Es schien, als würde er tauben Ohren predigen. »Wer sind Sie, Drax?«, fragte der Brillenträger im Rollstuhl bedrohlich leise. Matt lachte leise. »Wenn Sie mir schon die Warnung vor den Daa’muren nicht glauben, sehe ich schwarz - die Story, wo ich herkomme, hört sich noch um einiges abgedrehter an.« »Versuchen Sie Ihr Glück«, munterte ihn der Dicke auf. Eine unwirkliche Heiterkeit überkam Matt. Warum nicht? »Ich war Commander der ehemaligen Air Force der Vereinigten Staaten, stationiert auf einer Air-Base im ehemaligen Deutschland. Der letzte Einsatzbefehl führte mich und mein Geschwader in den Luftraum über Mitteleuropa. ›Christopher-Floyd‹ wurde noch kurz vor dem Einschlag mit Interkontinentalraketen beschossen; wir sollten das beobachten und Messungen vornehmen. Das war am achten Februar des Jahres 2012, gegen viertel vor fünf mitteleuropäischer Zeit. Tja, und dann traf uns die Druckwelle des Kometen, irgendetwas geschah, das ich mir bis heute nicht erklären kann - und wir fanden uns über den deformierten Alpen des Jahres 2504 wieder...« Sechs Augenpaare blickten auf ihn herab, alle eingerahmt von einer Mischung aus Fassungslosigkeit und unverhohlenem Ärger. »Hab ich’s nicht gesagt? Sie glauben mir kein Wort.« Die kleine zornige Frau wechselte schwer zu deutende Blicke mit dem Fettsack im Rollstuhl. Der wandte sich wieder an Matt. »Und worin besteht nun konkret die Warnung, die Sie für uns haben... Commander!«
Matt gefiel nicht, dass seine Stimme jenen mitfühlenden Ton hatte, den man geistig Minderbemittelten gegenüber anschlug. Trotzdem gab er weiter Auskunft; was sonst hätte er auch tun sollen? »Bis auf die Fähigkeit, ihre Umwelt mit Strahlung zu beeinflussen, scheinen die Kristalle relativ ungefährlich zu sein. Aber das zu glauben wäre ein verhängnisvoller Irrtum! Denn erstens haben sie sich eine gewaltige Armee von Mutanten geschaffen, darunter riesige fliegende Rochen. Und zweitens werden sie nicht mehr lange körperlos bleiben. Bei unseren Nachforschungen sind wir auf eine Bruthöhle am Kratersee gestoßen, in der etwa fünfzig große Eier lagen. Nach allem, was wir wissen, züchten sie darin die ersten Vertreter einer neuen Spezies, deren Körper sie übernehmen können. Und wenn jeder der Kristalle einen solchen Körper bekommt, werden es Milliarden sein! Milliarden, verstehen Sie?!« Matt hatte sich in Rage geredet; jetzt schnappte er erst mal nach Luft. In dem Helm bestand die Gefahr zu hyperventilieren. Der Fette im Rollstuhl nutzte die Pause und ruckte auf Matts Zahnarztstuhl zu. »Mich beschäftigen momentan zwei Fragen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Erstens: Glauben Sie selbst, was Sie da von sich geben? Und zweitens: Woran liegt es, dass Sie es glauben? Was zwei weitere Fragen impliziert: Sind Sie ein gemeingefährlicher Irrer - oder sagen Sie die Wahrheit?« »Ich...« Weiter kam Matt nicht. Plötzlich wurde sein Kopf von hinten gepackt. Es gelang ihm noch, nach rechts zu schauen, bevor jemand den Helm nach unten drückte. Aruula lag dort auf einem ähnlichen Stuhl; auch sie steckte in einem Schutzanzug und unter einem Helm. Aus müden Augen sah sie ihn an. Kabel führten aus Kunststoffnoppen auf ihrem Helm zu einem Metallkasten über dem Kopfende ihrer Liege. Ein paar Lichter blinkten dort. Matt sah, wie Drähte aus diesen Kabeln und Noppen in ihren Helm hinein bis in ihre
Kopfhaut führten, und wie sie den Mund aufriss, um zu schreien. Da schob sich der in einen roten Overall gehüllte Körper der zornigen kleinen Frau zwischen ihn und Aruula. Vergeblich versuchte Matt den Kopf zu bewegen - sie hatten ihn wieder festgeschnallt. Aruulas Schreie unter dem Kugelhelm klangen dumpf und wütend. »Jetzt müssen Sie Farbe bekennen, ob Sie wollen oder nicht«, zischte die Stimme der Frau in seinem Helm. »Wir werden bald Gewissheit haben.« Matt kam nicht mehr dazu, ihnen von der zweiten Neuigkeit zu erzählen: von einem Serum, das es den Technos gestatten würde, die Fesseln der Isolation abzustreifen und sich ohne Schutzanzug auf der Oberfläche zu bewegen. Sie schwenkten einen Teleskoparm über seine Liege. Der trug einen kleinen, mit Schnitzereien verzierten Holztisch mit einem Monitor. Der Monitor flammte auf. An seinem unterem Rand erkannte Matthew Drax eine digitale Zeitangabe: 13.05.2519 / 21:13. Im gleichen Moment stach etwas in seine Kopfhaut, so schmerzhaft, dass er aufschrie. Aber nicht sehr lange... * »Da schickt einer uncodierte Funksprüche durch den Äther, Exzellenz!« Major Marek Bak, der Copilot von Ural 3, drehte sich um und sah zum Kommandostand hinauf. Professor Raspanuwitsch und die Gouverneurin saßen dort; sie hielten Händchen. »Ein Typ, der sich ›Black‹ nennt.« 21:27 zeigte die Borduhr. »Black?« Dragurowka Bassutschok runzelte die Stirn. »Wer ist Black?« Sie ließ die Hand ihres Chef-Wissenschaftlers und Liebhabers los und beugte sich über die Brüstung. »Stell den Lautsprecher ein, Marek.« Major Bak, der Copilot, drückte eine Taste auf der Instrumentenkonsole. Eine Zeitlang hörte man nur ein
Rauschen aus dem Lautsprecher. Alle lauschten gespannt. Außerhalb der Kuppel war es längst dunkel. Sterne blinkten am Firmament. Die Scheinwerferkegel des AMOT rissen Baumstämme, Buschwerk und manchmal einen von Gestrüpp zugesponnenen Strommast aus der Dunkelheit. Verdeckte LED-Leuchten rechts und links der Luke zum Mannschaftsraum, die Kontrollleuchten auf der Konsole und das Head-up-Display tauchten den Kommandostand in gedämpftes bläuliches Licht. Auf dem Head-up-Display sah man das breite Band des Flusses und dahinter, recht verschwommen schon, aber dennoch gut zu erkennen, die Konturen von Ruinen: Türme, Hochhausskelette, Brückenpfeiler. Die beiden AMOTs aus Perm II fuhren am Ufer der Kama entlang. Auf der anderen Seite des Flusses zogen die Ausläufer der südlichen Ruinen von Perm vorbei. Und plötzlich drang eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. Alle neigten die Köpfe, spitzten die Ohren. Niemand verstand die wenigen Sätze der Stimme, nur ihre letzten beiden Worte, die verstand jeder: Boris Lewkov... »Da redet einer von Boris!«, entfuhr es Ruslan Raspanuwitsch. »Das ist Englisch!«, rief der Pilot, ein Oberst namens Juri Solomatin. »Englisch? Spricht das einer von euch?« Dragurowka Bassutschok ließ die Hand des Physikers los, kletterte vom Kommandostand zu den Piloten hinunter. Die Männer zuckten mit den Schultern. Lesen konnten sie die Sprache teilweise; beträchtliche Bestände der wissenschaftlichen Datenbanken in Perm II war in Englisch gehalten. Aber verstehen? Niemand hatte je gehört, wie das klang - Englisch. »Schaltet den Universalübersetzer dazu, schnell!« Die Bassutschok verfiel in Hektik. »Zack, zack!« Die Finger des Copiloten wirbelten über die Tastatur der Kommunikationselektronik. »Habt ihr die Position des Mannes?«, blaffte die Gouverneurin an die Adresse des
Navigators. Der schüttelte den Kopf. »Dann verbind mich gefälligst mit Ural 9! Mach schon!« Eigenhändig griff sie zum Mikro und wartete, bis Ural 9 sich meldete. Auch dort waren die Funkrufe nicht unbemerkt geblieben. General Cippulacz hatte das Kommando über den zweiten AMOT. »Lewkov? Die sind doch seit Monaten überfällig!«, sagte er. »Wir sollten in jedem Fall erst mal die Sache mit Perm I erledigen, Gouverneurin. Dauert ja nicht lange. Und danach schauen wir, wer da funkt.« »Kommt gar nicht in Frage!«, schnaubte Raspanuwitsch vom Kommandostand herab. Drei seiner besten Wissenschaftler waren an Bord des Expeditionspanzers gewesen. »Was du redest, mein Generälchen!«, flötete Dragurowka Bassutschok ins Mikrofon. »Wir dachten, Boris sei längst tot, und jetzt hören wir seinen Namen über Funk! Natürlich werden wir der Sache auf den Grund gehen.« Sie blickte auf die Borduhr: 21:39. »Wir haben noch fast zwei Stunden Zeit. Perm I kann uns nicht davonlaufen, wie du weißt. Ich will, dass wir Kontakt zu der Funkquelle aufnehmen. Und zwar so schnell wie möglich! Ende.« Im Abstand von wenigen Minuten kam die Englisch sprechende Stimme nun aus dem Lautsprecher; eine sonore, etwas raue Stimme. Eine angenehme und sehr männliche Stimme, wie die Gouverneurin insgeheim registrierte. Der in den Steuerrechner integrierte Universal-Translator verarbeitete sie inzwischen. »Mein Name ist Black, ich bin in friedlicher Absicht hier«, tönte es. »Ich habe eine Botschaft für Sie, eine Botschaft von Boris Lewkov!« »Wir sollten ihn bald finden«, sagte der Pilot. »Sehr bald.« Oberst Juri Solomatin drehte sich um und sah zu seiner Gouverneurin hinauf. »Sonst fangen die von Perm I den Funkspruch noch auf.« »Das wäre in der Tat äußerst kontraproduktiv«, sagte die
Gouverneurin. Wie so oft umspielte das Lächeln einer Sphinx ihren breiten Mund. »Dann werden sie nämlich ein Suchkommando losschicken, und ich hätte gern, dass sich die gesamte Belegschaft der Petersburger Sympathisanten in Perm I aufhält, wenn unsere Grüße dort ankommen...« Die Borduhr zeigte 21:46, und von da an überstürzten sich die Ereignisse. »Funkruf von Perm I!«, rief der Copilot plötzlich. »Lautsprecher aus!«, zischte die Gouverneurin. Die sonore Männerstimme verstummte. »Legt Perm I auf die Box!« Kurz darauf ließ sich eine andere Männerstimme vernehmen. Für die Ohren der Gouverneurin klang sie nicht annähernd so angenehm wie die des Englisch sprechenden Fremden. »Großer Peter an Perm II, kommen.« Dragurowka Bassutschok streckte die Hand aus, der Copilot reichte ihr das Mikro. »Gouverneurin Dragurowka Bassutschok hört, reden Sie, Perm I.« Die Bezeichnung sprach sie mit verächtlichem Nachdruck aus. Man hörte sie nicht gern im Konkurrenzbunker. »Hier spricht General Pjotr Smolny, Erster Subkommissar des Großen Peter. Sie melden sich persönlich, Dragurowka? Das trifft sich gut. Ich habe interessante Neuigkeiten für Sie. Unser Expeditionspanzer ist vom Kratersee zurückgekehrt. Wir haben uns erlaubt, der Besatzung unsere Gastfreundschaft anzubieten. Boris Lewkov, Oldriska Karpin und die anderen Herrschaften lassen grüßen...« Die Bassutschok begriff sofort. »Ihr Expeditionspanzer?!«, unterbrach sie schroff. »Es ist ein ARET der Bunkerliga, Pjotr! Ihr wolltet nicht einmal einen Wissenschaftler stellen!« »Wie dem auch sei - ihr habt sicher Interesse an den Forschungsergebnissen unserer Expedition.« Die Stimme des Generals blieb unaufgeregt, sogar vollkommen gleichgültig klang sie. »Ihr seid eingeladen, sie euch anzusehen. Du, Dragurowka, und zwei Wissenschaftler deiner Wahl; Morgen um die Mittagszeit im Kabinettsraum von Großer Peter. Schlaf drüber und melde dich im Lauf des Vormittags.
Ende.« Der AMOT-Pilot stieß einen Fluch aus. »Eine Falle«, knurrte Oberst Solomatin. »Wie passt das zu dem englischen Funkspruch?« Raspanuwitsch flüsterte, als fürchtete er, dass Perm I noch mithörte. Und die Bassutschok zischte: »Sie wissen Bescheid!« Ihr rechter Arm stach in Richtung Heck. »Sie wissen, dass wir unterwegs sind!« Sie wurde laut. »Sie wissen, was wir ihnen mitbringen! Der Mistkerl benutzt Boris und Oldriska als Geiseln...!« »Was tun wir jetzt?« Mit dem eigenartig lauernden Blick, den Raspanuwitsch manchmal aufsetzen konnte, fixierte er seine Gouverneurin vom Kommandostand herab. »Wenn wir die Geschosse abfeuern, töten wir Boris und seine Leute.« Dragurowka Bassutschok biss sich auf die Unterlippe. »Ich hab ihn!«, rief der Copilot in die lautstarke Empörung hinein. Alle starrten sie auf das Head-up-Display. Ein Koordinatensystem aus Quadraten und einer Kartenskizze war dort zu sehen. Und im Zentrum blinkte ein leuchtend blauer Punkt. »Ich hab ihn geortet!« »Nun sag schon, Marek!«, fauchte die Gouverneurin. »Wo, will ich wissen!« »Planquadrat fünfzehn, Kilometer einunddreißig-sieben!« »Er schwimmt auf der Kama!«, rief Oberst Solomatin. »Flussaufwärts, nicht weit vor der Brücke!« »Entfernung?«, hakte die Gouverneurin nach. »Dreizehn Kilometer.« »Die Information an die gesamte Besatzung weitergeben, und an Ural 9! Und dann drück ein bisschen auf die Tube, Juri!« * Auf beiden Monitoren flimmerten schwarze und weiße Linien vor rotem Hintergrund. Nur alle drei oder vier
Sekunden zeigte sich eine Bildsequenz, unscharf und ineinander verschwimmend. »Wer soll das deuten?!« Natalja Sem stand zwischen den Liegen mit den beiden Gefangenen und schäumte vor Wut. »Ich jedenfalls kann nichts Vernünftiges erkennen!« Im Stillen verfluchte sie Kosak Eins. »Wo steckt Nika, dieser Idiot?! Hab ich ihm nicht gesagt, dass wir ihn hier brauchen?! Wo steckt dieses Arschloch!?« Sie blickte auf die Digitaluhr in der Monitorverkleidung: 13.05.2519 / 21:52. Das medizinische Personal rund um die Liegen mit den betäubten Fremden warf ihr halb scheue, halb erschrockene Blicke zu. Dr. Nikati Rostow war gewissermaßen ihr Vorgesetzter, und außerdem ein Encephalorobotowitsch. Über einen Vorgesetzten mochte man sich schon mal beschweren, gut, sogar verfluchen oder beschimpfen mochte man ihn in seltenen Augenblicken. Aber einen Encephalorobotowitsch? So etwas tat man nicht, so etwas wagte keiner. Keiner außer Natalja Sem. »Schafft mir vernünftige Bilder auf die Monitore!«, forderte sie. »Oder ich streiche euch eine ganze Wochenration Voodka!« Alexander Koboromajew neben ihr schüttelte den Kopf und mimte den Entsetzten. »Du kannst ja so hartherzig sein...« Er schnalzte mit der Zunge. Eine Greisin mit pergamentener Haut, moosgrüner Perücke und uhrenglasdicken Brillengläsern beugte sich über die Liege des Kerls, der sich Drax nannte: Karina Rostow, die Tochter des Encephalorobotowitschs und zugleich seine beste Schülerin. Leider war sie halb blind. Trotzdem machte sie sich jetzt an den Elektroden zu schaffen, die durch Drax’ Helmschale hindurch in seinen Blondschopf führten. Die Hirnspezialistin zog sie aus dem Haar, bohrte sie an anderen Stellen wieder in die Kopfhaut, fummelte dabei an dem Gerät mit dem Hirnstrom-Monitor herum - einem Encephalovisualigraph, kurz EVG - das hinter der Liege stand.
Wenige Wissenschaftler nur beherrschten Gerät und EVGTechnik auf eine Weise, die eindeutige Ergebnisse lieferte. Die Kunst bestand einmal in der Dosierung des Betäubungsmittels und zum anderen in der exakten Lokalisierung der Einstichstellen für die zwölf Elektroden. Dr. Nikati Rostow beherrschte das virtuos - er hatte die EVGTechnik vor über hundertvierzig Jahren entwickelt. Seine Tochter war auch nicht übel - trotz miserabler Augen und obwohl sie die Kopfhaut des Gefangenen wegen des Helms nicht berühren konnte, platzierte sie die Nadeln einigermaßen korrekt. Auf dem Monitor über Drax entstanden halbwegs klare Bilder. Natalja Sem erkannte ihren Flaggpanzer, erkannte Kosak Eins ohne seinen Taikepir im Gebüsch, sah den Paralysestrahl aus seiner Mundöffnung schießen, sah schließlich ihr eigenes Gesicht und das des Ersten Subkommissars vor dem Verhörstuhl. »Endlich!« Triumphierend klatschte sie in die Hände. »Danke, Karina! Vielleicht kriegst du das bei dem barbarischen Weibsbild auch hin.« Die alte Hirnspezialistin krächzte irgendetwas Unverständliches, während sie sich der zweiten Liege zuwandte und am Helm der Wilden namens Aruula zu hantieren begann. Natalja konzentrierte sich auf den Monitor über Matthew Drax. Der Dritte Subkommissar trat neben sie. »Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Alexander Koboromajew. Die Bilder auf dem Schirm über dem Blonden flossen noch ineinander, verblassten rasch oder jagten wie im Zeitraffer über den Monitor. Splitter von Erinnerungen der letzten Stunden, nichts von Bedeutung. Der rätselhafte Mann auf der Liege bewegte stumm die Lippen. Seine Blicke irrten zwischen dem Monitor, Natalja und Alexander hin und er. Manchmal verdrehte er die Augen, manchmal schloss er sie für viele Sekunden. »Pfusch«, schnaubte Alexander Koboromajew verächtlich. »Ihr habt
das Betäubungsmittel mal wieder viel zu hoch dosiert!« »Könnte trotzdem funktionieren.« Natalja drehte sich um. »Wir sind so weit! Ruft den Ersten Subkommissar!« Sie hatte niemanden Bestimmten angesprochen, doch drei oder vier der Männer und Frauen im Raum eilten zu den an den Holzwänden verteilten Kommunikationsterminals. Irgendjemand musste General Pjotr Smolny wohl erreicht haben, denn keine drei Minuten später schoben sich die Flügel des Portals auseinander und sein Stuhl rollte ins EVGLabor. Ohne Gruß, ohne nach rechts und links zu sehen steuerte der Erste Subkommissar die Liegen mit den Gefangenen an. Dort stoppte er sein Gefährt neben den anderen beiden Triumviratsmitgliedern. »Die Einladung ist raus«, raunte er an Nataljas und Alexanders Adresse. »Ich hab mit der Bassutschok persönlich gesprochen. Sie wird auf den Bluff hereinfallen, macht euch keine Gedanken.« »Und wenn nicht?« Natalja Sem konnte die Gelassenheit des Generals nicht ganz nachvollziehen. Immerhin war das Luder aus Perm II mit zwei alten Nuklearsprengköpfen im Anmarsch. »Keine Sorge Natalja, ich hab die Sache im Griff.« Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte Pjotr Smolnys dicke Lippen. Die Augen hinter den Brillengläsern schwammen auf und ab wie zwei Fettblasen unter klarem Eis. »Diesmal kriegen wir sie.« Natalja machte sich nichts vor: Wie so oft verheimlichte er mal wieder eine entscheidende Kleinigkeit. Sie verabscheute diesen Zug an ihrem einzigen Vorgesetzten. Aber was sollte sie machen? Der General war nun mal die Nummer 1 im Großen Peter. »Wenn alle Stricke reißen, wird unser Mann in Perm II das Biest eben auf konventionelle Weise erledigen«, sagte er. Danach deutete Smolny mit einer Kopfbewegung auf die Bildschirme. Inzwischen lieferte auch der zweite Monitor klare Bilder. »Und jetzt stell ihnen die Fragen, Natalja.
Beginne mit dem Mann.« Sämtliche anwesenden Mediziner und Militärs hatten sich mittlerweile um die beiden Liegen und die EVG-Geräte versammelt. »Fangen wir mit der Besatzung des ARET an.« Natalja Sem beugte sich über den schläfrigen Gefangenen. »Wo haben Sie Boris Lewkov getroffen, Drax? Und warum haben Sie ihn und die Crew ermordet?« Das Zeitraffer-Geflimmer auf dem Monitor löste sich in einzelne Bilder auf. Eine hochgewachsene Gestalt in Schutzanzug und Klarsichthelm schälte sich aus Farben und Formen: Boris Lewkov. Ein Raunen ging durch die Gruppe der Technos. Lewkovs Überlebensanzug war verschmutzt, nur an wenigen Stellen schimmerten der silbrige Spezialbelag und der rote Brustgurt mit Hammer und Sichel durch. »Wo sind die anderen?«, flüsterte jemand. »Er denkt nur an Boris! Ist er dem Rest der Crew denn gar nicht begegnet?« Auch der Gefangene selbst starrte auf den Monitor, als könnte er nicht fassen, seine eigenen Gedanken dort visualisiert zu sehen. Er murmelte unverständliches Zeug. Natalja wandte sich zum Bildschirm der Barbarin. Dort wirkte Lewkovs Gesicht noch kantiger und eingefallener. Hammer und Sichel auf dem Brustgurt waren in ihrer Erinnerung zwei kaum erkennbare Schwerter. Auf beiden Bildschirmen sah man jetzt eine zweite Gestalt neben Lewkov, einen verwachsener Gnom in Fell, Eisen und Leder und mit grimmiger Miene und zerfurchter Haut. Sein linker Arm hing ihm bis über das Knie herab. Ein menschlicher Mutant! In der Linken hielt er eine Peitsche, und das klobige Gewehr in seiner Rechten zielte auf Boris. »Eine unbekannte Mutantenform«, urteilte General Smolny knapp. Immer mehr solcher Zwerge sah man jetzt auf dem Monitor, da und dort auch Exemplare anderer halbhumanoider Rassen. Mutanten von denen man in der Bunkerliga noch nie gehört hatte. »Drax ist nur Boris begegnet, sonst würde wir die anderen drei
Besatzungsmitglieder in seiner Erinnerung sehen können.« »Was hatte Boris mit diesen widerlichen Wichten zu schaffen?« Die Zweite Subkommissarin schüttelte sich vor Ekel. Sie wandte sich ab und spähte zu dem EVG-Monitor über der Barbarin. Doch was sie dort sah, wirkte nicht wesentlich attraktiver: Natalja Sem sah sich selbst. Zusammengekauert, mit blutender Nase und zertrümmertem Helm lag sie im Gestrüpp. Mit beiden Armen versuchte sie die Fausthiebe der Gefangenen abzuwehren. »Das wilde Weib mag dich nicht, Natalja«, grinste Alexander Koboromajew. Die Zweite Subkommissarin runzelte zwar die Stirn, ignorierte die Wutfantasien auf dem Bildschirm aber. Nichts Ungewöhnliches bei solchen Verhören. Drax’ Monitor interessierte sie mehr. Dort flackerte auf einmal Fackelschein. An schroffen Felswänden entlang glitt das Licht durch einen Schacht. Menschenähnliche Gestalten hieben mit Spitzhacken in den Fels. Auch Boris hantierte mit Werkzeugen herum. »Sie haben ihn zur Arbeit in einem Bergwerk gezwungen!«, schnarrte der General. »Drax hat die Wahrheit gesagt.« Man sah Boris mit Drax umringt von Gnomen, die sie mit antiken Flinten bedrohten. Einer der Kerle allerdings war mit einem modernen Gewehr bewaffnet. Damit zielte er auf Boris. Ein Laserstrahl traf dessen Helm. Alexander Koboromajew stieß einen Fluch aus, Natalja presste die Lippen zusammen, ihre Augen wurden feucht. Eine der Ärztinnen begann laut zu weinen. Schließlich sahen sie, wie Boris - mit zerstörtem Helm und verbranntem Gesicht - den Gnom überwältigte, ihm das Gewehr aus den Händen wand und ihn in den Schacht hinein trieb. Die Bilder verschwammen, jagten einander über den Monitor. Felswände, Fackeln, entsetzte Gesichter wechselten sich ab, viel mehr war nicht zu erkennen. Bis ein Abgrund gähnte, Schachtwände bebten, Stützpfeiler zusammenbrachen
und Geröll in schäumendes Wasser stürzte... Stöhnen und Seufzen erfüllte das EVG-Labor. Natalja ballte die Fäuste, und Alexander Koboromajew nahm einen Schluck Voodka und ließ die Flasche kreisen. »Verdammt«, zischte der dritte Mann im Großen Peter. »Der Kerl hat tatsächlich die Wahrheit gesagt...!« Matthew Drax, der Gefangene auf der EVG-Liege, blickte nun konzentriert auf den Monitor. Wahrscheinlich hatte er begriffen, dass dort seine durch Nataljas Fragen geweckten Erinnerungen visualisiert wurden. »Wer sind Sie, Drax?« Nataljas Stimme klang ungewöhnlich heiser auf einmal. »Wer ist die Frau neben Ihnen? Warum benötigen Sie keine Schutzanzüge? Und wo beim Heiligen Puutin kommt ihr her...?!« Atemlose Stille im Labor. Alle starrten sie auf die Monitore. Die Barbarin dachte an ein Ruderboot, eine Art Kanu. Frauen und Männer in Fellmänteln und mit Schwertern auf dem Rücken saßen auf den Ruderbänken. Über der See schwebten Nebelschwaden. Pfeile schossen aus dem Nebel, trafen die Leute auf den Bänken. Auf dem Bildschirm über Drax’ Liege schien die Sonne. So hell und an einem derart blauen Himmel, dass Alexander Koboromajew ein Seufzer entfuhr und Natalja Sem schlucken musste. In seiner Erinnerung schien der Blonde in einem Fahrzeug zu sitzen, denn Bäume, Passanten, Häuserfronten und Gartenhecken glitten rechts und links vorbei, und andere Fahrzeuge - kleine Zweiachser, wie man sie aus den Datenbanken kannte - fuhren auf der Gegenfahrbahn entlang. Ein weißes Schild huschte vorbei, ein Wort in lateinischen Buchstaben stand darauf. Danach ging es über mehrspurige Straßen, durch Industriekomplexe, Wälder und über Hügel, bis eine Dunstglocke am Horizont auftauchte und eine unbeschreibliche Gebäudeansammlung darunter, und dahinter das Meer, und dann wieder Schilder mit lateinischen Buchstaben..
»Kann das irgendeiner hier lesen?« Natalja Sem hatte, wie die meisten Nicht-Wissenschaftler der Bunkerliga, nur die kyrillischen Schriftzeichen gelernt. »›Riverside‹ stand auf dem ersten Schild«, sagte General Pjotr Smolny. »Und auf dem zweiten ›Los Angeles‹.« »Riverside?« Natalja Sem runzelte die Stirn. »Los Angeles? Wo soll das liegen, verdammt noch mal?!« Keiner antwortete; selbst der Erste Subkommissar zuckte lediglich mit den Schultern... * Am Horizont versank die Sonne und ließ einen glühenden Himmel zurück. In den schroffen Hängen und in den Wäldern darunter brannten unzählige Feuer. Stück für Stück schob sich von Sonnenaufgang her eine schwarze Wand über den Himmel und dem Gebirge entgegen. Die Nacht. Mur’gash meditierte noch immer. Die Macht im See schwieg. Der letzte Bote der Nachrichtenkette, ein alter Narod’kratow, schlurfte aus dem Pass, tuschelte mit der Leibgarde und wurde zu Bulba’han vorgelassen. »Wieder ein Reiter«, sagte er. »Er reitet aus dem Hügelland hangaufwärts.« »Ein Reiter wie der, den ihr gegessen habt?«, fragte der Schwertmeister. »Nein. Sein Tier ist größer, viel größer und kräftiger. Es hat ein schwarzbraunes Fell, und der Reiter hat das Gesicht eines Menschen und den Körper eines... Dings.« »Eines Dings?« »Nun, sein Körper besteht aus Eisenstangen und Eisenplatten.« »Macht es wie bei dem ersten Reiter«, sagte Bulba’han. »Lockt ihn in den Pass und überwältigt ihn. Und dann bringt ihn mir. Ich will ihn sehen.« Der Bote entfernte sich. Nach und nach wurde es dunkler. Gedämpftes Gewirr vieler
Stimmen lag auf den Hängen und raunte im Wald. Dann kam wieder der Bote, der alte Narod’kratow. »Habt ihr den Reiter?«, fragte Bulba’han ihn. »Nein. Er lässt sich nicht in den Pass hinein locken. Er begibt sich nicht einmal den Hang hinauf und in die Nähe des Passes.« »Was tut er denn?« »Er hat sein Tier auf halber Höhe des Berghangs angehalten. Dort sitzt er auf dem Ungeheuer und blickt zurück über die Wälder und Hügel.« »Er blickt zurück? Es ist dunkel, was kann er schon sehen dort unten?« »Wir wissen es nicht. Er sitzt einfach auf seinem pelzigen Ungeheuer und blickt zurück zu den Ruinen, die er nicht sehen kann. Es ist, als warte er auf etwas...« Zeit verging. Nur noch wenige Feuer glühten im Wald und in den Felshängen. Die meisten Kämpfer schliefen bereits. Zehntausendfach drangen ihre Atemgeräusche von allen Seiten an Bulba’hans Ohren. Berg und Wald schienen zu schnarchen. Dann endlich schlug Mur’gash die Augen auf. An seinem Eisenstab entlang rutschte er auf den Fels. Er war erschöpft. Bulba’han befahl ihm Wasser und kaltes Fleisch zu bringen. Der Geistmeister aß und trank. Die Nachricht vom Ende der Trance sprach sich schnell herum. Eine große Menge von Mutanten versammelte sich um den Ring der Leibgardisten. »Hört die Botschaft der Macht im See«, sagte Mur’gash, nachdem er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war. »Bleibt zusammen. Der Mefju’drex ist der Feind der neuen Schöpfung; ihn sollt ihr verfolgen. Auf seinem Weg liegen die Ruinen einer großen Stadt. Dort wird er sich sicher fühlen. Stellt und tötet ihn und alle, die ihn begleiten. Tötet, was sich euch in den Weg stellt...«
* Von allen Seiten kam das Gurgeln des Flusses. Hin und wieder erklang auch in unmittelbarer Nähe das Flattern und Geschrei von Wasservögeln, und manchmal ein Plätschern und Klatschen, das einen Fisch verriet, der nicht weit entfernt aus den Wogen gesprungen und wieder eingetaucht war. Am Nachthimmel sah Mr. Black nur einen verwaschenen Fleck - den Mond - und an den Ufern undeutliche Konturen, die ebenso gut Wälder wie Ruinen oder große Tiere sein konnten. Manchmal erkannte er im letzten Augenblick die Ruinen einer Brücke - wenn der Gleiter schon die von Gestrüpp umrankten Pfeiler passierte. Unheimlich, bei Dunkelheit über ein Gewässer zu fahren, das man nicht kannte. Er war froh, seine eigene Stimme zu hören: »Mein Name ist Black, ich bin in friedlicher Absicht hier. Ich habe eine Botschaft von Boris Lewkov für Sie!« Irgendwann fand Mr. Black einen Knopf, mit dem sich Frontscheinwerfer einschalten ließen. Dunstschwaden reflektierten das Licht. Jetzt sah er zwar von Zeit zu Zeit die schreienden Wasservögel, einmal sogar einen kleinen Fisch, und die Brückenpfeiler erkannte er früher als zuvor. Doch Vertrautheit stellte sich nicht ein, natürlich nicht. Black kam sich vor wie in einem Labyrinth. Ein scheußliches Gefühl, weiß Gott! So war er fast erleichtert, als er nach etwa zwei Stunden eine Stimme hörte. Sie tönte blechern aus der Instrumentenkonsole und sprach Russisch. Den Klang kannte Mr. Black inzwischen; er hatte sich intensiv genug mit dem ARET und den Dateien im Bordrechner des Expeditionspanzers beschäftigt. In der Datenbank hatte er etliche Audio-Files gefunden. Russisch also. Er verstand zwar kein Wort, aber immerhin versuchte jemand Kontakt mit ihm aufzunehmen. »Hier spricht Black!«, rief er in die Konsole. »Ich kann Sie empfangen, aber nicht verstehen! Können Sie einen dieser
Universal-Translatoren einsetzen?« Im Scheinwerferlicht erkannte er die wuchtigen Konturen eines Brückenpfeilers. Er drosselte die Geschwindigkeit des Gleiters. Die Stimme veränderte sich, klang plötzlich seltsam verzerrt, als würde sich eine Orgel in menschlicher Sprache versuchen, aber wenigstens redete sie jetzt Englisch. »Ural 3 an Black, Ural 3 an Black...« Er drosselte die Geschwindigkeit des Gleiters so weit, dass der gerade noch die Strömungsgeschwindigkeit ausglich und auf der Stelle schwebte. »Ural 3 an Black, wir haben Sie geortet...« Mr. Black konzentrierte sich, um die Stimme zu verstehen. »Hier spricht Dragurowka Bassutschok, die Gouverneurin von Perm II. Wir haben sie geortet, Black, wir kommen von Norden. Passieren Sie die Brücke und suchen Sie dann das westliche Ufer nach unserem Scheinwerferkegel ab.« »Verstanden.« Black steuerte den Gleiter unter der Brücke durch. Das Gebäude erschien ihm gut erhalten, doch vielleicht verhüllte die Dunkelheit auch die Spuren des Kometen und der Jahrhunderte nach ihm. Bald sah Black einen Lichtfleck am linken Ufer. »Black an Ural 3, ich kann Ihr Licht sehen. Nehme Kurs aufs Ufer, komme Ihnen entgegen.« »Verstanden. Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen.« Wahrhaftig, das klang nicht übel! Doch Black hütete sich, in frühzeitigen Optimismus zu verfallen. Wusste er denn, wer ihm da gegenübertreten würde? Nein, er wusste es nicht. Zu tief hatte er der Welt in die Augen geschaut, um noch irgend jemandem einen Vertrauenskredit gewähren zu wollen. Also nahm Mr. Black sein Lasergewehr von der Schulter, klemmte es unter den Arm und steuerte das Gefährt ans Ufer. Der Lichtfleck im Norden wuchs rasch, verdoppelte sich, wurde zu zwei Scheinwerferkegeln. Die Fahrzeuge kamen näher und näher. Der Gleiter trug Mr. Black über Schilf, Flussarme und Schlammflächen und schließlich eine steil ansteigende Böschung hinauf.
Für Sekunden verschwanden die beiden Scheinwerferkegel aus seinem Blickfeld. Als er oberhalb der Böschung aus dem Gestrüpp brach, sah er die Umrisse der Fahrzeuge: Sie gefielen ihm nicht. Mit der Besatzung des gleichen Panzertyps hatte er schon unangenehme Bekanntschaft gemacht, vor ein paar Stunden erst. »Black an Ural 3«, rief er ins Mikrofon. »Ich verlange, dass Ihr Kommandant persönlich zu mir herauskommt! Allein und unbewaffnet!« Ein paar Sekunden schwieg die Orgelstimme. Dann: »Sie vertrauen uns nicht, Black?« Die Stimme klang mit jedem Wort weiblicher. »Nein.« Er schaltete den Scheinwerfer des Gleiters aus, warf sich ins Gebüsch und legte sein Lasergewehr an. Der Gleiter fuhr den beiden Panzern noch ein Stück entgegen. Im grellen Licht ihrer Scheinwerfer blieb er schließlich stehen. Auch die Panzer hielten an. Etwa dreihundert Schritte trennten sie und Mr. Blacks Deckung. Eine Zeitlang geschah überhaupt nichts. Von fern hörte er die künstliche Stimme aus dem Funkgerät des Gleiters quäken, bis sie irgendwann verstummte. Wieder verstrichen ein paar Minuten. Schließlich öffnete sich eine Luke im Bugfragment eines der Panzer. Eine Gestalt in rotem Schutzanzug verließ das schwarze Gerät schlank und einen halben Kopf kleiner nur als Black. Die Art ihrer Bewegungen verriet Black, dass eine Frau unter der roten Hülle und dem durchsichtigen Helm steckte. Sie war unbewaffnet, wie es aussah, und das interessierte ihn in diesem Moment in erster Linie. Als sie näher kam, erkannte er die dichten roten Locken, die ihr Gesicht einrahmten und den Helm fast vollständig ausfüllten. Er richtete sich so weit auf, dass sein Oberkörper zwischen den Büschen auftauchte und sie das Lasergewehr erkennen konnte. »Bleiben Sie stehen, Ma’am!« Das tat sie. »Seien Sie so freundlich und drehen Sie sich einmal um sich selbst.« Auch diesen Gefallen gewährte sie ihm. Allerdings nicht
ohne Kommentar. »Sie scheinen schlechte Erfahrungen gemacht zu haben«, meinte sie - beziehungsweise die immer noch an eine Orgel erinnernde Stimme des Translators. »So ist es.« Black richtete sich nun vollständig auf. Er stapfte ihr entgegen, dachte aber nicht daran, seine Waffe sinken zu lassen. »Ihre Landsleute haben meine Gefährten verschleppt, vielleicht sogar getötet, und sie haben Boris Lewkovs ARET geraubt.« »Ach...« Sie streckte ihm die Rechte entgegen. »Und Lewkov und die Crew ebenfalls gefangen genommen?« »Nehmen Sie’s mir nicht allzu übel, Ma’am, aber nur ein akuter Fall geistiger Umnachtung könnte mich bewegen, Ihnen zu vertrauen.« Mr. Black schielte auf die ausgestreckte Rechte der Frau - eine schöne Frau übrigens, das registrierte er trotz der widrigen Umstände -, ergriff sie jedoch nicht. »Geistige Umnachtung?« Sie zog die Hand nicht zurück. Ihre schwarzen Augen musterten den Hünen, und sie lächelte dabei. »Kann ich Ihnen nicht bieten, Black. Wie wäre es mit einem Ehrenwort unter, sagen wir, Ebenbürtigen? Ich darf Ihnen verraten, dass ich zufällig auf dem Weg bin, die von Ihnen erwähnten Strauchdiebe zu bestrafen. Sie haben sich auch schon in anderer Hinsicht daneben benommen. Ich habe sie richtig verstanden - die Banditen haben Lewkovs Crew gefangen genommen?« »Lewkov und seine Leute sind lange tot.« Black neigte den Kopf zur Seite, ließ sogar den Waffenlauf ein wenig sinken. Nein, sein Vertrauen hatte sie nicht gewonnen, noch lange nicht. Aber irgendwie alarmierte ihn, was sie da sagte. »Wie schade.« Hartnäckig streckte sie ihm die Hand hin. »Ich bin die Gouverneurin von Perm II, und Perm II ist ordentliches Mitglied der Russischen Bunkerliga. Mein Name ist Dragurowka Bassutschok. Willkommen in meinem Regierungsbezirk.« Black gab seinem Herzen einen Stoß, wechselte das Lasergewehr in die Linke und ergriff endlich die ausgestreckte Hand. »Mr. Black. Ich stamme aus Waashton,
Meeraka. Dort führe ich die Untergrundregierung und den bewaffneten Widerstand gegen den Weltrat.« »Sagt mir nichts, aber das wird sich vermutlich rasch ändern.« Sie hielt seine Hand fest, als könnte sie an ihrem Druck etwas über seine Persönlichkeit und die Verlässlichkeit seiner Worte erfahren. »Darf ich Sie an Bord von Ural 3 einladen, Mr. Black?« Sie wandte sich ab und winkte ihn hinter sich her. Black folgte ihr. »Hier ist ein AGA-Gleiter«, hörte er sie sagen. »Bergt ihn und bringt einen Schutzanzug für unseren Gast in die Schleuse. Boris ist übrigens nicht in Perm I. Ein Bluff, wie ich’s mir dachte. Wir machen den Job wie geplant...« Mr. Black hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. * 13.05.2519 / 22:37 zeigte die Digitaluhr am unteren Bildschirmrand. Darüber Schneegestöber auf einem Schneefeld. Ein Kampf tobte dort; die wilde Frau schwang ihr Schwert gegen zwei aufrecht gehende Rattenmutanten. Halb nackt war sie. Die schwarzpelzigen Bestien sprangen sie an, wieder und wieder. Sie waren größer als die Barbarin, und trotzdem erschlug die Frau namens Aruula beide Taratzen. »Was für ein Weib!«, staunte der Dritte Subkommissar. Er stand hinter Smolnys Rollstuhl. »Was für ein rassiges Weib!« Alexander Koboromajew vor allem war es gewesen, der darauf bestanden hatte, die Aufzeichnung dieser Szene noch einmal zu sehen. Er drehte sich nach Matthew Drax und seiner Gefährtin um. Die Liegen mit dem Paar standen jetzt in der therapeutischen Abteilung des EVB-Labors. Dr. Karina Rostow hatte ihnen Infusionen angelegt, um das Betäubungsmittel möglichst schnell zu neutralisieren und aus ihren Körpern zu spülen. »Ein Jammer...!« Koboromajew setzte die Flasche an und
ließ die letzten Tropfen Voodka in sich hinein fließen. »Ein Jammer, dieser verdammte Schutzanzug. Ich würde sie so gerne...« Nataljas giftiger Blick brachte ihn sofort zum Verstummen. Davon abgesehen gehorchte seine Zunge ihm nicht mehr hundertprozentig - zu viel Voodka. Die EVG-Bilder waren so aufregend, so atemberaubend und so vollkommen unglaublich gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatten, wie sie eine Flasche nach der anderen leerten. Die meisten Männer und Frauen im EVG-Labor wankten oder sprachen wenn sie überhaupt noch sprachen - reichlich verwaschen; nur der General und die Zweite Subkommissarin nicht. Pjotr Smolny nicht, weil er trinkfest war wie kein Zweiter, und Natalja Sem nicht, weil sie Antialkoholikerin war. Die einzige Antialkoholikerin im Großen Peter. Auf dem Monitor mit den Bildern aus dem Gedächtnis der Barbarin sah man die wilde Frau jetzt durch den Schnee stapfen. Sie bückte sich nach einem Fellmantel und schlüpfte hinein. »Schade«, seufzte Alexander Koboromajew und erntete den nächsten tadelnden Blick. Die Frau auf dem Monitor arbeitete sich indessen zu einer Eisspalte vor, in der, mit dem Bug voran, ein Jet mit abgesprengter CockpitKuppel hing. Und in dem Jet hing ein blonder Mann Matthew Drax. »Es ist nicht zu fassen«, stöhnte Natalja Sem. »Er kommt tatsächlich aus dem Jahr 2012!« Die Erinnerungsbilder des US-Commanders ließen überhaupt keinen anderen Schluss zu. »Ein Luftwaffenoffizier der ehemaligen USA.« General Pjotr Smolny rieb sich nachdenklich den kahlen Schädel. »Entsinnt ihr euch an Oberst Swetlana Milanow?« »Kommandantin von Moskwa Neunzehn.« Natürlich erinnerte sich Natalja an die Leiterin der NordlandExpedition. »Zweites Expeditionsbataillon, Außenbasis Helsinki.« »Richtig«, nickte der General. Er blickte auf die Digitaluhr
am Bildschirmrand. Seltsam nervös wirkte er. »Gilt Moskwa Neunzehn nicht als verschollen?«, fragte Alexander Koboromajew. »Richtig«, wiederholte der Erste Subkommissar. »Seit März letzten Jahres. In ihrer letzten Nachricht an ihre Basis in Helsinki berichtete Oberst Milanow von einem EVG-Verhör an einem merkwürdigen Gefangenen.« Koboromajew machte ein begriffsstutziges Gesicht. Vor einem Jahr um diese Zeit war er noch Gouverneur von Perm II gewesen. Möglicherweise hakte es schon damals mit dem Informationsfluss zwischen beiden Kolonien. »Er nannte sich Smythe«, fuhr der Erste Subkommissar fort. »Und Swetlanas Bericht ließ keinen Zweifel daran, dass er aus dem Jahr des Kometen stammte. Wir konnten diese These niemals überprüfen. Swetlana wollte den Exoten nach Helsinki bringen, aber weder in Moskau noch in Petersburg hörte man je wieder etwas von Moskwa Neunzehn.« Davon wiederum hatte nun Natalja nie gehört. Sie verkniff sich eine bissige Bemerkung über Smolnys Geheimniskrämerei. »Fragen wir doch Drax, ob er den Mann kennt«, schlug sie stattdessen vor. Sie sah sich nach dem Paar um. Beide saßen noch benommen auf ihren Liegen, und beide bedachten sie mit Blicken, die wenig Anlass zur Hoffnung gaben, dass sie überhaupt noch mit ihnen reden würden. Pjotr Smolny schaltete den EVG-Monitor aus. »Das ist nicht die einzige Frage, die wir ihm stellen sollten.« Er wendete seinen Stuhl und steuerte ihn zu den Liegen. Natalja und Alexander Koboromajew folgten ihm. Natalja biss sich auf die Unterlippe. Leicht würde es nach dem EVG-Verhör gewiss nicht werden, Drax’ Vertrauen wiederzugewinnen. Die Barbarin Aruula riss sich den Infusionsschlauch aus ihrem Schutzanzug. Dr. Karina Rostow stürzte zu ihr, um das Kanülenventil im Ärmel zu schließen, doch die zornige Frau stieß die Greisin zur Seite, legte beide Hände an ihren Helm und begann daran
zu rütteln. Entsetzte Rufe von allen Seiten. »Haltet sie!«, schrie Natalja. Doch schon stand Commander Drax vor seiner unbändigen Gefährtin, fasste sie an beiden Armen, drückte ihre Hände nach unten und redete besänftigend auf sie ein. Der Mann aus der Vergangenheit begriff die Bedeutung seines Schutzanzuges - die Bedeutung für die Einwohner des Großen Peter. Ein paar Krankheitskeime von der Haut der Barbarin nur, oder aus ihrer Atemluft, und mindestens die Hälfte der Laborbelegschaft war zum Tode verurteilt; wahrscheinlich sogar alle. Natürlich begriff er die Bedeutung der Anzüge; das erstaunte weder Natalja noch ihre Kollegen vom Triumvirat. Aus seinen Erinnerungen wussten sie ja, dass er im ehemaligen London Bunkerkolonien kennen gelernt hatte, die identische Probleme mit der körpereigenen Immunabwehr hatten. Allerdings war Drax im ehemaligen Washington einer Bunkerkolonie begegnet, die derartige Schwierigkeiten offensichtlich hinter sich hatte. Eine der brennendsten Fragen, über die man mit dem Mann reden musste. Im Augenblick jedoch war an ein Gespräch nicht zu denken: Drax hielt seine Gefährtin fest, die sich in seinen Armen wand, mit den Füßen aufstampfte und fauchte wie ein wildes Tier. Beschwichtigend hob der General beide Hände. »Ich bitte Sie, Commander Drax und Miss Aruula, verzeihen Sie uns das Verhör!« Pjotr Smolny schlug einen versöhnlichen Tonfall an. »Was blieb uns denn bei Ihrer völlig unglaublichen Geschichte anderes übrig...?« Und dann geschah es: Matthew Drax gelang es nicht, die Barbarin zu bändigen. Die Wilde befreite sich aus seinen Armen und stürzte auf den Ersten Subkommissar los. Auf einmal schrien alle durcheinander. Natalja sprang erschrocken zur Seite. Smolny jedoch bewies einmal mehr die Kaltblütigkeit, für die er in der gesamten Liga bekannt war: ein Knopfdruck an
der Steuerkonsole seines Stuhls, und das Gefährt wirbelte um dreihundertsechzig Grad herum. Mit den Fußstützen fegte er die Barbarin von den Beinen. Die aber schnappte noch im Fallen nach Alexander Koboromajews Arm. Dessen Standfestigkeit war durch zu viel Voodka während des aufregenden Verhörs erheblich beeinträchtigt - er fiel wie eine morsche Birke unter der Axt. Ehe irgendjemand richtig begriff, was geschah, hockte die Barbarin mit gespreizten Beinen auf seiner Brust und schlug auf ihn ein. Ein Bild für die Götter, fand Natalja, und unter anderen Umständen hätte sie sich genügend Zeit genommen, es zu genießen, doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie Pjotr Smolny hinter sich griff und seinen Revolver hervorholte. »Runter von dem Mann!«, brüllte er. Hochrot war sein sonst so bleiches Gesicht. Er spannte den Hahn der Uralt-Waffe. Doch schon tauchte Drax neben ihm auf, riss ihm den Remington aus der Hand und schleuderte ihn hinter sich. Die Waffe schlug auf den Boden auf, schlidderte unter eine Liege. Ein Schuss explodierte, ein Querschläger heulte durch das Labor. Kaum jemand, der nicht schrie oder zumindest in die Hocke ging und seinen Kopf unter verschränkten Armen barg. Drax aber schlang seine Arme von hinten um seine Gefährtin, riss sie von der Brust des Dritten Subkommissars hoch und schleppte sie zu den Liegen. Dort drückte er sie gegen die Holzwand und redete flüsternd auf sie ein. Karina und zwei junge Ärzte knieten neben Alexander Koboromajew. Der blutete aus Nase, Mund und einer Platzwunde über dem Auge. Irgendjemand schleppte einen Notfallkoffer heran, ein anderer bückte sich nach Smolnys Remington. »Kriegen Sie Ihre Barbarin jetzt endlich gezähmt, Drax?!«, brüllte der General mit noch immer hochrotem Kopf. Der Commander fuhr herum. Aus schmalen Augen blitzte er den Ersten Subkommissar an. »Barbarin?! Barbarisch
haben ja wohl Sie sich verhalten! Ich hatte gehofft, fünfhundert Jahre hätten ausgereicht, um solche menschenverachtenden Methoden abzuschaffen! Aber die Menschheit wird es wohl auch in tausend Jahren nicht lernen!« Da Smolny nur die Fäuste ballte und schwieg, drängte Natalja sich an seinem Rollstuhl vorbei. Sie schaltete den Universal-Translator auf ihrer Brust ein. »Es tut mir Leid, Commander Drax«, sagte sie so sachlich wie irgend möglich. »Wir haben Ihnen Unrecht getan. Hiermit entschuldige ich mich im Namen des Subkommissariats und der Bewohner des Großen Peter.« »Schon okay, Ma’am. Machen Sie es wieder gut, indem Sie uns gehen lassen. Meine Gefährtin und ich brauchen jetzt frische, saubere Luft.« Die Barbarin beruhigte sich leidlich, und Drax ließ sie los. Wütend funkelte sie Natalja an. »Vorher aber geben Sie uns unsere Waffen und unsere Ausrüstung zurück!«, fügte der Mann aus der Vergangenheit hinzu. Wieder reagierte Pjotr Smolny. »Schon gut, Commander, schon gut!« Er hob die fleischigen Hände, streckte dem Blonden die Handflächen entgegen. »Ich an Ihrer Stelle wäre auch sauer. Verstehen Sie uns bitte: Wir orten ein vermisstes Fahrzeug, finden aber statt der erwarteten Besatzung bewaffnete Fremde an Bord. Welche Schlussfolgerung hätten Sie gezogen?« Der Mann aus der Vergangenheit antwortete nicht sofort. Eine paar Sekunden lang musterten sich die Männer prüfend. Endlich gab der Blonde nach. »Was bieten Sie uns?«, fragte er kühl. »Sie kriegen, was Sie wollen«, beeilte Smolny sich zu versichern. »Schnaps, Proviant, Ausrüstung. Auch der ARET bleibt in Ihrem Besitz. Nur bitten wir Sie, mit uns zusammenzuarbeiten. Jetzt, da wir abschätzen können, was Ihre Expedition zum Kratersee...« »Die Daa’muren?«, unterbrach ihn Matthew Drax. »Sind
Sie endlich so weit, die Existenz von Außerirdischen in Betracht zu ziehen? Bravo! Denn wenn nicht sämtliche Völker mit Hirn und Know-how auf der Erde zusammenhalten, werden die Daa’muren uns in wenigen Jahren, vielleicht schon Monaten überrollt haben.« »Wir sind bereit zur Kooperation«, erklärte der Erste Subkommissar. »Wir wollen auch Kontakt mit ihren Freunden aus Britana aufnehmen; vielleicht können Sie das arrangieren. Und auch mit diesen Leuten aus dem Regierungsbunker des ehemaligen Washington. Das bringt mich zu einer Frage: Wie ist es möglich, dass die Nordamerikaner ihre Bunkerstadt ohne Schutzanzüge verlassen können?« Der Commander war gelinde verblüfft. Er hatte selbst kaum mitbekommen, was da alles über den Monitor mit seinen Erinnerungen geflimmert war - aber es schien tiefen Eindruck auf die Russen gemacht zu haben. »Das hätte ich Ihnen schon vor Stunden erzählt, wenn Sie nicht diese Psycho-Spielchen durchgezogen hätten«, grollte Matt. Er rückte zwei Stühle zurecht, drückte die noch immer schmollende Barbarin auf einen und setzte sich neben sie. »Vorweg aber eine Warnung, General: Der Kontakt mit Washington ist nicht ratsam, ganz und gar nicht. Die USFührung unterscheidet sich nicht groß von einigen glorreichen Regierungen meiner Vorfahren: machtbesessene Neoimperialisten, wenn sie mir als Amerikaner diese selbstkritische Bemerkung erlauben. Interessant allerdings ist das Serum, mit dem sie ihr Immunsystem stabilisiert haben. Unter anderem dieses Serums wegen wollten wir Kontakt zu Ihnen aufnehmen, General...« Commander Matthew Drax berichtete. Nach und nach versammelten sich alle Anwesenden um ihn und die Barbarin und lauschten der quäkenden Stimme des UniversalÜbersetzers. Und diesmal glaubte ihm Natalja jedes Wort. Der General - er schien nervöser als die Umstände es erklären mochten - war der Einzige, der hin und wieder zur
Digitaluhr über dem Portal lugte: 23:24 Uhr. * »... und Sie meinen, diese... diese...« Dragurowka Bassutschok schnippte mit den Fingern. »Na, wie nannten sie die Mutanten gleich?« »Keine Mutanten«, korrigierte Mr. Black geduldig. »Außerirdische. Sie nennen sich selbst Daa’muren. Vermutlich nach dem Planeten, von dem sie vor weiß der Henker wie vielen Jahrtausenden oder Jahrmillionen aufgebrochen sind.« Er trug jetzt einen Schutzanzug. Seit etwa einer halben Stunde stand er ihr Rede und Antwort. »Daa’muren also.« Die Gouverneurin nickte langsam. Mit der Spitze ihres schwarz lackierten Zeigefingers tippte sie sich nachdenklich an die Unterlippe. »Und diese Daa’muren sollen angeblich mit dem Kometen ›Christopher-Floyd‹ zur Erde gekommen sein...?« »Das ist so gut wie sicher, Ma’am«, bestätigte Mr. Black. Er versuchte das scharfgeschnittene und nichtsdestotrotz schöne Gesicht der Frau im Blick zu behalten, ihre schwarzen und leicht geröteten Augen. Inzwischen hatte sie sich nämlich aus ihrem Schutzanzug geschält und trug einen hautengen roten Anzug aus Seide, der ihre tätowierten Schultern halb aussparte. Nicht das gelbe Hammer-undSichel-Symbol auf ihrer Brust zog Blacks Blicke magisch an, sondern ihre fraulichen Formen, die sich geradezu aufdringlich unter der Seide wölbten. Für Mr. Black, der jahrelang nur für die Ideale der Running Men gelebt und sich nie eine Liaison, geschweige denn ein feste Beziehung gestattet hatte, war dies schon der zweite Fall innerhalb weniger Wochen, in dem die Reize einer Frau auf sein Gefühlsleben wirkten. Kurz musste er an die Metropolitin in der Hafenstadt Nydda denken; eine starke, kämpferische Frau, die ihm so ähnlich gewesen war. Schon bei ihr war die Versuchung in ihm hochgebrodelt, aber er
hatte widerstanden. Wollte ihn das Schicksal prüfen? Fast hatte es den Anschein. Denn auch Dragurowka Bassutschok betrachtete ihn so unverhohlen, dass ihm heiß und kalt wurde. Von irgendwoher hörte man den Panzermotor summen. Manchmal vibrierte der Boden, manchmal wurden sie hin und her geschaukelt. Black fragte sich, warum sie nicht vorn in der Kommandozentrale bei den anderen waren. Warum ließ sie sich hier berichten, in ihrer kleinen Privatkajüte im Mittelteil des Panzers? Weil sie keine Zeugen wollte? Oder weil man auf der Couch sehr eng beieinander saß? »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mr. Black, dann glauben Sie, dass diese... Daa’muren ihren Intellekt, ihre wie soll ich sagen? - ihre Seele in diesen Kristallen gespeichert haben und sich nun einen neuen Körper schaffen?« Natürlich bemerkte sie seinen inneren Kampf, oder vielmehr seine Niederlagen: Ständig wanderten Blacks Augen von Ihrem Gesicht weg zu ihren Brüsten und ihren Hüften. Sie rückte näher. Mr. Black biss die Zähne zusammen und bewahrte Haltung. »Einen Trägerorganismus, so ist es. Sie suchen schon ein halbes Jahrtausend nach einer geeigneten Lebensform, daher die vielen Mutationen rund um den Erdball. Nun sind sie wohl zu einem Ergebnis gelangt.« Er schauderte, als er an die Vorgänge am Kratersee dachte. »Wir haben die Höhle entdeckt, in der sie die ersten fünfzig Exemplare dieser neuen Spezies ausbrüten. Sie sind so gut wie fertig. Und wenn die Übernahme klappt, Gnade uns Gott. Dann wird es gewiss nicht bei fünfzig Exemplaren bleiben. Wir schätzen die Menge der Kristalle allein im Kratersee auf mehrere Milliarden.« »Eine außerirdische Rasse, die neuen Lebensraum erobern will... hm.« Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Wenigstens bedachte sie ernsthaft, was eigentlich zu ungeheuerlich klang, um ernst genommen zu werden. Der Translator übersetzte
jetzt nicht nur fehlerfrei, sondern ahmte sogar ihre raue Altstimme nach. »Sie werden zugeben, dass Ihre Nachrichten ein Zumutung für den gesunden Menschenverstand sind. Allerdings -«, sie neigte den Kopf, und wieder dieser prüfende Blick, »... was Ihren Freund aus der Vergangenheit betrifft, so deckt sich Ihr Bericht mit Informationen, die uns vor einem Jahr aus Helsinki erreichten. Kennen Sie einen gewissen Professor Dr. Jakob Smythe?« »Dem Namen nach«, antwortete Mr. Black wahrheitsgetreu. »Ich hatte noch nicht das zweifelhafte Vergnügen.« »Nun, das ist eine andere Geschichte. Weit mehr interessiert mich etwas anderes.« Sie zog die Beine auf die Couch und legte den linken Arm um Black. Mit der Rechten streichelte sie erst über seine Schulter, dann über seinen Oberarm. »Was für Muskeln Sie haben!« Durch das Material seines Schutzanzuges drückte sie an seinem Bizeps herum. »Unglaublich!« Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie Blacks Brustmuskulatur erkundete. »Schade nur, dass Sie in unseren Räumlichkeiten dieses verdammte Ding tragen müssen.« Ihre Zungenspitze fuhr über ihre Oberlippe, als hätte sie Appetit. »Finden Sie nicht auch?« Das Schicksal wollte ihn prüfen, kein Zweifel! Ein Ruck ging durch den Rumpf des Panzers, das Summen des Motors verstummte. »O ja, Ma’am.« Das Atmen fiel ihm schwer. »Wenn Sie mich so direkt fragen... wahrhaftig schade, wirklich...« Er fragte sich, was das wohl für Tätowierungen sein mochten, die ihre braunen Schultern bedeckten und unter der roten Seide verschwanden. »Sehen Sie, Mr. Black, und deswegen...« Ihre Hand kreiste längst über seinem Bauch. »... deswegen interessiert es mich natürlich, wie Ihresgleichen ohne Schutzanzug die Oberwelt besuchen kann.« Ihre Augen nahmen einen lauernden Ausdruck an. Sie öffnete ihren Anzug, sodass er ihre Brüste und die Tätowierungen sehen konnte.
Mr. Black antwortete nicht sofort, o nein! Die Frau mochte ihn erregen, und ohne den verdammten Schutzanzug hätte sie es sogar fertig gebracht, ihn zu verführen - aber er war nicht der Mann, der einen Verhandlungsjoker so mir nichts, dir nichts aus der Hand gab. Sorgfältig wog er seine Worte ab. »Es gibt ein Serum, das in der Lage ist, ein defektes Immunsystem zu regenerieren«, sagte er schließlich. »Ich kann dieses Serum beschaffen, unter der Bedingung, dass sich Ihr Bunker einer Allianz gegen die Daa’muren anschließt. Gegen die Bedrohung vom Kratersee müssen wir alle...« Die Stimme aus einem nicht sichtbaren Lautsprecher unterbrach ihn: »General Cippulacz hier. Es ist 23:29 Uhr, Gouverneurin. Die Abschussrampen sind ausgefahren, die Geschosse startbereit. Wollen Sie der Mission beiwohnen, Werteste?« »Du wirst das schon regeln, mein Generälchen«, sagte sie mit einem kalten Lächeln um ihren breiten Mund. »Schafft das Problem aus der Welt. Und berichtet mir, wenn der Job erledigt ist.« Mr. Blacks Testosteronspiegel rauschte in den Keller, sein Adrenalinspiegel himmelwärts. »Was für Geschosse?! Was für ein Job?!« Er packte die Bassutschok an den Schultern. »Was für ein Problem?!« Sie legte ihre Hände auf seine Handschuhe, machte aber keine Anstalten seine Arme wegzudrücken, sondern zog seine Hände im Gegenteil zu ihren Brüsten herab. »Ich sagte Ihnen doch, dass ich im Begriff bin, die Leute zu bestrafen, die Sie überfallen haben. Sie sind mir schon lange ein Dorn im Auge.« Sie sagte das lächelnd, ohne sichtbare Anspannung, so gleichgültig wie jemand, der sich anschickt eine Kakerlake zu zertreten. »Abschussrampe? Geschoss?« Mr. Black sprang auf und riss die Frau mit sich hoch. »Das klingt nach einer ziemlich radikalen Bestrafung!« »Aber natürlich!« Fast erstaunt wirkte sie jetzt. »Ich habe
alte Nuklearwaffen gefechtsbereit machen lassen. Perm I wird zerschmelzen und verdampfen.« »Das darf nicht geschehen!« Black schrie sie jetzt an. »Vielleicht sind meine Gefährten in diesem anderen Bunker!« »Zu spät, Mr. Black...« »Commander Drax hat das Serum!«, log Mr. Black. »Wenn er stirbt, stirbt Ihre Chance!« Ihr Haut wurde plötzlich schmutziggrau. »Ist das wirklich wahr...?«, flüsterte sie. Mr. Black stürzte aus der Privatkajüte und zwängte sich in den Gang zum Kommandostand. »Abbrechen...!«, brüllte er. »Beschuss sofort abbrechen...!« Doch als nur eine Sekunde später ein grelles Licht aufflammte und er geblendet die Augen schloss, wusste Mr. Black, dass nichts mehr zu retten war. Er enterte den Kommandostand. Dort starrten alle aus der Frontkuppel. Taghell war die Nacht im Norden. Ein Feuerball blähte sich in der Ferne auf. »Ihr Wahnsinnigen!« Mr. Black wusste nicht, ob er schreien oder flüstern sollte. »Was treibt ihr für ein perverses Spiel?!« Er fuhr herum, packte die Gouverneurin, die ihm gefolgt war, und schüttelte sie. »Verdammte, ihr seid ja irre ! Allesamt seid ihr irre! Wisst ihr überhaupt, was ihr getan habt?!« »Hände weg von der Gouverneurin!« Oberst Juri Solomatin war aus dem Pilotensessel gesprungen. Eine Waffe lag in seiner Rechten. Über ihnen im Kommandostand schlüpfte Professor Ruslan Raspanuwitsch in seinen Schutzanzug. Sehr eilig hatte er es. »Schieß mir doch ein Loch in den Anzug, wenn du dir eine Lungenentzündung holen willst!« Mr. Black packte die Gouverneurin noch fester. Die Bassutschok schien das nicht weiter zu stören. Sie ließ sich sogar gegen Blacks breite Brust sinken, dabei hielt sie ein Mikro an die Lippen. »Ural Drei an Ural Neun, stoppen Sie den Marschflugkörper!«, keuchte sie. »Ural Drei an Ural
Neun, Aktion sofort abbrechen!« »Warum denn? Ist doch sowieso zu spät!«, krächzte die Stimme des Generals aus einem verborgenen Lautsprecher. »War das nicht ein schönes Feuerwerk? Und das zweite wird noch hübscher! Was ist denn los bei euch da drüben?« Keiner antwortete ihm, alle starrten sie durch die Frontkuppel nach Norden. Ein Feuerstrahl schoss durch die Nacht. Alle? Nein: Ruslan Raspanuwitsch drückte sich durch die Luke der Kommandozentrale in Richtung Frontschleuse. Er nestelte am Verschluss seines Helmes herum. »Das ist seltsam«, krächzte die Stimme General Cippulaczs aus dem Lautsprecher. »Wir haben hier eine Verzögerung. Der Marschflugkörper müsste eigentlich schon eingeschlagen haben.« Oberst Solomatin starrte auf den Monitor des Navigationsrechners. »Die ballistische Rakete...«, flüsterte er. »Sie hat das Ziel verfehlt... ist viel zu weit nördlich explodiert, irgendwo am Nordufer des Kams’koe-Sees...« »Waas?!« Dragurowka Bassutschok riss sich von Mr. Black los und stürzte zum Monitor. »Verdammt!«, brüllte plötzlich der Copilot. Er deutete auf den Radarschirm, seine Stimme überschlug sich. »Seht euch den Kurs des Marschflugkörpers an!« »Das Scheißding kommt zurück!«, krächzte es aus dem Lautsprecher. »Zurück? Zu uns...?« Zwischen Pilotenund Copilotensessel sank die Gouverneurin vor der Instrumentenkonsole in die Knie. »Wie kann das sein...?« Sie fuhr herum. »Wie kann das sein?!«, brüllte sie zum leeren Kommandostand hinauf. Und dann leise, fast erschrocken: »Wo ist Ruslan? Wo ist mein Professorchen...?« »Der Allmächtige sei uns gnädig«, winselte eine Altmännerstimme aus dem Lautsprecher. »Heiliger Puutin, steh uns bei...« Mr. Black wusste nicht, wie ihm geschah. Zu rasch war der
Wechsel von Stimmung und Umständen; sein Gefühl kam nicht mit. Sein Verstand schon. »Idioten!«, schrie er, während der glühende Punkt auf dem Monitor und jenseits der Sichtkuppel rasend schnell größer wurde. »Schießt das Ding doch endlich ab!« Zu spät: Wie ein glühender Pfeil rauschte das Geschoss aus der Dunkelheit heran. Alle warfen sich zu Boden, bargen die Köpfe in den Armen. Der Panzer bebte, dann ein ohrenbetäubender Knall, dann trommelte es wie Hammerschläge von außen gegen den Rumpf, und dann... Stille. Eine Zeitlang geschah überhaupt nichts. Mr. Black war der Erste, der den Kopf hob. »Hatten Sie nicht was von einem Nuklear-Sprengkopf gesagt?« Major Marek Bak, der Copilot, sprang auf, trat an die Konsole. Seine Finger tanzten über die Tastatur. »Keine radioaktive Strahlung, nur minimale Hitzeentwicklung! Der Sprengkopf ist nicht explodiert...« »Diese Versager!« Dragurowka Bassutschok rappelte sich hoch und griff zum Mikrofon. »Ural Drei an Ural Neun, kommen!« Niemand meldete sich. »Ural Drei an Ural Neun, kommen!« Wieder und wieder funkte sie den AMOT von General Konstantin Cippulacz an. Sie erhielt keine Antwort... * Das Serum, das Serum, und immer wieder das Serum - sie konnten gar nicht genug davon hören. Matthew Drax berichtete: Wie der Weltrat in Washington vor etwas über dreißig Jahren die eingefrorenen Genproben des letzten USPräsidenten Schwarzenegger benutzt hatte, um einen Klon zu züchten. Wie man aus dessen gewissermaßen antiken Zellen, die unbeeinflusst waren von Degeneration, CF-Strahlung und Immunschwäche, das Serum entwickelt hatte. Und auf welch
eigennützige Weise die Bunkerkolonisten in Nordamerika es seither anwandten - nämlich ausschließlich bei den Mitgliedern des Weltrates. Was in ihrer Philosophie begründet lag, alle anderen Gruppen und Zivilisationen klein und schwach zu halten, um selbst die Oberhoheit auszuüben. Matt verzichtete darauf, auch noch von den Nord- und Ostmännern zu berichten, die im Auftrag der WCA andere Völker terrorisierten. Aller Augen hingen an seinen Lippen, mit allen Sinnen sogen die russischen Technos den Bericht auf - für sie das reinste Evangelium. Die Vorstellung, eines nicht mehr fernen Tages ohne Schutzanzug ihre Bunkerstadt verlassen und wieder auf der Erdoberfläche leben zu können, diese Vorstellung erregte sie aufs Äußerte. Natalja Sem strömten die Tränen über die Wangen, und selbst hinter den Brillengläsern des fetten Rollstuhlfahrers sah Matt es feucht schimmern. »Ein Handicap ist allerdings, dass das Serum in einer ständigen Infusion dem Körper zugeführt werden muss«, führte er weiter aus. »Deshalb tragen die Weltrat-Leute kleine Kunststoffbeutel am Körper, die meines Wissens alle drei, vier Monate ausgetauscht werden müssen. Setzt die Versorgung auch nur für wenige Stunden aus, bricht das Immunsystem wieder zusammen.« Obwohl es Ausnahmen gab, wie sich Matt ins Gedächtnis rief. Damals, auf dem Weg quer durch die Ex-USA waren er und Aruula auf überlebende WCA-Agenten getroffen, deren Immunsystem nach dem Wegfall des Serums quasi »von selbst« angesprungen war. »Haben Sie eine Probe bei sich?«, kam eine Frage aus der menge, die sich um Matt gebildet hatte. »Nein. Aber die Herstellung kann vor Ort erfolgen. Dazu ist nur etwas Blut nötig, und natürlich das Know-how.« »Wessen Blut?« »Haben Sie dieses Know-how?« Matt hatte auf diese Fragen gehofft. »Wir haben den Mann
bei uns, aus dessen Blut damals das Serum hergestellt wurde«, antwortete er. »Deshalb sollte für Sie oberste Priorität sein, Mr. Black zu finden und wohlbehalten herzubringen.« Seine Vermutung, dass sein eigenes Blut wohl ebenso geeignet war und die russischen Wissenschaftler mit etwas Nachdenken selbst auf die Formel für das Serum kommen würden, behielt er für sich. Seine angebliche Unentbehrlichkeit war für Black die beste Überlebensgarantie. Jemand reichte dem General ein Sprechterminal. »Die Kommunikationszentrale, Exzellenz.« In der Leitung musste ein Gesprächspartner mit ebenfalls außergewöhnlich guten Nachrichten sein, denn je länger Smolny zuhörte, desto triumphierender lächelte er. »Danke«, sagte der General schließlich. »Lassen Sie sechs Panzer startklar machen. Auch meinen eigenen.« Er reichte das Gerät an einen der Ärzte und blickte mit fast feierlicher Miene in die Runde. »Sie hat es gewagt«, verkündete er. »Die Bassutschok hat es tatsächlich gewagt, den Großen Peter mit Nuklearwaffen anzugreifen! Das ist ihr Ende!« Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Reihen. Natalja Sem sprang hoch und riss die Augen auf, Alexander Koboromajew nahm den Eisbeutel vom Auge und streckte die Hand aus, bis ihm jemand ein flache Flasche hinein drückte. Alle gestikulierten wild und redeten durcheinander. »Was ist eine Nuklearwaffe?«, zischte Aruula an Matthews Ohr. »Eine fürchterliche Bombe aus Orguudoos Waffenkammer«, raunte er zurück. »Wenn man nicht verdampft oder verbrennt, wird man nach ihrer Explosion so krank wie Pieroo. Zu meiner Zeit war die Erde voll von den Dingern.« Und dann an Pjotr Smolnys Adresse: »Ich verstehe nicht ganz, Sir - wer hat Sie mit Nuklearwaffen angegriffen und warum leben wir noch?« Der Mann im Rollstuhl berichtete, und der Commander
erfuhr von der Existenz einer zweiten Bunkerstadt am Fuß des Urals. »Perm II liegt zwischen den Ruinen Perms und dem Kams’koe-See«, erklärte Natalja Sem, »etwa fünfzig Kilometer entfernt. Es sind Moskawiter, faseln von Freiheit und lassen sich von einer Tyrannin am Nasenring führen.« Sie schnitt eine verächtliche Miene. Alexander Koboromajew, der so genannte Dritte Subkommissar, starrte finster auf die Flasche in seiner Hand. »Moskawiter?« Der Mann aus der Vergangenheit begriff überhaupt nichts mehr. »Und Sie, was sind Sie?« »Wir halten es mehr mit den Freunden in Sankt Petersburg«, beschied ihm Natalja. »Die Russische Bunkerliga ist keine einheitliche Organisation«, erklärte General Smolny, der Matts Stirnrunzeln richtig deutete. »Wir sind eine Förderation, müssen Sie wissen, und die Zentralregierung - zurzeit sitzt sie in Moskau - hat keine direkte Befehlsgewalt. In Petersburg glaubt man, die drängenden Probleme nur mit einer starken Zentralgewalt lösen zu können. Auch wir hier im Großen Peter sind dieser Meinung, und mit uns noch fünf weitere Bunkerstädte der ehemaligen russischen Republik. Zwölf Bunkerstädte allerdings halten es mit der politischen Fraktion in Moskau: Dort besteht man auf die Unabhängigkeit der einzelnen Bunkerkolonien, also auf die föderale Struktur der Liga...« »... für das Miststück in Perm II nur ein Vorwand, um ihre Lagerräume mit Voodka und gefrorenem Fisch zu füllen«, zischte Koboromajew. »Und zwar auf unsere Kosten...« »... und ihr Bett mit Männern«, ergänzte Natalja Sem mit verächtlichem Seitenblick auf Koboromajew. Matt und Aruula schauten verwirrt von einem zum anderen. »In der Tat«, bestätigte der General. »Die Tyrannin hat ein gemeinsam genutztes Schnapslager geplündert und an die fünfhundert Fässer Voodka nach Perm II bringen lassen. Außerdem hält sie große Teile des Seeufers besetzt, sodass uns nur der südliche Flusslauf zum Fischen bleibt. Sie
müssen wissen, dass Fisch unser wichtigster Eiweißlieferant ist. Auch die Barbaren aus den Wäldern hält sie mit Waffengewalt von den Ufern fern, die Leute hungern schon. Wir beschäftigen die Fähigsten von ihnen als Späher. Tja, und tatsächlich ist die Bassutschok auf dem Weg über verschiedene Betten bis zur Regierungsspitze gelangt. Zuletzt durch das meines verehrten Kollegen.« Er wies auf den Dritten Subkommissar. »Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls ist Alexander Koboromajew der rechtmäßige Gouverneur von Perm II.« Die Interna hörten sich an, wie Hintergrundberichte von Geschichtsschreibern beliebiger Menschheitsepochen sich nun einmal anhörten; den Commander ließen sie kalt. Etwas anderes regte ihn weit mehr auf. »Und diese Frau geht tatsächlich so weit, einen Bunker der Liga mit Atomwaffen...?« Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Und wieso haben wir den Angriff nicht bemerkt?« »Unsere Späher und unsere Radarstation haben ihn bemerkt, Commander Drax!«, sagte der General. »Bemerkt und dokumentiert, verlassen Sie sich darauf! Wenn wir das Problem Bassutschok in wenigen Stunden aus der Welt geschafft haben, werden wir dem Kommissar in Moskau jederzeit beweisen können, was geschehen wäre, wenn unser Mann in Perm II den Zielpunkt der ballistischen Rakete nicht umprogrammiert und wenn ein Doppelagent das Leitsystem des Marschflugkörpers nicht manipuliert hätte.« »Aus der Welt schaffen?« Aruula versprühte zornige und zugleich fragende Blicke in die Runde. »Ihr wollt die Frau töten?« »Sie sollte längst tot sein.« Der Erste Subkommissar machte eine ratlose Miene. »Einer unserer wichtigsten Spezialisten, ein Doppelagent, wie gesagt, hat dafür gesorgt, dass der Marschflugkörper zu seiner Abschussrampe zurückkehrt.« Bedauernd hob er die fleischigen Hände. »Nur leider hat er dort längst nicht den erhofften Schaden angerichtet.« Natalja Sem, bis zu diesem Augenblick sprachlos vor
Verblüffung, schlug sich die Faust in die Handfläche. »Mist, verdammter! Wie kann so etwas passieren?!« »Frag mich nicht, Natalja.« Und an Matts Adresse: »Für Sie und uns alle übrigens Glück im Unglück, Commander. Ihr Mr. Black hält sich nämlich im Flaggpanzer der Tyrannin auf...« »Was sagen Sie da?!« Matt und Aruula sprangen gleichzeitig auf. »Keine Sorge, wir werden ihn befreien«, sagte Pjotr Smolny. »Soeben wird eine kleine Panzerflotte in Bewegung gesetzt. Die Bassutschok hat keine Chance.« »Ich warne Sie, General!« Matt pflanzte sich vor dem Rollstuhl des fetten Mannes auf. »Nehmen Sie die Frau von mir aus gefangen, aber vermeiden Sie den Einsatz von Waffen!« Sein Zeigefinger stach nach dem Subkommissar. »Wenn Mr. Black etwas zustößt, können Sie das Serum vergessen!« Natalja Sem und der Erste Subkommissar verständigten sich durch einen kurzen Blick. »Also gut«, sagte Smolny schließlich. »Wenn sie sich gefangen nehmen lässt, können wir sie vor ein Gericht der Bunkerliga stellen. Ich werde sofort Sankt Petersburg und Moskau informieren.« »Fahren Sie doch einfach mit, Drax«, schlug Natalja Sem vor. »Dann können Sie uns helfen, Ihren Freund vor Schaden zu bewahren. Ich lade Sie und Ihre...« Sie schürzte die Lippen und musterte Aruula. »... und Ihre Frau in meinen Flaggpanzer ein.« * Der Taikepir warf den Schädel auf und ab. Merkwürdig unruhig verhielt sich das Tier seit einigen Minuten. »Still, Mooby, ganz still«, zirpte die blecherne Stimme seines Reiters. Dr. Nikati Rostows optisches System suchte Wälder, Hügel, Flusslauf und Ruinen unterhalb des Berghangs ab. Nichts. Der Encephalorobotowitsch vergrößerte seine Linsen
bis zum Anschlag. Nichts. Den Nachtsichtmodus hatte er längst aktiviert, nun schaltete er auch noch die Infrarotsensoren dazu. Nichts. Kein Lichtblitz, kein Atomfeuer, kein glühender Dampfpilz. Allerdings konnte er dort unten am Südrand der Ruinen, fünf oder sechs Kilometer entfernt am Flussufer, nur noch einen Lichtpunkt ausmachen, statt zwei wie noch vor wenigen Minuten. Auch eine Wärmequelle hatte er geortet, eine, die zu intensiv für Menschen und Reaktor und viel zu schwach für einen Explosionsbrand war. Rostow schloss daraus, dass der Marschflugkörper zwar einen der Panzer getroffen hatte, aus irgendeinem Grund aber nicht detoniert war. »Schade, Mooby. Wirklich schade.« Rostows kunststoffverkleidete Metallfinger flogen über die Tastatur des mobilen Rechners, mit dem er sich in die Steuerelektronik des Geschosses eingeloggt und den Flugkörper zu seiner Startrampe zurückgelenkt hatte. Das Display erlosch, Rostow klappte es zu, zog das Verbindungskabel, das ihn mit dem Rechner verband, aus der Brustplatte und steckte das Gerät in die Satteltasche. »Einfach nicht explodiert, wie schade.« Das Nackenfell des Bärenmutanten sträubte sich, er knurrte. »Finde ich auch, Mooby«, sagte Rostow. Auf die Idee, dass er sein Tier ausnahmsweise einmal missverstehen könnte, kam er nicht. Das unterhalb seiner metallenen Hirnbasis integrierte Funkmodul sandte ein optisches Signal in Rostows Sehzentrum. Kraft seines Willens aktivierte er es. »Ural Drei an Dr. Rostow, kommen.« Synchron wurde der Code entschlüsselt und die ausgehende Nachricht verschlüsselt. Die Verbindung kam über die Funkkette zustande, die Kosak Sieben gelegt hatte. Noch waren deren Energiespeicher nicht erschöpft. »Ich höre, Dragurowka.« »Es ist schief gegangen.« Ihre Stimme klang atemlos. »Pfusch, elender Pfusch! Wir haben Ural Neun verloren.
Konstantin Cippulacz, mein General, ist tot...« »Wie bedauerlich.« Der Encephalorobotowitsch meinte das genauso ernst, wie er es sagte. Weit lieber wäre ihm gewesen, wenn Cippulacz ihm den Tod der Tyrannin gemeldet hätte. »Nun musst du es tun, mein Doktorchen! Geh und erschieße sie! Geh und bring mir alle drei Köpfe!« »Verstanden. Ich werde allerdings einige Stunden für den Rückweg brauchen. Ende.« Er blickte nach Norden, dorthin wo die Menschen unter der Erde lebten, nach deren Köpfe es die Bassutschok verlangte. Hatte ihr Befehl nicht etwas Obszönes? Gestern noch war sie bereit gewesen, mit dem Großen Peter auch ihn zu pulverisieren. Wenn Ruslan Raspanuwitsch nicht eingegriffen hätte... Wieder ein optisches Signal, diesmal unter einem anderen Code. »Großer Peter an Kosak Eins, kommen.« Pjotr Smolnys Stimme. »Kosak Eins hört.« »Was ist schief gelaufen?« »Das Wesentliche hat funktioniert - ihr lebt noch.« »Aber der Sprengkopf ist nicht explodiert.« »Wahrscheinlich hat ihn jemand ausgebaut, um ihn gegen Voodka zu versetzen. Der Träger hat wie vorgesehen einen AMOT getroffen, leider den falschen.« »Dragurowka Bassutschok lebt also noch?« »Korrekt, Pjotr.« »Wir ziehen jetzt alle Register, Nikati. Natalja und Alex sind mit sechs Panzern unterwegs, um sie gefangen zu nehmen oder zu eliminieren. Moskau gegenüber wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir sie vor ein Gericht stellen könnten. Unseren Mann in Perm II kann ich im Moment nicht erreichen, vielleicht ist er längst tot. Er geht noch davon aus, dass die Tyrannin eliminiert werden muss. Lass uns auf Nummer sicher gehen, das Luder ist zäh. Noch vertraut die Tyrannin dir, Nikati - was also spricht dagegen, dass du dich des Jobs ebenfalls annimmst?« »Im Prinzip nichts.«
»Danke, und viel Glück. Ach ja: Schone unbedingt den Fremden, der sich bei ihr aufhält, einen gewissen Mr. Black. Er ist lebensnotwendig für uns.« »Lebensnotwendig?« »Später mehr darüber. Ende.« »Du machst mich neugierig. Ende.« Rostow kannte Smolny seit fast siebzig Jahren. Wenn der General lebensnotwendig sagte, dann meinte er lebensnotwendig. Nikati Rostow war gespannt. Zwischen seinen Stahlbeinen bebte der Körper des Bärenmutanten. »Was ist los heute Nacht, Moobydik? Was macht dich so nervös?« Noch ein Blick nach Norden, dann einer nach Südwesten, wo der einsame Lichtpunkt in der Dunkelheit leuchtete. Der Encephalorobotowitsch hieb dem Taikepir die Stahlplatten seiner Füße in die Flanken. Er lenkte ihn hangabwärts. Der Koloss knurrte, schüttelte sich. »Ist ja schon gut!«, beruhigte Rostow das Tier. »Wir reiten heim.« So entging er unwissentlich einem Schicksal, das für sein Reittier auf den Feuerstellen und in den Mägen der Mutantenarmee und für ihn selbst in der Zerstörung seines Metallkörpers geendet hätte. Nikati Rostow blickte nicht mehr zurück, als er die Bärenbestie den Hang hinab nach Westen lenkte. Andernfalls hätte er vermutlich die ersten Gestalten auf dem Kamm auftauchen gesehen. Es waren Mutanten; unzählige Mutanten. An ihrer Spitze schritt Bulba’han. Ihr Ziel war von den Herren bestätigt worden: Verfolgt und vernichtet den Feind, den Mefju’drex. * »... aber doch nicht mit Atomwaffen!« Mr. Black schlug mit der Faust auf die Lehne des Pilotensessels. Oberst Solomatin, Major Bak und die Gouverneurin schlüpften in ihre Schutzanzüge. »Was mischen Sie sich
ein?!«, keifte die Bassutschok, während sie sich den Helm überstülpte. »Sie haben ja keine Ahnung! Koboromajew ist ein Weichei, ein Versager, und ein dreckiger kleiner Dieb dazu! Fünfzig Fässer Voodka hat er mitgehen lassen! Betrogen hat er mich mit dieser Schlampe aus Perm I, dieser Sem! Und ständig die stinkenden Barbaren an den Ufern, die einem den Fisch und die Krebse wegfressen und ins Wasser pissen und scheißen! Er hat nichts getaugt als Gouverneur, nichts!« Sie wandte sich an die Panzerpiloten. »Stimmt’s etwa nicht?!« Beide nickten in ihren Helmen, Juri Solomatin grimmig, der Major flüchtig. Die Luke zur Schleuse öffnete sich. »... aber deswegen beschieße ich doch nicht eine ganze Stadt mit Atomwaffen!« Black trat gegen das sich wieder schließende Schott. Er war unglaublich wütend. »Tausende von Menschen einfach mit einer Nuklearbombe auslöschen!« »Wir haben unsere eigene Methode, mit Problemen umzugehen, kapieren Sie das nicht?!« Nacheinander traten sie in die Schleuse. »Massenmord nennen Sie Methoden?« »Es geschah für die Freiheit!« Die Frau sprach jetzt eine Spur leiser. »Einzig für die Freiheit. Die Wirrköpfe aus Perm I wollten uns unter die Diktatur der Bürokraten aus Sankt Petersburg zwingen! Wollten uns versklaven, begreifen Sie das nicht? Es war also eine reine Präventivmaßnahme!« Die Innenluken schlossen sich. »Ein Massaker nenne ich das!« Black hatte seinen Driller entsichert. Das Lasergewehr hing über seiner Schulter. Diesen Leuten traute er jede Schweinerei zu. »Ich verbitte mir diese Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten!«, zischte die Gouverneurin. Das Außenschott der Schleuse öffnete sich. »Für mich sind Sie um keinen Deut besser als die Verbrecher der WCA!«, fauchte Black zurück. »Eine verdammte Mörderin!« Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die Bassutschok zu erschießen. Schon um einer
ganzen Generation von Untergrundkämpfern hier in Perm ein ähnliches Schicksal wie das der Running Men in Waashton zu ersparen. Sie ahnte wohl seine Gedanken, denn sie äugte misstrauisch nach seinen Waffen. »Ist das der Dank für meine Gastfreundschaft?« Eine Nuance Weinerlichkeit mischte sich in ihre Stimme. Sie traten in die Nacht hinaus. Rauchschwaden hingen über dem Panzer. Am Heck stapften Gestalten in Schutzanzügen zwischen Trümmern herum - das Personal der Geschützbatterie. Einige kümmerten sich um Verletzte. Mr. Black öffnete den Verschluss seines Helms, nahm den Kunstglaskonus ab und warf ihn hinter sich in die Schleuse. Kein noch so hoher Hormonspiegel würde ihn zurück in diesen Panzer bringen. Sie liefen um den Bug von Ural 3 und sahen die Bescherung: Ural 9 war ein rauchender, brennender Trümmerhaufen. Tote lagen zwischen verbogenen Metallteilen. Fassungslos starrten die Piloten und die Gouverneurin das Wrack an. »Nehmt die Arme hoch und geht ein Stück weg von ihr«, sagte da plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren herum. Dreißig Schritte entfernt, am Rand des Scheinwerferkegels von Ural 3, stand Ruslan Raspanuwitsch im Hügelgras. Er zielte mit einer kurzläufigen, klobigen Waffe auf die Gouverneurin. Das Ding sah gefährlich nach einem Laserstrahler aus. Vorsichtshalber trat Mr. Black zwei Schritte zur Seite. »Aber Ruslan, mein Professorchen?« Die Bassutschok staunte den bewaffneten Wissenschaftler an. »Ich verstehe nicht...« »Verdammte Kepirscheiße!«, fluchte Marek Bak heiser. »Er arbeitet für Perm I.« »Oberst Solomatin, Major Bak - weg von ihr!«, wiederholte Raspanuwitsch. Zögernd kamen die beiden Piloten dem
Befehl nach. »Dragurowka Bassutschok, in Verletzung der bilateralen Bündnisverträge zwischen Perm II und dem Großen Peter aus dem Jahre 2356 hast du die Alleinherrschaft in Perm II an dich gerissen. In Verletzung der Grundcharta der Russischen Bunkerliga aus dem Jahre 2433 hast du darüber hinaus ein Mitglied der Liga mit Vernichtungswaffen angegriffen.« In Blacks Ohren klang das alles wie die Verlesung einer Anklageschrift, und so etwas Ähnliches sollte es wohl auch sein. »Im Auftrag des rechtmäßigen Gouverneurs von Perm II vollstrecke ich hiermit das Todesurteil an dir.« Später hätte Mr. Black schwören können, dass alles gleichzeitig geschah: Aus Raspanuwitschs Waffe löste sich ein Strahl, Bak sprang zu seiner Gouverneurin und stieß sie zu Boden, Solomatin riss eine Faustfeuerwaffe aus irgendeiner Tasche seines Schutzanzuges, Rauschen erfüllte die Nachtluft, Sturm schien das Gras niederzudrücken - und Raspanuwitsch löste sich vom Boden und flog auf einmal über den nächtlichen Hügel. Auch Mr. Black begriff nicht sofort, aber doch schneller als die Russen. »In den Panzer!«, brüllte er. »Rettet euch in den Panzer!« Natürlich flog Ruslan Raspanuwitsch nicht wirklich; er hing in den Tentakeln einer fliegenden Bestie - eines Rochens! Todesrochen? Hier?! Black jagte ein Explosivgeschoss aus seinem Driller in den riesigen Schatten über dem armen Kerl. An die Karosserie des Panzers gepresst, schob er sich am Bug entlang Richtung Schleuse. Der Schatten mit Raspanuwitsch in den Fängen verschwand in der Dunkelheit, das Geschrei entfernte sich und verstummte, als der Rochen - von Blacks Geschoss zerrissen - abstürzte und Raspanuwitschs Körper unter sich begrub. »Nehmen Sie mich mit, Black!«, kreischte die Gouverneurin hinter ihm. »Bitte, Black! Nehmen sie mich mit!« Sie lag im Gras. Raspanuwitschs Treffer hatte einen
Spalt in ihren Helm geschmolzen. Ein dampfender Riss in ihrem Anzug zog sich quer über ihren Rücken. Von den beiden Piloten war keine Spur mehr zu sehen. Nur Solomatins Waffe lag neben der Verletzten. Wieder Rauschen, wieder Sturmböen, wieder ein Schatten Black jagte ihm einen Laserstrahl entgegen, und der Rochen drehte ab. Der Mann aus Waashton rannte zu Dragurowka Bassutschok, packte ihre Hand und zerrte die vor Panik und Schmerzen Schreiende zum Panzer. Der vibrierte plötzlich, und als Black zur Schleuse blickte, sah er den schwarz glänzenden Leib eines Rochens über dem Panzer liegen und den Schleuseneingang bedecken... * »Was bei allen leeren Fässern ist das?!« Natalja Sem starrte auf das in die Frontkuppel integrierte Head-up-Display. Der Bordrechner visualisierte dort, was Radar und Infrarotkameras Bruchteile von Sekunden zuvor geortet hatten. Man sah eigenartige flache Flugkörper von zehn bis fünfzehn Metern Durchmesser über einem AMOT kreisen; man sah das rauchende Wrack eines zweiten AMOT auf der Hügelkuppe; und irgendjemand schoss mit einem Lasergewehr um sich. »Todesrochen!« Matt konnte so oft auf das Display schauen, wie er wollte, das Bild der fliegenden Rochen vom Kratersee blieb bestehen! »Magaa meerdo d’orguudoo!« Aruula fluchte in der Sprache der Wandernden Völker. »Shwadoola sanguugare! Jetzt sind nicht nur die Mutanten hinter uns her, sondern auch noch diese von Wudan verdammten Rochen!« Natalja Sems Blicke flogen zwischen dem Blonden und der Barbarin hin und her. Und plötzlich begriff sie. »Das sind die fliegenden Fische, die wir in Ihrem Gedächtnis gesehen haben?« Ihre Augen wurden schmal, ihr Gesicht kantig. Matt nickte nur.
»Kama Eins an alle!«, rief die Zweite Subkommissarin. »Wir haben es mit einer äußerst gefährlichen Mutation aus dem Kratersee zu tun! Vermutlich mit einer intelligenten oder von Intelligenzen gesteuerten Lebensform!« »Kama Zwei an Kama Eins - es sind sieben Biester.« Matt erkannte die Stimme des Dritten Subkommissars Alexander Koboromajew. »Zwei liegen bereits tot am Hang des Hügels.« »Kama Eins an alle!« Die kleine Frau sprach mit lauter, befehlsgewohnter Stimme. »Wer immer aus Perm II überlebt hat, ist unter allen Umständen zu retten! Das gilt ganz besonders für einen Fremden namens Black. Hier die Personenbeschreibung: auffallend groß, athletisch gebaut, dunkelblond, möglicherweise mit einem Schutzanzug aus Perm II bekleidet...« Inzwischen konnten Matt und Aruula mit bloßem Auge sehen, was auf der Hügelkuppe am Rande der Ruinenstadt vor sich ging. Das Wrack eines Panzers schwelte und rauchte dort, Todesrochen glitten durch den Scheinwerferkegel eines zweiten Panzers, Tote lagen im Gras. Gestalten in Schutzanzügen rannten von Rochen verfolgt durch die Nacht, und zwischen Unterboden und Gras zischten Laserstrahlen in die Flugbahnen der Daa’muren-Bestien. Irgendjemand lag dort unter dem Panzer in Deckung. »Ihr schießt nur, wenn ihr sicher seid, niemanden zu gefährden!«, rief die Zweite Subkommissarin. »Feuer frei!« Im nächsten Augenblick schon zerschnitten gleißende Strahlen den Nachthimmel. Ein Rochen, der zum Sturzflug auf den Panzer angesetzt hatte, wurde getroffen. Noch im Flug blähte er sich zu einem Glutball auf. Brennend schlug er zwischen dem Panzerwrack und Ural Drei auf. »Kama Zwei an alle - sie drehen ab!« Koboromajews Stimme überschlug sich fast. »Die restlichen vier drehen ab!« Auf dem Head-up-Display konnte man die Flugbahn der vier Rochen verfolgen. Sie stiegen steil in die Höhe, als wollten sie der Reichweite der Laserkanonen entkommen. In
knapp tausendfünfhundert Fuß Höhe und zwei Kilometer Entfernung zogen sie eine weite Schleife - und kehrten zurück. »Sie greifen an«, flüsterte Natalja Sem. Und laut rief sie: »Kama Eins an alle! Die Biester greifen uns an! Schießt sie ab!« Sie wandte sich an Matt. »Können diese Wesen Ihrer Erfahrung nach einem Panzer gefährlich werden?« Matt dachte an das Massaker bei der Kristallfestung. »In ausreichender Zahl können sie alles zerstören«, sagte er. »Gegen nur vier haben wir aber gute Chancen.« Auf dem Head-up-Display sah man die rasch wachsenden Schatten herabstürzen. Kurz nacheinander zuckten gleißende Strahlen in den Nachthimmel hinauf. Zwei der Schatten verwandelten sich in Glutbälle. »Kama Zwei an Kama Eins - die haben es auf euch abgesehen!« Tatsächlich stürzten sich die beiden überlebenden Rochen direkt auf Natalja Sems AMOT, als wüssten sie, dass es der Flaggpanzer der Befehlshaberin war. Die Erde bebte, der Panzer vibrierte, als die brennenden Kadaver auf dem Hang und ein Rochen auf Kama I aufprallten. »Kama Zwei an alle! Feuer einstellen! Wir treffen sonst Kama Eins!« Eine schleimige weiße Masse bedeckte die Frontkuppel. Fleisch zuckte, Sekrete befeuchteten das Fenster. Und auf einmal, für einen kurzen Augenblick, sah Matt einen grünen Kristallsplitter glitzern und vier riesige schwarze Augen - sie schienen ihn anzustarren, ihn allein. »Energiewerfer ausfahren!«, brüllte die Subkommissarin. »Paralysieren! Und dann zurückstoßen!« Sekunden später war der Spuk vorbei: Die fleischige Masse auf der Kuppel krümmte sich zusammen, rutschte vom Panzer und explodierte in einem Glutball. Der siebte Rochen drehte ab und entkam. So tief glitt er über Gras und Wasser dahin, dass ihn Radar- und Infrarotortung der Panzereinheit zu spät erfassten. Jenseits
des Flusses verschwand er zwischen den bewaldeten Hügeln Richtung Osten. Die Panzerflotte rollte den Hügel hinauf. Acht grausam verstümmelte Leichen fanden sie dort, darunter die von Juri Solomatin, Marek Bak und Ruslan Raspanuwitsch. Mr. Black lag neben der schwer verletzten Tyrannin unter dem Panzer. »Freut mich, euch wiederzusehen.« Er kroch aus seiner Deckung und reichte zunächst Aruula und dann Matt die Hand. »Hatte schon nicht mehr dran geglaubt.« Er deutete auf die stöhnende Frau neben der Doppelachse. »Sie braucht sofort medizinische Hilfe!« »Schnell!«, zischte Natalja Sem und winkte ihre Leute herbei. »Bringt sie auf Kama Drei.« In Kama 3 befand sich die mobile Klinik der Panzereinheit. »Die Ärzte sollen sie so gut versorgen, wie sie können. Vielleicht steht sie ja doch eines Tages noch vor einem Liga-Gericht.« * Fast glaubte Thgäan das Beben der Niederlage zu spüren, das seinen Rochenkörper durchzog. Aber das konnte nicht sein; es war wohl nur die Kälte des Alls, die ihn schaudern ließ. Sechs der sieben Lesh’iye waren vernichtet worden. Für Thgäan, der bislang auf ein schier unbegrenztes Potential hatte zurückgreifen können, eine ganz neue Erfahrung. In Nanosekunden wog er die Chancen des letzten verbliebenen Lesh’iye ab - und kam zu der Entscheidung, dessen Kampfkraft zu bewahren, um sie später, zu einem günstigeren Zeitpunkt punktuell einzusetzen. Ein erneuter Schauer durchlief ihn, als er den Befehl zum Abbruch gab. Der Todesrochen drehte ab und zog sich dicht über der Oberfläche zurück. Ohne Zögern setzte sich Thgäan mit seinem Herrn in Verbindung. In seinem analytischen Verstand gab es keine Begriffe wie Scham, Schuld oder Sühne. Objektiv berichtete er vom Misslingen der Aktion.
Sein Herr nahm die Nachricht ohne erkennbare Regung an. Er schien den Ausgang des Kampfes bereits vorausgeahnt zu haben. (Es ist gut), kam schließlich seine Antwort. Der Kontakt endete. Und der Lesh’iye Thgäan zog weiter seine Kreise an der Grenze zwischen Atmosphäre und Weltraum .. * Am nächsten Tag. Sie hatten Matt, Aruula und Mr. Black ein relativ komfortables Quartier im septischen Bereich des Großen Peter zugeteilt. Hier brauchten sie keine Schutzanzüge zu tragen; die russischen Bunkerkolonisten hingegen konnten die Räume ausschließlich in Schutzanzügen betreten. Nicht so Dr. Nikati Rostow, der Encephalorobotowitsch. »Gibt es eigentlich viele von Ihrer Sorte?«, erkundigte sich Matt bei ihm, während er und Mr. Black auf die Liegen kletterten. An deren Kopfenden summten vor Schläuchen und Röhrchen starrende Maschinen elektronische Analysegeräte, die jeden Parameter der Blutdiagnostik erfassten; so jedenfalls hatte der Maschinenmensch es ihnen erklärt. »Neun insgesamt.« Rostow befestigte Elektroden auf Matthew Drax’ Brust und Stirn. »Vier davon sind vorwiegend für den Außendienst eingeteilt, weil wir, wie Sie bemerkt haben, nicht auf Schutzanzüge angewiesen sind. Perm II wie auch der Große Peter haben zwar einige Dutzend Barbaren für den Späherdienst ausgebildet, aber irgendjemand muss diese Leute ja vor Ort beaufsichtigen. Das machen vorwiegend Encephalorobotowitschs. Die Späher werden hierzulande übrigens ›Kosaken‹ genannt.« »Und die anderen fünf?«, wollte Matt wissen. »Drei sind in der Wartungsabteilung und hoffen auf Ersatzteile, zwei befinden sich seit Monaten in der
psychiatrischen Klinik.« Dr. Rostow schob dem Running Man die Kanüle in die Ellenbeugen-Vene, fixierte sie mit einem Pflaster und löste den Stauschlauch. »Ist nicht jedermanns Sache, als bloßes Gehirn in einem Maschinenkörper zu existieren. Manche drehen einfach durch. Trotzdem haben wir eine lange Warteliste. Meine Tochter ist die nächste Kandidatin für die Totalamputation.« »Was Sie nicht sagen.« Der Gedanke, als Hirn ohne Körper leben zu müssen, ließ den Commander schaudern. Schon Miki Takeo hatte er in dieser Hinsicht nicht einschätzen können. Der Androide aus Los Angeles - Aikos Vater - hatte sich im Laufe der Jahre alle organischen Körperteile durch mechanische und elektronische ersetzt - zuletzt sogar sein Gehirn. In dieser Beziehung waren die russischen Encephalorobotowitschs sogar menschlicher als Takeo; sie verfügten wenigstens noch über ihr ursprüngliches Denkorgan. Und über ihr Gesicht! Dies allerdings gemahnte Matthew eher an ein Gruselkabinett: Mit der Extraktion der Hirnmasse wurde den Patienten auch die Gesichtshaut entfernt, plastiniert und später auf den künstlichen RobotKopf aufgetragen. Es schien so, als wollten die Encephalorobotowitschs auf diese Weise wenigstens einen Rest ihrer Individualität bewahren. Eine Feinmechanik unter der Haut sorgte für nahezu echte Mimik. Allerdings zerstörte die wächserne Künstlichkeit diesen Eindruck sofort wieder. Der Hirnspezialist schob nun auch Matt eine Kanüle in die Armvene. Blutabnahme war angesagt. Schon aus eigenem Interesse hatte Matt darum gebeten, auch sein Blut darauf zu testen, ob es zur Serumsgewinnung geeignet war. Je mehr Anwärter es gab, desto besser. Mr. Black hatte sein Wissen um das Verfahren den hiesigen Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt: Er hatte sich freiwillig einem EVG-Verhör unterworfen, um jede Einzelheit des Verfahrens - auch verschüttete Erinnerungen, die er im Laufe seines Lebens im Pentagon aufgeschnappt
hatte - aufspüren zu lassen. Nun sollten sein und Matts Lebenssaft analysiert werden, um anschließend die Lymphozyten aus je einem Liter Blut zu extrahieren. Daraus wollten die Russen das Serum herstellen, mit dem sie ihre Immunschwäche zu überwinden hofften. Während ihr Blut aus ihren Venen in die Schläuche und Analyse-Geräte strömte, erkundigte sich Matthew nach dem Stand der Verhandlungen zwischen Perm II und dem Großen Peter. »Moskau und Sankt Petersburg haben interveniert«, berichtete der Encephalorobotowitsch. »Die Gemäßigten in Perm II haben sich durchgesetzt. Man wird in den nächsten Tagen ein Triumvirat wählen. Vermutlich wird Alexander Koboromajew Erster Subkommissar. Im Gegenzug soll der Konföderationsvertrag überarbeitet und im Sinne der Moskawiter verschärft werden. Ich werde in Zukunft übrigens als Dritter Subkommissar dem Triumvirat des Großen Peter angehören.« »Wie hat man in Moskau auf unsere Berichte vom Kratersee reagiert?«, erkundigte sich Matt. »Die gesamte Liga steht unter Schock.« Dr. Rostow überprüfte die Digitalanzeigen der Analysegeräte. »Die Konfrontation mit den fliegenden Rochen hat auch den letzten Zweifler überzeugt. Wenn es von diesen Bestien tatsächlich Tausende gibt, wie Sie sagen, dann haben wir allen Grund, uns Sorgen zu machen. Was die Daa’muren betrifft, hüllen sich die offiziellen Stellen in Schweigen. Was Sie herausgefunden haben, übersteigt einfach die menschliche Vorstellungskraft. Immerhin die Rüstungsmaschinerie wird angekurbelt, Konferenzen auf höchster Ebene sind angesetzt worden. Eine Delegation aus Sankt Petersburg hat sich auf den Weg nach Moskau gemacht. Dort erwartet man Sie sehnsüchtig, um Ihren Bericht mit eigenen Ohren zu hören.« Gleich morgen früh sollte es weitergehen. Die Russen warteten gegenwärtig den ARET und rüsteten ihn mit
Material und Proviant aus. Sämtliche Späher waren angehalten, nach einem Mutantenheer Ausschau zu halten, das sich von Osten her nähern sollte. Matt sah der langen Reise mit gemischten Gefühlen entgegen. Und dann der Zwischenstopp in Moskau! Lieber wäre es ihm gewesen, so schnell wie möglich nach London zu fahren. Aber er wollte die Regierung der Russischen Bunkerliga kennen lernen. Und vor allem wollte er die Basis für ein weltweites Bündnis gegen die Daa’muren-Gefahr legen. »Der Vorgang ist gleich beendet«, vermeldete Dr. Rostow nach einem Blick auf die Anzeigen. Mr. Black war zunehmend stiller geworden in der letzten Stunde; Matt konnte sich nicht erinnern, dass er überhaupt ein Wort gesprochen hatte, seit sie diesen Raum betreten hatten. Er sah zu dem Hünen hinüber, der mit nacktem Oberkörper dalag und zur Decke starrte. Was war los mit ihm? »Macht Ihnen irgendwas Sorgen, Mr. Black?«, erkundigte er sich. Der Running Man zuckte zusammen. »Nein, warum?«, sagte er schnell - um sich im nächsten Moment zu widersprechen: »Oder vielmehr - ja. Es gibt da tatsächlich noch ein Faktum, das ich bislang nicht erwähnt hatte.« Matt horchte auf. So kleinlaut hatte er den Rebellenführer noch nie erlebt. Black wirkte wie ein armer Sünder vor der Beichte. Aber das erfüllte ihn nicht wirklich mit Genugtuung. Denn es konnte keine gute Nachricht sein, die Black in petto hatte. »Es geht um das Serum, Dr. Rostow«, begann Black, nachdem er sich geräuspert hatte. »Wie Sie wissen, benutzt man es in Waashton schon seit zweiunddreißig Jahren. Es dauerte einige Zeit, bis man... nun, bis eine Nebenwirkung festgestellt wurde, die sich bei allen Vorzügen doch verhängnisvoll auf die Bunkerbevölkerung auswirkte.« Er stockte. Es schien ihm schwer zu fallen, darüber zu sprechen.
Matt hatte sich auf die Ellbogen gestützt und sah zu dem Hünen hinüber. In seinem Nacken kribbelte es vor Spannung. »Na los, lassen Sie die Katze aus dem Sack!«, forderte er Mr. Black auf. Der gab sich einen sichtbaren Ruck. »Die Geburtenrate ging drastisch zurück«, fuhr er fort. »Seit gut sechsundzwanzig Jahren kann der Weltrat keine einzige Geburt mehr verzeichnen. Das Serum stärkt ganz offensichtlich das Immunsystem auf Kosten der Zeugungsfähigkeit. Unseren Wissenschaftlern ist es nie gelungen, eine Lösung zu finden.« Matt lag da wie betäubt. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die zahlenmäßig geringe Besatzung des Regierungsbunkers - Kinder hatte er während seines Aufenthalts dort überhaupt nicht gesehen. Die fehlende Expansion des Weltrats - trotz ihrer Unabhängigkeit hatten sie keine weiteren Kolonien errichtet. Und jetzt begriff er auch, warum sie barbarische Völker als Vasallen einsetzten, um andere Zivilisationen klein zu halten. Ja mehr noch: Warum sie Größenwahn an die Stelle von natürlichem Wachstum setzten. Sie hatten nur diese eine Generation Zeit, um sich selbst ein Denkmal als führende Nation der Erde zu schaffen! Weshalb hatte Mr. Black das nie erwähnt? Fühlte er sich schuldig am Schicksal der Washingtoner Technos? Weil es sein Blut gewesen war, das die Tragödie verursacht hatte? Matt wurde klar, dass Blacks Beziehung zum Weltrat weitaus komplexer war, als er gedacht hatte. Im Grunde war er ihre Nemesis - und gleichzeitig sowohl die Ursache für die gewissenlose Politik der WCA als auch deren größter Feind. Matt brummte der Schädel. Die Stimme Dr. Rostows drang nur allmählich zu ihm durch. »... haben wir wohl trotzdem keine Wahl, Mr. Black«, sagte der Encephalorobotowitsch. »Nur mit Hilfe des Serums werden wir resistent genug sein, um ernsthaften Widerstand zu leisten. Aber wir werden den Aspekt von Anfang an in unsere Forschungen einfließen lassen. Vielleicht finden wir
die Lösung, nach der die Meerakanski vergeblich gesucht haben.« »Was ist mit meinem Blut?«, meldete sich Matt zu Wort. »Könnte es sein, dass es in dieser Hinsicht... anders ist als das von Mr. Black?« Er vermied es, das Wort »besser« zu verwenden. »Hm. Das wäre möglich.« Dr. Rostow wandte sich den Geräten zu. »Ich stelle eine vergleichende Analyse an. Vielleicht zeigen sich schon jetzt Unterschiede in der Genstruktur...« Der Maschinenmensch verstummte. Ziemlich lange schwieg er und kontrollierte wieder und wieder die Anzeigen. »Mr. Drax?«, fragte er irgendwann. »Ja?« Matt sah zu ihn hinüber. Der Roboter mit dem Hirn unter der Kunststoffhülle starrte auf eine blinkende Digitalanzeige. Die künstliche Mimik auf seinem plastinierten Gesicht sollte wohl Besorgnis ausdrücken. »Ich habe etwas entdeckt. Allerdings sind die Werte... nun, nicht das, was ich erwartet hatte. Mit Ihrem Blut stimmt etwas nicht, Commander.« * Sie schwamm in einer Art Glaswanne. Die gelbliche Flüssigkeit darin war so dicht, dass ihr nackter Körper nicht versank. Ein Tubus ragte aus ihrem Hals; sie wurde künstlich beatmet. Verbrennungen dritten Grades, sagten die Ärzte. Die Brandwunde am Rücken hatte sich entzündet, außerdem zehrte eine Lungenentzündung an ihrem geschwächten Körper. Mr. Black, Aruula und Matthew Drax - sie trugen Schutzanzüge - standen vor dem Glastank und betrachteten die bewusstlose Dragurowka Bassutschok. Die Tätowierung, die Mr. Black schon an ihren nackten Schultern aufgefallen war, überzog die gesamte Vorderseite ihres Rumpfes: ein stilisierter Komet. Der Schweif bedeckte Schulter und Brüste, verengte sich auf ihrem Bauch zu einem Feuerstrahl und
mündete schließlich in die Kometenkoma. Die Spitze des Kometen wölbte sich über der haarlosen Vulva. »Kristofluu auf nackter Haut.« Aruula wusste nicht, was sie davon halten sollte. Matt fand es geschmacklos - jedenfalls behauptete er das -, und Mr. Black äußerst reizvoll. »Vermutlich wird sie sterben«, sagte eine etwas verzerrte Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich nach dem Encephalorobotowitsch um. Lautlos war er in den Behandlungsraum getreten. »Sollte es uns allerdings gelingen, das Serum schon in den nächsten Tagen zu produzieren, hat sie noch eine kleine Chance. Einige im Moskauer Kommissariat sähen sie gern vor Gericht.« »Was soll das?«, fragte Mr. Black. »Erwartet sie dort nicht sowieso das Todesurteil?« »Nicht unbedingt. Sie hat einflussreiche Gönner unter den Moskawitern. Sie wäre nicht die Erste, die der Giftspritze entkommt und zum Strafdienst in einer Außenstelle im hohen Norden versetzt wird.« »Was ist mit meinem Blut?«, wechselte Matt das Thema. »Haben Sie inzwischen herausgefunden, was damit nicht stimmt?« Die Eröffnung hatte ihn erschreckt - natürlich -, aber andererseits war Matt in derlei Dingen schon immer ein fatalistischer Mensch gewesen, wie wohl die meisten männlichen Bewohner des Planeten: Solange sie sich nicht krank fühlten, fehlte ihnen auch nichts, basta. Trotzdem war da ein banges Gefühl irgendwo in seinem Hinterkopf, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. »Ich habe leider noch keine endgültige Antwort für Sie, Commander«, sagte Rostow. »Wir haben beide Blutproben in die Produktion gegeben, aber während sich Mr. Blacks Blut problemlos verarbeiten lässt, gelingt es uns bei Ihrem nur sehr unvollständig, Plasma und Serum zu trennen. Ihre Lymphozyten lassen sich so gut wie gar nicht extrahieren. Dafür habe ich in Ihrem Blut Partikel gefunden, die dort nicht hingehören.«
»Nämlich?« Das ungute Gefühl in Matt wuchs. »So genannte Tachyonen. Elektrisch geladene Teilchen, zu denen Sie besser unsere Astrophysiker befragen. Alles was ich darüber weiß, ist, dass sie unglaublich schwer zu finden sind und lange Zeit nur theoretisch nachweisbar waren - was daran liegt, dass ihr kleinstes Tempo die Lichtgeschwindigkeit ist. Was Tachyonen in Ihrem Blut zu suchen haben, Commander Drax - das wissen nicht mal unsere Astrophysiker. Aber keine Sorge, Sie sind deswegen nicht krank. Ganz im Gegenteil - der Laborbefund Ihres Blutes sieht bestens aus.« Eine Zeitlang schwiegen alle. Aruula, die Matts Unbehagen spürte, fasste seinen Arm und schmiegte sich an ihm. Er wusste nicht, was er von der Eröffnung des Hirnspezialisten halten sollte. Tachyonen? Er hatte schon mal davon gehört, damals, in einem anderen Leben. Aber das war zu lange her, um sich an Einzelheiten zu erinnern. Ein Mann im Schutzanzug betrat den Raum und beendete die bedrückende Stille, indem er die Hacken zusammenknallte. »Entschuldigen Sie die Störung, Dr. Rostow. Ich soll melden, dass Kosak Drei Sichtkontakt zu einer großen Menge imitierter Lebensformen hat.« Die Anwesenden sahen sich alarmiert an. »Wie weit entfernt?«, fragte der Encephalorobotowitsch. »Noch etwa vierzig Kilometer. Die Leitstelle meint, dass sie in drei Stunden hier sind.« Nikati Rostow wandte sich an die drei Besucher. »Dann sollten Sie sich zur Abfahrt bereit machen. Wenn Ihre Theorie stimmt, dass die Mutanten Ihnen folgen, müssen Sie sie von Großen Peter und Perm II fortlocken.« »Ist der ARET startklar?«, erkundigte sich Mr. Black. »Der Expeditionspanzer wird eben in den Aufzug gefahren«, meldete der Soldat. »Das Triumvirat will Sie in einer halben Stunde verabschieden.« Damit drehte er sich zackig um und verließ den Raum wieder. Matthew Drax hatte den Auftritt nur wie durch einen
Schleier mitbekommen. In seinem Kopf wirbelten unbeantwortete Fragen durcheinander. Tachyonen? In seinem Blut? Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Er schüttelte die Benommenheit ab. »Kommen Sie mit der Produktion des Serums alleine klar?«, fragte er an die Adresse des Kunstmenschen. Dr. Rostow winkte ab. »Kein Problem. Ich schätze, die ersten Dosen liegen in zwei Tagen vor. Wie lange dann allerdings der Aufbau des Immunsystems dauert, weiß ich nicht zu sagen.« »Also los.« Mr. Black warf einen letzten Blick auf den tätowierten Frauenkörper in der Glaswanne. Dann wandte er sich an die Barbarin und den Mann aus der Vergangenheit. »Fahren wir nach Moskau...«
ENDE
In der Höhle des Löwen von Stephanie Seidel Er konnte ihn nicht im Stich lassen. Seitdem sein Assistent von den Daa’muren entführt worden war, plagten Quart’ol Gewissensbisse. Hätte er nicht schon früher die Menschen verlassen und nach ihm suchen sollen? Aber dann wäre das große Geheimnis der außerirdischen Intelligenzen ungelöst geblieben. Erst sein mentaler Kontakt mit einem der Kristalle und seine Bestimmung der Bruthöhle hatten Licht in das Dunkel gebracht, das seit über 500 Jahren über diesem Planeten lag. Nun war er unterwegs. Mer’ol brauchte seine Hilfe - wenn er noch lebte. Und Quart’ol war entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen. Auch wenn er dafür in den Kometen selbst vordringen musste...