Fred McMason Die Bucht der Menschenfresser 1. »Nicht mehr lange, und wir kriegen Sturm«, sagte die Rote Korsarin zu dem ...
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Fred McMason Die Bucht der Menschenfresser 1. »Nicht mehr lange, und wir kriegen Sturm«, sagte die Rote Korsarin zu dem Boston-Mann, der neben ihr auf dem Achterkastell der zweimastigen Karavelle stand. »Da mögen Sie recht haben, Madame«, antwortete der schweigsame Mann, in dessen linken Ohr ein großer, goldener Ring baumelte, der bei jeder Bewegung hin und her schlenkerte. Siri-Tong, wie die mandeläugige, schwarzhaarige Frau hieß, warf einen letzten Blick über die Schulter. Die Schlangeninsel entschwand langsam am Horizont. Man sah die himmelhohen Felsen nur noch klein aus dem Meer ragen. Vor zwei Stunden waren sie losgesegelt mit Kurs auf Tortuga, die Schildkröteninsel, auf der sie Ausrüstungsmaterial für den schwarzen Segler einkaufen wollten. Auch ein paar neue Besatzungsmitglieder wollte die Rote Korsarin dort anheuern, vorausgesetzt es gab in den Spelunken noch ein paar einigermaßen anständige Kerle, und nicht nur Halsabschneider, Schnapphähne, Gauner und Ehrlose. Der Boston-Mann schwieg nach den paar Worten. Dafür folgten seine Augen der Blickrichtung Siri-Tongs, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Er kannte diesen Blick der Roten Korsarin, er war verträumt und weich und verlor sich in unendliche Fernen. Kein Wunder, dachte er, denn nicht weit vor ihnen segelte die ranke Galeone des Seewolfs, und er hätte jede Wette gehalten, daß Siri-Tong jetzt in Gedanken bei dem schwarzhaarigen Teufel Killigrew war, dem Seewolf, wie ihn Freund und Feind
gleichermaßen nannte. Auch der Boston-Mann warf jetzt einen besorgten Blick zum Himmel. Im Südwesten braute sich etwas zusammen, und das sah verdammt nach einem ausgewachsenen Sturm aus. Man konnte das nahende Unwetter förmlich riechen, dazu kam das hohle Brausen der Karibischen See, die sich langsam auftürmte. Der Bootsmann Juan stieg aufs Achterkastell, ein Klotz von einem Kerl. Er rieb sich den Nacken und sah die Rote Korsarin an. Dabei wiegte er bedenklich seinen Schädel. »Sieht nach einem höllischen Unwetter aus, Madame. Wenn wir jetzt über Stag gehen und kreuzen, können wir die Schlangeninsel in gut drei Stunden erreichen.« Einen Augenblick schien es, als wolle die Rote Korsarin auf seinen Vorschlag eingehen, doch dann schüttelte sie den Kopf, daß ihre schwarzen Haare flogen. »Das wird uns nichts mehr nutzen, Juan. Wir müssen den Sturm abreiten. So oder so, wenn die See zu ruppig wird, laufen wir West-Caicos an und warten das Unwetter dort ab.« »Bis dahin segeln wir noch länger als drei Stunden«, wandte der Bootsmann ein. »Es bleibt dabei, Juan. Wir folgen der Galeone des Seewolfs. Hasard denkt bestimmt auch nicht daran, umzukehren.« »Sein Schiff ist auch stabiler als unseres«, brummte Juan ehe er davon ging. Der Himmel verfinsterte sich. Aus einer schwefligdunklen Wolkenbank zuckte ein langer Blitz. Donner war nicht zu hören. Eine plötzliche Bö fuhr in die Lateinersegel, begleitet von einem wilden Heulen, das gleich wieder verklang. Die ›Isabella VIII.‹, mehr als eine Meile voraussegelnd, war in gespenstisches fahles Licht getaucht. Wie Dunst aus der Hölle umhüllte die Aura den Segler. Die Rote Korsarin sah, wie auf der Galeone die ersten Segel weggenommen wurden. Mit der Sturmfock segelten die
Seewölfe weiter. Ja, die Kerle verstanden ihr Handwerk, dachte sie neidvoll, obwohl sie selbst auch gute Seeleute an Bord hatte. Aber die mußten erst immer gescheucht werden und brauchten lange Erklärungen. Von allein tat kaum jemand einen Handschlag, außer Juan und dem Boston-Mann. Die ›Isabella‹ segelte hart über Steuerbordbug. Ihr Bug tauchte wild ins Wasser, hob sich zornig daraus hervor und schüttelte die Wassermassen wie ein riesiges Tier von sich ab. Der Sturm raste jetzt heran wie ein Gigant. Urgewaltig röhrte er los und erhob sich mit aller Macht, um die See von den lästigen hölzernen Dingern leerzublasen. Hasard warf einen besorgten Blick achteraus, wo die Rote Korsarin segelte. Noch konnte man das bißchen See ruppig nennen, dachte er, aber das würde sich gleich ändern, in ein paar Minuten schon. Dann würde die Hölle aufbrechen. »Meinst du, sie schafft es?« fragte Ben Brighton. »Ich meine, jetzt natürlich noch, aber nachher?« »Sie muß es schaffen«, murmelte der Seewolf mit zusammen gepreßten Lippen. »Umkehren können wir nicht mehr. Signalisiere ihr, daß wir so schnell wie möglich eine der Caicos-Inseln anlaufen werden. Sie soll auf Kurs bleiben. Und Dan soll aus dem Großmars abentern, damit er nicht über Bord geht. Wir brauchen im Augenblick keinen Ausguck.« »Aye, aye, ich erledige das selbst.« Ben Brighton verschwand wie ein Blitz. Kurz darauf signalisierte er der Roten Korsarin, was Hasard angeordnet hatte. Auf der Zweimast-Karavelle blickte Siri-Tong angestrengt zur ›Isabella‹ hinüber, als sie die Gestalt auf dem Achterkastell sah. Durch das Spektiv erkannte sie Brighton. Sie verstand auch die Signale und nickte. »Eine der Caicos-Inseln«, sagte sie leise. »Etwas anderes wird uns auch kaum übrigbleiben.«
»Bis dahin schaffen wir es, Madame«, sagte der BostonMann beruhigend. Allerdings glaubte er selbst kaum daran, denn jetzt erhoben sich die ersten Wellenberge zu imponierender Größe. Sie rollten heran, ohne Schaumkronen, dunkel und drohend wie gewaltige Hügel aus dunklem Glas. Sie hoben die Karavelle hoch empor und setzten sie sanft wieder ab. Aber schon die zweite und dritte Welle waren nicht mehr so sanft. Sie donnerten wütend gegen den Schiffsrumpf und ließen die Karavelle in allen Verbänden erbeben. »Die signalisieren noch etwas«, sagte der Boston-Mann. »Aber ich verstehe die Zeichen nicht, Madame. Da, sie werfen etwas über Bord, sehen Sie!« »Wir sollen das gleiche tun«, sagte die Rote Korsarin. »Das jedenfalls bedeuten die Zeichen. Sie werfen Taue über Bord, hast du gesehen?« »Ja, Madame.« »Was hat das zu bedeuten?« »Keine Ahnung, Madame.« »Himmelherrgottverdammt«, explodierte Siri-Tong plötzlich. »Sag nicht immer ja und nein. An ein paar Worten zuviel ist noch keiner gestorben, verstanden!« »Aye, aye, Madame!« Siri-Tong blickte angestrengt hinüber. Dort klatschten dicke Trossen ins Wasser, die die ›Isabella‹ hinter sich herschleppte. Den Sinn begriff sie erst nach und nach, denn den Trick, den der Seewolf bei dicker See anwandte, kannte sie nicht. Er hatte auch nie darüber gesprochen. Jetzt durchschaute Siri-Tong das Manöver, als sie angestrengt durch das Spektiv sah. Hasard hatte die Trossen ausgelegt, um das Heck gegen die See zu halten. Dabei wirkten die Trossen als Bremsen, die das Schiff hinter sich her schleppte. Die Korsarin wußte nicht, daß Hasard diesen Trick von seinem Alten, Sir John Killigrew,
gelernt hatte. Bei rauher See hatten sich diese »Bremsen« immer hervorragend bewährt. So auch jetzt. Der größte Teil der Besatzung sah verständnislos zu. Aber dann hatten sie alle begriffen, und auf der Karavelle wurden jetzt ebenfalls die schwersten Trossen ausgebracht, die sie an Bord hatten. Der Erfolg trat fast augenblicklich ein, das Schiff lag ruhiger im Wasser. Der Sturm begann jetzt zu wüten. Mit großer Heftigkeit schob er riesige Wellenberge vor sich her, die sich immer höher auftürmten und gegen die Karavelle anrollten. Von Minute zu Minute wurde die See wilder und ungezügelter. Die Karibik erwachte und begann, sich von ihrer übelsten Seite zu zeigen. Ächzend legte sich der Zweimaster in die nächste See und raste trotz der verminderten Segelfläche immer schneller los. Heulen, Rauschen und wildes Brausen erfüllten die Luft. Ab und zu zuckten Blitze aus dem Himmel und fuhren als lohende, wild knatternde Flammenbündel irgendwo ins Wasser. Wilde Gischt erschien, die sich wie ein trüber Schleier über alles legte, und die ›Isabella‹ so verhüllte, daß sie nur noch als schwacher Schemen sichtbar war. Angst kannten die Männer nicht, aber in ihren Augen lag doch Besorgnis, als die Karavelle immer höher gehoben wurde und direkt in den Himmel zu rasen schien. Dann wieder fiel sie steil nach unten in bodenlose Tiefen. Machtvoll klatschte sie ins Wasser zurück, in allen Verbänden ächzend und stöhnend. Und es wurde immer schlimmer. Die Karavelle hatte gegen die mit ungestümer Kraft anrollenden Brecher immer schwerer zu kämpfen. Sie stieß mit ihrem Bug hinab in schwindelnde Tiefen, wurde dann emporgerissen und verharrte auf den Riesenwellen ganz hoch oben sekundenlang, ehe sie wieder in die chaotischen Abgründe hinabgerissen wurde. Am Kolderstock standen jetzt vier Männer, die sich in aller Eile mit Tampen abgesichert hatten. Sie waren kaum noch in
der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Die Brecher, die das Schiff wie eine Sintflut überfielen, rissen sie immer wieder von den Beinen. Auch die Rote Korsarin hatte sich angebunden. Zeitweilig wußte sie nicht mehr, wo oben und unten war. Das ganze Schiff schien sich ständig zu überschlagen. Hart knallend donnerten die Brecher an den Bug, überschwemmten die Karavelle, bis sie fast unter Wasser lag und sich nur noch schwerfällig und torkelnd wieder aufrichtete. Der nächste Wellenberg drehte das Schiff halb um die eigene Achse. Es ging blitzschnell. Und als der zweite Berg aus Wasser heranrollte, legte sich die Karavelle auf die Backbordseite. Ein schmetternder Schlag dröhnte überlaut. Siri-Tong sah sich verzweifelt um. Jetzt war alles aus, dachte sie, den nächsten Schlag überstand das Schiff nicht mehr, dazu lag es zu stark gekrängt in der tobenden See. Sie sah das Gesicht des Boston-Mannes. Es hatte seine gesunde Bräune verloren. Der Boston-Mann war blaß, als er den Blick zurückgab. Auch er wußte mit Sicherheit, was sie jetzt gleich erwartete. Das Schiff hatte Wasser übernommen, fast mehr als es verkraften konnte, und da donnerte auch schon der nächste Brecher mit elementarer Gewalt heran. Die vier Männer am Kolderstock wurden hilflos davongewirbelt. Die Taue, mit denen sie sich angeleint hatten, verhinderten, daß sie über Bord gerissen wurden. Es war wie der Schlag eines Riesen, der unbarmherzig mit einem gewaltigen Hammer auf das Schiff schlug. Durch die kochende See hallte ein Schrei, ein Krachen und Bersten folgte, Wassermassen ergossen sich über das Schiff, und jeder an Bord hatte das Gefühl, als würde sich die Karavelle steil auf den Bug stellen, um in die Tiefe der See hinabzurasen. Siri-Tong rang nach Luft. Sie kriegte keine, weil überall
Wasser war. Neben ihr, über ihr, nur noch Wasser, Wasser ohne Ende. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, hörte nur immer noch das wilde Krachen und Bersten, dann ein Splittern, danach folgte ein dumpfer Fall, als wäre ein Teil des Schiffes abgebrochen. So sieht das Ende aus, dachte sie. Die See hieb die Karavelle zu Kleinholz und würde die traurigen Reste auf den Grund des Meeres schicken. Und sie alle mit! Aus dieser Hölle kam niemand mehr heraus, mörderische Karibik. Und der Seewolf - wo war er? Sie konnte sein Schiff in den aufgewühlten Tälern und Bergen nicht mehr sehen, die Gischt verhüllte alles. Wo war er, dachte sie bitter. Er konnte ihr nicht zu Hilfe kommen, es war völlig ausgeschlossen, denn bei diesem Seegang hatte er ganz sicher alle Hände voll zu tun, um die ›Isabella‹ in dem Sturm zu halten. Er konnte nicht helfen. Als die Wassermassen sich verlaufen hatten, sah sie Juan. Er kroch auf allen Vieren über Deck, eine Leine hinter sich herziehend, die er um seinen Körper geschlungen hatte. Sein Gesicht war blutig, er hatte sich die linke Wange aufgerissen. Mit einer Hand deutete er auf den Besanmast. Doch da folgte schon wieder die nächste Woge und drückte die Karavelle unter Wasser. Wieder erstickten sie fast. Und das Heulen, Pfeifen, Brausen und Orgeln der entfesselten See wurde noch lauter. Schrill und nervtötend pfiff es, und wieder zog es den Zweimaster so hart über, daß er jeden Augenblick zu kentern drohte. Jetzt erst sah Siri-Tong, was Juan mit seiner Handbewegung angedeutet hatte. Der Besanmast fehlte! Er war einfach weg, abrasiert von der mörderischen Welle. Gaffelrute und Segel waren ebenfalls verschwunden. Der Boston-Mann schrie etwas. Die Rote Korsarin verstand
den Sinn seiner Worte nicht, der heulende Sturm überlagerte jedes andere Geräusch. Da erst sah sie die Bescherung. Das stehende Gut des Mastes mußte gekappt werden. Der Besan hing außenbords und riß das Schiff immer stärker zur Seite. Der Mast zog und zerrte, löste sich aber nicht, weil ein Teil der Wanten ihn hielt. »Schnell, kappt das Gut!« schrie sie laut, um das Orgeln und Brausen zu übertönen. Was sie jetzt vorhatten, mutete wie Wahnsinn an, doch das Leben aller hing davon ab. Sich auf dem wild tanzenden Deck überhaupt zu halten, grenzte schon an ein Kunststück, aber dabei noch zu arbeiten, war so gut wie ausgeschlossen. Dennoch, sie mußten es tun, um dem Schiff die Stabilität wiederzugeben. Es wurde ein Höllentanz, an dem sich auch Siri-Tong beteiligte. Der Boston-Mann hackte wie ein Wilder auf das Tauwerk los. Seine Schläge wurden von pausenlosen Flüchen begleitet, mit denen er Wanten und Pardunen zu Leibe rückte. Er schuftete, hieb mit wild rollenden Augen um sich, verlor immer wieder den Halt, rutschte über Deck und fluchte weiter, sobald er auf die Beine kam. Himmelhohe Brecher überschütteten sie, hoben den lädierten Zweimaster hoch und warfen ihn wie ein Spielzeug in die tiefsten Wellentäler hinunter. Aber dann waren sie das stehende Gut los. Der Mast löste sich vom Schiff und verschwand in der kochenden See, nachdem er der Karavelle noch einen gewaltigen Rammstoß verpaßt hatte. Die nächste Wasserwalze, die heranraste, riß zwei Kanonen aus der Verankerung, donnerte sie zur Steuerbordseite hinüber, wo sie eine Sekunde lang ganz ruhig dastanden, ehe sie von der nächsten Woge erfaßt wurden und irgendwo gegenprallten. Diesmal war die Wucht weitaus stärker.
Niemand war in der Lage, etwas zu unternehmen. Ihnen blieb nur die Angst und das hilflose Zuschauen, denn was jetzt gleich passierte, wußte jeder, es konnte nicht ausbleiben. Ein nächster Stoß ließ die Karavelle hart überkrängen. Und in diesem Augenblick rasten die beiden Kanonen los. Sie polterten über Deck und jagten auf das Schanzkleid zu. Siri-Tong schloß die Augen. Aber sie hörte das fürchterliche Krachen und Bersten, mit dem die schweren Kanonen das Schanzkleid zerschlugen, daß die Splitter nach allen Seiten flogen. »Jetzt kann wenigstens das Wasser ungehindert ablaufen«, sagte der Boston-Mann trocken. Sie waren fast eine Stunde durch den Sturm geknüppelt und ein Ende war nicht abzusehen. Noch war der Himmel dunkel bewölkt, aus der schwefligen Wolkenbank war ein schwarzes Ungeheuer geworden, aus dem pausenlos grelle Blitze zuckten. Niemand an Bord der Karavelle glaubte noch an eine Rettung. Da halfen selbst die Trossen nicht mehr, die sie ausgelegt hatten. 2. Den Männern auf der ›Isabella‹ erging es nicht viel besser. Schon rechtzeitig hatte Hasard überall an Deck Strecktaue spannen lassen, noch bevor der Höllentanz losging. Jetzt segelte die ranke Galeone nur mit einer Sturmfock gegen das Geheul und Gewimmer, Kreischen und Brausen an. Um sie her war die Hölle, ein kochendes, wild bewegtes Meer, aus dem quirlende Berge stiegen, die sich alle paar Sekunden verwandelten. Hasard hatte drei Männer ans Ruder stellen lassen. Pete Ballie konnte das schwere Rad bei diesem Seegang längst nicht mehr allein halten. Sogar die drei Männer hatten Mühe, sobald sich
das Heck des Schiffes aus der See hob, nicht durcheinander zu fallen, weil ganz plötzlich der Widerstand fehlte. Dann, wenn das Ruderblatt eintauchte, begann eine harte Plackerei. Aus dem Ruderhaus vernahm man ellenlange Flüche, und einer schien den anderen dabei immer überbieten zu wollen. Hasard stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Die Gedanken, die ihn bewegten, galten nicht der ›Isabella‹. Sie war ein gutes Schiff, das man getrost durch jeden Wirbelsturm knüppeln konnte. Sie war stabil, widerstandsfähig und aus gutem Holz gebaut. Sie vertrug unheimlich viel, deshalb konzentrierte sich seine Sorge immer mehr auf die Karavelle. Auch der Zweimaster war rank und schlank und ließ sich gut segeln, doch dieses Wetter war einfach zuviel für ihn. Immer wieder blickte Hasard achteraus, wo die Karavelle gegen die dicke See ankämpfte. Mal jagte sie wie ein gehetztes Wild übers Wasser, dann wieder schien sie stillzustehen. Jetzt war sie in eine riesige Wolke Gischt gehüllt, ein schwerer Brecher überschwemmte sie und ließ sie für eine ganze Weile verschwinden. Aus dem Ruderhaus drang immer noch Stenmarks, Pete Bailies und Dans wüstes Fluchen. Damit reagierten sie nur ihre Hilflosigkeit ab. Ed Carberry hangelte sich an den Tauen zum Achterkastell. Auch er warf immer wieder einen Blick auf die Karavelle. Er war durchnäßt und schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. »Mist, verfluchter!« schrie er, um das Brausen zu übertönen, was ihm auch mühelos gelang. »Sieht so aus, als würde die Karavelle gleich absaufen, Hasard. Der Besan ist über Bord gegangen. Ich glaube, sie schaffen es nicht.« »Und wir können ihnen nicht einmal helfen«, sagte Hasard mit unterdrücktem Ärger in der Stimme. »Wir können uns selbst nur halten, indem wir auf dem Kurs bleiben.« Ja, natürlich, das wußten sie alle. Irgendwann einmal war der
Punkt erreicht, an dem ein Schiff dem anderen nicht mehr helfen konnte, ohne selbst zu kentern. Genausowenig war an ein Abschleppen zu denken, denn die See würde jede Leine, jede Trosse kurz und klein schlagen und nicht einmal die Verbindung zwischen zwei Schiffen zulassen. In der brodelnden Gischt sahen sie nur undeutlich und verzerrt, wie die Männer der Roten Korsarin daran gingen, den Mast endgültig von dem stehenden Gut zu befreien. Als ihnen das endlich gelungen war, atmete Hasard erleichtert auf. Doch gleich darauf ereignete sich das neue Unglück, als die beiden Kanonen das Schanzkleid durchschlugen. »Denen bleibt heute auch nichts erspart«, murmelte Ben Brighton. »Wenn wir diesen Sturm abgeritten haben, dürfte die Karavelle nur noch ein halbes Wrack sein. Dann können wir die Fahrt nach Tortuga abschreiben.« »Das wäre nicht weiter schlimm«, erwiderte Hasard, »Tortuga läuft uns schließ lieh nicht davon. Aber ...« er zuckte mit den Schultern, »ob sie wenigstens noch bis zur ersten Caicos-Insel durchhalten?« Niemand wußte eine Antwort darauf. Ein himmelhoher Brecher verwehrte ihnen außerdem das Sprechen, denn gerade walzte er heran und schob sich brüllend und schäumend über das Schiff. Das Wasser stieg blitzartig, ein riesiger Schwall dröhnte über Deck und füllte die Kuhl bis in Höhe der Nagelbänke. An den Masten stieg es wild brüllend empor, bis die ›Isabella‹ sich dem gewaltigen Druck beugte und gehorsam hart nach Backbord überholte. Der Kränkungswinkel war so groß, daß manch anderes Schiff sich nicht mehr aufgerichtet hätte. Die Welle, die die ›Isabella‹ in allen Verbänden erbeben ließ, raste weiter wie ein zornerfülltes Ungeheuer auf die Karavelle zu. Die Seewölfe befürchteten das Schlimmste. Würde auch der Zweimaster dem ungeheuren Druck dieser
gewaltig heranbrausenden Wassermasse widerstehen können? Bange Sekunden folgten. Die Karavelle verschwand in der schäumenden See wie ein kleines Spielzeugschiff. Sofort danach ritt sie hoch oben auf dem Kamm der Woge und wurde in rasender Eile fortgetragen. Dann folgte der Aufprall in das nächste Wellental, und wieder entschwand sie ihren Blicken. Hasard glaubte das Krachen und Bersten zu hören, aber das war ein Irrtum, denn noch immer tobte der Sturm so wild, daß er jedes andere Geräusch überlagerte. Dennoch hatte die Karavelle bei diesem Höllenritt wieder etwas abgekriegt. Das Schanzkleid war noch weiter zersplittert und die eine Spiere des vorderen Mastes war geknickt. »Himmel und Hölle!« schrie Tucker, der sich ebenfalls auf dem Achterkastell befand. »Nimmt denn dieser wahnsinnige Ritt überhaupt kein Ende mehr? Verflucht, es geht nicht um uns, unsere Tante hält das aus, aber der nächste Brecher zertrümmert den Zweimaster doch endgültig.« »Und dabei haben sie ebenfalls Trossen ausgelegt. Ohne sie wäre es wohl noch schlimmer geworden.« Mehr als eine Stunde lang rannte die Karavelle gegen die See an, die sie immer mehr peinigte, die mit ihr spielte, Löcher in sie hineinschlug, sie tanzen ließ, bis das Schiff nur noch ein wild schlingerndes, völlig außer Kontrolle geratenes Etwas war, das sich nicht mehr steuern ließ. Zuletzt hatte eine Woge auch noch das Ruderblatt zerschmettert. Hätte der Sturm in dieser Minute nicht nachgelassen, dann wäre es um den Zweimaster und die ganze Crew geschehen gewesen. Die See hätte sich das dwars treibende Schiff geholt. So aber klarte es jetzt allmählich auf. Die schwarzen Wolken zogen weiter, hin und wieder drang einmal die Sonne durch, und dann beruhigte sich auch langsam das Meer, das zuvor noch so wild gebrüllt hatte. Auf der ›Isabella‹, wurde in aller Eile aufgeklart.
Es war nicht viel, der Sturm hatte keine sichtbaren Schäden hinterlassen. Aber hinter ihnen trieb der Zweimaster vor Topp und Takel, und Hasard sah sich genötigt, das beschädigte Schiff in Schlepp zu nehmen, sonst soff es doch noch ab. Auf der ›Isabella‹ stand noch die Sturmfock. Der Wind hatte jetzt gedreht. Die Galeone segelte mit Steuerbordhalsen am Wind, als Hasards Kommando erfolgte. »Klar zum Halsen, Schlepptrossen bereitlegen!« Das Großsegel war noch aufgegeit und der Besan geborgen. Pete Ballie drehte das Ruder nach Backbord. An den Brassen standen die Männer, bereit die Rahen Vierkant zu brassen. Der Profos war wieder in seinem Element und sparte nicht mit gesalzenen Ausdrücken. »Rum die Brassen, ihr Kakerlaken, willig, willig! Und glotzt nicht immer nach den paar Wellen, die über Deck gehen. Das erspart euch morgen die ganze Wäscherei. Vierkant brassen, habe ich gesagt, ihr Rübenschweine. Gut so!« »Mann, wenn unser guter Ed nicht wäre«, sagte Dan O’Flynn grinsend, »dann wüßte kein Mensch an Bord, was er mit den Segeln anstellen soll.« Matt Davies lachte, ein paar andere fielen ein, aber der Profos mußte ganz einfach weiterbrüllen. Schließlich war er Profos und Zuchtmeister, und wenn die Manner hundertmal ihr Handwerk im Schlaf beherrschten, einer mußte brüllen. Und das war er, der narbengesichtige Edwin Carberry mit dem gewaltigen Rammkinn. Die ›Isabella‹ fiel jetzt ab und begann langsam vor den Wind zu gehen. »Rüber mit dem Ding nach Steuerbord!« schrie der Profos. »Und weiter angebraßt, ihr Säcke. Noch weiter! Himmel, das zieht ja jeder Hafenhure die Stiefel aus, was ihr da tut. Wie sollen wir da jemals auf den neuen Bug kommen, was, wie?« Die ›Isabella‹ kam glänzend auf den neuen Bug, auch ohne
daß der Profos gebrüllt hätte. Aber vermutlich würde dann jedem der Männer etwas fehlen, und bisher fehlte ihnen auch noch des Profos Lieblingsspruch. Aber der erfolgte so schnell, daß sich keiner darüber wunderte. Ed mußte ihn glatt vergessen haben, und das holte er jetzt in aller Eile nach, als das Großsegel angebraßt wurde. »Hoch mit dem Besan, oder muß ich euch erst die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen ziehen, was, wie?« Die paar Segel, die jetzt standen, wurden getrimmt, der Besan ging hoch, bis die ›Isabella‹ mit Backbordhalsen am Wind lag. Erst jetzt war der Profos zufrieden. Etwas später flogen die Tampen zur Karavelle hinüber und der Seewolf hatte Zeit, sich den Zweimaster anzusehen. Auf der Back stand die Rote Korsarin und winkte den Männern zu. Alles glotzte mit Stielaugen auf ihre rote Bluse, die vom Wasser eng angeklatscht an ihren Körper lag. Genauso waren durch die blaue Schifferhose ihre Konturen glasklar zu erkennen. Sam Roskill verdrehte die Augen und griff sich ans Herz. »Mann«, stöhnte er zu einem imaginären Gesprächspartner. »Die schafft mich immer wieder. Kaum taucht das Weib auf, schon rennen auch die lausigsten Böcke mit verdrehten Hälsen herum. Man könnte bei diesem Anblick Lieder zur Harfe singen!« »Was ist denn plötzlich in dich gefahren, du Windsack?« schnauzte der Profos und riß Sam Roskill aus seinen lyrischen Sphären. »Harfe spielen, was? Dabei kannst du Rübenschwein nicht mal ‘ne Harfe von ‘ner Flöte unterscheiden. Die Harfe liegt dort vor dir, sie ist noch ein bißchen feucht, aber wirf sie trotzdem ruhig ‘rüber und belege die Poller damit, klar?« Sam Roskill war nach dieser kalten Dusche ernüchtert. Himmel, man durfte sich doch wohl mal ein hübsches Weib ansehen, aber nein, da mußte der Profos jedesmal seinen
Rüssel reinhängen und einem den Spaß verderben. »Weißt du, was du mich mal kannst, Ed?« fragte Sam tückisch, in der Hoffnung, der Profos würde wild werden. Doch der tat ihm den Gefallen nicht, er winkte nur ab. »Tut mir leid, Sam, aber das habe ich schon einer anderen Sau versprochen. Das nächste Mal vielleicht!« Roskill blieb wie vom Donner gerührt stehen, aber dann bequemte er sich doch, die Leinen festzumachen. Hasard verstand nicht, was Siri-Tong sagte, der Wind riß ihr die Worte von den Lippen. Er legte die Hände trichterförmig vor den Mund und rief hinüber: »Wir schleppen euch nach West-Caicos. Hängt noch ein paar Spieren achtern außenbords, damit ihr nicht aus dem Kurs lauft. Dort sehen wir uns erst einmal den Schaden an.« »Wir machen Wasser!« schrie der Bootsmann Juan zurück. »Dagegen hilft am besten lenzen!« brüllte Carberry hinüber. »Bis West-Caicos werdet ihr es schaffen!«. Hasard winkte ebenfalls der Roten Korsarin zu, die mit brennenden Augen herübersah. Tucker und der Profos blieben achtern, um die Schleppleine nachzufieren, damit sie unter dem Ruck nicht plötzlich auseinanderflog, als das Großsegel gesetzt wurde. Noch einmal drehte der Wind leicht, dann blies er konstant weiter. Die hohen Wellenberge waren verschwunden, sie kamen jetzt als lang anrollende Dünung. Mit der Karavelle im Schlepp war das Segeln nicht einfach, denn alle Augenblicke straffte sich die Leine, als wolle sie brechen. Dan enterte wieder in den Großmars auf, gefolgt von seinem getreuen Freund, dem Schimpansen Arwenack, der das Unwetter beim Kutscher in der Kombüse abgewartet hatte. Den linken Arm hatte der Affe eng an den Körper gepreßt, doch als Dan nachsehen wollte, ob seinem Liebling etwas fehlte, erkannte er den Grund. Arwenack hatte sich bei den Schlingerbewegungen keinesfalls verletzt. Er hatte nur den
Kutscher beklaut und Dörrpflaumen gehamstert, so viel er erwischen konnte. Die würden sie sich jetzt in luftiger Höhe genüßlich teilen. Inzwischen überprüfte Ben Brighton den Kurs, und bei der Standortbestimmung stellte sich heraus, daß die ›Isabella‹ bei dem Unwetter ein ganzes Stück abgedriftet war. Hasard ließ den Kurs ändern, bis die Galeone in der ungefähren Richtung von Caicos auf Kurs lag. Etwas später ertönte Dans Ruf aus dem Großmars: »Land Backbord voraus!« 3. In der Nachmittagssonne lag die Insel West-Caicos da wie ein kleines kostbares Juwel. Hinter dem feinen Sandstrand wuchsen Palmenhaine in den Himmel. Gleich dahinter begann dschungelartiges Dickicht. Die üppige Vegetation war schon von hier aus gut zu erkennen. Der Seewolf ließ weitersegeln. Er suchte eine Bucht, wie sie jede Insel aufwies, und es dauerte auch nicht lange, da hatte er diese Bucht gefunden. Sie lag versteckt, so daß man nur einen kleinen Einblick hatte, wenn man an ihr vorbeifuhr. Hasard gab achteraus Zeichen mit der Hand. Siri-Tong begriff sofort, daß sie in dieser Bucht einlaufen wollten, und gab das Handzeichen zurück, daß sie verstanden hätte. Hasard sah auf Bill, den schmächtigen dunkelhaarigen Schiffsjungen, den sie erst seit kurzer Zeit an Bord hatten. Der Junge freute sich, er warf dem Seewolf einen dankbaren Blick zu. »Ankern wir dort, Sir?« fragte er aufgeregt. »Ja, mein Junge. Wir wollen sehen, ob wir die Karavelle wieder in Ordnung bringen können.« Der Seewolf hielt es für angebracht, dem Jungen offen und
exakt auf seine neugierigen Fragen zu antworten. Er liebte es nicht, den Kleinsten der Besatzung im ungewissen zu lassen, wie es viele Kapitäne taten, für die ein Junge gar nicht zählte, und die bestenfalls ein Brummen von sich gaben, wenn sie etwas gefragt wurden. »Darf ich bei der Arbeit mithelfen, Sir?« fragte Bill den Seewolf, den er ganz offen bewunderte. »Natürlich. Und jetzt geh nach vorn und sieh zu, wenn der Anker fällt. Du mußt nach und nach alles lernen, Bill.« Hasard hatte die Verantwortung für diesen Jungen übernommen, seit sie seinen Vater sterbend auf Jamaica entdeckt hatten. Der sterbende Alte hatte Hasard noch eine Schatzkarte anvertraut, die die Lage einer »Insel der steinernen Riesen« zeigte, aber bisher wußte niemand, wo diese Insel zu finden war. Hasard gefiel der Junge, er war freundlich, aufgeweckt und hatte nie schlechte Laune. Außerdem interessierte er sich für alles und jedes und war begierig, vom Seewolf und seinen Männern zu lernen. Da er sich immer geschickt und willig zeigte, hatten ihn bald alle Seewölfe akzeptiert. So war der schmächtige Junge bei allen beliebt. »Aye, aye, Sir!« hörte Hasard noch, dann war das Kerlchen wie ein Blitz verschwunden. »Schleppleine los!« rief Ben Brighton übers Achterkastell. Die Leine wurde gelöst. Mit der letzten Restfahrt lief die Karavelle in die Bucht ein. Ja, sie lag verdammt tief im Wasser, stellte der Seewolf fest, und die rauhe See hatte ihr übel mitgespielt. Er winkte den hünenhaften Schiffszimmermann heran. »Hast du sie dir angesehen, Ferris?« fragte er. »Ja, das habe ich, allerdings nur flüchtig. Da gibt es eine Menge Arbeit, Hasard. Ein neuer Mast muß aufgeriggt, das Schanzkleid ausgebessert und einige Planken neu eingezogen werden. Und irgendwo hat der Kahn noch ein beträchtliches
Leck.« »Wie lange, denkst du, werden wir brauchen?« Tucker kratzte über seine rötlichen Bartstoppeln. »Einen Ersatzmast für die Karavelle hätten wir, ein paar Planken ebenfalls. Zwei Tage werden die Reparaturen ganz sicher dauern, vielleicht sogar drei.« »Verdammt lange«, murmelte der Seewolf. »Das war nicht eingeplant gewesen. Aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig.« »Anker hält!« dröhnte Carberrys Stimme herüber. Längst waren die Segel aufgegeit. Beide Schiffe lagen jetzt dicht vor dem Strand der Bucht im glasklaren Wasser. Hasard sah sich um. Ja, die Bucht war ideal, fand er. Zwar war sie unübersichtlich, links und rechts von Dickicht und Palmen bewachsen, aber das hatte den Vorteil, daß man sie von der Seeseite her kaum sah. Zudem konnte man schnell aus der Bucht hinaussegeln, ohne daß einem andere Schiffe den Weg verlegen konnten. Tucker räusperte sich, bis Hasard ihn fragend ansah. »Da ist doch noch der schwarze Segler«, sagte er. »Der ist so groß, daß er mehr als zwanzig Mann Besatzung braucht. Wenn Siri-Tong und der Wikinger ...« Hasard verstand sofort. »Ach, so meinst du das! Nicht schlecht, aber das können wir nicht entscheiden. Du denkst, man könnte die Karavelle sich selbst überlassen oder sie versenken.« »Richtig, jedenfalls erspart das eine Menge Arbeit.« »Ich frage die Rote Korsarin später«, versprach Hasard. »Ah, da kommt sie schon. Die hat es aber wieder mal eilig.« Der Boston-Mann pullte die Rote Korsarm gerade an das Schiff heran. Hasard staunte jedesmal, wie viele hilfsbereite Hände es an Deck gab, sobald Siri-Tong erschien. Er konnte sich ein kleines spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Alle rissen sich darum, die Leiter auszubringen oder die Leine
anzunehmen. Und dabei tat jeder dieser Höllenhunde so uninteressiert, daß es schon wieder auffiel. Die Rote Korsarin stieg an Deck. Auf ihren Degen hatte sie diesmal verzichtet, er war auch nicht erforderlich. Sie ging leichtfüßig auf Hasard zu und streckte ihm die Hand entgegen. Dabei traf den Seewolf wieder ein Blick aus den rätselhaften Mandelaugen, der ihn fast versengte. »Vielen Dank«, sagte sie schlicht. »Das gilt für alle. Ohne die Idee mit den Schlepptrossen hätten wir das Unwetter nicht überstanden. Und wenn ihr uns nicht in Schlepp ...« »Geschenkt«, unterbrach Hasard. Er tat so, als sähe er die Hand nicht, die immer noch leicht auf seinem Unterarm lag. »Das war selbstverständlich. Frage: Wie geht es jetzt weiter? Die Fahrt nach Tortuga ist geplatzt, mit deinem Schiff gelangst du da nicht mehr hin, Lady. Ich möchte aber auch nicht wochenlang hier bei der Insel liegen.« Fast hilflos zuckte sie mit den Schultern. Dann sah sie dem Seewolf fest in die Augen. »Ich kann nicht immer wieder verlangen, daß du mir hilfst, Hasard«, sagte sie leise. »Ihr habt mir schon so oft geholfen, daß es mir langsam peinlich wird. Ich bleibe hier, wir werden einen neuen Mast aufriggen und dann zurück zur Schlangeninsel oder gleich nach Tortuga segeln.« »Und wie wollt ihr den Mast aufriggen?« fragte Hasard. »Oder habt ihr inzwischen einen Zimmermann?« Der Seewolf hatte die Arme über der Brust verschränkt und sah die mandeläugige Schönheit an. »Ho«, meldete sich Ferris Tucker. »Das kleine Hölzchen riggen wir so ganz nebenbei auf.« Er übetrieb ganz gewaltig, denn das »kleine Hölzchen« aufriggen, bedeutete eine Heidenarbeit. Hasard lachte, als sie keine Antwort gab und ihn nur ansah. Himmel, hatte die Kleine einen Blick. Und das raffinierte Luderchen war sich der Wirkung ihres hilflosen Blicks auch
ganz sicher. Der kam überall an, und sogleich erscholl aus den Reihen der raunen Seewölfe gemurmelte Zustimmung. Hasard hatte aber noch einen Einwand, eben jenen, den er gerade mit Ferris Tucker besprochen hatte. »Was ist mit Thorfins schwarzem Segler?« fragte er. »Will der mit dem Kasten allein auf große Fahrt gehen?« »Ich weiß es nicht, wir haben noch nicht darüber gesprochen. Thorfin arbeitet Tag und Nacht an dem Schiff. Ich dachte, ich behalte die Karavelle.« »Was also heißt, daß wir sie doch aufriggen müssen«, beendete Hasard die Diskussion, denn was der Wikinger mit dem schwarzen Schiff vorhatte, wußte nur er selbst. Sie hatten den unheimlichen Kasten mit seinen Gerippen an Bord und den unzähligen Geheimverstecken von Little Cayman zur Schlangeninsel verholt, und das Schiff hatte sich als äußerst stabil erwiesen, so stabil wie Hasard noch keins gesehen hatte. El Diabolos Schiff war aus einem unbekannten Holz erbaut, das jahrelang der Fäulnis getrotzt hatte. Sogar schwere, herabgefallene Steine hatten es nicht beschädigt. Seither war der Wikinger in den herrenlosen Segler hoffnungslos vernarrt und setzte ihn wieder instand. Auch Big Old Shane trat jetzt zu der Gruppe, gefolgt vom alten O’Flynn mit dem Holzbein, der sich jetzt ganz gut ohne die hinderlichen Krücken bewegen konnte. »Für uns ist das kein Problem, Hasard«, sagte er in seiner ruhigen bedächtigen Art. »Und was verlieren wir schon außer zwei Tagen Zeit. Die fallen doch nicht ins Gewicht. Und die Kleine da ist doch gar nicht in der Lage, einen Mast aufzuriggen. Ferris und ich werden uns darum kümmern.« Hasard war damit einverstanden. Es war selbstverständlich, daß er Siri-Tong half. »Gut, dann fangen wir noch heute damit an«, entschied er. Ganz unbewußt hatte er dem Schiffsjungen Bill die Hand auf die Schulter gelegt. Der Bengel tat ihm immer wieder leid,
wenn er an das traurige Ende seines Vaters dachte. Bill stand ganz allein auf der Welt, er hatte niemanden mehr - und doch hatte er eine ganze Crew und sogar einen väterlichen Freund: den Seewolf, der sich um ihn kümmerte. »Ich helfe mit«, sagte er voller Eifer. »Ich habe noch nie gesehen, wenn ein Mast aufgeriggt wird.« »Hm, dich könnten wir als Pardune einscheren«, sagte der Profos lachend. »Schlank genug bist du ja.« Er warf dem Bengel einen wohlwollenden Blick zu. Bill war in seiner Achtung mächtig gestiegen, seit er den Fühlungshalter in dem kleinen Boot gespielt hatte, das die Verbindung zwischen Jean Ribault und der ›Isabella‹ hergestellt hatte. Da hatte das Kerlchen sich mutterseelenallein in das Boot gehockt und gewartet, bis die ›Le Vengeur‹ heran war, die ihn dann auffischte. Das hätte natürlich ins Auge gehen können, aber der Bursche hatte sich dabei bestens bewährt und gezeigt, wie hart er schon war, und daß er keine Angst hatte oder die Angst ganz einfach überwand. »Stenmark, du übernimmst die nächste Wache im Ausguck«, ordnete der Seewolf an. »Diese Insel ist wahrscheinlich nicht bewohnt, aber vom Meer her können Spanier aufkreuzen oder ein paar karibische Piraten, die hier fette Beute vermuten.« »Aye, aye, Sir!« Stenmark, der blonde Schwede, enterte in den Großmars auf. Hasard verzichtete nie auf einen Ausguck, weil man gerade in dieser Ecke vor Überraschungen nie sicher war. Etwas später sahen er und Tucker sich die Schäden auf der Karavelle an. Das Schiff hatte es wirklich übel erwischt, und Ferris Tucker schlug vor, den Mast aufzuriggen, das Leck abzudichten und den Rest auf der Schlangeninsel auszubessern. Eine halbe Stunde danach begann die Arbeit, zu der Siri-Tong ausnahmslos alle Männer ihrer Crew einspannte. Tucker pullte mit dem Boot wieder zurück, um den Mast zu holen, den sie als Reserve im Laderaum hatten. An Deck
stolperte er über Al Conroys Flaschensammlung und rutschte aus. »Verdammter Mist!« schrie Ferris Tucker. »Mußt du die verdammten Buddeln ausgerechnet mitten in der Kuhl aufbauen, Mann? Da kann man sich ja den Hals brechen.« »Aber nur, wenn man nicht aufpaßt und mit geschlossenen Klüsen über Deck rennt«, erwiderte der Waffen und Stückmeister Conroy in aller Ruhe. »Wir brauchen diese Dinger, Ferris, also reg dich wieder ab, schließlich hast du sie erfunden.« Tucker warf noch einen grimmigen Blick auf den Stückmeister, ehe er sich kommentarlos in den Laderaum verzog. O’Flynn, Shane, Dan, Davies und ein paar andere halfen ihm dabei, den schweren Mast nach oben zu wuchten. Nur Conroy bastelte ungerührt weiter an seinen Flaschen. Er füllte Pulver hinein, Stücke von gehacktem Blei, rostige Nägel, die er aus der Kiste des Schiffszimmermannes abgestaubt hatte, und ein paar kleine Steine. Das alles mischte er sehr sorgfältig, gab noch Zündkraut und weiteres Pulver hinzu und verkorkte die Flaschen, wobei er durch den durchbohrten Korken eine Lunte zog. Seit Ferris diese Teufelseier erfunden hatte, sammelte Conroy leere Flaschen und wachte eifersüchtig darüber, daß ja niemand eine leergetrunkene Flasche über Bord warf. Mehr als vierzig dieser Teufelseier hatte er schon fertig. Die Hektik, die an Bord der beiden Schiffe herrschte, wurde plötzlich durch einen wilden Schrei unterbrochen. Stenmark beugte sich aus dem Mastkorb und brüllte etwas, das kein Mensch verstand. Dabei überschlug sich seine Stimme. Hasard blickte sich um. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Eine halbe Sekunde blieb er stocksteif stehen. Von wegen unbewohnte Insel, dachte er.
Da kamen sie! So blitzschnell, daß nicht einmal Stenmark sie rechtzeitig bemerkt hatte. Köpfe fuhren herum, aufgeschreckt durch Stenmarks wildes Gebrüll starrten die Seewölfe über das Wasser. »Vorsicht!« schrie der Seewolf. »Geht in Deckung!« Mindestens zwanzig Auslegerboote schwammen in der Bucht und fuhren in schneller Fahrt genau auf die ›Isabella‹ zu. Weitere sieben oder acht näherten sich der Karavelle, auf der man auch erst jetzt reagierte. In den Booten standen und hockten dichtgedrängt Wilde. Sie waren mit Kriegsfarben bemalt, weiße Streifen auf brauner Haut und trugen lange gefiederte Speere in den Händen. Bis auf einen Lendenschurz waren sie nackt. In ihren Gesichtern stand eine wilde Entschlossenheit. Und dazu schrien sie aus voller Kehle nervtötende Laute herüber. In die Seewölfe kam Bewegung. Es sah ganz danach aus, als wollten die Wilden die ›Isabella‹ entern! In das wahnsinnige Geschrei mischten sich klatschende Schläge. Die ersten Speere zischten durch die Luft und blieben zitternd im Schanzkleid der ›Isabella‹ stecken. Ein paar flogen zum Mars hoch, wo Stenmark sich sofort duckte. Mit diesem Angriff hatte niemand gerechnet, und so war die Überraschung beinahe perfekt. Zumindest auf der Karavelle. Dort reagierten sie nicht so schnell wie bei den Seewölfen. Immer näher kamen die Auslegerboote, immer wilder wurde das Gebrüll der bemalten Wilden, und dann sauste ein gefiederter langer Speer haarscharf an dem Seewolf vorbei. Der lange Schaft zitterte in dem Holz des Ruderhauses. Hasard warf sein Enterrnesser. Mit Wucht geschleudert, drang es dem Wilden in den Hals, der das Auslegerboot steuerte. Ein Todesschrei gellte über die Bucht. Der Wilde erhob sich,
griff mit beiden Händen nach dem Messer und fiel über Bord. »Al! Wirf die Teufelseier, schnell! Der Kutscher soll glimmende Lunten bringen.« Hasard hatte das gerufen, aber jetzt zeigte sich wieder einmal, was die harte Schule des Seewolfs bei den Männern bewirkte. Der Kutscher flitzte schon über Deck, stellte die Messingbecken mit der glühenden Holzkohle auf und legte die Lunten daneben, die er auch gleich entzündete. Musketen waren im Augenblick nicht zur Hand. Nur Hasard und Brighton trugen ihre Pistolen. Aber damit konnten sie gegen die vielen Boote nichts ausrichten. Es waren mindestens siebzig bis achtzig Wilde, wie der Seewolf schätzte. »Kannibalen«, raunte er Ben Brighton zu, »die haben es darauf abgesehen, möglichst viele von uns lebend in die Hände zu kriegen.« »Das wird ihnen noch sauer aufstoßen«, versicherte Ben und hob die Pistole, als das erste Boot an die ›Isabella‹ stieß. Den ersten, der sich zum Entern anschickte, erledigte er mit einem gezielten Schuß. Schreiend kippte der Wilde ins Wasser. Da war Al Conroy heran. Zwei Flaschen hielt er in den Händen, bei denen schon die Lunten glommen. Die erste Flasche ließ er einfach vom Schanzkleid ins Boot fallen, die zweite schleuderte er in das andere Boot, in dem die Wilden standen und sich die Kehlen heiser schrien. Der Erfolg trat Sekunden später ein. Das Teufelsei war kaum im Boot gelandet, als sich einer der Wilden danach bückte. Was es war, konnte er nicht wissen, aber die Wirkung kriegte er gleich darauf zu spüren, nur nutzte ihm diese Erfahrung nichts mehr. Die Flasche explodierte mit einem berstenden Knall. Das Pulver ging hoch und schleuderte den Inhalt nach allen Seiten. Bleibrocken, Eisen, Nägel und Steine spritzten den Wilden um die Ohren, drangen in die Körper und rissen gräßliche Wunden. Der Tumult war unbeschreiblich. Schreie tödlich Getroffener
hallten durch die Bucht, Eingeborene wälzten sich brüllend in ihrem Blut, sprangen vor Angst und Schreck über Bord. Das Auslegerboot sackte ab, weil die Bleistücke es zerfetzt hatten. Aber schon waren die anderen heran. Sie hatten nach der Detonation gezögert, doch jetzt griffen sie mit gellendem Schrei erneut an. In der stillen Bucht tat sich die Hölle auf. Immer mehr Auslegerboote erschienen, grellbunt bemalte Wilde enterten auf Back und Steuerbord, von vorn und achtem. Und die ersten sprangen bereits an Bord. 4. Hasard blieb nicht einmal die Zeit, Stenmark zusammen zu stauchen. Der Kerl hätte besser aufpassen müssen. Aber dann sagte sich Hasard, daß er ungerecht war. Die Wilden hatten sich im Schutz des Dickichts herangeschlichen, ihre Boote getragen und sie erst zu Wasser gelassen, als sie nur noch ein paar Yards entfernt waren. Das konnte Stenmark natürlich nicht gesehen haben, selbst aus dieser Höhe nicht. Der Seewolf wunderte sich nur, daß diese Kannibalen keine Angst zeigten oder nur sehr wenig. Selbst das Knallen der Schüsse und das brüllende Dröhnen der explodierenden Flaschen hielt sie nicht davon ab, an Bord zu klettern. Aber jetzt sollten sie die Hölle erleben, diese Menschenfresser, schwor sich der Seewolf. Urplötzlich sah er sich einem baumlangen wilden Kerl gegenüber, der seinen Speer hob, einen tierischen Schrei ausstieß und ihn dem Seewolf in die Rippen rammen wollte. Der Wilde entblößte sein Gebiß und sprang vor. Um den Hals trug er eine Kette aus Knochen - Menschenknochen, wie Hasard feststellte. Dazu genügte ihm ein einziger Blick. Also lag er mit seiner Theorie richtig. Diese Kerle kämpften
nicht gegen sie als Eindringlinge, nein, sie wollten etwas ganz anderes: ihre Vorräte auffrischen und ein höllisches Fest feiern. Den Hauptbestandteil der Mahlzeiten sollte die Crew der ›Isabella‹ liefern oder auch die anderen Männer von der Karavelle. Hasard packte ein unbändiger Zorn. Seine Faust schoß vor, an dem Speer vorbei, als wollte er dem Wilden ins Gesicht schlagen, doch im selben Moment griff er zu, packte den Speer, knickte ihn mit einem gewaltigen Ruck und hielt das scharfe Ende in der Hand. »Da, du Knochenfresser!« schrie er und trieb ihm seine eigene Speerspitze in die Brust, bis nur noch ein Teil des abgebrochenen Schaftes heraussah. Der Wilde blieb stehen, riß die Augen auf, gurgelte etwas und fiel dann auf die Planken, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Hasard sprang über ihn weg, um sich den nächsten zu greifen. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn auf dem ganzen Schiff wimmelte es von Kannibalen, die mit beängstigendem Eifer angriffen. Aber jetzt waren die Seewölfe gewappnet. An Deck waren sie unschlagbar, und das kriegten die Wilden jetzt zu spüren. Matt Davies und Jeff Bowie räumten auf dem Vordeck auf. Die beiden Männer kämpften Seite an Seite. Davies trug seine scharfgeschliffene Hakenprothese rechts, Bowie links. Und er hatte von Matt gelernt, damit zu kämpfen. Was Kugeln und explodierende Flaschen nicht vermocht hatten, das besorgte zum Teil schon der Anblick der beiden scharfen Haken bei den Wilden. Entsetzt starrten sie auf die Mordinstrumente, die statt einer normalen Hand aus dem Arm wuchsen. »Staunt nur, ihr Holzköpfe!« brüllte Matt in rasender Wut. »Seht ihn euch an, damit reißen wir euch die Ärsche bis zum Hals auf, hier!« Einem der verblüfften Kannibalen hielt er das Ding direkt vor
die Nase. Der vergaß vor Schreck, mit seinem Speer zuzustechen. Er glotzte verständnislos auf den Haken. Mehr bekam er auch in seinem Leben nicht zu sehen, denn Matt schlug ihm das Ding in den Hals, riß ihn um, schleifte ihn über Deck und warf ihn mit einem wilden Schwung über Bord. Auch Jeff Bowie zeigte, was er konnte. Sein Haken sauste durch die Luft, schlitzte die Kerle auf und wandte sich dem nächsten zu. In der Kuhl wütete Ferris Tucker. Zwei, drei Wilde bedrängten ihn, bis er seine Axt zu fassen kriegte, die unter der Nagelbank lag. Das scharfgeschliffene Instrument holte mit dem ersten Schlag zwei Wilde von den Beinen, dem dritten trennte es den Hals durch. Und Tucker schäumte jetzt vor Wut, wenn er daran dachte, daß sie nichts weiter im Sinn hatten, als ihn ganz ordinär zu fressen. Dem nächsten schmetterte er die Axt ins Kreuz. Mit einem Geheul brach die buntbemalte Gestalt zusammen, zuckte noch ein paarmal und streckte sich der Länge nach auf den Planken aus. Edwin Carberry, Andrews und Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack, schlugen mit Belegnägel auf die Wollköpfe, die sie bedrängten. Und nicht weit von ihnen entfernt lauerte der riesige Gambia-Neger Batuti am Schanzkleid. Sobald einer der Angreifer hochenterte, donnerte ihm Batuti seinen schweren Morgenstern auf den Schädel. Batuti hatte sich nur darauf spezialisiert. Er lief von vorn nach achtern, gab aber immer acht, daß er auch den Rücken frei hatte. Und dann knallte es, wenn der Morgenstern durch die Luft pfiff. Tief unter ihnen, in den Booten, knallte es ebenfalls, sobald Al Conroy seine Teufeleier schleuderte. Ein Boot nach dem anderen verwandelte sich in einen nutzlosen Trümmerhaufen, und ein Wilder nach dem anderen wurde verwundet oder getötet.
Geschrei, Gebrüll, das Stöhnen Verwundeter erfüllten die Luft. Hasard hatte gerade einen der Wilden zu den Fischen geschickt und riskierte einen schnellen Blick zur Karavelle hinüber. Dort ging es ebenfalls hoch her. Wilde hatten das Deck geentert und kämpften dort wie die Teufel. Wenn man jetzt eine Drehbasse abfeuern könnte, dachte der Seewolf, aber das war ausgeschlossen, man würde die eigenen Leute dabei treffen und nur Unheil anrichten. Also mußte weitergekämpft werden, bis auch der letzte von ihnen erledigt war. Die Kerle würden es immer wieder versuchen, das war sicher. Hasard blickte entsetzt hoch. Da stand doch der Lausebengel Bill und schlich sich gerade mit einem Belegnagel an einen Wilden heran, der gegen Dan O’Flynn kämpfte. Ehe Hasard es verhindern konnte, donnerte das schmächtige Kerlchen dem Wilden den Belegnagel an den Schädel. Und dabei stieß er ein heiseres Gebrüll aus. »Sehr gut, Kleiner«, lobte Dan den Jungen. »Aus dir wird noch mal ein richtiger Haudegen.« Schon wandte Dan sich wieder dem nächsten zu. Der Seewolf hatte seinen letzten Gegner über Bord geworfen. Auf dem Achterkastell herrschte jetzt Ruhe. Es waren immer weniger geworden, die angriffen, die Seewölfe hatten sie stark dezimiert. »Hierher, Bill!« rief Hasard, als er sah, wie der Kleine sich schon wieder an eine Gestalt heranpirschte und mit dem Belegnagel drauflos klopfen wollte. Gehorsam trabte der Junge an. Seine Wangen glühten, und in seinen Augen funkelte ein Feuer. Das verging jedoch rasch, als er in die eisblauen Augen des Seewolfs blickte. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst in meiner Kammer bleiben?« fragte er streng. »Aye, aye, Sir, das haben Sie gesagt.«
»Und was tust du dann trotzdem hier an Deck, du Läuseknacker?« »Sir!« Der Junge straffte sich und reckte die magere Brust raus. »Ich war auch in Ihrer Kammer, ganz bestimmt, Sir. Doch dann wurde das Geschrei immer lauter, und ich dachte, Sie seien in Gefahr, Sir. Deshalb lief ich nach oben, um Ihnen beizustehen. War das falsch, Sir?« fragte er treuherzig. »Ich hab mich nur um Sie und die anderen gesorgt.« »Mann - hau bloß ab«, sagte Hasard rauh, »und komm mir nicht noch mit lausigen Sprüchen, mein Bürschchen. Du verstehst es wohl, die empfindlichen Stellen zu treffen, was!« »Genau, Sir, ich hab den Wilden immer auf den Schädel gehauen. Haben Sie das gemeint, Sir?« »Nein, verdammt, ich habe was anderes gemeint. Du wirst es schon wissen, Bill!« »Aye, aye, Sir! Soll ich wieder nach unten gehen?« Hasard warf dem Jungen einen langen Blick zu. Dann legte er ihm die Hand schwer auf die Schulter. »Ich möchte nicht, daß dir was passiert, klar? Und so etwas ist noch nichts für dich, Mister. Dabei kann man ganz schnell eins auf den Schädel kriegen, ebenfalls klar?« »Aye, aye, Sir!« »Gut, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe. Ich werde auf dich aufpassen und einen richtigen Seewolf aus dir machen. Aber das geht nicht von heute auf morgen, das dauert schon ein paar Tage länger. Und jetzt hau ab, du Würstchen und laß dich erst dann wieder blicken, wenn alles vorbei ist. Hat das in deinem Schädel Platz gefunden?« Der Lümmel strählte. Er wußte genau, wie die Worte des Seewolfs gemeint waren, und so rauschte er ab in Hasards Kammer, nicht ohne noch einmal zu grinsen. Das Deck der ›Isabella‹ war jetzt wie leergefegt, wenn man von den Wilden absah, die nicht mehr standen. Der Rest war in allergrößter Panik geflüchtet. Ein Teil hockte in den Booten,
ein paar andere schwammen wie verrückt, und auch von der Karavelle hatten sie sich zurückgezogen. In aller Eile verließen sie das Schlachtfeld, hoben ihre Speere und drohten noch einmal herüber. Hasard sprang an die achtere Drehbasse. In den Planken neben ihr steckten gefiederte Lanzen. Die Burschen sollten noch einen letzten eisernen Gruß erhalten, bevor sie verschwanden. Vielleicht hielt sie das vor weiteren Unbesonnenheiten ab. Da das Geschütz feuerbereit war, brauchte Hasard nur die Lunte an den Pulverschlitz zu halten und die Drehbasse ein wenig zu schwenken. Und dann wummerte sie los. Grobgehacktes Blei flog aus dem Rohr und überschüttete zwei flüchtende Boote mit einem Hagel aus bleiernen Brocken. Zwei Boote flogen auseinander, die Wilden wurden durcheinandergewirbelt und gingen über Bord. Die anderen verschwanden so schnell, wie sie nur konnten. Jetzt war auch im Wasser die Hölle los. Haie waren in der Bucht erschienen, angelockt von dem Blutgeruch, dem wilden Getümmel und Geschrei und dem Gezappel im Wasser. Jetzt pfeilten sie wild durcheinander, rissen ihre Beute und jagten sich gegenseitig, obwohl sie genug fanden. Immer mehr zeigten sich, und bald wimmelte es in der Bucht von den dreieckigen Flossen, die wie rasend durchs Wasser schnitten. »Werft die Toten über Bord!« befahl der Seewolf. »Ist einer von euch verletzt?« »Unbedeutend«, sagte Carberry und winkte ab. »Ein paar Kratzer. Bob Grey hat eins auf die Rübe gekriegt, aber der kommt bald wieder zu sich. Ich sage dem Kutscher Bescheid.« Ernsthaftere Verletzungen hatte niemand davongetragen. Es war bei ein paar Blessuren, Prellungen und Stößen geblieben, die sich später zu prächtigen Beulen entwickeln würden. Der Kutscher erschien und ging gleich seine Runde. Aber bei
fast jedem winkte er ab. »Heilt von allein, und gegen die Beulen bin ich sowieso machtlos, die vergehen wieder.« Und da es an Bord immer rauh und herzlich zuging, brauchte Bob Grey auch nur zwei Ohrfeigen, um wieder aufzuwachen. Er nahm das nicht übel, schaute sich nur verdutzt um und grinste. »Den Rest muß ich glatt verschlafen haben«, sagte er. »Jetzt hättet ihr mich auch nicht mehr wecken brauchen.« Die Toten flogen über Bord, wobei der Profos mißmutig zusah. »Vielleicht sollten wir sie lieber den Kerlen überlassen«, sagte er. »Solange sie ihre eigenen fressen, gehen sie wenigstens nicht an uns ran. Da hätten sie eine Woche lang was zu mampfen.« »Hör bloß auf, du altes Ferkel«, fauchte Luke Morgan. »Mir wird schon schlecht, wenn ich mir das nur vorstelle.« »Mach dir nicht die Hosen voll, du Hering«, murrte der Profos zurück. »Das sind nun mal Menschenfresser, daran werden wir nichts ändern. Es ist ja nicht das erste Mal, daß wir Bekanntschaft mit solchen Wilden schließen.« »Aufhören«, befahl Hasard. »Wascht lieber das Deck ab, damit das Blut verschwindet und nicht eintrocknet. Den ersten Angriff haben wir abgewehrt, aber ich fürchte, der zweite wird nicht lange auf sich warten lassen. Ja, was ist?« wandte er sich an Stenmark, der etwas sagen wollte. »Es tut mir leid«, sagte der blonde Schwede leise. »Aber es war mir nicht möglich, die Kerle eher zu entdecken. Sie müssen dort im Dickicht gelauert haben und sind von der anderen Seite gekommen, wo vermutlich ihre Boote lagen.« »Kein Mensch wirft dir etwas vor, Sten. Ich habe mir das bereits selbst angesehen. Man hat aus dem Großmars keinen Überblick. Vergiß es!« »Danke, Sir!«
Stenmark war sichtlich erleichtert. Insgeheim hatte er sich mit Selbstvorwürfen überhäuft. In der Bucht tobten noch die Haie. Sie ließen nichts übrig, gar nichts. Manchem der Seewölfe lief ein Schauer über den Rücken, wenn diese gefräßigen Biester in ihrer grenzenlosen Gier hart an den Schiffsrumpf stießen. Das Wasser in der Bucht war rötlich gefärbt und immer wieder zogen sich blutige Schleier hindurch. Der Seewolf wollte noch etwas sagen, doch in diesem Augenblick ertönte von der Karavelle die Stimme des Bootsmannes. »He, ›Isabella‹! Ist die Korsarin bei euch an Bord? Und der Boston-Mann, habt ihr den auch?« Hasard durchfuhr es siedendheiß. Auch in den anderen Gesichtern las er Entsetzen, »Nein, keiner von den beiden ist hier an Bord. Sie müssen bei euch sein, sie waren die ganze Zeit dort!« rief er zurück. Er sah, wie Juan den Kopf schüttelte. »Ein Mann ist bei uns getötet worden«, sagte er laut. »Dann haben wir noch einen Verletzten. Aber unser Kapitän fehlt, und der Boston-Mann ebenfalls. Seht doch mal nach, Leute!« Der Profos stieß einen erbitterten Fluch aus. »Himmel, Arsch! Wenn die beiden hier wären, hätten wir sie längst entdeckt, oder sie hätten sich gemeldet. Es gibt nur eine Möglichkeit. Sie sind den Wilden in die Hände gefallen. Bei dem Getümmel hat ja einer den anderen nicht mehr gesehen.« Auf beiden Schiffen herrschte jetzt große Aufregung. Siri-Tong fort! Der Boston-Mann verschwunden! Hasard griff sich an den Kopf. »Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte er. »Und niemand soll das gesehen haben?« Blitzschnell wurde das Schiff durchsucht, obwohl Hasard den Ausgang der Suche schon kannte. Es war ausgeschlossen, daß die beiden sich an Bord befanden. Und so war es auch.
»Es gibt noch eine zweite Möglichkeit«, sagte er leise. »Die beiden sind bei dem Gewühl über Bord gegangen und von den Haien zerrissen worden.« Er schalt sich selbst einen Narren, daß er aus der Drehbasse noch einmal hinterhergefeuert hatte. Was, wenn die beiden in einem der Auslegerboote gewesen waren? Nein, das war ausgeschlossen. Sie mußten den Wilden in die Hände gefallen sein, in dem Boot waren sie jedenfalls nicht, sonst hätte er sie gesehen. Die Kannibalen waren bestimmt still und heimlich losgefahren, nachdem sie zwei Leute erwischt hatten. Was es bedeutete, Kannibalen in die Hände zu fallen, war Hasard klar. Da gab es nur eine Alternative. »Das Schiff klarmachen zum Gefecht«, sagte er. »Alle Culverinen prüfen, die Drehbasse nachladen. Anschließend werden wir einen bewaffneten Trupp zusammenstellen und die Wilden suchen. Los, fangt an, keine Zeit verlieren!« Durch die haiverseuchte Bucht pullte Juan mit dem Boot herüber. Er enterte auf und blickte auf Deck umher, als hätten sich die Gesuchten hier versteckt. »Wir sollten etwas unternehmen, Sir«, sagte er zu Hasard. »Lassen Sie zuerst Ihr Schiff gefechtsklar machen«, antwortete der Seewolf. »Der nächste Überfall kann jeden Augenblick erfolgen. Niemand weiß, wie viele Wilde es hier auf der Insel gibt. Sorgen Sie also vor, Juan!« »Aber unser Kapitän ...« wandte der Bootsmann ein. »Darum werden wir uns sofort kümmern. Wir werden gleich einen Trupp zusammenstellen. Im übrigen halte ich es für besser, wenn Sie die Karavelle näher an uns heranbringen.« Seit Siri-Tong verschwunden war, hatte ihre Crew ganz offensichtlich den Kopf verloren. Kühl und beherrscht blieb keiner. Jeder hätte am liebsten etwas völlig Sinnloses getan. Und dieser Kerl von einem Bootsmann blieb wie belämmert an Deck stehen, ohne sich zu rühren. Dann bückte er sich zu allem
Überfluß noch und blickte unter die Nagelbank. »Hör mal zu, du Kacker!« pfiff ihn der Profos an. »Die Korsarin hat sich nicht unter der Nagelbank versteckt, und der Boston-Mann ebenfalls nicht. Ist das klar? Und nun verzieh dich und tue das, was unser Kapitän sagt, Mann! Sonst seid ihr in der nächsten halben Stunde von den Wilden gefressen.« Zuerst wollte Juan aufbrausen, aber als Carberry angriffslustig sein gewaltiges Kinn vorschob, hielt er es für besser, hastig die Flagge zu streichen und zurückzustecken. »Nehmt mich wenigstens mit, wenn ihr an Land geht«, bat er, »damit wir es diesen Affenärschen mal zeigen können. Wenn die der Roten Korsarin...« »So schnell frißt es sich nicht«, sagte Carberry. Juan enterte wieder ab und pullte zurück. Carberry schüttelte den Kopf. »Mann«, stöhnte er. »Diese Vögel wissen sich aber auch gar nicht zu helfen. Wenn denen nicht ständig einer in den Achtersteven tritt, sind sie hilflos. Wenn ich bei denen Profos wäre, dann, na ja, lassen wir das.« Die Drehbasse war inzwischen wieder nachgeladen. Musketen lagen bereit, in den Messingbecken glühte frische Holzkohle. Wenn die Wilden tatsächlich zurückkehrten, dann griffen sie natürlich nicht von der Landseite an, sondern ruderten um das unübersehbare Stück der Bucht herum. Das ging immer noch äußerst schnell, zudem das Dickicht nicht einzusehen war. Hasard überlegte, ob er dort nicht einen Mann oder zwei postieren sollte, um vor Überraschungen einigermaßen sicher zu sein. Aber auch das war riskant. Die Wilden kannten hier jeden Strauch, jede Palme und konnten Fremde jederzeit aus dem Hinterhalt überfallen. Hasard beschloß daher erhöhte Wachsamkeit. Und das sollte sich gleich darauf auszahlen. Wiederum ging
alles unheimlich schnell Juan war gerade wieder an der Karavelle aufgeentert, als Dans Ruf aus dem Großmars ertönte. »Achtung! Sie kommen!« Er hatte eine Muskete mitgenommen, mit der er jetzt sorgfältig das vorderste Boot anvisierte. Wieder standen die Kannibalen dichtgedrängt in dem Boot, ihre langen gefiederten Speere griffbereit in der Hand. Schon hob sich der erste Speer, da drückte Dan ab. In der Brust des Speerwerfers erschien ein Loch so groß wie eine Faust. Er kippte nach hinten, überschlug sich und landete ohne ein Wort im Wasser. Die anderen hielten eine Sekunde lang mit Paddeln inne, dann näherten sie sich noch schneller. Ihre Fratzen waren noch grausiger als zuvor bemalt. Jetzt hatten sie auch um die Augen herum weiße Ringe, mit roten Längsstrichen darin. Al Conroy richtete die beiden Drehbassen aus, wartete in aller Ruhe und blickte nur auf die Hand des Seewolfs, die immer noch ruhig in der Luft hing. Sechs, sieben Boote glitten jetzt heran. Im zweiten befand sich ein herkulisch gebauter Wilder, der am ganzen Körper der Länge nach mit grellweißen Streifen bemalt war. Er schien höhnisch zu grinsen und hielt seinen gefiederten Speer so, daß jeder deutlich sehen konnte, welche Bewandtnis es damit hatte. Hasard zuckte unwillkürlich zusammen, als er die grausige Trophäe des Wilden sah. Der aufgespießte Kopf eines Weißen starrte ihn an. 5. Zuerst hielt er den Schädel für den Kopf des Boston-Mannes. Aber bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß er es doch nicht war. Vielleicht handelte es sich um einen Spanier, so
genau ließ sich das nicht sagen. Der Wilde hob den Speer noch höher und reckte ihn auffordernd den Seewölfen entgegen, als wolle er ihnen durch den Anblick Furcht einflößen. Das schaffte er zwar nicht, aber unter den Männern waren doch einige, die ein kalter Schauer überrannte. Der Kopf war noch nicht alt, der Mann dort hatte erst vor kurzer Zeit sein Leben ausgehaucht. Als er das zweite Mal herausfordernd den Speer hochstieß, zuckte die Hand des Seewolfs nach unten. Auf diesen Moment hatte Al Conroy, der geradezu einen Haß auf den Wilden hatte, nur gewartet. Die Drehbasse schwenkte nur noch etwas herum, dann fraß sich die Glut in das Zündkraut, und der brüllende Abschuß erfolgte. Blei, Eisen und Splitter sausten aus dem Rohr und schlugen gleich darauf zwischen den Auslegerbooten mit unerhörter Wucht ein. Zwei Boote zerriß es buchstäblich in kleine Fetzen, einschließlich der Menschenfresser, die darin hockten. Die zweite Drehbasse ballerte los und ein dunkelgelber Rauchschleier legte sich über das Deck. Der Wilde mit der makabren Trophäe wurde hoch in die Luft geschleudert. Seinen Körper zersiebte es noch in der Luft. Er kam nicht mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Zusammen mit dem abgeschlagenen Kopf verschwand er im Wasser. SiriTongs Männer feuerten mit Musketen, und einmal erfolgte der Abschuß aus einer Demi-Culverine, der eins der Boote traf und die grellbemalten Gestalten durcheinanderwirbelte. »Paßt auf, daß sie gar nicht erst aufentern«, warnte der Seewolf seine Männer. Und die Seewölfe paßten auf. Wo immer sich ein Wilder zeigte, traf ihn eine Kugel. »Shane, Batuti!« rief Hasard. »Schießt ihnen ein paar Brandpfeile in die Boote!«
Die riesigen Bögen der beiden Männer lagen bereit. Die Pfeilspitzen wurden in die glühenden Kohlebecken gelegt und angezündet. Shane legte den ersten Pfeil auf die Sehne. Dicht hinter der Spitze, im hohlen Schaft, befand sich die Pulverladung, die sich nach dem Aufschlag entzündete. Zwei Pfeile schwirrten gleichzeitig von den Sehnen. Batutis Pfeil war noch unterwegs, als das Boot leicht wendete. So traf er nicht das Boot selbst, sondern einen Wilden. Der Pfeil fuhr ihm in die Brust, das Pulver entzündete sich und eine Stichflamme leckte an seinem Körper hoch. Im Nu standen die Haare des Wilden in Flammen. Er schrie gellend, griff sich an die Stelle, in der der Pfeil steckte und kippte über Bord. Shanes Pfeil traf das Boot und setzte es in Brand. In blinder Panik hechteten die Kannibalen ins Wasser. Diese brennenden Pfeile stifteten heillose Verwirrung unter ihnen und versetzten sie fast noch mehr in Angst und Schrecken als die dröhnenden Abschüsse der Drehbassen. Doch die Übermacht wurde noch größer. Sie schienen aus dem Nichts aufzutauchen. Immer mehr wurden es, aber sie gingen der ›Isabella‹ aus dem Weg und konzentrierten sich mehr und mehr auf die Karavelle, auf der jetzt ein heftiger Kampf entbrannte. Hasard ließ weiterfeuern, und als die ›Isabella‹ leicht herumschwoite, gelangten auch die Culverinen zum Einsatz. Die Bucht war von Pulverqualm erfüllt. Im Wasser trieben die Leichen der Wilden und das Kleinholz von den zerschossenen Booten. Dazwischen rasten die Haie. Ferris Tucker wischte über sein schweißnasses Gesicht. Er hustete. »Die Kerle lassen sich massenweise abschlachten«, sagte er. »Es scheint sie gar nicht zu berühren. So was Hartnäckiges habe ich auch noch nicht erlebt.« Hasard legte gerade mit der Radschloßpistole auf einen
Kannibalen an, der aus dem Boot gefallen war und nun versuchte, an der Galeone aufzuentern. Er feuerte, der Wilde sank zurück in das Element, in dem die Haie tobten. Gleich darauf wurde er gepackt und von den reißenden Bestien unter Wasser gezogen und zerfleischt. »Hier muß es noch ein anderes Schiff geben«, sagte der Seewolf. »Entweder haben sie Spanier oder Portugiesen geschnappt. Und es sieht nicht so aus, als hätten sie den Kampf alle überlebt. Verdammt«, unterbrach er sich, »jetzt entern sie schon wieder den Zweimaster, und wir können nicht helfen.« Sie hatten wirklich genug zu tun, um sich die Wilden vom Leib zu halten, die in immer größeren Scharen in die Bucht drängten. Ihr gellendes Geschrei ließ die Männer frösteln. Und insgeheim mußten sie widerwillig den Mut bewundern, mit dem die Wilden angriffen, pausenlos, ohne auf die schweren Verluste zu achten, die ihnen ständig zugefügt wurden. Sie waren wie Ameisen. Ein riesiges Heer, das sich ständig vergrößerte. Wurden etliche von ihnen umgebracht, erschienen sofort wieder neue auf dem Kampfplatz. »Kein Wunder, daß die Nahrungssorgen haben«, sagte Tucker, »bei der Vielzahl. Na, wir werden das Problem schon lösen.« Jetzt schossen die Seewölfe mit Musketen auf die Karavelle. Sie zielten sehr sorgfältig, nahmen genau Maß und pickten einen nach dem anderen aus der wilden Horde heraus, um nicht die Leute Siri-Tongs zu treffen. Hasard ärgerte sich über die Sorglosigkeit der anderen. Sie waren kaum noch in der Lage, sich vernünftig zur Wehr zu setzen. Sie waren einfach nicht auf einen zweiten Angriff vorbereitet. »Laß die Kanonen nachladen, Ferris«, sagte Hasard. »Wir haben eine günstige Position erreicht. Die Drehbassen nutzen uns im Augenblick nicht viel, außerdem könnten wir die anderen treffen.«
Ben Brighton war schon dabei, zusammen mit Al Conroy. Abwechselnd warfen die beiden Männer in weit ausholenden Bewegungen ihre Teufelseier in die Boote. Manche Pulverflasche versank nutzlos im Wasser, doch der größte Teil landete in den Booten und richtete verheerende Folgen an. Ferris Tucker, der jetzt ebenfalls mithalf, die Geschütze zu reinigen und nachzuladen, entzündete eine weitere Flasche und warf sie in ein Boot, das dicht herangerückt war. Er sah, wie einer der Wilden die Flasche auffing, und glaubte, der Kerl wäre so schlau, sie zurückzuwerfen. Doch darin sah er sich getäuscht. Der Mann besah sich die Flasche, faßte an die Lunte, untersuchte sie und schnüffelte sogar daran. Eine Sekunde später krepierte das Ding in seinen Händen und riß ihn auseinander. Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Verrückt sind die auch noch«, sagte er. »Die haben anscheinend immer noch nichts gelernt.« Von der Karavelle scholl wüstes Gebrüll herüber. Dort kämpften die anderen jetzt ums nackte Überleben. Juan und Bill the Deadhead, der Mann mit dem goldenen Totenkopf auf der Brust, hieben wild mit langen Degen um sich. Sie köpften einen nach dem anderen, aber sie mußten auch viel einstecken. Und dann gellte ein Schrei durch die Bucht. »Feuer!« schrie jemand von der Karavelle. Hasard fuhr herum. Tatsächlich. Auf dem Zweimaster loderte ein Brand auf. Flammen sprangen über Deck, das blutrote, aufgegeite Lateinersegel fing plötzlich Feuer und stand in hellen Flammen. Fluchtartig verließen die Wilden, die eben noch erbittert gekämpft hatten, das Schiff und sprangen ungeachtet der vielen Haie einfach über Bord. Im Wasser versuchten sie, ihre Auslegerboote zu erreichen. Dann paddelten sie los. »Weiterfeuern!« schrie Hasard durch den Lärm. »Jagt ihnen
die ganze Breitseite nach. Haltet genau auf die Boote!« Die Culverinen wummerten los. Siebzehnpfünder hackten in die Boote, zerrissen sie und hoben die Wilden außenbords, die versuchten, die Bucht zu runden und im Dickicht zu verschwinden. Ein Boot nach dem anderen wurde getroffen, den restlichen gelang die Flucht, als sie sich im toten Winkel der Culverinen befanden. Auf der Karavelle dehnte sich der Brand weiter aus. Das Segel brannte lichterloh, einzelne Flammen leckten bereits am Mast hoch. Von dort sprang das Feuer weiter aufs Deck hinunter, züngelte über die Planken und fraß sich zu den Räumen. Zum Glück war das Holz nicht ganz trocken. Die überkommenden Seen hatten für reichliche Nässe gesorgt, und so fand das Feuer nur schlecht Nahrung. Hasard sah, wie die Männer mit Pützen durcheinanderrannten und eine lange Kette bildeten. Sie stiegen über die Leichen der Wilden, die an Deck lagen, und schleuderten das Wasser hoch zum Mast hinauf. Niemand wußte, wie der Brand entstanden war. Vermutlich war ein umgefallenes Messingbecken mit glühender Holzkohle daran schuld gewesen, vielleicht hatte es auch einer der Wilden in das Segel geschleudert. »Die Boote abfieren«, sagte Hasard. »Nehmt Pützen mit. Fünf Mann pullen mit hinüber, du auch Bill«, wandte er sich an den Schiffsjungen. »Die anderen bringen das Schiff in erhöhte Alarmbereitschaft. Die Kerle kriegen es fertig, und tauchen zum drittenmal hier auf. Wir anderen helfen inzwischen löschen.« Im Nu waren die Boote abgefiert. Hasard, Ben Brighton, Dan, Big Old Shane und Bill kletterten hinein. Dann sprang noch Will Thorne, der Segelmacher, hinterher. In aller Eile pullten sie zu der brennenden Karavelle hinüber und enterten auf.
Für Worte oder Vorwürfe blieb keine Zeit. Sofort wurde eine zweite Kette gebildet, Pützen tauchten in die See, wurden hochgehievt und weitergereicht. Wasser klatschte in die Flammen, es prasselte, zischte, Funken stoben über Deck. Jeder arbeitete aus Leibeskräften, damit der Zweimaster nicht ein Raub der gierig leckenden Flammen wurde. Bald waren die Männer rußgeschwärzt. Sie schufteten wie verbissen, unermüdlich. Das Lateinersegel war nicht mehr zu retten, aber es gelang ihnen, wenigstens den angekohlten Mast zu löschen. Dann waren die glimmenden Fetzen des Segels an der Reihe, die über Deck tanzten und immer wieder in die kalfaterten Ritzen der Planken fielen und dort weiterglühten. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Juan seufte erleichtert. »Das ist noch einmal gutgegangen«, sagte er, »ohne euch hätten wir es nicht geschafft. Weiß der Teufel, woher das Feuer so plötzlich kam.« Müde und ausgepumpt ließ er sich an Deck nieder. »Holt einen Schluck Rum für die Männer«, befahl er. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Hasard. »Wir müssen uns zuerst um Siri-Tong und den Boston-Mann kümmern. Den Schluck könnt ihr euch für später aufheben.« »Wie Sie meinen, Mister Killigrew«, sagte Juan erschöpft. Er akzeptierte den Seewolf schon lange, und wenn der hier etwas sagte, hatte das fast mehr Gewicht, als wenn die Rote Korsarin Befehle gab. Auch die anderen nickten beifällig. »Wer von euch geht mit?« fragte Hasard. Fast alle meldeten sich, aber der Seewolf winkte ab. »Juan und Bill genügen, wir selbst stellen den Hauptanteil. Ihr anderen haltet euer Schiff gefechtsbereit. Zwei Mann gehen Wache und sehen nach, ob nicht noch irgendwo Funken glimmen, die einen neuen Brand verursachen. Bewaffnet euch, und dann nichts wie los, Männer!«
»Na los, ihr Lahmärsche, steht nicht rum, glotzt nicht!« fauchte Juan los. »Wenn die Leichenfresser wiederkommen, seid ihr dran, dann geht’s euch an den Kragen.« Bill strahlte den Seewolf aus rußgeschwärztem Gesicht an. Seine Arme schmerzten, er fühlte sich wie gerädert, und jeder einzelne Knochen tat ihm weh. Aber er hatte was geleistet, und das zählte, denn die Männer sparten nicht mit Lob. »Der Wind ist ablandig, Sir«, sagte er zu Hasard. »Und nur ganz schwach. Könnte man nicht Öl aufs Wasser gießen und ...« Hasard sah das Kerlchen belustigt an. »Und wozu sollte das gut sein?« fragte er erstaunt. »Wissen Sie, Sir, ich meine, es ist nur eine Idee, ich weiß nicht genau, wie ich mich ausdrücken soll.« »Am besten so, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Sprich ruhig, auch wenn es sich umständlich anhört.« Durch Hasard Worte ermuntert, kriegte der Junge einen knallroten Kopf. Verlegen blickte er in die Runde. »Wenn am Eingang zur Bucht je zwei Männer aufpassen, in Booten natürlich, und wenn sie dann Öl aufs Wasser gießen und Lunten bereithalten, dann brauchen sie das Öl nur anzustecken, wenn die Wilden erscheinen. Das bildet dann ein Hindernis, durch das sie bestimmt nicht mit den Booten fahren werden.« Einen Augenblick starrten die Männer das Kerlchen verblüfft an. Ideen hatte der Kleine! Dann schlug ihm Hasard auf die Schulter, daß er fast in die Knie ging. »Junge«, sagte er, »das ist wirklich eine gute Idee. Damit wären wir vor den Kerlen zunächst sicher.« »Noch ein bißchen Pulver oben aufs Öl«, murmelte Bill, »dann brennt es schneller.« Die Blicke, die Bill trafen, waren anerkennend. Der Bengel wandte sich verlegen mit hochrotem Kopf ab, als ihm ein paar andere ebenfalls auf die Schulter schlugen.
»Klar, das nehmen wir gleich in Angriff«, sagte Juan. »Der gute Gedanke muß genutzt werden.« Alle fanden die Idee gut, und so schickte Juan gleich drei Mann im Boot hinaus, die die Sperre errichten sollten. Hasard hatte es jetzt eilig. Niemand wußte, was inzwischen mit Siri-Tong und dem Boston-Mann geschehen war. Vielleicht bereiteten die Wilden schon alles zum Festmahl vor. Sie pullten zurück zur ›Isabella‹. Juan und Bill the Deadhead nahmen sie mit. Dann wurde das Vorgehen noch einmal durchgesprochen, damit es keine Pannen gab. Hasard bestimmte die Männer, die den Trupp bilden sollten. »Carberry«, sagte er, »Ben Brighton, Matt Davies, Dan O’Flynn und Ferris Tucker. Dazu Bill the Deadhead und Juan. Mit mir sind das acht Leute. Das müßte genügen, damit werden wir die Burschen ausräuchern, daß ihnen die Lust an weiteren Überfällen vergeht.« Er ließ Waffen ausgeben, Pistolen, Entermesser, einen Degen. Ferris Tucker verließ sich lieber auf seine mörderische Axt, andere Waffen lehnte er ab. Mit der Axt hatte er immer noch das geschafft, was er wollte. Bill meldete sich auch noch einmal zaghaft zu Wort. Er wollte mit, aber diesmal lehnte Hasard ab. Was sie vorhatten, war zu gefährlich, dazu war der Bengel wirklich noch zu jung, auch wenn er schon mit Belegnägeln auf fremden Köpfen herumdrosch. Außerdem hatte er sich schon mehrmals bewährt, und dies war eine Sache für harte Kerle. Etwas später legte das Boot mit den bewaffneten Seewölfen ab und wurde an den Strand gepullt. Bevor sie nach links ins Dickicht eindrangen, sahen sie noch, wie Siri-Tongs Leute Öl auf das Wasser gössen und eine dünne Schicht Pulver darüber streuten. Die glimmenden Lunten hielten sie in den Händen und warteten. Sollten die Wilden noch einmal angreifen, würden sie ihr blaues Wunder erleben.
6. »Wir halten uns nach links«, sagte der Seewolf. »Auf der rechten Seite können sie nicht sein, da gibt es auch nicht viel Vegetation. Paßt gut auf, es ist möglich, daß sie uns beobachten. Haltet immer die Waffen bereit.« Ferris Tucker nickte grimmig. Er packte den Stiel seiner Axt fester. Dan O’Flynn hatte sich mit zwei Pistolen bewaffnet, Bill the Deadhead trug einen Degen, und der Profos war mit einem schweren Prügel und einer Pistole bewaffnet. Gleich hinter der ersten Landzunge, wo das Dickicht wuchs, fanden sie zwei Auslegerboote. In einem lag ein getöteter Wilder, dem ein Musketenschuß die Brust zerfetzt hatte. Die Männer sahen ihn sich voller Abscheu an. Dabei berührte sie es nicht, daß er ein Wilder war. Was sie abstieß, war die Tatsache, daß diese Kerle Menschenfleisch aßen. Der Wilde hatte ein dunkelbraunes, breitflächiges Gesicht, das mit heller Erde beschmiert war. Sein Oberkörper war nackt bis auf den Lendenschurz, den er trug, und die Kette aus Menschenknochen, die um seinen Hals baumelte. Wahrscheinlich waren es die Fingerknochen einer menschlichen Hand, dachte Hasard. In weißen Längsstreifen war sein Gesicht wie eine Fratze bemalt. Aus der Nähe wirkte die Gestalt noch viel unheimlicher. Sein Körper war an manchen Stellen tätowiert, darunter befanden sich einige Flecken, die man erst kürzlich dieser Behandlung unterzogen hatte. Angewidert wandten sich die Männer ab. »Wenn ich mir vorstelle, daß der hier vielleicht schon ein paar Spanier oder Portugiesen gefressen hat, wird mir ganz übel«, sagte Dan. Carberry grinste breit.
»Vielleicht schmecken die Dons gar nicht so schlecht«, sagte er, »das hängt natürlich ganz von den Gewürzen ab und ob sie gut gesalzen sind. Engländer sind in jedem Fall zäher, glaube ich. Und außerdem ist nicht viel dran an ihnen.« »Hör auf«, stöhnte Dan. »Wenn du erst einmal in dem Suppentopf steckst, werden dir deine großen Töne von ganz allein vergehen.« »Quasselt nicht soviel«, warnte der Seewolf. »Denkt lieber daran, daß es hier von diesen Wilden nur so wimmelt.« Darauf bedacht, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, zog die Gruppe weiter. Es gab einen Trampelpfad, den die Wilden wohl benutzten, denn überall fanden sich Spuren von ihnen. Nur zu sehen war keiner. Entweder hatten sie sich mit ihrer Beute zurückgezogen, oder sie lauerten irgendwo in dem Dickicht, bereit zum blitzschnellen Zuschlagen. Hasard, der vorausging, achtete immer wieder auf Ben Brighton, der den Schluß bildete. Schon mehr als einmal war es passiert, daß Eingeborene jeweils den letzten Mann in einer Kolonne töteten. Das war die unauffälligste Art und Weise, denn nur selten drehte sich jemand nach dem Schlußmann um. Aber auch Ben war auf der Hut und sah sich häufiger um. Als hinter ihm ein Krächzen ertönte, fuhr er blitzschnell herum und brachte die Waffe in Anschlag. Ein bunter Papagei erhob sich protestierend, der sich in seiner Ruhe gestört glaubte, krächzte heiser und flog in torkelnden Bewegungen auf einen anderen Ast. »Mistvieh!« sagte Ben voller Inbrunst. Eine knappe Meile waren sie schon gegangen, als Dan nach dem Arm des Seewolfs griff. »Vorsicht«, sagte er leise, »da vorn bewegt sich etwas.« Hasard hob die Hand, die anderen blieben sofort stehen. Es war ein Stoffetzen, der von einem Strauch flatterte, sobald ein leichter Luftzug ihn bewegte. Ein Teil eines Hemdes, wie es den Anschein hatte.
Vor ihnen lag eine Lichtung, in die grell das Sonnenlicht einfiel. Weiter links führte ein weiterer Trampelpfad wieder zum Wasser hinunter. Eine schwache Brise wehte bis hierher, die Luft roch salzig, vermischt mit dem Duft zahlreicher Blüten. Dans scharfe Augen entdeckten aber noch mehr, und unwillkürlich zuckte er zusammen. »Feuerstellen«, sagte er leise. Da sich auf der Lichtung nichts rührte, und auch nichts zu sehen war, trat Hasard vor, gefolgt von den anderen, die sich immer wieder nach allen Seiten umsahen. »Knochen!« preßte Matt Davies heiser hervor. »Überall liegen Knochen.« Ein kühler Schauer überrann sie ausnahmslos alle, als sie die drei Feuerstellen sahen. Schwarze, in den Boden gebrannte Flecken waren es, drumherum lagen größere Steine. Und neben den Steinen lagen abgenagte Knochen im Sand. Niemand sprach ein Wort. Schweigend und voller Entsetzen sahen sie auf abgenagte Armknochen, auf Beine, auf Rippen, Schenkel und Hände. Dan O’Flynn, sonst einer der abgebrühtesten aus der Mannschaft, würgte es, er wurde grün im Gesicht und lehnte sich schweratmend an den Stamm eines Baumes. »Scheußlich«, keuchte er, »wenn mir noch einer von denen vor das Rohr läuft, ist er erledigt.« Hasard sagte nichts dazu. Die Kannibalen selbst hielten es vermutlich für eine ganz natürliche Angelegenheit und hätten sich über das Entsetzen höchstens gewundert. Aber es hatte keinen Zweck, irgendeinem seiner Männer das zu erklären. Verstehen würde es doch niemand. Und er selbst hatte ebenfalls kein Verständnis dafür, wenn er es auch begriff. Jedenfalls war und blieb es ekelerregend und abscheulich. Manche der Knochen wiesen noch angekohlte Fleischfetzen auf, andere waren wie blank poliert.
Brighton stand neben dem Seewolf. Er deutete mit dem Kinn auf die Überreste menschlicher Lebewesen. »Wie viele mögen es sein, was schätzt du?« »Mindestens zehn«, sagte Hasard mit rauher Stimme. »Aber vermutlich werden es weitaus mehr sein. Sie haben ganz sicher noch andere Plätze, wo sie ihre Feste abhalten.« Fast jeder konnte sich die Tragödien vorstellen, die sich hier abgespielt haben mußten. Harmlos und in Unkenntnis dessen, was sie hier erwartete, hatten schon manche in der Bucht angelegt oder geankert und wurden dann blitzartig von mehr als hundert Kannnibalen überfallen. Die Angst, Menschenfressern in die Hände gefallen zu sein, mußte die Unglücklichen fast um den Verstand gebracht haben. Der Seewolf schluckte. Ihm war der abgeschlagene Kopf des Weißen noch zu deutlich in Erinnerung. Lagen seine Knochen auch hier herum? Stammte der Stofffetzen von ihm? Er fand keine Antwort darauf, aber er versuchte gedanklich, sich in die Lage jener Leute zu versetzen, die genau wußten, daß sie bald geschlachtet und dann gefressen werden sollten. Es fiel ihm nicht schwer, sich da hineinzudenken. Er brauchte nur einen Blick auf die schwarzen Feuerstellen und die zahlreichen Knochen zu werfen. Hasard sah in die Gesichter seiner Leute. Sie sprachen Bände. Selbst der Profos, der vorhin noch große Sprüche von sich gegeben hatte, daß die Spanier gut gesalzen vielleicht gar nicht so schlecht schmeckten, sagte nichts mehr. Voller Ekel starrte er auf die erbärmlichen Überreste. Sein Rammkinn stach weit vor, seine Haut war blaß, und man konnte mühelos jede Narbe in seinem groben Gesicht zählen. »Gehen wir«, sagte Hasard rauh. Er war sich nur noch nicht sicher, an welcher Stelle sie die Suche fortsetzen sollten. Die nächste Feuerstelle der Kannibalen konnte sich genausogut am Strand befinden oder
weiter im Innern der Insel. Das Innere hielt Hasard für wahrscheinlicher. Dort blieben die Menschenfresser unentdeckt und waren in Sicherheit, wenn draußen ein Schiff vorbeizog. Und vom Innern her konnten sie die ahnungslosen Landgänger besser überfallen. »Nach rechts«, sagte er, als alle erwartungsvoll stehenblieben. Dort begann jetzt dichte Vegetation, dschungelähnlicher Bewuchs hinderte sie am Weitergehen. Überall rankten sich dicke Pflanzen über den Boden, erklommen Bäume oder schlangen sich um andere Pflanzen, an denen sie schmarotzten und die sie in ihrer tödlichen Umarmung erstickten. Dan blieb stehen, seine scharfen Augen hatten schon wieder etwas entdeckt, das von Bedeutung war. »Hier müssen ein paar von den Kerlen durchgelaufen sein«, sagte er bestimmt. »Seht euch die Stellen an, überall gibt es abgeknickte Halme und Blätter. Ich denke, wir haben genau den richtigen Weg gewählt.« Das sah nur jemand, der geübt im Spurenlesen war, ein anderer hätte es gar nicht bemerkt. Wieder ging Hasard voraus, aber diesmal gesellte sich gleich der rothaarige Schiffszimmermann zu ihm. »Vier Augen sehen auf Anhieb mehr als zwei«, sagte er auf Hasards vorwurfsvollen Blick. Sie mußten die Blätter mit den Händen zur Seite schieben. Zweige peitschten ihnen in die Gesichter, und ganz plötzlich waren auch die kleinen Plagegeister wieder da, das Heer der Moskitos, die sich auf alles stürzten, was sich bewegte. Die leichte Brise, die vorhin in der Nähe des Meeres geweht hatte, gab es nicht mehr. Hier war die Luft feucht und warm. Sie legte sich wie ein Schwamm auf die Lungen. Nur sehr langsam gelangten sie voran. Eine Viertelstunde verging, dann eine halbe. Niemand sprach ein Wort. Hitze und Luftfeuchtigkeit setzten ihnen zu. Hasard blieb stehen und sah sich wieder um. Er hatte ein
Geräusch gehört, und es ließ sich nicht ergründen, von wo es ertönt war. Vielleicht war es auch wieder nur ein Tier. Sie blickten auf den Boden, der schwammig wurde. Unter ihren Stiefeln gluckerte es leise, ein tiefer Abdruck blieb nach jedem Schritt zurück, der sich nach einer Weile schloß. »Aufpassen, ab hier wird es sumpfig«, warnte Hasard die Kameraden. Er wußte nicht, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren, er hatte die Orientierung fast verloren, weil es keine Spuren mehr gab. Sie befanden sich jetzt etwa eine halbe Meile im Innern der Insel, und ein Ende war noch nicht abzusehen. »Was jetzt?« fragte Ferris. »Umkehren, oder versuchen wir es auf der Seite da drüben?« »Ich weiß es selbst nicht. Je weiter wir gehen, um so morastiger wird der Boden. Ich glaube nicht, daß die Wilden Siri-Tong hierher verschleppt haben.« »Das heißt also, wir haben uns verirrt«, beurteilte Brighton ganz nüchtern die Lage. »Kein Wunder, wenn alles gleich aussieht.« Hasard beschloß nach einer Weile, den Weg trotzdem fortzusetzen. So groß war die Insel nicht, nach einer Meile würden sie sicher die Mitte erreicht haben. Ab und zu tauchten jetzt kleine Felsen auf. Wie Riesenfinger wuchsen sie aus dem morastigen Untergrund, zugesponnen von Blättern, Blüten und langen Ranken. Zuerst hielt Hasard diese Felsen für kleine Tempel, doch dann erkannte er seinen Irrtum. Es waren tatsächlich Felsen. Tucker hatte sich in seinem Eifer, die beiden Vermißten zu suchen, zu weit vorgewagt. Er befand sich jetzt mindestens zwanzig Yards vor dem Seewolf. Normalerweise hätte Hasard nichts dagegen gehabt, aber hier war das anders. Ein einzelner konnte blitzschnell von den Wilden ausgeschaltet werden, und aus diesem Grund wollte der Seewolf die Meute dichter zusammenhalten.
Tucker tat noch einen Schritt nach vorn, dann schallte sein lästerlicher Fluch lautstark durch das dschungelähnliche Gebiet, ohne Rücksicht darauf, ob die Wilden ihn hören konnten. Unter ihm gab der Boden nach, er wurde zu einer zähen, weichen, nachgiebigen Masse, die unter ihm schmatzte. Und sein eigenes Körpergewicht trieb ihn wie einen Pfahl in den Untergrund. »Verdammter Mist«, fluchte er und fuchtelte mit seiner Axt in der Luft herum. Doch das half ihm nicht, er sank nur noch tiefer ein. Hasard bewegte sich vorsichtig auf ihn zu. Auch unter seinen Stiefeln gab der Boden jetzt nach. »Ruhig bleiben, Ferris!« rief er. »Strampel nicht so wild in der Brühe herum, sonst säufst du ab. Warte, ich komme! Gib mit den Stiel deiner Axt, vorsichtig!« Unter Tuckers buschigen Augenbrauen blitzten die Augen empört, als hätte ihn jemand heimtückisch überfallen. Ganz langsam schob er den Stiel seiner Axt dem Seewolf entgegen. Hasard wurde von Ben gehalten, Ben wiederum vom Profos, und dann legten sie sich zurück und zogen mit aller Kraft, bis Ferris wieder festen Boden erreichte und erleichtert aufatmete. Carberry grinste ihn an und rümpfte die Nase. »Es wird wohl besser sein, wenn du als Schlußmann gehst«, sagte er und verzog wieder die Nase. »Und warum, he? Das kann schließlich jedem passieren.« »Du stinkst wie eine Wildsau, Ferris!« »Na, hör mal«, erregte sich Tucker. Aber der Profos schob ihn sanft zur Seite. »Das heißt«, sagte er einschränkend, »eine Wildsau stinkt nur halb soviel wie du! Du bist anscheinend in die Donnergrube der Kannibalen gefallen, mein Lieber!« Um Tucker herum grinste alles. Doch der Schiffszimmermann roch es jetzt selbst. Von dem
Moortümpel ging ein eigenartiger Geruch aus, ein penetranter Gestank von verwesten Baumteilen, Blättern und toten Tieren. Jetzt rümpfte er selbst die Nase. »Scheiße«, sagte er laut. »So ein Mist!« »Richtig, richtig«, sagte Ed anzüglich. »Hinter dem Moor ist ein Wassertümpel«, begann Ferris wieder. »Dort werde ich mich gleich waschen.« Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Ereignisse überschlugen sich rasch. Hinter dem Tümpel wuchs wieder ein Felsen in die Höhe. Wie eine zum Himmel strebende Riesennadel sah er aus. Davor standen riesengroße Pflanzen, die ihre Luftwurzeln in den schlammigen Tümpel steckten. Dazwischen war der Eingang zu einer Höhle deutlich zu erkennen. Hasard bedeutete den anderen zu schweigen, die Ferris Tucker jetzt aufzogen und mit besonders originellen Einfällen glänzten, was seinen Geruch betraf. Er mußte sich Ausdrücke wie wandelnder Misthaufen, Stinktier und triefäugiger Hosenscheißer anhören. Die Sprache der Seewölfe beinhaltete nun einmal dieses Vokabular, daran konnte selbst Hasard nichts ändern. Hasard trat einen weiteren Schritt vor, hütete sich aber, dem morastigen Tümpel zu nahe zu geraten. Plötzlich prasselte es in den Büschen um sie herum. Die Waffen im Anschlag, fuhren die Seewölfe herum. Ein Hagel von faustgroßen Steinen flog ihnen entgegen. »Nicht schießen!« rief Hasard seinen Männern zu. »Das sind keine Wilden, die werfen nicht mit Steinen.« Er sah sich nach dem unbekannten Gegner um, konnte aber nichts erkennen. »Siehst du etwas, Dan?« fragte er O’Flynn. »In der Höhle hat sich eben etwas bewegt«, behauptete Dan, dessen scharfen Augen nichts entging. »Da ist es wieder!« Hasard sah für den Bruchteil einer Sekunde einen huschenden
Schatten in der Höhle. »Das sind keine Wilden«, sagte er noch einmal. »Dort verbirgt sich etwas anderes.« Der Steinhagel wiederholte sich nicht. Dafür schob sich das Gesicht eines schwarzhaarigen Mannes vorsichtig aus der Höhle. In diesem Gesicht, das gleich wieder verschwand, las Hasard eine unbeschreibliche Angst, Grauen, Widerwillen. »He, zeig dich, Mann!« rief er laut. »Wir tun dir nichts. Komm raus aus der Höhle!« Wieder erschien das Gesicht. Es war verdreckt, bärtig, nur das Weiß der Augen hob sich deutlich daraus ab. Dann erschien der Mann, und jetzt glitt Erleichterung über seine fast asketischen Züge. »Der hat sich vor den Kannibalen versteckt«, sagte Dan, »und hat jetzt gedacht, sein letztes Stündlein habe geschlagen.« »Hola muchachos!« rief der Mann mit heiserer, krächzender Stimme, die kaum noch menschlich klang. »Auch noch ein verdammter Don«, fluchte Carberry, »wegen mir können sie sämtliche Spanier fressen.« Sein Haß auf die Spanier war verständlich, hatten sie ihm doch mehr als einmal hart zugesetzt. Sogar auf einer spanischen Galeere hatte er Dienst tun müssen. »Wir sind Engländer«, sagte Hasard. »Du brauchst keine Angst zu haben, hombre.« Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Mannes. Er trug nur eine bis an die Knie reichende Hose, die ziemlich zerfetzt war. Sein Oberkörper war mit unzähligen Stichen der Moskitos verziert, aber er hatte keine eiternden Wunden. »Ich bin Ernanuel Vigos«, sagte der Schwarzhaarige in holperigem, aber einwandfrei verständlichem Englisch. »Kommt rüber, Engländer, ich bin nicht allein.« »Keine Lust, durch den stinkenden Sumpf zu waten«, gab Hasard zurück. »Kommt ihr rüber!« »Haltet euch von euch aus gesehen Backbord!« rief Vigos.
»Dort gibt es eine schmale Stelle, die nicht sumpfig ist. Aber ihr müßt hintereinander gehen.« Hasard war auf diesen Vigos und seine Begleiter direkt neugierig. Für ihn war es klar, daß sie hier vor den Kannibalen Zuflucht gesucht hatten. Oder hatten die Kannibalen sie hier eingesperrt, und wurden sie bewacht? Unwahrscheinlich, entschied Hasard und bewegte sich auf jene Stelle zu, die der Mann beschrieben hatte. Sie war tatsächlich trocken, aber so schmal, daß man jeweils einen Fuß vor den anderen setzen mußte, um heil hinüberzugelangen. Dicht daneben schmatzte der sumpfige Tümpel, aus dem der ekelhafte Geruch aufstieg. Ein letzter Sprung, und Hasard befand sich vor der Höhle. Vigos und fünf andere, ausgemergelte Männer empfingen die Seewölfe mit unverhohlener Freude. »Killigrew«, stellte Hasard sich vor und wies auf die anderen Männer. »Sie gehören zu meiner Crew.« In Vigos Augen trat ein ungläubiger Ausdruck. »Sind Sie der Mann, den man den Seewolf nennt?« fragte er. »So nennt man mich«, erwiderte Hasard. Er sah, wie es in den Augen der anderen Männer aufleuchtete, als Vigos sich umwandte. »Jetzt wird alles gut«, sagte er erleichtert. »Der Seewolf wird mit diesen Halunken fertig, das weiß ich!« »Was ist geschehen?« fragte Hasard ruhig. Ehe Vigos antworten konnte, traten die anderen Männer hervor und drückten Hasard stumm und ergriffen die Hand. Vigos berichtete gleich darauf. »Ich bin portugiesischer Handelsfahrer, Kapitän Emanuel Vigos aus Lisboa. Vor einer Woche liefen wir West-Caicos an, weil ein heftiger Sturm tobte. Wir glaubten, diese Insel sei unbewohnt. Noch am selben Tag gab es plötzlich ein Gebrüll, und mehr als hundert Wilde überfielen uns. Wir wehrten uns, so gut es ging, aber die Übermacht war zu groß, und außerdem
hatte mit dem Angriff keiner gerechnet. Ein Teil meiner Leute wurde gleich niedergemetzelt, zwei wurden gefangengenommen und verschleppt.« »Sie wußten, daß Sie es mit Kannibalen zu tun hatten?« unterbrach ihn Hasard. »Wir erfuhren es am anderen Tag, da sahen wir die Feuerstellen und die Knochen, die überall herumlagen »Wo befindet sich Ihr Schiff, Kapitän Vigos?« »An der Ostseite der Insel.« »Und wie ging es weiter?« »Uns gelang die Flucht, die Wilden waren uns dicht auf den Fersen. Wir durchquerten diesen Sumpf, und niemand folgte uns. Warum, das entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls erscheinen sie öfter hier, werfen Speere herüber, und wir antworten mit Steinen, die wir gesammelt haben. Vielleicht lassen sie uns auch nur deshalb in Ruhe, weil weil ...« »Weil sie noch genügend Reserven haben«, vollendete Hasard. Vigos zuckte zusammen. In seinem Gesicht arbeitete es. »Befreien Sie uns, Mister Killigrew«, bat er. »Wir sind fast am Verhungern, wir ernähren uns von den Wurzeln dieser Pflanzen. Sie können sich nicht vorstellen, wie ekelhaft das Zeug schmeckt.« »Selbstverständlich hole ich Sie hier heraus«, versprach der Seewolf. »Aber wir haben noch etwas zu erledigen. Zwei unserer Leute sind ebenfalls von den Kannibalen geraubt worden. Wir waren ihnen auf der Spur, aber jetzt wissen wir nicht mehr so richtig, wo wir uns befinden.« »Dann gehen Sie auf die andere Seite. Dort werden auch von uns noch Leute sein, das heißt, wenn sie noch am Leben sind. Dorthin verschleppen die Kerle die Leute.« Hasard sah sich die Leute noch einmal an. Alle schienen restlos mit den Nerven fertig zu sein, sie hatten Hunger und waren total erschöpft .und ausgelaugt.
Nein, er konnte sie nicht mitnehmen, jetzt noch nicht. Die Belastung wäre zu groß geworden, zumal sie erst nach SiriTong und dem Boston-Mann suchen mußten. Da waren diese sechs Männer nur ein Hindernis. »Ich lasse Ihnen einen Mann zurück, Kapitän Vigos«, sagte der Seewolf. »Wir anderen müssen weiter, um die Leute zu befreien, und Sie verzeihen mir sicherlich, wenn ich Sie jetzt nicht gleich mitnehme, Sie sind zu erschöpft. Es wird Ihnen nichts passieren, und wir sind bald wieder zurück.« »Danke«, sagte der Kapitän gerührt. »Ich werde Ihnen das nie vergessen, Kapitän Killigrew. Wir warten gern, wenn wir wissen, daß Sie bald wieder hier sind.« »Wie gelangen wir am schnellsten zur Ostseite der Insel?« fragte Hasard. Vigos beschrieb es ihm. Sie hatten diesen Marsch ja schon einmal hinter sich gebracht. »Auf der Ostseite gibt es eine große Bucht. Dort treffen auch regelmäßig Auslegerboote ein, die anscheinend von einer anderen Caicos-Insel kommen. Sehen Sie sich vor, diese Kannibalen sind unberechenbar und kennen kein Erbarmen.« »Das haben sie zur Genüge bewiesen«, erwiderte Hasard. Er sah sich im Kreis seiner Leute um. »Dan, du bleibst solange hier, als Schutz. Am besten, ihr zieht euch in die Höhle zurück, da seid ihr einigermaßen sicher. Und wenn die Kerle wirklich auftauchen sollten - du hast genügend Pulver und Kugeln, um ihnen einzuheizen.« »Aye, aye, ich werde aufpassen«, versprach Dan. »Bis später«, sagte der Seewolf. Er ließ sich von Vigos noch einmal beschreiben, wie man hier wieder herauskam, ohne durch den stinkenden Tümpel waten zu müssen. Dann ging es weiter. Vigos und die anderen Männer sahen ihnen nach, wie sie im Dickicht verschwanden. In ihren Gesichtern las Hasard die große Erleichterung. Ein Teil der Angst war von ihnen genommen.
7. Der Trupp zog weiter, auf dem kürzesten Weg, den Vigos ihnen beschrieben hatte. Sie umgingen die kleineren Sümpfe und benötigten fast noch mal eine Stunde, ehe der Profos den Schädel hob und schnupperte. »Riecht nach Seeluft«, stellte er fest. »Die Küste kann nicht mehr weit sein.« Sie war auch nicht mehr weit. Schon bald schimmerte es blau durch die Vegetation, die jetzt spärlicher wurde. »Absolute Ruhe von jetzt an«, befahl Hasard. »Wir schleichen uns so leise wie möglich an die Bucht heran. Haltet die Waffen bereit, die Wilden können jederzeit auftauchen.« Von nun an wurde kein Wort mehr gewechselt. Jeder sah nach, ob seine Waffe schußbereit war. Geräuschlos drangen sie weiter vor. Und dann stand ihnen eine höllische Überraschung bevor. Zunächst hörten sie Gemurmel, Stimmen, grunzende Laute, die sich schlecht unterscheiden ließen. Danach erfolgte ein monotoner Singsang, als wenn ein ganzer Chor pausenlos unverständliche Worte wiederhole. Hasard kniete am Boden und lugte durch die Büsche. Durch Handzeichen gab er zu verstehen, daß die anderen nach links blicken sollten. Was sie dann sahen, verschlug ihnen die Sprache. Niemand brachte auch nur einen Ton über die Lippen. Vor ihnen lag eine weitgeschwungene Bucht. In der Mitte dieser Bucht, auf der Ostseite lag ein kleineres Schiff, ein Zweimaster, ähnlich dem, den Siri-Tong befehligte. Das war es aber nicht, was sie erschauern ließ. Am Ufer dieser weitgeschwungenen Bucht, die rechts und
links von hohen Palmen umsäumt wurde, hockten mindestens fünfzig Kannibalen auf dem Sand, die ihre nackten Oberkörper im Takt der merkwürdigen Melodie wiegten. Sie saßen im weiten Halbkreis um ein fast rauchloses Feuer. Ein weiteres, kleines Feuer brannte dicht daneben. Unbekümmert, als drohe ihnen nicht die geringste Gefahr, hockten sie da, wild bemalt die Gesichter, die gefiederten Speere neben sich im Sand liegend. Daß sie erst kürzlich einen Kampf verloren hatten, schien sie überhaupt nicht zu berühren. Entweder nahmen sie die schweren Verluste nicht tragisch, oder sie ignorierten das ganze Geschehen einfach. Hasard durchf uhr es wie ein Stich, als er Siri-Tong und den Boston-Mann sah. Beide waren von den Wilden an armdicken Lianen aufgehängt worden, die man ihnen um die Fuß gelenkte geschlungen hatte. Mit dem Kopf nach unten pendelten sie in einem weiten Bogen schwingend über dem rauchlosen Feuer. Der Singsang der Menschenfresser schwoll an. Durch die rhythmischen Bewegungen brachten sie sich in Ekstase. Ihre Blicke folgten den langen Pendelbewegungen der beiden Menschen. Hasard fühlte seine Kopfhaut prickeln. Sie zog sich spürbar zusammen und sorgte für einen Schauer, der seinen ganzen Körper durchlief. Einer der grellbemalten Wilden stand aus dem Halbkreis auf und näherte sich den beiden. Er ließ die Liane ein halbes Yard herab und versetzte den beiden schwingenden Körpern einen derben Stoß. Die Gesichter der beiden kamen dem Feuer immer näher. Sie schwangen hin und her, bis sie den höchsten Punkt erreicht hatten und kehrten dann in dem gleichen langen Bogen zurück, wobei ihre Gesichter jedesmal das Feuer zu berühren schienen. Siri-Tongs Augen waren aufgerissen, und sie schloß sie
immer wieder, sobald das Feuer heran war. Sie stand Qualen aus, höllische Qualen, ebenso der Boston-Mann. Ihre Hände hatte man ebenfalls mit Lianen gefesselt, so daß sie sie nicht einmal schützend vor das Gesicht halten konnten. In Hasard kochte ein unbändiger Zorn, wenn er daran dachte, daß man die beiden gleich töten würde, und nur aus dem einzigen Grund, um sie zu verspeisen. Aber er wollte nichts überstürzen. Auf eine Minute mehr kam es auch nichtmehr an. Sie mußten geschickt, überlegt und schnell vorgehen. Dadurch, daß er ständig nach links geblickt hatte, war ihm das andere Pärchen total entgangen. Sie hockten im Hintergrund, ein junger Mann und eine junge Frau. Ihre Hände waren um den Stamm einer Palme gebogen und dort ebenfalls mit Lianen gefesselt. Hilflos und entsetzt blickten sie auf die Wilden, deren monotoner Gesang sich immer mehr steigerte und die jetzt in sichtliche Erregung gerieten. Juan, der dicht neben Hasard lag, zitterte am ganzen Körper. Er wollte hoch, um den Helden zu spielen, doch Hasard drückte ihn mit eiserner Hand auf den Boden zurück. »Mach keinen Blödsinn«, warnte er den Bootsmann flüsternd. »Sonst sind wir alle erledigt. Ist das klar?« Juan nickte verstört und wollte etwas sagen. Hasard gebot mit einer kurzen Handbewegung Schweigen. Die anderen sahen die beiden gefesselten Portugiesen jetzt ebenfalls, und wilder Zorn stieg in ihnen hoch. Tuckers Kopf lief knallrot an, er beherrschte sich nur sehr mühsam. Das Pärchen war jung, nicht älter als zwanzig, wie der Seewolf schätzte. Aber sie waren mit den Nerven fertig, nervös, verängstigt und zermürbt. Wahrscheinlich hatten sie schon seit ein paar Tagen nichts mehr gegessen. Die Wilden hatten gewartet, bis sie mehrere zusammen hatten, damit das Fest sich lohnte. Jetzt war es soweit.
Immer noch schwangen die Körper Siri-Tongs und des Boston-Mannes in einem langen Bogen durch das Feuer. Und immer wieder stand einer der Kannibalen auf, um den beiden einen Stoß zu versetzen. Da hielt Hasard es nicht länger aus. Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, robbte er ein paar Yards zurück. Seine Stimme war nur ein Hauch, so leise sprach er. »Juan und Bill, ihr übernehmt die sechs Kerle auf der linken Seite. Drängt sie zum Wasser hin ab und fackelt nicht lange, ihr seid gut bewaffnet. Matt und Ferris, ihr greift von der Mitte aus an. Der Profos kommt von rechts, Ben und ich umgehen die Kerle jetzt in einem Bogen und greifen von der Rückseite her an. Ihr rührt euch nicht eher, als bis unser Schlachtruf ertönt. Dann aber sofort stürmen. Noch Fragen?« Niemand fragte etwas. Hasard sah nur, wie es in ihren Gesichtern arbeitete. Sie fieberten dem Kampf direkt entgegen, der die Entscheidung bringen mußte. »Gut, wartet hier. Verteilt euch jetzt nach links, Juan und Bill. Aber völlig geräuschlos! Los, Ben!« Ben Brighton und der Seewolf nickten den Männern noch einmal zu, ehe sie lautlos davonschlichen. Nur einmal raschelten ein paar trockene Blätter, doch das hörte niemand, weil der Gesang der Kannibalen jetzt noch lauter wurde. Auf Knien und Ellenbogen robbten die beiden zurück, schlugen einen langen Bogen und arbeiteten sich durch die Wildnis, bis sie den gegenüberliegenden Teil erreichten. Jetzt befanden sie sich ganz in der Nähe des portugiesischen Pärchens, die nicht ahnten, was sich hinter ihnen tat. Hasard sah sie aus allernächster Nähe deutlich vor sich. Zuerst hatte er vorgehabt, ein paar ermunternde Worte zu sagen, doch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder. Die beiden waren zu nervös und hätten sich vielleicht verraten. Damit wäre das ganze Unternehmen gefährdet worden, und das wollte er lieber nicht riskieren.
Jetzt erhoben sich zwei grellbemalte Gestalten, um trockene Äste auf das Feuer zu legen. Zwei andere näherten sich SiriTong und packten die Liane. Einer der Wilden griff nach einem breiten Entermesser, das er wahrscheinlich den Portugiesen abgenommen hatte. Hasard sah die wilden Blicke des Menschenfressers. Gier funkelte darin so stark, wie er es selten bei einem Menschen gesehen hatte. Hasard erhob sich, als der Boston-Mann in einem großen Bogen fast auf ihn zupendelte. »Es geht los, Ben«, sagte er heiser. »Steh auf!« Ein wilder Schrei ertönte. 8. »Arwenack!« Der Kampfruf der Seewölfe hallte über die Bucht und wurde von der anderen Seite lautstark beantwortet. Hasard und Ben stürmten blitzschnell vor. Die beiden doppelläufigen Radschloßpistolen spien Blitze und Bleibrocken. Von der Seite gegenüber tobten die anderen Seewölfe heran. Ferris Tucker mit seiner blitzenden Axt, Matt Davies mit seiner mörderischen Hakenprothese, Carberry, der mit wüstem Gebrüll wie ein Elefant mitten unter die Wilden raste, und Juan und Bill, die den Kannibalen die Hölle bereiten wollten. Die Wilden waren völlig überrascht. Wie versteinert hockten sie im Sand, als das laute Gebrüll erklang. Es waren genau zweiundfünfzig Wilde, zwischen die jetzt ein höllisches Gewitter fuhr, das sich blitzartig nach allen Seiten austobte. Vier von ihnen wälzten sich schon in ihrem Blut, noch bevor die anderen begriffen, was eigentlich passiert war.
Bis sie auf den Beinen waren, holte Tuckers Axt mit mächtigen Streichen zwei weitere von den Füßen. Matt Davies und Jeff Bowie kämpften wie die leibhaftigen Teufel. Ihre Hakenprothesen blitzten auf. In der Bucht tobte ein erbarmungsloser Kampf, und weitere Wilde fielen, ehe sie richtig zur Besinnung gelangten. Dann war der erste Schreck vorbei. Schreiend griffen die Überlebenden nach ihren gefiederten Speeren und setzten sich zur Wehr. Ein großer Teil von ihnen verschwand in wilder Panik zwischen den Büschen, andere rannten zum Wasser, wo sie von Juan und Bill the Deadhead in Empfang genommen wurden. Und wieder dröhnte der Kampfschrei »Arwenack« durch die Bucht und fuhr den Wilden heiß in die Knochen. Hasard rang mit einem herkulisch gebauten Wilden, der sich auf ihn gestürzt hatte, als er seine Pistole nachladen wollte. Der Kannibale entwickelte Bärenkräfte. Seine weiß angemalten Hände griffen nach Hasards Kehle und drückten zu. Seine scharfgeschliffenen Zähne schnappten nach dem Seewolf und versuchten, sich in seinem Gesicht zu verbeißen. Hasard schlug erbarmungslos zu, er kämpfte um sein Leben. Und als der Griff sich lockerte, fuhr dem Wilden Hasards Entermesser in die Brust. Heisere Laute ausstoßend brach er zusammen. Unterdessen wütete der Profos nach altbewährter Manier unter den Wilden. Er hatte einem die gefiederte Lanze entrissen und schlug damit nach allen Seiten. Die Kannibalen flohen entsetzt, wenn der Profos auf sie eindrang. Zu dritt drangen sie auf ihn ein, entblößten ihre scharf geschliffenen Zähne und schnappten nach ihm. »Was, ihr wollt mich roh fressen?« brüllte Carberry. »Ohne würzende Beilagen! Ihr Knochensäcke!« tobte er. »Ihr habt mich noch nicht von meiner üblen Seite kennengelernt!« Den einen schnappte er mit seinen mächtigen Fäusten,
wirbelte ihn einmal um seine Achse und mähte mit ihm die beiden anderen nieder. Acht oder neun Kannibalen flüchteten ins Wasser, sie sahen keinen anderen Ausweg mehr in ihrer panischen Angst vor dem Mann mit dem eisernen Arm, der so fürchterliche Wunden schlug. Aber auch dort waren sie nicht in Sicherheit. Davies folgte ihnen wutschnaubend, gefolgt von Juan und Bill. Innerhalb kurzer Zeit war die Bucht wie leergefegt. Schreiende Kannibalen rasten in den Dschungel und verkrochen sich dort voller Angst vor den weißen Teufeln. Erst jetzt fand Hasard Zeit, sich um die Gefangenen zu kümmern, die dem Getümmel zusahen, ohne eingreifen zu können. Mit dem Entermesser schnitt er die Liane durch, die SiriTong immer noch hielt. Ben verfuhr mit dem Boston-Mann auf die gleiche Weise. Der Seewolf fing die Rote Korsarin auf, stellte sie auf die Beine und durchtrennte mit einem schnellen Schnitt ihre Handfesseln. »Nicht nötig, daß du dich bedankst«, sagte Hasard, als SiriTong ihm stumm um den Hals fallen wollte. »Das können wir auf später verschieben, Lady.« Er grinste wild mit blitzenden weißen Zähnen, hielt die Rote Korsarin aber immer noch fest, die sich an ihn schmiegte. »Es war furchtbar«, stöhnte sie leise. »Diese Kerle wollten uns tatsächlich verspeisen.« »Ich weiß«, sagte Hasard, »du bist ja auch zum Fressen schön.« »Mach bitte keine Witze, Pirat!« Brighton und Tucker hatten inzwischen auch das an den Palmenstamm gefesselte Pärchen befreit. Die junge Frau, eine bildhübsche Schwarzhaarige, kauerte sich in den Sand und begann hemmungslos zu schluchzen, bis der Mann sie sanft aufhob und küßte. Beide zitterten an allen Gliedern von dem
ausgestandenen Schrecken. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatten, umarmten sie Carberry, Tucker und die anderen und bedankten sich immer wieder. Hasard brauchte eine Weile, um sie zu beruhigen und ihnen zu erklären, was inzwischen geschehen war. Der Boston-Mann war der einzige, der schon wieder grinste. Sonst blieb er so schweigsam wie immer und antwortete nur, wenn er etwas gefragt wurde. »Habt ihr die Musketen und Pistolen nachgeladen?« fragte Hasard. »Es kann sein, daß sie sich wieder sammeln und noch einmal angreifen. So schnell geben die nicht auf, das haben wir ja jetzt schon einige Male erlebt.« Die Waffen waren feuerbereit. Wenn die Wilden sich noch einmal zusammenrotten sollten, dann wurden sie erwartet. Doch zunächst blieb alles verdächtig still. »Sie gehören zu Vigos Gruppe«, sagte Hasard zu dem Portugiesen. »Gibt es noch mehr Überlebende, vielleicht an anderen Orten?« Hasard sprach jetzt Spanisch, damit der Mann ihn besser verstand. Er hieß Hernano, das Mädchen Rosaria. »Nein, zwei von uns wurden regelrecht geschlachtet und dann bei einem Fest von den Kerlen ge ...« Er brach ab, es schüttelte ihn. Rosaria verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann wieder vor sich hin zu schluchzen. »Ich glaube, Vigos und seine Leute sind ebenfalls tot«, stammelte der junge Mann. Er zog das Mädchen an sich und bettete ihren Kopf an seiner Schulter. Es war eine rührende Geste, wie er Rosaria zu trösten versuchte. »Vigos und fünf andere Männer leben noch«, sagte Hasard, obwohl er es schon einmal erwähnt hatte. Aber da standen die beiden noch so unter dem Eindruck des Grauens, daß sie die Worte offensichtlich nicht verstanden hatten.
»Vigos lebt und die anderen auch? Wo sind sie?« Hasard wiederholte es geduldig, bis die beiden begriffen. »Wir kehren jetzt um und gehen zurück, um Vigos und seine Leute zu holen«, sagte er. »Wir nehmen euch mit an Bord und umsegeln später die Insel. Danach könnt ihr an Bord eures Schiffes zurück.« Um den Kauffahrer gleich von hier aus zu holen, waren sie zu wenig Leute. Zur Not wäre es vielleicht gegangen, aber Hasard mußte noch die anderen Männer holen, und die befanden sich fast im Innern der Insel. Also blieb es bei dem Vorhaben. Hernano erklärte ihm, daß sie gerade geheiratet hätten und zurück nach Portugal wollten, als der Sturm sie zwang, WestCaicos anzulaufen. Ihre Hochzeitsreise hatten die beiden sich ganz anders vorgestellt, sie war ein einziges Martyrium gewesen. In diesem Augenblick erklang nervenzerfetzendes Geheul aus dem Dschungel. Wild brüllend brachen mehrere Kannibalen aus dem Dickicht, schwangen ihre Speere und Wollten angreifen. Aber die Männer waren darauf vorbereitet. Musketen und Pistolenschüsse krachten und verscheuchten die fünf Gestalten. Sie verschwanden so blitzartig, wie sie gekommen waren. Von nun an herrschte Ruhe. Den Wilden war die Lust zu weiteren Angriffen vergangen. Hasard sammelte seine verlorenen Schäfchen um sich. Er warf einen Blick auf den zweimastigen Kauffahrer, der in der Bucht vor Anker lag. Bisher hatten die Wilden das Schiff verschont, und er glaubte, daß sich daran in den nächsten Stunden auch nichts ändern würde. Was sollten sie auch mit dem Schiff? Sie konnten doch nichts damit anfangen. Der Rückmarsch begann. Es ging jetzt schneller, weil sie sich besser orientieren konnten und den Weg schon einmal gelaufen waren.
Siri-Tong hatte ihren Schrecken überwunden, den BostonMann schien es nicht sonderlich zu berühren, und nur Rosaria sah man noch die Strapazen an. Auch ihr Mann erholte sich erstaunlich schnell. Nur Hunger hatten sie alle. Und Durst. Eine Angelegenheit der man bald abhelfen würde. * Als sie bei dem Tümpel ankamen, gab es die ersten Tränen der Wiedersehensfreude bei Vigos, seinen Männern und den frisch Verheirateten, die man totgeglaubt hatte. Zehn von den achtzehn Menschen hatten die Kannibalen getötet oder gleich verspeist, so genau ließ sich das nicht mehr feststellen. Hasard erwähnte nichts von dem Schädel, den einer der Kannibalen auf der Speerspitze vor sich hergetragen hatte. Vermutlich hatten sie den Portugiesen gefressen. Eine weitere Stunde später erreichten sie die ›Isabella‹ Hasard wandte sich an den portugiesischen Kapitän. »Ihr stärkt euch erst einmal, ruht euch ein wenig aus, und dann bringen wir euch zu eurem Schiff zurück.« Emanuel Vigos schluckte, seine Augen wurden wieder feucht. Impulsiv griff er nach Hasards Hand. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Kapitän Killigrew«, sagte er bewegt. »Bitte, fassen Sie es nicht als Beleidigung auf, wenn ich Ihnen zwei Goldbarren anbiete.« »Genauso würde ich es aber auffassen«, sagte Hasard. »Und beleidigen wollen Sie mich doch sicher nicht!« »Keinesfalls, Senhor, verzeihen Sie mir bitte.« Vigos war tödlich erschrocken. »Das lag wirklich nicht in meiner Absicht, Kapitän. Es ist nur so - ich muß mir meinen Dank einfach von der Seele reden, wenn Sie das verstehen. Wir wären da allein nicht mehr herausgekommen, und Hernano und Rosaria hätten es auch nicht überlebt. Sie wären eines
qualvollen Todes gestorben.« »Reden wir nicht mehr darüber«, sagte Hasard abwehrend. Für ihn war das Thema damit erledigt. Smoky, der den Kapitän während seiner Abwesenheit vertreten hatte, pullte mit dem Boot an Land, obwohl das zweite dicht daneben lag. Aber für die ganze Meute war es zu klein. »Kein weiterer Angriff, Smoky?« fragte der Seewolf. »Nein, sie haben sich nicht mehr blicken lassen. Aber wir haben eure Waffen knallen hören und wußten, was los war. Sind das alle Überlebenden, waren es nicht mehr?« »Zehn Männer fehlen, von einem haben wir ja den Schädel gesehen. Die anderen konnten wir rechtzeitig befreien.« Siri-Tong blickte zu ihrer Karavelle hinüber und stieß den Boston-Mann an, der den schwarz verkohlten Mast auch schon gesehen hatte. »Ich glaube, unseren schönen Zweimaster werden wir bald sehr vermissen, Boston-Mann.« »Ja, ich glaube auch, Madame. Er sieht nicht sehr gut aus.« »Ich sagte vermissen. Fragst du nicht, weshalb?« »Ich nehme an, er wird bald absaufen«, erwiderte der BostonMann. Siri-Tong sagte nichts mehr. Dieser Kerl fand im Schweigen und der Wortknappheit seine Hauptbeschäftigung. Der Kutscher erschien an Deck, begrüßte die Anwesenden und war froh, daß alles so glimpflich abgelaufen war. »Hau mal etwas Gutes in die Pfanne, Kutscher«, sagte der Seewolf, »aber nicht zu fett, die Leute hier haben seit Tagen nichts gegessen, und Durst haben sie auch.« Der Kutscher und Feldscher, der bei dem Arzt Sir Freemont gedient hatte, war ein erfahrener Mann. Er sah sich die Leute der Reihe nach an und nickte dann beifällig. »Da ist nichts mit einem guten Essen, Sir. Ich werde eine kräftige Brühe kochen. Alles andere ist zu schwer. Sie müssen
sich erst langsam daran gewöhnen.« Er brachte Dünnbier und heißes Wasser mit einem kleinen Schuß Rum. Jeder erhielt eine Muck voll und trank gierig. »Langsam, Leute«, mahnte der Kutscher. »Ihr verderbt euch sonst die Mägen. Nichts überstürzen, es ist genug da. Trinkt langsamer.« Widerstrebend gehorchten sie. Der Kutscher sah, daß es ihnen ungemein schwer fiel, aber sie begriffen doch, daß er es nur gut mit ihnen meinte. Auch die Brühe genossen sie etwas später in kleinen Schlucken. Danach fühlten sie sich besser. Hasard ließ sie ausruhen, damit sie sich wenigstens eine halbe Stunde von den Strapazen in aller Ruhe erholen konnten. Er nahm die Rote Korsarin beiseite. »Wenn die Leute einigermaßen wieder auf den Beinen sind, laufen wir aus. Auf die Reise nach Tortuga verzichten wir unter diesen Umständen. Ich möchte mir zunächst noch einmal mit Ferris Tucker die Karavelle ansehen. Wir müssen sie zur Schlangeninsel wieder in Schlepp nehmen.« Sie sah ihm tief in die Augen, ein langer verträumter Blick, der dem Seewolf durch und durch ging. Herrgott, diese Mandelaugen, dachte er und gab sich einen Ruck. »Hast du gehört, was ich sagte?« fragte er schroff, um seine Unsicherheit zu verbergen. »Ich liebe dich, Hasard!« Ihre Samtstimme war nur ein Hauch, ein kaum vernehmbares Flüstern. Ganz zart griff sie nach seinem Arm. »Muß das gerade jetzt sein?« fragte er mit kaum unterdrückter Erregung in der Stimme. »Soll ich es dir ein anderes Mal sagen, Hasard?« »Um uns herum grinsen die Leute.« »Ich liebe dich trotzdem, auch wenn sie grinsen.« Er gab keine Antwort, griff nach ihrem Arm, rief Ferris Tucker und den Boston-Mann und stieg ins Boot. Schweigend
pullten sie zu der Karavelle hinüber. Eine neuerliche Begrüßung folgte. Die Crew ließ die Rote Korsarin hochleben und feierte das gleich mit ein paar Flaschen Rum. »Besauft euch bloß nicht«, riet Hasard. »Wir segeln nachher um die Insel herum und setzen die Portugiesen auf ihrem Schiff ab. Morgen in aller Frühe geht es weiter. Da werdet ihr lenzen müssen, bis euch die Hände weh tun.« Er wandte sich an Ferris Tucker, der die Karavelle einer schnellen Musterung unterzog. »Was meinst du, Ferris, sollen wir sie hier reparieren oder zur Schlangeninsel schleppen?« Tucker hob die Schultern und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Sie ist stärker beschädigt, als es den Anschein hat, Hasard. Wir werden es schon schwer genug haben, sie unbeschadet bis zur Insel zu bringen. Wenn wir sie hier reparieren, müssen wir immer darauf gefaßt sein, daß uns die Kannibalen überfallen. Wir wissen nicht, wie viele es sind, und wie Vigos gesagt hat, kommen auch noch ein paar von anderen Inseln herüber. Nehmen wir die Karavelle also in Schlepp, das halte ich für die beste Lösung. Nur das Leck muß noch etwas besser abgedichtet werden.« »Das können die Kerle selbst besorgen«, sagte Siri-Tong. »Ein wenig Arbeit wird ihnen nicht schaden, im Gegenteil: sie lernen noch etwas dabei.« Hasard hatte Bedenken, ob die Karavelle die Fahrt überstand. Es sah nicht danach aus, aber schließlich zuckte er mit den Schultern und wandte sich ab. »Gut dann klarieren wir jetzt und runden die Insel. Haltet euch bereit, ich wollte mir nur einen Überblick verschaffen, wie es hier aussieht.« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als von jener Stelle ein lauter Ruf ertönte, an der die Männer in dem Boot hockten und den schmalen Eingang zur Bucht bewachten.
Sieben Auslegerboote tauchten auf, vollbesetzt mit Wilden, die mit Todesverachtung in die Bucht fuhren. »Ihr Mut ist direkt unheimlich«, sagte Hasard, der ganz ruhig blieb und den Booten entgegensah, die sich jetzt der Ölsperre näherten. Siri-Tongs Männer hatten wieder neues Öl nachgegossen und Pulver darübergestreut. Sie handelten, ohne daß ein Befehl erfolgte. Zwei Lunten fuhren in das Öl und auf die dünnen Äste, die sie noch dazugepackt hatten. Blitzschnell fraß sich eine Flammenzunge von einem Ende zum anderen. Ein drei Yards breiter Wasserstreifen stand übergangslos in hellen Flammen. Die Wilden, die in voller Fahrt heranpaddelten, konnten ihre Boote nicht mehr rechtzeitig stoppen und so stießen sie direkt in die hoch auflohende Flammenwand. »Wenn sie jetzt nicht endlich genug haben, dann kriege ich doch noch Angst vor den Kerlen«, sagte Ferris Tucker, der schon am Schanzkleid stand und gerade ins Boot wollte. Aus der Flammenwand tönte Gebrüll, das immer lauter wurde. Und in diesem Moment dröhnte von der ›Isabella‹ der Abschuß einer Culverine durch die Bucht. Die Siebzehnpfünder-Kugel klatschte in das brennende Öl, jagte es hoch in den Himmel und überschüttete die Auslegerboote mit einem Feuerregen. Sie brannten lichterloh. Die Wilden sprangen über Bord, diesmal total überrascht und verängstigt. Sie landeten im Feuer, brannten, schrien ihre Todesangst hinaus und versuchten, der lohenden Wand durch Tauchen zu entgehen. Hasard sah wie die Haie yardhoch aus dem Wasser schnellten, wie ihre blitzenden Leiber mal hierhin, mal dorthin zuckten. Auch sie waren durch das Feuer erschreckt und spielten jetzt verrückt. »Die werden jetzt endgültig die Schnauze voll haben«, sagte der Schiffszimmermann grimmig. »Das muß ihnen einfach reichen, oder ich will nicht mehr Tucker heißen.«
Die Überrumpelung war vollkommen. Als sich das Feuer auf der Wasseroberfläche gelegt hatte, war von den Angreifern nichts mehr zu sehen. Nur die rußgeschwärzten Trümmer ihrer Boote trieben noch in der Bucht herum. Den Rest hatte das Meer geschluckt. Hasard und Ferris Tucker pullten zurück. Siri-Tong beorderte ihre Leute ebenfalls an Bord, die Boote wurden eingeholt. Eine halbe Stunde später glitt die ›Isabella‹ aus der Bucht, im Schlepp die Karavelle. Die See war ruhig, nur ein schwacher Wind blies, gerade genug, um die Segel zu füllen. Beide Schiffe waren gefechtsbereit, doch von den Wilden ließ sich keiner blicken. Sie waren so stark dezimiert worden, daß sie keinen neuen Angriff wagten. Und bisher hatten sie sich nur blutige Köpfe geholt. Lediglich einen Mann aus Siri-Tongs Crew hatte es das Leben gekostet. Seine Leiche sollte morgen der See übergeben werden. Während sie die Insel rundeten, bestaunten die Portugiesen die ranke ›Isabella‹. Vigos hatte noch nie ein Ruderhaus gesehen und begriff den Sinn zuerst nicht. Doch dann, als Tucker es ihm ausführlich erklärte, war er Feuer und Flamme und von der Neuerung begeistert. »So etwas gibt es auf keinem anderen Schiff«, erklärte er. »Aber es ist eine prächtige Idee, ein Ruder statt eines Kolderstocks!« Er nickte anerkennend und fragte dann, ob er das Schiff genauer ansehen dürfe, was Hasard ihm gestattete. Vigos war ein ehrlicher Kerl, ein Kaufmann, der Pech gehabt hatte und jetzt wieder zurück in die Heimat wollte. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als unterwegs noch ein paar Leute anzuheuern, wenn er welche fand. Pete Ballie deutete nach Backbord. »Da liegen wieder Boote«, sagte er, »aber es scheint niemand in der Nähe zu sein.«
Ben Brighton ließ die Culverine ausrichten. Er wollte den Burschen einen letzten eisernen Gruß hinüberschicken. Da die Boote sauber ausgerichtet in einer Reihe lagen, war es für Al Conroy kein Problem, einen gezielten Schuß abzugeben, der den Rest der Auslegerboote in umherfliegende Trümmer verwandelte. Die ›Isabella‹ segelte weiter. Hinter ihr zog der Zweimaster her, dessen Stunden schon gezählt waren. Weder Hasard noch Ferris Tucker gaben dem Schiff eine Chance. Es schien so, als hätte es bald ausgedient. Kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, ließ Hasard den Anker dicht neben dem Portugiesen fallen. Die Karavelle verholte längsseits der ›Isabella‹ und wurde vertäut. Dann ließ Hasard die Portugiesen hinüberpullen, die sich überschwenglich bei den Seewölfen für ihre Rettung bedankten. »Lassen Sie heute nacht ebenfalls Wachen aufziehen«, empfahl der Seewolf dem portugiesischen Kapitän. »Wir müssen mit allem rechnen, auch mit einem weiteren Angriff. Diese Kerle geben einfach keine Ruhe, sie kämpfen bis zum letzten Mann.« »Sie sagen es, Kapitän Killigrew. Ich bin zwar nur ganz schwach bewaffnet, ich habe nur zwei Kanonen, aber ich werde aufpassen, das verspreche ich Ihnen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Senhor!« »Bis morgen«, sagte Hasard. »In aller Frühe segeln wir los.« Schnell brach die Nacht über die Caicos-Inseln herein. Hasard blieb an Deck stehen und sah zur Insel hinüber. Niemand hätte hier Kannibalen vermutet, die Bucht auf der Ostseite schien genaust friedlich zu sein wie die andere Bucht auch. Und doch lebten hier Menschenfresser! Der Rest der Nacht verlief ruhig und ohne den geringsten Zwischenfall. Die Wilden hielten sich zurück Sie hatten aus
ihren Erfahrungen eine blutige Lehre gezogen. 9. Als am anderen Morgen die Sonne über dem Meer aufging, wehte eine schwache Brise. Es war nicht gerade das ideale Segelwetter, aber man würde raumschots segeln können und gute Fahrt laufen. Das war ein Vorteil, weil sie die Karavelle schleppen mußten. Auf dem Portugiesen wurde es lebendig. Und auf der Karavelle, die jetzt noch tiefer im Wasser lag als am Vortag, wie es Hasard schien, stiegen ebenfalls verschlafen die ersten Gestalten an Deck. Sie gingen in einem großen Bogen um eine längliche Hülle, die an Deck lag. Darin steckte ihr Kamerad, den die Wilden getötet hatten, und der jetzt in Segeltuch genäht worden war. Wenigstens das hatten die Kerle begriffen, dachte der Seewolf. Früher hatten sie ihre Toten ohne viel Federlesen einfach über Bord geworfen, und damit war für sie der Fall erledigt. Jetzt aber bestand die Crew Siri-Tongs zum größten Teil aus neuen Leuten. Die miesen Typen wie Sidi Mansur und Don Ravella hatte längst der Teufel geholt. Ebenso den hirnlosen Affen, den sir nur den Schlächter genannt hatten, den brutalsten Kerl an Bord des Zweimasters. Siri-Tong hatte ihn eigenhändig im Zweikampf an Deck ihres Schiffes getötet, nachdem er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Emanuel Vigos erschien an Deck und begrüßte den Seewolf. Dann hielt er prüfend den Daumen hoch. Hasard lächelte ihm zu. »Sie werden kreuzen müssen, Kapitän«, sagte er, »denn Sie laufen in die entgegengesetzte Richtung. Tut mir leid, aber den achterlichen Wind haben wir heute gepachtet.« »Das ist Ihnen auch von ganzem Herzen zu wünschen,
Kapitän Killigrew«, gab der Portugiese lachend zurück. »Sie haben immerhin noch einen Anhang, der nicht leicht zu segeln ist, und der Sie stark behindert.« »Halb so schlimm. Gute Reise, Kapitän! Nein, nein, bedanken Sie sich nicht schon wieder«, sagte Hasard abwehrend, als der andere nochmals seinen Dank abstatten wollte. Dafür warf Rosaria, die dunkeläugige Schönheit aus Portugal, dem Seewolf einen Handkuß zu. Hasard lächelte zurück und winkte mit der Hand. Er drehte sich um, als sich ihm ein Zeigefinger in die Rippen bohrte und zwei rabenschwarze, schräggestellte Augen ihn empört anblitzten. »He«, fauchte die Rote Korsarin wie eine Wildkatze. »Ich kann es ja verstehen, daß dir die Weiber in Scharen nachlaufen, aber mußt du unbedingt Handküsse zurückwerfen und stolzgeschwellt grinsen, nur weil du dieser Katze zufällig das Leben gerettet hast? Ist das vielleicht die feine englische Art?« »So sind wir Engländer nun einmal«, sagte Hasard lächelnd und warf der Schwarzhaarigen noch einen Blick zu. Da fuhr ihm der Zeigefinger schon wieder in die Rippen, diesmal mit wesentlich mehr Nachdruck. »Hör damit auf, du Pirat!« zischte Siri-Tong. »Oder ich kratze dir die Augen aus.« »Ich kann grundlos eifersüchtige Frauen auf den Tod nicht ausstehen«, sagte Hasard. »Diese Sorte Frauen vermag es einfach nicht, einen Mann auf die Dauer zu fesseln.« Der Profos, der schweigend zugehört hatte, verzog die Lippen zu einem schadenfrohen Grinsen. Jawohl, sagte dieses Grinsen, zeig es diesem kleinen Biest nur richtig, dieser Wildkatze, die dich einfangen will. Nach Hasards Worten war die Rote Korsarin plötzlich wie umgewandelt. Ihr sprunghaftes Temperament zeigte sich wieder einmal.
»Darf ich auf der ›Isabella‹ bleiben«, fragte sie, »während wir zur Schlangeninsel segeln? Juan kann solange das Kommando übernehmen.« »Wenn du Angst hast, daß der Kahn absäuft - bitte sehr«, sagte Hasard spöttisch. »Darum geht es nicht!« Sie blitzte ihn empört an. »Und das weißt du ganz genau.« Hinreißend sah sie aus, fand Hasard. Er bemerkte es auch an den anerkennenden Blicken des Profos und der anderen, die an Deck erschienen waren. Immer wieder linsten die Kerle verstohlen zu der Roten Korsarin hinüber. Auf dem Portugiesen wurden die Segel gesetzt und der Anker eingeholt. Als er langsam aus der Bucht glitt und das offene Meer erreichte, standen die geretteten Portugiesen an Deck und winkten ihnen zu. »Anker auf!« rief Ben. »Hoch das Zeug, Profos, und gebt auf die Schleppleine acht!« Das Ankerspill drehte sich. Sechs Männer stemmten sich gegen die Spillspaken und drehten den Anker hoch. Die Leinen von der Karavelle wurden gelöst. Sie sah aus wie ein halbes Wrack. Der eine Mast fehlte, der andere war angesengt, das Schanzkleid zerstört und zwischen den Planken sickerte tropfenweise Wasser durch. Er war am Ende, Siri-Tongs stolzer Zweimaster, der beachtliche Kämpfe bestritten hatte. Am Groß und Fockmast gingen die Segel hoch, am Besan wurde das Lateinersegel hochgezogen. Nur auf die Blinde hatte Hasard verzichtet, um vorerst einen besseren Überblick zu haben. Ganz langsam blieb die Karavelle zurück, bis es einen leichten Ruck gab und die Schlepptrosse sich straffte. Sie lösten sich aus der Bucht, kreuzten ein paar Schläge gegen den Wind, bis sie etwas weiter draußen waren und fielen dann nach Steuerbord ab, bis sie mit Backstagbrise weitersegeln konnten. Die Wellen waren flach und klein. Sie klatschten kaum
hörbar gegen das Schiff. Dafür wurde es heiß, die Sonne knallte mit grellen Strahlen vom Himmel herab. Siri-Tong und der Seewolf standen auf dem Achterkastell. Sie sahen nicht die brennenden, fanatisch funkelnden Augen in den Büschen, die ihnen nachblickten. Dort am Strand, hinter dem Dickicht versteckt, hatte sich eine Horde Kannibalen zusammengerottet, die jetzt mit funkelnden Augen den Schiffen nachsahen, die langsam verschwanden und immer kleiner wurden. Sie hoben ihre gefiederten Speere und schickten den Schiffen laute Verwünschungen nach. Das große Fressen schwamm ihnen davon, es wurde unerreichbar, und das versetzte sie in grenzenlose Wut. Gegen Mittag flaute die leichte Brise etwas ab, bis sie schließlich fast ganz einschlief. Nur ab und zu blähte noch ein leichter Windhauch die Segel, doch die ›Isabella‹ lief kaum noch Fahrt. Die Schlepptrosse hing durch, und der leichtere Zweimaster berührte fast das Achterschiff der Galeone. »Ihr hättet jetzt Zeit, den Toten der See zu übergeben, SiriTong«, sagte Hasard. Und als sie nickte, befahl er, die Karavelle vorübergehend an der ›Isabella‹ festzumachen. Auf dem Zweimaster sah er schwitzende Männer. Sie hatten unermüdlich Wasser gelenzt, und dennoch lag die Karavelle noch tiefer im Wasser, als es vorhin der Fall gewesen war. Siri-Tong stieg über das Schanzkleid. Die Seewölfe hatten sich auf die Backbordseite gestellt und sahen stumm und mit ernsten Gesichtern zu, wie die Rote Korsarin ein kurzes Gebet sprach. Juan und der Boston-Mann hoben die eingenähte Leiche, die mit einem Eisenstück beschwert war, über das Schanzkleid und übergaben sie der See. Der Körper tauchte klatschend ein, stieß noch einmal senkrecht aus dem Wasser und glitt dann in die Tiefe. Eine Zeitlang konnten sie in dem glasklaren Wasser verfolgen, wie der Körper tiefer sank, bis die ewige Dunkelheit ihn endgültig
aufnahm. Mehr als eine Minute schwiegen sie alle. Dann waren wieder die Lebenden an der Reihe, und alles nahm seinen normalen Lauf. Noch einmal sah sich Tucker die Schäden an. Er ging in die Laderäume, prüfte die Planken, schüttelte den Kopf und sagte das, was er gestern auch schon gesagt hatte. »Sie zieht immer mehr Wasser, die Männer kommen mit dem Lenzen nicht mehr nach. Sie wird es nur schaffen, wenn die See auch weiterhin ruhig bleibt.« »Steigt über«, schlug Hasard vor und sah die Korsarin an. »Das Wasser leckt durch die Verplankung, da kann selbst der beste Zimmermann nicht helfen, denn hier auf See können wir sie nicht kalfatern, das geht nur, wenn wir sie aufslippen. Laß sie absaufen, Siri-Tong, es hat keinen Zweck mehr.« Zu viert standen sie jetzt in dem Raum. Überall drang Wasser durch die Ritzen, mal waren es nur wenige Tropfen, dann wieder sah es aus wie Regen, der hereinrauschte. Im zweiten Laderaum herrschte der gleiche Zustand. Auch hier drang aus allen Ritzen immer wieder Wasser herein. Die Rote Korsarin schüttelte eigensinnig den Kopf, daß ihre schwarzen Haare flogen. »Ich kann es nicht«, widersprach sie, »ich bringe es einfach nicht fertig, sie hier untergehen zu lassen. Trotz allem hänge ich an dem Schiff. Könnt ihr das nicht verstehen?« »Sicher können wir das«, erwiderte Ferris Tucker. »Aber sie wird so oder so untergehen, und wenn wir alle lenzen. In der Bilge steht das Wasser bis an die Bodenbretter, und die ersten Planken haben sich schon verzogen. Der Sturm hat der alten Lady übel mitgespielt, Madame, es sieht schlecht aus.« »Ich weiß, Mister Tucker. Schleppen wir sie trotzdem weiter, vielleicht geschieht ein Wunder, und wir bringen sie trotz allem noch zur Schlangeninsel.« Ferris Tucker verstand sie, ihm wäre es ähnlich ergangen. Man hing nun einmal an einem Schiff, an das man sich
gewöhnt und das man schon lange gefahren hatte. Wer wollte das der Roten Korsarin verübeln? Sie unternahmen auch noch einen Rundgang in die achtere Kammer. Auch dort sah es nicht viel anders aus. Der Sturm hatte die Planken durcheinandergeschüttelt. Überall tropfte es in kleinen Rinnsalen. Die vielen kleinen Lecks würden sich von allein nicht mehr schließen, wie Tucker fachmännisch feststellte. Sie starb, die Lady, und sie starb verdammt langsam. Sie war alt, krank und gebrechlich geworden, und sie hustete und stöhnte, er glaubte das ganz deutlich herauszuhören. Im Vorschiff bot sich das gleiche Bild. »Laß wenigstens alle Sachen, die von Wert sind, auf die ›Isabella‹ bringen«, schlug der Seewolf vor. »Und den größten Teil der Männer ebenfalls.« »Ich will aber, daß sie an den Pumpen bleiben«, beharrte die Korsarin. »Wenn es gar nicht mehr anders geht, können sie immer noch übersteigen. Passieren wird ihnen nichts, die See ist ruhig, und wir sind in der Nähe. Gut, ich lasse die Sachen holen«, lenkte sie ein, als sie Hasards kühlen Blick bemerkte. Die persönliche Habe der Männer wurde umgeladen. Es war nicht viel, Schätze befanden sich ebenfalls keine an Bord, und den Mast, den sie hatten aufriggen wollen, holten Ferris Tucker und ein paar andere wieder an Bord zurück. Später würden sie bestimmt einmal Verwendung für ihn haben. Als die Rote Korsarin weg war, wandte sich Ferris Tucker an den Seewolf. »Das ist vielleicht eine halsstarrige Person«, sagte er, »wenn die nicht ihren Willen durchsetzen kann, fühlt sie sich einfach nicht mehr wohl. Ein eigensinniges Frauenzimmer.« Hasard grinste breit. »Vielleicht fehlt ihr nichts weiter als wieder mal eine kleine Tracht Prügel, so wie es der Wikinger schon einmal getan hat. Einfach auf den Hosenboden klopfen, dann kuscht sie wieder.«
Ferris lachte dröhnend, wurde dann aber ernst, als Siri-Tong hinter ihm aufkreuzte. »Haben Sie über mich gelacht, Mister Tucker?« fragte sie streng. Auf dem Arm trug sie ein paar Sachen zum Anziehen, die sie einfach an Deck warf. »Um Himmels willen«, verwahrte sich der rothaarige Hüne. »Das würde ich nie wagen, Madame. Der Kapitän hat nur einen kleinen Vorschlag unterbreitet.« »Scheint ja ein sehr witziger Vorschlag gewesen zu sein«, meinte sie spitz, »wenn man sich derart darüber amüsiert.« Ferris Tucker zog es vor zu schweigen. Er ging nach vorn und grinste dabei unentwegt vor sich hin. Sollte der Seewolf sehen, wie er mit der Kratzbürste fertig wurde. Nur sehr zögernd erholte sich der Wind, und die ›Isabella‹ nahm wieder schwache Fahrt auf. Durch das Hindernis im Schlepp segelte sie sehr langsam, und die verdammte Karavelle lief immer wieder aus dem Ruder, dabei sackte sie zusehends ab, obwohl die Männer wie die Verrückten lenzten. Hasard wünschte sich, daß der Kahn endlich absaufen möge, denn er behinderte sie nur, sie gelangten einfach nicht voran. Und zu retten war die Karavelle ohnehin nicht mehr. Er sah, wie sie auf dem Achterkastell stand und sich alle Augenblicke nach dem Zweimaster umsah. Genauer gesagt, war er jetzt nur noch ein lahmer Einmaster ohne Segel, ein dem Untergang geweihtes Schiff. »Wenn sie wirklich untergeht«, hörte er Siri-Tong sagen, »dann bleibt uns wirklich nur noch der schwarze Segler.« »Wie meinst du das?« »So, wie ich es sagte. Im übrigen habe ich keine Ahnung, wie deine Pläne sind.« Hasard merkte, daß sie ihn aus der Reserve locken wollte. »Ich bleibe nicht mehr lange in der Karibik, Madame. Mich zieht es mit aller Macht in jenes Land, das mich schon seit einer ganzen Weile beschäftigt. Jenes Land«, setzte er lächelnd
hinzu, »in dem diese seltsamen Schriftzeichen mit Hilfe eines Pinsels und schwarzer Farbe gemalt werden. Ich werde es suchen, und ich werde es auch finden, ich habe ein paar Anhaltspunkte.« Wenn sie enttäuscht war, verstand sie es jedenfalls meisterhaft, sich das nicht anmerken zu lassen. Nur ihr Lächeln wurde spöttisch, und der Seewolf ärgerte sich wieder einmal, daß sie so sparsam mit Hinweisen war, denn sie wußte genau, welchen Kurs sie segeln mußten, um in jenes Land zu gelangen. Sie stammte aus diesem Land, das wußte er, aber sie hatte ihn immer wieder hingehalten, wenn er neugierige Fragen gestellt hatte, und war ihm ausgewichen. Eine dunkle Sehnsucht die er sich selbst nicht erklären konnte, zog ihn mit aller Gewalt dahin. Es war der Drang nach Abenteuern, ein Trieb, der ihm einfach keine Ruhe mehr ließ. Die Karibik kannte er zum größten Teil und Südamerika hatte er auch schon unter Francis Drake gerundet. Aber es gab noch andere Länder, rätselhafte, geheimnisvolle Kontinente. Dazu mußte man nur das Wagnis eingehen, sich wochen- oder monatelang auf dem Ozean zu bewegen. Vielleicht half sie ihm bei der Suche, aber er würde sie nicht darum bitten, das nahm er sich ernsthaft vor. »So, du hast die Karibische See also satt«, sagte sie spitz und ein dunkler Schleier legte sich über ihre hübschen Augen. »Und was werden die Spanier denken, wenn der Seewolf aus ihrem Revier verschwindet? Wer wird ihnen die Beute abjagen, wer wird sie überlisten?« »Keine Ahnung«, erwiderte Hasard kühl. »Von den Spaniern bin ich vorerst bedient. Vielleicht kannst du sie in Zukunft übernehmen, du als Kapitän des schwarzen Seglers.« Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre fauchend auf ihn losgegangen. Nur die grinsenden Gesichter der Seewölfe hielten sie davon ab und die starren Züge Ben Brightons und
des Profos, die das dahinter verborgene Grinsen nur noch deutlicher werden ließen. »Dir ist das viele Gold zu Kopf gestiegen, Pirat«, zischte sie. »Die Perlen, Edelsteine, Silberbarren, die Kostbarkeiten, die im Schlangentempel liegen.« »Es gibt andere Sachen als Gold oder Edelsteine, Korsarin«, sagte der Seewolf ruhig. »Ich will nicht den Rest meines Lebens in der Karibik verbringen und nur noch Spanier jagen.« O ja, sie verstand ihn nur zu gut, diesen stolzen, unbeugsamen Killigrew, den sie den Seewolf nannten. Ihm wurde es selbst in der Weite der Kariben zu eng, er brauchte wieder einmal frische Luft oder das, was er darunter verstand. Aber sie wollte ihn für sich haben, sie liebte ihn, und sie nahm sich vor, alles dranzusetzen, um ihn von diesem Vorhaben wieder abzubringen. Rein äußerlich bewahrte sie Ruhe und gab sich den Anschein, als wäre ihr das gleichgültig. Vielleicht reizte ihn das mehr. »Dann sind wir ja bald geschiedene Leute, Mister Killigrew«, sagte sie heiter. »Ich werde noch ein paar Raubzüge durchführen und mich dann zur Ruhe setzen. Danach werde ich eine Familie gründen, Kinder haben, einen netten Mann.« Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und schien angestrengt nachzudenken, bis sich ihr Gesicht plötzlich erhellte. »Vielleicht diesen Monsieur Ribault«, überlegte sie laut. »Er ist ein galanter Mann.« Hasard hatte sie längst durchschaut. Er sah, wie es in ihren hübschen Augen feucht wurde, und grinste hinterhältig. »Ribault wäre nicht übel«, sagte er, »vor allem wird er einen prächtigen Familienvater abgeben. Den Mann kann ich dir nur allerwärmstens empfehlen.« »Du bist ein abgebrühtes, ekelhaftes Scheusal, ein liederlicher Sohn der Hölle«, preßte sie erstickt hervor, »ein Kerl, der es nicht verdient, daß ihn die Sonne bescheint. Genau das bist du,
Philip Hasard Killigrew!« Wütend stampfte sie mit dem Fuß an Deck. In der Kuhl sah Sam Roskill Bob Grey an und grinste. »Die beiden verstehen sich wieder einmal prächtig«, sagte er. »Die müssen sich bis an den Rand des Wahnsinns lieben.« »Quatsch, die haben Streit, die können sich in Wirklichkeit gegenseitig nicht riechen«, widersprach Bob Grey. Sam Roskill musterte ihn verächtlich. »Was verstehst du schon von Frauen, du Holzbock! Du weißt nur, daß die meisten lange Haare haben und mehr nicht.« Auf dem Achterdeck sah der Seewolf Siri-Tong in die Mandelaugen. »Wenn Ribault dich so sieht, wird er es sich dreimal überlegen, ob er mit einer Kratzbürste eine Familie gründen soll. Eigentlich tut er mir leid!« »Mehr hast du mir nicht zu sagen?« rief sie mit erstickter Stimme. »Nur, daß es vielleicht bald Nebel geben wird«, erwiderte Hasard ungerührt. »Am Horizont sieht es jedenfalls danach aus.« Er sprach die Worte ins Leere, denn sie hatte sich auf dem Absatz umgedreht und war verschwunden. In seine Kammer, wie der Seewolf annahm. Er grinste vor sich hin und ahnte nicht, daß sie sich in seiner Kammer einfach über seine Koje warf und hemmungslos zu schluchzen begann. Dabei verstand sie sich selbst nicht mehr. Sie, die mit allen Wassern gewaschene Korsarin, die Tod und Teufel nicht fürchtete, lag hier auf der Koje und heulte sich die Augen aus. Und das alles wegen dieses abgebrühten, ekelhaften Scheusals, dieses liederlichen Sohns der Hölle, der es nicht wert war, daß ihm die Sonne beschien, dieses verfluchten, heiß geliebten Hasard Philip Killigrews, dieses eiskalten Seewolfs. Nein, sie verstand sich nicht mehr, und die anderen verstanden sie erst recht nicht.
Sollten sie doch alle zum Teufel gehen! * Der Horizont war in eine Nebelbank gehüllt, die sich teilte, die langsam wanderte und immer näher rückte. Sie segelten genau in die Ballung dieser Nebelbänke hinein, die träge auf dem Wasser hockten wie kleine Berge, über die man Watte gestülpt hatte. Das war eben die Karibik, dachte Hasard. Hier schien heiß die Sonne herab, aber ein paar Meilen weiter hatte die Kraft ihrer Strahlen nicht vermocht, die Nebelbänke, die da am Horizont entlang waberten, aufzulösen. Eine weitere Stunde danach hüllten erste Fetzen das Schiff ein. Es wurde dunstig, der Wind blies nur noch ganz schwach, und gleichzeitig begann es kühler zu werden. Die Seewölfe schimpften, ganz besonders der Profos. »Jetzt hängen wir gleich fest«, sagte der Profos sauer. »Und mit dieser flügellahmen Ente werden wir uns bald gar nicht mehr von der Stelle bewegen können. Hoffentlich säuft der Bock bald ab, er steht sowieso schon bis zur Halskrause im Wasser.« Hasard ließ ihn schimpfen. Ein kurzer Windstoß trieb Nebelwolken vor die ›Isabella‹. Die Geräusche erstarben, es wurde unnatürlich ruhig, bis auf das leise Gluckern hinter ihnen und das Knarren der Trosse, wenn sie sich an dem Holz rieb. Dicke Nebelbänke tauchten auf, trieben wie Berge an ihnen vorüber, hüllten das Schiff ein, legten sich auch um die Karavelle, bis man sie nicht mehr sah. Es schien, als hätte sich in dieser kurzen Zeit die ganze Welt grundlegend geändert. Sie befanden sich in einem alptraumhaften Land, einer Zone, in der nicht mal mehr das Wasser zu sehen war, auf dem sie segelten. Unheimlich war es, ungewohnt, sie waren schon lange nicht
mehr in so undurchdringlichem Nebel gewesen. Die aufgebauschten Segel fielen immer mehr in sich zusammen, bis sie wie schlaffe Lappen von den Rahen hingen. »Eine Welt, die voller Geheimnis und Geister steckt«, unkte der alte O’Flynn und humpelte auf seinem Holzbein zum Schanzkleid. »Im Nebel passieren die merkwürdigsten Sachen«, erzählte er weiter. »Ich habe es selbst einmal erlebt, das war vor vielen Jahren, da befanden wir uns mitten auf See, und plötzlich kam Nebel auf.« Die anderen, die sich in der Kuhl versammelt hatten, lauschten gespannt, wenn der alte O’Flynn seine Geschichten zum besten gab. Lediglich Dan, sein Sohn, hielt sie meist für stark übertrieben, doch als er etwas sagen wollte, schob der Alte ihn beiseite. »Erzähl weiter, O’Flynn«, bat Will Thorne, »was passierte dort in dem Nebel?« »Wie gesagt, wirwaren mitten auf See, kein Land weit und breit. Dann dieser Nebel, so wie jetzt. Überall riesige Berge auf dem Wasser, Schleier, hinter denen die Kobolde tanzten. Alles war unheimlich still. Und dann ging ein Ruck durch das Schiff, und wir saßen fest. Das glaubt ihr nicht?« fragte er und zog die Brauen finster zusammen. »Doch, doch, erzähl weiter!« »Eine Insel«, murmelte der Alte. »Wir befanden uns auf einer kleinen Insel mit ein paar Büschen darauf, als der Nebel sich auflöste. Unser Steuermann ging an Land und schaute sich um. Niemand hat ihn je wieder gesehen.« »Wie war das möglich?« »Ich weiß es heute noch nicht«, murmelte der Alte dumpf. »Der Nebel kam wieder, hüllte alles ein, und wir hörten nur ein schauriges Gelächter. Ganz erstickt klang es, und es entfernte sich immer weiter von uns. Als der Nebel sich dann zum zweitenmal verzog, war die Insel verschwunden und der Steuermann auch. Und dabei hatten wir uns nicht von der
Stelle bewegt.« Die Männer schluckten und sahen sich um. Old O’Flynns Schauermärchen gingen ihnen immer wieder runter wie warmes Öl. Nur sein Sohn Dan grinste spöttisch. »Das hat Daddy ganz sicher wieder mal geträumt«, sagte er. Aber da kam er bei seinem Alten schlecht an. »Wirst du lausiger Bock wohl deinen Schnabel halten?« sagte er verärgert. »Ich war doch selbst dabei. Früher war das alles ganz anders, viel besser. Da gab es noch nicht so neumodischen Kram wie heute. Da lebte jeder Mann mit den Meergeistern zusammen und war per Du mit allen. Da hockte auch noch der Wassermann auf dem Bugspriet und begleitete die Schiffe und wies ihnen den rechten Weg, wenn sie sich verfahren hatten. Da glaubte ein anständiger Seemann noch an so was. Aber ihr Rattenpisser habt ja von der Seefahrt keine Ahnung!« Das war Old O’Flynn, der sich immer wieder hervortat, wenn Situationen wie diese eintraten. Er glaubte fest an Meermänner, an Nebelgeister, er hatte sie schließlich schon mit eigenen Augen gesehen und war ihnen oft begegnet. Auf dem Achterkastell grinste Ben Brighton den Seewolf an. Die beiden Männer amüsierten sich köstlich über Old O’Flynns Schauergeschichten und seine vermeintlichen Erlebnisse. Und wenn ihm jemand widersprach, dann konnte der Alte fuchsteufelswild werden, genauso, als wenn ihm einer eine Lüge unterstellte. Ein leichter Windstoß fuhr in die Segel. Sie bauschten sich und fielen gleich darauf wieder in sich zusammen. Dann blies es nur noch ganz schwach über Backstag. Hasard sah die Karavelle nicht mehr. Die Schlepptrosse hing schon wieder durch und lag im Wasser. »Siehst du den Zweimaster, Blacky?« rief er in den Großmars hinauf.
»Ich sehe gerade noch das Deck, mehr nicht!« rief Blacky zurück. Hasard legte die Hände an den Mund. »He, Juan, Boston-Mann! schrie er nach achtern. »Wie sieht es bei euch aus?« Die Antwort ließ unendlich lange auf sich warten, woraufhin der alte O’Flynn mahnend den knochigen Zeigefinger in die Luft streckte. »Vielleicht hängen sie gar nicht mehr dran«, erklärte er. »Ich habe ja gesagt, im Nebel passieren ...« Hasard hörte nicht mehr hin. Aber ihn beschlich trotzdem ein seltsames Gefühl, und so wiederholte er seinen Ruf noch einmal. Die Antwort war kaum zu verstehen, nur ganz schwach wehte sie herüber. »Wir können uns noch halten, Sir! Aber in ein paar Stunden werden wir absaufen, das ist sicher.« »Wahrschaut uns, sobald der Kahn noch tiefer liegt!« schrie Hasard zurück. »Wir holen euch dann an Bord!« »Aye, aye, Sir«, tönte es leise zurück. Old O’Flynn verzog das wettergegerbte Gesicht. Seine Theorie war wieder einmal nicht aufgegangen, und insgeheim ärgerte er sich mächtig darüber. So trieben sie dahin. Ab und zu lichtete sich der Nebel, und dann sah man die Fetzen auf dem Wasser wabern, wie sie sich neu formten und immer wieder andere Gestalt annahmen. Nach einer Weile erschien auch Siri-Tong wieder an Deck. Schweigend und vorwurfsvoll blickte sie den Seewolf an, dann wanderte ihr Blick weiter und saugte sich an den tanzenden Nebeln fest, die nun in langen Spiralen auf dem Wasser hüpften und aussahen wie verformte, unmenschliche Gesichter. Genauso, wie es der alte O’Flynn vorhin geschildert hatte. Geister aus einer anderen Welt... »In ein paar Stunden geht deine Karavelle auf Tiefe«, sagte
Hasard zu der Korsarin, die sich umgezogen hatte. Die Hose die sie trug, war etwas dunkler und nicht so verwaschen. Und die Bluse war auch neu und stand am Hals wieder zwei Knöpfe offen. »Mir ist alles egal«, murmelte sie. »Soll der Kahn doch absaufen, ich werde ihm keine Träne nachweinen. Und die Leute werden schon rechtzeitig geborgen werden.« »Und ich dachte, du hättest wegen deiner Karavelle doch ein paar Tränen vergossen«, sagte Hasard leise. »Man sieht es noch an deinen hübschen Augen.« »Kaltes Wasser hilft da«, sagte der Profos ahnungslos, der nicht genau wußte, um was es ging und nur etwas von verweinten Augen gehört hatte. Siri-Tong ging auf ihn los, packte sein Hemd und zerrte wütend daran, aber der Koloß Carberry bewegte sich nicht von der Stelle. »Mein Gott, warum sind alle nur so herzlos zu mir«, sagte sie leise, »so gefühlskalt. Ihr tragt statt eines Herzens bestimmt Eisklumpen mit euch herum.« Sie ließ den verblüfften Profos los und drehte sich um. »Habe ich was Falsches gesagt, Hasard?« fragte Carberry. Hasard sah ihn schräg an. »Das nicht«, meinte er, »du hast nur den richtigen Zeitpunkt verpaßt, Ed.« »Ich verstehe kein Wort.« »Das ist so wie beim Segeln«, erklärte Hasard. »Man muß immer zur richtigen Zeit die Rahen in die richtige Stellung bringen.« »Anbrassen, meinst du?« fragte Ed verständnislos zurück. »Ganz richtig.« Der Profos schnaufte empört. »Da soll ein Mensch draus schlau werden«, brummte er vor sich hin. »Im Nebel fangen alle an zu spinnen. Was, zum Teufel, hat denn das Anbrassen mit verheulten Augen zu tun,
frage ich mich. Kapierst du das, Smoky?« wandte er sich an den Decksältesten. »Kein Wort, Ed.« »Dann bist du genauso dämlich wie ich!« Damit ließ er den verblüfften Smoky einfach stehen, der sich an den Kopf griff und jetzt ebenfalls fest davon überzeugt war, daß der Nebel ihnen nicht guttat. »Achtung, Deck!« schrie Blacky aus dem Großmars. »Ein großer Schatten bewegt sich auf uns zu!« Wie unter einem Peitschenhieb zuckten die meisten zusammen. Wo sollte hier ein großer Schatten herkommen? 10. Es war eine gespenstische Begegnung, und der Anblick brannte sich jedem der Seewölfe fest in die Seele. Weit voraus, größtenteils verhüllt in einer Nebelbank, bewegte sich ein riesiger Schatten durch den Dunst. Er lief fast parallel zu ihnen, war aber kaum schneller. Dafür wurde er fortlaufend größer und dichter. Mal war er pechschwarz, mal wieder dunkelgrau. Old O’Flynn schluckte. Er hätte die Geschichte mit der Insel doch nicht erzählen sollen, dachte er. Jetzt würde ihnen vermutlich das gleiche passieren wie damals. Gleichzeitig nahm er sich vor, jeden daran zu hindern, der über Bord gehen wollte, um das Gebilde näher zu untersuchen, falls es wirklich eine Insel war. Dann nämlich wäre Ben Brighton der Steuermann gewesen, der für immer und alle Zeiten spurlos verschwand. Siri-Tong stand neben dem Seewolf. Ihr schmales Gesicht war noch schmaler geworden. Fröstelnd hob sie die Schultern hoch.
»Was ist das, Hasard, kannst du es erkennen?« »Nein, ich sehe nur den großen Schatten. Vielleicht ist es ein anderes Schiff, aber dann hätten wir es doch vorhin auch sehen müssen.« Hasard wollte Pete Ballie den Befehl geben, etwas nach Steuerbord zu drehen, aber dann sah er nach dem Ruder und wußte, daß es sinnlos war. Bis das Schiff dem Ruderdruck gehorchte, würde eine ganze Weile vergehen, denn die Fahrt der ›Isabella‹ war mehr als gering. Außerdem hing die Karavelle hinten dran. Die würde todsicher wieder aus dem Ruder laufen, wenn die Kerle nicht sehen konnten, welche Manöver hier gefahren wurden. Womöglich legte sie sich auch noch quer. Ausnahmslos alle standen jetzt am Schanzkleid der Steuerbordseite, um den Schatten zu identifizieren, der gerade wieder vom Nebel eingehüllt wurde und spurlos verschwand. War es wirklich ein anderes Schiff? Der Prof os legte die Hände an den Mund. »He, ho!« brüllte er mit seiner Donnerstimme. »Wer seid ihr? Gebt euch zu erkennen und paßt auf, daß ihr uns nicht rammt.« Der Nebel schluckte sein Gebrüll. Von dem Schatten erfolgte keine Antwort. »Es wird die verdammte Insel sein«, krächzte Old O’Flynn. »Alle paar Jahre taucht sie wieder aus den Fluten, holt sich ihr Opfer und versinkt dann wieder.« »Mach die Leute nicht verrückt mit deiner beschissenen Insel«, fuhr Ben Brighton den Alten an. Hasard spürte, wie Siri-Tong nach seinem Arm griff und sich daran klammerte. Immer fester wurde ihr Griff. Dann, ganz übergangslos, tauchte der Schatten wieder auf wie aus einer weißen Wolke und wurde größer. Es war ein Schiff, ein großes schwarzes Schiff. »El Diabolo«, sagte jemand laut und deutlich. Den anderen rann es kalt über den Rücken. Nein, El Diabolo
war tot, seine Leiche verweste auf der Insel Little Caiman, er konnte es nicht sein. Die Pest oder welche Krankheit auch immer hatte den unheimlichen Kapitän dahingerafft. Schweigend, lautlos bewegte es sich durch das Wasser, von Nebelfetzen gespenstisch eingehüllt. Es war ein völlig fremdartiges Schiff, eins wie es hier nirgends gebaut wurde. Es trug drei Masten, die auf dem Deck nicht hintereinander standen, sondern seitlich versetzt waren. Auch die dunklen Segel waren fremd. Die Männer bekreuzigten sich bei diesem Anblick. Sie hielten den Atem an, als die Umrisse noch schärfer wurden. Hasard durchfuhr blitzartig die Erkenntnis, daß er ein ähnliches Schiff schon einmal gesehen hatte. Es war schon eine Weile her, doch er entsann sich noch ganz deutlich. Im Sargassomeer hatten sie es gesehen, jenen verfallenen, fremdartigen Segler, der aus einer anderen Welt zu stammen schien. Dort auch hatten sie die merkwürdigen Brandsätze gefunden. Und genau wie jenes Wrack wies auch dieses Schiff keine Kanonen auf, keine Stückpforten. Es hatte andere, mächtigere Waffen, Waffen gegen die die Culverinen Spielzeug waren. Sein Rumpf war in pechschwarzem Lack gehalten und nicht wie es üblich war in Teer. An den Masten hingen keine Rahen, alle drei waren nach Lateinerart getakelt, kunstvoll geflochtene Segel, deren einzelne Bahnen mit Bambus versteift waren. Den Bug zierte eine große häßliche Schlange, ein furchteinflößendes sich windendes Tier mit einem häßlichen Kopf, der sich ständig nach allen Richtungen zu drehen schien. Zwei große rote Augen in dem Kopf der Schlange glühten unheilverkündend. Siri-Tong stieß einen spitzen Schrei aus, als der Segler sich immer mehr durch den Dunst abhob. Sie klammerte sich noch fester an Hasard und zitterte an allen Gliedern. Niemand ließ den Blick von diesem unheimlichen Schiff, das
lautlos und unendlich langsam an ihnen vorüberzog. Seine Geschwindigkeit war nur um wenig größer, denn es hatte kein anderes Schiff im Schlepp. Und nun sahen sie zum erstenmal die Gestalten, die drüben am Schanzkleid standen und herübersahen. Sie waren in dunkles Tuch gehüllt. Auf den Köpfen trugen sie tellerartige flache Hüte, unter denen gelbliche Gesichter mit stark geschlitzten Augen stumm herüberblickten. Jeden einzelnen der Seewölfe musterten die kalten ausdruckslosen Augen, die sich an der ›Isabella‹ festsaugten und sie mit ihren drohenden Blicken festzuhalten schienen. Finster und unheimlich waren die Gesichter, die keine Regung erkennen ließen. Zusammengekniffene Schlitzaugen, pechschwarze gelackte Haare von der gleichen Farbe wie der Rumpf des Schiffes, und manch einer von ihnen trug einen grausam wirkenden, von der Oberlippe dünn herabhängenden schwarzen Bart, der bis weit über das Kinn reichte. Hasard sagte immer noch nichts. Er starrte zurück, den Blick fest auf die unheimlichen Gestalten gerichtet, von denen eine jetzt höhnisch grinste. Ein Finger fuhr hoch und zeigte auf Siri-Tong. Daraufhin wandten sich die geschlitzten Augen direkt der Korsarin zu. In diesen Blicken lag eine unaussprechliche Drohung, vor der sich sogar der Profos fürchtete. Hasard spürte, daß hier irgend etwas mit Siri-Tongs Vergangenheit zusammenhing, daß die schwarzen Kerle sie kannten oder wußten, wer sie war. Der Spruch fiel ihm ein, den er auf dem Wrack im Sargassomeer eingeritzt und eingebrannt ins Holz entdeckt hatte. »Wer hier eingeht - des Leben ist für immer verwirkt«, so hatte jene geheimnisvolle Schrift gelautet, Zeichen, die nicht hintereinander geschrieben wurden, sondern die in langen Kolonnen von oben nach unten wanderten. Hasard wandte schnell den Blick. So bleich und verängstigt hatte er Siri-Tong noch nie gesehen. Es war, als flößten ihr die
Gestalten dort drüben Todesängste ein. Und er selbst spürte es auch in jeder Faser seines Körpers, wie unheimlich alles war, wie er zu atmen vergaß und sein Herz überlaut in der Brust klopfen hörte. Noch immer sprach niemand. Auf der ›Isabella‹ fiel kein Wort, und auch drüben schwieg man. Das ließ alles nur noch unheimlicher und erschreckender werden. Hasard versuchte, sich gewaltsam aus der Starre zu lösen, die ihn überfallen hatte. Nur sehr schwer fand er in die Wirklichkeit zurück und ihm war, als erwache er aus einem düsteren Traum, der ihn wieder zurückführte in eine normale Welt. Er sah wie sich drüben eine Hand hob, als wolle sie zaghaft grüßen. Doch es war kein Gruß. Gelähmt vor Entsetzen sahen die Seewölfe, wie diese Hand einen Bogen hielt und ein schwarzer, mit einer bunten Feder verzierter Pfeil von der Sehne flog. Mit einem Ächzlaut blieb er zitternd im Besanmast stecken. Aber die bunte Feder war ein Zettel, ein Stück Pergament. Siri-Tong löste sich von Hasard. Ihre anfängliche Erstarrung wich. Mit wankenden Knien ging sie auf den Mast zu, riß den Zettel aus dem Pfeilschaft und blickte auf die Schriftzeichen. Hasard war ihr gefolgt und warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. Wieder sah er diese geheimnisvollen Schriftzeichen in schwarzer Tusche fein säuberlich und fast kunstvoll hingemalt. Wie kleine fremde Häuser sahen manche von ihnen aus. »Was bedeutet das?« fragte er rauh. Sie gab keine Antwort, aber unbeschreibliche Angst lag in ihrem Blick. Sie schwankte, Hasard hielt sie fest. Da knüllte sie das bunte Stück Pergament zusammen und ließ es in ihrer Bluse zwischen den Brüsten verschwinden. Totenblaß sahen die Männer zu ihr herüber. Niemand begriff das Unheimliche, was hier vorging, und niemand verstand, was
der schwarze Segler ausgerechnet von der Korsarin wollte. Sie hat so ähnliche Augen wie die unheimlichen Kerle von dem Schiff dachten die meisten, aber sollte das damit zusammenhängen? Oder kannten diese dunklen Gestalten die Rote Korsarin? Hasard erhielt immer noch keine Antwort, daher wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem fremden Schiff zu, das sich jetzt anschickte, in einer dichten Nebelwand zu verschwinden. Er wollte hinterher, die Verfolgung aufnehmen, wissen was los ist, aber es ging nicht, er konnte nicht schneller segeln. Bevor es in dem Nebel verschwand, erkannte er noch etwas, Drüben zischten Funken auf, wurden immer heller, und dann heulte etwas durch die Luft, das die Seewölfe nur allzu gut kannten. Es war einer jener überaus gefährlichen Brandsätze, wie sie sie ebenfalls auf dem Wrack gefunden hatten. Traf er ein Schiff, dann gab es keine Rettung mehr, niemand vermochte das Feuer zu löschen. Das war die Waffe der Fremden, deshalb konnten sie auf herkömmliche Kanonen verzichten. Diese Brandsätze, auch Höllenfeuer genannt, schossen weiter als jede Culverine und trafen genauer. Vor der ›Isabella‹ erglühte es grellrot in der Luft. Vom Himmel senkte sich ein blumenartiges Gebilde von schauriger Pracht, das sein Feuer nach allen Seiten verspritzte. Kaskadenartig fiel es wie ein blutiger Regen vor der Galeone ins Meer, brannte auf dem Wasser noch weiter und verlöschte dann. Ein zweiter Brandsatz, diesmal von giftig grüner Farbe, zerplatzte hinter der ›Isabella‹, genau zwischen der Karavelle und der Galeone. Wieder regnete es heiß vom Himmel nieder. Diesmal bekreuzigte sich sogar der Seewolf, als das grüne Feuer im Meer verzischte und verschwand. Wenn es getroffen hätte ... Oder hatten die Fremden nicht treffen wollen? Sie kannten
diese höllische Waffe besser als jeder andere, und sie wußten damit ganz sicher sehr gut umzugehen. War das nur eine Warnung? Jetzt war das schwarze Schiff mit den merkwürdigen Fremden an Bord verschwunden. »Den müssen wir kriegen«, sagte Hasard, »ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat! Laß alles an Zeug setzen, was wir haben, Ben, auch die Blinde! Ich will sehen, was es mit diesem Schiff für eine Bewandtnis hat. Bisher haben wir diese Fremden nur als Leichen gesehen und das Schiff nur als Wrack.« »Es wird uns nichts nutzen«, sagte Ben düster, »mit der Karavelle im Schlepp kommen wir kaum von der Stelle.« »Dann laß die Leine über Bord gehen«, sagte Hasard erregt. Er wollte um jeden Preis hinterhersegeln. Doch in diesem Augenblick ertönte von der Karavelle lautes Gebrüll. Der Boston-Mann schrie, Juan brüllte und auch ein paar andere brüllten wüst durcheinander. »Wir saufen ab! Wir kappen die Leine!« »Scheiße!« Hasard verlor nach langer Zeit wieder einmal die Beherrschung. »Ausgerechnet jetzt muß dieser lausige Mistkahn auf Tiefe gehen. Verdammt und zugenäht, jetzt, da wir so dicht dran sind, das Geheimnis zu lüften. Laß ein Boot zu Wasser, Ben, damit wir die Kerle aus dem Bach fischen können.« Hasard fluchte und tobte, aber es half alles nichts. Hinter ihm wurde das Geschrei größer. Die Kerle aus Siri-Tongs Crew hatten den schwarzen Segler natürlich auch gesehen, aber was das alles zu bedeuten hatte, wußten sie nicht. Dazu kam noch, daß ihnen die Karavelle jetzt buchstäblich unter dem Hintern absoff, und jetzt waren sie ganz aus dem Häuschen In aller Eile wurde ein Boot abgefiert Curberry pullte nach achtern, um die Rübenschweine an Bord zu holen, wie er fluchend versicherte.
Siri-Tong lehnte totenblaß am Besanmast. Hasard strich ihr über die Haare, doch sie reagierte nicht. Sie sah durch ihn hindurch, immer noch gezeichnet von dem tödlichen Schrecken, der sie ereilt hatte. »Sag mir, was auf dem Pergament steht«, bat er leise. »Vielleicht kann ich dir helfen. Jetzt säuft die Karavelle ab, aber sobald die Männer an Bord sind, segeln wir diesen Burschen nach, die dich so erschreckt haben.« »Nein, nein, auf keinen Fall!« rief sie flehend. »Es wäre unser aller Tod. So betrifft es nur mich.« »Was betrifft dich?« fragte der Seewolf. »Sprich es doch endlich aus.« Aber sie schwieg, schüttelte nur stumm den Kopf, sah den Seewolf noch einmal unendlich traurig an und ließ die Schultern fallen. »Später«, sagte sie müde, »darf ich mich in deine Koje legen?« »Selbstverständlich. Und hab keine Angst.« Sie lächelte nur, aber ihre Augen machten bei diesem Lächeln nicht mit, es war ein bloßes Verziehen ihrer Mundwinkel. Dann ging sie. Hasard sah ihr nach. Er gab es auf, sich zu wundern, denn er fühlte, daß er dem Geheimnis ziemlich dicht auf der Spur war. Von achtern hörte er wieder das Geschrei, allmählich ging es ihm auf die Nerven. Was wollten die Kerle denn - sie hatten doch selbst Boote, und außerdem war Carberry mit einem weiteren Boot bei ihnen. Er nahm Tuckers Axt und hieb die Leine, die die beiden Schiffe miteinander verbunden hatte, mit einem gewaltigen Schlag auseinander. Dann kehrte er zurück. Von dem fremden Schiff war nichts mehr zu sehen, der Nebel hatte es geschluckt.
Die Karavelle hielt sich noch ein paar Minuten. Mit der letzten Fahrt, die sie noch hatte, lief sie parallel zur ›Isabella‹, als erhoffe sie von dem großen Schiff Hilfe. Siri-Tong war nicht dabei, als ihr Zweimaster unterging. Sie lag zitternd und von Angst geschüttelt in Hasards Koje. Mittlerweile enterten die »Rübenschweine«, wie Carberry sie bezeichnete, das Deck. Ihr Boot wollten sie an der ›Isabella‹ vertäuen, aber Hasard winkte ab. »Was sollen wir damit? Laßt es treiben, ich habe keinen Platz an Bord, oder wollt ihr, statt an Deck zu bleiben, im Mast hocken?« Der Boston-Mann gab dem Boot einen Tritt. Da trieb es in Richtung des Zweimasters, der jetzt deutlich zu sehen war. Die Kerle feuerten ihre Habseligkeiten in die Kuhl und sahen zu, wie die Karavelle ihre letzte Reise antrat. Der alten Tante stand das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Es lief durch die Speigatten und überspülte das Deck. Es gurgelte leise und ab und zu stiegen Luftblasen aus den unteren Räumen, als wollten sie gegen den Untergang protestieren. Sie stellte sich auch nicht auf den Bug oder das Heck. Sie lag ganz ruhig und erhaben im Wasser und sog die Karibik gierig in sich auf wie ein trockener Schwamm. »Das alte Mädchen hält sich verdammt lange«, sagte der Boston-Mann. »Es tut einem richtig weh, sie so leiden zu sehen. Immerhin war sie lange unsere Heimat gewesen, und ich finde, es ist ihr gutes Recht, wenn wir einen Anflug von Trauer zeigen.« Das war die längste Rede, die er je gehalten hatte. Doch die anderen grinsten nur, sie empfanden nichts dabei. »Ein morscher Holzkahn ist das, weiter nichts«, sagte einer. »Nein, sie hat eine Seele«, widersprach der Boston-Mann und schlenkerte mißmutig seinen goldenen Ohrring. »Und wo ist die Seele, he?«
Eine riesige Luftblase drang blubbernd nach oben und zerplatzte, als sie die Oberfläche erreicht hatte. »Das war ihre Seele«, sagte der Boston-Mann. »Da kannst du jeden Furz als Seele bezeichnen«, sagte der andere und lachte dröhnend. Nach diesen Worten ging die Karavelle still und leise unter, ohne Geräusche, ohne Protest. Wie ein krankes Tier neigte sie sich noch einmal leicht zur Seite. Danach verschwand sie in der Tiefe und ging mit leicht schaukelnden Bewegungen unter. Über ihr schloß sich ein Trichter, ein wirbelndes Loch begleitete sie auf ihrem letzten Weg. Der Boston-Mann sah sich nach dem anderen Kerl um. »Du bist das größte Arschloch, das ich kenne«, sagte er voller Verachtung und spuckte aus. Die Seewölfe wandten sich schweigend ab. Hasard wurde wieder einmal der Unterschied zwischen seiner Crew und den anderen deutlich. Sie waren ungehobelte Burschen, rüde Gesellen, bis auf zwei oder drei Mann, er merkte es immer wieder. »Wir segeln den anderen nach«, sagte er zu Ben. »Ich habe mir den Kurs gemerkt, so gut es bei dem Nebel ging. Etwas mehr Steuerbord, Pete, noch weiter!« Pete Ballie legte das Rad herum, die ›Isabella‹ lief jetzt schneller, seit sie den Schlepp los war. »Und was ist, wenn sie uns mit dem Höllenfeuer beharken?« fragte Ben Brighton. »Das glaube ich nicht, sie wollen nichts von uns. Aber ich möchte gern mit ihnen Verbindung aufnehmen. Ich möchte wissen, was dahintersteckt. Wenn sie uns treffen wollten, dann hätten sie uns getroffen, Ben, das ist ganz sicher. Es sollte anscheinend nur eine Warnung sein, aber mich kann das nicht sonderlich beeindrucken. Feuern sie auf uns. dann feuern wir mit der gleichen Waffe zurück, und ich glaube nicht, daß sie
ein Mittel dagegen haben.« »Was stand auf dem Pergament?« fragte Brighton. Um den Seewolf hatten sich mittlerweile ein paar Männer geschart. Alle waren neugierig geworden, aber er war nicht in der Lage, ihre Neugier zu befriedigen. »Ich weiß es selbst nicht«, sagte er, »sie hat sich darüber ausgeschwiegen, aber sie hat unheimliche Angst vor diesen Kerlen gehabt. Vermutlich enthält der Zettel eine Drohung, genau weiß ich es aber nicht.« Die ›Isabella‹ verschwand in einer dichten Nebelwand, in der man kaum die Hand vor Augen sah. Zwei Stunden lang segelten sie mit Backstagbrise weiter in der Richtung, in der das Schiff verschwunden war. Dann erst begann der zähe Nebel sich zu lichten, und die Sonne brach durch. Weit und breit war von dem Schiff nichts zu sehen. Auch als der Seewolf noch zwei Stunden dazugab, blieb es verschwunden. Es schien, als hätte die See es geschluckt - wie die Karavelle. Aber das war natürlich so gut wie unwahrscheinlich. Dann gab Hasard auf, er ärgerte sich über sich selbst, doch es war nicht zu ändern. Am späten Abend liefen sie die Schlangeninsel an, in der Thorfin Njal, der Wikinger, immer noch mit Feuereifer damit beschäftigt war, den Segler El Diabolos aufzuriggen. Als sie vor Anker lagen, ging der Seewolf nach unten in seine Kammer, wo die Rote Korsarin sich aufhielt. Er nahm sie in die Arme, sah ihr tief in die Augen und lächelte, als er ihren verstörten Blick bemerkte. »Nun sag mir endlich, was auf dem verdammten Pergament steht, sonst platze ich noch vor Neugier. Wenn ich es weiß, kann ich dir bestimmt helfen.« Sie warf sich schluchzend an seine Brust, löste sich dann von ihm und holte das Schriftstück hervor, das sie glattstrich. Dann reichte sie es Hasard, der die Schriftsäulen verständnislos ansah.
»Du weißt, daß ich es nicht lesen kann«, sagte er ärgerlich. »Aber diese Zeichen ähneln jenen, die ich auf dem Wrack fand.« »Es ist der gleiche Spruch«, sagte sie müde. Er heißt: Wer hier eingeht, des Leben ist für immer verwirkt.« »Und was heißt das im Klartext?« »Ich erkläre es dir später, es ist eine lange Geschichte.« »Dort steht noch etwas«, sagte er. »Es heißt: Nie wirst du entkommen. Wir werden dich an jedem Punkt der Welt finden.« »Und das ist so schlimm?« »Wenn du die Geschichte kennst, wirst du wissen, wie schlimm es ist«, sagte sie. »Und jetzt möchte ich nachdenken. Ich gehe zum Schlangentempel und muß überlegen.« Sie war nicht davon abzuhalten. Vielleicht war es auch besser, wenn sie erst einmal mit sich selbst ins reine gelangte, überlegte der Seewolf. Er ließ sie gehen, und er war sicher, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis er die Antwort auf seine vielen Fragen erhalten würde. Er sah ihr nach, wie sie allein zur Bucht ruderte, an Land ging und den Aufstieg in die Felsen begann. »Sie ist genauso geheimnisvoll wie dieses fremde Schiff«, sagte er laut, und die Seewölfe, die ihn umstanden, nickten zustimmend. »Trinken wir eine Flasche Rum auf den Schreck, Männer, ihr anderen seid ebenfalls eingeladen«, wandte er sich an SiriTongs Crew. »Aber zuerst werde ich meinen alten Freund Thorfin Njal begrüßen, sein Schiff ist ja fast fertig, und das ist ein weiterer Grund, um ein Fest zu feiern, oder seid ihr anderer Meinung?« »Deine Meinung ist auch unsere Meinung, Sir!« schrie Ferris Tucker. »Jedenfalls was das Feiern betrifft.« »In diesem Fall würde ich euch das auch geraten haben«,
sagte Hasard. Aber zu Thorfin brauchten sie nicht mehr hinüberzupullen, der erschien von ganz allein. Das Höllenriff von Fred McMason Capitan Roca, der Militärbefehlshaber von Havanna auf Cuba, kannte nur noch ein Ziel: die totale und endgültige Vernichtung der Seewölfe. Er war ein harter und zäher Mann, ein Kämpfer, der eins niemals tun würde: die Flagge zu streichen. Aber dann mußte er doch kapitulieren nicht vor dem Feind, sondern vor dem Höllenriff der Schlangeninsel ...