William March Die böse Saat Roman
Die kleine Rhoda Penmark ist ein großes Biest. Die ganze Nachbarschaft weiß, was sie ...
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William March Die böse Saat Roman
Die kleine Rhoda Penmark ist ein großes Biest. Die ganze Nachbarschaft weiß, was sie für ein Früchtchen ist. Aber die Eltern glauben, sie hätten das liebste Kind auf der Welt. Vielleicht müßte Rhoda mal die starke Hand des Vaters spüren, doch der ist ja dauernd auf Reisen, und so muß Mrs. Penmark die Erziehung allein übernehmen. Wie sehr erschrickt sie, als bei einem Schulausflug der Klassenprimus, Rhodas Freund, ertrinkt. Nicht auszudenken, wenn Rhoda das Opfer gewesen wäre. Immer scheint das arme Kind von Gefahren umgeben zu sein. So war sie beispielsweise auch dabei, als kürzlich erst eine Frau auf der Treppe zu Tode stürzte. Es gäbe noch mehr solcher Zufälle aufzuzählen, doch wozu? Rhoda ist ein liebes, braves und freundliches Kind, gewiß – nur schlägt sie der Oma nach. Doch das wußte Mrs. Penmark nicht, denn sie hatte ihre Mutter nie gekannt…
William March Die böse Saat Roman Titel der Originalausgabe: ›The Bad Seed‹ Aus dem Amerikanischen von Leni Sobez Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München © 1971 Wilhelm Heyne Verlag, München
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WILLIAM MARCH
DIE BÖSE SAAT Kriminalroman Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
1
Im Spätsommer wußte Mrs. Penmark, daß der Tag des Schulausflugs ihr letzter glücklicher Tag gewesen war. Aus dem Irrgarten, in den sie danach geriet, fand sie keinen Ausweg mehr. Die hochgeachteten Schwestern Fern machten diesen Ausflug mit Picknick immer am ersten Samstag im Juni, denn Miß Octavia, die älteste der drei Schwestern, war davon überzeugt, daß an diesem Tag immer schönes Wetter sein müsse. Ziel des Ausflugs war das Sommerhaus der Schwestern an der PelikanBucht, wo sie geboren und aufgewachsen waren. Seit sie aus wirtschaftlichen Gründen aus ihrem Stadthaus eine Privatschule für die Kinder ihrer Freunde machen mußten, hingen sie mit noch größerer Liebe an diesem Sommerhaus als je zuvor. »Wie herrlich waren diese Picknicks jedesmal!« schwärmte Miß Octavia den Kindern vor. »Alle unsere Freunde und Verwandten kamen und verbrachten einen wundervollen, harmonischen Tag unter den alten Eichen von Benedict. Diese Zeiten sind uns unvergeßlich!« Hier fiel dann stets Miß Burgess, die mittlere Schwester ein, welche die geschäftlichen Belange der Schule wahrnahm: »Damals, mit einem Haus voll Dienerschaft, war natürlich alles viel einfacher. Mutter fuhr immer ein paar Tage vorher mit einigen Hilfskräften nach Benedict, um alles vorzubereiten. Für die Küstenbewohner des Bezirks begann der Sommer erst richtig mit unserem Picknick.« »Benedict ist ein entzückendes Fleckchen«, steuerte Miß Claudia bei. »Auf unserem Besitz mündet der kleine Lost River -3-
in die Bucht.« Miß Claudia war die Kunsterzieherin der Schule und fügte daher automatisch hinzu: »Die Landschaft erinnert mich immer an die reizenden Flußbilder von Bombois. Später werdet ihr diesen wundervollen Künstler selbst kennenlernen. Er zählt zu den französischen Primitiven. Sein Grün ist einmalig und bezaubernd.« Am Tag des Picknicks lieferten die Eltern ihre Kinder persönlich ab; für acht Uhr war der Omnibus bestellt. Mrs. Christine Penmark, die sich unter keinen Umständen verspäten wollte, stellte daher ihren Wecker auf sechs Uhr und prägte sich zusätzlich noch ein, daß sie unter allen Umständen um diese Zeit aufwachen müsse, falls der Wecker nicht ablaufen sollte. Selbstverständlich klingelte er, und es war ein wunderbarer Morgen. Entschlossen strich sie ihr hellblondes Haar zurück, sprang aus dem Bett und lief ins Bad. Dort stand sie vor dem Spiegel. Ihre Augen waren klar, grau und heiter, ihre Haut schimmerte gesund und leicht sonnengebräunt. Sie hielt die Zahnbürste in der Hand und lauschte den Geräuschen von draußen: Irgendwo in der Ferne fuhr ein Auto an, in den Eichen entlang der Straße lärmten die Spatzen, in der Nähe begann ein Kind zu weinen und wurde schnell beruhigt. Sie badete rasch, zog sich an und ging in die Küche, um das Frühstück zu bereiten. Erst dann ging sie zum Zimmer ihrer Tochter, um sie aufzuwecken. Das Zimmer war leer und sauber aufgeräumt, das Bett gemacht, der Toilettentisch peinlich ordentlich. Auf einem Tisch neben dem Fenster lag ein halbfertiges Puzzle. Mrs. Penmark lächelte, denn es war eines der Lieblingsspielzeuge ihrer Tochter. Sie ging weiter und fand auch das Bad makellos aufgeräumt. Das Badetuch war zum Trocknen aufgehängt. Wie verdiene ich ein so wunderbares Kind, überlegte sie stolz. In dem Alter konnte ich noch keinen Handgriff selbst tun. »Rhoda! Rhoda!« rief sie und ging in die Halle mit dem eingelegten Parkett hinaus. »Wo bist du denn, Liebling?« -4-
»Hier bin ich, im Wohnzimmer«, antwortete Rhoda langsam und mit so vorsichtiger Stimme, als seien gesprochene Worte gefährliche Dinge. Wenn andere Leute von ihrer Tochter sprachen, gebrauchten sie Adjektive wie ›geschickt‹, ›sittsam‹ oder ›altmodisch‹. Mrs. Penmark stand unter der Tür und pflichtete diesen Leuten lächelnd bei. Woher hatte das Kind nur diese Ruhe, diese Ordnungsliebe, diese Selbstgenügsamkeit? »Konntest du wirklich deine Haare ganz allein kämmen?« fragte sie. Das Kind drehte sich ein wenig um, damit die Mutter ihr Haar begutachten konnte. Mrs. Penmark war stolz darauf, daß sie nichts daran auszusetzen fand und drückte einen Kuß auf die Stirn ihrer Tochter. »Das Frühstück ist gleich fertig«, sagte sie. »Iß tüchtig, denn bei einem Ausflug weiß man nie, wann es Mittagessen gibt.« Rhoda setzte sich an den Tisch. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck feierlicher Harmlosigkeit. Dann lächelte sie, und in ihrer linken Wange erschien ein flaches Grübchen. Ihr Lächeln war merkwürdig und ein wenig zögernd und gab die kleine Spalte zwischen ihren beiden Vorderzähnen frei. Erst am Tag vorher hatte Mrs. Monica Breedlove, die im Stockwerk über ihnen wohnte, zu Mrs. Penmark gesagt: »Diese Spalte ist einfach süß. Wissen Sie, Rhoda ist ein geradezu hinreißend altmodisches Mädchen. Im Haus meiner Großmutter gab es kolorierte Drucke, und ich erinnere mich noch heute eines kleinen Mädchens mit Schnürstiefeln, Ringelstrümpfen, offenem Haar und Pelzmuff, und dieses kleine Mädchen fällt mir immer wieder ein, wenn ich Rhoda sehe.« Mrs. Breedlove war der Meinung, daß alles, was man sagte oder tat, unbedingt mit anderen Dingen zusammenhing und in einen großen Rahmen paßte, selbst wenn die Zusammenhänge nicht ohne weiteres klar zu erkennen waren. Sie kam zu dem -5-
Schluß, daß sie die Bewunderung für diese Drucke auf Rhoda übertragen hatte, und diese Tatsache stand für sie fest. Doch dann erinnerte sie sich daran, daß ihr Bruder Emory, mit dem sie die Wohnung teilte, das Kind ebenso bewunderte wie sie. Aber Emorys Zuneigung war sicher nicht auf eine Vorliebe für alte Lithographien zurückzuführen, denn er war neun Jahre jünger als sie und hatte die Drucke wahrscheinlich nie gesehen. Großmutters Besitz wurde nämlich nach ihrem Tod – sie starb zwei Jahre vor Emorys Geburt – unter den Erben aufgeteilt. Es gab also keinen Grund… Sie wartete, ob ihr Assoziationssystem so zuverlässig arbeitete, wie sie angenommen hatte, und ihre Brauen zuckten etwas verwirrt. Am Tage vorher hatte sie diese Gedanken ausgesprochen, als sie mit Mrs. Penmark und deren Tochter gemütlich von den Schulschlußfeiern nach Hause ging. Es waren die üblichen Gedichte aufgesagt worden, die kleinen Rezitatoren waren wie üblich steckengeblieben, und auch die üblichen Tränen waren geflossen, die von den besorgten Eltern mit weißen Taschentüchern getrocknet wurden. Miß Burgess Fern, die mittlere der Schwestern, hatte die erwartete Ansprache gehalten, die das gewohnte Thema – Ehre und fair play – zum Gegenstand hatte. Dann folgte ein Harfensolo von Miß Claudia Fern, die einmal in Rom studiert hatte. Nachdem auch noch der Kinderchor die Schulhymne gesungen hatte, wurden die Preise für die besten Leistungen verteilt. Ganz zum Schluß kam der in den Augen der Schüler wichtigste Preis an die Reihe, die goldene Medaille für jenes Schulkind, das im abgelaufenen Jahr die größten Fortschritte gemacht hatte. Ausschlaggebend war dabei die sprachliche Ausdrucksfähigkeit im Aufsatz. Miß Octavia sagte oft: »Die Klarheit, Eleganz und Feinheit des schriftlichen Ausdrucks zeigt den wahren Charakter und den Hintergrund einer Persönlichkeit.« Diese Medaille hatte Rhoda von Anfang an erringen wollen, -6-
und sie war fest überzeugt, sie auch zu bekommen. Sie hatte fleißig geübt, mit entschlossener Hand den Füller umklammert und ihre Zunge zwischen die Zähne geschoben. Aber dann ging die Medaille nicht an sie, sondern an einen dünnen, schwächlichen Jungen namens Claude Daigle, der im gleichen Alter und in derselben Klasse war wie sie. Als die Darbietungen vorüber waren und die Schüler mit ihren Eltern unter den Eichen über den Rasen schlenderten, kam Miß Claudia heran und legte Rhoda eine Hand auf die Schulter. »Du darfst nicht betrübt sein, daß du die Medaille nicht gewonnen hast«, sagte sie. »Ich weiß, wie wichtig solche Dinge in deinem Alter sind – aber, weißt du, in diesem Jahr war es ein scharfes Rennen.« Nun wandte sie sich an Mrs. Breedlove. »Rhoda war unendlich fleißig, und sie übte unermüdlich, um ihren Stil zu verbessern. Wir alle wissen, wie sehr sie sich diese Medaille gewünscht hat, und ich war eigentlich sicher, daß Rhoda sie auch gewinnen würde. Aber dann haben unsere Preisrichter, die wirklich unparteiisch sind und nicht einmal die Namen jener Kinder kennen, deren Arbeiten sie prüfen, dem kleinen Daigle den Preis zuerkannt, obwohl er nicht Rhodas saubere Handschrift hat. Sie waren eben der Meinung, Claude habe die größten Fortschritte gemacht, und für die Fortschritte wird die Medaille ja verliehen.« Christine wußte genau, wie enttäuscht Rhoda gewesen war und versuchte nun, sie aufzuheitern. »Es wird sicher ein wunderschöner Tag werden«, meinte sie fröhlich. »Wenn du selbst einmal ein kleines Mädchen hast, das zu einem Schulpicknick geht, wirst du dich mit Vergnügen an dein eigenes erinnern.« Rhoda nippte an ihrem Orangensaft und dachte über die Worte ihrer Mutter nach. »Ich verstehe nicht, weshalb Claude Daigle die Medaille bekam«, antwortete sie unbewegt, als wiederhole sie etwas, das sie nicht berühre. »Sie stand mir zu. Jeder wußte, daß ich sie hätte bekommen müssen.« -7-
Christine strich mit zärtlichen Fingern über die Wange ihres Kindes. »Solche Dinge kommen immer wieder vor. Und wenn sie geschehen, hat man sie zu akzeptieren. Ich würde an deiner Stelle die ganze Sache vergessen.« Sie zog ihre Tochter an sich, und diese überließ sich der Zärtlichkeit ihrer Mutter mit der Geduld eines Haustieres, das niemals völlig gezähmt werden kann; dann zog sie sich von ihr zurück und strich ihre Stirnfransen glatt. Vermutlich wußte sie aber, daß dies eine verletzende Geste war und zeigte ihr rasches, versöhnlich stimmendes Lächeln. Christine lachte leise. »Ja, ich weiß«, sagte sie dazu, »wie wenig du es magst, wenn man dich berührt. Entschuldige bitte.« »Die Medaille hätte mir gehört«, wiederholte Rhoda dickköpfig. Ihre großen hellbraunen Augen waren unnachgiebig. »Es war meine Medaille.« Christine seufzte und ging in das Wohnzimmer. Auf dem Fensterbrett kniend hakte sie die schweren, altmodischen Läden aus und legte sie zurück, damit die weiche Morgensonne hereinfluten konnte. Es war jetzt fast sieben Uhr, und die Straße wachte allmählich auf. Der alte Mr. Middleton kam auf seine Vorderveranda heraus, gähnte, kratzte sich am Bauch und ging schwerfällig in die Knie, um die Morgenzeitung aufzuheben. Die Köchinnen der Familien Truby und Kunkel kamen aus entgegengesetzten Richtungen, nickten und grüßten und verschwanden in ihre Häuser. Ein halbwüchsiges Mädchen mit dünnen, formlosen Beinen rannte mit ungeschickten, ungraziösen Sprüngen zur Bushaltestelle. Mrs. Penmark lächelte über diese vertrauten Dinge und begann das Wohnzimmer aufzuräumen. Als der Beruf ihres Mannes sie in diese Stadt verschlagen hatte, wünschten sie sich ein eigenes Haus, denn sie hatten bisher nur immer in Miete gewohnt. Da sie nicht gleich etwas fanden, das ihren Wünschen entsprach, nahmen sie wieder eine Wohnung und beschlossen, -8-
sich später selbst ein Häuschen zu bauen. Ihre Wohnung lag in einem roten Ziegelhaus von Viktorianischer Eleganz; die Türmchen, Erker und eindrucksvollen Fratzen imitierter Wasserspeier ergänzten sich zu einer imposanten architektonischen Verrücktheit. Das Haus stand auf einem kleinen Hügel inmitten von Büschen und von einem wohlgepflegten Rasen eingerahmt. Als es damals gebaut wurde, kaufte man das hinten anschließende Grundstück für jene Kinder hinzu, die eines Tages einmal darin wohnen würden. Dort war inzwischen ein von einer hohen Ziegelmauer eingefaßter Park entstanden. Es war der Spielplatz, der die Penmarks besonders angezogen hatte, nicht die allzu große und unpraktische Wohnung. Die Türglocke schlug an, und Christine ging, um zu öffnen. Es war Mrs. Monica Breedlove vom oberen Stock. »Ich wollte mich nur überzeugen, daß man an einem so wichtigen Tag hier nicht verschlafen hat«, rief sie fröhlich. »Ich dachte, mein Bruder Emory würde auch mitkommen, aber er schläft noch. Nichts auf der Welt kann ihn vor acht Uhr aus dem Bett holen, aber er machte wenigstens einmal ein Auge auf und bot mir an, wir könnten seinen Wagen benutzen, der vor dem Haus steht. Ich werde also, wenn Sie wollen, Sie und Rhoda zur Schule fahren. Sie können sich die Mühe sparen, Ihren eigenen Wagen aus der Garage zu holen. Und für dich«, wandte sie sich an Rhoda, »habe ich etwas, mein Kind. Das eine Geschenk ist von Emory. Es ist eine Sonnenbrille mit einer Verzierung aus Rheinkieseln, damit die Sonne dir nicht in die hübschen braunen Augen scheint.« Rasch lief das Kind auf Mrs. Breedlove zu, und Christine nannte den Gesichtsausdruck ›Rhodas Erwerbsblick‹. Gehorsam blieb sie stehen, während ihr Mrs. Breedlove die Brille aufsetzte und wandte sich dann zum Spiegel um. Monica trat einen Schritt zurück und klatschte begeistert in die Hände. »Nun schaut euch doch einmal diese bildhübsche Hollywood-Schauspielerin an! -9-
Ist das wirklich die kleine Rhoda Penmark, die mit ihren wundervollen Eltern im Erdgeschoß meines Hauses wohnt? Ist es möglich, daß dieses entzückende, kluge Persönchen die kleine Rhoda Penmark ist, die von allen so geliebt und bestaunt wird?« Sie machte eine kleine, eindrucksvolle Kunstpause und fuhr in einer etwas gemäßigteren Tonart fort: »Und nun das zweite Geschenk. Es ist von mir.« Sie nahm aus ihrer Tasche ein goldenes Herz, das an einer hübsch gearbeiteten Kette hing. Dazu erklärte sie, daß sie selbst dieses Herz bekommen habe, als sie acht Jahre alt gewesen war; es habe die ganze lange Zeit in ihrem Schmuckkästchen nur auf diesen Tag gewartet. Sie hatte es zum Geburtstag bekommen; es war auf der einen Seite mit einem Granat, ihrem Monatsstein, besetzt. Den wollte sie aber gegen Rhodas Monatsstein, einen Türkis, austauschen und auch den Verschluß reparieren lassen, da er nicht mehr richtig zu funktionieren schien. Kein Wunder, denn sie hatte das Schmuckstück schließlich seit mehr als fünfzig Jahren. »Kann ich beide Steine bekommen?« fragte Rhoda. »Auch den kleinen Granat?« Christine lächelte und schüttelte abwehrend den Kopf. »Rhoda! Wie kannst du nur so etwas sagen!« Aber Mrs. Breedlove lachte nur erfreut. »Aber natürlich, Kindchen! Du bekommst selbstverständlich beide Steine, Liebling!« Sie setzte sich auf einen Stuhl. »Oh, wie wundervoll ist es doch, wenn ein kleines Mädchen so absolut natürlich ist. Als ich diesen Anhänger von meinem Onkel Thomas Lightfoot bekam, stand ich steif und stumm im Salon, klammerte mich an mein Faltenröckchen und war die personifizierte Angst und Verlegenheit.« Das Kind ging zu ihr, legte ihr die Arme um den Hals und küßte sie mit einer geradezu pedantischen Intensität. Rhoda -10-
lachte leise und rieb ihre Wange an jener der entzückten Frau. »Tante Monica«, sagte sie mit leiser, fast scheuer Stimme, als könne sie soviel Liebe und Glück gar nicht ertragen. »Oh, Tante Monica!« Ein wenig amüsiert, ein wenig besorgt wandte sich Christine ab und ging in das Speisezimmer. Welch eine Schauspielerin Rhoda doch ist, dachte sie. Wie genau weiß sie, wie sie die Menschen behandeln muß, wenn sie einen Vorteil wittert. Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, begutachtete Mrs. Breedlove gerade das Kleid des Kindes. »Du siehst aus, als gingest du zu einem eleganten Tee und nicht zu einem Picknick am Strand«, meinte sie fröhlich. »Ich weiß ja, daß ich hoffnungslos rückständig bin, aber ich dachte, zu einem Picknick zieht man Spielanzüge und Coveralls an. Liebes, in diesem weißen, rotgepunkteten Kleidchen siehst du wie eine Prinzessin aus. Hast du denn keine Angst, du könntest es schmutzig machen? Hast du denn keine Angst um deine hübschen neuen Schühchen?« »Sie wird weder das Kleid schmutzig machen noch die Schuhe verderben«, erklärte Christine und wartete, ehe sie fortfuhr, einen Augenblick, als debattiere sie mit sich selbst. »Rhoda macht sich nie schmutzig. Wie sie das schafft, kann ich mir allerdings nicht denken. Wissen Sie, ich hätte sie gern so angezogen, wie die anderen Kinder sich kleiden, aber sie weiß sehr genau, was sie will. Ich dachte mir deshalb, wenn sie eines ihrer besten Kleidchen anziehen will, so soll sie es tun.« »Coveralls mag ich nicht«, sagte Rhoda ernst und ein wenig zögernd. »Sie sind nicht…« Sie wartete, als wolle sie den Satz unvollendet lassen, und Mrs. Breedlove fiel lachend und bereitwillig ein: »Sie sind nicht sehr damenhaft, wolltest du doch sicher sagen, nicht wahr, mein Liebes? Oh, mein süßes, kleines, altmodisches Herzchen! Du bist wirklich entzückend!« -11-
Als sie dann mit allen Vorbereitungen fertig waren, ging Rhoda in ihr Schlafzimmer, um das Medaillon wegzuräumen. Auf dem harten Parkettboden machten ihre Absätze scharfe Stakkatogeräusche. »Sag mal, Liebes, was hast du mit deinen Schuhen gemacht?« erkundigte sich Mrs. Breedlove. »Das klingt ja, als wärest du Fred Astaire. Ist das etwas Neues, von dem ich noch nichts gehört habe?« Rhoda kehrte um, legte eine Hand auf Monicas Schulter, um sich festzuhalten, und zeigte ihre Schuhe her. Sie waren schwerer als durchschnittliche Kinderschuhe und hatten dicke Lederabsätze, die mit halbmondförmigen Metallbeschlägen verstärkt waren. »Ich trete nämlich meine Absätze ganz schrecklich ab«, erklärte sie dazu, »und da ließ mir Mutter auf dieses Paar solche Eisenbeschläge machen, damit sie länger halten. War das nicht eine gute Idee?« »Es war Rhodas Vorschlag, nicht der meine«, ergänzte Christine. »Ich fürchte, so gute Ideen habe ich nie. Sie wissen doch, wie schrecklich unpraktisch ich bin. Das ist Rhoda eingefallen.« »Sie sind, glaube ich, sehr schön«, meinte Rhoda düster. »Man spart Geld damit.« »Oh, bist du ein kluges, süßes, sparsames Herzchen«, schwärmte Monica. »Ein richtiges praktisches Hausmütterchen.« Sie umarmte das Kind voll Begeisterung. »Und was werden wir einmal mit ihr anfangen, Christine? Sagen Sie mir doch, was man mit einem so bemerkenswert klugen Kind tun kann!« Als sie das Haus verließen, blieben sie auf den Marmorstufen stehen, denn Leroy Jessup, der Hausmeister, spritzte den Fußweg, der zur Straße führte. Er tat seine Arbeit mit einer kummervollen Beharrlichkeit, die den Himmel zum Zeugen für die Ungerechtigkeit anzurufen schien, die man ihm mit so trivialen Aufgaben antat. Seine Lippen bewegten sich im Takt -12-
seiner Hände, um seine verdrießlichen Gedanken zu formen, die gleichzeitig sein Vergnügen waren, denn sein Geist beschäftigte sich unablässig mit den Ungerechtigkeiten, die man ihm aufzwang, die er schweigend ertragen mußte, denn er gehörte zu den Unterprivilegierten einer ungerechten Welt. Unglücklicher Sohn eines unglücklichen kleinen Farmers, der seine Pacht mit einem Teil seiner Ernte bezahlte, pathetisches Opfer eines Systems der Unterdrückung, die, wie jeder freimütig zugab, schon allzulange gedauert hatte. Natürlich wußte er, daß die beiden Frauen mit dem kleinen Mädchen auf den Stufen standen, aber er gab vor, sie nicht zu sehen, und ließ den Schlauch dort, wo er war, so daß sie nicht vorbeigehen konnten. Schließlich leitete er den Wasserstrom so weit dem Haus entgegen, daß die Gruppe sofort wieder die Verandastufen hinaufsteigen mußte. Das gefiel ihm so gut, daß er die Hand auf den Mund legte, um sein hämisches Grinsen zu verdecken. »Leroy, wollen Sie bitte diesen Schlauch wegnehmen?« sagte Mrs. Breedlove geduldig. »Wir müssen zum Wagen meines Bruders. Es eilt uns.« Er gab vor, nichts gehört zu haben, denn er wollte diese Szene solange wie möglich auskosten. Aber nun verlor Monica doch die Geduld. »Leroy, sagen Sie, sind Sie wahnsinnig geworden?« Er sah sie unverschämt an, als könne er sich nicht entscheiden, was er tun solle; doch dann verlegte er den Schlauch, so daß das Wasser auf den Rasen lief. »Ich muß doch arbeiten«, murmelte er. »Sie scheinen das nicht zu wissen. Ich kann mir’s nicht leisten, mit dem Bus zu fahren und zum Picknick zu gehen. Hab’ zuviel Arbeit.« Er stemmte die Hände in die Hüften und dachte darüber nach, wie schamlos man ihn ausnützte. Er wohnte ja schließlich nicht in einem eleganten Haus mit riesigen Wohnungen, und er hatte auch keine Dienerschaft, die ihm aufwartete. Auch ein -13-
Automobil besaß er nicht, sondern nur ein Wrack von einem Vehikel, das nicht einmal der Schrotthändler mehr geschenkt haben wollte. Schöne Kleider besaß er auch nicht, und als Kind schickte man ihn nicht in eine sündteure Privatschule, in der man Picknicks veranstaltete und wo es auch sonst allerhand Schnickschnack gab. Nein, Sir, er hatte bei jedem Wetter zu Fuß und meistens dazu noch barfuß zur Schule marschieren müssen. Aber trotzdem war er ein gutes Stück heller als diese Dummköpfe, denen diese ungerechte Welt alle Vorteile bot; er konnte, wann immer er wollte, aus diesen Dummköpfen Geld herausholen… Er tat sich selbst unendlich leid. Er war jetzt ein armer Teufel und war schon damals, als er in Rhodas Alter gestanden hatte, ein armer Teufel gewesen. Er war davon überzeugt, daß sich die Welt gegen ihn verbündet und ihn um das betrog, was ihm zustand. Er sah den Frauen und dem kleinen Mädchen nach, die auf Zehenspitzen über den überschwemmten Fußweg gingen. Als sie dann den Gehsteig erreicht hatten, bewegte er den Schlauch so abrupt, daß das Wasser über die Füße der Leute spülte, die er so abgrundtief verachtete. Mrs. Breedloves Hand, die auf der Wagentür lag, zitterte heftig, und eine Blutwelle schoß ihr ins Gesicht. Sie zählte ganz ruhig bis zehn, um erst dann mit beherrschter Stimme Leroys emotionelle Verfassung zu analysieren: früher hatte sie geglaubt, er sei in der Gefühlswelt eines Kindes stehengeblieben, werde von unvernünftiger Wut beherrscht und sei von der Konstitution her ein wenig Psychopath; jetzt, nach dieser eben erlebten Demonstration überlege sie, ob ihre Diagnose nicht zu mild gewesen sei. Jetzt sei sie von seiner schizophrenen Veranlagung überzeugt, die deutlich paranoide Züge aufweise. Und allmählich habe sie seine Unhöflichkeit und Verdrießlichkeit satt. Die anderen Mieter des Hauses seien einer Meinung mit ihr. Er wisse es zwar nicht, aber es sei eindeutig ihr zu verdanken, daß er seine Stellung noch habe, denn die -14-
anderen Mieter hatten ebenso wie ihr Bruder Emory seine Entlassung verlangt. Sie habe immer sein rüdes Benehmen damit entschuldigt, daß er ja nichts für seine Grobheit könne, doch jetzt sei das Maß endgültig voll. Christine legte eine beruhigende Hand auf Mrs. Breedloves Ärmel. »Er wollte uns doch nicht anspritzen«, sagte sie. »Es war sicher nur Zufall. Davon bin ich überzeugt.« »Es war Absicht«, erklärte Rhoda bestimmt. »Ich kenne Leroy gut.« »Nein, liebe Christine, es war kein Zufall«, unterstrich sie Rhodas Bemerkung. »Ganz bestimmt nicht.« Aber ihr Zorn ebbte schon wieder ab. »Es war Absicht und die boshafte Tat eines neurotischen Kindes.« »Es war Absicht«, wiederholte Rhoda mit kalter, nachdenklicher Stimme, und sie sah Leroy mit ihren runden, berechnenden Augen an, als wolle sie in seinen Geist eindringen. Dann wandte sie sich direkt an den Mann: »Das haben Sie sich ausgedacht, als wir auf den Stufen standen. Ich habe Sie angesehen, als Sie beschlossen, uns anzuspritzen.« Leroy erkannte nun, daß er diesmal zu weit gegangen war, daß er sich von seinen Rachegelüsten und dem Gefühl, benachteiligt zu werden, zu einer Tat hatte hinreißen lassen, die sein Verstand nicht ganz gutgeheißen hatte. Er wurde sehr demütig, entschuldigte sich, kniete auf dem nassen Pflaster nieder, nahm sein Taschentuch heraus und wischte zum Zeichen der Unterwürfigkeit und seiner Reue die Schuhe von Mrs. Breedlove und ihrer Gäste trocken. Verlegen zog sich Mrs. Penmark zurück. »Oh, bitte! Nein, bitte!« wehrte sie ab. Monica öffnete die Wagentür. Jetzt war ihr Ärger ganz verflogen und sie schämte sich ihrer vorigen Unbeherrschtheit. »Na, schön«, seufzte sie. »Aber Sie dürften sich wirklich allmählich darüber klar sein, daß meine Geduld Grenzen hat.« -15-
Leroy knüllte das beschmutzte Taschentuch zusammen und warf es auf die Straße. Allmählich verstärkte sich in ihm wieder das Gefühl, die Situation zu beherrschen und jeden Vorfall nach seinem Belieben drehen zu können. Diese hübsche Mrs. Penmark, diese gedankenlose Blondine, war ja viel zu dumm, als daß sie begriffen hätte, weshalb er sich an ihr rächen mußte. Sie war eine von diesen weichen, leicht umzustimmenden Weibern, denen jeder Mensch leid tat. Sie ließ sich von ihrer Freundlichkeit auffressen. Bei der konnte man jeden schmutzigen Trick ausspielen, ohne daß man Angst zu haben brauchte, sie würde zurückschlagen oder wenigstens vor Haß sprühen; nein, sie fühlte sich eher noch schuldig und war überzeugt, alles sei nur ihr Fehler. Er spuckte auf den Rasen und war wieder ebenso selbstsicher wie vorher. Und diese alte Hexe Breedlove, die immer so große Reden führte, war auch im Unrecht, wenn auch aus anderen Gründen. Sie glaubte, sie sei so überaus klug, wisse alles und kenne jeden Trick, aber auch sie fühlte sich schuldbewußt, weil sie so eingebildet war. Wie konnten gewöhnliche Leute ihr auch das Wasser reichen oder so klug und vornehm sein wie sie? Sie sollte ruhig ihre Gewissensbisse haben, denn dann schickte sie ihr Dienstmädchen mit einem Zehner zu ihm hinunter, um ihn für die Beleidigung, die sie ihm zugefügt hatte, zu entschädigen. Das war dann schon wieder etwas! Er nahm erneut den Schlauch auf. Der Sieg gehörte auch diesmal wieder ihm, ebenso wie früher immer. Bei solchen Dummköpfen brauchte man nur abzuwarten; abwarten, mehr war nicht nötig. Aber dann hatte diese Rhoda gesagt, er habe es absichtlich getan. Auf dem Gesicht des Kindes war kein Ausdruck von Bosheit, nicht einmal der Mißbilligung zu erkennen gewesen, nur eine unbeirrbare Abschätzung seines Charakters, die ihn verblüfft hatte. In diesem Moment hatte er verstanden, daß dieses Mädchen ihn begriffen hatte. Verwirrt hatte er sich abgewandt, -16-
um nicht das Wissen in ihren Augen zu lesen, daß seine Waffen bei ihr versagen mußten. Als deshalb das Auto mit Mrs. Breedloves beringten Händen am Steuer auf die Straße hinausfuhr, murmelte er leise vor sich hin: »Dieses ekelhafte kleine Luder! An der kann man sich nicht vorbeischwindeln. Die würde einem kaltblütig ein Messer zwischen die Rippen stoßen und noch zusehen, wie das Blut herausspritzt!« Er meinte damit nicht Mrs. Breedlove, sondern Rhoda Penmark. »Manchmal«, erzählte Rhoda den beiden Frauen, »wenn Leroy recht schlechter Laune ist, dann behauptet er, daß er den Schlüssel zum Parktor verlegt habe. Er sperrt dann einfach nicht auf, und wir können nicht spielen. Er will nur, daß wir betteln, er solle aufsperren. Ich glaube, Leroy ist ein sehr gemeiner Mensch.« Mrs. Breedloves Laune besserte sich zusehends. »Oh, Rhodas Akzent ist einfach bezaubernd!« schwärmte sie und zupfte liebevoll am Ohrläppchen des Mädchens. »Er ist faszinierend, mein Kind. Schade, daß er sich nicht lernen läßt.« Christine lachte leise. »Mein Mittelwesterndialekt und Kenneths Neuenglandakzent ließen dem armen Kind ja gar keine andere Wahl.« Leroy schraubte den Schlauch ab und rollte ihn auf, um ihn im Keller zu verstauen. Niemand kann Rhoda etwas in die Schuhe schieben, dachte er dabei, mir aber auch nicht. Ich glaube, Rhoda und ich – wir sind einander sehr ähnlich. Daß er damit nicht recht hatte, werden wir noch feststellen, denn Rhoda war fähig, das in die Tat umzusetzen, was seine Phantasie sich nur auszudenken vermochte.
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2
Mrs. Penmark hatte ihre Tochter im vergangenen August in der Fernschule angemeldet. Miß Burgess nahm die Anmeldung entgegen. »Sie dürfen nicht glauben«, warnte sie vorsichtig, »daß unsere Anstalt eine sogenannte progressive Schule ist. Wir lehren die Feinheiten, auch ein wenig die Eleganz des anspruchsvolleren Lebens, aber wir vermitteln unseren Schülern auch eine gute praktische Wissensgrundlage. Wir lehren sie eine recht ordentliche Rechtschreibung und ein fließendes Lesen, nach Möglichkeit auch mit einigem Ausdruck. Die Kinder lernen Rechnen, nicht in der Sandkiste oder mit Muscheln und Blumenblättern, sondern nach Rechenbüchern und an der Schultafel.« »Oh, das weiß ich«, antwortete Christine. »Mein Mann und ich unterhielten uns ausführlich mit einer Wohnungsnachbarin, einer Mrs. Breedlove, und aus dem, was wir von ihr hörten, konnten wir schließen, daß Ihre Schule für ein Kind vom Temperament unserer Rhoda ideal sein müßte.« In diesem Augenblick kam Miß Claudia dazu, und Mrs. Penmark fuhr ein wenig unsicher fort: »Sie kennen doch sicher Mrs. Breedlove?« Die beiden Schwestern sahen einander kurz an, als seien sie über eine solche Frage erstaunt. »Monica Breedlove?« fragte Miß Burgess. »Ja, natürlich. Monica kennt doch jeder in der Stadt. Sie ist eine der aktivsten Bürgerinnen. Vor einigen Jahren gewann sie die Medaille der Bürgervereinigung für ihre besonderen Verdienste.« Auch Miß Octavia kam dazu und setzte sich an ihren Schreibtisch. »Ich fürchte«, meinte sie lächelnd, »der Name Penmark ist mir unbekannt. Sind Sie schon lange hier?« -18-
»Nein, mein Mann wurde erst vor einer Woche von Baltimore zur Callendar Steamship hierher versetzt. Wir kennen hier kaum einen Menschen.« Miß Fern seufzte, als stehe ihr eine unangenehme Aufgabe bevor. Christine schien es zu ahnen. »Die Familie meines Mannes stammt aus Neuengland«, fuhr sie fort. »Dort ist, wie mir gesagt wurde, der Name Penmark besser bekannt.« »Wissen Sie, unsere Schule ist nicht gerade billig«, erklärte Miß Burgess. »Unser Unterricht hat ein hohes Niveau, und das ist darauf zurückzuführen, daß wir unsere Schüler sehr genau aussuchen. Wir weisen im allgemeinen weit mehr ab als wir annehmen.« »Bei uns gibt es keinen falschen Stolz und keinen Snobismus«, erwähnte Miß Octavia mit einigem Nachdruck. »Wir befassen uns gründlich mit den Problemen der Kinder und kennen keine Vorurteile. Wir glauben aber, es liegt absolut nicht im Interesse unserer Schüler, wenn wir die Wichtigkeit ihrer Abkunft leugnen und das herunterspielen, was ihre Vorfahren erreicht und geschaffen haben, ob es sich nun um Ruhm oder Vermögen handelt. Mit anderen Worten folgen wir dem demokratischen Ideal, sind dazu aber nur dann in der Lage, wenn alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe den gleichen Gesellschaftsschichten entstammen, in diesem Fall also den oberen Schichten.« Mrs. Penmark dachte kurz über diese bemerkenswerten Worte nach. »Ich glaube«, erwiderte sie dann, »Sie werden unsere Familie akzeptieren können.« Sie erzählte noch, daß sie im Mittelwesten geboren sei, an der Universität von Minnesota studiert und mit recht gutem Erfolg graduiert habe. Dann sah sie ein wenig verlegen auf ihre Hände hinunter. »Mein Vater, den ich sehr geliebt habe, kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Er hieß Richard Bravo und hatte sich als Kolumnist und Kriegsberichterstatter einen recht guten Namen gemacht.« »Oh, natürlich!« rief Miß Octavia. »Ich kannte seine Arbeiten. -19-
Er hatte ungemein viel Vorstellungskraft und einen blendenden Prosastil.« Die Schwestern nickten dazu. »Er war ein Mann, der in die Tiefe ging und sehr viel Verständnis bewies. Sein Tod war ein großer Verlust.« »In der Bibliothek steht ein Buch von ihm, eine Sammlung seiner besten Artikel«, erklärte Miß Burgess eifrig, aber Miß Octavia wehrte ab, denn sie hielt die Angelegenheit für abgeschlossen, da Mrs. Penmark die Eignung ihrer Tochter hinreichend bewiesen hatte. »Sie wissen vielleicht«, sagte sie statt dessen, »daß wir nur eine begrenzte Schülerzahl aufnehmen können. An sich sind wir auch schon völlig ausgebucht; aber für die Enkelin von Richard Bravo werden wir schon noch ein Plätzchen finden.« Sie stand auf, neigte leicht den Kopf und verließ den Raum. Miß Claudia hatte das gefunden, was sie in den Akten gesucht hatte. »Monica Breedlove ist also Ihre Wohnungsnachbarin? Ich erinnere mich noch sehr gut, daß sie auf meinem allerersten Ball auf die Schleppe meines Kleides trat und sie abriß. Oh, war ich betrübt! Ich ging nach Hause und wagte nicht, noch mal zurückzukommen.« »Monica war auch die erste Frau hier, die sich die Haare kurz schneiden ließ«, steuerte Miß Burgess bei, »und die erste angesehene Frau, die in aller Öffentlichkeit rauchte.« Miß Claudia lächelte. »Sagen Sie ihr, daß ich damals glaubte, sie sei mir nur deshalb auf die Schleppe getreten, weil Colonel Glass an jenem Abend dreimal mit mir, aber noch nicht einmal mit ihr getanzt hatte.« Christine nickte und versprach es, doch vergaß sie es, und es fiel ihr erst am Morgen des Picknicks ein, als sie Miß Claudia einen Sack mit Papier über den Rasen ziehen sah. Sie erzählte also Mrs. Breedlove die Geschichte, und diese lachte herzlich darüber. Sie erinnerte sich noch ganz genau an jenen Kostümball der -20-
Pegasusgesellschaft. Als Claudia lachend am Arm von Colonel Glass an ihr vorbeitanzte, hatte sie nur ihre Schuhspitze auf Claudias Schleppe gesetzt, worauf diese natürlich abriß. Die drei Fern-Schwestern hatten damals einen gemeinsamen Kleiderschrank, und alles, was sie hatten, tauschten sie untereinander aus, um immer wieder eine neue Kombination vorweisen zu können. Natürlich waren alle Kleider nicht besonders solide genäht, sondern meistens nur geheftet, um sie am nächsten Tag wieder aufzutrennen und in anderer Zusammenstellung zu verarbeiten. Mrs. Breedlove gab auch unumwunden zu, sie sei absichtlich auf die Schleppe getreten, aber nicht wegen dieses pompösen und geschraubten Colonel Glass, sondern weil sich Claudia so an ihren Bruder Emory heranmachte, und sie wollte diese Kuh Claudia Fern unter gar keinen Umständen in der Familie haben! Die zwei Busse für den Ausflug standen schon bereit. Einige Kinder hatten ihre Plätze bereits eingenommen. Mrs. Breedlove rief nach Rhoda, die sofort gehorchte. »Wo ist denn dieser Daigle-Junge, der die Medaille bekommen hat«? fragte sie. »Ist er schon da? Ich habe ihn noch nicht gesehen.« »Dort drüben steht er«, antwortete Rhoda, »am Tor.« Der Junge war sehr blaß und mager, hatte ein langes, keilförmiges Gesicht und eine volle, rosa Unterlippe, die ununterbrochen gefühlvoll zuckte. Seine Mutter hatte vorquellende Augen und stand selbstbewußt neben ihm, zupfte an ihm herum, rückte seine Mütze zurecht, glättete seine Krawatte oder betupfte sein Gesicht mit ihrem Taschentuch. Die Medaille war an seiner Hemdtasche befestigt, und seine Mutter, die zu fühlen schien, daß über die Medaille gesprochen wurde, legte einen schützenden Arm um seine Schulter und fingerte an dem Preis herum, als habe sie ihn gewonnen und nicht ihr Sohn. »Meinst du nicht auch, es wäre eine nette Geste, wenn du ihm zu der Auszeichnung gratulieren würdest?« schlug Mrs. Breedlove vor. Sie nahm Rhodas Hand, um sie zum Tor zu -21-
führen, und fuhr fort: »Du könntest sagen, du fändest es reizend, daß er die Medaille gewonnen habe, wenn du sie schon nicht bekommen hast.« Aber Rhoda riß sich von Mrs. Breedloves Hand los. »Nein, nein!« rief sie und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich finde es nicht reizend, daß er sie bekommen hat. Die Medaille stand mir zu.« Mrs. Breedlove war verblüfft über den heftigen Ausbruch des Kindes, doch dann lachte sie. »Ich wollte, meine Reaktionen und Instinkte wären so natürlich wie die deinen, mein Liebes. Wissen Sie«, wandte sie sich an Christine, »Kinder sind von einer so wundervollen Unschuld. Arglist und Betrug liegen ihnen so fern.« Aber Mrs. Penmark war schon auf Miß Octavia zugegangen, die ihr zugewinkt hatte. Sie standen neben der schmalen Seitenveranda unter dem Sternjasminbusch. »Meine Schwestern und ich sind so enttäuscht«, erklärte Miß Octavia, »daß Mr. Penmark heute nicht hier sein kann. Wir hätten ihn so gerne einmal kennengelernt, denn wir haben viel Gutes über ihn gehört. Jeder sagt, er sei ein ungemein tüchtiger junger Mann. Wir hofften ihn gestern bei den Schlußfeiern zu sehen, aber vermutlich ist er zu sehr beschäftigt.« Christine erzählte, daß ihr Mann sich derzeit in Südamerika aufhalte, um die Westküste nach Möglichkeiten zur Anlage neuer Häfen zu untersuchen. Er sei erst vor einer Woche abgereist, habe aber die Reise mit Rücksicht auf seine Karriere nicht hinausschieben können. Natürlich vermisse sie ihn sehr, um so mehr als sie wisse, daß er den ganzen Sommer hindurch nicht nach Hause kommen könne. Er habe aber selbst oft genug den Wunsch geäußert, die Schwestern Fern kennenzulernen, von denen er soviel Rühmliches gehört habe. Sie setzten sich in die Schaukelstühle auf der Veranda, und nach einiger Zeit nahm Miß Octavia die meistgestellte -22-
Elternfrage vorweg: »Möchten Sie erfahren, was wir von Rhoda halten und was sie erreicht hat, seit sie bei uns ist?« Mrs. Penmark bat darum, denn, so fügte sie hinzu, das Kind sei ihrem Mann und ihr fast von Geburt an ein Rätsel gewesen. Es sei ungemein schwierig, irgendeine bestimmte Einzelheit näher zu beschreiben oder auch nur zu nennen, aber im Charakter des Kindes zeichne sich eine ganz merkwürdige Reife ab, die sie störend fänden. Sie sei daher mit ihrem Mann einer Meinung, daß eine Schule wie diese, die sehr viel Wert auf altmodische Tugenden und eine bestimmte Disziplin lege, die für Rhoda ideale Schule sei und vielleicht einige störende Faktoren ihres Temperaments ausmerzen oder wenigstens abschwächen könne. Miß Octavia nickte einer anderen Mutter zu und legte eine Hand auf die Stirn, als wolle sie ihre Gedanken ordnen. Sie erklärte, Rhoda sei eine der besten Schülerinnen, die je die Schule besucht hätten, habe nicht einen Tag gefehlt, sich niemals verspätet und überall die höchsten Punktzahlen erreicht. Das sei ein bemerkenswerter Rekord, und das wisse sie besonders zu schätzen, da so viele Kinder im Laufe der Jahre durch ihre Schule gegangen seien. Dann setzte sie ihren schon ein wenig ramponierten Strohhut auf, um sich gegen die kräftige Vormittagssonne zu schützen, die durch die Zweige der Kampferbäume fiel. »Rhoda ist ein konservatives, sparsames Kind«, fuhr sie fort, »und vielleicht das reinlichste kleine Mädchen, das mir je begegnet ist.« Darüber lachte Christine. »Rhoda ist wirklich sehr ordentlich. Mein Mann sagt immer, er wisse gar nicht, woher sie das habe. Ganz bestimmt nicht von uns beiden.« Miß Burgess war inzwischen dazugekommen und schaltete sich jetzt in das Gespräch ein. »Ich glaube, das Geheimnis von Rhodas Charakter ist die Tatsache, daß sie keine anderen Menschen braucht, so wie wir sie brauchen. Sie ist ein absolut selbstgenügsames kleines Mädchen. Ich habe noch niemals ein -23-
Kind gesehen, das so aus einem Guß war wie sie.« Mrs. Penmark seufzte und hob ihre Hände zu einer Geste fast humorvoller Verzweiflung. »Manchmal wünsche ich wirklich, sie wäre abhängiger von anderen Menschen. Und manchmal wäre es mir wesentlich lieber, sie dächte etwas weniger praktisch und dafür mehr mit dem Herzen.« »Sie können sie aber nicht ändern«, wandte Miß Octavia aus ihrer Erfahrung mit Kindern ein. »Das Kind hat seine eigene Welt, und es ist weder die Ihre noch die unsere.« »Wenn ein Mädchen im Alter von acht Jahren so unabhängig ist«, warf Miß Burgess ein, »dann ist das absolut ungewöhnlich; auch in jedem anderen Alter wäre es ungewöhnlich. Aber Rhoda hat einige recht bemerkenswerte Qualitäten. Ihr Mut ist ungewöhnlich, und Angst scheint sie nicht zu kennen. Sie stellt sich furchtlos Dingen, vor denen jedes gleichaltrige Kind weinend davonlaufen würde. Sie ist auch keine Plaudertasche; das haben wir schon längst festgestellt. Im vergangenen Winter warf einer unserer Jungen einen Stein durch Mrs. Nixons Fenster und…« »Mr. Nixon machte einen Wirbel, als sei es eine Wasserstoffbombe gewesen«, warf Miß Octavia lächelnd ein. »Jedenfalls«, fuhr Miß Burgess fort, »beobachtete Rhoda den Vorfall und wußte daher, welcher Junge den Stein geworfen hatte. Wir forderten sie auf, es uns zu sagen, denn es sei ihre Pflicht, aber damit kamen wir nicht weit. Sie aß ihren Apfel, schüttelte den Kopf und musterte uns mit berechnenden, nahezu geringschätzigen Augen.« »Oh, diesen Blick kenne ich«, seufzte Christine. »Wir hätten die Wahrheit nie entdeckt, wäre nicht am nächsten Tag der Junge zusammengebrochen und hätte selbst gestanden«, erklärte Miß Burgess, und dann nahm Miß Octavia als Schulleiterin wieder das Wort: »Zuerst meinten wir, Rhoda gehöre für ihren Trotz bestraft, aber schließlich kamen wir zur -24-
Überzeugung, sie habe nur aus Loyalität gehandelt, so daß es ungerecht gewesen wäre, hätten wir mit einer negativen Bemerkung ihre gute Beurteilung verdorben. Sie hat sich ja nur geweigert, einen Mitschüler zu verraten.« Impulsiv legte Christine ihre Hand auf Miß Octavias Arm. »Ist sie eigentlich beliebt?« erkundigte sie sich. »Mögen die anderen Kinder sie?« Ehe Miß Octavia wahrheitsgemäß hätte berichten müssen, daß Rhoda von den anderen Schülern gefürchtet und abgelehnt wurde, rief Miß Claudia vom Gehsteig her, das letzte der Kinder sei nun gekommen, und die Busse könnten jetzt abfahren. Die Schwestern beluden sich mit den letzten Paketen, die sie noch mitzunehmen hatten, und gingen mit Mrs. Penmark den langen, gefliesten Fußweg zum Tor. Die Kinder hüpften lachend herum, und es dauerte eine ganze Weile, bis die drei Schwestern Fern, ihre Helferinnen und die Schüler alle sicher untergebracht waren und der erste Bus abfahren konnte. Der Fahrer blickte zurück, lauschte und drehte sich erneut um, mit der raschen Vorsicht eines mißtrauischen Vogels. Der Bus hatte nämlich unter den tiefhängenden Ästen des Kampferbaumes gestanden, und nun streifte er die Zweige und ließ einen Regen aromatischer Blätter herabrieseln. Kaum war der Bus angefahren, als vom Rasen gegenüber zwei Airedalehunde aufsprangen, die mit den Köpfen auf den Vorderpfoten behaglich vor sich hingedöst hatten; laut kläffend rannten sie jetzt am Zaun entlang. Ein Junge verlor seine Mütze, die auf die Straße fiel. Der Bus hielt an, und Mrs. Breedlove lief lachend herbei, hob die Mütze auf und reichte sie dem Jungen. Ein kleines Mädchen im zweiten Bus ließ ihre Tafel aus dem Fenster fallen. Sie wußte wahrscheinlich selbst nicht, weshalb sie diese mitgebracht hatte. Die Kinder schrien, miauten und pfiffen auf den Fingern, bis der Fahrer ausstieg und die Tafel vor dem Überfahrenwerden rettete. Mrs. Daigle hatte die Gelegenheit wahrgenommen und tätschelte die feuchte, schlaffe -25-
Hand ihres Jungen, die ihr dieser entgegengestreckt hatte. »Sind deine Kopfschmerzen jetzt vorüber?« fragte sie besorgt. »Und hast du auch ein frisches Taschentuch?« Der Fahrer kam mit der Tafel zurück. »Überanstrenge dich nicht«, redete Mrs. Daigle ihrem Sohn besorgt zu. »Und geh so wenig wie möglich in die Sonne.« Endlich bogen die Busse vorsichtig um die nächste Ecke. Die Leute kamen aus ihren Türen und winkten ihnen freundlich lächelnd zu. Dann lag die Straße wieder ruhig da. Das Picknick hatte nun wirklich begonnen. Rhoda stand von ihrem Platz auf und setzte sich auf einen anderen in der unmittelbaren Nähe des kleinen Daigle. Sie ließ die Augen nicht von der begehrten Medaille, sagte aber kein Wort. Wenige Augenblicke später stellte sie sich an den Mittelgang neben den Jungen und berührte die Medaille. Aber Claude zog sich verdrießlich zurück. »Warum suchst du dir nicht einen anderen Platz?« sagte er. »Kannst du mich denn nicht in Ruhe lassen?« Mrs. Penmark ging zu Mrs. Breedloves Auto. Monica war, wie üblich, der Mittelpunkt einer Gruppe offensichtlich alter Bekannter, die sie lange nicht gesehen zu haben schienen, und wie immer redete sie sehr lebhaft und bewegte Hände und Schultern. Als Mrs. Penmark das sah, ging sie zu dem Rasenstreifen zwischen Gehsteig und Straße, um dort auf ihre Freundin zu warten, bis die Unterhaltung beendet war. Zwei Männer kamen näher und stellten sich unter den Kreppmyrthenbaum hinter ihr. Beide sahen auf die Uhr. »Gestern las ich«, sagte der größere der beiden, »daß wir im Zeitalter der Angst leben. Ich glaube, das stimmt.« »Und es trifft für alle Lebensalter zu«, antwortete der andere. »Aber wenn du mich fragst, dann sage ich, noch richtiger wär’ es, zu sagen, wir leben in einem Zeitalter der Gewalttätigkeiten. -26-
Heutzutage scheint doch jeder an Gewaltanwendung zu denken. Das geht so lange weiter, bis nichts mehr übrig ist als nur noch Ruinen. Denkt man darüber nach, dann kommt einem das kalte Grausen.« »Dann ist es eigentlich richtiger, daß wir im Zeitalter der Angst und der Gewalttätigkeit leben.« »Das klingt zutreffender. Ja, genauso ist unsere Zeit und nicht anders.« Damit verabschiedeten sie sich voneinander und gingen in entgegengesetzten Richtungen davon. Unwillkürlich mußte Mrs. Penmark über das nachdenken, was sie eben mit angehört hatte. Ihr schien plötzlich, als sei die Gewalttätigkeit eine Veranlagung des Herzens, der nicht zu entrinnen war; vielleicht eine der weitesttragenden Veranlagungen überhaupt, die sich hinter anderen versteckte, hinter Freundlichkeit, Mitleid oder sogar hinter der Umarmung der Liebe; die unausrottbar war, wie der böse Samen des Unkrauts. Manchmal lag dieser Samen in großen Tiefen versteckt, manchmal unmittelbar unter der Oberfläche, aber immer bereit, sofort durchzubrechen, sobald die richtigen Bedingungen gegeben waren. Dann begann er sein Unheilswerk. Wenig später verabschiedete sich Mrs. Breedlove von ihren Bekannten und schritt majestätisch zu ihrem geparkten Wagen. »Dieser ganze Vorfall mit Claudia Ferns Schleppe ist so symbolbeladen, daß es mich absolut nicht erstaunte, wenn sie nach all diesen Jahren davon sprach«, erklärte sie. »Wissen Sie, als ich mich damals dieser Psychoanalyse unterzog, erschien immer wieder diese Schleppe und wurde sogar zur Schlüsselfigur meiner Angstneurose.« Sie warf ihren Kopf zurück und winkte lässig ein paar Passanten zu. »Meine inzestuöse Fixierung auf den armen Emory liegt so klar auf der Hand, daß sie nicht erst herausgearbeitet werden mußte. Das hätte ich auch gar nicht versucht, denn das Wort ›Inzest‹ ist ein bis zur Geschmacklosigkeit abgedroschener Begriff. Für meinen -27-
Analytiker war es wesentlich interessanter, daß dieses Abtrennen der Schleppe eine latente Penisfeindlichkeit, einen Penisneid, enthüllte. Außerdem versinnbildlichte es meinen Impuls, sowohl Männer als auch Frauen zu verstümmeln, zu kastrieren.« Sie sprach sehr angeregt, und sie hätte auch sehr gerne noch ausführlicher darüber gesprochen, doch sei sie sich natürlich dessen bewußt, wie sie betonte, wie heikel solche Themen seien, auch wenn sie mit wissenschaftlicher Sachlichkeit behandelt und mit Leuten diskutiert wurden, die so objektiv und intelligent seien wie Christine. Solche Themen würden immer noch als zu gefühlsbetont, als primitive Tabus halbzivilisierter Stämme, mindestens aber als gewagt und ein wenig seltsam nach Möglichkeit gemieden. Trotzdem gebe es viele Gedankenverbindungen und Versinnbildlichungen auch bei so einfachen Themen wie einer abgerissenen Schleppe. Manche davon seien amüsant, andere komisch und einige scheinbar völlig unbedeutend und unschuldig. Doch darüber schweige sie lieber, denn weiß Gott wie viele ungebetene Zuhörer… Christine hörte ihr jedoch kaum zu, denn ihre Gedanken beschäftigten sich noch immer mit der Unterhaltung jener beiden Männer über die Gewalttätigkeit. Ihr über alles geliebter Vater war durch einen Akt – vielleicht sogar ungewollter – Gewalttätigkeit ums Leben gekommen. Er war noch viel zu jung, um zu sterben, dachte sie. Er hatte noch so viele Jahre vor sich. Lebte er noch, dann würde er mich jetzt trösten, wie er mich als Kind getröstet hatte, wenn ich Angst hatte. Sie erinnerte sich genau an das letzte Wiedersehen mit ihm. Es war etwa eine Woche vor dem Flugzeugabsturz. Ihre Mutter war krank gewesen, und so war sie alleine mit ihm zum Flughafen gefahren, von dem er zu seiner letzten Reise aufbrechen sollte. Sie hatte, wie immer, darauf bestanden, sich um sein Gepäck zu kümmern, und er hatte sie, als sie zu ihm zurückkehrte, fest in seine Arme genommen und seine Wange an die ihre gelegt. -28-
Wenn sie so darüber nachdachte, dann kam sie zu dem Schluß, daß er eine Vorahnung gehabt haben mußte. Er hatte sie zärtlich geküßt und ihr ins Ohr geflüstert: »Du bist das strahlende Licht meines Lebens, und dich habe ich mehr geliebt als andere. Ich will, daß du dich immer daran erinnerst, gleich was geschehen mag. Das darfst du niemals vergessen. Und bleib immer so, wie du jetzt bist.« Auch jetzt dachte Christine wieder an diese Worte und drehte ihren Kopf weg, so daß Monica den feuchten Schimmer in ihren Augen nicht sehen konnte. O nein, Vater, ich habe es niemals vergessen, dachte sie voll schmerzhafter Innigkeit. Mrs. Breedlove parkte ihren Wagen unter den Eichen und entdeckte, als sie aufschaute, Leroy, der das Messing an der Rückseite des Hauses polierte. »Es tut mir so leid, daß ich wegen des Schlauches einen solchen Wirbel machte, aber Leroy kann einem Heiligen die Geduld austreiben. Ich muß mich immer wieder daran erinnern, daß er ja nicht unsere Vorteile und Möglichkeiten hatte, und trotzdem vergesse ich immer wieder meine besseren Gefühle und verliere meine Geduld.« Leroy hörte sie sprechen und sah sie an. Sie nickte und winkte ihm heiter zu, um ihm zu zeigen, daß sie ihm nicht zürne und ihm sein rüdes Benehmen verziehen habe. Aber Leroy war nicht so leicht zu besänftigen, wenn er wußte, daß er einen Sieg errungen hatte. Er dankte nicht einmal für den Gruß, sondern zuckte nur die Achseln und verschwand um die Hausecke zu den Garagen. Dort spuckte er voller Genuß und Bosheit auf den Boden. Dieses großmäulige Luder, schimpfte er in sich hinein. Läuft herum, schaut auf alle Menschen herunter und beleidigt sie. Aber der hab’ ich’s schon gezeigt! Im Geist spuckte er alle obszönen Schimpfworte gegen sie aus, die er kannte, und klatschte Ohrfeigen in die Luft. Dann hörte er die beiden Frauen über den Fliesenweg zum Haus gehen. Er versteckte sich hinter einem großen Kamelienbusch und spähte zwischen den Zweigen hindurch. -29-
Und diese eingebildete Blonde, diese Christine Penmark! Die hätte er ganz gerne einmal im Heizungskeller unten. Der würde er’s schon zeigen! Alles, was in den Büchern steht, würde er mit ihr tun und noch einiges mehr, bis sie ihm wie ein wimmerndes Hündchen nachliefe. Ja, genau. Betteln müßte sie ihn darum. Aber manchmal würde sie ganz umsonst betteln, je nachdem, wie er gerade gelaunt wäre… Mrs. Breedlove sah auf die Uhr. »Himmel, es ist ja schon acht vorbei!« rief sie und rannte nach oben, um ihren Bruder aus dem Bett zu werfen. Christine ging in die Küche, kochte eine Kanne Kaffee, setzte sich damit ins Wohnzimmer und las die Morgenzeitung. Sie nahm aber wenig von dem auf, was sie las, denn ihre Gedanken flogen in ihre Vergangenheit zurück. Sie hatte ihren Mann in New York kennengelernt. Damals war sie vierundzwanzig und entschlossen gewesen, nicht zu heiraten. Sie hatte mit ihrer Mutter am Gramercy Park gewohnt. Ihre Mutter war damals schon sehr krank und herzleidend und wußte, daß sie bald sterben würde. Christine hatte sich trotz allem glücklich gefühlt, daß sie der Mutter wenigstens einen Teil dessen vergelten konnte, was sie ihr verdankte. Da ihre Mutter sich aber standhaft weigerte, als Invalidin ständig gepflegt zu werden, nahm Christine eine Halbtagsbeschäftigung in einer Kunstgalerie an, wo sie stets zu erreichen war. Eine Freundin ihrer Mutter hatte Christine in jenem Winter zu einer Dinnerparty eingeladen, die sie für ihren Neffen Kenneth Penmark, einen jungen Marineleutnant, gab, und sie hatte die Einladung ihrer Mutter zuliebe angenommen. Der Leutnant hatte ihr auf den ersten Blick gefallen, und nachdem der Rummel vorüber war, hatten sie vor dem Kamin gesessen und sich über französische Maler unterhalten. Christine war ziemlich früh nach Hause gegangen, aber zu ihrer Überraschung kam er am nächsten Tag in die Galerie, obwohl sie geglaubt hatte, sie habe keinerlei Eindruck auf ihn gemacht. »Ich hätte gerne diese -30-
Zeichnung von Modigliani gesehen, von der Sie gestern so sehr schwärmten«, hatte er gesagt, und sie hatte sie ihm gezeigt. »Ich möchte sie für das Mädchen kaufen, das ich heiraten werde«, erklärte er. »Glauben Sie, daß sie Freude daran hätte?« Davon war Christine zwar überzeugt; sei das aber nicht der Fall, riet sie ihm, so solle er keinen Gedanken mehr an ein so törichtes Ding verschwenden. Abends rief er sie zu Hause an und sagte, er müsse sich seiner Tante Clara und Familienerinnerungen widmen und könne sie daher leider nicht sehen. Um elf Uhr meldete er sich erneut und bat sie, mit ihm tanzen zu gehen, da Tantchen jetzt schlafe und der Rest des Abends ihm gehöre. Sie kam glücklich und zufrieden wieder nach Hause und wußte, daß Kenneth Penmark der einzige Mann auf der ganzen Welt sei, der für sie zähle. Am folgenden Tag, es war ein Sonntag, rief er wieder an, und sie bat ihn zum Tee, damit er ihre Mutter kennenlernte. Am Montag schickte er der Mutter Rosen, ihr eine Orchidee. Am Dienstag war sein Urlaub zu Ende, und er besuchte sie in der Galerie. Dort schenkte er ihr den Modigliani. »Ich hoffe, mein Mädchen, du weißt, was das zu bedeuten hat«, sagte er, nahm sie in die Arme, küßte sie vor allen Leuten und ging dann ruhig zur Tür hinaus. Im gleichen Winter starb ihre Mutter; im Frühjahr kam Leutnant Penmark zu Besuch, und sie heirateten. Sie fühlte sich sehr glücklich in ihrer Ehe. Wäre nicht Kenneth gewesen, hätte sie überhaupt nicht geheiratet. Sie vermißte ihren Mann sehr. Sie verstand zwar die Notwendigkeit seiner häufigen Reisen, doch daran gewöhnen konnte sie sich nie. Eigentlich hatte sie immer auf jemanden gewartet – erst auf ihren geliebten Vater, dann auf ihren geliebten Mann. Die jetzige Reise dauerte sehr lange, und sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, ihren Mann zu begleiten. Sie hatte diese Idee dann wieder verworfen. Es war nicht so sehr eine Frage des Geldes, das sie besser für ihr eigenes Haus sparen würden, -31-
sondern sie waren zutiefst um ihre Tochter besorgt. Sie konnten das Kind nicht gut mitnehmen, wollten es aber auch nicht bei einer so toleranten und hingebungsvollen Freundin wie Mrs. Breedlove lassen. Das Kind hatte von jeher etwas Seltsames an sich gehabt, doch das hatten sie geflissentlich übersehen, in der Hoffnung, es würde sich legen, sobald Rhoda älter wäre. Diese Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt. Sie wohnten damals in Baltimore und sie ging als Sechsjährige in eine sehr moderne Schule. Nach einem Jahr wurden die Eltern gebeten, Rhoda in eine andere Schule zu geben. Mrs. Penmark bat um eine Erklärung, und der Schulleiter gab sie ihr wie ein Mann, dessen Geduld über Gebühr in Anspruch genommen worden und längst erschöpft war. Rhoda, erklärte er unumwunden, wenn auch mit einigem Bedauern für die Mutter, sei ein kaltes, selbstsüchtiges, schwieriges Kind, das seinen eigenen Gesetzen und nicht denen der Allgemeinheit folge. Sie lüge ungemein geschickt und überzeugend. In mancher Beziehung sei sie den Gleichaltrigen weit überlegen, in anderer dagegen bemerkenswert unterentwickelt. Das habe aber bei der Entscheidung der Schulleitung keine Rolle gespielt. Den Ausschlag habe gegeben, daß sie eine ganz gewöhnliche, wenn auch sehr geschickte und raffinierte Diebin sei. Mrs. Penmark hatte einen Augenblick den Atem angehalten. »Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, Ihre Entscheidung könne auf einem Irrtum beruhen?« fragte sie dann leise. Natürlich wurde eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen, erklärte der Schulleiter, und nicht nur einmal. Über die Diebstähle gebe es aber keinen Irrtum. Man habe eine Falle gestellt, und Rhoda sei in diese Falle hineingetappt. »Solche Probleme hatten wir natürlich auch früher schon«, hatte er hinzugefügt, »und wir haben Rhoda deshalb zum Schulpsychiater geschickt, um seine Meinung zu hören.« Christine hatte geseufzt, als sie hörte, was der Arzt ihr sagte. -32-
Rhoda sei das frühreifste Kind, das ihm je untergekommen sei. Sie sei außerordentlich schlau und berechnend und kenne weder Angst noch Schuldgefühle. Ihr fehle jede Liebesfähigkeit, und sie sei ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Die bemerkenswerteste Eigenschaft sei jedoch ihr maßloser Erwerbstrieb. Sie sei alles in allem ein entzückendes kleines Tier, das sich aber niemals zähmen und in irgendeine Gesellschaftsordnung einfügen lasse… Um zehn Uhr kam die Post. »Oh, Kenneth!« flüsterte sie leise und verzweifelt, als sie den Brief ihres Mannes gelesen hatte. Aber dann schob sie entschlossen alle bedrückenden Gedanken von sich. Sie war geradezu unvernünftig glücklich, denn sie glaubte in diesem Augenblick, alles zu haben, was eine Frau sich nur wünschen mochte. Sie setzte sich sofort an den Schreibtisch, um den Brief zu beantworten. Zunächst stützte sie aber noch die Ellbogen auf und legte ihre Wangen auf die Handflächen, um hinauszusehen auf den weichen, grünen Rasen und die dichten Büsche an der Straße, um ihr Glück zu genießen und sich von ihm durchfluten zu lassen. Das war sehr weise, denn es war die letzte glückliche Minute, die ihr je beschieden war.
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3
Mrs. Breedlove bewohnte mit ihrem Bruder das Stockwerk über den Penmarks. In ihrem Leben hatte es ein sehr wichtiges Ereignis gegeben. Ihr Mann, der ratlos war und nicht wußte, was er mit ihr anfangen sollte, hatte sie nach Wien zu Sigmund Freud geschickt, der sie psychoanalysierte. Sie wurde niemals müde, darüber zu sprechen. Es schien, der Professor habe sie nach den ersten Intensivsitzungen dahingehend in aller Offenheit unterrichtet, daß ihr Temperament und Charakter seine Fähigkeiten bei weitem übersteige, und er rate ihr, sie solle nach London zu seinem Schüler Dr. Aaron Kettlebaum gehen. Das hatte sie auch getan. »Dieser Vorschlag war mein Glück«, behauptete sie oft. »Ich will natürlich Dr. Freuds berufliche Tüchtigkeit in keiner Weise verkleinern, und ich betrachte ihn noch immer trotz seiner Eigenheiten als einen der größten Geister unserer Zeit, aber Dr. Kettlebaum war mehr; sympatico, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Freud war im Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts steckengeblieben. Amerikanische Frauen lehnte er ab, besonders dann, wenn sie auf eigenen Füßen zu stehen vermochten. Dr. Kettlebaum dagegen glaubte an die Seelenstärke des Individuums und sah den Sex als zweitrangig an. Er war ein wenig Mystiker – wie ich selbst. Er hat sehr viel für mich getan, und als er vor etlichen Jahren starb, kabelte ich um Blumen für seinen Sarg und weinte eine ganze Woche lang um ihn.« Drei Jahre später war sie zu ihrem Mann zurückgekehrt, um sofort ihre Scheidung einzureichen. Ihr Mann hatte nichts dagegen. Als sie wieder frei war, hielt sie es für ihre Pflicht, -34-
ihrem Bruder Emory ein Heim zu geben. Sie analysierte seinen Charakter, was er schweigend ertrug. Sie war mit der Zeit zu der Ansicht gekommen, ihr Bruder sei, wie sie sich ausdrückte, ein ›verdeckter Homosexueller‹, und im Frühling des vergangenen Jahres hatte sie bei einer ihrer großen Dinnerpartys dieses Thema so freimütig diskutiert, daß sie selbst die einzige Person der ganzen Tafelrunde gewesen war, die sich nicht vor Verlegenheit wand. »Was heißt eigentlich in diesem Zusammenhang ›verdeckt?‹« fragte Emory. »Diesen Ausdruck kenne ich nicht.« »Maskiert oder verborgen«, erklärte Mrs. Breedlove. »Oder etwas, das bisher noch nicht an die Oberfläche gekommen ist«, sagte Kenneth Penmark. »Wenn du das noch mal behauptest!« erwiderte Emory und lachte gequält. Er war ein dicklicher, etwas rotgesichtiger Mann und ein paar Jahre jünger als seine Schwester. Die Haare waren auf seinem rosafarbenen, gewölbten Schädel schon ziemlich dünn geworden, aber sein Bauch war klein und hart und schien für die dicke Uhrkette mit den vielen Petschaften eigens entworfen worden zu sein. Frank Billings, den Monica immer als ›Emorys Canastafreund‹ bezeichnete, fragte sie, wie sie auf einen solchen Gedanken komme. »Meine Meinung gründet sich auf beweiskräftige Schlüsse, und bessere Beweise als diese gibt es nicht«, erwiderte sie, nippte an ihrem Wein und blies nachdenklich die Wangen auf. »Emory ist zweiundfünfzig Jahre alt und war nie verheiratet. Ich glaube, er hat nicht einmal eine ernsthafte Liebesaffäre gehabt.« Sie wehrte Reginald Tasker ab, der sie zu unterbrechen versuchte. »Bitte, bitte! Wir wollen die Sache doch einmal ganz objektiv sehen. Woran ist Emory wirklich interessiert? Womit beschäftigt sich seine Seele? Fischen, Mordgeschichten über treue, umgebrachte Hausfrauen, Canasta, Baseballspiele und der -35-
Gesang in einem Männerquartett. Und wie verbringt Emory seine Sonntage? Fischend auf einem Boot – mit anderen Männern. Gibt es jemals Damen bei dem, was er tut? Ich kann diese Frage beantworten; Damen treten dabei niemals auf.« »Damit hast du verdammt recht«, erwiderte Emory. Mrs. Breedlove sah von einem ihrer Gäste zum anderen und bemerkte erst jetzt, welche Wirkung sie mit ihren Ausführungen erzielt hatte. Sie warf den Kopf zurück und meinte erstaunt: »Ich verstehe wirklich nicht, weshalb dieser Gedanke so schockierend sein soll! Das ist doch, weiß Gott, nichts Außergewöhnliches! Die Homosexualität ist doch wesentlich abgedroschener als der Inzest. Dr. Kettlebaum war der Meinung, es handle sich hier im Grunde nur darum, was der einzelne persönlich vorziehe.« Es wäre aber ein Fehler, wollte man annehmen, daß diese verschrobene alte Frau auch in anderer Beziehung so verrückt gewesen sei. Sie hatte das Aktienpaket, das sie von ihrem Mann bekommen hatte, in Grundstücken angelegt, die sie nach einem System erwarb, das sich teils auf Sexsymbole, teils auf die Tatsache stützte, daß die Stadt sich ständig weiter ausdehnte und das ausgerechnet, wie jeder vorhergesagt hatte, in die Richtung ihrer Liegenschaften. Sie hatte von Anfang an mit allem Erfolg gehabt: Sie hatte ein Kochbuch geschrieben, das ein Bestseller wurde; sie war die Vorsteherin der psychiatrischen Klinik der Stadt; sie wurde überall geschätzt als unermüdlich tätige, logisch denkende und ungemein tüchtige Bürgerin und Vorsitzende von Wohltätigkeitsausschüssen. Am Tag des Schulpicknicks rief Mrs. Breedlove Christine an und lud sie zum Mittagessen ein. Einer von Emorys Anglerfreunden hatte ihm einen wunderschönen Fisch geschickt, einen siebenpfündigen Rotlachs. Emory schloß, da es Samstag war, gegen Mittag seinen Betrieb und bat seine Schwester, Gelpi-Lachs zuzubereiten, und sie hatte es ihm versprochen. »Emory hat seinen Freund, den Krimischreiber Reggie Tasker, -36-
eingeladen. Sie kennen ihn ja, nicht wahr? Und er läßt Sie bitten, ebenfalls zu kommen. Wie wäre es, wenn Sie gegen zwölf Uhr kämen? Ich würde Ihnen zeigen, wie der Lachs zubereitet wird. Es handelt sich hauptsächlich um die Soße.« Später beschloß Mrs. Breedlove, den Fisch nicht im Eßzimmer zu servieren, sondern in dem an ihr Wohnzimmer anschließenden Alkoven, wo Farne und Usambaraveilchen standen. Als ihr Bruder mit seinem Gast kam, war dort auch schon der Tisch gedeckt. Die Männer unterhielten sich über einen vor kurzem entdeckten Mord, den die Lokalzeitungen groß herausgestellt hatten. Reginald Tasker wollte ihn als Thema für eine seiner Magazingeschichten verwenden und sammelte nun die Tatsachen. Es handelte sich um eine Krankenpflegerin mittleren Alters, eine Mrs. Dennison, die im Mai des gleichen Jahres, wegen Mordes an ihrer hoch versicherten zweijährigen Nichte Shirley, angeklagt worden war. Man erinnerte sich in der Stadt daran, daß vor einigen Jahren eine ebenfalls zweijährige Nichte auf ähnliche Art gestorben war. Mrs. Dennison hatte beim Tod des ersten Kindes fünftausend Dollar Versicherungsgeld kassiert, das zweite war für sechstausend versichert. Mrs. Breedlove kam in das Wohnzimmer, um ihren Gast zu begrüßen, und Christine folgte ihr. Reggie erzählte weiter, daß ein Jahr nach dem Tod der ersten Nichte Mrs. Dennisons Ehemann an der Familienkrankheit gestorben sei, also an Erbrechen, Halsbrennen und krampfhaften Zuckungen. Selbstverständlich sei er ebenfalls versichert gewesen. Christine lachte ein wenig und legte die Hände auf die Ohren. Solche Geschichten möge sie nicht, flüsterte sie Monica Breedlove so leise zu, daß die Männer es nicht hören konnten, denn jedes Verbrechen, besonders natürlich Mord, bedrücke sie und mache ihr Angst. Sie hätte die Schlagzeilen zum Fall Dennison gelesen, nicht aber die Berichte, die sie einfach überschlagen habe. -37-
»Sie haben da eine kleine psychische Sperre«, stellte Mrs. Breedlove erfreut fest. »Wenn Sie sich auf die Situation einstellen, können wir dieser Sperre vielleicht auf den Grund kommen.« Sie strich die Tischdecke glatt und wartete begierig auf Christines Antwort, die aber nicht kam. »Sagen Sie mir das erste Wort, das Ihnen jetzt einfällt, ohne daß Sie darüber nachdenken, und egal wie töricht es auch klingen mag.« Reginald Tasker berichtete inzwischen weiter, daß Mrs. Dennison am ersten Mai dieses Jahres vormittags die Familie ihrer Schwägerin besucht habe, also kurz vor dem Mittagessen. Sie begann sofort mit Shirley zu spielen und sagte, sie habe ihr ein Geschenk mitbringen wollen, es dann aber vergessen. Darüber sei sie so traurig gewesen, daß sie sofort in einen Laden in der Nähe gegangen sei und dort Süßigkeiten und Mineralwasser gekauft habe. »Mir fällt nichts ein«, sagte Christine. »Mein Kopf scheint leergefegt zu sein.« »Aber in Wirklichkeit hatte Mrs. Dennison ihrer Nichte doch ein Geschenk mitgebracht«, fuhr Reginald Tasker fort. »Es war Arsen im Wert von zehn Cents, das sie unterwegs gekauft hatte. Eigentlich war es eher ein Geschenk, das sie sich selbst zugedacht hatte, denn sie hatte ja den Profit davon, wenn sie es anwenden konnte.« Aber Mrs. Breedlove ließ nicht locker. »Worüber denken Sie im Augenblick nach?« fragte sie, als sie in der Küche den Salat in ihrer großen Holzschüssel mischte. »Ich dachte eben daran, wie sehr die Schwestern Fern vom Namen meines Vaters beeindruckt waren. Miß Burgess meinte, ich sähe ihm sehr ähnlich, obwohl sie ihn auch nur von Fotos her kannte.« »Das ist eine sehr ausgefallene Gedankenverbindung«, meinte Mrs. Breedlove ein wenig unsicher. »Ich verstehe sie nicht recht.« Sie kniff die Augen zusammen, spitzte die Lippen und -38-
horchte fast geistesabwesend auf die Unterhaltung im Wohnzimmer. Reggie berichtete, die Krankenschwester Dennison habe sofort einen Orangensprudel für ihre Nichte Shirley hergerichtet und dann mit einer Art liebevoller Sorge die Zuckungen des Kindes beobachtet. Später, als es den Anschein hatte, daß die robuste Gesundheit des Kindes über die Absichten der Tante siegte, schlug diese vor, dem Kind noch ein Schlückchen von dem Orangensprudel zu geben, der den Magen beruhige, und Shirley, ein reizendes, folgsames Kind, trank auch diese Mixtur. »Und was wäre die zweite Gedankenverbindung?« fragte Mrs. Breedlove. »Vielleicht ist sie aufschlußreicher.« »Sie ist noch dümmer«, erwiderte Christine. »Ich hatte immer das Gefühl, die Bravos seien nicht meine richtigen Eltern, sondern sie hätten mich adoptiert. Einmal fragte ich meine Mutter. Es war in dem Jahr, als ich mit der Oberschule fertig wurde. ›Mit wem hast du denn gesprochen?« fragte sie mich. ›Wer setzt dir denn solche Ideen in den Kopf?‹ Sie war so erregt, daß ich niemals mehr eine solche Frage stellte.« »Oh, Sie Ärmste!« rief Monica. »Solche Ideen hat doch fast jedes Kind! Ich bildete mir einmal ein, ich sei ein Findling und stamme aus königlichem Haus. Ich wußte natürlich nicht, wie ich auf die Türstufen meiner Eltern gelangt war, aber über solche Nebensachen macht sich ein fünfjähriges Kind keine Sorgen. Die Mythen und Volkslieder aller Völker sind voll von solchen Geschichten.« Dann klang wieder Reginald Taskers Stimme herüber: »Nachdem das Kind die zweite Dosis Arsen geschluckt hatte und sie überzeugt war, daß die Kleine ihr nicht noch einmal einen Streich spielte, erklärte Mrs. Dennison, sie habe dringend in der Stadt zu tun. Später stellte sich dann heraus, daß sie ihren Versicherungsagenten aufsuchte, von dem sie die kleinere der zwei Policen auf den Namen ihrer Nichte gekauft hatte. Sie hatte die Prämie zu zahlen vergessen, und an jenem Tag lief die letzte -39-
Nachfrist ab. Sie bezahlte also und aß dann zu Hause ihr Abendbrot mit bestem Appetit und im Bewußtsein, daß sie ein gutes Geschäft zum Abschluß gebracht hatte. Das Kind starb gegen acht Uhr abends, und damit wurden beide Versicherungen fällig.« Mrs. Breedlove nickte von Zeit zu Zeit dazu und meinte, Reginald Tasker sei in seinem Fach eigentlich recht tüchtig. Natürlich konnte er einem Psychiater vom Rang eines Dr. Wertham nicht das Wasser reichen, aber in seinen besten Werken zeichne sich so etwas ab wie mitleidige Ironie, und die hebe ihn über den Durchschnitt hinaus. Da sie mit den Vorbereitungen fertig waren, kehrten sie in das Wohnzimmer zurück. »Sagt einmal«, fragte Monica, »ein anderes Thema könnt ihr wohl nicht finden?« »Wenn sie das sagt, meint sie Sex«, erklärte Emory. Er sah Christine an und schien sie um Beistand zu bitten, aber sie lächelte nur, senkte die Augen und ließ ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit schweifen. Es gab dort unklare, formlose Dinge, die sie auch in ihren glücklichsten Kindertagen beunruhigt hatten. Sie hatte eine verwischte Erinnerung an ein schreckliches Ereignis, das sie niemals begriffen hatte, nicht einmal damals, als es geschah. Aber diese Erinnerungen waren so spukhaft und verschwommen, daß sie nicht als Gewißheit in ihr fortlebten, sondern eher als sinnlose Drohung. Sie seufzte und strich sich über das Haar. Ich glaube, dachte sie, ich habe früher einmal irgendwo auf einer Farm gelebt, und dort hatte ich Geschwister, mit denen ich spielte. Monica schob ruckartig ihr Kinn nach vorne, warf den Kopf ebenso ruckartig nach links, als balanciere sie auf dem Kinn einen Kieselstein, den sie über die Schulter zu werfen versuchte. »Mein Tic ist heute wieder entsetzlich«, stellte sie fest. »Ich weiß auch nicht, warum.« Sie zündete sich eine Zigarette an. -40-
»Ich habe ausführlich mit Dr. Kettlebaum darüber gesprochen und wie ich vielleicht damit fertig werden könnte. Er sah mich aber nur erstaunt an. ›Meine verehrte Dame‹, sagte er, ›das ist doch eigentlich eine sehr jugendliche, reizende Bewegung. Warum wollen Sie sie unbedingt wegbringen?‹« »Dieser Dr. Kettlebaum muß ja ein Wunderbursche gewesen sein«, bemerkte Emory. Monica pflichtete ihm ernst und ruhig bei. Er sei ein immens weiser und ihr sehr nützlicher Mann gewesen, erklärte sie nachdrücklich, und ihre braunen Augen leuchteten. Es wäre ihm sicher gelungen, Reginalds und ihres Bruders Versuche, die unterbewußte Gewalttätigkeit zu eliminieren, in gesellschaftlich nützliche Bahnen zu lenken. Erstaunlich finde sie nur, daß keiner von ihnen Chirurg geworden sei, denn das wäre sicher dramatischer gewesen als das Lesen und Schreiben von Verbrechergeschichten. Nach gründlichem Nachdenken sei sie zu dem Schluß gekommen, daß ein sehr starker Impuls auch eine sehr starke Reaktion auslösen müsse, wenn der Mensch als Sozialwesen überleben wolle. Sie stand auf, um die Jalousie anders einzustellen, und Reginald, der sie sein ganzes Leben lang gekannt hatte, feixte und kniff sie in ihre rundlichen Hinterbacken. Sie verfiel sofort in meckerndes Lachen, das durch die ganze Wohnung schallte und goß ihm einen Cocktail ein, worauf er sofort den alten Faden wieder aufnahm. Das Kind, erzählte er, sei ins Krankenhaus gebracht worden, starb dort aber. Die Ärzte verlangten eine Autopsie. Natürlich wurde das Arsen sofort entdeckt. Wieder legte Christine die Hände über die Ohren. Ich bin so verletzlich, dachte sie. Ich habe keine guten Nerven. Sie lachte nervös. »Oh, bitte!« flehte sie, »oh, bitte nicht!« Reginald lachte und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Seiner Meinung nach, sagte er, werde dieser Fall zu -41-
einem Klassiker der Kriminalgeschichte. Für diese Mrs. Dennison gab es einen gewichtigen Grund, die Versicherungsprämie zu zahlen, und dieser Umstand verlieh den traurigen Vorkommnissen die fast gewöhnliche, gesunde Note, die dazugehörte. Und wie jeder Klassiker der Kriminalgeschichte habe auch diese Geschichte einen humoristischen Punkt, der sie von alltäglichen Krimis unterscheide. Als die Krankenpflegerin Dennison nach der Autopsie ihre Schuld auf den Kopf zugesagt bekam und sie auch bekannt hatte, erklärte sie, wie unendlich sie die Vergiftung des kleinen Mädchens bedauere, und sie weinte schrecklich dabei. Wenn sie nämlich gewußt hätte, daß man ein paar Krümel Arsen ohne weiteres feststellen könne, hätte sie es niemals getan. Kurz nach halb drei, als sie gegessen hatten, verabschiedete sich Reginald. Die Frauen räumten die Küche auf, und Emory schaltete das Radio ein, um die Drei-Uhr-Nachrichten zu hören. Nach den Weltnachrichten wurde die Stimme des Sprechers plötzlich sehr ernst. »Ich wurde gebeten, die Nachricht durchzugeben, daß eines der Kinder der Fern-Schule beim Jahrespicknick infolge eines Unfalls am Strand ertrunken ist. Der Name des Kindes wurde nicht genannt, da zuerst die Eltern verständigt werden sollen. Wir erwarten in Kürze weitere Nachrichten zu diesem tragischen Fall.« Mrs. Breedlove und Christine kamen sofort ins Wohnzimmer und blieben neben dem Radio stehen. »Rhoda war es nicht«, erklärte Mrs. Breedlove bestimmt. »Sie paßt zu sehr auf sich auf.« Sie legte Christine den Arm um die Schulter. »Es muß jemand sein, der mir glich, als ich ein Kind war. Ich war immer verwirrt und fürchtete mich vor meinem eigenen Schatten. Mir fehlte jedes Selbstvertrauen. Auf Rhoda paßt diese Meldung nicht.« Gegen Ende der Nachrichtensendung gab der Sprecher durch, er sei nun autorisiert, den Namen des ertrunkenen Kindes zu nennen. Das kleine Opfer heiße Claude Daigle und sei das -42-
einzige Kind von Mr. und Mrs. Dwight Daigle, Willow Street 126. Er ergänzte, das Unglück sei auf einer unbenutzten Werft des Besitzes der Schwestern Fern passiert. Man wisse nicht, wie der Junge dorthin geraten sei, denn man habe den Kindern ausdrücklich verboten, zur Werft zu gehen. Offensichtlich sei es ihm doch gelungen, zu entwischen, denn man habe ihn dort gefunden, als man ihn beim Mittagessen vermißte und nach ihm suchte. Er sei unter alten Balken und Brettern im Wasser gelegen. Ein Strandwächter, der ihn fand, habe sofort mit künstlicher Atmung begonnen. Mysteriös seien Quetschungen und Verletzungen an Händen und Stirn des Jungen, jedoch werde angenommen, daß diese Verletzungen entstanden, als der Kleine zwischen die Bretter geschwemmt wurde. »Oh, der arme Junge!« rief Christine. »Ein paar Tage vorher«, berichtete der Ansager weiter, »hatte der kleine Daigle eine Goldmedaille der Fern-Schule gewonnen. Als man ihn zum letztenmal sah, trug er sie noch. Die Medaille fehlte aber, als man ihn fand. Man glaubte, sie habe sich vielleicht von seinem Hemd gelöst, aber sie konnte nicht gefunden werden, obwohl man die ganze Umgebung sorgfältig absuchte.« Christine begab sich nun sofort in ihre Wohnung. Sie hoffte, daß Rhoda nicht gesehen hatte, wie der tote Junge geborgen wurde und wie man Wiederbelebungsversuche angestellt hatte. Wenn das Kind Angst hätte oder verstört wäre, müßte sie es sofort trösten können. Rhoda war zwar nicht sehr gefühlvoll; trotzdem konnte ein überraschender, unvermuteter Tod selbst den ruhigsten Menschen erschüttern. Als Rhoda jedoch später nach Hause kam, war sie ebenso ruhig und unbewegt wie am Morgen. Kühl wie immer bat sie um ein Glas Milch und ein Butterbrot, so daß ihre Mutter sich überlegte, ob sie überhaupt begriffen hatte, was vorgefallen war. Sie stellte ihr eine ruhige, ernste Frage mit derselben gütigen Stimme wie immer, und Rhoda sagte, sie habe wirklich alles -43-
verstanden, was vorgefallen sei, und sie sei sogar diejenige gewesen, die den Strandwächter darauf aufmerksam gemacht habe, er könne doch einmal bei den Brettern nachsehen. Sie sei auch dabeigestanden, als die kleine Leiche aus dem Wasser gezogen wurde, und habe den Jungen dann auf dem Rasen liegen sehen. Christine legte dem gleichmütigen Kind die Arme um das Körperchen. »Du mußt versuchen, das alles zu vergessen«, riet sie. »Ich will nicht haben, daß du dich irgendwie ängstigst. Solche Dinge kommen immer wieder vor, und wir müssen sie hinnehmen.« Rhoda erduldete die Umarmung ihrer Mutter und antwortete ihr einigermaßen erstaunt, sie sei nicht im geringsten darüber verstört. Sie habe, im Gegenteil, die Sache sogar ziemlich aufregend gefunden, und besonders die Wiederbelebungsversuche hätten sie ungemein interessiert. Sie ist so kalt, dachte Christine, so unpersönlich. Andere Menschen wären von einem solchen Vorfall zutiefst erschüttert. Das war es ja auch, was sie an Rhoda noch niemals verstanden hatte, und Kenneth hatte einmal etwas von ›Rhodas Reaktion‹ gesagt und dazu gelächelt. Aber jetzt fühlte sie sich unbehaglich. Rhoda entwand sich den Armen ihrer Mutter. Sie ging in ihr Zimmer und arbeitete an ihrem Puzzlespiel. Später brachte ihr Christine Milch und ein Butterbrot. Ihr Gesicht zeigte noch immer einen verstörten Ausdruck, und an ihrer Braue zuckte eine Ader. »Es war trotzdem sicher keine schöne Sache, das mit anzusehen und sich später daran erinnern zu müssen«, sagte sie und küßte Rhodas Haar. »Ich verstehe genau, was du fühlen mußt, mein Kind.« Rhoda legte ein paar Steinchen zurecht und sah dann zu ihrer Mutter hinauf. »Ich weiß gar nicht, was du meinst, Mutter«, sagte sie erstaunt. »Ich fühle überhaupt nichts.« Christine seufzte und kehrte in ihr Wohnzimmer zurück. Sie -44-
versuchte zu lesen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Dann schien Rhoda zum Bewußtsein zu kommen, daß sie ihre Mutter irgendwie verwirrt hatte, obgleich sie einen Grund dafür nicht zu sehen vermochte, gab ihr Puzzlespiel auf, kam zu ihrer Mutter und lächelte ihr reizendes, ein wenig zögerndes Lächeln, wobei wieder ihr einzelnes Grübchen erschien. In genau berechneter Imitation kindlicher Zuneigung rieb sie ihre Wange an der ihrer Mutter, lachte kokett und ging wieder weg. Sie hat etwas Unschönes getan, dachte Christine; und es muß etwas unerhört Unschönes sein, wenn sie sich so bemüht, mich zu erfreuen. Und da schien ihr nun, daß etwas an ihrem Kind sein müsse, irgendeine Eigenschaft des Körpers oder der Seele, die es von den Menschen seiner Umgebung unterschied. Diesen Unterschied mußte Rhoda damit vertuschen, daß sie andere Menschen in ihrem Wert heruntersetzte. Da sie aber in ihrem Herzen nichts Spontanes hatte, war sie gezwungen, sich jeden Schritt genau zu überlegen, mit sich selbst darüber zu debattieren, zu experimentieren und sich vorsichtig zwischen den Werten ihrer Umgebung durchzulavieren. Sie näherte sich ihrer Mutter erneut und küßte sie auf den Mund, was sie seit sehr langer Zeit nicht mehr freiwillig getan hatte. Dann kniff sie die Augen zusammen, warf den Kopf zurück und zauberte ein süßes Lächeln auf ihr Gesicht. »Was gibst du mir«, fragte sie, »wenn ich dir einen ganzen Korb voll Küsse schenke?« Das war ein Kinderspiel, das sie manchmal mit ihrem Vater spielte, und Christine, die ja die Spielregeln kannte, fühlte Zärtlichkeit und Mitleid für ihr Kind, nahm das Mädchen in die Arme und gab die erwartete Antwort: »Einen ganzen Korb Umarmungen.« Später, als sich Rhoda mit ihrem Puzzle zu langweilen begann, holte sie ihre Rollschuhe und sagte, sie wolle ein bißchen in den Park gehen. Die Mutter erlaubte es ihr, und wenig später hörte sie Leroys Stimme, verstand aber nicht, was -45-
er sagte. Sie ging zum Küchenfenster und lauschte. »Wie kannst du jetzt nur Rollschuh laufen und dein Vergnügen suchen, wenn dein armer kleiner Schulkamerad noch naß ist von dem Wasser in der Bucht? Mir schiene es angebrachter, du weintest dir zu Hause die Augen aus dem Kopf, oder wenigstens solltest du in der Kirche sein und eine Kerze für ihn anzünden.« Rhoda starrte den Mann kalt an, antwortete ihm aber nicht. Sie ging zum Parktor und fummelte daran herum, aber Leroy ließ sie nicht in Ruhe. »Ich weiß genau, daß es dir nicht einmal leid tut, was dem kleinen Kerl passiert ist«, redete er weiter. Einen Augenblick lang schien Rhodas Gleichmut ein wenig erschüttert zu sein, und sie schwang ihre Rollschuhe hin und her. »Warum sollte er mir leid tun?« erwiderte sie dann. »Claude Daigle ist doch ertrunken, nicht ich.« Leroy schüttelte den Kopf, lächelte schief und ging weg. Für ihn kam die Zeit des Dienstschlusses, und er tat die notwendigen und üblichen Handgriffe, mit denen er seine Tagesarbeit abzuschließen hatte. Es ging ihm dabei aber nicht aus dem Kopf, was Rhoda gesagt hatte. Er kehrte den Hof, schloß die Kellertür ab und murmelte dabei immer wieder vor sich hin: »Warum sollte er mir leid tun? Claude Daigle ist doch ertrunken, nicht ich.« Er imitierte dabei Rhodas Stimme, so gut er es vermochte. Ja, diese Rhoda war schon ein… Alle Menschen waren ihr gleichgültig, sogar ihre hübsche Mama. Und wenn er je ein widerwärtiges kleines Mädchen gesehen hatte, dann war es Rhoda. Aber sie glich ihm in mancher Beziehung. Niemand konnte ihr etwas anhaben, ihm aber auch nicht! Soviel war sicher, und darauf hätte er jede Wette abgeschlossen. Er wohnte etwa zwei Meilen von seiner Arbeitsstelle entfernt mit seiner Frau Thelma und seinen drei dürren, weinerlichen Kindern in einem schäbigen unverputzten Häuschen. Das Grundstück lag ein wenig tiefer als die Straße, und wenn es regnete, sammelte sich das Wasser in einer Riesenpfütze unter dem Haus, wo es nicht abfließen konnte. Thelma hatte sich -46-
bemüht, mit in die Erde eingegrabenen Bierflaschen Blumenbeete abzugrenzen, aber der Boden war zu naß, und der Sykomorenbaum warf zuviel Schatten. Es gedieh also nichts. Vor dem Abendessen saß Leroy mit seiner Frau auf der Veranda und hatte seine Füße auf das Geländer gelegt. Er begann sofort von dem Daigle-Jungen zu sprechen, aber Thelma schlug nach Moskitos und erklärte, das habe sie alles schon im Radio gehört. Im gleichen Augenblick stand sie auf, ging hinein und stellte Tanzmusik ein. »Himmel«, schimpfte Leroy, als sie wieder auf der Veranda war, »kannst du das Ding nicht leiser drehen? Hat man nicht einmal im eigenen Haus ein bißchen Ruhe?« »Mir gefällt es«, erwiderte sie. »Musik muß man hören können.« Sie war eine große, schwerfällige Frau mit dem leeren Gesicht eines fetten Babys. »Und spuck nicht immer auf die Petunien«, quengelte sie. »Hat mich Mühe genug gekostet, sie so groß zu bringen. Wenn du spucken willst, dann setz dich auf die Stufen.« Brummend setzte er sich auf die Stufen. Dann sagte er, als sei ihm eben wieder die ganze Ungerechtigkeit der Welt eingefallen: »Hack nur immer auf mir herum und zieh ebenso über mich her, wie alle anderen. Ich bin’s ja gewöhnt. Ich weiß ja, daß ich nur ein ganz mieser, kleiner Landpächter bin.« »Hör mal«, erwiderte Thelma geduldig, »mich brauchst du nicht anzulügen, denn ich weiß es ja, daß du nie ein Landpächter warst. Du hast noch niemals so auf dem Land gelebt wie ich. Dein Vater war auch kein Landpächter. Bei deinem Vater ist keiner hungrig geblieben, und keinen hat die Polizei gesucht. Schade, daß du ihm nicht nachgeraten bist.« »Ich hab’ ja auch kein Glück gehabt. Wie sollt’ ich also etwas erreichen?« »Du hast genug Möglichkeiten gehabt. Du bist nur zu faul.« -47-
Sie fächelte sich ein wenig Luft zu und zog ihren Rock hinunter. Dann stemmte sie die Beine gegen das Geländer und machte ihm weiter Vorhaltungen wegen seiner Verlogenheit und Faulheit, seiner Unverschämtheit den Leuten gegenüber, die ihm helfen könnten, und ihre Stimme übertönte das Radio. So wie er sich benehme und wie er die Menschen beleidige, warf sie ihm vor, handelten nur dumme Menschen, und es sei kein Wunder, wenn er immer wieder seine Arbeit verliere. Sie kenne auch ein paar von den Leuten, die er immer heruntermache. Diese Mrs. Breedlove zum Beispiel sei wirklich eine reizende Dame und sehr gutmütig. Wenn er nicht immer so unverschämt wäre, dann könnte… »Wie wär’s mit einer Dose Bier?« unterbrach sie ihre Moralpredigt, die sie selbst zu langweilen schien. Sie ging hinein und brachte ein paar Dosen auf die Veranda. Es war noch immer nicht dunkel, und die Kinder spielten mit viel Gekreische auf dem Hof hinter dem Haus. Thelma ging also ins Haus und drehte das Radio noch lauter auf. »Himmel, dieser Krach!« schimpfte Leroy. »Wenn ich diese Rangen erwische, kriegen sie Dresche.« »Die erwischst du nicht«, meinte Thelma ungerührt. »Sie laufen schneller als du.« Leroy begann wieder vom Daigle-Jungen zu reden, und Thelma warf lachend ihre leere Bierdose über die Veranda auf die Straße. Als er Rhodas Bemerkung wiederholte, stand sie auf und zog ihr Kleid hinunter. »Das war eine kluge Bemerkung«, stellte sie fest. »Aber das ist ein ganz widerwärtiges Ding«, sagte Leroy. »So was wie die hab’ ich mein Leben lang noch nicht gesehen.« Er zündete seine Pfeife an und dachte daran, daß alle Kinder im Park – außer Rhoda – vor ihm Angst hatten, und das wollte er auch. Wenn er sie laut genug anschrie, rannten sie erschreckt davon, und die kleinen Mädchen weinten manchmal sogar. Wenn dann die Mama kam und sich beschwerte, dann -48-
behauptete er, das Mädchen habe Blumen zertrampelt oder den Goldfisch im Seerosenteich zu fangen versucht. Auf Rhoda Penmark machte er aber nie den geringsten Eindruck. Abwarten, dachte er, die rennt noch ebenso schnell wie die anderen vor mir davon. Er kicherte in sich hinein, weil er sich schon jetzt auf diesen Tag freute. Dann spuckte er wieder und diesmal mit besonderem Nachdruck in das Blumenbeet seiner Frau. Thelma verfolgte mit einer Fliegenklatsche die lästigen Moskitos. »Dein Vater hat euch immer ordentlich versorgt, das muß man ihm lassen«, erklärte sie nachdrücklich. »Diese Rhoda Penmark ist ein freches Gör«, sagte Leroy laut. »Aber eins muß man ihr lassen, die klatscht nicht. Was passiert, das bleibt zwischen ihr und mir.« »Hör auf mich«, sagte Thelma. »Du läßt das Mädchen in Ruhe. Hast du mich verstanden, Leroy? Wenn du dich dauernd mit reichen Leuten und ihren Kindern anlegst, hast du nur Schwierigkeiten.« »Ich tu’ ihr ja gar nichts«, trumpfte Leroy auf. »Manchmal ärgere ich sie nur ein bißchen.« »Aber ich sag dir, wenn ich einmal was höre!« Thelma stand auf, rief ihre Kinder und ging in die Küche, um das Abendessen aufzutragen. Leroy blieb noch eine Weile auf den Stufen sitzen und dachte über das Penmark-Mädchen nach. Er hätte verwundert den Kopf geschüttelt, hätte ihm jemand gesagt, daß er auf eine ganz bestimmte Art in das Mädchen verliebt sei, weil er sich über alles, was sie tat, Gedanken machte. Es war ein Teil einer fast perversen und erschreckenden Verehrung. Nach dem Abendessen ging Christine zum Haus der Familie Daigle. Sie wußte noch nicht recht, was sie tun oder sagen sollte. Es dämmerte bereits, als sie die Stufen hinaufging. Der Himmel war dunkelblau und weich, und die ersten Sterne zeigten sich am östlichen Horizont. Mr. Daigle kam an die Tür. -49-
Er war das Großformat seines Sohnes. Er hatte dieselbe blasse, blaugeäderte Stirn und die gleiche zuckende Unterlippe über dem langen Kinn. Die Hand, die er Christine bot, war feucht und kalt. Sie sagte ihren Namen und weshalb sie komme. Sie wolle ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen und ihre Hilfe anbieten, falls sie etwas tun könne. »Jeder, der unseren Sohn kannte, ist in diesem Haus willkommen«, antwortete er mit zitternder Stimme. »Sie sind der erste Besuch«, fuhr er fort und öffnete die Tür weiter. »Wir sind nicht sehr gesellig und haben wenig Freunde.« Das Wohnzimmer war mit viel Geld und schlechtem Geschmack eingerichtet. Überall gab es Bändchen, Schleifchen und Deckchen, alles am falschen Platz. Die Möbel waren falsch gewählt, die Farben stimmten nicht, die Bilder waren schlecht, und selbst der Orientteppich sah beleidigend unecht aus. »Sie müssen entschuldigen, daß es hier so aussieht«, bat Mr. Daigle. »Wir sind eben vom Beerdigungsinstitut nach Hause gekommen. Alles ist ein wenig durcheinander, und Mrs. Daigle fühlt sich gar nicht wohl.« Er klopfte an eine Tür. »Hortense, wir haben Besuch. Eine Dame, die Claude kannte. Ihr Töchterchen ist in seiner Klasse und war mit beim Picknick.« Er wandte sich wieder an Christine. »Bitte, sprechen Sie mit meiner Frau. Vielleicht können Sie irgendwie…» Er ging leise weg, und Mrs. Daigle setzte sich auf. Ihr Haar sah unordentlich aus, ihre Augen waren rot und vom Weinen verschwollen, und sie mußte noch immer unter dem Einfluß eines Beruhigungsmittels stehen, das man ihr gegeben hatte. »Es ist nicht war, daß Claude schwach war und kein Selbstvertrauen hatte, wie manche Leute sagen. Er war natürlich nicht aggressiv, nein, ganz bestimmt nicht. Er war sehr empfindsam, ein künstlerisch veranlagtes Kind, wirklich. Ich würde Ihnen gerne ein paar von seinen Blumenbildern zeigen, aber ich kann es nicht ertragen, sie jetzt anzusehen.« Sie verbarg ihren Kopf in den Kissen und weinte wieder. Christine setzte sich neben sie und nahm Mrs. Daigles kleine, -50-
runde, beringte Hand in die ihre. »Ach, wir hatten einander so lieb«, klagte Claudes Mutter. »Er sagte, ich sei seine Liebste, und dann legte er mir seine Ärmchen um den Hals und erzählte mir jeden Gedanken, den er hatte.« Sie weinte wieder vor sich hin, und erst nach einer Weile konnte sie weitersprechen. »Ich weiß nur nicht, weshalb man die Medaille nicht finden kann. Vielleicht haben die Männer nicht gründlich genug gesucht. Er hing so sehr an ihr, denn es war das einzige Ding, das er je im Leben gewonnen hatte.« Sie weinte wieder bitterlich, und ihre Haare fielen ihr über das Gesicht. »Jemand sagte, die Medaille müsse ihm vom Hemd gefallen sein und sich im Sand vergraben haben, aber das glaube ich nicht. Ich habe ihm die Medaille selbst angesteckt, und der Sicherheitsverschluß war kräftig und ganz in Ordnung.« Sie trocknete ihre Tränen mit einem feuchten Handtuch ab, weinte aber immer weiter. »Ich weiß«, sagte Christine leise. »Oh, ich verstehe es so gut.« »Die Männer suchten nur nicht richtig«, wiederholte Mrs. Daigle. »Ich sage Ihnen, sie sollten noch mal suchen. Ach, zwischen uns bestand ein so einmaliges, wunderbares Verhältnis. Er sagte, ich sei seine Liebste, und wenn er groß sei, würde er mich heiraten. Und er war so gehorsam. Nicht einmal um die Ecke wäre er ohne meine Erlaubnis gegangen. Ich will, daß er mit seiner Medaille beerdigt wird, denn er hätte es auch gewollt. Ich wollte ihm jede nur denkbare Freude machen. Würden Sie bitte den Männern sagen, sie möchten doch bitte noch mal nach der Medaille suchen?«
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Als Christine nach Hause zurückkehrte, hatte sich Rhoda in einem Sessel zusammengekuschelt und lernte ihre Sonntagsschullektion für den folgenden Tag. Mit den kleinen Truby-Mädchen ging sie jeden Sonntag zur Presbyterianerkirche an der Lowell Street. Sie war immer pünktlich und immer aufmerksam. Ihre Lehrerin, Miß Belle Blackwell, belohnte Aufmerksamkeit und Pünktlichkeit, weil sie damit den Eifer der Kinder fördern wollte. Jedes Kind, das also beim zweiten Läuten den Schulraum betreten hatte und den Rückseitentext der illustrierten Karte, die am Sonntag vorher verteilt worden war, wiederzugeben verstand, bekam diese Karte zurück, und Miß Blackwell klebte einen goldenen Schmetterling darauf. Hatte ein Kind zwölf dieser Karten mit den goldenen Schmetterlingen, dann konnte es diese Karten gegen ein ›erfreuliches und lehrreiches‹ Geschenk eintauschen. Die Lektion dieses Sonntags handelte von einer blutigen Geschichte aus dem Alten Testament und sprach von einer Verdammung und grausamen Vernichtung solcher Menschen, die sich bestimmten Vorschriften nicht fügen wollten oder konnten. Als Christine sich neben ihrer Tochter unter die Lampe setzte, aber immer noch über das tragische Geschick des kleinen Claude nachdachte, reichte ihr Rhoda die Karte und bat sie, ihr den Text abzuhören. Christine las ihn durch und schüttelte den Kopf. Gibt es denn überall nur Gewalttaten? dachte sie. Gibt es denn nirgends und niemals Frieden auf der Welt? Sie überlegte, ob man Kindern eigentlich solche Dinge zu lernen aufgeben sollte, aber dann seufzte sie und war überzeugt, daß andere Leute in Fragen des Glaubens wahrscheinlich mehr verstanden -52-
als sie. Rhoda hatte gut gelernt, lächelte ihr zögerndes, seltsames Lächeln und nickte triumphierend. Dann lief sie zu ihrer ›Schatzkiste‹, wie sie sagte, und kam mit elf Schmetterlingskarten zurück, die sie schon verdient hatte. »Ich werde morgen ganz bestimmt einen Preis bekommen«, sagte sie. »Ich bin ganz sicher.« »Und was glaubst du, wird es sein? Etwas Hübsches?« »Wahrscheinlich ist es ein Buch«, antwortete Rhoda. »Miß Belle schenkt fast immer Bücher, weil sie den Verstand schulen, sagt sie.« Man sah ihr an, wie sie schon im voraus den Besitz genoß. Sie legte sorgsam die Karten zusammen, um sie in die Schublade ihres Toilettentisches zurückzubringen. Später las Mrs. Penmark die Abendzeitung und ging frühzeitig zu Bett. Sie konnte allerdings lange nicht einschlafen, weil sie immer Hortense Daigles tränenüberströmtes Gesicht vor sich sah. Aber schließlich fiel sie doch in einen leichten Schlummer, wurde aber von einem Traum aufgeschreckt, dessen sie sich dann nicht mehr erinnern konnte. Sie stand früher als gewöhnlich am Sonntagmorgen auf und bereitete, während die Glocken läuteten, für sich und ihre Tochter das Frühstück. Als Rhoda dann von der Kirche zurückkam, trug sie ein Buch unter dem Arm – ihr Geschenk. Es war ein Buch von Elsie Dinsmore, und Rhoda ging sofort in den Park, um darin zu lesen, als suche sie dort Verständnis für die Werte jener Menschen zu finden, die sie nachzuahmen versuchte, weil sie diese Werte in sich selbst nicht zu finden vermochte. Aber es langweilte sie bald, und so kehrte sie in die Wohnung zurück, setzte sich an das Klavier und übte Tonleitern. Ihre Musiklehrerin sagte, sie habe kein musikalisches Talent, wohl aber Geduld und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie würde später einmal ganz ordentlich spielen, wahrscheinlich sogar sicherer und genauer als Kinder mit Talent. -53-
Mittags brachte die alte Mrs. Forsythe, die an der anderen Gangseite wohnte, ein Tablett mit Zitronentörtchen, die sie eben gebacken hatte. Sie wußte genau, daß die wenigsten Frauen, die nur für sich und ein Kind zu kochen hatten, weil der Mann abwesend war, sich die Mühe solch kleiner Extras machten, und deshalb glaubte sie, Christine und Rhoda würden sich darüber freuen, da sie besonders gut geraten waren. Es war außerdem ein sehr schöner Tag. Wenn also Mrs. Penmark vielleicht ausgehen wollte, dann würde sie gerne ein Auge auf Rhoda haben. Es mache ihr absolut keine Mühe, da ihre Enkelkinder zu ihr kämen, und ein Kind mehr spiele da keine Rolle. Impulsiv drückte Mrs. Penmark der alten Dame einen Kuß auf die Stirn. Mrs. Forsythe war darüber ganz gerührt und sagte zu ihrem Mann, als sie wieder in ihrer Wohnung war: »Christine ist wirklich eine liebenswürdige, reizende Frau. Auch als Nachbarin ist sie sehr angenehm.« Am Montag fand die Beerdigung des Daigle-Jungen statt. In der Abendzeitung war zu lesen, daß sein Grab ›mit Blumen überhäuft war‹, und die Kinder der Fern-Schule hätten das allerschönste Abschiedsgeschenk beigesteuert, eine ganze Decke aus Gardenien, die erst den Sarg bedeckt hatte und dann auf das Grab gelegt wurde. Mrs. Penmark faltete die Zeitung zusammen und ließ sie auf dem Dielentisch liegen. Sie machte sich Gedanken darüber, daß niemand sie um einen Betrag für Rhoda gebeten hatte. Sie hatte die vage Vermutung, das könne vielleicht Absicht gewesen sein. Doch dann dachte sie: Ich lege auf solche Dinge zu großen Wert, aber Absicht war es sicher nicht. Vielleicht hatte eine der Fern-Schwestern in ihrer Abwesenheit angerufen, obwohl sie das nicht für wahrscheinlich hielt. Vielleicht hatte man Rhodas Namen auf die Liste zu setzen vergessen. Vielleicht… Sie beschloß, diesen Vorfall zu übergehen, obwohl er sie schmerzte. Nicht einmal mit Monica oder Emory wollte sie darüber sprechen. Nachmittags ging sie einkaufen, nahm Rhoda -54-
mit und fuhr in die Stadt. Für sich selbst wählte sie ein blaßblaues Abendkleid und für Rhoda kaufte sie Stoff für die herbstlichen Schulkleider. Nach ihrer Rückkehr ging Rhoda in den Park zum Rollschuhlaufen. Christine konnte diese Sache jedoch nicht aus ihren Gedanken verbannen. Einem Impuls nachgebend, wählte sie die Nummer der Schule. Miß Octavia war am Telefon. »Ich las den Zeitungsbericht über die Beerdigung des kleinen Daigle«, sagte Christine, »und über die wunderschöne Gardeniendecke, welche die Schulkinder gestiftet haben. Es tut mir leid, daß ich nicht zu Hause war, als Sie wegen Rhodas Anteil anriefen.« Sie hörte lange nichts außer Miß Ferns leisem Atem, aber sie vermeinte eine gewisse Verlegenheit zu spüren. Schließlich sagte das alte Fräulein fast unhörbar leise: »Es sind so viele Kinder in der Schule. Die Decke war bei weitem nicht so teuer, wie die Zeitungen es hingestellt haben. Bitte, machen Sie sich keine Gedanken darüber. Die Blumen sind schon bezahlt, und das Geld wurde eingesammelt.« »Haben Sie mich wegen der Blumen angerufen?« fragte Christine. »Wenn nicht, dann sollte ich es doch eigentlich wissen.« »Nein, meine Liebe, wir haben Sie nicht angerufen«, erklärte Miß Octavia leise und ruhig. »Nein. Meine Schwestern und ich hielten es für richtiger, es nicht zu tun.« »Ah, ich verstehe«, antwortete Christine. »Wurden auch andere Kinder übergangen, oder haben Sie nur mich nicht angerufen?« »Meine Schwestern und ich dachten, Sie würden lieber persönlich Blumen schicken«, antwortete Miß Fern. Sie schwieg dann eine ganze Weile, als bemühe sie sich, die folgenden Worte sehr genau zu wählen, wenn auch ihre Stimme dann nicht sehr überzeugend klang. »Sie sind ja auch noch nicht lange hier, und Sie wissen selbst, daß es Rhodas erstes Trimester bei uns war.« -55-
»Oh, ich verstehe«, erwiderte Christine. »Aber warum dachten Sie, ich würde lieber persönlich Blumen schicken? Rhoda war mit dem Jungen nicht befreundet, und mein Mann und ich kannten die Daigles überhaupt nicht.« »Ich weiß nicht, meine Liebe«, sagte Miß Fern. »Selbst wenn mein Leben davon abhinge, könnte ich Ihnen keine erschöpfende und ehrliche Antwort geben. Aber verzeihen Sie bitte, ich muß jetzt gehen. Wir haben Gäste, und es wird ihnen merkwürdig vorkommen, wenn ich so lange ausbleibe.« Verwirrt und bedrückt legte Mrs. Penmark den Hörer auf. Sie verstand die Untertöne nicht. Sie mußte sich also damit begnügen, daß es ein Versehen war. Ihrem Mann wollte sie davon nichts schreiben, denn Kenneth hatte auch seine Probleme, und sie durften ihn nicht mit den ihren belasten. Sie setzte sich also an ihren Sehreibtisch und schrieb ihm einen fröhlichen Brief mit liebenswürdigem Klatsch über Leute, die sie beide kannten, wie sehr sie ihn vermißte, wie sehr sie aber von dem Gedanken getröstet werde, daß sie so viele glückliche Jahre vor sich hätten, die keine Trennung mehr von ihnen verlangten; und sie sagte ihm in jedem Satz, wie sehr sie ihn liebte. Ich werde den kleinen Daigle und alles, was mit ihm zusammenhängt, aus meinem Gedächtnis streichen, sagte sie zu sich selbst. Es war ein schreckliches Unglück, aber weshalb sollte ich mich davon so sehr niederdrücken lassen? Eine Woche später erhielt Mrs. Penmark einen Brief von der Fern-Schule. Er war sehr höflich und kurz gehalten und erklärte ohne Umschweife, daß die Schule zu ihrem Bedauern voll besetzt sei, so daß es sich leider nicht machen ließe, für Rhoda im Herbst einen Platz freizuhalten. Es werde Mr. und Mrs. Penmark wohl nicht allzu schwerfallen, eine andere Schule für das Kind zu finden. Mit nochmaligem Bedauern und besten Wünschen verbleibe die Schreiberin die sehr ergebene -56-
Burgess Witherspoon Fern. Dieser Brief ging Christine nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag zeigte sie ihn Mrs. Breedlove und bat sie um ihren Rat. »Je länger ich lebe«, antwortete Mrs. Breedlove, »desto weniger vermag ich die kleinen Geister jener Menschen von der Art der Fern-Schwestern zu verstehen. Die Wahrheit ist doch, daß Rhoda für sie zu charmant, zu klug und zu wenig durchschnittlich ist! Rhoda ist eben anders als diese kleinen, einfältigen Neurotiker, die immer alles glauben, was man ihnen vorsagt und niemals eines eigenen Gedankens fähig sind. Rhoda steht auf ihren eigenen Füßen, fällt ihre Entscheidungen selbst und ist schon jetzt eine in sich geschlossene Persönlichkeit. Vergleicht man andere Kinder mit ihr, dann wirken diese dumm und zurückgeblieben. Das ist der wahre Grund!« Sie zündete eine Zigarette an, um ihren eigenen Ärger abzureagieren. Monica liebt Rhoda, dachte Christine, und mich auch. Wenn sie jemanden liebt, sieht sie an diesen Menschen nicht den leisesten Makel. Sie ist absolut loyal. Es ist wundervoll, solche Freunde zu haben. »Ich an Ihrer Stelle«, fuhr Mrs. Breedlove fort, »würde Rhoda im nächsten Vierteljahr in die städtische Schule schicken. Wenn Sie allerdings der Meinung sind, dort habe sie nicht den richtigen Umgang, dann müssen wir für sie einen Privatlehrer finden. Jetzt würde ich jedenfalls nicht darüber nachgrübeln und auch diesen unverschämten Brief nicht beantworten.« Aber Christine brachte dieses Gefühl panischer Angst nicht mehr los. Die Sache in Baltimore schien sich hier zu wiederholen. Nein, sagte sie zu sich selbst, so ist es doch nicht. Man hätte es mir schon lange gesagt, wenn es so wäre. Trotzdem hatte sie das Gefühl, es spielten hier Dinge mit, die man ihr vorenthielt und die sie deshalb nicht verstehen konnte. Am dritten Nachmittag ertrug sie diese Ungewißheit nicht mehr und rief die Schule an. So ruhig und objektiv wie möglich bat sie um einen Termin, da sie sich gerne mit den Schwestern über -57-
diese Sache aussprechen möchte. Miß Claudia führte sie in den großen Salon und erklärte dazu in einem Anflug von Vorwurf: »Um diese Jahreszeit sind wir ja sonst immer in Benedict, aber der Tod des kleinen Daigle hat uns den Sommer ruiniert.« »Ich werde niemals wieder dorthin gehen«, erklärte Miß Octavia mit Bestimmtheit. »Für mich hat dieser Ort jetzt jeden Reiz verloren.« Sie zog an einer Glockenschnur, und fast sofort erschien ein Hausmädchen mit Tee, Brot und Butter. Kaum waren sie wieder allein, platzte Christine, ihrer eigenen Meinung nach viel zu unvermittelt, mit der Bemerkung heraus, daß sie der Ansicht sei, der Tod des Jungen und die Entlassung Rhodas aus der Schule stünden irgendwie in einem ihr unbekannten Zusammenhang. Sie wolle nun wissen, ob ihre Ahnung, die sie sehr störe, richtig sei. »Wie kommen Sie auf den Gedanken, es könnte hier Zusammenhänge geben?« fragte Miß Octavia. »Meine Schwestern und ich haben mit Sicherheit nichts dergleichen geäußert.« »Dann kann ich also beruhigt sein und annehmen, daß es keinen Zusammenhang gibt?« Miß Octavia nippte an ihrem Tee und sagte, sie habe gehofft, genau diese Situation vermeiden zu können. Niemandem sei damit gedient, wenn man weiter darüber diskutiere, da aber Mrs. Penmark von sich aus diese Frage angeschnitten habe, müsse sie zugeben, daß es einen gebe, sogar einen recht gravierenden. »Die Busse waren kaum angefahren«, berichtete Miß Burgess, »als Rhoda den Jungen schon zu quälen begann. Sie gab einfach keine Ruhe mehr. Sie lehnte sich über seinen Sitz, blies ihm ihren Atem in den Nacken und starrte ununterbrochen die Medaille an. Dem Kind neben Claude wurde das zu unangenehm. Es stand auf, so daß also Rhoda den Platz neben dem Daigle-Jungen einnehmen konnte. Sie verlangte, Claude -58-
solle die Medaille abnehmen und ihr zum Halten geben. Aber er legte seine Hand darüber und sagte nur immer wieder: ›Laß mich in Ruhe! Laß mich in Ruhe!‹« »Sie wurde schließlich so lästig«, fiel nun Miß Claudia ein, »daß ich ihr einen Platz beim Fahrer anweisen mußte, so weit von Claude entfernt, wie es möglich war. Aber selbst hier drehte sie ständig den Kopf nach hinten und ließ die Medaille nicht aus den Augen.« Mrs. Penmark seufzte. »Ich weiß, Rhoda ist ein recht aggressives und selbstsüchtiges Kind, aber die Welt ist voll solcher Menschen. Mein Mann hofft ebenso wie ich, daß sie diese Untugenden im Laufe der Zeit ablegt.« »Das ist, fürchte ich, noch nicht alles«, erklärte Burgess Fern. »Kaum waren wir an der Bucht, lief Rhoda ununterbrochen hinter dem Jungen her und quälte ihn damit bis aufs Blut. Sie sagte kein Wort zu ihm, sondern starrte nur immer die Medaille an. Schließlich begann der Junge, der ja niemals besonders widerstandsfähig war, wie wir wußten, zu zittern. Ich rief ihn zu mir und sagte ihm, er solle nicht auf Rhoda achten. Daraufhin tat er etwas, das mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Er nahm die Medaille ab und bat mich, sie für ihn aufzuheben.« »Haben Sie das getan? Dann ist sie also doch nicht verlorengegangen?« »Nein, ich tat eben nicht das, worum er mich bat, sondern steckte ihm die Medaille wieder an sein Hemd und riet ihm, er solle ein bißchen mehr Selbstvertrauen aufbringen. Er habe sie ehrlich gewonnen und deshalb das Recht, sie auch zu tragen.« Sie ging zum Fenster und sah in den Garten hinaus. »Anschließend rief ich Rhoda zu mir und redete ihr ins Gewissen. Ihr Benehmen, hielt ich ihr vor, sei unverzeihlich und bei weitem nicht das, was wir von unseren Schülern erwarten.« Nun erzählte Miß Claudia weiter: »Ich kam dazu und hielt Rhoda eine Standpauke über Höflichkeit und Fairneß. Sie sah -59-
mich aber nur mit jenem seltsamen, berechnenden Ausdruck an, den wir alle an ihr kennen, aber sie sagte nichts.« »Sie ist nicht leicht zu verstehen«, gab Christine zu. »Ich hoffte, etwas Eindruck auf sie gemacht zu haben, aber etwa eine Stunde später sah eine der älteren Schülerinnen Rhoda mit dem kleinen Daigle in einer etwas abgelegenen Ecke. Der Junge weinte, denn Rhoda stand vor ihm und schnitt ihm den Weg ab. Die beiden sahen das Mädchen nicht, da es zwischen den Bäumen stand. Rhoda stieß den kleinen Daigle und griff nach der Medaille, aber er konnte sich losmachen und davonrennen, ehe das andere Mädchen eingreifen konnte. Claude rannte auf die verlassene Werft zu, in deren Nähe man ihn später fand. Rhoda folgte ihm langsam. Das große Mädchen sagte, sie habe sich Zeit gelassen.« »Wäre es nicht möglich, daß das Mädchen nicht die Wahrheit sagt?« »Das ist äußerst unwahrscheinlich. Sie gehörte zu jenen, die auf die jüngeren Kinder mit aufpassen sollten, ist fast fünfzehn und seit der Kindergartenzeit bei uns. Wir kennen sie sehr genau und wissen, daß ihr Charakter absolut untadelig ist. Nein, nein, Mrs. Penmark, sie erzählte genau das, was sie sah.« Nun ergriff wieder Miß Octavia das Wort. »Etwas später, es muß um die Mittagszeit gewesen sein, sah einer der Strandwächter Rhoda von der Werft kommen. Er rief ihr eine Warnung zu und wollte ihr schon entgegenlaufen, aber dann war sie schon wieder am Strand, so daß er die Angelegenheit auf sich beruhen ließ, weil sie ihm nicht mehr wichtig erschien.« Natürlich habe der Strandwächter Rhodas Namen nicht gekannt, denn er kannte die Kinder sowieso nur vom Sehen. Darüber hinaus war er zu weit entfernt, um Gesichter mit Bestimmtheit erkennen zu können. Eindeutig erwähnt hatte er aber ein Mädchen in einem rötlichen Kleid, und Rhoda war an jenem Tag das einzige Mädchen gewesen, das ein Kleid -60-
getragen hatte. Also mußte es Rhoda gewesen sein, die er gesehen hatte. Miß Octavia nahm ihren Spaniel auf, der winselnd und vor Altersschwäche keuchend angelaufen kam. »Wie ich schon sagte«, fuhr sie dann fort, »hat der Strandwächter Rhoda gegen Mittag an der Werft gesehen. Um ein Uhr wurde zum Essen geläutet. Als die Anwesenheitsliste kontrolliert wurde, fehlte Claude. Alles andere wissen Sie ja, glaube ich.« »Ja. Ich hörte die Meldung im Rundfunk.« Sie spielte nervös am Verschluß ihrer Handtasche, denn ihr fiel wieder ein, was vor einem Jahr in Baltimore geschehen war. Eines der Kinder des Hauses, in dem sie wohnten, besaß ein Hündchen, und Rhoda wollte sofort auch eines haben. Die Eltern kauften also den kleinen Drahthaarterrier, den sie sich ausgesucht hatte. Sie waren sehr glücklich darüber, daß Rhoda auch für etwas anderes Interesse zeigte als nur für sich selbst. Anfangs hatte sie auch viel Freude daran, nahm ihn überall mit und erzählte allen möglichen und unmöglichen Leuten, was er zu essen bekäme und welchen Stammbaum er habe. Dann aber wurde ihr klar, daß man von ihr erwartete, sie solle sich auch ein wenig um die Pflege des Hundes kümmern. Kenneth war der Meinung gewesen, sie lerne dabei Verantwortungsbewußtsein und Fürsorglichkeit. Rhoda mußte natürlich das Lesen, das Klavierüben und ihr geliebtes Puzzle zurückstellen, und trotzdem gelang es dem Tierchen irgendwie, von einem Fensterbrett in den Hof zu fallen. Christine hörte das Wimmern des Hündchens und ging in Rhodas Zimmer. Das Kind lehnte aus dem Fenster und beobachtete interessiert aber leidenschaftslos etwas unten im Hof. Als sie selbst ans Fenster trat, sah sie drei Stockwerke tiefer den kleinen Terrier mit zerschmettertem Rückgrat liegen. »Was ist denn mit dem Hündchen passiert?« fragte sie, aber Rhoda war weggegangen, als gehe sie das Tierchen nichts an. »Ich glaube, er ist aus dem Fenster gefallen«, erklärte sie ungerührt. -61-
Mehr war aus dem Kind nicht herauszuholen. Jetzt, da ihr dieser Vorfall wieder vor Augen stand und ihr Gefühl eine Parallele zwischen diesen beiden Geschehnissen fand, wurde Mrs. Penmark plötzlich sehr zornig. Sie sah sich um, als erwarte sie, daß jemand sie angreifen wolle. Sie stellte sorgfältig die Tasse zurück, die sie noch in der Hand gehalten hatte, schloß die Augen und wartete so lange, bis sie überzeugt sein konnte, daß ihre Stimme wieder ruhig und beherrscht klang. »Wollen Sie damit andeuten, daß Rhoda etwas mit dem Tod des Jungen zu tun haben könnte? Hatten Sie das beabsichtigt?« Diese Worte hatten eine seltsame Wirkung auf die Schwestern Fern. Sie sahen einander erstaunt an, als wollten sie ihrem Gast widersprechen. »Nein, natürlich nicht!« versicherte Miß Octavia entsetzt. »Das ist doch ausgeschlossen! Ein achtjähriges Kind, das mit einer solchen Sache zu tun hätte? Oh, nein! Solche Überlegungen liegen uns fern.« »Wir wären ja verpflichtet gewesen, es den Behörden zu melden, hätten wir so etwas gedacht«, warf Miß Claudia ein. Miß Burgess lächelte. »Nein, Mrs. Penmark, so melodramatisch denken wir nicht. Wir beklagen uns nur darüber, daß Rhoda nicht die ganze Wahrheit sagte und unseren Fragen auswich. Wir sind überzeugt, daß sie etwas weiß, was sie keinem Menschen gesagt hat.« Miß Octavia brach ein Stückchen Butterbrot ab und gab es ihrem Hund. Sie versicherte Mrs. Penmark, sie seien Rhoda gegenüber alle absolut fair gewesen, und sie habe jede nur denkbare Möglichkeit gehabt, etwas zu erklären. Man habe sie nach der Tragödie natürlich nachdrücklich ausgefragt, aber sie habe ohne mit der Wimper zu zucken geleugnet, etwas zu wissen. Sie habe sogar abgestritten, daß sie den Jungen im Bus gequält habe, auch daß sie versucht habe, ihm die Medaille wegzunehmen. Auf der Werft sei sie niemals gewesen. Sie habe so unschuldig getan und so überzeugend abgestritten, etwas zu wissen, daß die Schwestern schließlich sogar an dem zweifelten, -62-
was sie selbst gesehen und gehört hatten. »Ja, ich verstehe«, sagte Christine, hörte aber dann kaum mehr, was die Schwestern Fern sprachen, denn ihr Geist war erneut mit einem Vorfall in Baltimore beschäftigt. Daß Rhoda damals die Schule verlassen mußte, hatte ihr Mann betont auf die leichte Schulter genommen, vielleicht ihretwegen. Jedes Kind klaut einmal, und er selbst habe es auch getan, hatte er gesagt, und trotzdem werden aus den meisten Kindern ordentliche Menschen. Und daß Rhoda gelogen hatte – das tun auch die meisten, besonders die phantasiebegabten unter ihnen. Sie hatten sich beide an diese Erklärung geklammert und sich damit getröstet, obwohl sie im tiefsten Herzen die Unterschiede kannten. Sicher, als Kind stiehlt man Obst und Blumen aus fremden Gärten und Anlagen, und Lügen entspringen meistens der Zauberwelt, die sich das Kind mit seiner Phantasie vorgaukelt, aber weder das eine noch das andere traf auf Rhoda zu. Sie war an materiellen Dingen um ihrer selbst willen interessiert, und ihre Lügen waren die raffinierten Unwahrheiten Erwachsener, die bewußt ihre Mitmenschen damit in die Irre führen wollen. Sie kehrte wieder in die Realität zurück, als sie Miß Burgess sagen hörte: »Es tut uns unendlich leid, daß Rhodas Zugehörigkeit zu unserer Schule auf diese Art enden mußte. Wir können aber nicht anders, denn wir müssen auch die Interessen der anderen Schüler im Auge behalten. Rhoda übt keinen guten Einfluß aus.« »Wir sind auch der Meinung«, erklärte Miß Claudia, »daß wir ein Kind vom Temperament Ihrer Tochter nicht verstehen und deshalb nicht damit fertig werden. Wir können nichts mehr für sie tun.« Miß Octavia erhob sich, als wolle sie die Unterhaltung beenden. »Wir sind auch überzeugt, daß Ihr Töchterchen irgendwo anders glücklicher ist als bei uns. Offen gestanden, wir wollen sie nicht mehr in unserer Schule haben.« -63-
Christine war sehr bedrückt und auch ängstlich, als sie nach Hause zurückkehrte. Um sich zu beruhigen, brühte sie sich eine Tasse Tee auf, die sie am Küchentisch sitzend trank. Von dort aus konnte sie den Spielplatz und den großen, gepflasterten Hof hinter dem Haus überschauen. Im Park, wo die Kinder des Hauses und der Nachbarschaft spielen durften, schaukelten sie, liefen Rollschuh, planschten im Seerosenteich oder lärmten und lachten. Auch Rhoda war im Park, aber sie hielt sich abseits von den anderen. Sie saß auf einer Bank neben dem alten Granatapfelbaum und las das Buch von Elsie Dinsmore, das sie in der Sonntagsschule als Preis gewonnen hatte. Dann kam Leroy Jessup mit einem Eimer voll Asche aus dem Heizungskeller. Er blieb stehen, drohte den Kindern, die im Seerosenteich herumwateten, weil sie immer die Blüten abrissen und stellte ihnen eine gehörige Tracht Prügel von ihren Müttern in Aussicht. Dann hob er anklagend die Augen zum Himmel und verschwand aus Mrs. Penmarks Blickfeld. Allmählich fühlte sie sich wohler, und ihre Depression löste sich in der angenehmen Wärme des Tees auf. Schließlich hatten ihr ja die Schwestern Fern nichts gesagt, was sie nicht schon gewußt hatte; daß Rhoda sich immer von den anderen absonderte, daß sie immer ausweichende Antworten gab und Ausreden hatte; daß sie die Unschuldige spielte, wenn man sie ertappte; daß sie geradezu unverschämt log – sie und Kenneth setzte das alles nicht mehr in Erstaunen. Diese Anschuldigungen, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, waren natürlich so oder so auszulegen. Sie zweifelte nicht daran, daß Rhoda den kleinen Daigle gequält hatte, oder daß sie ihm die Medaille wegnehmen wollte, auch daran nicht, daß sie alles mit steinernem Gesicht ableugnete. Aber Claude Daigle war ja auch, wie jeder sehen konnte, das geborene Opfer der Frechheiten anderer und gehörte zu jenen, die – kraß ausgedrückt – auf der Welt herumlaufen und die anderen einladen, sie umzubringen. Daß Rhoda ihm gegenüber -64-
gewalttätig geworden war, lag ihrer Meinung nach nicht im Charakter des Kindes. Einem mutigen und selbstbewußten Kind gegenüber hätte sie so etwas nie gewagt, denn dann hätte sie ja damit rechnen müssen, verprügelt zu werden. Selbstverständlich versuchte sie damit nicht ihr Kind reinzuwaschen, denn das, was Rhoda getan hatte, konnte sie nicht billigen. Sie sagte sich nur selbst vor, daß die Sache doch bei weitem nicht so schlimm war, wie sie gefürchtet hatte. Rhoda war schließlich ihr Kind, und sie liebte es. Sie hatte auch die Pflicht, ihr Kind zu beschützen und im Zweifelsfall zu ihm zu halten. Sie wusch ihre Teetasse ab, räumte sie auf und war nun fast schon wieder getröstet. Man mußte Vertrauen in die Zukunft haben und darauf hoffen, daß sich alles zum Guten wenden würde. Dann rief sie Monica an, um ihr zu berichten, daß sie ihren Rat annehmen und Rhoda im Herbst in die städtische Schule schicken wolle. Mrs. Breedlove beglückwünschte sie überschwenglich zu diesem Entschluß, fügte dann aber leiser hinzu, daß Mildred Trellis und Edith Marcusson bei ihr zu Besuch seien. Es ginge um die Einrichtung einer Klinik für Alkoholiker. Die beiden Mädchen seien reizend, stammten aus erstklassigen Familien und wüßten nicht wohin mit ihrem Geld. Dumm sei nur, daß Emory früher als erwartet nach Hause gekommen sei und Reginald Tasker mitgebracht habe, und das störe nun ihre Pläne. Emory habe schon in der Stadt einiges getrunken und sei nun ziemlich angeheitert. Nein, nein, gemein benehme er sich nicht und gebrauche auch keine unanständigen Worte, obwohl das ihre sehr belesenen Freundinnen keineswegs stören würde, aber die beiden hätten sich hinter den großen Farn zurückgezogen und machten törichte Bemerkungen hinter der vorgehaltenen Hand. Was aber noch schlimmer sei, wäre die Tatsache, daß Emory die Gläser der Besucherinnen ununterbrochen nachfülle. Könne Christine die beiden Männer nicht ein bißchen ablenken, damit sie ihre reichen Freundinnen -65-
gehörig in die Zange nehmen könne? »Ziehen Sie Ihre hübschen neuen Schuhe mit den hohen Absätzen und den Schleifchen an. Emory bewundert Sie ungemein. Er sagt, Sie hätten die hübschesten Beine der ganzen Stadt.« Die Männer nahmen sie an der Wohnungstür in Empfang, führten sie in die Küche und mixten ihr einen Drink. »Wie kommt es eigentlich, daß wirklich hübsche Mädchen, wie zum Beispiel Christine, niemals mit ihrem Unterbewußtsein hausieren gehen?« fragte Reginald, Emory gab ihr einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Christinchen hat es nicht nötig, was, Junge? Nein, sie nicht.« »Die Romane über gefühlsduselige Jungen und ihre ersten sexuellen Erfahrungen habe ich langsam satt«, sagte Monica im Wohnzimmer. »Du weißt doch, wie es ist, Edith. Sie schleichen angewidert nach Hause, fühlen sich degradiert und schuldbewußt und manche springen sogar aus dem Fenster. Sie sind alle ungemein sensibel und zart besaitet.« Mrs. Marcusson nahm einen tüchtigen Schluck Sherry und antwortete düster: »Sex ist eine normale und gesunde Angelegenheit.« Eines von Reginalds langen, blassen Augen saß eine Spur tiefer als das andere, so daß er ein wenig wie eine junge Scholle aussah. Er tätschelte Christines Schulter. »Sagen Sie, Verehrteste, sind Sie das unter dieser schwarzen Seide wirklich alles selbst?« Christine nahm ihren Drink und antwortete ernst: »Nein, ich lasse zweimal wöchentlich den Sattler kommen, von dem unsere Polstermöbel stammen. Der richtet mich immer wieder her.« Sie lachte und entzog sich ihm. Da fiel ihr ein: Vielleicht ist Rhoda mit dem Jungen oder hinter ihm zum Strand gegangen. Dann rannte er zur Werft, um ihr zu entkommen, aber sie folgte ihm auch dorthin. Er muß wohl wieder versucht haben, sie -66-
abzuschütteln; dabei fiel er dann zwischen die Bretterstapel. Ich weiß nicht, ob es so war, aber es ist jedenfalls das Allerschlimmste, dem ich mich je gegenübersah. »Ich möchte nur zu gerne einmal ein Buch über einen Jungen lesen, der absolut nicht fein und überzüchtet ist«, ließ sich Mrs. Breedlove wieder vernehmen. Sie nahm ein Schlückchen aus ihrem Glas und kicherte. »Mein Junge wäre ein ganz gewöhnlicher, frecher Bengel, der ein ganz gewöhnlicher, frecher junger Mann wird, wenn er älter ist. Nach der Schule arbeitet er bei einem Lebensmittelhändler und spart sich seine Cents, bis er genug hat, um zur Stadthure zu gehen. Die ist alt und fett und hat seit ewigen Zeiten kein Bad mehr von innen gesehen.« Mrs. Trellis lachte schallend und bemerkte erst später, wie ihr Lachen geklungen haben mußte. Sie setzte sich also wieder gerade und gesetzt hin. »Wenn du dieses Buch schreibst«, sagte sie, »dann kaufe ich dir tausend Stück davon ab.« Wenn der Junge, dachte Christine weiter, beim Zurücktreten in das Wasser gefallen ist, warum hat Rhoda, wenn sie doch dort war, den Strandwächter, der sie gesehen hatte, nicht zu Hilfe gerufen? Warum lief sie einfach weg? Warum ließ sie den Jungen sterben? Sie erschauerte innerlich. Nein, sagte sie zu sich selbst, ich will nicht mehr daran denken. Es ist alles so grauenhaft. »Mein frecher Durchschnittsjunge«, sagte Mrs. Breedlove, »rollt die Augen und grinst, wenn er die Hure verläßt. Er pfeift vor sich hin und geht auch ein wenig unsicher; ein paar Tropfen zuviel. Er überlegt sich, ob er seinen alten Herrn nicht dazu überreden kann, daß er ihn aus der Schule nimmt. Dann könnte er den ganzen Tag in der Sackfabrik arbeiten. Dort verdient er viel mehr als bei seinem Lebensmittelhändler und kann also öfter die alte, fette Hure besuchen, die ihm eben die Jungfernschaft genommen hat. Mein Junge wird ein netter, normaler Junge sein!« -67-
»Wenn ihr Mädchen jetzt mit schmutzigen Reden anfangt«, rief Emory, »dann muß ich mit Reggie den Raum verlassen!« Darüber lachten sich die drei halbtot, und Monica rief ihm zu, er solle endlich wieder einmal an die Gäste denken und eine neue Flasche aufmachen, damit man endlich zum Geschäft kommen könne. Sie wandte sich an Mrs. Marcusson. »Weißt du, meine Liebe, ich muß mich für Emory entschuldigen. Er ist betrunken!« Emory hörte das natürlich, ließ einen Eiswürfel fallen, schob ihn unter den Teppich und pflaumte seine Schwester an: »Na, du mußt gerade reden!« Er goß den Sherry ein. Christine unterhielt sich inzwischen mit Reginald. Sie berichtete ihm, sie habe über die kürzliche Unterhaltung nachgedacht. Damals habe er die Geschichte der Frau erzählt, die ihre Nichte wegen einer Versicherungssumme vergiftet habe. Sie würde nun zu gerne wissen, wann diese Menschen mit solchen Dingen anfingen, ob Kinder jemals solche und ähnliche Morde begingen, oder ob nur Erwachsene solcher Taten fähig seien. Reginald war zwar der Meinung, für eine ernsthafte Unterhaltung über ein solches Thema sei jetzt nicht gerade der richtige Zeitpunkt, doch wenn sie wirklich an der Beantwortung ihrer Fragen interessiert sei, könne sie ihn doch anrufen oder, noch besser, einmal zum Mittagessen zu ihm in die Wohnung kommen. Trotz der hier herrschenden leicht alkoholisierten Stimmung möchte er aber sagen, daß relativ häufig Morde von Kindern begangen werden, besonders von sehr intelligenten. Einige Mörder, die in die Kriminalgeschichte eingegangen seien, hätten damit schon in ihrer Kindheit angefangen. Sie zeigten ihre ›Begabung‹ ebenso frühzeitig wie große Dichter, Musiker oder Mathematiker. »Ich habe mich oft gewundert, daß ich Norman Breedlove geheiratet habe«, sagte Monica in das kurze Schweigen hinein. »Später kam ich dann zu der Einsicht, daß sein Name mich angezogen hatte. Meine erste Gedankenverbindung zu Norman -68-
ist ›normal‹, und dieses Wort ist irgendwie beruhigend. Der Unterschied besteht ja nur in einem Konsonanten. Die nachdenklichen und besorgten Menschen meiner Generation hielten allgemein nach ›Normalität‹ Ausschau.« Mrs. Trellis drohte Emory. »Wo ist der Sherry, Emory? Was haben Sie mit dem Sherry gemacht, Emory?« Mrs. Marcusson, die weniger wie eine reiche Frau aussah, sondern eher wie eine Bäuerin, die in der Stadt ihr Gemüse verkauft, schob ihren alten Strohhut tiefer in die Stirn. »Ich möchte nur wissen, worüber die heutige Jugend redet. Wir haben seinerzeit doch unermüdlich über Sex und soziale Verbesserungen diskutiert. Heutzutage, scheint mir, hat die Jugend nur zwei Gesprächsthemen – Fernsehen und Canasta.« Monica wartete geduldig, bis ihre Freundin ausgeredet hatte und fuhr dann mit ihrem Thema fort: »Das Wort ›breed‹ schafft bei mir eine Gedankenverbindung zu ›vermehren‹, und ›love‹ ist nichts anderes als ›Liebe‹. Das liegt doch alles auf der Hand. Die Kombination Norman Breedlove ist für mich also ein Mann, der normal und von ordentlichen Grundsätzen ist und der darüber hinaus seine Liebe immer mehr zu steigern versteht. Denkt man hinterher darüber nach, dann ist die Sache glasklar. Ich wundere mich nur, daß mir das vorher nie eingefallen ist.« »Und ich dachte«, bemerkte Emory, »du hättest Norman Breedlove nur deshalb geheiratet, weil er der einzige war, der dich darum gebeten hat.« Er lachte schallend und schnitt damit die scharfe Antwort seiner Schwester ab. »Ich fürchte nur, unsere Christine mit den großen grauen Augen und dem wunderschönen Blondhaar mußte die Jungen, die sie bedrängten, mit dem Regenschirm abwehren.« »Da irren Sie aber gewaltig!« erklärte Christine. »Ich war nie sehr beliebt, sondern viel zu ernst und nachdenklich für die jungen Männer.« Mrs. Trellis lachte, Mrs. Marcusson kicherte. »Ach, war das -69-
ein reizender, anregender Nachmittag, Monica«, stellte Mrs. Trellis fest. »Aber jetzt zerbrich dir nicht mehr länger den Kopf darüber, was du aus Edith und mir herausholen kannst. Wir haben nämlich ausführlich darüber gesprochen, ehe wir herkamen. Vielleicht hast du dir ein bißchen mehr vorgestellt, aber es ist immer noch ein recht hübsches Sümmchen, das du von uns bekommen wirst.« »Die drei alten Eulen sind stockbesoffen«, verkündete Emory laut und deutlich. »Jede hat mindestens eineinhalb Flaschen von diesem Sherry intus.« Die drei alten Eulen erhoben sich und schauten ihn böse an. Monica hielt sich an ihrer Sessellehne fest, setzte ihre Brille auf und schlug vor: »Kommt, ihr beiden, wir gehen in die Bibliothek. Dort haben wir unsere Ruhe. Schreibzeug und Überweisungsformulare für jede Bank in der Stadt sind auch vorhanden.« Monica legte den beiden Freundinnen die Arme um die Schultern, und so verließen sie lachend das Wohnzimmer. Christine stellte ihren Drink auf den Tisch. Angenommen, überlegte sie, Rhoda folgte Claude bis zum Ende der Werft. Claude warf dann lieber die Medaille ins Wasser, ehe er sie Rhoda überließ. Rhoda hat dann vielleicht einen Stock oder so etwas genommen, damit nach ihm gestoßen oder ihn geschlagen, so daß er ins Wasser fiel und möglicherweise so benommen war, daß er nicht mehr aufstehen konnte. Rhoda hat ihn dann seinem Schicksal überlassen. Angenommen… Sie krampfte ihre Hände um die Armstützen ihres Sessels, denn Verzweiflung und Schuldbewußtsein nahmen ihr fast den Atem. Sie stand auf und erklärte, sie müsse jetzt wieder in ihre Wohnung zurück, denn Rhoda komme bald vom Spielen nach Hause. Dann rief sie Monica zu, sie gehe jetzt, worauf Mrs. Breedlove sofort in das Wohnzimmer zurückkam. »Haben Sie denn keine Angst, im Erdgeschoß zu wohnen?« fragte Reggie. »Eine hübsche Frau wie Sie, ohne männlichen Schutz…« -70-
»Es ist doch eigentlich gar kein Erdgeschoß«, berichtigte Monica, »eher doch Hochparterre. Darunter ist der Keller, der fast ganz über der Erde liegt, und Christines Fenster beginnen etwa drei Meter über der Straße.« »Ich fürchte mich nicht«, erklärte Christine. »Kenneth kaufte mir eine Pistole, und ich kann durchaus mit ihr umgehen.« Sie lächelte. »Ich war überrascht, daß hier jeder eine Pistole kaufen kann, der eine will. In New York ist der Besitz einer Pistole ein fluchwürdiges Verbrechen.« »Man braucht dort einen Waffenschein«, sagte Emory. »Das heißt, jeder außer dem Verbrecher, der auf einen schießt. In diesem Staat hier sind wir zivilisierter. Wir glauben daran, daß auch das Opfer eine Chance haben soll.« In ihrer Wohnung blieb Mrs. Penmark eine ganze Weile stehen. »Alles ist in Ordnung«, flüsterte sie vor sich hin, als könne die Verneinung all dessen, was sie bedrückte, sie tatsächlich beruhigen. »Es gibt nichts, worüber ich mir Sorgen zu machen hätte. Ich bausche alles nur auf, wie ich es ja immer tue. Oh, ich bin ja so töricht!« In den nach Osten liegenden Räumen wurde es schon ein wenig düster, und sie drehte das Licht an. Meine Mutter lachte immer über mich und sagte, erinnerte sie sich, ich würde aus jedem Mäuschen einen Elefanten machen, ohne mich dabei anzustrengen. Einmal, das weiß ich noch wie heute, sprach meine Mutter in einem Hotel in London mit einigen Bekannten und legte mir dabei den Arm um die mageren Schultern. Sie war ja eine so warmherzige und liebevolle Frau! Ja, sie sagte: ›Christine grämt sich über die merkwürdigsten Dinge.‹ Heute weiß ich nicht mehr, worauf sie sich bezog, aber damals wußte ich es natürlich. Sie ging in der Wohnung herum und widmete sich den kleinen Aufgaben, die der Nachmittag mit sich brachte. Im Wohnzimmer blieb sie aber erneut stehen und schüttelte den -71-
Kopf. Nein, es gibt keinen Grund zu der Annahme, Rhoda habe etwas mit dem Tod des Daigle-Jungen zu tun. Dafür liegt nicht der geringste Beweis vor. Ich weiß nicht, weshalb ich mich so seltsam benehme. Man könnte meinen, ich erhebe gegen mein eigenes Kind eine so schwerwiegende Anklage, die sich lediglich auf meine eigene Unvernunft gründet… Plötzlich drohten ihr die Beine zu versagen. Sie setzte sich und legte den Kopf auf die Lehne des Sessels, denn sie wußte, daß eine Sache, die sie unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis gelöscht zu haben glaubte, wieder aus dem Unterbewußtsein auftauchte. Es waren ja nicht nur die ungeklärten Umstände beim Tod des kleinen Daigle, die ihre so mühsam aufrechterhaltene Heiterkeit zu erschüttern drohten. Es kam noch ein weiterer Todesfall hinzu, dessen Zeugin, dessen einzige Zeugin ihre Tochter gewesen war und der sich ebensowenig klären ließ wie der des Daigle-Jungen. Jeder Fall für sich allein gesehen konnte als unglücklicher Zufall gelten, wie er jedem Menschen einmal zustoßen kann. Zusammengenommen und mit Parallelen, die zu auffällig waren, als daß man sie übersehen konnte, zeichnete sich hier etwas ab, das zu einem zwingenden Schluß führte, der sich mit Vernunftgründen nicht wegdiskutieren ließ. Dieser erste Todesfall fiel noch in die Zeit in Baltimore. Rhoda war gerade sieben gewesen. Sie hatten damals eine Wohnung in einem Mietshaus, in dem auch eine Mrs. Clara Post, eine sehr alte Dame, mit ihrer verwitweten Tochter Edna wohnte. Die alte Dame hing ungemein an Rhoda. Es war überhaupt auffallend, daß ältere Leute das Kind geradezu bewunderten, während jüngere Menschen und besonders Kinder ihres eigenen Alters nichts für Rhoda übrig hatten. Nachmittags, wenn sie von der Schule nach Hause kam, besuchte Rhoda gerne ihre alte Freundin. Die alte Dame war damals schon etwa fünfundachtzig und ein bißchen kindlich. Sie fand besonderes Vergnügen daran, Rhoda ihre kleinen Besitztümer zu zeigen. -72-
Besonders liebte sie eine Glaskugel, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war, in der winzige, bunte Opalsplitter schwammen, die mit jeder kleinen Bewegung immer wieder andere, neue, zauberhafte Muster bildeten. In die Oberfläche der Glaskugel war ein kleiner goldener Ring eingelassen, durch den die alte Dame ein schwarzes Samtband gezogen hatte, damit sie die Kugel als Halsschmuck tragen konnte. Sie erzählte dazu, daß sie, wenn sie nicht schlafen konnte, oft in die Glaskugel schaue, um sich an den flutenden Opalbildern zu erfreuen. Ihre Tochter Edna schüttelte dazu den Kopf und sagte: »Mama glaubt, sie finde in den Opalen ihre Kindheit wieder. Ich widerspreche ihr nicht, im Gegenteil. In dem Alter hat man sowieso nicht mehr sehr viel, worüber man sich freuen kann.« Auch Rhoda bewunderte diese Kugel immer, und wenn sie mit der alten Dame beisammen war, sagte diese oft zu ihr: »Ist sie nicht schön, Liebes? Ich glaube, du hättest sie gerne.« Rhoda pflichtete ihr natürlich eifrig bei, und Mrs. Post meinte lachend: »Sie wird eines Tages dir gehören, mein liebes Kind. Wenn ich sterbe, vermache ich sie dir, das verspreche ich dir. Edna, du hast doch gehört, was ich sagte?« »Ja, Mama, ich habe es gehört.« Die alte Dame kicherte ein wenig. »Aber mach dir nur keine allzu großen Hoffnungen, Rhoda, daß ich bald sterbe. Das habe ich nämlich nicht vor. Wir kommen aus einer recht langlebigen Familie, nicht wahr, Edna?« »Ja, Mama, ganz sicher, und du wirst sie alle überleben, glaube ich.« Die alte Dame lachte vergnügt. »Mein lieber Vater wurde dreiundneunzig, und er wäre sicher hundert geworden, wenn ihn nicht ein Baum erschlagen hätte.« »Das haben Sie mir schon erzählt«, sagte Rhoda. -73-
»Mama wurde sogar noch älter. Sie starb mit siebenundneunzig. Wahrscheinlich wäre sie noch heute am Leben, hätte sie sich nicht, als sie bei den Pendletons Besuch machte, in einer kalten Nacht nasse Füße geholt. Davon bekam sie eine Lungenentzündung.« Eines Nachmittags, als Edna in den Supermarkt zum Einkaufen gegangen war und Rhoda sich bei der alten Dame befand, fiel Mrs. Post irgendwie über die hintere Wendeltreppe und brach sich das Genick. Als Edna zurückkehrte, wartete Rhoda an der Tür auf sie und erzählte es ihr. Sie hatte dazu eine sehr einleuchtende und unverdächtige Erklärung. Die alte Dame hätte ein Kätzchen gehört, das auf der Diele der Hintertreppe kläglich miaute. Sie hätte darauf bestanden, nachsehen zu wollen, und Rhoda sei ihr gefolgt. Sie müsse dann irgendwie die Entfernung zwischen den Stufen falsch eingeschätzt haben, sei ausgeglitten und auf den betonierten Hof gestürzt. Rhoda deutete hinunter, wo die Leiche der alten Dame lag. Mrs. Penmark kam gerade rechtzeitig dazu, um zu hören, wie Rhoda ihre Geschichte wiederholte. Edna sah das Kind mit einem mißtrauischen, forschenden Blick an. »Mama hat ihr Leben lang Katzen gehaßt und gefürchtet«, sagte sie. »Sämtliche Katzen von Baltimore hätten auf der Diele miauen können, und sie wäre ihnen nicht in die Nähe gekommen.« Rhodas Augen wurden vor Staunen riesengroß. »Aber sie ging hinaus, Miß Edna. Sie hat nach dem Kätzchen gesehen. Es war ganz genauso, wie ich es Ihnen erzählt habe.« »Und wo ist das Kätzchen jetzt?« fragte Edna. »Es lief davon«, antwortete Rhoda ernsthaft. »Es war ein kleines graues Kätzchen mit weißen Füßen.« Dann zupfte sie fast ängstlich an Ednas Ärmel. »Sie hat mir die kleine Glaskugel versprochen, bevor sie starb. Jetzt gehört sie doch mir, nicht wahr?« -74-
»Aber, Rhoda!« rief Mrs. Penmark entsetzt. »Wie kannst du jetzt nur so etwas sagen!« »Aber sie hat es mir doch versprochen«, erwiderte Rhoda geduldig. »Und Miß Edna hat es gehört. Sie hat es wirklich versprochen.« »Ja«, bestätigte Edna. »Versprochen hat sie es.« Sie ließ dabei das Kind nicht aus den Augen. »Sie gehört dir. Ich werde sie dir sofort holen.« Mit schmerzhafter Deutlichkeit erinnerte sich Mrs. Penmark dieses Vorfalles, und auch daran, daß weder sie noch ihr Mann zur Beerdigung gebeten wurden, obwohl die gesamte Nachbarschaft daran teilnahm. Wenn sie später Edna auf der Treppe oder im Lift traf, wandte ihr diese den Rücken, obwohl auch die Tochter der alten Dame immer sehr freundlich zu Rhoda gewesen war. Eine Zeitlang hatte Rhoda die Glaskugel immer mit ins Bett genommen. Sie setzte sich dann in den Kissen auf, spitzte die Lippen und kniff die Augen ein wenig zusammen, wie es die alte Dame immer getan hatte und sah in die Kugel hinein. Es schien, als habe sie nicht nur dieses Lieblingsspielzeug der alten Dame angenommen, sondern auch deren Persönlichkeit. Einem Impuls folgend, ging Christine in das Zimmer ihrer Tochter. Sie sah die Glaskugel an dem Samtband über einem Bettpfosten hängen, als sei es ein Amulett. Einen Augenblick lang wog sie die Kugel in der Hand, doch dann ließ sie diese sofort wieder fallen, als sei sie etwas Böses, das ihr die Hand verbrannt habe. Als Rhoda vom Park zurückkam, stellte Christine sie zur Rede: »Ist das, was du den Schwestern Fern über Claude Daigle gesagt hast, auch wahr?« fragte sie. »Ja, Mutter. Es ist wahr. Du weißt, daß ich nicht mehr lüge, seit du es mir verboten hast.« Christine wartete einen Augenblick. »Hattest du«, fragte sie -75-
dann, »etwas damit zu tun, egal was, und wenn es noch so unwichtig wäre, daß Claude Daigle ertrunken ist?« Rhoda starrte sie an und schien erstaunt zu sein. »Warum willst du das wissen, Mutter?« fragte sie vorsichtig. »Ich will die Wahrheit wissen. Wir können irgendwie mit der Sache fertig werden, aber wenn wir es versuchen wollen, muß ich vorher die Wahrheit wissen.« Sie legte Rhoda die Hand auf die Schulter und sagte impulsiv: »Schau mir in die Augen, mein Kind, und dann sagst du mir die Wahrheit. Die absolute Wahrheit.« Mit hellen, aufrichtigen und unbefangenen Augen sah das Kind sie an. »Nein, Mutter, ich habe nichts damit zu tun.« »Im nächsten Schuljahr bist du nicht mehr in der FernSchule«, erklärte ihr Christine später. »Sie wollen dich dort nicht mehr haben.« Auf dem Gesicht des Kindes lag ein Ausdruck vorsichtiger Wachheit. Rhoda wartete, aber die Mutter sagte nichts mehr darüber. Sie ging langsam weg und sagte nur: »Okay, okay«, ging sofort in ihr Zimmer und arbeitete an ihrem Puzzlespiel. Später setzte sich Christine an ihre Schreibmaschine und schrieb einen Brief an ihren Mann. Sie begann mit dem Datum des Tages und schrieb sich alles von der Seele, was sie bedrückte, die ganze Geschichte der Medaille, vom Tod des Daigle-Jungen, von der Weigerung der Schule, Rhoda zu behalten und vom Tod der alten Dame in Baltimore. »Ich weiß nicht«, schrieb sie, »weshalb mich diese Dinge so grenzenlos erschrecken, denn ich bin doch eigentlich ziemlich ruhig. Das hast Du ja, wie Du sagtest, von Anfang an an mir bewundert. Erinnerst Du Dich? Ich weiß noch jedes Deiner Worte, Liebster, und ich weiß genau, daß ich Dich vom ersten Augenblick an liebte, daß ich Dich immer lieben werde. Lächle nicht, weil ich so töricht bin. Es war ein so unbeschreiblich zauberhafter Abend. -76-
Und jetzt fühle ich mich in Dinge verstrickt, denen ich nicht mehr zu entrinnen vermag. Ich sehe mich Tatsachen gegenübergestellt, die ich nicht ertragen kann. Es gibt so viel Ungreifbares. Ich kann es nicht in eine verständliche Form bringen, nicht beschreiben, nicht einmal logisch ordnen. Bitte, zieh aus dem, was ich Dir in diesem Brief geschrieben habe, keine übereilten Schlüsse. Diese Dinge können auf mehr als nur eine Art ausgelegt werden. Aber das Bild, daß Rhoda bei der alten Dame war, als sie über die Treppe stürzte, läßt sich nicht ausradieren, und ich sehe vor meinem geistigen Auge auch immer die Kratzer und Quetschungen an Händen und Stirn des kleinen Daigle. Ich habe Dir alles erzählt, weil ich einfach nicht mehr weiß, was ich tun soll. Ich wünschte, Du wärest jetzt bei mir. Du würdest mich in die Arme nehmen und meine törichten Gedanken weglachen mit Deinem leisen, warmen Lachen. Und Du würdest Deine Wange an die meine legen und mir sagen, ich solle mich nicht quälen. Und doch, auch wenn ich Dich mit Zauberkräften zurückholen könnte, würde ich es nicht tun. Ich schwöre es Dir, Liebster, ich würde es nicht tun. Mein Liebling, ich bin bis auf den Grund meiner Seele verstört. Was soll ich tun? Schreib mir bitte, was ich tun soll. Schreib mir sofort. Ich wußte nicht, daß ich so verletzlich bin.« Sie beendete den Brief, wußte aber im gleichen Augenblick, daß sie ihn nicht abschicken würde, denn seine Arbeit war für seine Karriere viel zu wichtig. Erfolg oder Mißerfolg dieser Arbeit mußten seine weitere Laufbahn bestimmen, damit natürlich auch ihr künftiges Leben, das mit dem seinen so eng und unauflöslich verknüpft war. Nein, Kenneth mußte seine Arbeit unbelastet weiterführen. Sie mußte eben irgendwie allein mit dem fertig werden, was sie bedrückte. Rhoda war ja ihr Problem. Sie mußte es selbst lösen. Sie steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb die Adresse, -77-
klebte ihn zu und legte ihn in die Schublade ihres Schreibtisches, in der sie auch die Pistole aufbewahrte und die sie deshalb auch stets verschlossen hielt. Dann fühlte sie sich ein wenig wohler. Vielleicht nahm sie die Sache zu tragisch, sah sie zu sehr als Unausweichlichkeit an. Vielleicht…
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5
Gegen Ende der Woche meldete sich Mrs. Breedlove. »Ich schäme mich so schrecklich«, sagte sie, »daß ich Rhodas Anhänger vergessen habe. Ich gehe aber vormittags in die Stadt und bringe ihn weg, um ihn richten zu lassen. Würden Sie bitte Rhoda sagen, sie soll ihn herauslegen, damit ich ihn beim Hinuntergehen mitnehmen kann?« Rhoda, erwiderte Christine, spiele bei den Kunkels unter dem großen Traubenbaum, aber sie könne den Anhänger sicher finden. Rhoda hebe ihre Kostbarkeiten in einer Schokoladenbüchse auf, die in der obersten Schublade ihres Toilettentisches stehe. Der Anhänger war auch dort, doch als sie die Büchse zurückstellte, fühlte sie etwas Flaches, Metallisches unter dem Schrankpapier, mit dem die Lade ausgelegt war. Sie zog die Konturen mit dem Zeigefinger nach und fragte sich, was das wohl sein mochte. In einem Anflug intuitiver Angst hob sie das Papier an und fand darunter die Medaille. Im ersten Augenblick schien die Sache keine Bedeutung für sie zu haben, da ihr Geist sich weigerte, die Tatsache zu akzeptieren. Sie schien nur Teil einer Geschichte zu sein, die sie einmal irgendwo gelesen hatte, sie aber in keiner Weise betraf. Doch dann wurden ihr schlagartig die Folgerungen klar, die sie aus ihrem Fund zu ziehen hatte, und sie legte die Medaille unter das Schrankpapier zurück. Alles, was sie mir über die Medaille erzählt hat, ist eine Lüge, sagte sie zu sich selbst. Alles. Sie hatte sie die ganze Zeit bei sich. Sie ging zum Fenster und hörte auf die schrillen Stimmen der -79-
Kunkel-Kinder und ihrer Tochter. Tiefe Traurigkeit überfiel sie, das Gefühl, sie werde ungerecht behandelt und für Dinge bestraft, die sie nicht getan hatte. Was war nur mit Rhoda los? Warum konnte sie sich nicht so benehmen wie andere Kinder ihres Alters? Was war der Grund ihres seltsamen, ungeselligen und unerklärlichen Benehmens? Sie dachte über Rhoda nach, über ihr Leben vom ersten Tag an. Was hatte sie nur falsch gemacht? Hatte sie das Kind zu sehr verwöhnt? Sie mußte schwerwiegende Fehler gemacht haben. Vielleicht waren es auch nur kleine, unbedeutende Fehler gewesen, diese aber in entscheidenden Momenten; Fehler aus Liebe vielleicht, doch nicht weniger gefährlich und von nicht geringerer Tragweite als Fehler aus Unkenntnis oder Bosheit. Was sollte sie jetzt tun? Sie verkrampfte die Hände, als wolle sie ihre Ängste und Zweifel damit zerdrücken und wesenlos machen. In diesem Augenblick läutete Monica. Sofort öffnete sie die Tür und übergab Monica den Anhänger. Mrs. Breedlove war in sehr gesprächiger Laune und erzählte sofort von den Erinnerungen, die sich damit verbanden, als sei sie auf der Couch von Dr. Kettlebaum. Christine nickte lächelnd dazu, doch sie nahm kaum ein Wort davon auf. Sie dachte: Rhoda hat von Anfang an nur Liebe und Sicherheit gekannt. Nie wurde sie vernachlässigt, nie verwöhnt, nie ungerecht behandelt. Kenneth und ich zeigten ihr immer, wie wichtig sie für uns war, wie sehr wir sie gewünscht hatten. Ich verstehe sie einfach nicht. »Ich werde Rhodas Monogramm auf der Rückseite eingravieren lassen, wenn es Ihnen recht ist, Christine«, sagte Monica. Christine nickte geistesabwesend. »Ja, ja, natürlich«, versicherte sie, lehnte aber ihren Kopf an den Türrahmen. Ganz gleich, wo die Ursache dafür zu suchen ist, ich glaube nicht, daß die Umwelt damit zu tun hat. Die Ursache liegt tiefer. Sie -80-
seufzte und sah Mrs. Breedlove an. Es war etwas Dunkles, Unerklärliches, dachte sie. »Hat Rhoda noch einen zweiten Namen?« fragte Monica eifrig. »Komisch, daran habe ich noch nie gedacht.« Das brachte Christine wieder in die Gegenwart zurück. »Ihr vollständiger Name ist Rhoda Howe Penmark«, erklärte sie, dachte aber, sie wäre wohl besser nicht nach Kenneths Mutter genannt worden, denn sie war eine Frau von unerschütterlicher Ehrenhaftigkeit. Die ältere Mrs. Penmark hatte sich der Heirat ihres Sohnes in die Familie Bravo entschieden widersetzt, denn es seien internationale Vagabunden, die niemals irgendwo Wurzeln geschlagen hätten. Und Richard Bravo, der Vater, sei seinen Schreibereien nach ein ausgemachter Bohemien, so daß mit Fug und Recht angenommen werden könne, daß die Tochter nicht aus der Art geschlagen sei. Sie hatte vorausgesagt, daß diese verrückte Idee nur zum Unglück führen könne. Sie habe ihre Pflicht getan, und später solle er nur ja nicht sagen, sie hätte ihn nicht gewarnt. Um sie zu besänftigen, hatte man Rhoda nach ihr genannt, aber auch das hatte nicht allzuviel genützt. Monica ließ den Anhänger in ihre Tasche gleiten. »Ach ja, dieser Neuenglandtyp, nicht wahr? Den kenne ich recht gut, meine Liebe.« Christine setzte sich danach an das Fenster, von dem aus sie den Park überblicken konnte, um über ihr Kind nachzudenken, und welchen Weg sie nun einzuschlagen habe. Plötzlich hatte sie das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben, ohne daß ihr Nachdenken zum Erfolg geführt hätte. Auch diesmal, stellte sie voll Selbstmitleid fest, werde sie kaum etwas erreichen. Ihr Mann hatte es zwar nie gesagt, aber sie wußte ziemlich sicher, daß der Tod der alten Dame und der Hinauswurf Rhodas aus der Schule in Baltimore der eigentliche Grund dafür gewesen war, daß er um seine Versetzung gebeten und damit in Kauf genommen hatte, daß der jetzige Posten ein Wenig schlechter war als der vorige. Aber hier waren sie wenigstens fremd… -81-
Unwillkürlich verglich sie sich mit jenen Frauen, deren Kinder ordentlich und durchschaubar waren, denn sie waren glücklichere Menschen. Aber allmählich kehrte ihr Sinn für Tatsachen und Proportionen wieder und mit ihm die Hoffnung, daß doch noch alles gut werden könne. Nein, sie wollte nicht länger mehr ungerechtfertigte oder unbegründete Schlüsse ziehen. Vielleicht hatte Rhoda eine logische Erklärung dafür, daß sie im Besitz der Medaille war. Wahrscheinlich hatte sie zuviel Angst gehabt und deshalb geschwiegen. Vielleicht hatten die Schwestern Fern zuviel auf sie eingeredet, sie zu sehr in die Zange genommen und sie mit ihren bohrenden Fragen eingeschüchtert. Aber schließlich hatte niemand Rhoda gefragt, ob sie vielleicht die Medaille habe, so daß sie wenigstens in diesem Punkt nicht gelogen haben konnte. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und trug ein wenig Lippenstift auf, blieb dann zehn Minuten ruhig sitzen, um sich zu sammeln und ging zu Kunkels Hof, um Rhoda zu holen. Als sie wieder zu Hause war, nahm sie die Medaille aus dem Versteck und legte sie auf den Tisch. Rhodas Augen wurden groß vor Schrecken, huschten von links nach rechts und schlossen sich schließlich. »Wie kommt diese Medaille in deine Schublade?« fragte sie Rhoda. »Ich will die Wahrheit wissen.« Rhoda zog einen ihrer Schuhe aus, musterte ihn, zog ihn wieder an, antwortete aber nicht sofort. Dann lächelte sie und tanzte in einer Pose von ihrer Mutter weg, die andere immer für unwiderstehlich reizend hielten. »Wenn wir einmal in unser eigenes Haus einziehen, bekommen wir dann auch einen Traubenbaum?« fragte sie. »Geht das, Mutter?« »Beantworte meine Frage, Rhoda! Aber denk daran, daß ich etwas mehr weiß über das, was beim Picknick vorgefallen ist, als du denkst. Miß Octavia Fern hat mir, als ich sie besuchte, viel erzählt. Du brauchst dir also nicht die Mühe zu machen, dir -82-
eine Geschichte auszudenken.« Aber das Kind schwieg noch immer. Es war Rhoda anzusehen, daß ihr Geist fieberhaft arbeitete. Sie wartete verbissen darauf, daß ihre Mutter weiterredete, damit sie nicht zu antworten brauchte. Aber Christine ließ sich nicht hinhalten. »Wie kommt Claude Daigles Medaille in deine Schublade? Sie ist nicht von selbst hineingesprungen. Ich will eine Antwort hören, Rhoda.« Sie stand auf und lief im Zimmer herum, denn sie war plötzlich sehr zornig. Das Kind brauchte einmal eine ordentliche Tracht Prügel, überlegte sie. Sie war noch nie geschlagen worden, aber jetzt hatte sie wirklich Schläge verdient. Sie mußte endlich lernen, anderen Menschen gegenüber rücksichtsvoll und freundlich zu sein. Aber ihr Zorn verflog rasch wieder, denn sie wußte genau, daß sie Rhoda nicht schlagen konnte. Und Rhoda schien das zu wissen. Deshalb war sie sicher auch von dieser höflichen, fast unverschämten Verstocktheit. »Ich weiß nicht, wie die Medaille in meine Schublade geraten ist, Mutter«, behauptete sie, und ihre Augen waren ein Spiegel ihrer Unschuld. »Wie soll ich wissen, daß die Medaille überhaupt dort ist?« »Das weißt du. Und du weißt auch ganz genau, wie sie dorthin gekommen ist.« Sie setzte sich wieder und fuhr weniger streng fort: »Ich will jetzt wissen, ob du jemals auf der Werft warst, zu irgendeiner Zeit, egal wann.« »Ja, Mutter«, gab Rhoda zögernd zu. »Ich war einmal dort.« »War es, bevor du Claude belästigt hast, oder war es danach?« »Ich habe Claude nicht belästigt, Mutter. Wie kommst du darauf?« »Wann bist du zur Werft gegangen, Rhoda?« »Sehr früh, gleich nachdem wir dort ankamen.« -83-
»Du wußtest doch, daß es euch verboten war, zur Werft zu gehen. Weshalb bist du trotzdem hingegangen?« »Einer der großen Jungen sagte, an den Balken gebe es Muschelschalen. Ich glaubte nicht, daß Muscheln an Balken wachsen, und ich wollte selbst sehen, ob das wahr ist.« Christine nickte. »Wenigstens gibst du das zu. Miß Fern sagte mir nämlich, einer der Strandwächter habe dich von dort kommen sehen. Aber er sagte, es sei viel später gewesen als du behauptest. Es war kurz vor dem Mittagessen.« »Das stimmt nicht. Das habe ich Miß Fern auch gesagt. Es war genauso, wie ich es erzählt habe.« Sie fühlte, daß sie damit einen besseren Stand hatte. »Er hat mir zugerufen, ich solle von der Werft verschwinden, und das habe ich auch getan. Ich habe Claude aber nicht belästigt, sondern nur mit ihm gesprochen.« »Was hast du zu ihm gesagt?« »Ich sei froh, daß er die Medaille gewonnen habe. Und Claude sagte dann, vielleicht bekomme ich sie nächstes Jahr, weil sie nicht zweimal an den gleichen Schüler vergeben wird.« Christine schüttelte entschieden den Kopf. »Bitte, Rhoda! Das ist nicht ehrlich. Ich will die Wahrheit wissen.« »Aber das ist wahr, Mutter«, behauptete Rhoda bestimmt. »Jedes Wort davon ist wahr.« »Miß Fern sagte mir, eines der aufsichtführenden größeren Mädchen habe beobachtet, daß du Claude die Medaille vom Hemd reißen wolltest. Und was ist damit?« »Das war Mary Beth Musgrove«, antwortete Rhoda. »Sie hat jedem erzählt, daß sie mich gesehen hätte. Sogar Leroy Jessup weiß es, daß sie mich gesehen hat.« Sie schlug ihre Augen groß zu Christine auf, als wolle sie damit beweisen, daß völlige Offenheit ihr einziges Bestreben sei. »Claude und ich, wir beide hatten uns ein Spiel ausgedacht. Er sagte, wenn ich ihn in zehn Minuten fangen könnte, und dabei die Medaille mit der Hand -84-
berühre, dürfte ich sie eine Stunde lang tragen. Wie kann Mary Beth sagen, ich hätte die Medaille genommen? Ich habe sie nicht genommen.« »Mary Beth sagte nicht, daß du die Medaille genommen hast, sondern daß du versuchtest, sie zu nehmen. Sie sagte auch, Claude sei am Strand von dir weggelaufen, als sie nach dir gerufen habe. Hattest du die Medaille zu dieser Zeit schon?« »Nein, Mutter. Da noch nicht.« Rhoda wurde immer selbstsicherer, denn sie war allmählich zur Überzeugung gekommen, daß ihre Mutter nichts oder nur ganz wenig wußte. Sie legte ihr die Arme um den Hals und küßte sie mit solcher Zärtlichkeit, daß nun die Mutter die Geduldige war. »Wie bist du aber zu dieser Medaille gekommen?« fragte Christine schließlich. »Ich bekam sie später.« »Ich will genau wissen, wie du sie bekommen hast, Rhoda.« »Als Claude sein Versprechen einlöste. Ich ging mit ihm zum Strand. Dort blieb er stehen und sagte, ich dürfe die Medaille den ganzen Tag tragen, wenn ich ihm die fünfzig Cents gebe, die du mir mitgegeben hast.« »Ist das wirklich wahr, Liebling?« »Aber ja, Mutter!« erwiderte sie fast ein wenig verächtlich, weil der Sieg so leicht gewesen war. »So war es. Ich gab ihm die fünfzig Cents, und dann durfte ich die Medaille tragen.« »Warum hast du das Miß Fern nicht gesagt, als du gefragt wurdest? Warum hast du das verschwiegen?« Rhoda wand sich ein wenig. »Miß Fern mag mich nicht, Mutter. Ich habe gefürchtet, sie würde ganz schlechte Dinge über mich denken, wenn ich ihr sagte, daß ich die Medaille hatte.« Sie drückte sich an ihre Mutter, umarmte sie und legte ihren Kopf an deren Schulter. -85-
»Du weißt aber doch, wie sehr Mrs. Daigle die Medaille brauchte, nicht wahr? Sie hat eigens Leute bezahlt, die im Wasser danach suchten. Darüber haben wir schon gesprochen. Sie schob sogar die Beerdigung hinaus, denn sie hoffte, Claude die Medaille mit in den Sarg geben zu können. Das weißt du doch alles, Rhoda, nicht wahr?« »Ja, Mutter. Ich glaube schon.« »Warum hast du sie ihr dann nicht gegeben? Wenn du dich gefürchtet hättest, sie ihr zu bringen, dann hätte ich es getan.« Rhoda sagte nichts darauf, sondern räusperte sich nur ein wenig, streichelte aber den Hals ihrer Mutter. Christine wartete eine Weile. »Mrs. Daigles Herz ist über Claudes Tod fast gebrochen, Rhoda. Ich glaube nicht, daß sie sich je von diesem Schlag wieder ganz erholt.« Sie nahm die Arme ihres Kindes von ihrem Hals und hielt Rhoda von sich weg. »Verstehst du überhaupt, wovon ich spreche? Verstehst du das alles, Rhoda?« »Ich glaube schon, Mutter. Ja, wahrscheinlich.« Christine seufzte. Sie versteht überhaupt nichts, dachte sie bei sich. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, was ich meine. Rhoda schüttelte den Kopf. »Es wäre doch dumm gewesen, die Medaille an Claudes Jacke zu stecken und ihn damit zu begraben«, erklärte sie widerspenstig. »Claude war doch tot, nicht wahr? Also wußte er doch gar nicht, ob er die Medaille an seiner Jacke hatte oder nicht.« Aber Rhoda schien die plötzliche – für sie unerklärliche – Mißbilligung der Mutter zu spüren, und um den verlorenen Boden zurückzugewinnen, bedeckte sie die Wange ihrer Mutter mit raschen hungrigen Küssen. »Oh, ich habe die süßeste Mutter, die es gibt!« rief sie. »Das sage ich jedem auf der ganzen Welt.« Aber Christine schob ihre Tochter von sich und sah auf die ruhige, von Bäumen eingefaßte Straße hinaus. Rhoda fühlte nun, daß sie trotz ihrer Zärtlichkeit zum erstenmal im Leben verloren -86-
hatte. »Wenn Claudes Mutter so sehr einen kleinen Jungen haben will, dann kann sie doch einen aus dem Waisenhaus holen, nicht wahr?« fragte sie. Aber nun schob Christine in einer Aufwallung von Zorn und Abneigung Rhoda brüsk von sich. Das hatte sie bisher noch niemals getan. »Bitte, geh weg«, sagte sie angewidert. »Und sprich nicht mehr mit mir. Wir haben einander nichts mehr zu sagen.« Rhoda zuckte die Achseln. »Okay, Mutter«, sagte sie geduldig. Sie setzte sich ans Klavier und begann ein Stück zu üben, das sie in der Woche vorher aufbekommen hatte. Sie übte sehr konzentriert, und wenn sie einmal danebengriff, seufzte sie, schüttelte den Kopf und begann wieder von vorne. Dann aßen sie zu Mittag. Als Christine das Geschirr weggeräumt hatte, schaute sie zum Küchenfenster hinaus und sah im Hof Leroy stehen. Er grinste, rollte die Augen und drehte sich dann weg. Am Abend vorher hatte er mit seiner Frau einen Kneipenbummel gemacht, von dem er jetzt noch ein wenig betrunken war. Diese rausgefütterte, blonde, dumme Christine Penmark, dachte er. Sie ist so blöd, daß Rhoda sie an der Nase herumführen kann. Er ging in den Keller hinunter und dachte an den Vorfall mit dem Gartenschlauch. Dieser Mrs. Breedlove würde er auch noch einiges sagen. Mal abwarten! Die Garagentür war offen, also war die alte Schachtel irgendwo in der Stadt und warf mit beiden Händen Geld hinaus. Die aß bestimmt keine magerbelegten Brote aus dem Papier, sondern speiste in einem eleganten Restaurant, damit sie noch fetter wurde. Und dann sah er plötzlich in einer Ecke einen großen, ausrangierten Rasenmäher. Ha, damit konnte man etwas anfangen! Er rollte ihn hinaus vor Mrs. Breedloves Garage, stellte ein paar Eimer dazu und legte quer darüber seinen -87-
Hofbesen, um die Geschichte wahrscheinlicher aussehen zu lassen. Nun war er zufrieden, kehrte in seinen Keller zurück und verzehrte mit mehr Appetit und vor sich hin lachend seine Brote. Die alte Wachtel würde schauen, wenn sie ihren Wagen in die Garage fahren wollte! Im Keller hatte er sich aus alten Zeitungen und Reifen hinter einem alten Sofa ein Behelfsbett gebaut. Dort sah ihn niemand, wenn er schlief. Und jetzt hatte er das Bedürfnis, ein wenig zu dösen. Er zog die alte Decke glatt, streckte sich aus und seufzte. Was wohl die dumme Blonde zu ihrem Vergnügen tat, wenn ihr Mann weg war? Wenn er die einmal im Keller hätte! Der würde er ein paar von seinen Tricks zeigen, und dann würde sie ihrem Mann einen Brief schreiben, er könne bleiben, wo der Pfeffer wächst. Hübsch war sie ja, schöner als mancher Filmstar; aber viel zu dumm für ihn, zu weich und zu verrückt. Die freche Rhoda war da ganz anders. Wenn die erst einmal erwachsen war, durfte sie kein Mensch schlecht behandeln! Beim ersten Versuch ginge das schief. Er lächelte zufrieden vor sich hin und schlief ein. Mrs. Penmark schickte Rhoda zum Spielen in den Park und nahm sich die Stoffe vor, die sie für Rhodas Schulkleider gekauft hatte. Sie hatte das erste Kleidchen gerade zugeschnitten, als Mrs. Breedlove bei ihr läutete. Sie war müde vom Einkaufen und auch irgendwie verärgert. Christine gab ihr geeisten Tee, den sie durstig trank. »Ich kann Leroy keinen Tag länger mehr ertragen«, platzte sie heraus. »Täglich wird er frecher. Wären nicht seine arme Frau und die Kinder, dann würde ich…« Doch dann zuckte sie die Achseln. »Sie kennen ihn ja ebensogut wie ich, also brauche ich gar nicht mehr darüber zu reden.« Das tat sie natürlich trotzdem, und als sie sich alles von der Seele geredet hatte, war sie wieder besserer Laune. »Andererseits«, gab sie zu, »schreie ich ihn natürlich gerne an. Irgendwie bin ich ein mieses Fischweib, und Leroy ist der -88-
einzige Mensch, der es zum Vorschein bringt.« Sie warf ihren Hut auf das Sofa. »Aber ich kam ja wegen Rhodas Anhänger.« Sie erzählte, sie bekomme ihn erst in zwei Wochen wieder, denn Mr. Pageson habe behauptet, er sei so mit Arbeit eingedeckt, daß es nicht früher ginge. »Wissen Sie, was ich ihm sagte? Nein, natürlich nicht. Ich sagte ihm, ›lieber Mr. Pageson, Sie dürfen nicht vergessen, daß ich in diesem Jahr wieder die Gemeindekasse verwalte. Wenn Ihr Geschäft so gut geht, dann kann ich Ihren Beitrag doch sicher erhöhen, nicht wahr? Ursprünglich hatte ich mit tausend Dollar gerechnet, aber zweitausend sind doch sicher angemessener.‹« »Monica! Schämen Sie sich denn gar nicht, einen Menschen so zu erpressen?« »Absolut nicht, meine liebe Christine! Er verstand sofort, was ich meinte, und sagte, ich könne jeden Betrag festsetzen, er sei aber nicht gezwungen, ihn zu bezahlen. Er brauche nicht einen einzigen Cent in die Gemeindekasse zu zahlen, wenn er nicht wolle. ›Sind Sie davon überzeugt, Mr. Pageson?‹ fragte ich. ›Ich weiß es‹, gab er mir zur Antwort, aber dann erklärte ich ihm, wie wir die Sache handhaben. Wenn er auf die schriftliche Aufforderung hin nicht bezahlt, dann schicken wir ihm ein Mädchen in den Laden, wenn er voller Kundschaft ist. Und wenn auch das nichts nützt, nimmt ihn sich Miß Minnie Pringle vor. Was, Sie kennen Miß Pringle nicht? Na, Sie werden sie noch kennenlernen. Sie hat eine messerscharfe Blechtopfstimme, die wie ein Nebelhorn dröhnt. Eine Person mit der Empfindsamkeit eines Rhinozeros und der Beharrlichkeit einer Schildkröte. Sie ist noch viel lästiger als ich und in der ganzen Stadt gefürchtet. Aber wissen Sie, was er mir darauf antwortete? ›Minnie Pringle stört mich nicht. Ich mag sie sehr gern, und es wird mich freuen, sie in meinem Laden zu sehen.‹ Natürlich habe ich ihm mit weiß Gott was allem gedroht, doch übertreiben durfte ich auch nicht allzusehr. Emory würde mich sonst kaltblütig in der -89-
Badewanne ertränken. Trotzdem nützt mir mein Ruf als exzentrische alte Fuchtel immer. Die Leute fürchten einen, weil sie nicht wissen, was sie von einem zu erwarten haben. Ich verließ also seinen Laden und sagte unter der Tür über die Schulter: ›Ich habe noch etwas zu erledigen, bin aber auf den Schlag halb eins wieder hier. Ich bin überzeugt, daß der Anhänger dann fertig ist.‹ Und siehe da, er war fertig, liebe Christine.« Sie nahm ihn aus der Tasche und ließ ihn an der Kette baumeln. Dann, erzählte sie, habe ihr aber das Gewissen keine Ruhe mehr gelassen. Sie wisse, wie gern Mr. Pageson Kokosnußtorte esse, und so habe sie beschlossen, ihm eine zu backen, da sie eines ihrer Glanzstücke sei, das ihr niemand nachmache. Die Kokosnuß habe sie auch schon gekauft. Also werde sie ihm eine Torte backen, die er bis an sein Lebensende nie mehr vergessen werde. Nachdem Mrs. Breedlove gegangen war, befiel Christine erneut die alte Depression. Nach dem Abendessen sagte sie zu Rhoda: »Ich habe den ganzen Tag über die Medaille nachgedacht. Ich werde sie Mrs. Daigle zurückbringen und sie um Verzeihung bitten, daß du sie gestohlen hast.« »Ich habe sie nicht gestohlen, Mutter«, erklärte Rhoda. »Wie kannst du so etwas sagen? Claude hat sie mir verkauft.« »Ich weiß nicht, wie du zu dieser Medaille gekommen bist«, antwortete Christine müde, »aber so, wie du gesagt hast, war es ganz bestimmt nicht. Selbst wenn du sie gegen Geld von Claude geliehen hattest, dann war es unehrenhaft, daß du sie nachher nicht zurückgegeben hast.« Das Kind sah sie mit kalten, berechnenden Augen unverwandt an. Die Mutter wußte ja schon soviel, und so brauchte Rhoda nichts mehr zu verbergen. »Die Medaille gehört nicht Mrs. Daigle. Sie hat sie nicht gewonnen. Sie gehört eher mir als ihr.« Dieses Argument ließ Christine unbeantwortet. »Ich bleibe nicht lange aus. Du hältst dich hier in der Wohnung auf, bis ich -90-
zurückkomme. Hast du verstanden?« Zuerst hatte sie daran gedacht, Rhoda mitzunehmen, um ihr eine Lektion zu erteilen, doch diesen Gedanken verwarf sie wieder, weil es ja doch nichts genützt hätte. Sie steckte die Medaille ein und ging weg, ohne jemandem von ihrer Absicht zu erzählen. Mr. Daigle empfing sie an der Tür. Er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Das spürte Mrs. Penmark und machte sich darüber ihre Gedanken. Schließlich bat er sie doch ins Wohnzimmer, ging aber sofort zu seiner Frau. »Warum kommt sie schon wieder her?« hörte Christine Mrs. Daigles hysterische Stimme. »Hat sie uns nicht schon genug Sorgen und Herzweh gemacht? Ihr Kind ist gesund und glücklich, und das meine…« »Bitte, Hortense, sie kann dich doch hören!« warnte ihr Mann. »Soll sie mich doch hören!« kreischte Mrs. Daigle jetzt, fuhr aber dann ruhiger fort: »Sag ihr, sie soll gehen. Wir legen keinen Wert auf ihren Besuch.« Er kam ins Wohnzimmer zurück. »Vielleicht können Sie verstehen, Mrs. Penmark, daß Hortense noch ziemlich außer sich ist. Sie lehnt jeden Menschen ab, der glücklicher ist als sie. Seit Claudes Tod ist sie ständig in ärztlicher Behandlung. Der Arzt war nachmittags wieder hier.« Dann fügte er leise hinzu: »Wir machen uns ihretwegen große Sorgen.« Mrs. Penmark wandte sich zum Gehen, doch in diesem Augenblick kam Mrs. Daigle dazu. Ihre Augen waren rot und vom Weinen verschwollen, und ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie schloß Christine in die Arme. »Nein, bleiben Sie hier.« Sie schluchzte heftig und drückte ihren Kopf an Christines Schulter. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Wir haben oft von Ihnen gesprochen, und ich habe immer gesagt, daß ich hoffe, Sie würden wieder einmal kommen.« Sie ließ Christine los und setzte sich auf das Sofa. »Kommen -91-
Sie zu mir. Darf ich Sie Christine nennen? Ich weiß, daß Sie aus besseren Kreisen kommen als ich, aber vielleicht macht es Ihnen nichts aus. Ich hatte einen Schönheitssalon, wissen Sie. Christine ist ein so schöner Name. Hortense, das klingt so fett, nicht wahr? Als Kind haben mir die anderen immer so häßliche Spottverse nachgerufen. Aber Kinder können ja sehr grausam sein.« »Hortense!« warnte Mr. Daigle, »bitte, Hortense!« Dann wandte er sich an Christine. »Meine Frau kann sich nicht beruhigen. Sie steht unter ärztlicher Aufsicht.« »Ach, Christine, Sie sind so schön, so reizend. Natürlich welken Blonde schneller, aber Sie sind ja auch so geschmackvoll gekleidet. Sicher geben Sie viel Geld für Ihre Kleider aus. Als junges Mädchen wollte ich immer so aussehen wie Sie, aber das war natürlich nicht möglich. Wissen Sie, ich habe Miß Octavia Fern besucht, um etwas über Claudes Tod zu erfahren, aber sie hat mir nichts erzählt, was ich nicht schon wußte. Aber sie weiß viel mehr, sie ist nur sehr schlau! Die ganze Geschichte ist so schrecklich merkwürdig, das habe ich schon immer gesagt. Ja, etwas ganz Komisches ist daran! Aber ich habe gehört, Ihre kleine Tochter war die letzte, die ihn lebend gesehen hat. Wollen Sie sie fragen und mir dann sagen, was sie von ihm erzählt? Vielleicht fällt ihr etwas ein, eine Kleinigkeit nur. Miß Octavia will mir ja nichts sagen, gar nichts.« »Miß Fern hat Ihnen alles erzählt, was sie wußte, Hortense. Sie dürfen sich nicht in den Gedanken verbohren, sie sei Ihre Feindin.« »Sie mag mich nicht! Sie wußte, daß mein Vater ein kleiner Obsthausierer mit einem Karren war. Nein, nein, das brauchen Sie mir nicht auszureden, ich bin doch nicht dumm! Sie mag mich auch deshalb nicht, weil ich einen Schönheitssalon hatte, bevor ich heiratete. Sie und ihre Schwestern kamen immer zu mir. Wissen Sie was, Mrs. Penmark? Miß Burgess färbt ihr Haar, aber es darf niemand wissen!« -92-
Christine legte der verwirrten Frau die Arme um die Schultern. Lieber Gott, flehte sie innerlich, laß jetzt meine Gefühle nicht sichtbar werden! Laß mich damit warten, bis ich zu Hause bin und mich niemand sehen kann! Mr. Daigle zündete sich eine Zigarette an und lief nervös auf und ab. »Sie müssen verzeihen, Mrs. Penmark, daß Hortense noch so außer sich ist.« Dann wandte er sich an seine Frau. »Hortense, geh wieder zu Bett. Mrs. Penmark wird sicher ein wenig bei dir bleiben und deine Hand halten.« »Wirklich, Christine?« fragte Mrs. Daigle, stand auf und ging zur Schlafzimmertür. »Ach, Sie können die einfachsten Dinge tragen und sehen damit immer elegant aus. Ich weiß auch nicht, warum mir das nie gelungen ist. Ich weiß, alle Mütter sagen, daß ihr Kind süß ist, aber er war wirklich ein lieber, reizender Junge. Er sagte immer, wenn er groß sei, würde er mich heiraten. Ich lachte ihn aus. Er hätte mich dann längst vergessen und ein hübsches, junges Ding gefunden, sagte ich ihm. Und wissen Sie, was er mir dann zur Antwort gab?« Ihre Stimme wurde zunehmend schriller. »›Nein, das werde ich nicht, weil es kein Mädchen gibt, das so süß wäre wie du!‹ Fragen Sie unsere Köchin, sie hat es selbst gehört, und wir haben zusammen gelacht. An seiner Hand waren Kratzer und Quetschungen, und auf seiner Stirn hatte er eine seltsame halbmondförmige Verletzung. Er muß geblutet haben, aber das Wasser hat das Blut abgewaschen.« Dann vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen und schluchzte laut. »Und wo ist die Medaille? Was ist aus ihr geworden? Ich muß es wissen, ich bin seine Mutter, und wenn ich wüßte, was mit der Medaille geschehen ist, dann wüßte ich auch, was meinem Jungen zugestoßen ist! Warum hat noch niemand die Medaille gefunden? Dann würde ich alles wissen.« Sie setzte sich im Bett auf. »Mrs. Penmark, warum haben Sie sich eigentlich die Mühe gemacht, zu kommen? Wir haben Sie nicht darum gebeten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt -93-
gehen würden.« »Hortense!« bat Mr. Daigle. Sie strich ihr verwirrtes Haar aus dem Gesicht. »Ja, ich weiß, daß ich mich unmöglich benehme, ich weiß es!« Als Christine nach Hause kam, hatte sie die Medaille noch in der Tasche. Rhoda saß unter der Lampe und las ein Buch. Sie sah den unglücklichen, verwirrten, verstörten Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter und kniff die Augen zusammen. Sie hätte gerne gewußt, was bei den Daigles gesprochen worden war. Aber sie stand nur auf, lächelte, legte den Kopf in den Nacken und klatschte anmutig in die Hände. »Was schenkst du mir, wenn ich dir einen ganzen Korb voll Küsse gebe?« fragte sie. Aber Christine antwortete nicht. Nun bekam Rhoda Angst. Sie legte ihrer Mutter die Arme um die Hüften und drückte sich an sie. »Was schenkst du mir, Mutter?« drängte sie. Christines Beine drohten unter ihr nachzugeben. Sie setzte sich und nahm ihr Kind in die Arme. »Oh, mein Liebling!« stöhnte sie, aber die Frage ließ sie unbeantwortet.
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6
Mrs. Penmark konnte nicht einschlafen. Sie hörte immer noch Mrs. Daigles schrille, jammernde Stimme und ihr verzweifeltes Schluchzen. Als sie dann endlich doch in einen unruhigen Schlummer fiel, trieb sie in einen so quälenden Traum hinein, daß sie sich nachher nicht mehr daran erinnern konnte. Am nächsten Morgen sah die Welt wieder ein wenig freundlicher aus, denn die Sonne lag in einem breiten Lichtstreifen auf dem Teppich. Irgendwie schwamm dann etwas aus ihrem bedrückenden Traum in ihr Bewußtsein, und nun hatte sie ganz plötzlich den Wunsch, selbst nach Benedict zu fahren, das Haus, die Wälder, den Strand und die Werft zu sehen, die Stätte jenes Unglücks, das ihr Leben zu vergiften drohte. Um neun Uhr rief sie Miß Octavia Fern an, die sagte, sie verstehe diesen Wunsch sehr gut. Sie sei bereit, mitzufahren und als Führer zu dienen. Mrs. Penmark möge sie doch am nächsten Tag um zehn Uhr am Schultor abholen. Als Christine aufgelegt hatte, sinnierte sie: Rhoda war niemals ungehorsam, faul oder frech, wie so viele andere Kinder. Sie hat viele gute Eigenschaften. Nur dieser eine Makel stört an ihr. Die Post brachte ihr einen Brief von ihrem Mann, und sie stürzte sich voll Sehnsucht nach seinem Trost und seiner Liebe auf ihn. Er erzählte von seiner Arbeit, wie weit er damit gekommen sei und was noch getan werden müsse, und daß er Christine und Rhoda mehr vermisse als er je sagen könne. Er habe nur den einen Wunsch, so rasch wie möglich die noch vor ihm liegenden Aufgaben auszuführen und heimzukehren. Mit dem Brief ging sie in ihr Schlafzimmer, um ihn vor dem Foto ihres Mannes erneut zu lesen und nach Einzelheiten zu -95-
forschen, die sie beim erstenmal vielleicht übersehen haben könnte. Das Foto zeigte ihn in der Uniform der Navy, wie sie ihn kennengelernt hatte. Sein Haar war dunkel und von militärisch kurzem Schnitt, und seine braunen Augen hatten einen Ausdruck unschuldigen Eifers. Gerade diesen Ausdruck hatte sie an ihm immer so rührend und anziehend gefunden. Sie sehnte sich unendlich nach seinem leisen Lachen, nach seinen Armen, die sie umschlossen, nach seinem Verständnis und seiner Güte. Sie vermeinte diese Sehnsucht nicht mehr ertragen zu können. Ihre zarten Fingerspitzen zogen die Umrisse seines Mundes und seiner Augen nach, und ihr Herz füllte sich mit der schmerzlichen Erinnerung an seine Zärtlichkeit und das Glück, das sie einander geschenkt hatten. Doch dann wandte sie sich bekümmert ab, denn ihre ganze liebende Sehnsucht konnte ihr diesen Mann nicht zurückbringen, wie sehr sie ihn auch gebraucht hätte. Sie begann erneut an Rhodas Schulkleidern zu arbeiten, hörte aber bald wieder damit auf, denn sie interessierten sie nicht mehr. Statt dessen setzte sie sich an die Schreibmaschine, um wieder einen langen Brief an ihren Mann zu schreiben. Sie sprach von ihrer unbestimmten, unauslotbaren Angst, die sich nicht auf handgreifliche Tatsachen stützte, aber doch nicht weichen wollte. Sie erzählte, daß sie bei Rhoda die Medaille gefunden habe und berichtete von Rhodas ausweichenden Antworten. Sie beschrieb auch ihren zweiten Besuch bei den Daigles. Aber dann versprach sie, dessen eingedenk zu bleiben, daß sie die Tatsachen, die sich nicht ändern ließen, hinzunehmen habe, aber sie wolle sich bemühen, an eine glückliche, nicht an eine sorgenerfüllte Zukunft zu glauben. Ich hebe diese Briefe auf, schrieb sie, »da ich sie Dir nicht schicken kann, mein Liebling. Wenn Du wieder bei mir bist und sich meine Sorgen in alle Winde zerstreut haben, können wir sie gemeinsam lesen. Dann nimmst Du mich in die Arme und lachst mich aus, weil ich so zaghaft und voll so unvernünftiger Ängste war.« -96-
Sie schrieb weiter, daß sie sich in ihrer Not und Unsicherheit an eine Kraft klammere, die über ihr stehe. Wenn sie auch im herkömmlichen Sinn des Wortes nicht religiös sei und sich ihrer geistesfreiheitlichen Erziehung gemäß nie in ein Schema habe pressen lassen, so glaube sie doch an Gott, der sich jeder Vorstellung in menschlichen Bildern entziehe, aber doch da sei und seine ewigen Gesetze gegeben habe, aus denen dann der Mensch zu seiner eigenen Sicherheit menschliche Vorschriften und Sittengesetze abgeleitet habe. »Klingt das jetzt zu sehr nach Monica Breedlove?« fragte sie. »Erstaunt es Dich, daß ich darüber seit vielen Jahren nachdenke? Ich bin nicht so passiv, wie es den Anschein haben mag. Ich habe vieles von meiner Mutter gelernt, und auch mein Vater, der trotz all seines Charmes, seiner Herzensgüte und seines brillanten Verstandes Stunden bitteren Zweifels kannte, hat sich manchmal an sie, später auch an mich gehalten. Für meine Mutter war es das größte Glück, ja ihr einziger Lebenszweck, ihm das zu geben, was er brauchte, damit er das sein konnte, was er war. Ich habe sie unendlich geliebt und viel von ihrer Heiterkeit gelernt. Mißverstehe mich nicht, mein Liebster. Wenn ich weiß, daß ich zutiefst verstört bin, weil keine meiner Empfindungen an der Oberfläche hängenbleibt, dann weiß ich auch, daß ich mich wieder in die Hand bekommen und zu meiner alten Heiterkeit zurückfinden muß. Ich vermisse Dich so sehr und sehne mich unendlich nach Dir. Wenn Du diesen Brief bekommst, dann laß alles liegen und stehen, auch das, was Dir sehr wichtig erscheinen mag, und komm zurück zu mir. Lach mich aus. Sag, daß meine Ängste Hirngespinste sind. Nimm mich wieder in Deine Arme. Komm ganz schnell zu mir zurück, mein Liebster. Bitte komm!« Auch diesen Brief legte sie in die verschlossene Schublade ihres Schreibtisches. Dann sah sie lange zum Fenster hinaus und hatte endlich das Gefühl, es sei ihr jetzt leichter ums Herz. Als sie dann ihre kleinen Alltagsarbeiten getan hatte, las sie die -97-
Morgenzeitung. Auf der Titelseite stand der Bericht über einen Mordprozeß, in den einige Leute aus der Stadt verwickelt waren. Gewöhnlich las sie solche Dinge nicht, da sie kein Interesse an ihnen hatte, doch diese Sache verfolgte sie in allen Einzelheiten. Es ging hier um einen Mann namens Hobart L. Ponder, der angeklagt war, seine Frau wegen einer Versicherungssumme ermordet zu haben. Kaum hatte sie den Artikel gelesen, als Mrs. Breedlove auf einen Schwatz bei ihr vorbeikam. »Sie sehen ziemlich blaß aus, meine Liebe«, stellte sie fest. »Worüber machen Sie sich solche Gedanken?« Mrs. Penmark sagte, sie habe eben den Bericht über den Fall Ponder gelesen, worauf Mrs. Breedlove heraussprudelte, sie habe Hobart Ponders Mutter gut gekannt. Hobart, der ältere der beiden Söhne, stehe jetzt vor Gericht, Charles war der jüngere. Hobart scheine von Anfang an wenig Glück gehabt zu haben. Als er sieben oder acht Jahre war, sperrte er seinen kleinen Bruder in einen alten Eisschrank und vergaß ihn dann. Hobarts Großmutter mütterlicherseits wurde auf recht mysteriöse Weise mit einem von Hobarts Golfschlägern ermordet. Damals war der Junge vierzehn. »Als Hobart dann zwanzig war, erhängte sich sein Vater in der Garage. Kurz darauf starb auch die Mutter plötzlich, wie man sagte, an einer akuten Verdauungsstörung. Die Sache mit seinen Eltern ist unklar geblieben, und niemand begriff des Vaters Selbstmord. Und jetzt hat sich auch noch das ereignet!« Sie seufzte. Dann kniff sie die Augen zusammen. »Aber sagen Sie, warum lesen Sie jetzt plötzlich solche Mordgeschichten?« Am nächsten Morgen ließ Mrs. Penmark ihre Tochter bei Mrs. Forsythe und sagte, sie wolle sie abholen, sobald sie von ihrem Besuch zurück sei. Rhoda hatte den Robinson Crusoe zum Lesen mitgenommen, den ihr Mrs. Breedlove am Tag zuvor -98-
geschenkt hatte. Damit setzte sie sich auf den kleinen Marmorbalkon, aber es dauerte nicht lange, da hörte sie Leroy lachen und leise Selbstgespräche führen, als er am Olivenbusch unter dem Balkon arbeitete. Obwohl er nicht hinaufsah, wußte er genau, daß Rhoda ihm zuhörte. »Da sitzt sie oben und tut gescheit und unschuldig«, sagte er. »Andere kann sie vielleicht mit ihrem Unschuldsblick an der Nase herumführen, aber mich nicht. Mich nicht! Nein!« Rhoda sah hinunter, kehrte aber, als langweile sie Leroys Selbstgespräch, zu ihrem Buch zurück. Leroy lachte leise. »Ja, die will mit keinem reden, der ein bißchen gescheit ist. Lieber sind ihr Leute, die sie zum Narren halten kann, wie ihre Mama, diese Mrs. Breedlove und Mr. Emory.« Jetzt rief Rhoda hinunter: »Schneiden Sie lieber Ihre Büsche zu! Sie reden immer nur dummes Zeug.« Er sah zu ihr hinauf, und seine Augen waren ebenso kalt wie die ihren. »Bis jetzt war ich ja immer ein bißchen in der Zeit zurück, Miß, aber jetzt kenn’ ich dich, du kleine Laus! Von dir hab’ ich Sachen gehört, die sind wirklich nicht nett. Du hast den armen kleinen Claude im Wald geschlagen, und alle drei FernSchwestern mußten dich von ihm wegziehen. Und dann, hab’ ich gehört, hat er solche Angst vor dir gehabt, daß er zur Werft gelaufen ist. Ja, das hab’ ich gehört.« Rhoda legte ihr Buch weg. »Wenn Sie weiter solche Lügen erzählen, dann kommen Sie nicht in den Himmel, wenn Sie sterben!« »Ah, hab’ eine Menge gehört. Die Leute reden, und mir entgeht nichts. Überall hör’ ich etwas, und deshalb bin ich gescheit und du bist dumm.« »Die Leute lügen ja doch nur«, erwiderte Rhoda geringschätzig. »Ich glaube, Sie klatschen mehr als sonst jemand.« -99-
Leroy schwang seine Baumschere in einer weitausholenden Geste. »Ich weiß genau, was du mit dem kleinen Daigle gemacht hast, als er auf die Werft lief. Andere Leute kannst du an der Nase ’rumführen, aber mich nicht, weil ich nicht dumm bin. Ich kenn’ dich ganz genau, meine Liebe! Wär’ gescheiter, du wärst von jetzt an immer recht höflich zu mir.« »Was habe ich denn getan, wenn Sie schon soviel wissen?« Leroy stieß seine Baumschere dramatisch in den Busch. »Du hast einen Stock genommen und ihn damit geschlagen, weil er dir die Medaille nicht geben wollte. Du hast sie ja von ihm verlangt, aber er wollte nicht. Ich hab’ schon ’ne Menge freche, gemeine Gören gesehen, aber du bist, glaube ich, die gemeinste von allen.« Rhoda stemmte ihre Arme auf das Balkongitter. »Sie lügen! Jeder weiß, daß Sie lügen! Niemand glaubt etwas von dem, was Sie sagen!« »Willst du wissen, was du getan hast, nachdem du den Jungen mit dem Stock geschlagen hast? Okay, ich sag’ dir’s. Du hast ihm die Medaille vom Hemd gerissen. Und dann hast du den netten, kleinen Jungen von der Werft hinuntergestoßen zwischen die Balken.« Er lachte boshaft. Jetzt hab’ ich sie soweit, daß sie mir zuhört, jetzt hab’ ich ihr gehörig eingeheizt! dachte er. Mit klaren, unschuldig glänzenden Augen sah Rhoda zu ihm hinunter. »Ich hätte ja wirklich Angst, daß ich nicht in den Himmel komme, wenn ich solche Lügen erzählen würde!« »Mach dir keine Mühe, so unschuldig dreinzuschauen, Rhoda. Ich bin kein solcher Dummkopf wie die anderen. Ich bin…« In diesem Augenblick kam Mrs. Forsythe auf den Balkon, und Leroy beschäftigte sich sofort wieder mit seinem Busch. »Mit wem hast du gesprochen, Rhoda?« fragte die alte Dame. »Ich dachte, ich hätte hier Stimmen gehört.« Sie sah sich ein wenig um, konnte aber niemanden entdecken. »Ich habe nur laut gelesen«, antwortete Rhoda. »Ich lese sehr -100-
gerne laut, denn es klingt so gut.« Leroy lehnte sich unter dem Balkon an die Hausmauer und schüttelte sich vor Lachen, weil er es Rhoda so gegeben hatte. Das, was er sich ausgedacht hatte, war wirklich großartig, wenn er es auch selbst keinen Augenblick lang glaubte! Nein, ein achtjähriges Mädchen bringt so etwas nicht fertig, denn da gehören schon bessere Nerven dazu. Aber fein ausgedacht war es trotzdem. Nicht jeder schüttelt eine solche Geschichte einfach aus dem Ärmel. Dann hörte er, daß die Balkontür wieder geschlossen wurde. »Du weißt selbst«, flüsterte er, »daß ich die Wahrheit gesagt habe! Ich hab’s genau erraten, was du getan hast.« Rhoda lehnte sich über das Gitter hinunter. »Sie lügen immer, wenn Sie den Mund aufmachen, Leroy. Das weiß doch jeder.« »Ich lüge nicht. Wenn jemand lügt, dann bist du’s.« Nun schlug Rhoda ihr Buch zu und ging, um diese kleine Balkonszene abzuschließen, in die Wohnung zurück. Vergnügt schnitt Leroy an den Zweigen des Olivenbusches weiter und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er nicht den Busch, sondern die lebendige Rhoda mit seiner Baumschere bearbeiten würde. Mrs. Penmark holte Miß Octavia, wie abgesprochen, am Schultor ab. Sie fuhren eine ganze Weile schweigend dahin oder redeten über Dinge, für die beide kein Interesse aufbrachten. Als sie sich Benedict näherten, sagte Miß Octavia: »Sie müssen unseren Oleander anschauen. Mein Großvater hatte ursprünglich nur eine Hecke gepflanzt, um den Besitz gegen die Straße abzuschirmen, aber inzwischen sind es lauter große Bäume geworden. Sie stehen jetzt in voller Blüte.« Miß Fern hatte, wie sie sagte, am Tag vorher angerufen und gebeten, man möge ein Mittagessen herrichten. »Es gibt Krabbenomelette, Buttermilchbiskuits, grünen Salat und Eiskaffee. Ich hoffe, daß Sie Krabben mögen. In diesem Jahr -101-
haben wir unendlich viele Krabben. Man braucht sie nur im Flachwasser am Strand einzusammeln. Als ich in Rhodas Alter war, hatte mein Vater die Idee, eine Art Pferch in das Wasser hinauszubauen. Dort setzten wir Krabben ein und fütterten sie, und dann hatten wir sie, wenn es sonst keine mehr gab. Das heißt, ganz so war es natürlich nicht. Sie fraßen einander nämlich zum größten Teil auf.« Miß Octavia führte Mrs. Penmark auf dem gesamten Gelände herum. Sie standen auf der Brücke, die den kleinen Lost River überspannte und sahen sein klares, sauberes Wasser, das sich in die Bucht ergoß. Dann ertönte der Gong zum Mittagessen, und sie gingen zum Haus zurück. Anschließend wollte Christine allein zur Werft gehen, falls Miß Octavia damit einverstanden sei. »Natürlich«, antwortete Miß Fern. »Später komme ich nach, wenn es Ihnen recht ist. Ich möchte erst noch ein paar Zweige von dem flammenfarbenen Oleander abschneiden. Eine Freundin in der Stadt liebt diese Farbe ganz besonders, und es stimmt auch, daß ich diesen Farbton sonst noch nirgends gesehen habe. Wir haben viel Zeit, denn ich habe mir den ganzen Nachmittag freigehalten.« Christine ging bis zum Ende der Werft und blieb dort unentschlossen stehen. Dann fiel ihr ein, weshalb sie eigentlich hierhergekommen war, öffnete die Tasche, nahm die Medaille heraus und ließ sie zwischen die Balken fallen. Sie glaubte, irgendwie genauso schuldig zu sein wie Rhoda. Bei dem Gedanken daran, wie unehrlich, wie heimlich sie unter dem Druck ihrer Angst und ihres Schuldgefühls handelte, mußte sie einen Augenblick den Atem anhalten und krampfhaft schlucken. Aber nach dem Besuch bei den Daigles war ihr diese Methode, sich der Medaille zu entledigen, als die einzig mögliche erschienen. Den Daigles konnte sie den Preis, den ihr kleiner Sohn gewonnen hatte, auf keinen Fall mehr geben. Rhoda ist mein Fleisch und Blut, sagte sie zu sich selbst. Ich muß dafür sorgen, daß ihr kein Leid geschieht. -102-
Dann sah sie sich im Sommerhaus um, das von Stürmen und Sturmfluten fast zerstört war. Irgendwie mußte sie nun Ordnung in ihre Gedanken bringen. Vielleicht waren ihre Befürchtungen begründet; vielleicht aber auch nicht. Wie konnte sie sich Gewißheit verschaffen? Sie mußte um jeden Preis die Wahrheit erfahren, denn der Zweifel war grausam und zerstörerisch. Es war ihr gleichgültig, wie diese Wahrheit aussehen würde. Die Qual der Ungewißheit war noch unerträglicher als die schlimmste Wahrheit. Sie setzte sich und legte die Hände in einer Geste verzweifelter Hilflosigkeit vor ihr Gesicht. Kurz darauf kam Miß Octavia und hatte ein Körbchen mit Oleanderzweigen am Arm hängen. Schweigend saßen sie da und sahen auf die grauschimmernde Bucht hinaus. Ein paar Meeräschen schnellten in hohem Bogen aus dem Wasser, um hinter den kleinen, anrollenden Wellen wieder einzutauchen. »Glätten Sie die Falten auf Ihrer Stirn«, sagte Miß Octavia endlich. »Sie sind sehr viel hübscher, wenn Sie lächeln. Glauben Sie mir, es gibt kaum etwas auf der Welt, um das es sich lohnte, sich selbst zu verdüstern, noch weniger, darum zu weinen.« »Wollen Sie mir nicht sagen, was Ihrer Meinung nach an jenem Tag geschehen ist?« bat Christine. »Sie sehen ja, ich bin sehr nervös und noch mehr besorgt.« »Aber ich dachte doch, Sie wüßten es«, antwortete Miß Fern erstaunt. Dann ordnete sie die Zweige in ihrem Korb, um Christine nicht ansehen zu müssen. Der Junge müsse vor Rhodas Zudringlichkeit zur Werft gelaufen sein und sich dort versteckt haben, vielleicht sogar in dem Sommerhäuschen, in dem sie saßen. »Aber Rhoda mußte ihn trotzdem gefunden haben. Als er dann sah, daß sie wieder auf ihn zukam, wurde er verwirrt, lief rückwärts davon und fiel ins Wasser.« »Ja, so könnte es gewesen sein«, stimmte Christine zu. Claude, sagte Miß Fern, sei bei all seiner Zartheit ein guter -103-
Schwimmer gewesen, und Rhoda wußte das. Sie mußte also damit rechnen, daß er ans Land schwimmen würde. Wie konnte Rhoda aber wissen, daß gerade dort diese Balken waren? Die Gedankengänge und Reaktionen von Kindern seien nicht immer durchschaubar und unerklärlich. »Vielleicht hatte Rhoda, als er ins Wasser fiel, Angst, sie werde dafür getadelt, daß er seinen neuen Anzug verdorben habe, weil sie daran schuld war. Vielleicht bekam sie Angst, weil der Strandwächter sie anschrie, so daß sie davonlief. Und als Claude nicht sofort ans Land schwamm, glaubte sie vielleicht, er habe sich versteckt, um sie zu erschrecken. Also tat sie vorerst nichts. Und dann, als es zu spät war für jede wirksame Hilfe, hatte sie Angst, etwas zu sagen und zu berichten, was geschehen war.« Sie beschattete die Augen mit einer Hand und sah hinaus aufs Meer. »Sie wollen, daß ich ehrlich zu Ihnen bin. Ich glaube, Rhoda hat Fahnenflucht begangen wie ein ängstlicher Soldat, der zum erstenmal im Feuer ist. Wie viele ältere und weisere Menschen als sie haben das getan!« Sie standen auf und gingen zur Werft hinunter. Miß Octavia legte eine Hand auf Christines Arm. »Ich bin nicht Ihre Feindin, Mrs. Penmark. Das dürfen Sie nicht glauben. Wenn Sie mich brauchen, dann kommen Sie zu mir. Ich bin immer für Sie da.« »Ich war so betrübt über den Tod des Jungen«, sagte Christine. »Und ich hatte Angst und fühlte mich schuldig.« Es sei unvernünftig und unlogisch, sich Schuldgefühlen auszuliefern, antwortete Miß Octavia, doch sie könne Mrs. Penmarks Gefühle gut verstehen. Zergliedere man aber leidenschaftslos ein solches Schuldgefühl, dann bleibe meistens nichts anderes übrig als eine recht schmerzliche Form von Stolz. Aber, erklärte sie, es sei absolut normal, wenn jeder Mensch sein ganz bestimmtes Schuldgefühl habe, denn es richte sich nach der bisher zurückgelegten Entwicklung und nach dem -104-
Platz, den man im Leben einnehme. Von Anfang an werde uns beigebracht, daß dieser oder jener Impuls verachtenswert und niedrig sei. Die sogenannte Erbsünde, die den Menschen als grundsätzlich schlecht hinstelle, sei eine raffinierte menschliche Erfindung, die letzten Endes die Hexenverfolgungen und die Inquisition ausgelöst habe und damit geradezu wahnsinnige Schuldbekenntnisse. Ungeheuerlich sei nicht das in der Folter erzwungene Geständnis, sondern die Kraft, mit der diese Menschen so lange dem Zwang widerstanden hätten. »Ich weiß zu wenig darüber«, antwortete Christine. »Ich bin nicht intellektuell genug.« Sie dachte: Ich werde das akzeptieren, was Rhoda mir erzählt hat. Im Zweifelsfall für den Angeklagten, also auch für mein Kind. Ich habe keinen Grund, den Tod der alten Dame in Baltimore oder den des kleinen Daigle mit ihr in Verbindung zu bringen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen, wenn ich mich nicht zu Tode grämen will. Sie stiegen wieder in den Wagen, und Miß Fern sprach leise weiter. Manchmal machte sie auf eine besonders hübsche Baumgruppe oder einen historischen Platz aufmerksam, aber dann nahm sie den alten Faden wieder auf. »Woher wollen wir wissen, daß unsere eigenen Auffassungen von Gut und Böse Gott auch nur im mindesten bekümmern? Es gibt nichts in der ganzen Natur, nicht einmal in den grausamen Gewohnheiten der Tiere, das eine solche Annahme als richtig bestätigen würde.« »Vielleicht ist es so. Ich weiß es nicht«, sagte Christine. »Monica Breedlove ist zum Beispiel der Meinung, eine menschliche Verhaltensweise könne damit geändert werden, daß man auf einer Couch endlos über alles mögliche und unmögliche zu einem Mann spricht, der vielleicht ebenso ratlos ist, wie der Patient selbst. Das beweist mir, daß Monica viel romantischer und vertrauensseliger ist als ich.«
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Nach dem Essen bat Rhoda um die Erlaubnis, in den Park gehen zu dürfen, die ihr Mrs. Forsythe gab. Sie nahm ihr Buch und setzte sich auf ihren gewohnten Platz unter dem Granatapfelbaum. Kaum hatte sie ihr Buch aufgeschlagen, als Leroy im Park erschien und vorgab, den Weg hinter ihr zu kehren. Er kehrte ihn so sauber wie einen Parkettboden und begann dann wieder von neuem. »Da sitzt sie also und liest ein Buch«, sagte er, »und tut so, als sei sie gescheit. Denkst du vielleicht daran, wie du den kleinen Jungen mit dem Stock geschlagen hast? Freut dich das so? Du siehst aus wie eine Katze, die gerade eine dicke Maus gefressen hat.« »Hören Sie endlich auf, diesen Weg zu kehren«, riet ihm Rhoda mit der ein wenig gelangweilten Stimme eines sich gestört fühlenden Erwachsenen, »und verschwinden Sie von hier. Sie reden doch nur Unsinn; ich will nichts von Ihnen hören.« Leroy stellte seinen Besen weg und sah den Baum prüfend an. Er brach einen dürren Zweig ab, wog ihn in der Hand und trat damit vor das Kind. »Sag mal, hat der Stock, mit dem du ihn geschlagen hast, ungefähr die Größe gehabt wie der Ast hier?« »Kehren Sie Ihren Weg und reden Sie mit anderen Leuten, wenn Sie unbedingt Unsinn reden wollen«, erwiderte Rhoda ruhig. »Du hast ihn ins Wasser geworfen. Dann hat Claude doch wohl versucht, sich wieder auf die Werft hinaufzuziehen, nicht wahr? Aber du hast ihn mit dem Stock so auf die Hände geschlagen, daß er loslassen mußte. Und auf die Schläfe hast du ihn auch noch geschlagen, weil er nicht loslassen wollte. Dort hat es dann stark geblutet.« Rhoda hob ein Taubenfederchen auf, blies den Staub davon weg und benutzte es als Lesezeichen. Dann sah sie ihn fest an. »Du tust so, als wüßtest du nicht, wovon ich rede«, sagte Leroy, und feixte boshaft. »Aber du weißt es ganz genau, du bist -106-
nicht so dumm wie die anderen, das geb’ ich gerne zu, aber mies bist du, richtig mies. Nein, ein Dummkopf bist du auch nicht, sonst hättest du den blutigen Stock, mit dem du ihn geschlagen hast, nicht mitgenommen, als du von der Werft wegliefst. Ja, du hast ihn am Strand abgewaschen, weil er blutig war. Dann hast du ihn irgendwohin geworfen, wo ihn niemand findet. Wahrscheinlich in den Wald. So war es doch?« »Ich glaube, Sie sind ein sehr dummer Kerl.« »Vielleicht, aber nicht so dumm wie du.« Die Sache machte ihm immer mehr Spaß. Sie tat zwar sehr uninteressiert, aber er sah doch genau, welche Angst sie hatte! Zugeben durfte sie es natürlich nicht. »Du bist die Dumme!« fuhr er fort. »Du glaubst, du könntest Blut von einem Stock abwaschen, aber das kann man nicht.« »Warum soll man Blut nicht abwaschen können?« »Warum? Darum! Es geht eben nicht, wenigstens nicht alles. Jeder weiß das, nur du nicht. Du wüßtest es, wenn du den Leuten zuhören würdest, die’s wissen. Aber du redest immer zuviel.« Er nahm wieder seinen Besen und fegte fast wütend den Pfad. »Und jetzt sag’ ich dir, was ich tun werde, wenn du nicht nett zu mir bist. Ich geh’ zur Polizei und sag ihnen, sie sollen den Stock suchen, und die finden ihn auch. Die haben nämlich Stockbluthunde, die jeden Stock finden, an dem Blut ist. Du glaubst zwar, an dem Stock sei kein Blut mehr, aber das ist nicht wahr. Die sprühen etwas darauf, und dann kommt das Blut von dem kleinen Jungen wieder zum Vorschein. Es klagt dich an und verrät, was du getan hast. Ja, ja, ganz blau wird es, und die Polizisten wissen dann sofort…« Er drehte sich schnell weg, denn er sah Mrs. Penmark in den Park kommen, um ihre Tochter zu holen. Sie fühlte die Spannung sofort. »Leroy, was haben Sie jetzt wieder zu meiner Tochter gesagt? Womit haben Sie Rhoda jetzt schon wieder schikaniert?« -107-
Er stützte sich auf seinen Besen. »Ich hab’ gar nichts Ungewöhnliches zu ihr gesagt, Mrs. Penmark. Wir haben nur ein bißchen geredet.« »Was hat er zu dir gesagt?« wandte sie sich an Rhoda. Rhoda stand von der Bank auf. »Ach, er meinte, ich solle nicht soviel lesen. Vom Lesen würde man nur kurzsichtig.« Aber Mrs. Penmark hatte den kalten, bösen Ausdruck in den Augen ihrer Tochter gesehen, und auch Leroys triumphierendes Feixen entging ihr nicht. Sie wurde sehr zornig. »Ich will nicht, daß Sie jemals wieder mit Rhoda sprechen, unter keinen Umständen. Haben Sie mich verstanden?« Leroy tat beleidigt. »Ich hab’ nur das zu ihr gesagt, was sie Ihnen selbst erzählt hat. Sie haben es doch gehört.« »Das ist mir egal. Sie sprechen sie jedenfalls nicht mehr an. Wenn Sie je Rhoda oder eines der anderen Kinder wieder belästigen, melde ich Sie der Polizei. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Sie nahm Rhodas Hand und ging mit ihr zum Tor. Dort drehte sich Rhoda um, warf ihm einen scharfen, abschätzenden Blick zu und sagte etwas, das zwar nur eine kindliche Redensart war, in diesem Fall aber zutraf: »Was Sie über mich sagen, das sagen Sie ja in Wirklichkeit über sich selbst.« An jenem Abend erzählte Leroy diesen Vorfall lachend seiner Frau. Die Kinder saßen auf einer Bank und gruben mit ihren nackten Zehen in der Erde. »Ich hab’ dir doch gesagt, Leroy«, zischte ihn Thelma an, »du sollst die Kleine in Ruhe lassen. Du schaffst dir nur Ärger mit der, wenn du sie ständig ansprichst.« »Es macht mir aber Spaß, das freche Gör zu ärgern. Sie hat früher nie auf mich gehört, aber jetzt tut sie’s. Außerdem ist Rhoda viel zu raffiniert. Sie läuft nicht weg und heult, wie’s die anderen tun würden. Sie ist frech und gerissen; aber Ärger krieg’ ich mit der bestimmt nicht.« Er lachte, nickte und sah recht selbstzufrieden drein. -108-
»Es kann dir aber jemand zuhören, auch wenn Rhoda nichts erzählt«, wandte Thelma ein. »Heute hat dich ja schon ihre Mutter gehört, und eines Tages hast du dir eine schöne Suppe eingebrockt. Wenn sie dich bei der Polizei anzeigt, dann holt man dich ab und schlägt dir die Zähne ein.« Leroy streckte sich, gähnte und lachte. »Sag mal, seh’ ich vielleicht wie ein Dummkopf aus?« fragte er.
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7
Nach der Fahrt mit Octavia Fern fühlte sich Christine sehr erleichtert, und in den folgenden Tagen ging sie ihrer Arbeit im Haus mit mehr Schwung nach als vorher. Mit Mrs. Breedlove ging sie zu einer Trauung und weinte ein paar Tränen hinter dem vorgehaltenen Taschentuch. Sie kaufte eine altmodische Roßhaarmatratze für Kenneth’ Bett, die er sich gewünscht hatte. Sie ging sogar zu einer Tanzparty, die der Chef ihres Mannes für seine zu Besuch weilenden Nichten gab, und sie war fest entschlossen, all ihre Ängste über Bord zu werfen und ihre Unsicherheit zu vergessen. Das gelang ihr auch, solange sie in Gesellschaft war oder zu tun hatte. Nachts, wenn Rhoda schlief und alles still war, stahlen sich die Zweifel wieder in ihr Herz, wurden zu Ungeheuern und quälten sie. Eines Morgens wachte sie mit dem Gedanken auf, sie müsse sich unbedingt wieder fest in die Hand bekommen, sonst werde sie ebenso hysterisch wie Mrs. Daigle. Und nun kam sie zu einer Erkenntnis: Wenn sie schon Rhodas Normalität in Frage stellte, wenn ihre Vermutung zutraf, daß Rhoda verbrecherische Züge habe, dann mußte sie der Tatsache ins Gesicht sehen und durfte ihr nicht mehr länger ausweichen. Dann mußte sie sich selbst eingehend über alle damit zusammenhängenden Fragen unterrichten, um sich auch gegen die unerfreulichsten Dinge mit Mut und verständnisvollem Wissen zu wappnen. Sie mußte die Situation, falls möglich, zu ändern versuchen; und wenn es keinen anderen Ausweg gab, mußte sie den bestmöglichen Kompromiß mit den Tatsachen schließen. Nur durch Wissen und Verständnis konnte sie ihrem Kind helfen und es dazu bringen, daß es sich normalen Zielen zuwandte und normale -110-
Verhaltensweisen entwickelte. Das Gespräch mit Reginald Tasker fiel ihr wieder ein, und am liebsten hätte sie ihn sofort telefonisch um Rat gebeten. Aber diesem Impuls gab sie dann doch nicht nach, da ihre Energie von Zweifeln schon sehr angegriffen war. Statt dessen beschloß sie, eine Cocktailparty zu geben und ihn dazu einzuladen, obwohl sie an den anderen Gästen im Augenblick absolut uninteressiert war. Es mußte ihr gelingen, ihn ein paar Augenblicke allein für sich zu haben, und dann wollte sie ihn bitten, ihr bei der Auswahl von Lesestoff zu helfen. Natürlich mußte sie auch ihn anlügen, denn sie hatte vor, ihm zu sagen, sie wolle sich an einen Roman wagen, um die Zeit besser ausfüllen zu können, die Kenneth noch weg sei. Die Party gab sie am letzten Junitag. Rhoda hatte sie bei Mrs. Forsythe untergebracht, doch sie gab dem Kind nach und ließ sie von Mrs. Forsythe herüberbringen, als die Gäste vollzählig waren. Rhoda trug ein weißes, gelbbesticktes Kleidchen, das ihre Mutter erst vor wenigen Tagen genäht hatte, dazu weiße Schuhe und gelbe Söckchen. Die Gäste fanden sie entzückend. Sie lächelte ihr kleines, zögerndes Lächeln, knickste anmutig und hörte großäugig zu, wenn sie gelobt wurde. Sie war sehr höflich, sehr ernsthaft und fast würdevoll beherrscht, und als Mrs. Forsythe kam, um sie abzuholen, umarmte sie ihre Mutter mit genau berechneter Spontaneität, nickte den Gästen lächelnd zu und drückte sich wie schutzsuchend an die alte Dame. Nun fand Christine endlich Zeit, mit Reginald zu sprechen. Sie erklärte ihm, seit der Unterhaltung bei Monica Breedlove habe sie viel über dieses Thema nachgedacht und sogar den Prozeß Ponder genau verfolgt. Dann legte sie den Kopf ein wenig schief und lächelte ihn an. Ob er sich denn gar keine Gedanken darüber mache, daß er alte, verheiratete Damen mit solchen Themen verderbe? Reginald antwortete, das bedauere er nicht im mindesten, er habe, ganz im Gegenteil, sogar vor, das noch viel ausführlicher zu tun, wenn er einmal Zeit dazu habe. -111-
»Zuletzt unterhielten wir uns über Verbrechen, die von Kindern begangen werden«, fuhr Christine fort. »Es fiel mir schwer, Ihnen zu glauben, daß von Kindern ausgeführte schwere Verbrechen gar nicht so selten seien, wie allgemein angenommen werde. Und dann sagten Sie noch, wer später als Verbrecher berühmt geworden sei, habe in der Regel schon ziemlich früh damit angefangen. Meinten Sie das ernst, oder haben Sie sich damit nur über meine Unwissenheit ein wenig lustig gemacht?« Er habe seine Bemerkung völlig ernst gemeint, versicherte Reginald. »Ich bin besonders an einem Verbrechertyp interessiert«, erklärte er. »Seit langer Zeit sammle ich alle Berichte über solche Fälle und mache mir Notizen zum Studium dieses Typs. Diese Art Verbrecher scheint sich von den anderen schon dadurch zu unterscheiden, daß sich Männer und Frauen hier ziemlich die Waage halten. Wenn sie nicht ausgesprochenes Pech haben oder so ungeschickt sind, daß sie gleich zu Anfang erwischt werden, dann enden diese Typen als Mörder großen Stils. Sie töten nie aus den sonst üblichen Gründen; nicht aus Leidenschaft, denn sie haben keine; nicht einmal aus Eifersucht, enttäuschter Liebe oder Rache. Sexuelle Grausamkeit scheinen sie nicht zu kennen. Sie töten aus zwei Gründen: aus Gewinnsucht, weil sie von einer unbeherrschbaren Gier nach Besitz getrieben werden, oder um Gefahren von sich abzuwenden, wenn ihre Sicherheit fraglich geworden ist.« »Oh, das interessiert mich ungemein«, sagte Christine. »Würden Sie mir erlauben, einen Blick in Ihr Material zu werfen? Ich werde selbstverständlich sehr sorgsam damit umgehen.« Mrs. Breedlove kam mit einem Glas in der Hand auf die beiden zu. »Aber Christine!« rief sie erstaunt. »Was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja völlig verändert!« Christine lächelte. »Ich glaube, Monica, das ist ein kleiner Irrtum. Ich hätte gar keinen Grund dazu.« -112-
»Oh, doch!« beharrte Mrs. Breedlove und schüttelte den Kopf. »Für alles, was man tut, gibt es einen guten psychologischen Grund. Wir müssen ihn nur finden. Wissen Sie, als ich damals bei Dr. Kettlebaum in Behandlung war, traf ich, wenn ich warten mußte, oft einen jungen Mann dort, mit dem ich mich natürlich unterhielt. Dieser junge Mann, dessen Namen ich – auch das ist symptomatisch – vergessen habe, sagte mir einmal, er finde mich ungewöhnlich anziehend. Ich sei sein Ideal – von einem Punkt abgesehen. Er verehre nämlich nur einbeinige Frauen, und ich hätte ja schließlich deutlich sichtbar zwei.« Reginald pfiff erstaunt. »Junge, Junge, das ist eine ganz neue Masche!« »Ich gab ihm zur Antwort, ich fände ja, daß er recht gut aussehe und zum Beispiel die hübschesten Wimpern habe, die ich je an einem Mann bemerkt hätte. Aber, mein Lieber, sagte ich ihm, wenn Sie jetzt glauben, ich lasse mir ein Bein amputieren, um Ihnen ohne Einschränkung zu gefallen, dann sind Sie aber ganz gewaltig schief gewickelt, mein Lieber!« Reginald und Christine lachten schallend, und Monica fuhr fort: »Dieser junge Mann mit dem seltsamen Geschmack starrte mich mit der durch nichts zu erschütternden Haltung des Engländers an und sagte: ›Madame, das habe ich auch durchaus nicht erwartete‹.« »Wo wird der arme Kerl aber einbeinige Frauen finden?« fragte Christine. »Meine liebe Christine, das habe ich ihn auch gefragt. Er sah mich aber nur erstaunt an. ›Finden?‹ fragte er. ›Meine liebe, verehrte gnädige Frau, das Problem ist, wie man ihnen aus dem Weg geht! London ist voll von einbeinigen Frauen, wie Sie sicher bemerkt haben. Auf Schritt und Tritt laufen sie einem über den Weg.‹« Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dann fragte -113-
Christine: »Ist die Moral dieser Geschichte auf mich gemünzt? Heißt das, das Auge findet, was der Geist sucht?« »Aber natürlich!« Mrs. Breedlove erwähnte, daß sie es als symptomatisch ansehe, wenn Mrs. Penmark schmutzige oder verbrecherische Tatsachen einfach nicht wahrhaben wolle; mit anderen Worten: ein positiver Wunsch verstecke sich hinter einer negativen Reaktion. Das habe aber zu bedeuten, daß sie während einer gewissen Zeit emotional nicht in der Lage gewesen sei, unvoreingenommen ihre Haßund Zerstörungstriebe zu prüfen. Jetzt, da ihre Ängste so offensichtlich nachgelassen hätten, sei sie dazu fähig. Alles in allem sei sie fast glücklich darüber, daß Christine sich jetzt allmählich für das Verbrechen zu interessieren beginne und objektiver darüber denke. Das lasse auf mehr Toleranz und eine größere Reife schließen. Und nun musterte Monica ihre Freundin. Christine war darüber verwirrt und gab die Erklärung, die sie sich zurechtgelegt hatte, die sie auch später dann so oft als Ausrede benützte, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Sie habe, sagte sie, schon immer den Wunsch verspürt, sich einmal an einem Roman zu versuchen, obwohl sie sehr daran zweifle, daß sie etwas zustande bringe. Als sie von Reginalds Ansichten gehört habe, die sich so grundlegend von denen anderer Leute unterschieden, sei sie versucht gewesen, sie in dem autobiografischen Buch zu verwenden, das ihr vorschwebe. Dazu wolle sie auch Prozesse verwenden, die sich tatsächlich abgespielt hätten. Warum sagte ich, daß es ein autobiografisches Buch werden sollte? überlegte sie. Seltsam, wirklich seltsam. Mrs. Breedlove ging aber nicht, wie Christine befürchtet hatte, auf dieses Wort ein, sondern stand auf, um sich den anderen Gästen zu widmen. Reginald bot Mrs. Penmark an, ihr das Material zu leihen, das er zusammengetragen hatte. Er habe eine große Anzahl von Fällen in bestimmte Kategorien zusammengefaßt. Sein eigenes Buch stütze sich ausschließlich -114-
auf Tatsachen, komme also nicht in Konflikt mit dem ihrigen. Dann fragte er, ob sie schon einen genaueren Plan für diesen Roman habe oder noch an den Details arbeite. Nein, erklärte sie, bis jetzt wisse sie nur soviel, daß sie über eine Massenmörderin schreiben wolle, die nicht nur das Leben ihrer Opfer zerstöre, sondern noch weit über ihren eigenen Tod hinaus unheilvoll weiterwirke. Sie wisse genau, daß diese Idee nicht viel hergebe, aber weiter sei sie bisher nicht gekommen. Am folgenden Morgen wollte Mrs. Forsythe mit Rhoda in die Eisdiele an der Ecke gehen. Sie war, wie Mrs. Breedlove sagte, früher eine Schönheit gewesen. Jetzt war sie fast siebzig, groß, sehr schlank, aber breithüftig und mit abfallenden Schultern. Ihr blondes, graumeliertes Haar trug sie in einem Schopf oben auf dem Kopf, ähnlich wie damals, als sie noch jung gewesen war. Als nun Mrs. Forsythe mit Rhoda an der Hand aus der Tür trat, stand Leroy auf dem Gehsteig. Natürlich hatte er sich wieder etwas ausgedacht, um das verhaßte Kind zu ärgern, und dieser Einfall erschien ihm besonders witzig. Er ging in den Keller und holte die tote Ratte aus dem Käfig, wo sie seit dem frühen Morgen gelegen hatte. Er band ein Schleifchen um ihren Hals und legte sie in einen Geschenkkarton, den er von Weihnachten her aufgehoben hatte. Dann schlug er ihn in buntes Papier ein, verzierte ihn mit einer Seidenschleife und wartete auf Rhodas Rückkehr. Hinter dem Rücken der alten Dame winkte er Rhoda zu, doch sie beachtete ihn nicht. Als dann Mrs. Forsythe an der Tür stand und in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte, näherte sich Leroy und flüsterte Rhoda zu: »Ich hab’ ein hübsches Geschenk für dich. Etwas ganz Schönes, das ich eigens für dich aufgehoben hab’!« Rhoda nickte. Er ging in den Keller und stellte sich hinter die Tür, wo man ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf kam Rhoda ihm nach. »Wir sollten eigentlich recht gute Freunde sein«, -115-
wisperte er ihr zu, obwohl ihn niemand hören konnte. »Du kriegst jetzt ein Geschenk von mir, weil ich manchmal doch recht gemein zu dir war. Als ich es sah, da dacht’ ich gleich, das wär’ ein schönes Geschenk für Rhoda Penmark.« »Was ist es denn, Leroy? Was haben Sie denn für mich?« »Mach das Paket nur auf, dann siehst du’s schon.« Rhoda öffnete das Päckchen. Sie hob den Kopf und starrte Leroy mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck an. Der lachte schallend, setzte sich auf die Bank und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel, aber auf eine Art, die auszudrücken schien, er habe sich mit Rhoda verschworen, und niemand dürfe es wissen. »Weißt du, was mir eingefallen ist, als ich das Geschenk verpackt hab’? Der kleine Claude, wie er tot in seinem Sarg gelegen ist.« Er wartete die Wirkung seiner Worte ab, doch Rhoda ließ sich nichts anmerken. »Zuerst dacht’ ich, ein paar Blumen gehören auch hinein, aber ich hab’ keine Zeit gehabt, zum Friedhof zu gehen und sie von Claudes Grab zu stehlen.« Rhoda stand auf, aber Leroy hielt sie fest. »Jetzt sind wir ja wieder gute Freunde«, sagte er. »Du kannst mir also etwas verraten. Hast du den blutigen Stock gefunden, den du so gut abgewaschen hast? Wenn nicht, dann ist’s aber höchste Zeit, daß du ihn suchst. Wenn ich nämlich wieder einmal böse auf dich bin, könnt’ ich leicht zur Polizei gehen und ihnen sagen, daß sie ihn suchen sollen.« An diesem Nachmittag brachte Reginald die versprochenen Unterlagen. An jeden einzelnen Bericht war eine gedrängte Zusammenfassung geklammert, oft ergänzt durch einen Kommentar. Rhoda spielte im Park, und als er gegangen war, nahm sich Christine drei Fälle vor, auf denen er vermerkt hatte: Jung. Situation einfach. Missetäter nicht sehr intelligent. Ging schnell in die Falle. Raymond Walsh, ein sechzehnjähriger Junge, erschoß seinen -116-
jüngeren Freund wegen eines sehr kleinen Geldbetrages. Beulah Hunnicutt und Norma Jean Brooks, beides sehr junge Mädchen, töteten einen mit ihnen befreundeten Farmer wegen zwei Dollar, die er in der Tasche hatte. Milton Drury ermordete seine Mutter und verbrannte sie anschließend, um an ihr Geld zu kommen. Eine Notiz in Reginalds Handschrift gab folgende Erklärung: Alle Täter hatten sich äußerst dumm und ungeschickt verhalten, alle wurden kurz darauf gefaßt. Ihr Tatmotiv, die Habsucht, war eindeutig und ist für diesen Typ bezeichnend. Keiner von ihnen hatte einen Begriff von menschlicher Moralität; keiner verstand, was Loyalität, Zuneigung, Dankbarkeit oder Liebe zu bedeuten haben; alle waren kalt, unbarmherzig und durch und durch selbstsüchtig. In diesen ›Kindergartenfällen‹ dokumentiert sich der allgemeine Typ des Verbrechers klarer als in komplizierteren Fällen. Mrs. Penmark seufzte, zündete eine Zigarette an und legte den Ordner weg. Die anderen Fälle las sie vorläufig nicht. Sie ging zum Fenster, stützte sich auf die Fensterbank und sah lange auf die ruhige Straße hinunter. Die Bäume schimmerten in der hellen Julisonne. Endlich kehrte sie wieder zu den Unterlagen zurück und las weiter. Die anderen Fälle betrafen routiniertere Praktiker. Sie waren ein gutes Stück intelligenter als die der ersten Gruppe, aber keinesfalls überdurchschnittlich klug oder gerissen. Es war ihnen gelungen, eine Zeitlang unentdeckt zu bleiben und ihre Technik zu perfektionieren. Ehe ihnen das aber vollständig gelang, wurden sie gefaßt. Tillie Klimek aus Illinois vergiftete fünf Ehemänner, um die Versicherungssummen kassieren zu können; Houston Roberts aus Mississippi hatte seine beiden Frauen und eines seiner Enkelkinder umgebracht, um von deren Tod zu profitieren. Er versuchte, eine zweite Enkelin zu ermorden, aber sie erholte sich, und er wurde gefaßt. Daisy de Melker aus Südafrika war eine Giftmischerin großen Ausmaßes. Schließlich wurde sie hingerichtet, weil sie ihren Sohn, den sie für fünfhundert Dollar -117-
versichert hatte, ermordete. Mrs. Penmark schloß die Unterlagen in ihrem Schreibtisch ein und ging zu einem Hinterfenster, um Rhoda zum Mittagessen zu rufen. Rhoda kam auch langsam aus dem Park geschlendert. Als sie an der Kellertür vorbeikam, steckte Leroy seinen Kopf heraus. »Wenn die Polizisten den Stock finden und ihn mit dem Mittel blau machen, dann kommst du auf den elektrischen Stuhl. Dort braten sie dich dann ganz langsam. Hast du schon einmal zugeschaut, wie deine Mama Speck brät? Genauso schaust du aus, wenn du auf dem elektrischen Stuhl sitzt. Du wirst ganz braun, schrumpfst zusammen und biegst dich an den Kanten auf.« »Der elektrische Stuhl ist viel zu groß für mich«, antwortete Rhoda. »Den fülle ich gar nicht aus.« »Das meinst du vielleicht. Laß dir was sagen: Für kleine, freche Gören wie dich haben sie auch kleine elektrische Stühle. Rosa, und genau deine Größe. Ha, das hab’ ich schon oft gesehen, wie das geht, und sie sehen hübsch aus, die Dinger. Aber natürlich sind sie noch viel schöner, wenn ein so mieses Stück wie du drauf gebraten wird wie ein Spanferkel.« »Das mit dem Stock und daß er blau wird, haben Sie sich ja nur ausgedacht. Wenn Sie immer solche Geschichten erzählen, kommen Sie nicht in den Himmel, sondern in die Hölle. Ja, genau dorthin kommen Sie, Leroy.« »Geh hinein und iß dein Mittagessen. Deine Mama hat mir verboten, noch mal mit dir zu sprechen, und dir hat sie’s auch verboten. Du solltest dich an das halten, was sie sagt. Aber ich sag’ dir noch mal, es wär’ besser für dich, wenn du diesen Stock suchen würdest. Ich könnt’ dir ja eine ganze Menge sagen, was du gerne wissen möchtest, aber ich darf nicht mit dir reden, und du gehst jetzt besser hinein. In Zukunft läßt du mich hoffentlich in Ruhe.« Leroy legte sich vergnügt auf sein improvisiertes Bett und -118-
dachte über seine Klugheit nach. Jetzt wußte er, daß er das freche Ding richtig erschreckt hatte. Ja, sie hatte Angst, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zu zittern anfing, wenn sie ihn nur sah. Nach dem Mittagessen setzte sich Rhoda ans Klavier und übte. Ganz beiläufig fragte sie nach einiger Zeit: »Mutter, ist es wahr, daß man Blut nicht richtig abwaschen kann? Und daß man nur Puder oder so etwas drauf tun muß, und dann wird das Ding dort blau, wo das Blut war?« »Wer hat dir denn solchen Unsinn erzählt? Leroy vielleicht?« »Nein. Du hast mir doch gesagt, ich darf nicht mehr mit ihm sprechen. Ein paar Männer redeten darüber, als sie am Parktor vorbeigingen.« Mrs. Penmark antwortete, davon wisse sie nichts, aber sie werde Onkel Reginald anrufen und ihn fragen, wenn Rhoda es wirklich wissen wolle. Aber Rhoda schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig.« Christine ging wieder in die Küche und wusch das Geschirr. Warum hatte das Kind eine so merkwürdige Frage gestellt? Sie wußte ganz genau, daß Rhoda nie, wie andere Kinder, etwas fragte, um sich selbst reden zu hören. Sie verfolgte mit jeder Frage ein bestimmtes Ziel. Das weckte erneut ihren Verdacht. Später sah sie Rhoda in ihr Schlafzimmer gehen und mit einem Päckchen herauskommen. Sie schaute vorsichtig nach allen Seiten, huschte zur hinteren Dielentür und zog sie lautlos hinter sich zu. Mrs. Penmark beobachtete ihre Tochter durch den Spalt der Küchentür. Neugierig und entsetzt lief sie ihr nach, als sie bemerkte, daß Rhoda zum Schacht der Verbrennungsanlage ging und fing sie gerade noch rechtzeitig ab. »Was hast du in dem Paket?« fragte sie. »Gib es mir sofort, Rhoda!« »Es ist nichts drin, Mutter.« »In dem Paket ist etwas, das du verbrennen wolltest. Sofort gibst du es mir!« -119-
Sie nahm ihr das Paket ab und schob sie vor sich her. Aber zu ihrem Erstaunen riß sich Rhoda los, schlug um sich, stieß mit den Füßen und biß sie schließlich wie ein geängstigtes Tier in einer Falle in das Handgelenk. Instinktiv ließ Mrs. Penmark das Paket fallen. Rhoda packte es und rannte davon. Im letzten Augenblick holte Christine das Kind wieder ein und griff nach dem Paket. Rhoda wußte, daß sie nun nicht mehr entkommen konnte und starrte ihre Mutter so kalt und haßerfüllt an, daß Christine unwillkürlich die Hand auf das Herz legte, weil sie diesen Schmerz nicht ertragen zu können glaubte. Wie ein tollwütiges Tier sprang Rhoda nun erneut ihre Mutter an, aber Mrs. Penmark fing sie auf und schüttelte sie kräftig. Sie schob das Kind vor sich her und öffnete, im Wohnzimmer angekommen, die Schachtel. Sie enthielt die schmutzigen Schuhe, die Rhoda zum Ausflug angehabt, aber seither nicht mehr getragen hatte. »Jetzt weiß ich, woher dein Interesse für Blut stammt. Du hast Claude mit deinem Schuh geschlagen, nicht wahr?« Christine staunte selbst über die Ruhe und Unpersönlichkeit in ihrer Stimme, obwohl sich ihr vor Kummer das Herz im Leib umzudrehen drohte. »Nicht wahr, du hast ihn mit deinem Schuh geschlagen?« wiederholte sie. »Sag mir die Wahrheit!« Aber Rhoda antwortete nicht sofort. Sie sah ihre Mutter mißtrauisch an und schien dabei zu überlegen, wie sie es erreichen konnte, sie erneut unter ihren Willen zu zwingen, um weiter mit ihrer Loyalität rechnen zu können. »Ich weiß jetzt alles«, sagte Mrs. Penmark, »also hat es keinen Sinn, noch länger zu lügen. Du hast ihn mit diesen Schuhen geschlagen, und daher stammen die merkwürdigen halbmondförmigen Quetschungen auf seiner Stirn und seinen Händen.« Langsam zog sich Rhoda von ihr zurück. Ihre Augen zeigten einen Ausdruck geduldiger Verwirrung. Dann warf sie sich auf -120-
die Couch, vergrub ihr Gesicht in einem Kissen und schluchzte, lugte aber vorsichtig zwischen ihren Fingern hervor, um das Gesicht ihrer Mutter zu beobachten. Rhodas Weinen war nicht überzeugend, und Christine musterte ihr Kind mit einem ganz neuen, leidenschaftslosen Interesse. Bis jetzt ist sie noch Amateur, dachte sie, aber sie wird von Tag zu Tag besser. In wenigen Jahren spielt sie virtuos und sehr überzeugend jede Gefühlstonleiter. »Antworte mir!« herrschte sie das Kind an. »Sofort!« Rhoda sah ein, daß sie ihre Mutter nicht beeindrucken konnte, stand auf und ging zu ihr. »Ich habe ihn mit dem Schuh geschlagen«, antwortete sie ruhig. »Ich mußte es tun, Mutter. Was hätte ich sonst tun sollen?« In ihrem Zorn und aus angstvoller Verzweiflung schlug sie Rhoda ins Gesicht. Sie taumelte nach rückwärts und fiel in einen tiefen Sessel. Christine preßte die Handflächen gegen die Stirn, denn sie fühlte sich krank vor Entsetzen. Sie tastete nach einem Stuhl und setzte sich. Als sich ihr größter Zorn wieder etwas gelegt hatte, fühlte sie nur noch ein würgendes Gefühl in Kehle und Magen und eine seltsame Unwirklichkeit in ihrem Kopf. »Verstehst du«, fragte sie traurig, »daß du den Jungen ermordet hast?« »Es war sein Fehler«, erklärte Rhoda geduldig und ungerührt. »Es war ausschließlich Claudes Fehler, nicht der meine. Hätte er mir die Medaille gegeben, als ich sie von ihm verlangte, dann hätte ich ihn ja nicht geschlagen.« Sie begann zu weinen und legte ihre Stirn an die Armlehne des Sessels. »Es war seine eigene Schuld«, wiederholte sie. Christine schloß die Augen in unendlichem Leid. »Sag mir, wie alles geschehen ist«, befahl sie. »Aber ich will die Wahrheit wissen. Du hast ihn umgebracht, und das weiß ich. Es hat also keinen Sinn, noch weiter zu lügen. Fang ganz von vorne an und erzähle mir alles, was geschehen ist.« -121-
Rhoda warf sich in die Arme ihrer Mutter. »Ich will es nicht wieder tun, Mutter! Ich will es ganz bestimmt nicht wieder tun!« Christine trocknete die Augen ihres Kindes und strich ihm die Haare glatt. »Ich warte noch immer auf deine Antwort. Erzähle. Ich muß jetzt alles wissen.« »Er wollte mir die Medaille nicht geben, als ich sie von ihm verlangte. Das ist alles. Dann lief er vor mir davon und versteckte sich auf der Werft, aber ich fand ihn. Ich sagte ihm, ich würde ihn mit meinem Schuh erschlagen, wenn er sich weiter weigerte, mir die Medaille zu geben. Er schüttelte den Kopf und sagte ›nein‹. Also schlug ich ihn. Daraufhin nahm er die Medaille ab und gab sie mir.« »Und was geschah dann?« »Er wollte davonlaufen, deshalb schlug ich ihn wieder. Er schrie und kreischte, und ich hatte Angst, daß jemand ihn hören könnte. Deshalb schlug ich ihn wieder, Mutter. Diesmal schlug ich fester zu, und er fiel in das Wasser.« Christine schloß die Augen. »Oh, mein Gott!« stöhnte sie. »Oh, Gott, oh, mein Gott!« Rhoda weinte nun heftiger, und ihr Mund verzerrte sich vor Angst. »Ich hab’ ihm die Medaille nicht weggenommen, Mutter! Claude hat sie mir selbst gegeben, als ich sie verlangte. Aber dann sagte er, er würde Miß Octavia erzählen, ich hätte sie ihm weggenommen, und dann wollte er sie wiederhaben. Deshalb habe ich ihn ja noch einmal geschlagen.« Was muß ich jetzt sagen oder tun? überlegte Mrs. Penmark. Wenn ich es nur wüßte! Plötzlich wischte sich Rhoda die Tränen ab und schlang ihrer Mutter die Arme um den Hals. »Oh, ich hab’ die schönste und liebste und beste Mutter!« rief sie schmeichelnd. »Ich sag’ es jedem, daß ich die liebste, schönste und…« »Wie kamen die Quetschungen auf Claudes Handrücken?« -122-
forschte sie. »Nachdem er ins Wasser gefallen war, wollte er sich wieder auf die Werft hinaufziehen. Ich hätte ihn nicht mehr geschlagen, aber er schrie immer wieder, er würde mich verraten. Deshalb schlug ich auf seine Hände, damit er loslassen mußte. Er wollte einfach nicht loslassen, Mutter, wie fest ich auch zuschlug. Ich mußte ihn also noch einmal auf den Kopf schlagen, dann auch auf die Hände. Ich schlug sehr fest zu. So kam auch das Blut an meine Schuhe. Endlich machte er die Augen zu und ließ los, wie ich es ihm gesagt hatte. Es ist aber nur seine Schuld, Mutter. Er hätte nicht sagen sollen, daß er mich verraten wollte. Das hätte er doch wirklich nicht tun sollen, nicht wahr, Mutter?« Rhoda dachte wieder an das, was Leroy gesagt hatte, und begann erneut zu weinen, jetzt aber vor Angst. »Werden sie mich jetzt auf den kleinen Stuhl setzen und die Elektrizität andrehen?« schluchzte sie und drückte sich an ihre Mutter. »Es ist doch nicht meine Schuld, daß Claude ertrunken ist, es war doch seine eigene!« Christine wußte nicht mehr, was sie denken, sagen oder tun sollte. Ratlos, verzweifelt drückte sie die Handflächen gegen ihre Wangen. Rhoda klammerte sich noch fester an ihre Mutter und zitterte nun am ganzen Körper. »Mutter, Mutter! Du läßt es doch nicht zu, daß sie mich auf diesen Stuhl setzen? Du willst doch nicht, daß man mir weh tut, Mutter? Bitte, laß es nicht zu!« Christine wandte ihr verstörtes Gesicht dem angstgeschüttelten Kind zu. »Niemand wird dir weh tun. Ich weiß nicht, was wir jetzt tun müssen, aber ich verspreche dir, daß dir niemand weh tun wird.« Erleichtert wischte sich Rhoda die Tränen ab. Sie lächelte, und ihr Grübchen war so reizend wie eh und je. Sie schmeichelte und küßte ihre Mutter und drückte sich fest an sie. »Was schenkst du mir«, fragte sie schließlich mit ihrer weichen, kindlichen Stimme, »wenn ich dir einen ganzen Korb voll Küsse gebe?« -123-
»Bitte!« wehrte Christine ab. »Mutter, antworte mir doch«, bettelte Rhoda. »Was schenkst du mir, wenn…« »Geh in dein Zimmer und lies«, befahl Christine streng. Dann fuhr sie bedrückt und ratlos fort: »Ich muß nachdenken. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich muß es mir erst überlegen.« Aber sie wußte schon jetzt, daß sie gar nicht in der Lage war, irgendeine Entscheidung zu treffen. Sie müßte ihrem Kind gegenüber eine völlig veränderte Haltung einnehmen und dann Pläne machen, wie sie diese Haltung in die Tat umsetzen konnte, doch ihr Geist bewegte sich nicht mehr auf den geraden Bahnen rationellen Denkens. Er drehte sich in einem taumelnden Wirbel von Emotionen, denen sie nicht zu entrinnen vermochte, und jeder neue Wirbel schrie ihr die Bekenntnisse ihrer Tochter in die Ohren. Sie hatte die Wahrheit zu wissen verlangt, um endlich die Qual des Zweifels loszuwerden. Jetzt wußte sie nicht mehr, ob es richtig gewesen war. Was sie in ihrer Phantasie so lange gefürchtet hatte, stand nun als unausweichliche, schreckliche Wirklichkeit vor ihr. Sie suchte in diesem Aufruhr Trost in dem Gedanken, daß auch die schrecklichste Wirklichkeit erträglicher sei als diese höllischen Zweifel, denn mit Tatsachen müsse und könne man sich irgendwie auseinandersetzen. Nach einiger Zeit ging sie in das Zimmer Rhodas. »Warum gehst du nicht in den Park hinunter?« fragte sie. »Ich will jetzt allein sein. Ich muß darüber nachdenken, was für dich und für uns alle am besten ist.« Gehorsam stand Rhoda auf und ging lächelnd zur Tür. »Aber du mußt mir versprechen, daß du keinem Menschen ein Wort von dem erzählst, was du mir gesagt hast. Das ist sehr wichtig. Verstehst du?« Doch als sie den ein wenig geringschätzigen und fast duldsamen Ausdruck in den Augen ihrer Tochter sah, fühlte sie sich unerfahren und -124-
ungeschickt. Rhoda würde niemals freiwillig sagen oder zugeben, was sie getan hatte. Äußerlich machte Rhoda den Eindruck eines gehorsamen, leicht lenkbaren Kindes; auch jetzt. Und doch wußte Christine, daß sie sich innerlich über die Erregung ihrer Mutter amüsierte. »Und wie hast du das mit der alten Dame in Baltimore gemacht?« fügte sie, einem Impuls nachgebend, hinzu. »Jetzt weiß ich schon so viel, daß eine Sache mehr oder weniger kaum mehr etwas ändert.« Fast triumphierend antwortete Rhoda und lächelte dazu: »Ich hab’ sie gestoßen, Mutter. Nur ein bißchen.« Als Rhoda in den Park verschwunden war, ging Christine ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Sie wußte selbst nicht, warum und was sie dort wollte. Sie deutete nur mit dem Finger auf ihr Spiegelbild und lachte schrill. Doch dann lehnte sie ihre Stirn an die Fliesenwand. Sie mußte so gut wie möglich mit diesem Geheimnis leben. Und sie mußte den Optimismus aufbringen, für die Zukunft das Beste zu hoffen. Es wäre ihr eine große Hilfe gewesen, hätte sie mit einem anderen Menschen über ihre Tochter sprechen können, doch sie wußte genau, daß sie das nicht tun durfte. Kenneth mußte sie natürlich alles erzählen, obgleich auch das fast unerträglich schwierig sein würde. Dann wurde aber der Hunger nach menschlichem Trost zu übermächtig. Sie rief Reginald Tasker an und erklärte ihm, sie arbeite eben am Aufbau ihres Romanes. Sie habe die Absicht, in den Mittelpunkt ein kriminelles Kind zu stellen, das in etwa den Mörderinnen glich, von denen sie in seinen Unterlagen gelesen habe. »Und wie ist es in diesem Fall mit der Mutter?« fragte er. »Ist auch sie kriminell veranlagt?« »Nein. Die Mutter wird ziemlich durchschnittlich und sogar etwas langweilig sein.« »Und darin liegt der Konflikt«, antwortete Reggie. »Wenn Sie das Gerippe fertig haben, lassen Sie’s mich doch wissen, ja?« -125-
Sie schwatzten ein wenig über gemeinsame Bekannte, und als sie wieder aufgelegt hatte, setzte sich Christine ans Fenster. Der Wirbel in ihrem Kopf hatte sich ein wenig beruhigt, und nun zwang sie sich darüber nachzudenken, wie sich die Zukunft ihrer Tochter gestalten würde und ließe. Die wichtigste Frage war die, ob Rhoda geistig normal sei. Mußte diese Frage verneint werden, dann war sie für ihre Taten nicht verantwortlich; aber dann gehörte sie in eine Anstalt, in der sie entsprechend behandelt und vielleicht sogar geheilt werden konnte und wo man sie wenigstens davor bewahren konnte, weiteres Unheil anzurichten. Dazu schüttelte sie entschieden den Kopf. Rhoda war nicht geisteskrank. Das wußte sie selbst ebensogut wie alle anderen, die sie kannten. Wäre es aber doch der Fall und Kenneth sei ihrer Ansicht, dann müßte man Schritte unternehmen – aber welche? Müßte Kenneths Familie davon erfahren? Sie schüttelte wieder den Kopf, denn sie war völlig ratlos. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen mußte. Ruhelos lief sie in ihrer Wohnung umher, nahm unbewußt einen Gegenstand in die Hand, stellte ihn wieder weg, strich über einen anderen, als versuche sie, mit kleinen Äußerlichkeiten den Aufruhr in ihrem Innern zu beschwichtigen. Doch es gelang ihr nicht. Sie beschloß, keine dieser Verbrechergeschichten mehr zu lesen, die nur ihre Angst nährten und ihre Niedergeschlagenheit vertieften. Doch dann stürzte sie sich sofort wieder darauf, als hoffe sie, irgendeiner dieser Fälle werde sie früher oder später auf das hinweisen, was sie zu wissen verlangte, ihr vielleicht sogar ein Geheimnis ihres eigenen Lebens enthüllen, das sie vage ahnte, dem sie aber auf keinen Fall mehr länger ausweichen wollte. Sie las die Fälle von jenen in die Kriminalgeschichte eingegangenen und fast berühmten Mörderinnen, die aus Profitgier gemordet hatten. Da gab es eine Mrs. Archer-Gilligan, die ein Altenheim besaß. Sie nahm Gäste gegen Zahlung einer einmaligen Summe auf und sorgte dafür, daß ihr ein ordentlicher -126-
Gewinn blieb. Belloe Gunness aus Indiana ging mit einem Beil auf ihre Verehrer los, stopfte sie dann in eine Art Silo und verfütterte sie allmählich an ihre Schweine. Miß Bertha Hill stammte aus einem Dorf namens Pleasant Valley. Catherine Wilson, eine Engländerin, bediente sich ausgiebig des Giftes der Herbstzeitlosen und hatte dabei solchen Erfolg, daß die Ärzte glaubten, eine neue, bisher unbekannte epidemische Krankheit sei in England ausgebrochen. Es gab eine Mrs. Hahn, eine Mrs. Brennan, eine Miß Jane Toppan, und eine gewisse Susi Olah, die fast ohne jede Hilfe fast die gesamte männliche Bevölkerung zweier ungarischer Dörfer ausgerottet hatte. Die männlichen Massenmörder überblätterte sie – bis auf einen Fall, den des Albert Guay. Er war Juwelier aus Quebec und sprengte ein Flugzeug mit allen Insassen in die Luft, um die Versicherungssumme für seine mitfliegende Frau zu kassieren. Eine Notiz Reginalds kennzeichnete diesen Mann als Massenmörder aus Zufall. Verglichen mit anderen Künstlern dieses Metiers wie Alfred Cline, James P. Watson und der unvergleichlichen Bessie Denker war er aber recht plump vorgegangen. »Bessie Denker, Bessie Denker«, sagte Christine Penmark nachdenklich, ging zum Fenster und sah hinaus. »Wo habe ich nur den Namen schon gehört?« Sie spielte mit der Jalousienschnur, als könne ihr das helfen, das aus dem Unterbewußtsein hervorzuholen, was sie vergessen wähnte. »Bessie Denker… August Denker… Emma Denker… Und eine alte Frau, die wir Kusine Ada Gustafson nannten.« Panische Angst überfiel sie. Sie rief Rhoda vom Park heraus und herrschte sie an: »Steck diese Schuhe in den Heizschacht!« Das Kind gehorchte. »Schnell, beeil dich doch!« schrie Christine mit greller, angstvoller Stimme. »Schnell! Steck sie in den Heizschacht! Verbrenne sie!« Wie gebannt vor Angst und Entsetzen sah sie zu, wie Rhoda -127-
zum Heizungsschacht ging, die Klappe öffnete und die blutbefleckten Schuhe hineinwarf.
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8
Später platzte Mrs. Breedlove auf ihre gewohnte Art herein. Sie war beim Einkaufen gewesen und ließ sich in den nächstbesten Sessel fallen. »Ich habe für uns beide ein Geschenk gekauft«, verkündete sie eifrig. »Ich wollte das Ding schon lange haben, fand es bisher aber nirgends. Sie können es sicher auch gebrauchen, denn Ihre Küche sieht ebenso aus wie die meine.« Es war eine Seifenschale, die über dem Spülbecken mit Saugfüßen angeklebt werden konnte. Die Gebrauchsanweisung war auf die Packung gedruckt. Aber Mrs. Penmark hörte nur mit halbem Ohr zu, denn sie war noch zu sehr mit dem beschäftigt, was sie von Rhoda gehört hatte. Automatisch lächelte und nickte sie von Zeit zu Zeit, wußte aber später nicht mehr, was Mrs. Breedlove gesagt hatte, deren Stimme an ihre Ohren plätscherte und nur ein Hintergrund für ihre eigenen Gedanken war. Soll ich zur Polizei gehen und gestehen, was sie getan hat? überlegte sie. Ein so kleines Kind verhaftete man nicht, und man machte ihm auch nicht den Prozeß, aber man würde sie irgendwohin in ein Heim stecken, sie ihr jedenfalls wegnehmen. Man nannte sie früher Reformschulen, fiel ihr ein, und dazu lächelte sie in Monicas Richtung. Ob sie heute auch noch so heißen? »Wissen Sie«, sprudelte Monica heraus, »ich hatte einen Bruder, der an Scharlach starb. Er war sehr klug, und ich war damals ein entsetzlich scheues Kind, das vor jedem Fremden davonrannte. ›Wissen Sie‹, sagten die Leute zu meiner Mutter, ›ein Glück, daß wenigstens der Junge klug ist. Wenn ein Mädchen dumm ist, schadet es nicht viel, und oft ist es sogar besser für sie.‹« Sie sah Christine an, als warte sie auf deren Antwort. Doch Mrs. Penmark wußte kaum, was sie gesagt hatte, und lächelte -129-
nur. »Ja, natürlich, Monica«, bemerkte sie. »Das stimmt haargenau.« Wenn sie also nun zur Polizei ginge und Rhodas Tat gestand, dachte sie dabei, dann würden sich sofort sämtliche Zeitungen des Landes auf den Fall stürzen: ENKELIN EINER MASSENMÖRDERIN AUF DEN SPUREN DER GROSSMUTTER oder KIND ALS DOPPELMÖRDERIN. So oder ähnlich würden die Schlagzeilen lauten. War die Maschine einmal angelaufen, konnte sie nichts mehr aufhalten. Monica, Emory, die Schwestern Fern, jeder in der Stadt würde es erfahren und sie – und was noch schlimmer wäre, auch Kenneth – bemitleiden. Dieser Gedanke war unerträglich. Mit der Karriere ihres Mannes war es dann unwiderruflich aus. Sie müßten aus dieser Stadt wegziehen, aber Ruhe und Frieden würden sie nirgends und niemals mehr finden. Mußten sie denn für alle Zeiten die Opfer ihres verbrecherischen Kindes bleiben? »Meine Mutter gab immer allen Leuten recht, und die sagten, ein Mädchen müsse nur hübsch sein, brauche aber keinen Verstand. Aber ich wehrte mich dagegen. Ich wollte nicht hübsch sein, und ich beschloß damals, niemals hübsch zu werden. Damit behielt ich dann allerdings recht.« Sie kicherte und musterte dann plötzlich Mrs. Penmark, deren Gesicht zu einer lächelnden Maske erstarrt war. Sie bemerkte Monicas Blick nicht. Das Verbrechen des Kindes zerstörte natürlich nicht nur ihre und Kenneth’ Zukunft, sondern auch das Leben seiner Mutter und seiner unverheirateten Schwestern. Sie waren alle prüde und konventionell und begriffen nicht, daß es Menschen geben konnte, die sich von ihnen unterschieden. Verzeihung war für sie nur ein leerer Begriff, den sie nie in die Tat umsetzten. Einen kriminellen Penmark würden sie nie akzeptieren und ihr die Schuld an der Veranlagung des Kindes geben. Sie mußte sich zwar damit abfinden, aber ihr Mann würde es viel schwerer haben als sie. Er hing an seiner Familie, trotzdem man ihm deutlich genug gesagt hatte, wie sehr man seine Heirat -130-
mißbilligte. Ach, was sollte nur werden? Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Was bilden sich die Männer nur ein?« hörte sie Monica sagen, aber vorher war ihr vieles entgangen. »Sie halten sich für die Herren der Schöpfung, aber ich werde ihnen zeigen, wo sie von ihrem hohen Roß absteigen müssen!« Nein, es hatte im Augenblick keinen Sinn, das Kind bloßzustellen. In einer Reformschule würde sie sich nichts Schlechtes abgewöhnen, sondern nur noch allerhand Böses dazulernen. Nein, das durfte sie nicht zulassen. Sie fühlte, daß wieder ein Lächeln von ihr erwartet wurde, und lächelte. »Ja, Monica, das glaube ich auch«, sagte sie. »Was ist denn heute nur mit Ihnen los, Christine?« fragte Monica schließlich. »Sie sehen so blaß und verstört aus. Wer hat Ihnen denn weh getan? Wer hat Ihnen Angst gemacht? Wer behandelt Sie schlecht?« Sie streckte die Beine aus und richtete sich energisch auf. »Ich will ganz ehrlich sein, Christine. Emory macht sich um Sie ebenso Sorgen wie ich. Gestern beim Abendessen sprachen wir über Sie, und wir stellten beide fest, daß Sie in letzter Zeit ganz außer sich sind. Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt? Lassen Sie mich Ihnen doch helfen, bitte!« Christine lächelte tapfer, doch damit vermochte sie keinen Menschen zu täuschen. »Ach, es ist nichts, Monica«, behauptete sie. »In letzter Zeit schlafe ich nur ziemlich schlecht. Vielleicht ist es die Hitze. Ich bin nicht so daran gewöhnt wie Sie und Emory. Aber machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.« »Nein, seit dem Fern-Picknick sind Sie anders als früher«, beharrte Monica. »Auch Emory sagte es. Zuerst widersprach ich ihm, aber wenn ich so zurückblicke, dann glaube ich doch, daß er recht hat. Nun, aber wenn Sie mir’s nicht sagen wollen, dann wollen Sie eben nicht.« Sie stand auf. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Sie werden es mir schon sagen, wenn Sie es für richtig halten.« -131-
»Es gibt nichts zu erzählen, Monica«, versicherte Christine. »Wirklich nicht.« Sie gab sich betont heiter und gesprächig, um Mrs. Breedloves Verdacht zu zerstreuen. Innerlich aber dachte sie: Keinem Menschen werde ich je ein Wort davon erzählen. Wie sollte ich es fertigbringen, mein eigenes Kind ans Messer zu liefern? Lange konnte Mrs. Penmark in jener Nacht nicht einschlafen. Unruhig warf sie sich im Bett herum, und als sie gegen Morgen endlich einschlief, wurde sie von einem bösen Traum gequält. Sie befand sich in einer weißen Stadt, die voller Menschen war, in der aber außer ihr niemand lebte. Am unendlich weiten Himmel hingen bewegungslose, pantoffelförmige Wolken. Sie ging herum und spähte in die kleinen Häuser, in denen Menschen wohnten, die aber nicht lebten, und sagte: »Ich habe mich verirrt. Will mir bitte jemand den Weg aus dieser kalten Stadt zeigen?« Und dann war die Stadt plötzlich voller Menschen. Sie ging durch sie hindurch wie durch einen Nebel. Niemand sprach mit ihr, niemand nahm Notiz von ihr. »Ich bin eine von ihnen«, sagte sie, »aber sie wissen es noch nicht.« Müde, bedrückt und weinend blieb sie dann vor einem der Häuser stehen, das sie als das ihre erkannte. Dann begann sie zu rennen, denn sie wußte nun, daß sie ebenso wie die anderen ein substanzloser Geist war. Erst jenseits der Stadt blieb sie auf einem kleinen Hügel stehen, um ein wenig zu rasten. Sie zitterte vor Angst, sah ein Haus, das wie ein Schuh geformt war, sah in Rhodas ordentlicher Handschrift den Namen Christine Denker auf die Vorderseite geschrieben. Und dann fiel dieses Haus in ein Nichts zusammen, und nur eine Wolke dünnen, grauen Staubes zeigte noch an, wo es gestanden hatte. »Sie wird uns alle vernichten«, sagte sie laut. »Ich bin ihr auch nicht entkommen. Sie wird uns mit der Zeit alle vernichten.« Am ganzen Körper zitternd und schweißnaß erwachte sie. Sie stand auf, zündete eine Zigarette an und rauchte sie. Hähne krähten in den ärmlichen Ställen der rohen Ziegelhäuser ein paar -132-
Straßen weiter. Sie ging zum Fenster und sah in die beginnende Dämmerung hinaus, die erst perlgrau, dann rosa schimmerte. Sie begann zu weinen und stützte ihre Hände auf den Fenstersims aus rotem Ziegel, der vom Tau ganz feucht war. Dann wandte sie sich vom Fenster ab und flüchtete in den Lampenschein des Wohnzimmers, der das Zwielicht der Dämmerung verbannte. Sie schloß die Tür zum Zimmer ihrer Tochter, damit sie vom Klappern der Schreibmaschine nicht gestört werde, und schrieb einen neuen Brief an ihren Mann, doch hatte sie nicht die Absicht, ihn wegzuschicken. Sie schrieb von ihrer Angst und Verzweiflung. Sie habe darauf bestanden, die Wahrheit zu erfahren, aber jetzt wisse sie nicht, wie sie die Sache mit Rhoda zu einem erträglichen Ende bringen könne. Der einzige Trost sei der, daß sie nicht mehr von Zweifeln aufgefressen werde. Aber jetzt wäre ihr lieber, die Wahrheit nicht zu wissen und noch immer, wenn auch vielleicht nicht mehr ganz überzeugt, an die Unschuld ihres Kindes zu glauben. Das Problem, das sich ihnen beiden nun stelle, könne sie noch nicht überblicken, aber sie wisse, daß es keine befriedigende Lösung geben könne. Was war ihre Pflicht dem Kind und der menschlichen Gesellschaft gegenüber? »Ach, wärest Du nur bei mir, mein Liebster«, schrieb sie. »Du könntest mir Halt geben und mir raten. Aber Du bist nicht hier, und so muß ich versuchen, bis zu Deiner Rückkehr so gut wie möglich allein zurechtzukommen. Ich muß mich an den Glauben klammern, daß Rhoda die Tragweite ihrer Handlungen noch nicht versteht, obwohl andere Kinder ihres Alters diese Dinge sehr wohl begreifen. Glaubst Du, daß sie daraus etwas gelernt hat und so etwas nie wieder tut? Ich bin entschlossen, von jetzt ab so wenig wie möglich an das zu denken, was ich weiß. Ich darf die Hoffnung nicht verlieren, daß sich doch noch einmal alles irgendwie zum Guten wendet. Mein Liebster, ich komme mir wie ein verirrtes Kind vor. Was soll ich nur tun? Bitte, komm schnell zu mir zurück. Ich brauche -133-
Dich so sehr. Um Gottes und unserer Liebe willen, komm so schnell wie möglich! Ich bin lange nicht so tapfer, wie ich immer zu sein vorgab…« Den fertigen Brief legte sie zu den anderen in die Schublade und verschloß sie wieder. Draußen war es nun hell, und die Sonne schien. Sie machte Kaffee für sich und trank ihn. Ihre Gedanken liefen dabei ununterbrochen im Kreis herum, immer im gleichen Kreis. Es war dumm, wenn sie glaubte, sie allein könne Entscheidungen über ihr Kind treffen und nur ihre Meinung allein sei maßgebend. Nein, das stimmte nicht. Die Verantwortung für das Kind trug sie zusammen mit Kenneth. Und wenn seine Arbeit getan und er wieder zu Hause war, mußte sie die Sache mit aller ihr zu Gebote stehenden Ruhe und Gründlichkeit mit ihm durchsprechen. Gemeinsam mußten sie dann entscheiden, was zu tun war. Gleich, was das Kind getan hatte, die Tatsache ließ sich nicht wegleugnen, daß es ihr eigenes Fleisch und Blut war, das sie gegen die Brutalität der Welt in Schutz nehmen mußte. Sie wußte nicht, wie Kenneth fühlen würde, wenn er erfuhr, was Rhoda getan hatte. Sie würde ihr Kind aber auf jeden Fall in Schutz nehmen so gut sie konnte. Natürlich gebot ihr die Rücksicht auf das Wohlergehen anderer Menschen, es ständig zu bewachen. Aber vielleicht steigerte sie sich nur in eine angstvolle Verwirrung und Depression hinein. Wahrscheinlicher wäre doch, daß Rhoda in Zukunft nichts mehr dergleichen versuchen würde, da sie doch wußte, daß sie, ihre Mutter, aufpassen würde. Allerdings rechnete Rhoda sicher damit, daß sie bei ihrer Mutter Schutz fand, obwohl sie alles wußte. Eine Mutter, die sich nicht schützend vor ihr Kind stellte, wäre ja auch ein Ungeheuer. »Mein Gott, was soll ich denn sonst tun?« rief sie laut. »Ich muß sie doch schützen!« Sie nahm wieder Reginalds Unterlagen zur Hand und studierte einzelne Fälle, obwohl sie von ihnen abgestoßen und -134-
geängstigt wurde. Sie redete sich ein, daß man etwas, das man angefangen habe, auch zu Ende führen müsse und daß sie lange genug in Unwissenheit gelebt habe. Sie hätte Rhoda vielleicht früher und besser verstanden, wenn sie sich eher der Realität gestellt hätte. Gleichzeitig aber wußte sie, daß dies nur die halbe Wahrheit sein konnte und nicht einmal die wichtigste. Unterbewußt hatte sie das Gefühl, daß das Studium dieser Fälle ihr nicht nur ein besseres Verständnis für Rhoda vermitteln konnte, sondern daß einer davon ihr das Rätsel um ihre Tochter lösen helfen müßte. Auch würde sie das klar sehen, was bisher noch in ihr selbst verborgen geblieben war. Sie seufzte, begann wieder zu lesen und suchte den Fall, nach dem sie Ausschau hielt und den sie bisher noch nicht gefunden hatte. Um acht Uhr klingelte Rhodas Wecker, und sie ging in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Vom Küchenfenster aus sah sie Leroy zur Arbeit kommen. Er gähnte, kratzte sich und feixte zu Rhodas Fenster hinauf. Mrs. Penmark trat vom Fenster zurück, so daß er sie nicht sehen konnte. »Rhoda!« rief er leise. »Rhoda! Hast du das, was du gesucht hast, schon gefunden?« Rhoda rührte sich nicht, und er lachte. »Wenn du’s noch nicht gefunden hast, dann such’s nur. Wehe, wenn ich’s vor dir finde!« Lachend ging er zur Kellertür. Dort blieb er wieder stehen. »Ich weiß genau, daß du hinter dem Vorhang stehst und hörst, was ich sage. Ich weiß genau, daß du jedes Wort gehört hast.« Dann endlich verschwand er. Als Rhoda zum Frühstück kam, sagte Christine: »Ich habe gehört, daß du dich mit Leroy unterhalten hast. Was wollte er?« »Ich habe mich nicht mit Leroy unterhalten«, erwiderte Rhoda, »er hat nur mit mir gesprochen. Ich rede nicht mit ihm.« »Aber was sagte er?« »Das weiß ich nicht. Er ist ein dummer Kerl, und ich höre nicht auf ihn.« -135-
Sie setzte sich an den Tisch und hielt die Hand vor den Mund, weil sie gähnte. Sie sah auch noch ein wenig verschlafen drein. Sie kennt weder Schuldgefühle noch Reue. Nichts bedrückt sie, dachte Christine. Später, als Rhoda im Park war, beschäftigte sich Christine wieder mit den Fällen. Sie überlegte sich bei jedem genau, welche Schlüsse und Lehren sie persönlich daraus zu ziehen habe. Welche Kräfte hatten diese Menschen in die einmal eingeschlagene Richtung gedrängt? War es ein Erziehungsfehler, eine schlechte Umwelt, oder war es ein angeborener Charakterfehler, eine Vorherbestimmung, die sich nicht oder kaum beeinflussen ließ? Diese Überlegungen ließen sie nicht mehr los, und später am Vormittag rief sie Reginald Tasker an, um seine Meinung darüber zu hören. Reginald erklärte, nach einem genauen Studium der von ihm zusammengetragenen Fälle sei er zu der Meinung gelangt, daß die Umgebung höchstens die äußeren Erscheinungsformen des Charakters mitpräge, der aber grundsätzlich schon von Geburt fertig vorhanden sei. Man müsse sich diese Typen von Verbrechern als Menschen denken, wie sie vielleicht vor fünfzigtausend Jahren gelebt hätten, ehe der Mensch sich auf seine zivilisatorischen Aufgaben besonnen habe oder darangegangen sei, jenen Moralkodex zu schaffen, der unser aller Leben regiere. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die meisten Menschen seien unter dem allgemeinen Einfluß gebräuchlicher Regeln und Beispiel in der Lage, das zu entwickeln, was wir ›Gewissen‹ nennen und damit einen einigermaßen akzeptablen moralischen Charakter. Ein kleiner Prozentsatz habe diese Fähigkeit aber nicht, obwohl sie vielleicht sogar recht günstigen Einflüssen ausgesetzt waren. Nicht einmal einer Liebesempfindung seien solche Menschen unter Umständen fähig, es sei denn einer grobleiblichen. Recht und Unrecht könnten sie wohl in vagen Umrissen und undeutlichen Schattierungen erkennen, aber kein moralisches Verständnis dafür entwickeln. Diese Menschen -136-
seien dann die wahren, geborenen Verbrecher, die kein Mensch je zu ändern vermöge. Wieder beschäftigte sich Mrs. Penmark mit den Fällen. Endlich kam sie zu jenem, über dem in Reginalds Handschrift stand DIE UNVERGLEICHLICHE, EINMALIGE BESSIE DENKER. Sie hielt den Hefter in der Hand, runzelte die Brauen und sah verstört den so seltsam vertrauten Namen an. Der Bericht stammte von Madison Cravatte, dessen Namen sie nun schon kannte. Er schrieb witzig und fast ein wenig verschmitzt zwinkernd, wie es gerade in dieser Sparte häufig der Fall ist. Er begann : Wenn man mir sagte, ich solle aus der Armee ihrer talentierten Schwestern meine Lieblingsmörderin herausgreifen, dann würde ich nicht Eva Coo mit den gebleichten Haaren wählen, deren Name so weich und deren Herz so hart war; auch nicht die einfältig lächelnde, Schokolade trinkende Miß Madeleine Smith, die von den Briten so sehr verehrt wird. Es wäre auch nicht unsere geliebte Lizzie Borden, die in unsterblichen Knüttelversen besungen wird, und von der man erzählt, sie habe ihre Beiltechnik an ihren Kätzchen vervollkommnet, denen sie die Köpfe abschlug. Auch die schöne Lydia Southard wäre es nicht, jene Dame, der ein ungläubiges Publikum den ihr gebührenden Applaus versagte, noch weniger aber die heiligmäßige Anna Hahn, die nicht nur Arsen, Schlaftabletten und Strychnin sehr großzügig anwandte, sondern etwas völlig Neues in die amerikanische Todesgeschichte einbrachte, nämlich KROTONÖL! Sicher waren sie alle ungemein talentiert, ja, sie waren Künstlerinnen des Tötens. Die unvergleichliche, unerreichte Bessie Denker überragt sie jedoch alle. Sie ist die Königin des Verbrechens. Bessie Denker, die statt eines Herzens einen Eisschrank, statt eines Rückgrates eine stählerne Stange und statt eines Gehirns einen unpersönlichen, unfehlbar genauen Computer hatte. Aus meiner Bewunderung für diese liebenswerte -137-
Dame mache ich keinen Hehl. Sie war das beste Kapitel und das Prunkstück meines Buches. Jetzt sind wir dick befreundet. Sie ist meine Herzallerliebste, und mir ist egal, wer es weiß. Angewidert legte Mrs. Penmark den Ordner weg und beschäftigte sich mit den kleinen Notwendigkeiten ihres Haushalts. Nachmittags ging sie, um sich ein wenig abzulenken, mit Rhoda ins Kino. Sie konnte sich aber auf die recht nichtssagende Geschichte nicht konzentrieren. Erst als Rhoda im Bett lag, nahm sie sich den Ordner wieder vor, schlug sofort den Fall Denker auf und beschäftigte sich mit den niederschmetternden Einzelheiten. Bessie Denker war als Bessie Schober auf einer Farm in Iowa geboren und das älteste Kind der Eheleute Heinz und Mamie (Gustafson) Schober. Ihr jüngerer Bruder starb an einer ziemlich großen Dosis Arsen, das Bessie für Zucker gehalten und ihrem Bruder auf das Brot gestreut hatte. Ihre kleine Schwester half ihr einmal am Brunnen, fiel hinein und ertrank. Damals war Bessie ungefähr sieben Jahre alt. Jahre später, als Mrs. Denker weiterer Verbrechen beschuldigt wurde, erinnerten sich die Nachbarn daran, daß dank Bessies Energie und Entschlossenheit, ihr Großvater Gustafson an einem Sonntagnachmittag erschossen wurde, als er in einem Schaukelstuhl auf der Veranda ein Nickerchen machte. Niemand hatte je erfahren, wie es passiert war und wer geschossen hatte. Niemand hatte damals die ruhige, großäugige kleine Bessie Schober verdächtigt, die mit ihm allein gewesen war, und die damals erst elf Jahre zählte. Mr. Cravatte flocht hier ein, daß seine Darstellung der Frühzeit von Bessie Schober-Denker zu seinem eigenen Bedauern nicht erschöpfend sei, und wer mehr darüber wissen wolle, sei an die bemerkenswerte Artikelreihe des verstorbenen Richard Bravo verwiesen, der über Mrs. Denkers Prozeß berichtet habe und ihren Fall bis in die kleinsten Einzelheiten kannte. Er sei selbstverständlich auch eine Autorität über die frühen Jahre von Bessie Schober. -138-
Mrs. Penmarks Hände waren schweißfeucht und zitterten so, daß sie den Ordner weglegen mußte. Warum hatte ihr Vater niemals über den Fall Denker gesprochen, wenn er ihn doch so genau kannte, daß andere Schriftsteller dieses Genres ihn als Autorität bezeichneten? Über andere Fälle seiner Journalistenlaufbahn hatte er doch auch berichtet. Oder konnte sie sich nur nicht daran erinnern? Traf das zu, dann war es verständlich, daß die Namen Denker, Schober und Gustafson ihr jetzt so vertraut waren, als seien sie ihr aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit bekannt. Deshalb konnte sie auch den Ablauf verschiedener Geschehnisse vorausahnen, ehe sie las, was dann tatsächlich passierte. Sie wußte es nicht, und sie wollte auch nicht wissen, was dahintersteckte. Vielleicht war es unklug, diese Fälle überhaupt zu lesen, die doch nur kalte Berechnung und Gier darstellten. Diese ganze Idee war ein Irrsinn. Nein, sie wollte nichts mehr davon lesen. Gegen ihren Willen ließ sie aber der Fall Denker nicht mehr los. Da war doch ein Junge, der Sonny geheißen hatte, überlegte sie. Sein richtiger Name war Ludwig. Ein Junge, der älter war als Emma, war auch noch da, und er hieß Peter. Ja, sicher. Es gab noch ein jüngeres Mädchen, aber den Namen… Damals wußte ich ihn. Jetzt habe ich ihn vergessen. Sie ging zum Spiegel und sah hinein. Bin ich verrückt geworden? dachte sie. Wie sollte ich jemals solche Leute gekannt haben? Dann schwor sie sich, nicht mehr weiterzulesen, und sie meinte es ernst. Am nächsten Morgen mußte sie Reginald die Unterlagen zurückgeben. Und dann durfte sie nicht mehr daran denken. Sie wollte nicht mehr daran denken. Es war schon Mitternacht vorüber, als sie endlich zu Bett ging, doch sie fand keinen Schlaf. »Was geht mich Bessie Denker an?« sagte sie laut zu sich selbst. »Ich will nichts von ihr wissen. Ich habe mit meinen eigenen Problemen genug zu tun.«
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9
Am zehnten Juli schlossen Mrs. Breedlove und Emory ihre Stadtwohnung ab und zogen ins Seagull Inn um, wo sie bis Ende August blieben. Vor der Abreise gab Monica gewöhnlich im Country Club eine Abschiedsparty mit einem reichhaltigen kalten Büfett, als wolle sie ihre Freunde für die lange Abwesenheit entschädigen. Diesmal plante sie die Party für den vierten Juli, denn der Club bereitete für diesen Tag ein großes Feuerwerk vor, und warum sollte sie nicht davon profitieren? Die ganzen Vorbereitungen besprach sie natürlich schon seit Mitte Juni mit Mrs. Penmark und beriet mit ihr, welche Getränke serviert und welche kalte Platten bestellt werden müßten. Sie war deshalb recht erstaunt, als am Morgen des vierten Juli Christine anrief und sagte, sie könne nicht kommen, da sie sich nicht wohl fühle. Auch Rhoda sei ein Problem. Mrs. Forsythe habe sie in letzter Zeit so oft in Anspruch genommen, daß sie jetzt allmählich Hemmungen habe, es wieder zu tun. Natürlich könnte sie sich auch eine bezahlte Kraft für den Abend suchen, aber das wolle sie aus Gründen, über die sie im Moment nicht sprechen könne, nicht tun. Mrs. Breedlove meinte lachend, ein so selbständiges, vernünftiges Kind wie Rhoda, brauche man doch nicht zu beaufsichtigen, und im übrigen sei Mrs. Forsythe von ihr hingerissen. Ihre eigenen Enkelkinder seien oft recht frech und quälten die alte Dame, aber Rhoda sei eine kleine Dame, die gerade älteren Leuten gegenüber äußerst taktvoll sei und jederzeit Rücksicht nehme. »Vielleicht ist das richtig, Monica«, gab Christine zu. -140-
»Wissen Sie, meine Liebe, Sie grübeln zuviel. In letzter Zeit vergessen Sie Ihre alten Freunde so gründlich, daß sogar Emory, der doch wirklich kaum etwas bemerkt, sich darüber beklagt. Sie müssen zur Party kommen, damit Sie von Ihren Depressionen ein bißchen abgelenkt werden. Sie werden wie immer der Mittelpunkt sein, und die verheirateten Männer liegen Ihnen zu Füßen und wünschen ihre schrecklichen Frauen ins Pfefferland. Überlassen Sie alles mir, liebes Christinchen. Sie brauchen nur hübsch auszusehen und sich gegen sechs Uhr von Emory abholen zu lassen.« Auf der Party entdeckte Mrs. Penmark natürlich sofort Reginald Tasker und drängte sich sofort zu ihm durch. Sie setzten sich neben den offenen Verandatüren auf die Terrasse, und er fragte sie, wie sie mit seiner Sammlung vorankomme. Sie erzählte, daß sie sich zuletzt den Fall Denker vorgenommen habe, aber er habe sie so abgestoßen, daß sie nicht weiterlesen wollte. »Sagen Sie«, fragte sie und schüttelte verwirrt den Kopf, »sind Sie schon einmal an einen fremden Ort gekommen, zu einer fremden Person oder haben Sie schon einmal eine Unterhaltung mit angehört, alles zum erstenmal, und hatten dabei das Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben?« »Oh ja, ziemlich oft sogar. Es gibt eine bestimmte Bezeichnung für dieses Erlebnis, das déjà vu.« »Ja, es klingt zwar ziemlich töricht, aber im Fall Denker habe ich dieses Gefühl. Ich verstehe es nicht.« »Vielleicht lasen Sie früher schon einmal etwas über diesen Fall und haben es nur vergessen.« »Was mich noch dabei überraschte«, fuhr sie nach einer kleinen nachdenklichen Pause fort, »war der Umstand, daß ich den Namen meines Vaters erwähnt fand. Ich ahnte nicht einmal, daß er diese Leute kannte.« »Vielleicht erscheint Ihnen deshalb der Fall zu bekannt. Er -141-
kann doch darüber gesprochen haben, als Sie noch ein Kind waren.« »Das glaube ich nicht. Es muß etwas anderes sein. Ganz bestimmt sogar etwas anderes.« Reginald erklärte voll Begeisterung, daß Bravos Bericht über diesen Fall weit mehr war. als eine ausgezeichnete journalistische Arbeit. In Wirklichkeit war jeder einzelne Berichtsteil ein sehr gekonntes Essay. Sie seien inzwischen zu Klassikern auf diesem Gebiet geworden. Ihr Vater habe im Fall Denker ein Niveau erreicht, das andere Reporter seither anstrebten, doch ohne Erfolg. »Ich entdecke immer mehr über ihn, was ich noch nicht wußte«, stellte sie dazu fest. Reginald nickte und trank sein Glas leer. »Wie weit sind Sie im Fall Denker gekommen?« Sie sagte es ihm, und er meinte, er könne ihr einige völlig unglaubhafte Einzelheiten ersparen und ihr dafür darüber erzählen. Er schloß die Augen, um sich zu konzentrieren und erzählte dann in seiner hellen, leisen Stimme, daß Bessies Vater, der alte Heinz Schober, auf seltsame Art bei einem Unfall ums Leben kam. Er habe an einer Dreschmaschine gearbeitet, und der Vorfall konnte nie geklärt werden. Jahre später schlossen Bessies Bewunderer aus der Tatsache, daß sie neben ihm gearbeitet habe, auf ihre Beteiligung am Tod ihres Vaters, doch konnte ihr nie etwas bewiesen werden. Der alte Mann hatte seine Witwe gut versorgt zurückgelassen. Bessie war damals etwa zwanzig Jahre alt gewesen und schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, die so erfolgreich, wenn auch vielleicht unabsichtlich begonnene Karriere fortzusetzen. Sie hielt als Hintergrund dafür eine Stadt für geeigneter und ihre Wahl fiel auf Omaha, Nebraska. Eine Weile blieb sie noch auf der Farm, um ihre Mutter zu pflegen, die seit dem Tod ihres Mannes an ernstlichen -142-
Verdauungsstörungen litt. Als dann die Mutter fahrplanmäßig gestorben war, hatte Bessie die Farm und die Versicherungssummen für sich selbst, verkaufte die Farm und zog weg. In Omaha heiratete sie einen Mann namens Kurowsky, der recht vermögend war. Da seine Braut darauf bestand, versicherte er sich hoch. Ein knappes Jahr später überließ er seine junge Frau dem Kummer um ihn und dem so leicht erworbenen Vermögen. Die Witwe Kurowsky kassierte die Versicherungssumme, verkaufte den Besitz und zog nach Kansas City. Es dauerte nicht lange, da heiratete sie einen jungen Farmer namens August Denker. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, nur war der Zweig, dem er angehörte, deren ärmster. Als Mrs. Denker ihren Wohnsitz in Kansas City aufgab und zu ihrem neuen Mann auf die Farm zog, begann der Hauptteil ihrer Karriere, die dann ihre Zeitgenossen so sehr in Erstaunen setzen sollte. Richard Bravo hatte über August Denker eine ausgezeichnete Studie ausgearbeitet. Seiner Ansicht nach war er das klassische, vorherbestimmte Opfer des ebenso klassischen Massenmörders. Seine Unschuld und Vertrauensseligkeit müssen die über eine so lange Zeitspanne reichenden Morde erst ermöglicht haben, meinte Bravo. Er habe selbst ein Foto von August Denker gesehen, das aus der Zeit der Eheschließung mit dieser unglaublichen Frau stammte. Er war blond, zart gebaut und hatte feine, fast weibliche Gesichtszüge. Seine Augen leuchteten vor Unschuld und Gutherzigkeit. Er war auf negative Art schön und spielte Violine, wenn auch nicht sehr gut, wie es hieß. Mrs. Penmark drückte die Hände auf die Augen. »Nein, nein«, flüsterte sie, »Violine war es nicht. Nein, bestimmt nicht. Es war ein Instrument, in das man hineinblies. Es muß ein Horn gewesen sein.« Reginald schwieg eine Weile, da eine Gruppe auf die Terrasse herauskam, und nahm das Gespräch erst wieder auf, als die Leute außer Hörweite waren. Mrs. Denker hatte, erzählte er, zu -143-
der Zeit ihrer Heirat mit August Denker schon einen Plan zur Ausrottung seiner Familie ausgearbeitet, an den sie sich auch lange Zeit hielt. »Wie gelang es ihr eigentlich, so lange Zeit unentdeckt zu bleiben?« fragte Christine. »Hatte denn niemand einen Verdacht, daß sie mit diesen vielen Todesfällen zu tun haben könnte?« Es sei gar nicht so unerklärlich, daß sie so lange nicht entdeckt worden sei, meinte Reginald. Grundsätzlich seien gute Menschen nicht sehr mißtrauisch. Sie akzeptieren die undramatische Lösung als die richtige und lassen es dabei. Normale Menschen neigen außerdem zu der Ansicht, Massenmörder müßten auch äußerlich schon als solche zu erkennen sein, aber diese Ansicht ist grundfalsch. Meistens sahen solche Verbrecher seiner Meinung nach normaler aus und benahmen sich auch normaler als ihre wirklich normalen Angehörigen und Mitmenschen. Irgendwie personifizierten sie die Tugend besser, als diese sich selbst darstellen könne. Bessie Denker müsse eine der talentiertesten Schauspielerinnen ihrer Zeit gewesen sein. Sie sei regelmäßig zur Kirche gegangen, habe die Familie ihres Mannes fleißig besucht, unermüdlich Torten und Plätzchen für die Wohltätigkeitsveranstaltungen der Kirche gebacken und zahlreiche Werke der Barmherzigkeit an jenen getan, die weniger vom Glück begünstigt waren als sie selbst. »Wer war eigentlich Ada Gustafson?« unterbrach ihn Mrs. Penmark. »Welche Rolle spielte sie in der Affäre Denker?« Reginald warf seinen Zigarettenstummel ins Gras und meinte lachend: »Ah, die!« Ada Gustafson sei eine arme Verwandte der Mrs. Denker gewesen, eine etwas exzentrische alte Jungfer, die erst sehr spät ins Bild komme, tatsächlich erst zu einem Zeitpunkt, als der Mordplan fast ganz erfüllt war. Sie werde in den Prozeßakten nur ›die alte Ada Gustafson‹ genannt. »Sie war -144-
damals schon über sechzig, aber noch immer sehr kräftig und flink. Da sie sonst keinen Platz für ihre alten Tage hatte, war sie zu ihrer entfernten Verwandten Bessie Denker gekommen. Dort hat sie dann gekocht, geputzt und Bessies vier Kinder versorgt und sogar noch auf dem Feld mitgeholfen. Sie war scharfsinnig, und es entging ihr so leicht nichts und schließlich wurde sie zu dem Stein, über den Bessie stolperte. Sie beobachtete alles, was auf der Farm vorging, mit einem kaum merklichen Anheben ihrer Augenlider und mit nachdenklich gespitzten Lippen. Sie sagte lange nichts, nahm aber die Gewohnheit an, ihrer Kusine Bessie überallhin mit den Augen zu folgen und dazu bedeutungsvoll zu nicken, als setze sie alle gewonnenen Eindrücke sorgfältig zusammen. Es war auch schließlich der Mord an Ada Gustafson, der Mrs. Denker vor Gericht und endlich auf den elektrischen Stuhl brachte, nicht einer der zahlreichen anderen Fälle. Ich erinnere mich ganz vage an Ada, sinnierte Mrs. Penmark. Keiner von uns mochte sie. Ihr Hund hieß Spot. Er schnappte immer nach Emmy und Sonny und nach mir auch, aber später wurden wir gute Freunde. Peter konnte er aber niemals leiden, daran erinnere ich mich genau. Unvermittelt rutschte sie auf ihrem Stuhl nach vorne, stellte ihr Glas ab und verschränkte die Finger ineinander. Dieses Gefühl des Wissens konnte sie nun nicht länger mehr leugnen, dieses Bewußtsein des Verdammtseins, das sie bisher nicht wahrhaben wollte, dem sie aber nun nicht mehr ausweichen konnte. Ihr Blick hing an den Hecken hinter dem weiten, tiefgrünen Rasen, als sie mit fast unhörbarer Stimme fragte: »Wie hieß das jüngste der Denker-Kinder?« »Nun, die Kleine hieß Christine, so wie Sie. Und sie scheint ebenso hübsch gewesen zu sein. Sie war blond wie ihr Vater und hatte auch seine zarten Züge. Ihr Vater lernte sie kennen und hatte das Kind sofort sehr gern. Sein Aufsatz über sie war einer seiner allerbesten. Noch heute wird er gelegentlich nachgedruckt.« -145-
Mrs. Penmark stand auf, taumelte ein wenig und sagte, sie fühle sich nicht wohl, vielleicht sollte sie besser sofort nach Hause gehen. Reginald bot ihr an, sie zu fahren, aber sie wehrte ab und erklärte, ein Taxi sei praktischer. Sie suchte sofort nach Mrs. Breedlove und sagte ihr ebenfalls, daß sie sich nicht wohl fühle. »Was ist nur los, meine Liebe?« fragte Monica. »Sie sehen auch wirklich sehr blaß und angestrengt aus. Und über Ihrem Auge zuckt doch tatsächlich ein Nerv.« Christine zitterte auch wirklich am ganzen Körper. »Edith Marcusson kam eben an, also ist ein Taxi ganz überflüssig. Ihr Chauffeur wendet eben in der Einfahrt.« Sofort lief Monica hinaus und gab dem Chauffeur die Anweisung, Mrs. Penmark nach Hause zu fahren. »Und Sie, meine Liebe, legen sich sofort hin. Wenn diese Sache hier zu Ende ist, sehe ich nach Ihnen.« Christine nickte und ging hinaus. Jetzt weiß ich, wer ich bin, sagte sie zu sich selbst. Ich kann mich nicht mehr länger selbst täuschen. Sie drückte ihre Wange an das Wagenpolster, denn sie war den Tränen nahe. Erst als sie wieder in ihrer Wohnung war, ließ die schreckliche Angst ein wenig nach. Und etwas später klopfte sie an die Tür von Mrs. Forsythe, um Rhoda zu holen. »Oh, wie schade!« bedauerte die alte Dame. »Wir hatten eben beschlossen, eine Party für uns selbst zu veranstalten und sind dabei, den Tisch zu decken. Können Sie sie nicht noch ein wenig hier lassen? Ich verspreche Ihnen, gut auf sie aufzupassen.« Im Eifer der Vorbereitungen war ihre altmodische Frisur ein wenig verrutscht, und ein paar Strähnen hatten sich gelockert. Ihre großen, violetten Augen hingen flehend an Christine. »Es wäre eine solche Enttäuschung für Rhoda, wenn sie jetzt gehen müßte.« Mrs. Penmark sagte, das Kind dürfe noch bleiben. In ihr Wohnzimmer zurückgekehrt, begann sie wie unter einem starken Zwang erneut den Bericht über das entsetzliche Leben ihrer Mutter zu lesen. Sie begann dort, wo Reginald zu erzählen aufgehört hatte. -146-
Die Verwandtschaft der Familie Denker war weitverzweigt, und Madison Cravatte hatte seinem Buch einen Stammbaum beigegeben. Die kleine Bessie Schober hatte die Mühe nicht gescheut, die Familie genau zu studieren, nachdem sie bei den Denkers eingeheiratet hatte. Mit einer geradezu schmeichelhaften Sorgfalt informierte sie sich über die einzelnen Persönlichkeiten und deren Charakter. Großvater Carl Denker kontrollierte zum Beispiel die Finanzen mit einer Konzentration, mit der ein passionierter Schachspieler seine Züge ausrechnet. Wenn, um beim Schachspiel zu bleiben, ihre Züge so genau berechnet werden konnten, daß etwas von dem Geldsegen in ihre eigenen Kanäle floß, dann wollte sie das auch tun. Sie tat es sehr gewissenhaft mit Gift, mit der Axt, der Schrotflinte, dem Gewehr, den vorgetäuschten Selbstmorden, wie Erhängen und Ertrinken. Es ist langwierig und schwierig, Bessies zehnjährige Tätigkeit in allen Einzelheiten zu beschreiben, denn es waren dreiundzwanzig kaltblütige, sorgfältig vorbereitete Aktionen nötig, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Die Brillanz und Genauigkeit ihrer Pläne machte sie dann auch zum Liebling aller intellektuellen Amateurkriminalisten. Jonathan Mundy habe über Bessie Denker und jeden einzelnen ihrer Morde in der Serie Große amerikanische Verbrecher minutiös genau berichtet. Es wurde dunkler, und Christine schaltete die Leselampe ein. Der westliche Himmel glühte in einem Farbenrausch, die Vögel flogen hoch und zogen dünne Linien in die allmählich verblassenden Farben, und die Eichen auf der Straße raschelten im sanften Abendwind, der vom Golf her wehte. Eine ganze Weile stand sie ruhig da und sah hinaus. Dann ging sie durch die Wohnung und schaltete alle Lichter ein, um sie sofort hernach wieder auszuknipsen. Zur Zeit von Bessie Denkers Prozeß war die einzige noch lebende Familienangehörige die kleine Tochter Christine, über die soviel geschrieben wurde, las sie weiter. Es ist nicht bekannt, -147-
was später mit diesem von Tragik umwitterten Kind geschah, dem es gelang, dem Mordplan ihrer Mutter zu entkommen. Man nimmt an, eine geachtete Familie habe es adoptiert. Trotzdem liegt die Frage nahe, was aus ihr wohl geworden sein mag, wo sie jetzt lebt, ob sie verheiratet ist und selbst Kinder hat. Sie mußte sich doch eigentlich vage an die Schrecken ihrer Kindheit erinnern. Oder wußte oder verstand sie nicht, was ihre Mutter getan hatte? Unwillkürlich denkt man nach über das Schicksal dieses tragischen Mädchens, das wahrscheinlich nur durch Zufall dem Mordwillen ihrer Mutter entkam. Es besteht wenig Aussicht, etwas zu erfahren. Ihre neue Identität wurde wahrlich sehr gut behütet. Christine ließ verwirrt den Ordner fallen, warf sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie weinte bitterlich. »Hier bin ich doch«, sagte sie laut, »hier bin ich, wenn ihr es unbedingt wissen wollt. Nein, ich bin ihr nicht entkommen. Wie kann jemand glauben, ich sei ihr entkommen?« Auch in dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Sie lag da und starrte zur Decke hinauf. Draußen raschelte der Wind in den Bäumen, und sie roch den Duft der zerquetschten Blätter des Kampferbaumes im Park. Der Jasminbusch auf dem Rasen der Kunkels duftete süß und betäubend. Dann ertrug sie ihre quälenden Gedanken nicht mehr, stand auf, ging zum Balkon und sah nach oben. In Mrs. Breedloves Arbeitszimmer bemerkte sie Licht. In ihrer Verzweiflung ging sie zum Telefon und wählte Monicas Nummer. »Oh, ich bin so froh, daß Sie anrufen, meine liebe Christine«, sagte sie. »Als ich mit Emory von der Party kam, war es schon elf vorbei, und ich wagte nicht, Sie zu stören, denn ich hoffte, Sie würden schon schlafen. Aber Sie wissen ja, wie Gäste sind. Kaum haben sie ein bißchen getrunken, dann finden sie nicht nach Hause.« -148-
Plötzlich schien sie sich zu erinnern, daß ihr Bruder schon schlief, denn sie fuhr mit leiser Stimme fort: »Sie müssen immer daran denken, Christine, daß Sie nicht krank werden dürfen. Sie müssen auf sich selbst aufpassen, Liebes. Aber, wenn Sie schon wach sind, wollen Sie dann nicht einen Sprung zu mir heraufkommen? Wir setzen uns in die Küche zu einer ganzen Kanne Kaffee und schwatzen miteinander wie ein paar alte Bauernfrauen.« Sie stand schon an der Tür, als Christine kam, trug einen großblumigen Kimono, hatte dick Fettcreme ins Gesicht geschmiert und die Haare zu einer Unzahl winziger Löckchen aufgedreht. »Wissen Sie, Christine«, erklärte sie lachend, »die Löckchen passen ja nun wirklich nicht zu mir, aber ich hab’ nun mal eine Leidenschaft dafür. Es macht mir gar nichts aus, wenn mich andere Menschen für eine komische Nudel halten. Lachen Sie ruhig über mich.« Christine lächelte mühsam. Ich hätte nicht in meine Vergangenheit vordringen sollen, dachte sie dazu. Es wäre besser, ich hätte sie ruhen lassen, denn was nützt es mir nun, daß ich mein Geheimnis kenne? Meine Adoptiveltern waren sehr weise, denn sie erzählten mir nie etwas davon. Sie schützten mich vor meiner Vergangenheit, die ich ja doch niemals ändern konnte. Und doch, ich konnte es nicht dabei belassen. Ich mußte meine Vergangenheit erforschen. Und jetzt kenne ich sie. Sie saßen am Küchentisch unter der hellen, harten Lampe, und Monica erzählte ausführlich von ihrer Party. Doch ganz unvermittelt wechselte sie das Thema. Sie berührte sanft Christines Wange und sagte: »Mein Liebes, etwas bedrückt Sie sehr. Wollen Sie mir nicht sagen, was es ist? Ich glaube, Sie wissen inzwischen doch, daß Sie mir vertrauen können.« Christine schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich kann nicht darüber sprechen, nicht einmal mit Ihnen, Monica. Wie kann ich Rhoda dafür tadeln, daß sie das getan hat? fragte sie sich. Ich trug die schlechte Saat in mir, die sie zu dem gemacht hat, was -149-
sie ist. Wenn jemand schuldig ist, dann bin ich es, nicht Rhoda. Sie fühlte sich plötzlich sehr schuldbewußt und sehr demütig, als sie daran dachte, daß sie das Kind ungerecht behandelt hatte, wenn auch unbewußt. Ich bin die Schuldige. Ich habe die böse Saat weitergetragen. Mrs. Breedlove wartete eine Weile, ob Christine nicht doch sprechen wolle. Da sie es nicht tat, konnte sie nur Vermutungen anstellen. »Sagen Sie mir, haben Sie die Absicht, sich von Kenneth zu trennen? Hat er vielleicht« – sie lachte ein wenig verlegen dazu – »in Chile ein kleines spanisches Mädchen gefunden und Ihnen nun den Abschied gegeben?« »Nein, das sicher nicht, Monica. Ich wollte, alles wäre so wunderbar in Ordnung wie mein Verhältnis zu Kenneth.« »Dann kann ich mir nur noch denken, daß es an Ihrer Gesundheit fehlt. Haben Sie eine Krankheit wie – Krebs, zum Beispiel? Dann müssen wir alles tun, was nur möglich ist, und heutzutage läßt sich vieles tun. Da werden wir bestimmt nichts versäumen.« »Gesundheitlich bin ich, soviel ich weiß, völlig in Ordnung.« »Ich will Sie nicht weiter mit meinen Fragen quälen, Christine«, versprach Monica und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Sie von Herzen gern habe, als seien Sie meine kleine Schwester oder meine Tochter. Und Emory denkt ebenso wie ich. Ich glaube, das wissen Sie auch.« Christine nickte und legte ihr Gesicht in ihre Hände. Monica streichelte sanft über ihr Haar. »Sie wissen doch, daß Sie mir vertrauen können und daß ich Ihnen helfe, wo immer es mir möglich ist.« Christine stand auf, legte ihre Arme um die Freundin und weinte hemmungslos und bitterlich. »Na, Christinchen, vielleicht ist’s jetzt besser, ja?« redete ihr Mrs. Breedlove leise zu. »Vielleicht können Sie jetzt ein wenig schlafen. Warten Sie, -150-
ich hole Ihnen ein paar Schlaftabletten, die ich erst letzte Woche verschrieben bekam. Es hat doch keinen Sinn, wenn Sie stundenlang wach liegen.« Sie kam wenige Augenblicke später mit einem ganzen Fläschchen Schlaftabletten zurück, die sie Christine in die Hand drückte. Doch Christine legte die Tabletten in die Schublade, in der sie die Pistole und die nicht abgesandten Briefe an ihren Mann aufbewahrte.
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10
Erst nach einigen Stunden schlief sie ein. Wieder wurde sie von einem schrecklichen Traum gequält. Eine Frau mit einem Beil in der Hand, kam von der Straße herauf. Vor dem Farmhaus blieb sie stehen und durchsuchte es dann. Sie fand aber nicht das, was sie gesucht hatte, ging weiter zur Scheune und versteckte das Beil hinter ihrem Rücken. »Christine! Wo bist du? Hab keine Angst vor mir, Christine! Glaubst du, deine Mutter könnte dir etwas Böses antun?« Aber Christine hatte sich im hohen Gras versteckt und wollte nicht antworten. Und dann war plötzlich die ganze Scheune voll Fenster, und aus jedem Fenster sah sie das Gesicht eines der Opfer ihrer Mutter an. Ein einziges Fenster war noch frei, und sie hörte ihre Mutter sagen: »Christine! Christine! Nimm deinen Platz bei den anderen ein!« Dann riefen ihr die anderen im Chor zu: »Du wirst Christine niemals finden! Du wirst nie erfahren, wie sie jetzt heißt, denn ihre neue Identität wurde sehr gut gehütet.« Die gesichtslose Frau sagte: »Ich werde sie finden, gleich wo sie jetzt auch sein mag. Ich bin die unvergleichliche Bessie Denker. Ich bin die, deren Plan sich so ausgezeichnet erfüllte.« Und dann sah Christine das ruhige, durchschnittlich hübsche Gesicht ihrer Mutter. Sie drückte sich zitternd auf die Erde, und die Gesichter in den Fenstern sprachen zueinander: »Die unvergleichliche Bessie Denker will diesmal Christine haben. Christine, nimm deinen Platz bei den anderen ein! Hat jemand Christine gesehen? Christine ist ihr entwischt.« Mrs. Penmark kämpfte sich zitternd aus diesem Traum in die -152-
Wirklichkeit zurück. Sie setzte sich im Bett auf und glättete ihr zerwühltes Kissen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, als friere sie. Später fiel sie wieder in einen leichten Schlummer. Als sie erwachte, war es Morgen. Es regnete, und der Wind peitschte den Regen durch das Laub der Bäume und an ihre Fenster. Die Bäume im Park sahen durchweicht und trostlos aus, und im Hof unten plätscherte das Wasser aus einer Dachrinne. Sie stand auf, schloß überall in der Wohnung die offenen Fenster, wischte dort, wo es hereingeregnet hatte, das Wasser auf und ging schließlich in die Küche, um das Frühstück für Rhoda herzurichten. Durch das Fenster sah sie Leroy. Er trug die Asche vom Heizofen zu den Abfalltonnen und hatte einen uralten Regenmantel an. Seine Schuhe quatschten bei jedem Schritt. Dann bückte er sich zu einem von Blättern verstopften Gully hinunter, um ihn zu säubern. Dazu murmelte er immer etwas, das Christine zwar nicht verstand. Sie glaubte jedoch zu wissen, was er sagte. Nach dem Frühstück bat Rhoda, Mrs. Forsythe besuchen zu dürfen. Die alte Dame habe ihr versprochen, ihr zu zeigen, wie man häkelte, und da es regnete, sei es der richtige Augenblick für die erste Unterrichtsstunde. Mrs. Penmark konnte sich nicht recht entschließen, denn nun kannte sie den Schrecken von Rhodas Erbe und glaubte die moralische Verantwortung nicht tragen zu können, wenn sie Rhoda mit irgendeinem Menschen allein ließe. Vielleicht durfte sie Rhoda sogar niemals mehr aus den Augen verlieren. Unter Umständen war sie sogar verpflichtet, andere Menschen vor Rhoda zu warnen! Aber sie wußte genau, welche Schwierigkeiten sie erwarteten, wenn sie etwas dergleichen auch nur anzudeuten versuchte. Man würde sie zweifellos für hysterisch halten. Nein, sagte sie zu sich selbst, Entscheidungen kann ich erst treffen, wenn Kenneth wieder hier ist. »Wenn ich dich gehen lasse«, sagte sie zu Rhoda, »dann mußt du mir versprechen, daß du der alten Dame nichts tust. Du hast mich doch verstanden?« -153-
»Nein, Mutter. Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Bitte, Rhoda! Wir wollen uns gegenseitig doch nichts vormachen. Wir verstehen einander recht gut. Und von jetzt an wollen wir ganz natürlich miteinander verkehren. Du weißt ganz genau, wovon ich spreche.« Rhoda kicherte, nickte und antwortete ganz beiläufig: »Ah, ich weiß schon, was du meinst. Nein, ich tu’ ihr nichts.« Sie rollte die Augen und preßte die Hände zusammen. »Nein, ganz bestimmt nicht. Tante Jessie hat nichts, was ich haben möchte.« Als Rhoda gegangen war und sie die kleinen Haushaltspflichten des Vormittags erledigt hatte, überfielen Mrs. Penmark wieder die grauenhaften Erkenntnisse der letzten Tage. Unter dem Anprall dieses Wissens hörte sie auf, ihr Rosenholztischchen zu polieren, und wenig später wußte sie nicht mehr, warum sie überhaupt in das Schlafzimmer gegangen war. Verwirrt ließ sie das weiche Ledertuch fallen und blieb neben ihrem Bett stehen. Die Entdeckung ihrer eigentlichen Identität hatte vieles in ihr geklärt und fast alles, was an ihrem Kind verblüffend und unverständlich gewesen war. Rhoda, das sah sie deutlich, war für das, was sie getan hatte, nicht verantwortlich. Sie war die Schuldige, denn sie hatte die verbrecherische Veranlagung der Bessie Denker an Rhoda weitergegeben. Dieses grauenhafte Erbe hatte eine Generation lang geschlafen, um dann in ihrem Kind wieder zu neuer, zerstörerischer Tätigkeit zu erwachen. Wie konnte sie ihr Kind dafür tadeln? Je mehr sie über diese Erkenntnisse nachdachte, desto größer erschien ihrem verwirrten Geist die eigene Schuld. »Ich schäme mich so, ich schäme mich so entsetzlich!« sagte sie immer wieder vor sich hin. Sie wußte, daß dieses grauenhafte Wissen sie zerstören würde. War es Zufall, daß zwischen Großmutter und Enkelkind eine so auffallende Parallele der Kriminalität bestand? Aber vielleicht ging sie, soweit es sie selbst betraf, in ihren -154-
Selbstbeschuldigungen zu weit. Vielleicht war sie selbst nicht das Bindeglied zwischen Bessie Denker und Rhoda. Vielleicht traf sie persönlich keine Schuld. Reginald Tasker konnte ihr möglicherweise helfen, klarer zu sehen! Aber sie brauchte lange, bis sie sich zu einem Anruf entschloß, denn er würde ihre Frage nicht abstrakt sehen, sondern sie mit den Schwierigkeiten in Verbindung bringen, denen sie sich gegenübersah. Ihr Geheimnis durfte aber nicht gelüftet werden. Aber wahrscheinlich wußte er gar nicht viel von ihren Schwierigkeiten, jedenfalls nicht genug, um Schlüsse ziehen zu können. Nur sie allein kannte alle Teile dieses Puzzles und wie sie zusammengehörten, den Tod der alten Dame in Baltimore, den des kleinen Daigle beim Picknickausflug, den Horror von Rhodas Erbe. Sie zögerte noch mit ihrem Anruf bei Reginald, doch löste sich dieses Problem ganz von selbst, denn er rief sie an und erkundigte sich, wie sie sich fühle. Dann kam er aber sofort auf den Fall Denker zu sprechen. »Haben Sie ihn inzwischen ganz gelesen? Ich hatte mich, als Sie nach Hause mußten, gerade richtig warmgeredet.« »Ja, ich bin fertig damit.« »Diese Bessie Denker war eine ziemlich gefährliche Frau, nicht wahr?« »Ja, das war sie sicher.« Er redete noch eine ganze Weile weiter. Erst als er einmal eine kleine Pause machen mußte, platzte sie unvermittelt mit ihrer Frage heraus. Er antwortete ihr, daß er darüber eigentlich noch nicht nachgedacht habe, aber seiner Meinung nach vererbten sich negative Eigenschaften ebenso wie positive. Genau ausgedrückt müsse vom Fehlen einer Eigenschaft gesprochen werden, denn diese Veranlagung sei nicht erworben und dokumentiere sich als Mangel an moralischer Erkenntnis. Auch Nacht- und Farbenblindheit, Kahlköpfigkeit oder -155-
Hämophilie beruhten auf einem Mangel, seien aber trotzdem vererbbar. Auch Geistesschwäche, ebenfalls ein Mangel, vererbe sich von Generation zu Generation, und niemand zweifle an dieser Tatsache. Die beruhigende Versicherung, die sie von ihm erhofft hatte, konnte er ihr also nicht geben. »Und was denken die Psychiater darüber?« fragte sie mit leiser, unendlich verzagter Stimme. Um ihre Frage beantworten zu können, meinte Reginald lachend, müsse er ihr erst einige Fragen stellen. »Erstens, was sollten die Psychiater denken? Kürzlich habe ich mich mit dem alten Fall Thaw beschäftigt. Die Anklage hatte sechs bekannte und hochgeachtete Psychiater als Gutachter herangezogen, die Verteidigung sechs ebenso bekannte und tüchtige Männer, und die Gutachten der beiden Gruppen standen einander diametral gegenüber…« Also war auch Reginald Tasker kein Trost für sie. Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie in ihrer Wohnung herum und wußte, daß sie vor einem Zusammenbruch stand, denn das eindeutige und entsetzliche Muster ihres Lebens ließ sich nicht ableugnen und nicht beschönigen. Aber der Gedanke war so furchtbar, daß sie ihn nicht ertragen konnte. Sie saß am Fenster und sah zu, wie sich die Bäume unter der Wucht der heftigen Windstöße bogen. »Oh, bitte nicht, bitte nicht!« flehte sie verzweifelt, weil ihr Schuldbewußtsein sie zu erdrücken drohte. In panischer, nervöser Angst lief sie dann von einem Zimmer ins andere, als könne ihr das helfen, sich gegen die Übermacht des Schicksals zu stemmen, um den Frieden zu finden, nach dem sie verlangte und der in so unendliche Fernen gerückt war. Aber die Wahrheit konnte sie vor sich selbst nicht mehr ableugnen. Wieder schrieb sie ihrem Mann einen langen, leidenschaftlichen Brief. Sie sagte, sie habe ihn eigentlich unter falschen Voraussetzungen geheiratet, erzählte ihm, wer ihre Mutter war und wie sie entdeckt habe, daß Richard Bravo so eng mit dem Fall Denker verbunden war. Jetzt verstand sie auch, daß -156-
Richard Bravo und seine Frau sie als einzige Überlebende der ganzen Familie kennenlernen mußte und warum die beiden sie später adoptiert hatten. »Vielleicht«, schrieb sie, »hofften die beiden, mich zu retten, denn sie waren sehr gutherzige und liebenswerte Menschen. Sie wollten mich vor dem retten, was ich als kleines Kind gesehen und erlebt hatte. Fast wäre es ihnen auch gelungen – fast. Seit ich nun die Tatsachen kenne, denke ich oft darüber nach, daß Deine Mutter gegen unsere Heirat war. Mit ihrem Mißtrauen mir gegenüber hatte sie recht, nur die Gründe, die sie dafür angab, waren falsch. Aus einem sicheren Instinkt heraus mußte sie gespürt haben, daß mit mir etwas auf schreckliche Weise nicht in Ordnung war, daß ich Dir nur Unglück und Verzweiflung bringen konnte. Und damit hatte sie recht, mein Liebster. Das sehe ich jetzt selbst mit unbestechlicher, furchtbarer Klarheit. Wenn aber Deine Mutter instinktiv recht hatte, als sie gegen unsere Heirat war, dann hatte ich ebenso instinktiv recht, wenn ich Dir nichts über das schrieb, was ich seit Deiner Abreise über Rhoda herausgefunden habe. Ich weiß nicht, ob ich es Dir je sagen kann; ich glaube es nicht. Du verstehst doch, wie beschämend es für mich wäre, nicht wahr? Wie demütigend? Ich muß versuchen, alles so klar wie möglich durchzudenken. Irgendwie muß ich es schaffen, mit Rhoda zu leben. Ich brauche dazu sehr viel Mut, den ich im Augenblick nicht habe. Ich muß eben tun, was mir möglich ist. Das eigentliche Problem ist nicht Rhoda, das weiß ich genau. Ich bin es selbst. Deshalb muß ich es auch allein lösen. Ich allein bin verantwortlich. Ich habe die böse Saat weitergetragen, ich habe sie zu dem gemacht, was sie ist, nicht Du. Wenn Du zurückkehrst, wie Du es ja einmal tun wirst, dann muß ich Dir alles sagen. Wenn Du die Zusammenhänge kennst, solltest Du, glaube ich, Rhoda und mich verlassen. Du bist noch jung, solltest wieder heiraten und die Kinder haben, auf die Du -157-
ein Recht hast, Kinder, die körperlich und seelisch gesund sind, die nicht jenen hassenswerten Hang haben, der in meiner Tochter und mir ist.« Noch ehe sie ihren Brief beendet hatte, war der Sommersturm vorübergegangen, und die heiße Julisonne kam wieder hervor. Die feuchten, tropfenden Blätter des Kampferbaumes reflektierten die Sonne in einem blendenden Glitzern, das ihren Augen weh tat. Sie ließ die Jalousien herunter und lauschte noch eine Weile dem Regenwasser, das von den Dachrinnen tropfte. Es war Samstag, und sie sah Emory und Monica aus dem Wagen steigen, den sie am Straßenrand geparkt hatten. Beide winkten ihr auf die gewohnte herzliche Weise zu. Als sie sicher war, daß Christine sie nicht hören konnte, sagte sie zu Emory: »Ich weiß nicht, was mit Christine los ist. Sie scheint das Interesse an sich selbst verloren zu haben. Sie sieht hager und krank aus, und ich weiß auch, daß sie kaum etwas ißt. Was ist nur mit ihr los?« »Schau mal«, meinte Emory liebenswürdig, »warum mußt du unbedingt in Christines persönlichen Angelegenheiten herumwühlen? Ich würde dir raten, dich zur Abwechslung einmal nur um deine eigenen Dinge zu kümmern.« An jenem Nachmittag gab sie Reginald Tasker die Unterlagen zurück, die er ihr geliehen hatte. Eigentlich wollte sie nicht hineingehen, aber Reginald sah sie und kam heraus, sie zu begrüßen. Er bat sie zu einem Drink hinein, aber Christine war Tee lieber, und so bekam sie Tee. Reginald fragte sie, wie sie mit ihrem Roman zurechtkomme und ob sie die Personen schon in ihren Grundzügen festgelegt habe. Christine berichtete, der Roman handle von einem Kind, das die verbrecherische Karriere seiner Großmutter einschlage. »Ja, das ist gut und erklärt einiges«, sagte er. »Ich habe mich nämlich schon gewundert, weshalb Sie diese Fragen nach Vererbung und -158-
Umgebung stellten.« »Ja, das ist die Erklärung«, gab sie ihm recht. »Und wie ist es mit der Mutter des Kindes? Ist sie, wie man sagt, mit der gleichen Bürste gebürstet worden?« »Nein, das glaube ich nicht. Ich sehe in der Mutter eine ganz normale Frau mit nicht allzu viel Verstand, ziemlich durchschnittlich, möchte ich sagen. Sie ist nur sehr hilflos und sehr verletzlich. Und ich fürchte, sie ist auch ein wenig ungeschickt, vielleicht sogar ein bißchen dumm und nicht besonders energisch.« »Als Kontrast ist das gut«, pflichtete er ihr bei. »Aber sagen Sie, ist diese ein wenig ungeschickte Mutter nur mißtrauisch, oder weiß sie etwas über ihr Kind? Hat sie handgreifliche Beweise oder dergleichen?« »Sie hat Anhaltspunkte; ich möchte sogar sagen, sie hat Beweise.« »Weiß diese konventionelle Mutter von der verbrecherischen Großmutter?« »Anfangs wußte sie nichts davon, aber später entdeckte sie einiges. Und das, was sie erfährt, erklärt ihr vieles, was ihr vorher an ihrer Tochter unklar gewesen war.« Reginald nickte zustimmend. »Ja, das klingt recht gut. Sie dürfen nur eines nicht vergessen – die Spannung muß immer erhalten bleiben.« Dann stand sie auf, um sich zu verabschieden. »Die alten Schachteln auf Monicas Party«, meinte er lächelnd, »interessierten sich natürlich für den Grund Ihres frühen Aufbruches. Sie kamen zu dem Schluß, daß Sie ein Baby erwarten.« Dieser Gedanke hatte eine erstaunliche Wirkung. Mrs. Penmark brach in ein so hysterisches, nicht enden wollendes Gelächter aus, daß Reginald Angst bekam. Er reichte ihr einen Cocktail. »Hier, trinken Sie das, Christine. Sie brauchen jetzt einen Schluck Alkohol.« -159-
Zu Hause übte Rhoda ihre Klavierlektion, und als es dunkel wurde, setzte sie sich unter die Lampe, um für die Sonntagsschule zu lernen. Sie bat ihre Mutter, ihr das Gelernte abzuhören. Rhoda hat eine merkwürdige Vorliebe für die Grausamkeiten des Alten Testaments, dachte sie. Um sie ist etwas ebenso Primitives und Schreckliches wie um jene Gestalten. Rhoda holte die schmetterlingsgeschmückten Karten herbei, die sie inzwischen wieder gewonnen hatte und zeigte sie ihrer Mutter. »Morgen bekomme ich sicher noch eine dazu, und dann sind es vier«, sagte sie. »Wenn ich noch acht habe, bekomme ich wieder etwas. Ich hoffe, es wird wieder ein Buch sein.« Am folgenden Tag war Mrs. Penmark krank. Sie fühlte sich sehr schwach und benommen, und als Rhoda zur Sonntagsschule gegangen war, blieb sie eine Weile sitzen. Sie hatte das Gefühl, niemals wieder aufstehen zu können. Doch dann kam Mrs. Breedlove herunter und schwatzte ein wenig mit Mrs. Forsythe, ehe sie an Christines Tür klopfte. Mrs. Penmark war entschlossen, ihre Ängste zu vergessen, und Monica, die sich noch immer um die Freundin sorgte, gab sich betont energisch und heiter. Sie erzählte etwas von der Party, das Christine nur teilweise hörte. »Ich wollte doch, daß Sie Consuela kennenlernen sollten, aber sie kam erst, nachdem Sie gegangen waren. Sie hat keinen Stil, wissen Sie. Der Meinung sind alle. Es ist nicht Dummheit oder Geldmangel, sondern es gehört irgendwie zu ihrem Wesen, immer die Kleider zu wählen, die ihr einfach nicht stehen. Wenn nämlich Consuela das kaufen würde, was man ihr in den Geschäften aufdrängt, dann wäre sie besser angezogen. Sie kauft sich immer genau das, was schon seit einiger Zeit aus der Mode ist, und sie muß sich unendlich Mühe geben, es auch zu finden. Ich glaube, sie hängt ihre ganze Zeit und viel Geld daran, ihren Kleiderschrank mit Kuriositäten zu füllen.« -160-
Christine konnte Monicas energiegeladenes Wesen und betont heiteres Geschwätz nicht mehr ertragen, und sie fühlte sich sehr schwach. Sie legte sich auf die Wohnzimmercouch und Monica setzte sich zu ihr. »Ich streite jetzt nicht mehr mit Ihnen, Christine«, sagte sie. »Ich rufe einfach meinen Arzt an, daß er Sie einmal gründlich anschauen soll. Wenn Sie krank sind, und das sieht schließlich jeder, dann muß endlich etwas geschehen.« Der Arzt kam auch sofort, und Monica empfing ihn auf der Diele und flüsterte mit ihm. Körperlich, fand er, sei Mrs. Penmark absolut in Ordnung. Er sagte ihr, sie solle sich weniger Gedanken machen, mehr essen und vor allem viel schlafen. Er ließ ihr ein Rezept für Schlaftabletten zurück. Als er gegangen war, stand Christine auf und war entschlossen, nicht mehr an das zu denken, was sie so unendlich quälte. In den nächsten Tagen hielt sie sich auch einigermaßen daran. Für ihr Kind entwickelte sie eine ungewöhnliche Zärtlichkeit. Sie folgte Rhoda überallhin mit den Augen und diente ihr mit einer Demut, die um Verzeihung zu bitten schien für das Erbe, das sie ihrem Kind mitgegeben hatte. Ein Band des Entsetzens fesselte sie aneinander und an eine gemeinsame Vergangenheit, eine gemeinsame Schuld, die weder durch Worte noch durch Taten ausgelöscht oder wenigstens gelindert werden konnten. Sie waren an das Leben der Bessie Denker gefesselt, und für sie beide gab es kein Entrinnen. Manchmal ließ sich Christine bewußt in eine Illusion treiben, die niemals Wirklichkeit werden konnte, doch diese Tatsache schob sie von sich; sie wollte sie nicht wahrhaben. Dann nahm sie Rhoda zärtlich in die Arme, als sei ihre Liebe stark genug, aus ihr das zu machen, was sie sich wünschte – ein einfaches, durchschnittliches, zärtliches Kind, das Liebe mit Liebe vergalt. Oft küßte sie Rhodas Stirn und Wangen mit einer Leidenschaft, die Rhoda erstaunt und schweigend duldete, um sich schließlich der Umarmung ihrer Mutter zu entziehen. Sie ging ihr bewußt aus dem Weg, übte Klavier, las, lernte ihre Sonntagsschultexte, -161-
lernte häkeln und sticken oder saß müßig unter dem Granatapfelbaum und überließ sich ihren eigenen Gedanken. »Liebst du mich denn gar nicht?« fragte Mrs. Penmark einmal verzweifelt ihr Kind. »Fühlst du denn für keinen Menschen ein bißchen Zärtlichkeit? Bist du wirklich so kalt wie ein Stein?« Rhoda ging gleichmütig und ungerührt zur Tür und schien nicht zu wissen, was die Mutter von ihr erwartete. Sie lachte ihr reizendes Lächeln, legte das Köpfchen schief und sagte: »Ach, ich glaube, du bist ziemlich töricht!« Mrs. Breedlove überlegte sich ernstlich, ob sie Christine sich selbst überlassen dürfe, denn sie war noch immer sehr schwach. Dieses Problem gedachte sie mit einer Einladung an Christine und Rhoda zu lösen, mit ihr zu kommen. Sie war überzeugt, daß sie noch Zimmer bekommen würde, aber Christine weigerte sich. Sie bat die Freundin, sich keine allzu großen Sorgen zu machen, denn es gehe ihr gut, und sollte etwas passieren, dann würde sie sofort anrufen. »Wenn Sie unbedingt dickköpfig sein wollen, liebe Christine, dann kann ich Ihnen nicht helfen«, erklärte Monica. »Aber Sie werden mich ganz sicher anrufen, falls Sie mich brauchen? Darauf bestehe ich. Sie wissen, wo ich bin. Es ist nicht weit.« Am Tag darauf reiste sie ab, und Christine half ihr bei den Vorbereitungen. Als alles im Wagen verstaut war, kehrte sie mit Christine in die Wohnung zurück, um nachzusehen, ob das Gas abgestellt war und kein Wasserhahn tropfte. Sie rief Leroy zu, er solle noch eine Tasche in den Wagen stellen, und er ging sofort die Hintertreppe hinab. Rhoda folgte ihm. Im Hof flüsterte er ihr zu: »Es wäre gescheiter, du würdest Mrs. Breedlove bitten, sie soll nach dem blutigen Stock suchen, wenn sie am Strand ist. Es wär’ schon besser für dich, du hättest ihn, bevor ich ihn finde.« »Es gibt gar keinen Stock, den Sie finden könnten«, antwortete Rhoda. -162-
Leroy lachte. »Zzzzz«, machte er. »Du weißt doch, was das bedeutet?« »Ich weiß nur, daß Sie ein dummer Kerl sind.« »So tut es, wenn kleine Kinder auf dem kleinen blauen Stuhl gebraten werden.« »Neulich haben Sie aber gesagt, es sei ein rosa Stuhl.« »Sie haben zwei. Der blaue ist für freche kleine Buben, der rosa für freche kleine Mädchen.« Er stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Du scheinst tatsächlich nicht viel zu wissen. Früher hab’ ich immer gemeint, du wärst gescheit, aber das meine ich jetzt nicht mehr. Du bist dumm, richtig dumm.« Die beiden Frauen kamen herunter und wenig später fuhr Monica weg. Christine ging den Pfad entlang zur Haustür. Leroy lachte leise, legte den Finger an die Nase und machte »Zzzzz! Du weißt doch, was das bedeutet, ja, ja. Und wenn du’s jetzt noch nicht weißt, wirst du’s bald erfahren.« Mrs. Penmark rief ihre Tochter zu sich, und Rhoda kam sofort gelaufen. Er sah den beiden nach. Diese verwöhnte Christine sieht nicht mehr so gut aus wie früher, dachte er. Sie ist ja ganz dünn geworden. Und blaß. Unter den Augen hat sie dunkle Ringe. Zehn Jahre älter sieht sie aus. Warum? Früher, im Krieg, sagte man, die Soldaten sind kampfmüde, wenn sie so aussahen. Aber ist diese Frau kampfmüde? Blödsinn, bei einer so verwöhnten Frau ist das Blödsinn! Eher ist sie bettmüde! Die Klugheit dieses Gedankens überwältigte ihn so, daß er sich auf die Kellerstufen setzen und leise lachen mußte. Da mußte doch einer nachts, wenn alle schliefen, heimlich hinaufklettern, und sie ließ ihn natürlich ein. Vielleicht Mr. Emory? Nein, der war zu alt für sie. Oder er konnte nicht mehr über eine Veranda klettern. Oder dieser Reggie Tasker, der die Kriminalromane schreibt? Der hat ja Angst vor den Frauen und läuft vor ihnen davon… Er dachte lange darüber nach und kam endlich zu dem Schluß, -163-
es müsse jemand sein, der zwar keinen Namen habe, aber sehr viel Ähnlichkeit mit ihm selbst. Er lachte, daß es ihn schüttelte. Seine Klugheit und sein Scharfblick befriedigten ihn über alle Maßen.
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Der Stolz der Stadt war die Bibliothek. Es war ein großer Bau aus Sandstein und Ziegeln und stand auf dem Gelände eines ehemaligen Friedhofes. Die alte Friedhofsmauer umgab jetzt einen hübschen Park mit Bänken, Baum- und Buschgruppen, einigen Sommerhäuschen und Lauben aus Jasmin und Korallenwein. Ein paar Grabsteine hatte man stehenlassen. Es war nicht zu leugnen, daß sie der Stimmung ernsthafter Leser förderlich waren, besonders jener, die sich mit philosophischen Werken befaßten. Morgens, wenn der Postbote dagewesen war, ging Christine jetzt öfter in die Bibliothek, um noch weiter in das entsetzliche Leben der Bessie Denker vorzudringen. Viele Schriftsteller hatten sich mit ihrer Mutter beschäftigt. Es war fast ein ganzer Literaturzweig entstanden, der sich um ihre Existenz rankte. Ihr Name war des Bösen wegen, das sie getan hatte, besser bekannt als der vieler mitfühlender, gutherziger Menschen, die Großes geleistet hatten. Christine las alles, was sie zu diesem Thema fand und machte sich Notizen. Sie hatte auch der Bibliothekarin erzählt, daß sie Material für ein Buch sammle und fand deren volle Unterstützung. Rhoda ließ sie gewöhnlich bei Mrs. Forsythe, doch ab und zu nahm sie das Kind mit. Rhoda las dann oder hatte eine Handarbeit bei sich, an der sie in letzter Zeit sehr großen Gefallen fand. Meistens zog sich Mrs. Penmark in eines der Sommerhäuschen zurück, und dort las sie dann auch die Artikel ihres Adoptivvaters zum Fall Denker. Das frühere Gefühl schuldbewußter Zärtlichkeit für ihr Kind war inzwischen recht -165-
fadenscheinig geworden. Jetzt sah sie ihre Tochter mit kalter, angewiderter Verständnislosigkeit. Wenn sie allein waren, sprachen sie kaum miteinander, und das schien auch Rhoda sehr angenehm zu sein. An den Tagen, die sie zu Hause verbrachte, blieb Mrs. Penmark immer in der Nähe der Fenster, wenn Rhoda bei Mrs. Forsythe Besuch machte, oder in den Park zum Spielen ging. Sie befahl dem Kind, immer unter dem Granatapfelbaum zu sitzen, um sie im Auge behalten zu können. Rhoda fand das vernünftig und gerecht und gehorchte in einer Art zynischer Resignation. Wenn Rhoda bei Mrs. Forsythe blieb und dort zu Mittag aß, nahm Christine belegte Brote mit. Einmal, als sie damit an einem der Tische unter einer Pergola saß, kam eine Hilfskraft aus der Bücherei dazu, eine etwas schlampige Frau mit einem roten Mal auf der Wange, das sie mit einem gewissen Stolz zur Schau trug. »Ich glaube, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt«, begann sie und setzte sich zu Christine. »Ich bin Natalie Glass. Wie kommen Sie mit Ihrem Buch voran? Es ist doch Ihr erstes, nicht wahr? Haben Sie schon zu schreiben angefangen, oder sammeln Sie noch immer Material?« »Ich beschäftige mich noch immer mit der Idee. Vielleicht kommt gar nichts dabei heraus. Es ist noch zu früh, etwas zu sagen.« Miß Glass biß in ihr Brot »Und worüber ist es?« fragte sie kauend. Christine schilderte ihr eigenes Leben, wie sie es auch Reginald Tasker geschildert hatte. Miß Glass nickte immer wieder, kaute nachdenklich und strich die herunterfallenden Krumen zusammen. »Ja, wenn Sie schreiben, können Sie die Sache ein wenig abschwächen. Aber was ist mit dem Vater des Kindes? Weiß er, wer die Mutter der Frau war? Verdächtigt auch er das Kind? Wenn Sie noch etwas brauchen, das wir nicht haben, dann sagen Sie’s mir. Vielleicht kann ich es Ihnen besorgen.« -166-
»Der Vater weiß nichts von der Herkunft seiner Frau. Erinnern Sie sich, daß sie es ja bis nach ihrer Heirat selbst nicht wußte? Er weiß nur, daß das Kind ein wenig eigentümlich ist, aber das reicht nicht aus, um ihn in Angst zu versetzen.« Miß Glass trank den Kaffee aus ihrer Thermosflasche und verdaute das, was Christine ihr gesagt hatte. »Und wie wird die Sache ausgehen?« fragte sie abrupt. »Das weiß ich noch nicht. Das Ende sehe ich noch nicht klar.« »Bei den ganzen Umständen sehe ich kein gutes Ende. Unmöglich.« »Es kann auch keines geben. Nein, das weiß ich selbst.« Miß Glass setzte ihre erhobene Tasse wieder ab, kniff die Augen zusammen und schien auf eine Stimme zu lauschen. »Das einzig mögliche Ende für dieses Buch«, erklärte sie dann, »wäre das, daß die Mutter das Kind erschießt, ehe es erwachsen ist und sich tatsächlich an den Nachbarn zu vergreifen beginnt.« »Oh, nein!« rief Christine. »Nein, nein!« Diese Heftigkeit schien Miß Glass zu überraschen. »Was könnte die Mutter sonst tun?« wandte sie ein. »Wenn Sie mich fragen, ist und bleibt das Kind ein ewiger Unruheherd, und die Mutter wird vor Sorgen ihres Lebens nicht mehr froh.« »Nein, die Mutter kann ihrem Kind nichts zuleide tun, nein! Das würde ihrem Charakter vollkommen widersprechen. Sie ist eine schwache Frau, die sich treiben läßt. Sie hat nicht die Kraft, solche Entscheidungen zu treffen.« »Sie können es ja so machen, daß sie eine passende, ja zwingende Gelegenheit abwartet.« »Nein, nein! Meine Heldin, wenn man sie so nennen will, wäre nicht in der Lage, eine solche Tat zu überleben. Sie hätte nicht die Kraft dazu. Diese Lösung ist ausgeschlossen.« »Aber Sie haben diese Lösung doch selbst schon in Erwägung gezogen, oder nicht?« -167-
»Ja«, gab Christine zu. »Ich habe hin und her überlegt, aber so ist es unmöglich.« »Vielleicht haben Sie recht«, meinte Miß Glass. »Wenn ich es richtig überlege, dann müßte die Ermordung des Kindes am Anfang des Buches stehen, nicht am Ende – außer Sie beabsichtigen, etwas vom Umfang eines Buches wie Vom Winde verweht zu schreiben. Wenn die Heldin ihr Kind tötet, dann muß sie ja mit der Schuld leben. Sie müßte ihrem Ehemann Rechenschaft ablegen, und daraus würden sich neue Komplikationen ergeben. Sie müßte ein ganz neues Leben beginnen, unter der Voraussetzung selbstverständlich, daß die Cops nicht vorher Lunte riechen Und sie gehängt wird.« »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Christine. »Nein, ich weiß es wirklich noch nicht. Aber ich muß mich bald entscheiden. Es muß sehr bald etwas geschehen.« Miß Glass klemmte die leere Thermosflasche unter den Arm, knüllte ihr Papier zusammen und stand auf. »Der ganze Plan ist sehr interessant. Ich finde die Idee großartig. Ich werde darüber nachdenken.« Das Lesen, die Hausarbeit, Rhodas Überwachung und ihre langen, regelmäßigen Briefe an ihren Mann beschäftigten Christine so, daß sie ein wenig abgelenkt wurde und schließlich zu einer Art lethargischer Resignation kam. Monica rief regelmäßig an, und eines Tages berichtete sie, daß im Hotel jemand abgesagt habe, und nun habe sie, weil sie so Sehnsucht nach ihr und Rhoda gehabt habe, gleich die beiden Zimmer reservieren lassen. Sie möge ihr die Voreiligkeit verzeihen, aber für sie und Emory wäre es eine sehr große Freude, für wenigstens zehn Tage ihre und Rhodas Gesellschaft genießen zu können. Emory werde sie am folgenden Tag um sechs Uhr abholen, wenn er seinen Laden geschlossen habe. »Und wenn Sie keine Lust zum Packen haben, liebes Christinchen, dann -168-
komme ich morgen früh und nehme es Ihnen ab.« Mrs. Penmark sagte, das könne sie selbst tun, und am nächsten Nachmittag waren sie bereit, als Emory kam. Sie genoß die Tage am Meer. Morgens lag sie mit Rhoda am Strand oder machte Spaziergänge in die Wälder. Abends spielte sie mit Emory Canasta, oder mit Monica und ein paar Freunden Bridge. Rhoda benahm sich untadelig. Sie lächelte, knickste, war höflich und zuvorkommend und zeigte ihr Grübchen. Als Mrs. Penmark Anfang August mit Rhoda in die Stadt zurückkehrte, hatte sie das Gefühl, ihre innere Spannung habe endlich ein wenig nachgelassen. Sie begann wieder zu hoffen, an die Zukunft glauben zu können. Am nächsten Nachmittag, als das gewohnte Leben wieder aufgenommen war, ging Rhoda in den Park, um unter dem Granatapfelbaum zu häkeln. Leroy näherte sich ihr. »Ich weiß, warum du deine Mama angebettelt hast, sie soll mit dir an den Strand fahren«, flüsterte er ihr zu. »Du wolltest den Stock suchen. Sag mal, hast du ihn gefunden? Es bleibt natürlich ganz unter uns.« Ohne auch nur den Kopf zu heben antwortete Rhoda: »Sie ist am Fenster und beobachtet mich. Wenn Sie mit mir reden wollen, dann gehen Sie zum Myrthenbusch hinüber. Dorthin sieht sie nicht.« Grinsend ging er zu dem bezeichneten Busch. »Zzzz« machte er, denn dieser Laut enthielt für ihn unbegrenzte Möglichkeiten an Geist und Witz. Aber dann fiel ihm ein, wie wichtig ein paar Tatsachen waren, die ihn im Unterbewußtsein immer beschäftigt hatten. »Was ist eigentlich aus den schweren Schuhen geworden, die du immer angehabt hast?« fragte er. »Ich meine die, mit denen du immer taptap gemacht hast. Zum Picknick hast du sie noch angezogen, dann habe ich sie aber nicht mehr gesehen.« »Sie sind dumm! Solche Schuhe habe ich noch nie gehabt!« -169-
»Klar hast du sie gehabt! Ich mochte sie nicht, weil sie so knallten. Deshalb hab’ ich euch ja damals auch mit dem Schlauch angespritzt. Ich wollte, daß sie naß werden. Dann hättest du sie nicht mehr anziehen können.« »Sie drückten mich, deshalb habe ich sie weggeschenkt.« »Weißt du was? Du hast den Jungen ja gar nicht mit einem Stock geschlagen, sondern mit den Schuhen. Einen Stock hat es gar nicht gegeben. Deshalb war es dir egal, was ich darüber sagte. Das stimmt doch, was?« »Sie sind dumm. Mehr kann ich nicht sagen.« »Der Stock war’s also nicht, sondern der Schuh. Mit dem Schuh hast du ihn geschlagen. Der Schuh hatte Eisen an den Absätzen. Das hat gerade gepaßt, um ihn damit zu schlagen.« »Sie dürfen nicht mehr mit mir sprechen. Und Sie sind ein dummer Kerl.« »Ich bin nicht dumm. Du bist dumm. Aber als ich sagte, du hättest ihn mit einem Stock geschlagen, da war das nur eine Probe. Ich wollte, daß du sagst: ›Nein, Leroy, es war kein Stock, sondern der Schuh, weil er Eisen am Absatz hat‹. Mit dem Stock wollte ich dir Angst machen, aber ich wußte die ganze Zeit, womit du ihn wirklich geschlagen hast.« Rhoda häkelte eifrig und hatte dabei die Lippen leicht geöffnet. »Sie erzählen immer nur dumme Geschichten. Wenn Sie sterben, kommen Sie dafür in die Hölle.« Um weniger auffällig zu wirken, kniete Leroy vor dem Busch nieder und grub ein wenig an den Wurzeln herum. »Ich sag’ dir etwas über die Schuhe. Als du mit deiner Mama am Strand warst, fand ich den Schlüssel zu eurer Wohnungstür. Ich ging hinein und suchte die Schuhe. Und richtig, ich fand sie auch! Ich hab’ sie gut aufgehoben, damit niemand sie findet. Du tust gut daran, wenn du immer recht höflich zu mir bist und das tust, was ich dir sage. Wenn du meinst, du kannst hochnäsig sein, dann geh ich mit den Schuhen zur Polizei und sag’ ihnen, was sie an -170-
ihnen finden können. ›Das Blut des kleinen Claude Daigle ist an den Schuhen‹, werde ich ihnen sagen.« »Sie erzählen immer nur Lügen«, meinte Rhoda verächtlich. »Die Schuhe können Sie ja gar nicht haben. Ich habe sie nämlich in die Heizklappe geschoben, damit sie verbrennen. Ich würde mich schämen, immer solche Lügen zu erzählen.« Leroy lachte. »Das glaubst du nun! Sie sind zwar ein bißchen angebrannt, aber nicht so, wie du es gerne gehabt hättest.« In Rhodas Augen lag ein merkwürdiger, abwartender Ausdruck. Sie legte ihre Häkelarbeit neben sich auf die Bank und starrte den Mann mit geradezu fürchterlicher Ruhe an. »Ja?« sagte sie. »Ja?« »Und jetzt hör mir ganz genau zu, dann weißt du, wer von uns beiden dumm ist, du oder ich.« Er feixte boshaft. »Ich lag nämlich im Keller auf meinem Bett und hab’ etwas herunterpoltern hören. Ich hab’ mir gedacht, das klingt doch wie ein Paar Schuhe mit Eisen an den Absätzen? Ich machte also schnell die Ofentür auf, und da sah ich die Schuhe oben auf den Kohlen liegen. Sie haben nur ein bißchen geraucht und waren nur etwas verschmort. Aber es war noch genug da, und sie werden blau, wo das Blut war. Dafür reicht’s auf jeden Fall. Und dann kommst du auf den elektrischen Stuhl.« Er warf den Kopf zurück und lachte sein schrilles, gemeines, verrücktes Lachen. Rhoda stand auf, ging zum Seerosenteich und stellte einen Fuß auf die Einfassung. »Geben Sie mir die Schuhe zurück!« sagte sie leise, jedoch sehr bestimmt. »Nein, nein, Rhoda Penmark! Von mir kriegst du sie nicht. Ich hab’ sie gut versteckt, und von jetzt an wirst du dich mir gegenüber viel besser benehmen.« Er kehrte in den Hof zurück. Die Szene war ihm so köstlich erschienen, daß sie fast unerträglich wurde. Er setzte sich auf die zum Keller führenden Stufen. Rhoda folgte ihm. »Sie werden -171-
mir diese Schuhe zurückgeben«, sagte sie ruhig, fast geduldig. »Sie gehören mir. Ich will sie haben.« »Ich geb’ sie dir nicht und auch keinem anderen«, sagte er lachend, aber dann verging ihm das Lachen unter dem kalten, scharfen Blick des Kindes. Unbehaglich sah er auf seine eigenen Schuhe hinunter. »Ich behalt’ die Schuhe, bis…« Plötzlich hatte er die Lust an diesem Spiel mit Rhoda verloren. Er stand auf und ging weg. »Geben Sie mir die Schuhe zurück«, sagte Rhoda, die ihm gefolgt war. »Ich will die Schuhe haben.« Sie ließ ihn nicht in Ruhe. Überall, wohin er auch ging, war sie da und wiederholte: »Ich will die Schuhe haben.« Allmählich wurde er nervös. Er drehte sich zu ihr um. »Hör mir mal zu, Rhoda. Ich hab’ nur Spaß gemacht. Ich muß jetzt arbeiten. Warum läßt du mich nicht in Ruhe und kümmerst dich um deine eigenen Angelegenheiten?« Er ging rasch weiter, doch sie hielt ihn am Ärmel fest, so daß er stehenbleiben mußte. »Erst will ich die Schuhe haben. Ich rate Ihnen, geben Sie mir die Schuhe zurück.« »Mach doch kein solches Geschrei!« warnte er sie. »Jeder kann doch hören, was du sagst!« »Dann geben Sie mir die Schuhe. Sie haben sie versteckt, und ich will sie haben.« »Hör mal, Rhoda, ich hab’ gar keine Schuhe gefunden und auch keine versteckt. Ich hab’ dich nur ärgern wollen. Merkst du’s denn nicht, wenn dich einer ärgern will?« Wieder ging er zum Park, aber Rhoda ließ nicht locker. »Ich will die Schuhe. Geben Sie mir die Schuhe.« Am Seerosenteich hob er seinen Besen auf. »Laß mich doch in Ruhe! Ich hab’ dir doch schon gesagt, daß ich dich nur ärgern wollte. Zuerst hab’ ich nur Spaß gemacht und nur ein bißchen herumprobiert, ob du den Jungen umgebracht hast. Jetzt glaub’ -172-
ich’s aber wirklich, daß du ihn umgebracht hast. Mit deinem Schuh nämlich.« Aber Rhoda blieb ihm auf den Fersen und wiederholte immer wieder ihre Forderung. Er blieb stehen und stampfte auf den Boden. »Geh jetzt endlich hinein und setz dich an dein großkotziges Klavier! Ich hab’ keine Schuhe, das sag’ ich dir doch dauernd!« Er ging zur Vorderseite des Hauses, denn dorthin würde sie ihm sicher nicht folgen, weil man sie zu leicht beobachten konnte. »Nein, wirklich, jetzt glaub’ ich’s aber ganz bestimmt, daß sie den kleinen Buben umgebracht hat«, murmelte er vor sich hin. »Und ich will jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wenn sie wieder mit mir reden will, dann geb’ ich keine Antwort mehr.« Zuvor hatte er gedacht, die Geschichte mit den Schuhen müsse er abends Thelma erzählen, aber jetzt hielt er diesen Gedanken nicht mehr für gut. Offen gesagt, er fürchtete sich vor dem Kind. Am nächsten Morgen kam er zur Arbeit in der festen Absicht, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie kam zu seiner Erleichterung morgens nicht in den Park, erschien aber von Zeit zu Zeit an einem der Fenster, und er wußte genau, daß sie ihn beobachtete, ja sogar überwachte. Er sah ihre Augen und erschrak vor dem kalten, berechnenden Blick, vor der unbeherrschten Wut, die sich im Gesicht des Kindes ausdrückte. Um zwölf Uhr aß er sein Mittagessen auf der Bank beim Seerosenteich. Eine halbe Stunde später ging er zu seinem gewohnten Schläfchen in den Keller. Kurz darauf kam der Eismann mit seinem Wagen in die Straße, und schnell sammelte sich eine ganze Herde Kinder um ihn, so daß Hof und Park verlassen dalagen. Auch Rhoda sah den Eismann und bat ihre Mutter um Geld, das sie auch erhielt. Sie ging zur Treppe, kehrte aber wieder um und verschwand in der Küche. Christine beobachtete sie, was sie dort tat. Sie sah, daß Rhoda drei große Kaminzündhölzer aus der Schachtel über dem Herd nahm. Sie überlegte eine Weile und legte dann ein -173-
Hölzchen zurück. Anschließend ging sie über die Hintertreppe hinunter, kaufte ihre Eiswaffel und setzte sich damit auf die Kellertreppe. Vergnügt hörte sie Leroys Schnarchen von unten. Mrs. Penmark war zum Küchenfenster gegangen, um zu sehen, was ihre Tochter mit den Zündhölzern vorhatte. Sie brauchte nicht lange zu warten. Rhoda sah sich vorsichtig um und vergewisserte sich, daß niemand sie sehen konnte. Mit ausdruckslosem Unschuldsgesicht ging sie zur Kellertür. An der Zementwand strich sie ein Hölzchen an und schützte die Flamme mit ihrer Handfläche. Als sie auf Zehenspitzen in den Keller schlich, entschwand sie aus dem Blickfeld ihrer Mutter. Im Keller angekommen, bückte sie sich rasch zu den aufgestapelten Zeitungen vor Leroys Behelfsbett hinunter und hielt das Zündholz an das Papier. Dann kam sie leise zurück und schloß die Kellertür hinter sich. Sogar den kleinen Riegel schob sie vor, den man angebracht hatte, damit die Tür bei Sturm nicht schlug. Sie setzte sich wieder an den alten Platz, knabberte an ihrer Eiswaffel und hielt das angebrannte Zündhölzchen in der Hand. Das alles war so lautlos, überlegt und zielbewußt geschehen, daß Mrs. Penmark, obwohl sie doch mit einem Teil ihres Bewußtseins damit gerechnet hatte, nicht zu glauben vermochte, daß es tatsächlich vor ihren eigenen Augen geschehen war. Wie gelähmt stand sie hinter dem Vorhang, der sie vor Rhodas Blicken verbarg. Dann begann sie zu schreien, und als sie anfing, hörte sie auch wie ein Echo ihrer eigenen Schreie, die Leroys aus dem Keller. Sie waren nur schwach zu hören, denn die dicke Kellertür war dazwischen. Rauch drang durch die Ritzen der beiden Fenster neben der Tür. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich gegen die Tür, doch der Riegel hielt. Dann erschien sein Gesicht an einem der Fenster. Er sah Rhoda, die noch an ihrer Eiswaffel knabberte. »Sperr die Tür auf, Rhoda!« krächzte er. »Ich bin dir bestimmt nicht böse.« Rhoda lachte ihr reizendes Lächeln und schüttelte langsam den Kopf. -174-
Und jetzt, in den letzten Augenblicken vor seinem Tod, wußte er genau, was passiert war. Er schrie aus Leibeskräften, aus verzweifelter Angst. »Ich hab’ doch die Schuhe gar nicht!« jammerte er. »Ich weiß doch gar nichts von ihnen!« Für Rhoda schien die Eiswaffel das einzige zu sein, was zählte, denn sie biß genießerisch winzige Stückchen davon ab. »Oh, Sie wissen schon, wo sie sind«, sagte sie leise und freundlich. Mit verzweifelter Kraft warf sich Leroy erneut gegen die Tür, und diesmal gab der Riegel nach. Er stürzte in den Hof hinaus. Die Kleider hingen ihm in langen, brennenden Fetzen vom geschwärzten Körper. Seine Haare brannten, sogar die Schnürsenkel hatten Feuer gefangen. »Ich wollte dich doch gar nicht verraten!« schrie er. »Ich weiß doch gar nicht, was du angestellt hast!« Rhodas rosa Zungenspitze schleckte das letzte Restchen Eis von der Waffel. Sie hob den Kopf, klatschte in die Hände und lachte ihr reizendes, klingendes, kindliches Lachen. »Ach, Sie sind ja wirklich dumm!« rief sie. Sie stand von den Stufen auf, strich ihr Kleidchen glatt, wickelte das angebrannte Zündholz in das Eiswaffelpapier und warf es in eine der Abfalltonnen, die unter der Treppe standen. Lächelnd nickte sie, als wolle sie damit sagen, daß ihr das, was sie sah, ausnehmend gut gefiel. Der brennende Leroy rannte zum Seerosenteich, aber plötzlich taumelte er und fiel in sich zusammen. Und dort starb er. Mrs. Penmark trat vom Fenster zurück. Nein, ich werde nicht ohnmächtig, beschwor sie sich selbst. Ich muß ruhig bleiben. Ganz ruhig. Sie ging zum Schlafzimmer, um sich für ein paar Minuten auf das Bett zu legen, doch sie erreichte es nicht. Die Knie gaben unter ihr nach. Dann hörte sie nur noch ein Singen und Rauschen in den Ohren. Eine Zeitlang war sie bewußtlos; wie -175-
lange, das wußte sie nicht. Später ging sie die Hintertreppe hinunter. Wie sie es schaffte, wußte sie nicht. Sie hielt sich am Geländer fest, um nicht zu stürzen. Dann schrie sie: »Rhoda! Rhoda! Rhoda!« Der Hof war voller Menschen. Leute aus dem Haus, aus der Nachbarschaft, Fremde, die zufällig vorbeikamen und den Rauch und die Flammen bemerkten. Sie ging zum Parktor, stand neben ihrer Tochter und sah auf den toten Mann zu ihren Füßen hinunter. Irgendwo schrie jemand, und sie wunderte sich darüber. Sie drehte sich zu den Leuten um, die sie beobachteten, und sagte mit trostloser, versagender Stimme: »Bitte, hört auf zu schreien. Schreien nützt gar nichts.« Sie schloß die Augen und lehnte sich an den Zaun. Und dann wußte sie, daß sie selbst es war, die schrie. Die Männer hatten bereits eine Kette gebildet. Wassereimer gingen von Hand zu Hand. Andere rissen den brennenden Plunder heraus und warfen ihn auf den Beton des Hofes. Dann kam die Feuerwehr. Wenig später holte die Ambulanz Leroys Leiche ab. Als nächstes wußte sie, daß sie im Park neben dem Seerosenteich lag, und jemand schüttete ihr Wasser ins Gesicht. Leroy hatte ihn nicht mehr erreicht. Mrs. Kunkel von gegenüber stand über ihr und wiederholte ungeduldig: »So hören Sie doch endlich zu schreien auf! Hören Sie auf! Hören Sie doch endlich auf!« »Sie müssen versuchen, sich selbst wieder in die Hand zu bekommen«, riet Mrs. Forsythe. »Ich habe es gesehen!« schrie Christine. »Diesmal habe ich es gesehen! Ich sah ihn, als er aus dem Keller kam! Ich sah ihn, als er starb!« »Nur ruhig«, mahnte Mrs. Forsythe. »Sie müssen sich zusammenreißen.« Wieder goß sie Christine kaltes Wasser ins Gesicht. »Sehen Sie sich Rhoda an. Sie ist völlig ruhig. Sie -176-
benimmt sich wie ein tapferer kleiner Soldat.« Christine nahm ihre letzte Kraft zusammen, und es gelang ihr sogar aufzustehen. Von Mrs. Forsythe und einem Mann geführt, den sie noch nie gesehen hatte, gelangte sie in ihre Wohnung, wo sie sich auf ihr Bett legte. Diesmal, sagte sie zu sich selbst, diesmal bin ich daran schuld. Ich hätte es wissen müssen. Die beiden anderen Male wußte ich es nicht; ich ahnte es nicht einmal. Aber diesmal – ich hätte wissen müssen, was geschehen würde. Vielleicht hätte ich es aufhalten können. Mit Rhoda hätte schon vor Wochen etwas geschehen müssen. Und jetzt muß sofort etwas getan werden… Mrs. Forsythe ging in die Küche, um Eis zu holen, und Rhoda kam ins Zimmer und starrte ihre Mutter kalt und verächtlich an. »Er hat das von den Schuhen gewußt«, flüsterte sie fast unhörbar. »Und er wollte mich verraten.« Mrs. Forsythe kam mit dem Eis zurück, das sie in ein Tuch eingeschlagen hatte. »Er muß unten im Keller wieder einmal geraucht haben, obwohl es ihm streng verboten war. Wahrscheinlich schlief er mit einer brennenden Zigarette in der Hand ein. Wie oft haben wir vorhergesagt, daß es einmal so kommen würde! Mir tut nur seine Familie leid. Seine Frau hat wahrscheinlich nicht einmal soviel Geld, daß sie ihn anständig begraben lassen kann. Ach, es ist furchtbar!« Sie ging zum Fenster und stellte die Jalousien so ein, daß die Sonne an die gegenüberliegende Wand fiel. »Ich nehme Rhoda mit in meine Wohnung, damit Sie ungestört sind. Sie müssen zu schlafen versuchen. Wenn Sie geschlafen haben, fühlen Sie sich wieder besser. Aber Sie dürfen nicht dauernd grübeln. Sie machen sich ja nur krank. Überlassen Sie alles mir und schlafen Sie.« Sie schlief lange und traumlos, eine Wohltat, die sie seit vielen Wochen nicht mehr gekannt hatte. Als sie aufwachte, fühlte sie eine Ruhe in sich, die sie noch mehr erschreckte als der Aufruhr der letzten Monate. Sie kam sich vor wie im Kern eines Hurrikans, der ihr ganzes Leben vernichtete. In steinerner -177-
Ruhe wusch sie ihr Gesicht, bürstete die Haare, trug Lippenstift auf und holte ihr Kind. Später am Nachmittag läutete das Telefon. Es war Mrs. Breedlove. Sie hatte von dem Brand und von Leroys Tod gehört und wollte wissen, was und wie eigentlich alles passiert war. Christine erzählte ihr, was sie wußte, auch, daß das Haus selbst kaum Schaden gelitten hatte, auch der Keller nur wenig. Man nahm an, daß Leroy mit einer brennenden Zigarette in der Hand eingeschlafen sei. »Ich bin froh«, meinte Monica ernst, »daß Sie es so ruhig aufnehmen. Ich hatte schon schreckliche Angst, Sie würden sich wieder furchtbar erregen. Verständlich wäre es ja, denn es ist wirklich eine Tragödie.« Dann erzählte sie schnell noch eine kleine Anekdote, lachte darüber und legte auf. Als es dunkel wurde, ließ Mrs. Penmark ein Taxi kommen und fuhr zu Leroys Haus. Sie ging nur bis zur Tür, weiter schaffte sie es nicht. Viele Leute standen herum. Man rief die Witwe, und Thelma kam heraus, um zu sehen, wer es war. Christine nannte ihren Namen und setzte sich mit ihr unter den blühenden Eibischbaum an der Veranda. »Ich will, daß Sie ihm ein Begräbnis ausrichten, wie Sie es gerne haben möchten«, sagte sie. »Über die Kosten brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Die Rechnungen bezahle ich.« Thelma starrte sie entgeistert an. »Sie wissen nun, wer ich bin. Der Beerdigungsunternehmer soll mich anrufen, auch alle anderen, die gebraucht werden. Ich werde ihnen dasselbe sagen, was ich Ihnen gesagt habe.« Damit stand sie auf und ging zu dem wartenden Taxi zurück. Am nächsten Morgen erwachte sie mit dem dringenden Wunsch, den Band zu lesen, der über ihre Mutter in der Serie Große amerikanische Verbrecher erschienen war. Sie fuhr zur Bibliothek, ließ sich das Buch geben und kehrte damit in ihre Wohnung zurück. Sie saß neben dem Fenster und las die Einzelheiten, die sie schon kannte, jetzt jedoch aufmerksamer und noch viel genauer. -178-
Als August Denker in den Genuß des Vermögens kam, das seine Frau zusammengerafft hatte, ging eine Änderung in ihm vor. Er wurde selbstbewußter und begann anderen Befehle zu erteilen. In den Augen seiner Frau war sein schlimmstes Verbrechen, daß er undurchführbare Pläne entwickelte, die von Mrs. Denkers Standpunkt aus das Vermögen verschleudern würden. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihn so kurzfristig aus dem Leben zu schaffen. Da er aber ihr Lebenswerk bedrohte, wich sie von ihrem Gesamtplan ab – zum erstenmal! – und verabreichte ihm eine Dosis Arsen in Buttermilch. Bis jetzt war alles gut gegangen. Die Träume ihrer Mädchenzeit hatten sich erfüllt. Endlich war sie auch im Besitz des Denkerschen Vermögens. Sie lehnte sich behaglich zurück, um die Früchte ihrer unermüdlichen Arbeit zu genießen, um die Rolle der trauernden, doch sehr mutigen Witwe zu spielen. Es war mit Recht zu bezweifeln, daß sie jemals eine ihrer Taten bereute. Vielleicht sah sie sich selbst gar nicht als Mörderin, sondern als geschickte, tüchtige Geschäftsfrau, die nur mit einer ausgefallenen Ware handelte; deren Weitsicht und Geschick es zu danken war, daß sie mehr erreichte als andere Frauen, die weniger begabt waren als sie. Aber als sie so zufrieden in ihrem Schaukelstuhl saß, bellte schon der erste Hund, ihre Kusine Ada Gustafson. Unauffällig und mißtrauisch ging sie herum, sprach dabei aber laut ihren Verdacht aus: »August ist nicht an einer Verdauungsschwäche gestorben, wie der Doktor gesagt hat. Kusine Bessie hat ihm etwas in die Buttermilch getan, und das ist so sicher, wie der liebe Gott die Äpfel wachsen läßt! Und daß Großvater Denker so plötzlich starb, ohne auch nur einen Tag krank gewesen zu sein, das ist auch nicht ganz hasenrein. Ein Mannsbild, das stark ist, wie ein Bulle… Die Geschichten, die über Bessie sonst noch erzählt werden, sind auch nicht von Pappe. Komisch, daß das große Sterben immer erst dann anging, wenn sich Kusine Bessie für die Leute interessierte.« -179-
Zuerst hörten die Nachbarn der schrulligen alten Frau amüsiert zu, doch dann ging Ada eines Tages zum Sheriff. »Laß den August ausgraben«, sagte sie zu ihm. »Dann siehst du’s schon.« Natürlich wehrte sich Bessie dagegen, und sie erklärte weinend, ihr verstorbener Mann solle nicht zum Spielball von Adas Eifersucht gemacht werden. Ein Gerichtsentscheid machte die Exhumierung möglich. Jetzt bekam Mrs. Denker Angst, richtiggehend Angst. Zum erstenmal im Leben verlor sie ihre eisernen Nerven, die ihr so gute Dienste geleistet hatten, und sie reagierte sehr töricht. Sie erzählte jedem, August und Großvater Denker seien wohl vergiftet worden, aber nicht von ihr, sondern von Ada, die wahrscheinlich noch andere auf dem Gewissen habe. Sie habe es zwar schon lange vermutet, aber aus Angst um ihr eigenes Leben geschwiegen, denn Ada habe ihr gedroht, sie und die Kinder umzubringen und das Haus anzuzünden. Wenn ihr oder den Kindern etwas zustoße, dann wüßte man ja, an wen man sich zu halten habe. In dieser Nacht brachte sie Ada Gustafson und ihre Kinder um – mit Ausnahme des jüngsten Mädchens, das Christine hieß. Sie muß zuerst die alte Ada mit dem Beil betäubt haben, um ihr dann mit dem Hackmesser den Kopf abzutrennen. Als Ada tot war, zog sie der alten Frau ihre eigenen Kleider an und steckte ihr sogar ihren Ehering an den Finger. Sie selbst zog die Kleider ihres Mannes an, ging zur Tür hinaus und blieb nur solange stehen, um Feuer an das Haus legen zu können. Sie hoffte, die Behörden ließen sich täuschen und hielten Adas Leiche für die ihre. Damit wäre bewiesen gewesen, daß Ada die Verbrecherin war. Den Kopf Adas wickelte sie in Zeitungspapier und nahm ihn mit. Ihre Verkleidung täuschte aber niemanden. Am nächsten Morgen entdeckte man sie im Wartesaal des Bahnhofs von Kansas City. Das Paket hielt sie auf dem Schoß, und als die Polizei die Schnur aufschnitt, rollte ihr Adas Kopf entgegen. -180-
Warum das jüngste Kind nicht auch sterben mußte, konnte nur vermutet werden. Man erzählte, Ada Gustafson habe Christine mehr als die anderen Kinder geliebt und sie aus einer unheilvollen Ahnung heraus zu Nachbarsleuten geschickt. Beweise dafür gab es aber nicht. Richard Bravo war der Meinung, ihre Mutter habe Christine deshalb verschont, weil sie glaubte, das Kind sei noch zu klein, um etwas zu verstehen oder gegen sie aussagen zu können. Alice Olcott Flowers war der Meinung, Bessie Denker habe in ihrer Arroganz geglaubt, sie könne ihre Verfolger täuschen und sich in Sicherheit bringen. Sie habe Christine am Leben gelassen, um mit ihr als Requisit später ein neues Leben anzufangen und ihre alte Laufbahn fortzusetzen. Das Kind wäre für sie dann eine Art Arbeitskapital gewesen. Mrs. Penmark schloß die Augen. »Nein«, sagte sie laut, »so war es nicht. Sie irren alle. Ich schlief nicht, als sie Sonny mit dem Beil traf. Ich sah, wie sie es tat, rannte hinaus und versteckte mich hinter der Scheune im hohen Unkraut. Dort war es ganz dunkel, und sie konnte mich nicht finden. Als sie die anderen ermordet hatte, kam sie zurück und rief nach mir. Sie sagte, sie würde mir nichts tun, wenn ich zu ihr käme. Aber ich hatte durch das Fenster beobachtet, wie sie die anderen umbrachte, und gab ihr deshalb keine Antwort.«
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12
Mrs. Penmark machte es sich zur Gewohnheit, nach dem Frühstück ziellos in der Umgebung der Stadt herumzufahren. Auf diesen Fahrten sprach sie kaum mit Rhoda, denn die beiden verstanden einander nun wortlos. Hatte Mrs. Penmark keine Lust, selbst zu fahren, dann nahmen sie den Bus. Sie setzten sich auf getrennte Plätze, und niemand hätte geglaubt, daß sie zusammengehörten, hätte sich Rhoda nicht gelegentlich zu ihrer Mutter umgedreht, um sie zu beobachten, oder um zu erfahren, was sie als nächstes tun würden. Im Zentrum der Stadt befand sich eine kleine Anlage aus Azaleen, Kamelien und Lebenseichen, in deren Mitte ein Brunnen mit abgestuften Brunnenschalen stand. Dort herrschte immer ein kleiner Luftzug, auch war es unwahrscheinlich, dort Bekannte zu treffen. Manchmal saßen sie dort; Christine nachdenklich auf der einen Bank, Rhoda häkelnd oder lesend auf einer anderen. Einmal sah Christine zufällig auf, als Octavia Fern sich näherte. Die alte Dame blieb stehen. »Sie sind doch Mrs. Penmark, nicht wahr?« Christine nickte. »Ich war nur nicht ganz sicher, doch da sah ich Rhoda sitzen.« Christine lächelte nur freundlich, lud aber die alte Dame nicht ein, sich zu ihr zu setzen. »An den Tag in Benedict erinnere ich mich gerne«, sagte Miß Fern nach einer kleinen Pause. »Und die Oleanderzweige sind gut angewachsen. Ich pflanzte sie am nächsten Tag in unseren kleinen Garten.« Christine nickte wieder, sagte aber nichts. »Ich hoffte, Sie würden mich gelegentlich einmal besuchen«, fuhr Miß Octavia fort. »Ich verstehe natürlich, daß Sie sehr beschäftigt sind… -182-
Aber ich muß mich jetzt beeilen, denn Burgess erwartet mich an der Straße.« Sie ging weg, sah Rhoda an und winkte ihr zu, doch das Kind reagierte nicht auf diese freundliche Geste. Miß Octavia blieb unentschlossen stehen, kramte in ihrer Tasche, als suche sie etwas und sagte schließlich zu Christine: »Wir müssen den Besuch möglichst bald nachholen, nicht wahr? Nur darf ich Burgess jetzt nicht länger warten lassen. Sie wird sonst nervös.« Am Spätnachmittag läutete es an Mrs. Penmarks Wohnungstür. Zu ihrem Erstaunen stand Hortense Daigle davor. Sie umarmte Christine. »Oh, ich wollte Sie schon so lange besuchen, aber ich war nicht fähig dazu. Heute morgen sagte ich nun zu Mr. Daigle: ›Was wird Christine von mir denken? Jetzt muß ich sie aber endlich einmal besuchen.‹« Sie war ein wenig betrunken, und Mrs. Penmark schob ihr einen Stuhl zurecht. Nun bemerkte sie Rhoda, die am Fenster saß und las. »Das ist also Ihr kleines Mädchen? Wie heißt sie denn? Claude schwärmte oft von ihr. Er sagte, du seist so glänzend in der Schule. Ihr seid doch sicher sehr gute Freunde gewesen?« »Ich heiße Rhoda Penmark.« »Laß dich ansehen, Rhoda. Willst du Tante Hortense nicht einen Kuß geben? Du warst doch dabei, als dieser Unfall passierte, nicht wahr? Du bist doch das kleine Mädchen, das die Medaille gewinnen wollte und so fleißig dafür gearbeitet hatte? Aber gewonnen hast du sie dann nicht, was? Nun sag mir eines, Rhoda, würdest du sagen, er hat die Medaille ehrlich gewonnen? Das ist sehr wichtig für mich, nachdem er nun tot ist. Ich habe Miß Octavia Fern weiß Gott wie oft angerufen, aber sie hörte mich nicht an. Sie…« Christine schob Rhoda aus Mrs. Daigles Reichweite. »Es ist Zeit für dich, Mrs. Forsythe zu besuchen. Sie freut sich auf dich, und du darfst sie nicht enttäuschen.« -183-
»Natürlich gehst du«, pflichtete ihr Mrs. Daigle bei. »Gesellschaftliche Pflichten darf man nicht vernachlässigen. Sogar mein Mann hält mir vor, ich sei so entsetzlich ermüdend. Warum sagen Sie mir das nicht auch in aller Offenheit?« Rhoda warf der Frau einen schiefen, amüsierten Blick zu, glättete ihre Zöpfe und ging. »Sagen Sie«, fragte Mrs. Daigle, »haben Sie etwas Trinkbares im Haus? Egal was, die Marke interessiert mich nicht. Am liebsten mag ich Bourbon mit Wasser, aber es ist mir wirklich gleich.« Mrs. Penmark ging in die Küche und richtete Eiswürfel her, stellte sie mit einer Flasche Bourbon und einem Glas auf ein Tablett und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Wollen Sie denn nicht mithalten?« fragte Hortense. »Ein Drink oder zwei am Tag, das kräftigt die Arterien.« Sie stolperte und taumelte gegen die Wand. »Ein paar Drinks schaffen keinen Ärger und keine Sorgen. Was anderes ist es, wenn ein kleiner Junge zwischen die Balken einer Werft gerät und dabei ertrinkt.« Mrs. Daigle nahm erst einen Whisky pur, trank einen Schluck Wasser nach und goß sofort den nächsten Drink ein. »Eigentlich wollte ich mich ja einmal mit Rhoda unterhalten, aber ich wußte nicht, daß sie gesellschaftliche Pflichten hat. Tut mir leid, daß ich so hereingeplatzt bin. Andere Mädchen sind um die Zeit zu Hause und warten auf das Abendessen. Na ja, entschuldigen Sie schon, und sagen Sie auch Rhoda, sie soll entschuldigen, daß ich zur falschen Zeit kam.« »Wollen Sie den Ventilator etwas mehr in Ihre Richtung haben?« versuchte Christine abzulenken. »Ich hab’ mit so vielen Leuten über Claudes Tod gesprochen, und jetzt wollte ich mich mit Rhoda unterhalten. Sie muß doch etwas wissen, das andere Leute nicht wissen, etwas ganz Wichtiges. Für mich ist alles wichtig, was mit Claude zu tun hat.« »Eine andere Zeit wäre vielleicht besser.« -184-
»Nein, nein, ich bin durchaus nicht betrunken, nicht im mindesten. Reden Sie nicht so hochnäsig mit mir, Mrs. Penmark. Aber Rhoda weiß mehr als sie sagt. Ich hab’ nämlich mit dem Strandwächter gesprochen. Der hat Rhoda gesehen, ehe Claude zwischen den Balken gefunden wurde. Sie weiß etwas, das sie noch nicht gesagt hat.« Das Telefon klingelte. Es war der besorgte Mr. Daigle, der sich nach seiner Frau erkundigte. Er habe in der ganzen Stadt herumtelefoniert und wolle sofort kommen, um sie abzuholen. »Haben Sie ihm vielleicht gesagt, ich sei betrunken, mache Spektakel und soll von der Polizei geholt werden?« zischte Mrs. Daigle. »Sie haben doch selbst gehört, daß ich nur sagte, ja, Sie seien hier. Sie waren doch dabei.« »Ja, laut haben Sie’s gesagt, aber gedacht haben Sie, wie kann ich nur diese Pest wieder loskriegen? Jetzt sage ich Ihnen etwas: mir ist verdammt egal, was Sie von mir denken! Haben Sie verstanden? Was sind Sie denn schon? Sie halten sich wohl für was Besseres? Andere Leute können Sie vielleicht mit Ihrer glatten Larve an der Nase herumführen, mich aber nicht. Merken Sie sich das.« »Wenn Sie so denken, kommen Sie besser nicht wieder hierher.« »Nicht für eine Million! Ich wär’ auch jetzt nicht gekommen, wenn ich gewußt hätte, daß Rhoda gesellschaftliche Verpflichtungen hat. Natürlich, so fein aufgewachsen wie Sie bin ich nicht.« Sie goß sich einen neuen Drink ein. »Niemand hatte Sie eingeladen, mich zu besuchen, als Claude tot war, auch das zweite Mal nicht. Warum sind Sie überhaupt gekommen? Sie hatten eine bestimmte Absicht, aber Mr. Daigle hat mir verboten, solchen Unsinn zu reden.« Sie stand auf und mußte sich, weil sie schwankte, an der Sessellehne festhalten. »Ich warte nicht auf Mr. Daigle. Ich geh’ -185-
selbst nach Hause. Ich merke es schon, wenn ich unerwünscht bin.« »Bitte, setzen Sie sich doch, Mrs. Daigle. Ihr Mann wird jeden Augenblick hier sein.« »Soll sie doch kommen, sagte ich zu Mr. Daigle, und sie kann ruhig hier herumschnüffeln. Christine hat alles, was sie sich nur wünschen kann. Hat eben Glück gehabt, mehr Glück als ich.« »Glauben Sie mir, ich halte mich nicht für glücklich«, antwortete Christine ruhig. »Entschuldigen Sie, wenn ich das sage. Wissen Sie, besonders gut schauen Sie nicht mehr aus. Krank und ein bißchen ungepflegt, möcht’ ich sagen. Kommen Sie zu mir, ich mach’ Ihnen eine kostenlose Schönheitsbehandlung, wenn Sie kein Geld haben sollten. Meine Freundinnen kriegen alles umsonst. Sie brauchen nur anzurufen.« Endlich kam Mr. Daigle. »Komm, Hortense«, sagte er, »wir gehen nach Hause.« Sie begann laut zu weinen, umarmte Mrs. Penmark und legte ihren Kopf auf Christines Schulter. »Sie wissen etwas!« heulte sie. »Sie wissen etwas, und Sie wollen es mir nicht sagen!« Christine hatte sich vorgenommen, nicht wieder zur Bibliothek zu gehen, doch am nächsten Morgen wachte sie mit dem Wunsch auf, etwas über die Hinrichtung von Mrs. Denker zu erfahren. In den Garten ging sie diesmal nicht, sondern sie wählte eine der kleinen Nischen, in denen man ungestört arbeiten konnte. Sie ließ sich die Tageszeitungen jener Zeit geben, in der die Hinrichtung stattgefunden haben mußte. Der Tod ihrer Mutter auf dem elektrischen Stuhl war für alle Welt eine Sensation gewesen. Sie fand sogar ein Foto, das im Augenblick ihres Todes aufgenommen worden war. Ein Reporter hatte eine Kamera eingeschmuggelt. Die Aufnahme -186-
zeigte Bessie Denker in dem Moment, als sie sich unter der Einwirkung des ersten Stromstoßes in ihren Fesseln aufbäumte. Ihre Mutter hatte eine schwarze Maske auf dem Gesicht. Die gefesselten Hände schienen zu zittern, und die Finger waren gespreizt wie die Greifer eines Raubvogels. Dicke, haarlose, madenweiße Beine waren mit breiten Riemen an den Stuhl gefesselt und bogen sich unter der Gewalt des Stromstoßes nach außen. Lange saß sie da und schaute das Bild an. Es war Irrsinn, sich über Rhodas mutmaßliches Ende Gedanken zu machen. Sie wußte nun, daß Rhoda, wenn nicht etwas Einschneidendes getan wurde, das Leben ihrer Großmutter wiederholen würde, wenn auch unter anderen Umständen. Auch Rhoda würde wahrscheinlich lange einer Entdeckung entgehen, denn sie war unglaublich raffiniert. Aber auch sie würde letzten Endes doch gefaßt werden und dann der Strafe nicht entgehen. Aber bis sie gefaßt wurde, würde sie alles zerstören und vernichten, was sie berührte. Sie würde ebenso in einem Wirbel aus Sensation und Gefühlsduselei enden; in der Gaskammer, auf dem elektrischen Stuhl, unter dem Fallbeil oder in der Schlinge des Henkers. Sie sah das Ende ihrer Tochter völlig klar vor sich. »Gott sei uns allen gnädig!« murmelte sie und schlug die Hände vor das Gesicht. Jetzt wollte sie nicht länger mehr über ihre Mutter nachdenken. Sie gab die Zeitungen zurück, aber als sie gehen wollte, kam Miß Glass zu ihr. »Ich habe über Ihr Buch nachgedacht«, sagte sie, besonders über das Ende. Wissen Sie schon, wie Sie es machen wollen?« »Ja, ich glaube schon.« Miß Glass lächelte und sagte, sie müsse sich bei ihr entschuldigen, weil sie etwas getan habe, das sie eigentlich nicht hätte tun sollen. Sie habe anderen Leuten von dem beabsichtigten Roman erzählt. Ihre Schwester, bei der sie -187-
wohne, habe ein ausgesprochen literarisches Gefühl, und sie beide gehörten einer literarischen Gruppe an, die sich einmal wöchentlich treffe, um neue Entwicklungen zu besprechen. Bei der letzten Zusammenkunft habe sie nun Mrs. Penmarks Konzept skizziert. Das war, wie sie unverhohlen zugebe, eine große Indiskretion, aber sie war überzeugt, daß keiner der Anwesenden dieses Thema plagiieren würde. Jedenfalls habe sie davon gesprochen, daß der Autor Schwierigkeiten mit dem Ende habe, und die Gruppe habe dann jede Möglichkeit einer Lösung diskutiert. Psychiatrische Behandlung sei ebenso im Gespräch gewesen wie Reformschule oder blinder Glaube an die Zukunft. Zum Schluß sei es zur Abstimmung gekommen. Man stellte fest, daß die einzige Möglichkeit die sei, daß die Mutter das Geheimnis wahre, das Kind töte und anschließend Selbstmord begehe. »Ich hoffe«, endete sie, »Sie verzeihen mir die Indiskretion. Aber Sie haben mich nicht ausdrücklich darum gebeten, darüber zu schweigen.« »Das spielt keine Rolle«, versicherte ihr Christine. »Ich habe selbst schon über diese Lösung nachgedacht. Vielleicht ist es sogar die, auf die ich selbst zurückkommen werde.« In jener Nacht schrieb Christine Penmark ein Testament: Nach meinem Tod vermache ich meinen Schmuck und meine Utrillo-Landschaft meiner Freundin Mrs. Monica Breedlove zum Dank für ihre Freundschaft und als Erinnerung an meine unveränderte Zuneigung. Meinem Mann Kenneth Penmark, den ich als einzigen Mann meines Lebens über alles geliebt habe, gebe ich die Zeichnung von Modigliani zurück, mit dem Wunsch, er möge eine würdigere Empfängerin dafür finden. Er möge mir verzeihen, wenn er kann, und wieder heiraten. Meine Bankguthaben, alle Effekten und mein ganzes übriges Vermögen im Augenblick meines Todes hinterlasse ich Thelma Jessup, der -188-
Witwe von Leroy Jessup; sie wohnt General Jackson Street 572. Sie setzte das Datum des 3. August darunter, dann ihre Unterschrift. Das Testament legte sie in die Schublade ihres Schreibtisches, die sie wieder absperrte. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie laut zu sich selbst. Lange Zeit blieb sie nachdenklich sitzen. Sie wußte nun, was sie zu tun hatte. Die Konflikte, die sie zerrissen hatten, gab es nicht mehr. Sie mußte es so einfach und vernünftig wie nur möglich tun. Sie ging durch ihre Wohnung und überlegte jeden ihrer Schritte so leidenschaftslos, wie sie einst über ihr Haushaltsbudget nachgedacht hatte. Alles mußte ruhig und diskret geschehen. Jede Einzelheit mußte bedacht werden. Für sie selbst war es nicht mehr wichtig, was und wie sie es tat, aber Rhoda sollte nicht unnötig leiden. Sie durfte sich nicht fürchten. Sie sollte nicht einmal ahnen, was sie erwartete. Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch und las die irren, tragischen Briefe, die sie an ihren Mann geschrieben und dann nicht abgeschickt hatte. Anschließend verbrannte sie sie im Kamin. Die Asche kratzte sie zusammen und spülte sie im Waschbecken hinunter. Ruhig und methodisch ging sie alle Papiere durch, zerriß alte Briefe und Fotos, die sie für Rhoda hatte aufheben wollen, und rauchte danach eine Zigarette. Dann ging sie zu Bett. Sie war ganz ruhig, erwachte frisch und heiter und sah noch einmal in den Spiegel ihres Ankleidetisches. Nun war sie doch bestürzt über die Dinge, die ihr geschehen waren… Rhoda ließ sie bei Mrs. Forsythe und ging zum Schönheitssalon in der Nähe des Platzes mit dem Brunnen. Unter der Trockenhaube lächelte sie vor sich hin, als sie die letzten Einzelheiten überdachte und den Todestag für sich und ihre Tochter festlegte. Bei ihrer Rückkehr in die Wohnung fand sie einen Brief ihres Mannes vor. Sie las ihn immer wieder, als wolle sie sich seine letzten Worte an sie für alle Ewigkeit einprägen. Es gehe alles gut voran, schrieb er, und er hoffe, gegen Mitte August wieder zu Hause sein zu können. Er sehne -189-
sich sehr nach Frau und Kind und könne das Wiedersehen kaum mehr erwarten. Er hoffe, sie nicht wieder für so lange Zeit verlassen zu müssen. Christine versicherte er seiner unwandelbaren Liebe und Treue. Sie holte sein Foto von ihrem Nachttisch und setzte sich damit ans Fenster. »Oh, wie schön und lieb er das ausgedrückt hat«, sagte sie, mit leiser Stimme. Sie küßte seine Lippen auf dem Foto, seufzte tief und setzte ihre Vorbereitungen fort. Von Anfang an hatte sie gewußt, daß sie es nicht fertigbringen würde, dem Kind Gewalt anzutun. Am vernünftigsten erschien es ihr, Rhoda die Schlaftabletten zu geben, die sie von Mrs. Breedlove und von ihrem eigenen Arzt erhalten hatte. Sie schien immer gewußt zu haben, daß sie diese Pillen einmal brauchen würde. Natürlich würde es schwierig sein, sie Rhoda zu geben, ohne daß sie Verdacht schöpfte, denn Rhoda hatte einen primitiven und unfehlbaren Instinkt, denselben Instinkt, der es einem Tier ermöglicht, eine Falle zu wittern. Um Rhodas möglichen Verdacht zu zerstreuen, nahm sie das Kind mit zu einem Arzt. Sie esse schlecht, sagte sie, sei blaß und lustlos, und sie fürchte, etwas sei mit ihr nicht in Ordnung. Doch der Arzt schickte Rhoda nach der Untersuchung hinaus und erklärte ihr, sie sei so gesund, wie man es von einem Kind ihres Alters nur wünschen könne. »Der Arzt sagt, du brauchst Vitamintabletten«, erklärte sie Rhoda auf dem Heimweg. »Wir nehmen sie hier in der Apotheke mit.« In Gegenwart des Kindes kaufte sie Vitamintabletten. Später nahm sie diese aus der Packung und ersetzte sie durch die Schlaftabletten. Abends, als Rhoda im Bett lag, schlug sie vor: »Du könntest jetzt deine Tabletten nehmen. Ich glaube, es wäre ganz gut.« Aber als Rhoda sah, wie viele Tabletten ihre Mutter in die hohle Hand schüttete, fragte das Kind: »Aber ich muß doch nicht alle auf einmal nehmen?« -190-
»Ich habe den Arzt gefragt, weil ich es selbst nicht wußte. Er meinte, gewöhnlich nehme man immer nur eine, bei dir sei es aber ein wenig anders. Du solltest alle auf einmal nehmen.« »Laß mich doch die Flasche sehen«, bat Rhoda. Mrs. Penmark gab ihr die Flasche, und Rhoda las das Etikett ganz genau. Dann überzeugte sie sich, daß die restlichen Tabletten genauso aussahen wie jene, die ihre Mutter in der Hand hatte. »Okay«, sagte sie schließlich. »Gut, Mutter.« Sie nahm die erste Pille. Nach jeder Tablette trank sie ein Schlückchen Wasser. »Sie machen alles wieder gut«, versicherte ihr Christine. »Du wirst sehen… Nur noch ein paar jetzt… Du mußt sie alle nehmen.« Als die letzte Schlaftablette geschluckt war, fragte Christine: »Soll ich mich zu dir setzen und dir vorlesen?« Rhoda nickte. Sie hatte ein Buch angefangen, aus dem Christine ihr vorlas. Sie wunderte sich, daß das Kind so lange nicht einschlief. Ebenso wunderte sie sich über ihre eigene Ruhe. Endlich schlossen sich die Augen des Kindes. Lang blieb sie am Bett sitzen. Sie beobachtete Rhodas leichten Atem. Wie unschuldig das Kind aussah, wie frei von jenen schrecklichen, dunklen Instinkten. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, es sei alles gar nicht wahr und bestehe nur in ihrer Einbildung. Aber dann riß sie sich zusammen und sagte laut: »Ich bilde mir nichts ein. Alles ist wahr.« Mit unendlicher Liebe und Sehnsucht beugte sie sich über das Bild ihres Mannes. So viele Erinnerungen wurden in ihr wach, die Erinnerung an so viele glückliche Stunden, daß sie fürchtete, wieder zusammenzubrechen. Aber sie brach nicht zusammen. »Sie wird dich nicht zerstören, wie sie mich zerstört hat«, sagte sie laut. »Und sie wird nicht in aller Öffentlichkeit sterben, wie meine Mutter starb. Ihre letzten Gedanken, ihre letzten Worte, ihre letzten Gesten werden nicht die Sensation beim Morgenkaffee für Millionen Menschen sein. Das wird nicht -191-
mehr geschehen. Ich lasse es nicht zu.« Mit sanften, zärtlichen Fingern strich sie über das Foto. »Wenn du wüßtest, Liebster«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme, »dann würdest du mir verzeihen.« Sie küßte das Kind noch einmal auf die Stirn und schloß ein letztes Mal die versperrte Lade ihres Schreibtisches auf. Mit der Pistole in der Hand stand sie da und musterte sie, als wisse sie nicht, was sie zu bedeuten habe. Dann schoß sie sich vor dem Spiegel ihres Ankleidetisches eine Kugel durch den Kopf. Mrs. Breedlove spielte mit ihrem Bruder und zwei Gästen, die sie eben kennengelernt hatte, Bridge. »Ich weiß nicht, was mit Christine los ist«, sagte sie plötzlich und legte die Karten weg. »Du kannst sagen, was du willst, Emory. Da stimmt etwas nicht. Ich habe sie heute schon weiß Gott wie oft angerufen, aber sie geht nicht ans Telefon.« »Vielleicht will sie nicht. Oder sie ist ins Kino gegangen. Laß doch endlich einmal die arme Christine in Ruhe und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!« »Christine geht immer ans Telefon, und sie geht abends auch niemals aus. Du weißt das ebensogut wie ich. Nein, Emory, hier stimmt etwas nicht. Ich habe ein sehr komisches Gefühl.« »Wer ist denn diese Christine, von der Sie sprechen?« fragte Mrs. Price. »Eine Verwandte?« »Nein, eine Nachbarin«, erwiderte Mrs. Breedlove. »Aber ich mag sie schrecklich gern, auch ihre kleine Tochter. Eine reizende Frau; einfach, liebenswürdig und absolut nicht eingebildet.« Sie nahm die Karten wieder auf. »Wenn sie ausgegangen ist, Emory, dann weiß Mrs. Forsythe sicher Bescheid. Und die rufe ich jetzt an.« Emory lachte etwas gereizt. »Was soll man nur mit einer solchen Frau anfangen?« meinte er. »So ist sie immer gewesen, schon als Kind.« -192-
»Na, ich weiß nicht recht«, meinte Mrs. Price. »Vielleicht sollten Sie wirklich diese Mrs. Forsythe anrufen.« Sie sah Mrs. Breedlove an, und diese nickte. »Jetzt ist es elf«, erklärte Emory empört, »so spät noch… Aber wenn, dann mußt du dich beeilen.« Mrs. Forsythe erklärte, sie habe Christine oder Rhoda zuletzt vor dem Abendessen gesehen, dann aber nicht mehr. Ausgegangen sei sie auch nicht, das wisse sie bestimmt. Vielleicht sei sie nur früher als sonst zu Bett gegangen. »Wollen Sie bitte einmal an ihrer Tür läuten?« bat Monica. »Ich warte am Telefon.« Als Mrs. Forsythe zurückkam, berichtete sie, daß sie mehrmals geläutet, dann geklopft und schließlich Christines Namen gerufen habe, aber ohne Erfolg. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie bestürzt. »Soll ich etwas unternehmen?« Mrs. Breedlove kehrte an den Tisch zurück, aber nach ein paar Minuten legte sie die Karten wieder weg. »Ich fahre selbst hin. Ich muß wissen, was los ist. Du kannst bleiben, Emory, wenn du nicht mitkommen willst. Aber ich sorge mich sehr um sie, und ich will wissen, was mit ihr ist.« »Du weißt ganz genau«, erwiderte Emory, »daß ich dich um diese Nachtzeit nicht allein fahren lasse. Nun, worauf wartest du noch? Dann fahren wir doch!« Johnny Kunkel, der um zwölf Uhr zu Hause sein mußte, fuhr im selben Moment vor, als Mrs. Breedlove am Straßenrand hielt. Sie rief ihn an, und er kam zu ihnen herüber. Zuerst gingen sie zusammen zur Haustür, läuteten und klopften. Mrs. Forsythe kam dazu und zog ihren Morgenrock fröstelnd zusammen. »Johnnie, glaubst du, du kannst über den Balkon in die Küche klettern?« fragte Mrs. Breedlove. »Schlag ruhig das Fenster ein, wenn es geschlossen ist. Dann sperrst du von innen die Haustür auf.« Kaum eine Minute später stand Monica in der Halle. »Christine!« rief sie. »Christine! Ist alles in Ordnung?« -193-
Zuerst gingen sie in Mrs. Penmarks Schlafzimmer, wo noch ein Licht brannte. Entsetzt blieben sie an der Tür stehen und zogen sich dann langsam zurück. Monica knipste sämtliche Lichter in der Wohnung an. Dann lief Mrs. Forsythe zum Schlafzimmer des Kindes. Monica folgte ihr. »Rhoda lebt noch«, stellte sie fest. »Aber wir müssen schnellstens Hilfe holen.« Johnnie schien vor Entsetzen gelähmt zu sein. »Schnell, nimm Rhoda und trag sie in deinen Wagen. Dann fährst du zum Krankenhaus, aber so schnell wie möglich. Es eilt! Moment, ich komme mit, Johnnie!« Nach der Beerdigung saß Kenneth Penmark in Mrs. Breedloves Wohnzimmer. Rhoda war aus dem Krankenhaus entlassen und blieb bei Mrs. Forsythe, bis über ihre Zukunft entschieden war. Die alte Dame erklärte sich sogar bereit, sie würde Rhoda, wenn Kenneth Penmark es erlaube, für immer behalten. Er sagte ihr aber, seine Mutter und seine Schwestern würden am folgenden Tag kommen und Rhoda sicher mitnehmen wollen. Aber jetzt saß er ratlos in Monicas Wohnzimmer und preßte die Hände an seine Schläfen. »Warum hat sie das getan? Warum nur? Wie konnte sie etwas so Entsetzliches tun?« Er wandte sich an Monica. »Christine hatte Sie besonders gern und vertraute Ihnen. Hat sie etwas zu Ihnen gesagt? Haben Sie eine Ahnung, warum sie es getan hat? Es muß doch einen Grund dafür gegeben haben!« »Ich weiß es auch nicht«, antwortete Mrs. Breedlove. »Ich habe darüber nachgedacht, bis ich fast wahnsinnig wurde, aber ich weiß es nicht. Ich habe mir alles ins Gedächtnis gerufen, was ich miterlebt hatte. Ich habe mit Reginald Tasker gesprochen; mit Miß Octavia Fern, aber auch die beiden haben keine Ahnung.« »Es gab aber einen Grund. So etwas hat Christine nicht grundlos getan. Ich verstehe es nur nicht. Ich kann es nicht begreifen, ich kann nicht…« -194-
»Vielleicht ist sie auf etwas gestoßen, das ihr unerträglich erschien. Als sie bei mir im Hotel war, bat ich sie, sie solle mir erlauben, Ihnen zu kabeln, daß Sie zurückkommen. Sie wollte aber nichts davon wissen. Sie sagte, es hänge in keiner Weise mit Ihnen zusammen. In den letzten Tagen schien sie sich wohler zu fühlen. Aber ich hätte sie nicht alleinlassen dürfen. Nein, das hätte ich nicht tun dürfen.« »Glauben Sie, daß sie – geisteskrank war?« fragte Kenneth. »Nein, ganz entschieden nicht!« »Das glaube ich auch nicht,« sagte Emory. »Christine war nicht verrückt. Sie war zu Tode geängstigt.« Kenneth seufzte. Wieder preßte er seine Hände an die Schläfen, als könne das den Schmerz in seinem Herzen lindern. Dann kam Mrs. Forsythe mit Rhoda herein. Sie lief sofort zu ihrem Vater und umarmte ihn. Er schloß sie in seine Arme. Sie lächelte, legte ihren Kopf zurück, zog sich von ihm zurück und machte ein paar graziöse Tanzschrittchen. Dann hob sie das Kinn, und ihr Grübchen erschien auf ihrer Wange. Sie klatschte in die Hände. »Was gibst du mir, Vater, wenn ich dir einen ganzen Korb voll Küsse schenke?« »Komm, Liebling«, mahnte Mrs. Forsythe. »Du bist noch nicht kräftig genug.« Sie sah Kenneth an. »Sie ist noch zu klein und versteht noch nicht, was geschehen ist. Sie ist ein so unschuldiges Kind.« Aber Rhoda ließ sich nicht von ihrem Spiel ablenken. Sie tanzte eine kleine Pirouette, knickste und sagte: »Was schenkst du mir, Vater? Was gibst du mir, wenn ich dir einen Korb voll Küsse schenke?« Es dauerte einen Augenblick, bis Kenneth antwortete: »Ich schenk dir einen ganzen Korb Umarmungen.« Und dann schien die letzte Barriere in Kenneth zu zerbrechen. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und weinte. »Komm, Rhoda«, sagte Mrs. Forsythe. »Komm, mein -195-
Liebling.« Sie nahm die Hand des Kindes und führte es zur Tür. »Wir gehen hinunter und schneiden Papierpüppchen aus. Dein Vater ist sehr müde von der langen Reise. Später, wenn er ein wenig geruht hat, kommen wir wieder.« Dann versuchte sie ihn in seinem Kummer zu trösten. »Sie dürfen nicht verzweifeln, Mr. Penmark. Gottes Weisheit verstehen wir nicht immer, aber wir müssen sie akzeptieren. Alles ist Ihnen ja nicht genommen worden. Rhoda blieb Ihnen erhalten. Sie haben noch Rhoda, für die Sie dankbar sein müssen.«
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