David Chippers Die Botschaft
Scan: jamison Korrektur: ? Version 1.0, Juni 2003
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David Chippers Die Botschaft
Scan: jamison Korrektur: ? Version 1.0, Juni 2003
Dieses ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt
Ist er ein Spion, den man einer Gehirnwäsche unterzogen hat? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er R14 ist, aber nicht, woher er kommt, wer seine Eltern waren, wo er seine Kindheit verbracht hat. Er wohnt in einer luxuriösen Umgebung, hat keine finanziellen Sorgen – aber er hat auch keine Vergangenheit, jedenfalls keine, an die er sich erinnern kann. Und er bemerkt, daß er rings um die Uhr beschattet wird. Ist er Teil eines Experiments? Ihm gelingt die Flucht, und er läßt sich in einer ländlichen Gegend nieder. Dort trifft er einen Mann namens Steve, der behauptet, einst mittels eines Empfängers eine Botschaft empfangen zu haben. Seltsam berührt durch das Gehabe Steves, der sich ihm als Helfer aufdrängt, und von den rätselhaften Auswirkungen dieser Botschaft auf den Mann, beschließt er, diesen Empfänger auf seine Kosten nachbauen zu lassen. Doch gleichzeitig beschleicht ihn ein undefinierbares Gefühl der Angst, daß diese Botschaft für ihn bestimmt sein und etwas mit seiner verlorenen Vergangenheit zu tun haben könnte...
1. Kapitel »Ich bin.« Ich bin in einem Raum. Der Raum hat zwei Öffnungen. Eine Öffnung, das Fenster, geht ins Freie. Die andere, die Tür, führt in einen weiteren Raum. Der Raum, in dem ich bin, ist ein Zimmer und befindet sich in einem Haus. Das Haus hat viele Zimmer und andere Räume, die keine Zimmer sind. Das Haus ist in einer Stadt. Die Stadt liegt in hügeligem Land. In der Ferne sieht man Berge, deren Spitzen weiß sind. Das Weiße ist Schnee. Das Grüne sind Wiesen, Felder und Wälder. Ich bin. Ich lebe. Ich sehe. Ich höre. Ich lerne. Ich bin mir dessen bewußt, was ich tue. Ich lerne sehr rasch und vergesse nichts. Die Stadt heißt Bensville. Sie ist groß, aber nicht sehr groß; es leben etwa 300000 Menschen in ihr. Sie liegt in einem großen und reichen Land, einem Staat, der aus vielen anderen Staaten zusammengesetzt ist: den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese nehmen den südlichen Teil des nordamerikanischen Kontinentes ein. Der Kontinent ist einer unter mehreren auf dem dritten Planeten eines kleinen Sterns, Sonne genannt. Der Planet wird Erde genannt; er ist der einzige in diesem System, der Leben tragen kann. Er besitzt einen Mond, den die Menschen gelegentlich besuchen, vor allem, um die Besatzung des dort errichteten Forschungsinstitutes auszutauschen. Der Mond selbst ist uninteressant. Die Erde ist interessant. Die Erde ist ideal, fast perfekt. Wieso? Wofür? – Ich weiß es nicht. Ich lerne und lese fast den ganzen Tag. Es gibt so viele verschiedene Sprachen hier. Aber nur wenige sind wichtig und es wert, gelernt zu werden. Ich lerne und passe mich an. Ich will ja hier leben, also muß ich werden wie die anderen. Perfektion. Erfahrungen sammeln. Perfekte Anpassung ist lebenswichtig. Wieso? – Ich weiß es nicht.
Seit einiger Zeit stelle ich viele Fragen. Oft finde ich keine Antwort, besonders, wenn sich die Fragen auf mich selbst und meine Eigenschaften beziehen. Ich stelle die Fragen nur mir selbst. Mit meinen Mitmenschen rede ich selten, nie stelle ich ihnen Fragen, von rein rhetorischen abgesehen. Ich muß noch lernen, ihnen Fragen zu stellen (ohne aufzufallen). Ich denke viel über mich selbst nach. Offenbar – ein zwingender Schluß aus dem, was ich aus den Büchern erfahren habe – leide ich unter Amnesie. Ich bin ein erwachsener Mann, erinnere mich aber nicht an meine Jugend, an meine Kindheit, an Eltern, Verwandte. Ich kenne meinen Namen, meine Personaldaten. Ich weiß, daß die kleine Wohnung in diesem Haus mir gehört; es gibt 146 solche Wohnungen in diesem Haus und die Besitzer oder Mieter kennen einander kaum. Ich bin nicht berufstätig, unterscheide mich dadurch von den meisten anderen; doch es gibt noch einige junge Männer, die nicht arbeiten, nur lernen. Aber warum erinnere ich mich nicht an meine Vergangenheit? Die Amnesie, der Gedächtnisverlust, muß eine Ursache haben. Ein Unfall? Mein Körper weist keinerlei Narben auf. Eine Krankheit? Keine diesbezüglichen Unterlagen in meinen Papieren. Ich müßte doch in einem Krankenhaus gewesen sein. In einer anderen Stadt vielleicht? Wie bin ich dann aber hierher gekommen? Meine Erinnerungen beginnen hier in diesem Zimmer. Dessen bin ich mir aber nicht ganz sicher – immerhin trifft jedoch diese Behauptung für die registrierten Erinnerungen zu. Sie beginnen seltsam diffus, anders, als es die medizinischen Bücher im Falle einer Amnesie beschreiben. Ich habe meine Umwelt erst nach und nach erkannt und wurde mir des Mangels an Erinnerungen erst spät bewußt. Habe ich als Kind nichts gelernt? Oder das Gelernte alles vergessen? Ich mußte doch erst lesen lernen, hier, mit Hilfe von Bilderbüchern… ich mußte sprechen lernen, mit Hilfe des Videorecorders. Habe ich alles vergessen? Aber wieso weiß ich dann, daß ich am 3. 11. 1987 geboren bin? Habe ich diese Information nur aus den Papieren in der rechten Schreibtischschublade? Das kann sein. Woher stammt dieses enorme Bedürfnis nach optimaler Anpassung? War ich, bevor ich das Gedächtnis verlor, schlecht
angepaßt und in einem Heim für Geistesgestörte? Vielleicht. Vielleicht gehört es zur Rehabilitationstherapie, mich hier in dieser Wohnung ›auszusetzen‹ und zu sehen, wie ich mich bewähre? Das wäre möglich. In diesem Falle müßte mich aber jemand beobachten. Wer? Ich habe nie jemanden bemerkt. Und in keinem der einschlägigen Bücher wird eine solche Therapie beschrieben. Also eine ganz neue Methode, ein Test vielleicht? Könnte sein. Immer wieder kehre ich an die Anfänge meiner Erinnerung zurück, in der Hoffnung, von dort et-was zu erfahren. Ich erfahre nichts, oder fast nichts. Ich erinnere mich an die ersten Gedanken, weniger Gedanken als Empfindungen. Ich bin. Ich bin in einem Raum… Ich habe alles registriert. Die wesentlichsten Gedanken, bleiben wir bei dieser Bezeichnung, habe ich niedergeschrieben. Aber das bringt mich nicht weiter. All das Grübeln, das Forschen in einem scheinbar leeren Raum-Zeit-System führt zu nichts. Es versetzt mich nur in einen Erregungszustand. Fieber? Ich werde meine Temperatur messen. Ja, ein wenig Fieber. Offenbar war ich doch krank. Sehr krank. Ein Gehirnfieber vielleicht? Und der Arzt, der mich behandelt hat, hat mich nach meiner Genesung hier mich selbst überlassen, damit ich mich wieder an meine Umwelt anpassen kann. Anpassen! Da haben wir es. Ich scheine auf dem richtigen Weg zu sein. Ich war nicht angepaßt, lief vielleicht nackt auf die Straße, sang im Bus und ritt auf einem Bernhardiner durch den Park. So mag es gewesen sein. Ich kam in eine Klinik, man behandelte mich… Vielleicht ist sogar die Amnesie ein Ergebnis der Behandlung, die man mir angedeihen ließ, um mich anzupassen? Ich sollte all die Verrücktheiten vergessen… am besten, ich vergaß mein früheres Leben als Ganzes, begann ein neues Leben… Ja, das wäre eine Möglichkeit. Es kann sein, daß ich andere Menschen in Gefahr brachte, vielleicht habe ich gemordet? Nein, das wohl nicht, sonst hätte man mich nicht jetzt so ganz allein, ohne Bewachung gelassen. Noch einmal: Ich war nicht angepaßt. Vermutlich war ich ein durchaus unangenehmer. Zeitgenosse. Man brachte mich in eine
Klinik, behandelte mich mit allerlei Drogen, Schocks und dergleichen, und ich verlor, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, mein Gedächtnis, meine Erinnerungen, genauer gesagt. Denn mein Gedächtnis ist ausgezeichnet, um nicht zu sagen, perfekt. Ich vergesse nichts. Vielleicht ist auch das eine Folge der Behandlung? Sozusagen eine Kompensation. Könnte sein; mein Gehirn ist leer, saugt alle Informationen auf wie ein Schwamm… Und man hat mir suggeriert, möglichst gute Anpassung anzustreben? Um zu verhindern, daß ich wieder etwas mache, das unangenehm auffällt? Könnte sein. Überhaupt, Suggestion wäre eine Erklärung für vieles; ich habe das Gefühl, irgendein mir unzugänglicher Teil meines Gehirns ist angefüllt mit suggestiven Befehlen. Ich habe sie in Hypnose erhalten und vergessen. Oder fast vergessen, ich ahne ihr Vorhandensein. Mitunter bildet sich eine Brücke zu diesem abgeschirmten Teil – so kam mir letzthin plötzlich und unvermittelt der Gedanke: Ich bin R 14. Ich versuchte augenblicklich, dieser Idee auf den Grund zu kommen; wodurch wurde dieser Gedanke ausgelöst? Durch welche Assoziation kam er zustande? Nichts. Die Brücke war abgebrochen. Tagelang dachte ich nach. Was bedeutet R 14? Und wieso bin ich das? Ich weiß es nicht und sehe keine Möglichkeit, es zu erfahren. Wer bin ich überhaupt? Bin ich hier im Lande geboren? Ich vermute es, obwohl ich keine Papiere besitze, die etwas darüber aussagen. Ich muß aber einen Geburtsschein besessen haben. Hat man ihn mir genommen, um zu verhindern, daß ich in meiner Vergangenheit wühle? Mich wieder an sie erinnere? Ich könnte ja mein Leben vor meiner ›zweiten Geburt‹, wie ich den Zeitpunkt des Einsetzens meiner Erinnerungen bezeichne, verfolgen, die Vergangenheit aufrollen, wüßte ich, wo ich geboren bin, wer meine Eltern waren. Das hat man offenbar zu verhindern versucht. Nun, ich komme doch weiter. Ich versuche, meine Vergangenheit mit einer ›Ersatzerinnerung‹ anzufüllen, mit Möglichkeiten, Annahmen, Theorien. Ein jämmerlicher Ersatz. Aber das Leben mit der Leere hinter mir ist auch jämmerlich. Dennoch habe ich das Gefühl, Fortschritte zu machen. Allein durch Nachdenken, durch wiederholtes Rekapitulieren meiner
Erinnerungen seit der zweiten Geburt. Ich bin. Ich lebe… Aber wieso bin ich R 14? Eine Fehlleistung meines Gehirns? Eine Assoziation von Buchstaben und Zahl, hervorgerufen durch… Wodurch? Fiel mein Blick auf eine solche Zahl? Ich glaube nicht. Wenn doch, wieso habe ich dann mein Ich mit R und 14 in Verbindung gebracht? Wieso mein Ich und nicht jenes Buch, diesen Topf, das TV-Gerät oder den Blumenstock am Fenster? Das ist unlogisch. Ich hätte jenen Gegenstand, den ich gerade erblickte, als das R 14 durch meine Gedanken schoß, damit assoziieren müssen. Ich kann es mir nicht erklären. Ich muß warten. Die Frage zu den vielen anderen, unbeantworteten legen. Vielleicht finde ich einmal zufällig eine Antwort, vielleicht finde ich auch wieder einmal eine Brücke in jenen abgeschirmten Bereich, in dem, wie ich vermute, alle Antworten gespeichert sind. Ein anderes Rätsel ist für mich diese Wohnung hier, die, wie ich weiß, meine ist. Mein Eigentum. Dieses Wissen habe ich aus den Papieren, die ich hier im Schreibtisch fand. Ich bin offenbar reich, ich habe Geld, Bargeld und ein dickes Bankkonto. Ich besitze eine sehr gut ausgestattete Bibliothek, Fachbücher aus allen Wissensgebieten, aber auch Belletristik; Gedichtbände, Romane in sechs verschiedenen Sprachen; Lexika, Wörterbücher… Ich habe ein Mikroskop und eine Unzahl von Präparaten… ich habe Sammlungen von Gesteinen, Pflanzen; Bilder, Tonbänder, Videoaufzeichnungen. Und ich habe Sportgeräte. Und eine modernst ausgestattete Küche. Ein Bad. Ein Schlafzimmer. Einen Balkon. Von dem Balkon aus sehe ich die grünen Wiesen und Wälder, die fernen, blaugrauen Berge mit den weißen Gipfeln. Und nachts sehe ich die Sterne, wenige nur, im Zenit. Die Nächte der Stadt sind zu hell, ich müßte einmal hinausgehen, aufs Land, in die Berge. Ich würde gerne einmal viele Sterne sehen, die Sternbilder, die ich nur aus dem Atlas kenne, die fernen Galaxien… Doch ich verliere mich. Die Wohnung. Wieso besitze ich sie? Woher stammt mein Geld? Ich kann, vor meiner zweiten Geburt, das Geld verdient haben. Und die Wohnung habe ich offenbar gekauft (ein Kaufvertrag ist unter meinen Papieren). Aber womit habe ich so
viel Geld verdient? Es gibt keine Unterlagen über einen Beruf, den ich ausgeübt haben könnte – ich habe auch keine besonderen Fähigkeiten, ich kann alles gleich gut, weiß auf allen Gebieten ungefähr gleich viel. Aber das alles habe ich erst ›nachher‹ gelernt. Was war ich? Vielleicht habe ich das Geld gestohlen? Unsinn. Man, wer immer das sein mag, hätte es mir nicht gelassen, nach meiner hypothetischen Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Aber vielleicht hat es mir jemand geschenkt. Das könnte sein. Ein Mäzen, interessiert an neuen Therapien zur Rehabilitation von ›geheilten‹ Geisteskranken. Nun gut, lassen wir diese Hypothese gelten, zumindest so lange, bis sich eine bessere findet. Oder die Wahrheit. Bis ich Zugang finde zu dem blockierten Bereich in meinem Gehirn. Dort sind alle Antworten, vermute ich. Fast weiß ich es. Wieso eigentlich? Eine neue Brücke? Nein. Habe ich selbst die Wohnung so eingerichtet, wie sie ist? Habe ich selbst alles angeschafft, was notwendig ist, um einen erwachsenen »Neugeborenem in das Leben einzuführen, ihm eine gute, ja ausgezeichnete Allgemeinbildung zu vermitteln, ohne Lehrer? Die Antwort ist ein klares Nein. Ausgeschlossen. Ich habe meine Zukunft nicht kennen können. Aber wer dann? Jener hypothetische Mäzen? Vielleicht. Gemeinsam mit Ärzten, Psychologen, Lehrern, Technikern… Ich muß ein sehr kostspieliger Patient gewesen sein. Gewesen sein? Wahrscheinlich bin ich es noch. Und da ist wieder die Frage: Wer beobachtet mich? Meine Fortschritte müssen doch durch irgend etwas oder irgend jemanden registriert werden, ein Fehlverhalten müßte korrigiert werden, die Anpassung optimiert werden… Schon wieder die Anpassung. Das ist ja geradezu krankhaft, dieses Bedürfnis… Es ist auch paradox: Optimal angepaßte Menschen sind, zumindest in diesem Land, auf diesem Kontinent (und auf den meisten anderen) nichts Bewundernswertes, Erstrebenswertes, sie fallen eher unangenehm auf. Ich weiß das aus vielen Büchern. Jeder Mensch hat Eigenheiten, ist ein einmaliges Individuum, ist einzigartig… Und wieso will ich optimale Anpassung? Eigentlich will ich sie nicht wirklich – das muß irgendwie mit den mir suggerierten Befehlen zusammenhängen. Mit den mir eingespeicherten…
Ich erschrecke vor der Absurdität dieses Gedankens. Eingespeichert. Eingespeichert! Das Wort stammt aus der Computer-Terminologie. Wieso wende ich es auf mich an? Auf mein Gehirn? Ich bin doch kein Computer. Aber das menschliche Gehirn ist eine Art Computer. Daher vielleicht die Wahl des Ausdrucks. Ich sollte an etwas anderes denken. Aber ich bin gerne mit meinen Gedanken in diesen Bereichen, rund um die Anpassung und die eingespeicherten Befehle… ich habe das Gefühl, ich bewege mich in der Nähe einer Brücke. Ich bin R 14. Das war auch eine Brücke. Und ich suche, suche verzweifelt nach neuen Brücken, nach Antworten. Nach einem Zugang zu dem blockierten Teil meiner Erinnerungen. Anpassung… Speicher... R 14… Aber das hilft mir nicht. Gewaltsam überwinde ich die Barriere nicht. Eher durch Zufall, durch irgendeine Assoziation – und vor allem dann, wenn ich nicht intensiv nachdenke, wenn ich meine Gedanken treiben lasse wie welke Blätter im Wind. Diese Worte stehen in der achten Zeile auf Seite 174 in Consells Roman ›Die letzte Straße rechts‹. Manchmal widert mich mein gutes Gedächtnis geradezu an. Alles, was ich weiß, denke, tue, bin – stammt von anderen. Bücher, Tonbänder, Bilder, Karten, Videoaufzeichnungen – das alles zusammen bin ich. Doch, streng genommen, trifft das ja für alle Menschen zu: Das Ich eines jeden Menschen ist das Produkt von Umwelteinflüssen; die Bausteine zu diesem Ich stammen von den Vorfahren, sind ererbt. Wer wa-ren meine Vorfahren? Diese Frage habe ich schon allzuoft gestellt, und sie scheint mir eine der am schwersten zu beantwortenden zu sein. Und dennoch: Wer bin ich? Da ich nichts, absolut nichts über meine Vorfahren weiß, komme ich mir wie ein reines Umweltprodukt vor, und meine Umwelt ist im wesentlichen dieses Zimmer und sein Inhalt. Ein idiotischer Gedanke: Dieses Zimmer hat mich gezeugt und ausgebrütet. Wie aber lautet die Wahrheit? Ein vages Gefühl (es ist weniger als eine Ahnung) sagt mir, ich komme von ›draußen‹. Dafür spricht auch die Tatsache, daß zum Zeitpunkt meiner zweiten Geburt in diesem Zimmer alles neu war – das ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. ›Man‹ hätte aber auch, mit vieler Mühe allerdings, dieses Zimmer und seinen Inhalt auf ›alt‹ präparieren
können; dann stimmte es nicht einmal mehr, daß dies eine notwendige Bedingung ist… Ich verliere mich schon Wieder – neuerdings beobachte ich an mir so eine Neigung, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, vielleicht deshalb, weil ich in den letzten beiden Jahren mein Hirn so vollgestopft habe. Doch zurück zu meinem ›Ursprung‹. Angenommen, ich komme von ›draußen‹. Einer meiner ersten Eindrücke, oder Gedanken, war: Das Fenster geht ins Freie. Ich wußte also, daß draußen das Freie war, das nicht von Wänden umschlossene Gebiet. Und ich wunderte mich nicht, draußen Berge, Wälder und blauen Himmel zu sehen. Ich wunderte mich nicht über die Wettererscheinungen. Ich wunderte mich über nichts – im Freien. Im Gegensatz dazu war vieles, das ich im Bereich meiner Wohnung vorfand, für mich zunächst erschreckend. So etwa das dampfend aus einem Rohr kam, als ich an einem Griff drehte… und der erste Versuch, Alkohol zu trinken… wie ich mich an der elektrischen Birne verbrannte… Diese Erinnerungen sind blaß, und ich muß sie mir öfters ins Gedächtnis zurückrufen, um sie nicht zu vergessen. Warum? Mein Gehirn scheint in drei Zonen eingeteilt zu sein. Zone I ist die bei weitem größte, sozusagen die, in der ich lebe. Die alles Gelernte und Erfahrene umfaßt, zu der ich jederzeit Zugang habe und in der ich jederzeit alles wiederfinde. Dann eine Zone II, in die gewisse Erinnerungen, gewisse Ergebnisse meiner Grübelei und einzelne Erfahrungen abzugleiten scheinen, eine kleine Zone, zu der ich nur erschwert Zugang habe und nur mit Mühe gewisse Fakten wiederfinde. In dieser Zone gibt es ein Vergessen (in Zone I nicht). Und dann Zone III, die verbotene Zone. Die Zone der Antworten. Zu dieser Zone habe ich keinen Zugang – aber ich weiß, daß Brücken existieren, daß diese Zone die wichtigste ist (wie groß mag sie sein?) – und daß ich einmal (wann?) Zugang haben werde. Aus Zone III stammt R 14, das ich bin. Vielleicht auch der Gedanke, im Besitz ›eingespeicherter Informationen zu sein. Und noch etwas, es ist mir erst vor einigen Wochen, beim Durchgehen meiner ersten Gedanken, aufgefallen: Die Erde ist interessant. Die Erde ist ideal, fast perfekt. Ich weiß heute noch nicht, wieso ich diese simplen Sätze formulierte. Sie sind wahr, natürlich. Die Erde,
dieser von millionenfachem Leben in allen nur denkbaren Varianten bedeckte Planet ist interessant, er Entwicklung dieses vielfältigen Lebens, vielleicht kann man auch sagen, er ist ›fast perfekt‹. Für die Entwicklung und den Fortbestand des Lebens. Im Vergleich mit anderen Himmelskörpern. Dem Mond, zum Beispiel. Aber wieso ist der Mond uninteressant? Das stimmt doch gar nicht! Ich finde die Ergebnisse der Mondforschung sogar sehr interessant – damit taucht die Frage auf: Wer findet den Mond ›uninteressant‹? Antwort: Jedes Lebewesen, dessen Existenz durch die am Mond herrschenden Bedingungen gefährdet ist – und natürlich auch alle jene, die so primitiv sind, daß sie sich für nichts anderes interessieren als die Befriedigung ihrer primären Bedürfnisse. Ich gehöre nicht zu diesen. Ich kann, wie jeder Mensch, wenn ich will, auf dem Mond ungefährdet leben. Wieso habe ich aber dann diese Äußerung getan? Sie paßt nicht zu mir und kaum in den Zusammenhang… Ich bin eingeschlafen. Noch nie ist mir so etwas passiert, mitten in wichtigen Überlegungen einzuschlafen! Waren sie wirklich wichtig? Sonderbar, ich erinnere mich nur dunkel an sie, ich habe über den Mond nachgedacht. Über den Mond – nun, der Mond ist aber nicht wichtig… Halt! Wieso ist der Mond nicht wichtig? Ich bin auf der richtigen Spur. Da ist es wieder gewesen, das Abgleiten in Zone II, die Zone des Vergessens. Es ist mühsam, den Zugang zu dieser Zone zu erzwingen, aber es ist nicht unmöglich. Und ich will nichts vergessen! Schon gar nichts, was mein Ich, die Frage meiner Person und Existenz betrifft. Ich muß alle Ergebnisse solcher Überlegungen aufschreiben. Und Kaffee trinken, wenn ich mich damit beschäftige, Kaffee verhindert, daß ich einschlafe. Ich werde hier auf den Schreibtisch eine Karte stellen, auf der steht: Ich bin R 14. Diese Information stammt entschieden aus Zone III und droht ständig, in Zone II abzugleiten. Die Karte wird mich davor bewahren, diese Sache zu vergessen. Möglich, daß alles Unsinn ist, daß ich mir etwas einbilde, daß ich Zufallsassoziationen zu einem Fetisch mache. Aber was schadet’s. Und wenn es kein Unsinn ist, wird es mir vielleicht einmal von Nutzen sein (zu wissen, wer ich bin).
Dieser ›Untergedanke‹ (in Analogie zum Unterbewußtsein so von mir genannt, in Klammern gesetzt) ist sinnlos – oder fast sinnlos. Denn die Information: Ich bin R 14 ist völlig inhaltslos. Oder? – Vielleicht ist es wie mit einem mehrfach verpackten Gegenstand: Man löst die obere Hülle und findet darunter nur wieder eine weitere – die Antwort auf eine Frage ist nur eine neue Frage. Was bedeutet R 14? Eben kam mein Essen. Ich bekomme drei Mahlzeiten am Tag von einer Großküche, ›Restaurant im Heim‹ nennen sie sich großspurig; es ist aber ziemlich mittelmäßig, vorgefertigte Mahlzeiten in Plastikgeschirr. Und man kann auch nur unter vier verschiedenen Menüs wählen. Ich werde in Zukunft öfters ausgehen, in ein richtiges, gutes Restaurant. Dieses Futter hier schmeckt immer irgendwie gleich. Egal, was man wählt, es schmeckt nach Blips. Dieses Wort ist eine reine Erfindung von mir, es hat keine Bedeutung, es bezeichnet nur das Undefinierbare (vermutlich eine Kombination verschiedener Gewürze, die einfach überall drin ist). Dabei erinnere ich mich, daß sich mein Geschmack erst relativ spät nach meiner zweiten Geburt verfeinert hat. Anfangs empfand ich nicht einmal Hunger, ich aß nur, weil man eben ißt. Dann kam, im Laufe von Monaten, Hunger, Appetit, Genuß. Und heute bin ich schon recht wählerisch. Gelegentlich bereite ich mir selbst etwas zu; ich mache mir auch Kaffee und Tee und Cocktails. Und Bier beginnt mir zu schmecken. Ich habe mich entwickelt. Und entwickle mich noch immer weiter (die Anpassung? Vermutlich.), meine Empfindungen verfeinern sich. Ich liebe es, Musik zu hören. Anfangs gefielen mir nur ganz einfache Melodien und Stücke, die sozusagen nur aus Rhythmus bestanden. Dann verfeinerte sich mein Gehör, und ich begann, die Musik zu entdecken. Ich habe eine Vorliebe für edle, alte Musik, Musik aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts, die noch vor jener Zeit entstand, die ich respektlos als die ›Lärmperiode‹ bezeichne. Und dann gibt es ein paar ganz junge Komponisten, die eine Musik schreiben… ich weiß nicht, wie ich sie bezeichnen soll, sie fesselt mich, weckt eine Sehnsucht in mir. Wonach? – Keine Ahnung. Und noch etwas: der Humor. Seit einigen Wochen habe ich den
Humor entdeckt, die Freude an witzigen und treffenden Bemerkungen, den Genuß, den ich beim Lesen einer… Jetzt hat es geläutet an meiner Wohnungstür. Ich bin nachsehen gegangen. Niemand war draußen. Ich bin erschrocken und habe Angst empfunden. Niemand war da. Mein Herz klopft wie wild. Ich verstehe das alles nicht – weniger die Tatsache, daß ich das Läuten gehört, aber niemanden vorgefunden habe, der es ausgelöst haben könnte, als die Tatsache, daß ich so erschrocken bin, weil Ich niemanden gesehen habe. Wieso habe ich Angst empfunden? Angst vor – nichts? Wahrscheinlich bin ich noch immer nicht ganz gesund. Mein Schrecken, meine Angst (und ich habe sie ganz deutlich empfunden) sind zwar real, aber geradezu pervers. Eine simple neue Erfahrung: Es kann läuten, und ich treffe niemanden an. Ich kann mir das Läuten nur eingebildet haben oder der Läutende hat sich versteckt. Ein Jux, ein Lausbubenstreich. Das wäre eine Erklärung. Eine Erklärung für das Läuten, nicht für die Angst, die mich plötzlich durchflutete. Adrenalin, natürlich. Aber die Ursache? Ich werde mich in der nächsten Zeit mit Psychologie beschäftigen; hier habe ich leider nur wenige Werke, Einführungen und ziemlich oberflächliche allgemeine Darstellungen – aber in der Universitätsbibliothek finde ich alles. Ich bin ja schon mehrmals dort gewesen, und die Bibliothekare sind sehr freundlich und hilfsbereit. Vielleicht finde ich irgendwo eine Erklärung für all das, was mir an meinem Ich unverständlich ist. Oder ob ich einmal zu einem Psychoanalytiker gehe? Beinahe jeder läßt sich ja gelegentlich behandeln, analysieren; es ist so modern und vielleicht wirklich, in gewissen Fällen, hilfreich. Ich sollte meine Scheu vor Ärzten überwinden; sie stammt wohl noch aus der Zeit vor meiner zweiten Geburt… Seit meiner zweiten Geburt sind jetzt zwei Jahre, fünf Monate und elf Tage vergangen. Aber ich bin über 34 Jahre alt, in Wirklichkeit, wenn die Daten in meinem Personalausweis stimmen. Warum sollten sie auch nicht stimmen? Ich grüble oft tagelang, durchforsche mein Gehirn nach Erinnerungen, nach Informationen über meine Vergangenheit. Ich weiß (aus den Büchern), daß eine Amnesie in den meisten Fällennur eine begrenzte Zeit andauert, daß nach und nach Erinnerungen
assoziativ auftauchen, und man seine Vergangenheit wie ein Puzzle zusammensetzen kann, bis endlich das vollständige, lückenlose Bild fertig ist. Aber ich? Das Wenige, das ich weiß (oder zu wissen glaube), scheint in Zone II abgleiten zu wollen, anstatt mir zu weiteren Einblicken zu verhelfen. Ich sollte doch einen Arzt zu Rate ziehen. Meine Notizen sind mir, in bescheidenem Maße, eine Hilfe; wenn ich auch von dem Gelernten, von den Umwelterfahrungen nichts vergesse – die Ergebnisse meiner Grübeleien vergesse ich nur allzu leicht. Zone II! Diese ›Zone des Vergessens‹ scheint begierig, gewisse Erinnerungen und Erfahrungen aufzusaugen und diese Selektivität ist mir unverständlich. Manchmal kommt mir der Gedanke: Ich bin daraufhin programmiert. Aber das hieße, die Analogie zwischen menschlichem Hirn und Computer zu weit treiben. Ich habe geschrieben: ›… (Psychoanalyse)… ist vielleicht wirklich, in gewissen Fällen, hilfreich.‹ Zwei Einschränkungen. Schon im ursprünglichen Gedanken: ›… ist vielleicht wirklich hilfreich‹ ist das Vielleicht eine Einschränkung. Dann, bevor ich wagte, das Wort ›hilfreich‹ zu schreiben, fügte ich noch ›in gewissen Fällen‹ ein. Die zweite Einschränkung. Ich möchte mich ihr nicht unterziehen. Sie hilft nur vielleicht, und nur in gewissen Fällen – mein Fall ist wohl nicht darunter. Ich mag nicht zu einem Arzt gehen. Das ist die wahre Ursache für diese vage Formulierung. Warum will ich nicht? Wovor fürchte ich mich? Die offenbar nächstliegende Erklärung ist: Ich fürchte mich, unterbewußt, vor einem Arztbesuch. Der Arzt könnte feststellen, ich bin krank, seelisch krank, und mich wieder in eine Klinik bringen. Wo man mich wieder behandelt. Wo ich – vielleicht – wieder alles vergesse! – Hier ist das Wort ›wieder‹ irreführend. Ich weiß nichts von einer solchen Behandlung in der Vergangenheit, ich vermute nur, daß eine stattgefunden hat. Aber diese Erklärung für meine Aversion gegen Ärzte (und Seelenärzte im besonderen) ist vernünftig und naheliegend. Trotzdem habe ich das Gefühl, sie ist unzutreffend. Grundfalsch. Ist hier Zone III im Spiel? Ich bin zu einem Entschluß gekommen. Eigentlich einem ganz simplen Entschluß: Ich werde abwarten. Ich werde die Zeit an mir vorüberfließen lassen, werde alles, was sie mit sich führt, über mich
ergehen lassen. Es ist ein beruhigendes Bild: Ich stehe im Strom der Zeit, das Treibgut der Ereignisse zieht an mir vorbei und nur gelegentlich trifft mich etwas. Ich werde auf die nächste Kollision warten. Vielleicht erhalte ich durch sie eine neue Information, eine Antwort auf meine vielen Fragen. Dieser Entschluß, einfach abzuwarten, hat natürlich auch eine Ursache, und ich kenne sie. Vor einigen Tagen hat mich ein Gedanke durchzuckt: Ich bin fertig. Ich bin bereit. – Bereit wofür? Ich weiß es nicht, noch nicht. Doch ich hoffe, es bald zu wissen – ich muß nur abwarten. Ich habe alle Bücher meiner Bibliothek (und viele der öffentlichen Büchereien) gelesen. Ich habe alles gelernt. Ich bin angepaßt. Ich bin fertig. Ich bin bereit. Ich warte.
2. Kapitel Als ich letzthin, endlich zur Ruhe gekommen, meine Notizen durchging, mußte ich lachen. Warten! Das Schicksal ließ mir keine Zeit dazu, der Strom der Zeit riß mich mit, in einen Wirbel der Ereignisse, in dem ich Mühe hatte, zu überleben. Ich hungerte, fror, und der Adrenalinspiegel in meinem Blut war ständig überhöht. Es begann damit, daß… ja, das ist eigentlich nicht ganz genau zu sagen, womit es begann. Verschiedene Kleinigkeiten in meiner Umwelt waren mir aufgefallen, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Aber eines Tages entdeckte ich einen Beobachter. Ein mittelgroßer Mann mittleren Alters, unscheinbar, farblos. Er trug einen beigen Mantel und einen breitkrempigen Hut. Und eine Sonnenbrille, manchmal. Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, ich sagte es schon. Und ich vergesse auch nie ein Gesicht, das ich öfters gesehen habe. Sein Gesicht sah ich relativ oft, ohne daß es mir aufgefallen wäre. Aber eines Tages hatte er einen Schnurrbart und eine farblose Brille und war anders gekleidet. Der Schnurrbart war ihm über Nacht gewachsen – offenbar versuchte er, ein anderer zu sein. Dadurch fiel er mir auf, und ich erinnerte mich sofort, bei wievielen (und wie verschiedenen!) Gelegenheiten ich ihn schon gesehen hatte. Ein kurzer Test bestätigte es: Das war mein Beobachter. Ich versuchte ihn ›abzuhängen‹ (der Ausdruck stammt aus einem meiner Krimis und ist sehr treffend), aber es gelang mir nicht. Tags darauf war er durch einen anderen ersetzt worden, einen etwas kleineren, dicklichen – aber sonst auch recht farblosen Burschen in einem schlecht gebügelten grauen Anzug. Auch er trug einen Hut und, gelegentlich, eine Sonnenbrille. Ich erkannte ihn sofort, jetzt, da ich einmal aufmerksam und mißtrauisch geworden war. Ich versuchte nicht mehr, ihn abzuhängen, im Gegenteil. Ich gab mich unbefangen und achtete sogar darauf, daß er mich nicht aus den Augen verlor. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, mir alle Tage einen neuen Bewacher einzuhandeln? Dann fand ich heraus, daß es deren drei waren. Sozusagen
Schichtarbeiter. Sie beobachteten mich rund um die Uhr, auch nachts, wenn ich schlief – und damals ging ich gelegentlich in der Nacht aus, vor allem, um mir die drei Typen genau einzuprägen. Einer von ihnen hatte sogar einen Schnurrbart, ich nehme an, er war echt, denn er hatte ihn immer. Damals nahm ich an, ich hätte diese Beobachter seit meiner zweiten Geburt besessen, und sie seien dazu ausersehen, den Grad meiner Anpassung an die Umwelt festzustellen und mich, gegebenenfalls, auch davon abzuhalten, irgendwelche Verrücktheiten zu begehen. Wie naiv, wie unwissend ich war! Absurd, anzunehmen, man hätte einen solchen Aufwand nur wegen eines beliebigen Normalbürgers getrieben. Nun, man hat es auch nicht. Ich war damals mit einem jungen Schriftsteller befreundet, Burton Kees, er war 32 und nicht be-sonders erfolgreich. Er verdiente nur gerade soviel, daß er gut leben konnte – aber einen neuen Wagen konnte er sich nur selten leisten. Wir hatten uns beim Schachspiel im Clubraum unseres Hauses kennengelernt – er wohnte zwei Stockwerke über mir und nörgelte, ebenso wie ich, ständig an dem Großküchenfutter herum. Wir hatte viele gemein-same Interessen, wir wanderten gerne, liebten beide gute Musik, gute Bücher und interessante Spiele. Eines Tages war er verschwunden. Mißtrauisch, wie ich damals schon war, zog ich mit größter Vorsicht Erkundigungen ein. Beim Nachtportier, mit dem ich manchmal plauderte, wurde ich fündig. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit (und ermuntert durch ein beachtliches Trinkgeld) flüsterte er mir zu: »Ihr Freund ist verhaftet worden. Und ich weiß auch, durch wen!« »Wen?« »Ein Neffe meiner ersten Frau war dabei, ich hab ihn erkannt, ein purer Zufall natürlich. Zum Glück hat er mich nicht erkannt, wahrscheinlich hat er schon damals, als wir noch verkehrten, den alten Onkel nicht weiter beachtet, aber ich, ich hab mir seine Visage gemerkt…« »Ja und?« Ich war ungeduldig. »Na, na, na«, murmelte er, »kommt schon noch, kommt schon! Er war bei einer Geheimorganisation, hat mir meine erste
Frau, Gott hab sie selig, erzählt. Bei welcher weiß ich nicht. Abwehr, glaube ich. Wir nannten ihn, wenn wir einmal von ihm sprachen, was selten genug geschah, den Geheimdienstler.« »Sind Sie sicher? Irren Sie sich nicht?« »Junger Mann, ich irre mich nicht. Er war der dritte, er hat hier im Foyer gewartet, die anderen beiden sind raufgefahren. Und nach einer Weile sind sie dann mit dem Herrn wieder runter gekommen, mit Mister Kees meine ich. Er war gar nicht ordentlich frisiert, sie haben ihn wohl aus dem Bett geholt.« »Wann war das?« »Na, am Montag in aller Frühe, halb sieben ungefähr.« »Die Männer müssen Ihnen doch gesagt haben, was sie wollen und wer sie sind! Sie müssen sich doch ausgewiesen haben!« »Ja, aber nur einer, der dicke. Der hatte einen Polizeiausweis und auch die Hundemarke, er hat mir beides gezeigt.« »Hundemarke? Ach so. Aber wie hieß er, der dicke Mann? Auf dem Ausweis stand doch ein Name?« »Sicher. Aber wer liest denn schon Namen? Man schaut, ob die Stempel stimmen und das Bild. Ich kenn mich da aus. Bei so vielen Mietern kommt ja öfter mal die Polizei.« »Schade. Vielleicht hätte ich etwas für meinen Bekannten tun können, wenn ich wüßte, wer ihn verhaftet hat«, entgegnete ich in beiläufigem Tonfall. Ich vermied auch das Wort Freund. »Wenn Sie den dicken Polizisten wieder mal sehen, versuchen Sie doch, seinen Namen festzustellen, ja?« Ich gab ihm noch einen Zehner und ging zum Lift. Plötzlich wußte ich alles. Alles! Ich gab mich gelassen. Kaufte am Kiosk neben dem Treppenaufgang noch eine Tageszeitung und Briefmarken. Sagte der ältlichen Verkäuferin, daß ihr die neue Frisur ausgezeichnet stehe. Und fuhr hinauf in meine Wohnung. Als erstes verbrannte ich das Kärtchen auf meinem Schreibtisch, auf dem stand: Ich bin R 14. Die Asche spülte ich ins Waschbecken und reinigte es dann sorgfältigIch bin R 14! Das also war die Antwort: Ich war offenbar ein Spion – genauer gesagt, ich war ein ehemaliger Spion. Denn seit meiner zweiten Geburt habe ich ganz sicher nichts ausspioniert, das steht
fest. Aber vorher? Was habe ich vorher getan, was bin ich vorher gewesen? Ein Spion? Für welches Land? Oder ein Industriespion? Wirr zuckten solche und ähnliche Gedanken durch mein Gehirn, und ich mußte mich zur Ruhe zwingen, versuchen, klar zu denken. Was soll ich tun? Leben wie bisher, als sei nichts geschehen, oder Flucht? Fast gleichzeitig mit dem Gedanken an meine Zukunft kam auch ein anderer, ein Gedanke, der mich zunächst lahmte vor Entsetzen: Ich bin kein Spion gewesen – ich bin ein zukünftiger Spion! Man hat mich daraufhin programmiert, hat mir alles suggeriert, was ich einmal, wenn ich optimal angepaßt bin (also in meiner Umgebung in keiner Weise mehr auffalle), tun soll. Das ist Zone III in meinem Hirn, die Zone, zu der ich jetzt noch keinen Zugang habe – aber bald haben werde; dann werde ich Dinge tun, die ich eigentlich gar nicht tun will, die ich jedenfalls nicht freiwillig tue. Ich werde auch einen Sender bauen. Und senden. Die Frequenz wird mir zu gegebener Zeit ›einfallen‹! Einen Sender bauen kann ich heute schon. Perverse Gedanken! Eine Ausgeburt meiner überreizten Phantasie! So etwas kommt doch nur in Romanen vor, in schlechten Krimis – und ich lebe doch wirklich, heute, jetzt! Zugleich wußte ich genau, daß das, genau das, die blanke Wahrheit war. Ich bin R 14. Ich bin ein potentieller Spion. In diesem Augenblick kam mir noch ein Gedanke: Ich muß alles tun, um nicht verhaftet zu werden. Ich muß überleben. Um jeden Preis. Ich wußte sofort, daß dieser Gedanke aus Zone III stammte, er war freigegeben worden. Vermutlich dadurch, daß ich richtig erkannt hatte, was ich war. Ich hatte eine Bestätigung der Richtigkeit meiner Vermutung, hatte endlich die ersehnte Gewißheit: R 14 ist mein Code, der Code eines latenten Spions. (Bin ich der einzige? Wenn nicht, wieviele gibt es, die, gleich mir, jenseits einer perfekten Gehirnwäsche, nun spionieren, weil sie spionieren müssen? Und die nichts verraten können, weil sie nichts wissen?) Burton war verhaftet worden. Warum nicht ich? Wartete man darauf, daß ich mit Verbindungsmännern Kontakt aufnahm‹? Das war wohl die in dieser Branche übliche Terminologie. Man wollte
»einen Spionagering aufrollen. Aber dann müßte man doch alle Mitglieder gleichzeitig verhaften, so sind doch die Spielregeln! Aber ich habe doch keine Verbindungsmänner, es gibt keinen Ring (und es wird nie so etwas geben, erhalte ich die Information aus der Zone III)! Wieso also wurde Burton verhaftet? Die Antwort auf diese Frage kam schon am nächsten Tag: Burton war wieder da; zu einer für ihn ungewöhnlich frühen Stunde, gegen zehn Uhr vormittags, rief er mich an. Er würde in fünf Minuten bei mir sein, sagte er. Weiter nichts. In drei Minuten war er da. Blaß, nervös, unglücklich. Er sah sich nicht nur am Gang draußen immerfort um, auch bei mir hier in der Wohnung. So, als stünde einer hinter ihm. «Morgen, alter Junge!« schrie er, so daß es eventuelle Lauscher auch sicher hörten, und im gleichen Atemzug: »Keine Wanzen?« Das im Flüsterton. Ich schüttelte den Kopf. Das wußte ich sicher. Nicht umsonst habe ich ein fotografisches Gedächtnis: die winzigste Änderung in meiner Wohnung wäre mir aufgefallen. »Nein Burt, sicher ist bei mir alles sauber. Ganz sicher! Beruhige dich und dann erzähle!« Er ließ sich in einen Sessel fallen und goß den Bourbon, den ich ihm eingeschenkt hatte, in einem Schluck hinunter. »Man hat mich verhaftet!« »Ich weiß, der alte Blisteir hat’s mir gesagt.« »Man hat mich verhört!« »Ja nun, vermutlich. Beruhige dich doch und dann erzähle wie ein vernünftiger Mensch!« Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand durch die Haare, eine für ihn typische Geste, die, wenn er erregt war, die Pausen zwischen den einzelnen Sätzen überbrückte. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll!« »Nun, am Anfang. Als es an deiner Tür läutete.« »Mein Gott, ich habe geschlafen, abgrundtief, war erst gegen eins in die Federn gekommen. Zwei waren es, ein dritter wartete unten. Ja, sie sagten, es sei nur eine Routinesache, kein Grund zur Aufregung. Aber ein gewisser Schneyder sei ermordet worden, und man müsse alle seine Bekannten verhören, die Fingerabdrücke nehmen, und so weiter, und das sei praktischer am Kommissariat zu
erledigen, reine Routine… So redeten sie, während ich mich anzog. Nein, ich stehe nicht unter Verdacht. Aber der Mord sei eine sehr unklare Angelegenheit, kein Motiv, keine Tatwaffe, rein gar nichts… Ich band mir gerade die Krawatte, verschlafen und verschreckt wie ich war, fiel es mir erst jetzt ein: Ich kenne doch gar keinen Schneyder! In seinem Notizbuch stünde aber mein Name. Und der von sechs anderen Männern und vier Damen. Alle würden verhört werden. Gottergeben machte ich mich fertig und ging mit. Ein mir völlig unbekannter Mann War ermordet worden. Wenn schon. Es ging mich nichts an und außerdem war ich unschuldig. Mehr als unschuldig, absolut unwissend! Sie brachten mich nicht in unser Kommissariat, nein, man fuhr mit mir in die Stadt, brachte mich in ein mir unbekanntes Gebäude, in dem lauter Büros zu sein scheinen. Ein langer Gang und Türen rechts und links, Schreibmaschinengeknatter allenthalben. Ich wurde in einem Zimmer verhört, in dem den ganzen Tag elektrisches Licht brannte, es hatte offenbar kein Fenster, oder es war durch Aktenschränke verstellt. Man fotografierte mich von allen Seiten, nahm meine Fingerabdrücke und .verhörte mich. Stundenlang, tagelang. Mein ganzes Leben wurde aufgerollt, alle Leute, die ich einmal gekannt hatte, wurden durchgekaut, selbst die, die schon gestorben waren.« »Ich auch?« »Eine Frage, natürlich du auch! Dir waren mindestens zwei Stunden gewidmet. Aber was weiß ich denn schon von dir? Nichts. Fast nichts. Das ist mir übrigens erst beim Verhör so richtig zu Bewußtsein gekommen. Aber natürlich tauchte kein Schneyder auf. Ich erbot mich freiwillig, einen Lügendetektortest zu machen. Sie gingen darauf ein, aber natürlich ergab sich nichts. Kein Schneyder weit und breit. Man ließ mich noch Verbrecheralben durchblättern und zeigte mir ganze Pakete von Gruppenfotos. Ich entdeckte niemanden, der mir bekannt vorkam – aber das war auch gar nicht anders zu erwarten. Nach ein paar Stunden verschwammen mit die Bilder vor den Augen, ich hätte meine Mutter nicht mehr erkannt, und wenn sie in Großformat auf einem der Blätter gewesen wäre.
Drei Tage! Nun, am ersten Tag waren da natürlich diese Aufnahmeformalitäten zu erledigen, das dauerte. Das Essen war ganz ordentlich, es gab auch Wein und Zigaretten, so viele ich wollte. Die Nächte verbrachte ich übrigens nicht in einer Zelle, wenn du das gedacht haben solltest, nein, in einem Zimmer mit gut funktionierender Klimaanlage, aber auch ohne Fenster. Und gestern verhörten sie mich nur am Vormittag, am Nachmittag kamen dann die Entlassungsformalitäten, es war ermüdend. Man entschuldigte sich umständlich für alles, und ich bekam sogar eine finanzielle Entschädigung, weil ich Freiberufler bin! Meine Forderungen waren keineswegs bescheiden, ich dachte, sie werden mich schon herunterhandeln, aber sie zahlten ohne Wimpernzucken!« »Na also! Wieso bist du dann so ängstlich und schreckhaft und fürchtest dich vor Wanzen?« »Warum? Gott, bist du naiv! Das alles war doch nur ein Vorwand, dieser dämliche Schneyder und die Fotos und alles! Man wollte etwas ganz anderes wissen, aber was? Unter all den tausend Fragen, die sie mir stellten, war vielleicht nur eine einzige für sie wichtig. Aber welche? Ich habe nicht einmal eine Ahnung. Und diese Ungewißheit ängstigt mich, ich weiß nicht warum. Ich bin doch unschuldig. Unschuldig an allem! Aber ich will wissen, wovor ich mich fürchten muß!« Am liebsten hätte ich ihm zugerufen: Vor mir! Ich bin die Ursache, ich bin derjenige, für den sie sich wirklich interessieren! Statt dessen schenkte ich ihm noch einmal ein und bemerkte beiläufig: »Wenn du wirklich recht hast, und dieser ermordete Schneyder war nur ein Vorwand, dann wirst du es nie erfahren! Sie haben dich ausgequetscht, du bist jetzt leer für sie, du weißt nichts mehr, was nicht sie auch wissen. Sie haben also gewiß kein Interesse mehr an dir!« »Wenn du doch recht hättest!« Mit einem Seufzen nahm er das Glas vom Tisch, kippte den Inhalt hinunter. »Aber ich bin doch nicht blöd und auch nicht verrückt. Ich werde beobachtet« »Du?« Er hatte wohl meine Beobachter entdeckt. »Ja, ich. Im Augenblick hat ein Schnauzbärtiger Dienst. Ich habe ihn schon vor meiner Verhaftung gesehen. Er sitzt meistens in einem
blauen Dodge, schräg gegenüber vom Ausgang, du kannst ihn von hier aus nicht sehen, wohl aber ich aus meinem Badfenster. Er liest und raucht und langweilt sich – aber wenn ich die Wohnung verlasse, genauer gesagt, das Haus verlasse, telefoniert er. Autotelefon.« Ich nickte. Das war mein Mann – aber wie konnte ich ihm das sagen? Wie konnte ich ihn beruhigen? Plötzlich faßte ich einen Entschluß – einen vielleicht ganz falschen Entschluß, denn ich wußte sofort, daß das, was ich tat, verboten war. Das Verbot kam aus Zone III – doch da war noch ein anderes Gefühl in mir sehr stark, das Gefühl des Mitleids mit meinem Freund. Der Wunsch ihm zu helfen. Ein warmes, menschliches Gefühl… Es ermöglichte mir, dem Verbot zuwiderzuhandeln; kaum hatte ich den ersten Schritt getan, den ersten Satz gesagt, verblaßte das Verbot, und an seine Stelle trat das Wissen um die Pflicht der Selbsterhaltung. Ich erzählte ihm alles. Restlos alles. Ich ließ ihn meine Aufzeichnungen lesen; anschließend sprachen wir lange darüber. Er schien mir sehr erleichtert zu sein, daß das alles nicht ihn selbst betraf. »Weißt du, ich bin kein Held, ich mag auch keiner sein«, sagte er. »Ich will bloß leben, in Ruhe und Frieden leben und arbeiten. Damit bin ich zufrieden. Für Blitze aus heiterem Himmel hab ich nichts übrig, besonders dann nicht, wenn sie mich treffen! Aber du, was wirst du jetzt tun?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß vor allem nicht, was die anderen wissen – und ich weiß nicht, wie stark die Impulse aus Zone III sind. Werde ich Befehle, die aus jener Zone kommen, ausführen? Ausführen müssen? Als ich mich entschloß, dir reinen Wein einzuschenken, habe ich gegen eine Anweisung aus Zone III gehandelt. Aber ich habe mich blitzartig entschlossen und im gleichen Augenblick auch zu reden begonnen – es gab dann kein Zurück mehr für mich. Aber ich weiß genau, daß ich Verbotenes tat.« Er schüttelte den Kopf. »Sonderbare Sache! Nun, wir wollen gemeinsam überlegen…Konstruieren wir einmal das wahrscheinlichste Bild: Du kommst aus dem Land X. Du bist kein Amerikaner, sonst wäre keine so umständliche ›Anpassung‹
notwendig gewesen. Du hast eine vollständige Gehirnwäsche hinter dir, dein Gehirn war leer, von einigen vagen Erinnerungen – oder Pseudoerinnerungen – abgesehen. Und abgesehen von einem verbotenen Bereich‹, der Zone III, wie du sie nennst. In diesem Bereich sind die hypnotischen Befehle gespeichert. Sie werden dir zu gegebener Zeit bewußt – und du selbst bist es, der sie freisetzt. Indem du einen bestimmten Grad der Anpassung erreicht hast, indem du gewissen Gedankengängen folgst. Nehmen wir ein Beispiel: Du denkst daran, heute einen Arzt aufzusuchen – dieser Gedanke löst die Information aus: Ärzte sind gefährlich für mich; sie könnten feststellen, ich bin krank und muß mich sehr unangenehmen Behandlungen aussetzen; oder sie könnten entdecken, ich bin ein Spion und muß eingesperrt werden. Ich muß Ärzte meiden, denn ich will leben und frei sein. Deine Aufzeichnungen enthalten gewisse Ungereimtheiten. ›Der Mond ist uninteressant. Die Erde ist interessante Oder: ›Ich vergesse nichts. Aber gewisse Dinge und Erkenntnisse vergesse ich doch.‹ – Derlei Gedanken, wie jener, daß die Erde interessant oder wichtig sei, sind plausibel und könne» durch Zufall in deine Notizen gekommen sein – jedem Menschen gehen tausenderlei Gedanken durch den Kopf, die keine besondere Bedeutung haben. Und was das Vergessen und Nichtvergessen angeht, so ist das doch ganz normal. Du hast einerseits ein fotografisches Gedächtnis – damit bist du keineswegs allein auf weiter Flur – und manche Sachen vergißt du leicht – kann sein; es handelt sich dabei um Dinge, die du vergessen möchtest; der Wunsch, gewisse Dinge zu vergessen, mag im Unterbewußtsein liegen. Es gibt gar keine Zone II. Was hältst du davon?« Ich hatte zum Fenster hinausgestarrt, ohne etwas zu sehen. Jetzt wandte ich mich wieder meinem Freund zu. »Ich werde dir sagen, was ich denke, obgleich ich immer noch das Gefühl habe, ich sollte es nicht tun. Also: Einige deiner Überlegungen sind vermutlich zutreffend, besser gesagt, ich bin da einer Meinung mit dir. Manches dürfte nicht stimmen, zumindest ahne ich, daß es nicht stimmt. Doch wie dem auch sei, ich bin ein potentieller Spion,, Und die Spionageabwehr hat davon erfahren. Man beobachtet mich – wie lange schon, weiß ich nicht – und man hat dich verhaftet und
eingehend durchleuchtet. Das sind Fakten. Ich bin in Gefahr, ich weiß das. Ich muß mich im Augenblick an die Fakten halten – denn ich will leben und frei sein. Damit hast du ganz recht. Aber um weiterhin in Freiheit leben zu können, darf ich nicht länger untätig abwarten. Auch das weiß ich. Wenn man feststellt, daß ich keine weiteren ›Hintermänner‹ habe, wird man auch mich verhaften, verhören und Tests unterziehen. Man wird meine Wohnung durchsuchen. Und ich habe keine Ahnung, was bei all dem herauskommt – es könnte doch sein, daß ich, unter gewissen, mir einsuggerierten Bedingungen, mich selbst aufgebe, mich durch falsche ›Geständnisse‹ so sehr belaste, daß ich nie wieder freigelassen werde und meine Auftraggeber nicht in Gefahr bringen kann…« »Was also willst du tun?« »Ich werde überlegen. Es gibt einen Weg, es gibt immer einen Weg, man muß ihn nur finden…« »Kann ich dir helfen?« »Danke! Aber ich weiß es im Augenblick noch nicht. Ich werde wohl meine Wohnung verlassen müssen, auch die Stadt, den Staat… Und ich werde neue Ausweise brauchen, gute, aber falsche Papiere. Ich muß mein Geld abheben…« »Sag mir nur, was ich tun soll, ich helfe dir sehr gerne!« »Nochmals Dank! Um zu wissen, was ich tun muß, sollte ich zunächst wissen, woher meine Gegner – ich will sie der Einfachheit halber so nennen – woher also meine Gegner von der Tatsache erfahren haben, daß ich R 14 und ein Spion bin. Glaubt man, ich war ein Spion, ich bin ein Spion oder – ich werde einer sein?« »Du kannst das doch nicht so trennen! Du bist ein ausgebildeter Spion – in den Augen deiner Gegner und wahrscheinlich auch in Wirklichkeit – und ob du deine Tätigkeit ausübst oder ein › Schläfer‹ bist, ist für sie nicht so wichtig. Du bist eine Gefahr für den Staat, das ist das Wesentliche!« »Und woher wissen sie davon?« »Diese Frage solltest du besser beantworten können! Von mir haben sie jedenfalls nichts erfahren, denn ich hatte ja keine Ahnung!« »Ich habe ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Du bist der einzige Freund, sonst habe ich noch eine Handvoll Bekannte, mit denen ich jedoch nur über Belanglosigkeiten spreche.«
»Eine Frau?« Ich mußte lachen. »Cherchez la femme, nicht wahr? Aber ich habe keine. Keine Freundin, nicht einmal eine gute Bekannte.« »Und wer hatte Zugang zu deiner Wohnung?« »Niemand. Das heißt, nur die üblichen Leute, der Reinigungsdienst, der Briefträger, gelegentlich Lieferanten, mein Schneider…« »Und das nennst du ›niemand‹? Massenhaft Leute waren da, aber so alltägliche, normale Leute, daß man sich ihrer gar nicht bewußt wird. Man nimmt ihr Erscheinen hin, bemerkt es kaum. Woher willst du wissen, daß nicht etwa beim Reinigungsdienst ein Mann oder eine Frau von der Abwehr dabei waren?« »Aber warum? Warum ausgerechnet bei mir?« »Nicht nur bei dir, bei Tausenden von Leuten. Kannst du dir nicht vorstellen, daß man gewissen Personen, die im Reinigungsdienst arbeiten, den Auftrag gibt, nach Besonderheiten Ausschau zu halten? Das fällt ihnen leicht, eben weil sie niemand beachtet. Aber die Leute sind doch nicht blind, die sehen doch nicht nur Schmutz, benutztes Geschirr und ungemachte Betten! Kann sein, sie bekommen eine Prämie für besondere Beobachtungen. Wir haben doch hier in der Stadt die militärische Forschungsstation, die Flugzeugwerke, den Chemie-Konzern und das biologische Institut und weiß Gott was noch alles. Sicher wird da spioniert. Und was wäre naheliegender, als so unauffällige Beobachter in alle Häuser zu schicken? Na, und du hast da ein Kärtchen auf deinem Schreibtisch: Ich bin R 14!« »Du bist ein kluger Bursche – das mit dem Reinigungsdienst ist ein guter Gedanke. Aber was die Karte betrifft – welcher Spion würde denn seinen Code so öffentlich ausstellen?« »Stell dir vor, im öffentlichen Reinigungsdienst sind einige hundert Vertrauensleute. Ganz gewöhnliche Leute, ungebildet, ungelernt. Sie saugen Staub, überziehen die Betten, putzen die Fenster… Sie haben den Auftrag, Besonderheiten, die sie beobachtet haben, zu melden. Sie bekommen eine Prämie für jede Meldung. Sie überlegen nicht, sie melden. Sie melden, David Chippers aus Apartment 62 ist R 14. Seine Wohnung ist höchst sonderbar eingerichtet. Unbekannte Geräte. Unmassen von Büchern, Zeitschriften, Apparaten…« »Du kannst recht haben. Ich bin jetzt froh, daß ich mit dir über alles gesprochen habe, du hast mir geholfen. Und es tut mir leid, daß
ich fort muß, daß die erste Freundschaft, die ich erleben durfte, so rasch enden muß.« »Mir tut’s ebenso leid, aber wir werden uns wiedersehen. Ich werde das schon schaukeln, jetzt, da ich Bescheid weiß und der feige Hund in mir beruhigt ist, jetzt wird mir schon etwas einfallen. Wohin willst du?« »Ich weiß es noch nicht. Zuallererst brauche ich neue Papiere. Kennst du jemanden, der mir dazu verhelfen könnte? Geld spielt keine, oder fast keine Rolle!« »Ich kenne niemanden, natürlich nicht. Aber ich werde mich umhören. Und du hebe dein Geld ab!« »Meinst du, jetzt gleich? Das wäre aber doch sehr auffallend – ich dachte, ich hebe es erst im letzten Augenblick ab, unmittelbar bevor ich abreise. Ich nehme an, daß es meine Gegner sehr rasch erfahren, und dann sollte ich bereits über alle Berge sein!« »Da hast du recht. Und da fällt mir noch etwas ein: Ich habe eine Kusine in einem kleinen Nest in Montana, sie hat eine Fremdenpension – dort kannst du wohnen, und niemand wird sich um dich kümmern. Ich werde ihr heute noch schreiben, sagen, du bist Schriftsteller wie ich, suchst Ruhe für ein neues Werk… Das wäre doch eine Idee?« »Eigentlich hatte ich daran gedacht, in einer großen Stadt unterzutauchen, wo mich niemand kennt und sich keiner um den anderen kümmert, in Chicago vielleicht…« »Meine Kusine ist besser. In einer Stadt fällt ein Mieter, der keinen Beruf hat, immer irgendwie auf. Und in einer Stadt kannst du es auch fast nicht vermeiden, daß Fremde in deine Wohnung kom-men – jedenfalls nicht, ohne aufzufallen. Und in einer Stadt gibt es die Polizei, die perfekt ausge-stattet ist und über eine gut geschulte Truppe verfügt. Am Land ist da nur ein Sheriff, der gleichzeitig Hobbygärtner, Markensammler und Stammtischsitzer ist. Und ein paar kleine Beamte, die auch hunderterlei Nebeninteressen haben, schon des-halb, weil der Dienst am Land so eintönig ist. Es passiert ja nichts.« »Vielleicht hast du recht. Kennst du die Landpolizei?« »Ein wenig. Sie ist gewiß ungefährlicher. Und du hast einen Grund, dort zu sein – du willst in Ruhe dein Buch schreiben. Wer
aber setzt sich in den Mief von Chicago, wenn er nicht muß?« »Klingt vernünftig. Ich werd’s versuchen. Vielen Dank einstweilen! Du hörst dich um wegen Papieren, ja? Dumm, daß ich keinen Führerschein habe und auch nicht Auto fahren kann. Ich werd’s lernen müssen!« »Aber doch nicht jetzt und hier?« »Nein, gewiß nicht. Ich dachte nur eben daran, wie ich von hier nach Montana komme, es ist eine verdammt weite Strecke.« »Per Bus, per Bahn. Kein Flugzeug! Aber mit Bussen Zickzack fahren ist sicher gut. Am Bahnhof, ich meine am Busbahnhof, drei oder vier Karten in verschiedene Richtungen lösen. Und dann im letzten Augenblick in irgendeinen hineinspringen.« »Der Verfolger wird ein Auto haben!« »Wenn schon. Du brauchst gute Landkarten. Steigst in irgendeinem kleinen Kaff aus dem Bus und gehst querfeldein in ein anderes Dörflein. Wie soll er dir da mit dem Auto folgen? Oder du gehst nur in einen benachbarten Wald, wartest dort ab und fährst mit dem nächsten oder übernächsten Bus weiter. Es gibt hundert Möglichkeiten.« »Na, ich hoffe, sie fallen auch mir alle ein. Denn eine Flucht nach Montana hat wenig Sinn, wenn ich die Verfolger nicht abschütteln kann.« »Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Landkarten besorgen und versuchen, einen Paßfälscher aufzureißen. Du besorgst inzwischen Fotos, aus einem Automaten natürlich. Aber laß dir nicht dabei zusehen!« »Ich werde mein Bestes tun. Nochmals vielen Dank, du bist wirklich ein Freund.« »Du ahnst nicht, wie froh ich bin, daß du mir alles gesagt hast! Dafür bin ich dir dankbarer als ich ausdrücken kann. Aber ich geh jetzt am besten. Bis dann!« Ich war wieder allein. Minutenlang horchte ich in mich hinein – aber Zone III schwieg. Nichts, keine Hilfe. Nur das Wissen: Ich muß überleben, um jeden Preis. Ich muß frei bleiben. Aber das wußte ich schon die ganze Zeit. Ich vernichtete alle meine Aufzeichnungen, ich kannte sie ohnedies
Wort für Wort auswendig. Dann begann ich zu packen. Den Rucksack, den ich zu längeren Wanderungen benützt hatte, packte ich als erstes in einen kleinen Faltkoffer. Drei Hemden, zwei Schlafanzüge. Socken, einen leichten knitterfreien Sommeranzug, ein Handtuch. Unterwäsche, den Regenmantel. Besteck und ein Kochgeschirr. Das leichte Zelt? Ja, vielleicht auch das – es ist aus hauchdünnem Material, trotzdem fest und wasserdicht. Den aufblasbaren Polster? Nein. Wenn schon diese Ausrüstung, dann lieber gleich die Luftmatratze. Und Verbandszeug. Nach und nach wurde der Koffer voll. Zelt und Luftmatratze waren zwar nur winzige Päckchen – aber die Hemden… Sollte ich es mit einem zweiten Koffer versuchen? Nein, zu auffallend. Aber den zweiten Faltkoffer packe ich ein, auf alle Fälle. Ich ging alles durch, alle Schränke, alle Laden in der Wohnung. Auf die Art konnte ich nichts Wichtiges vergessen. Die Handschuhe! Das Fernglas! Immer wieder entdeckte ich etwas, was ich glaubte, unbedingt mitnehmen zu müssen. Schließlich hatte ich einen kleinen Koffer, eine Umhängetasche und eine Reisetasche gepackt. In letzterer hatte ich alles untergebracht, was ich glaubte, unbedingt zu benötigen. Mit dieser Tasche allein wollte ich das Haus verlassen; ich hatte sie oft benützt, um Einkäufe zu machen oder Leihbücher zurückzubringen, meine Bewacher mußten sie kennen. Am Nachmittag ging ich aus, die kleine Reisetasche in der Hand. Mein Schatten folgte mir. Ich ging, wie meistens, zu Fuß, kaufte da und dort eine Kleinigkeit, plauderte mit dem Zeitungsmann an der Ecke. Es war ein heißer Tag, und ich genehmigte mir ein Eis. Dann stoppte ich ein leer vorbeifahrendes Taxi und freute mich des glücklichen Zufalls, der es mir gestattet hatte, meinen Verfolger so gut loszuwerden. Doch meine Freude war verfrüht; wir hatten eben die Vorstadt hinter uns gelassen und näherten uns den ersten Geschäftsstraßen, da entdeckte ich einen neuen Beobachter in einem Wagen hinter uns. Es waren also ihrer zwei, mindestens zwei. Nun war es nicht mehr so einfach, ihnen zu entkommen – und ich wollte doch die Fotos unbeobachtet machen lassen. Ich ließ vor einem der großen Kaufhäuser halten, ging rasch hinein
und mischte mich unter die Menge. Ich hatte Glück, eben war ein Lift fahrbereit, als ich mich noch rasch als letzter hineinzwängte. Er hielt in jedem Stockwerk. Im fünften stieg ich aus und kaufte einen leichten Mantel, der beidseitig zu tragen war; eine Seite dunkelbraun, die andere hellgrau, mit blassem Karo. Ich ließ ihn mir möglichst klein zusammenpacken und legte das Paket oben auf meine Tasche. Dann fuhr ich in den elften Stock, wo nur Restaurants, Haarsalons und Massageräume waren. Hier gab es nur sehr wenige Kunden, und es war nicht schwierig, nach meinen Bewachern Ausschau zu halten. Niemand da, den ich kannte. Also hinunter in den neunten Stock zu den Fotoautomaten. Wenige Minuten später hatte ich einen Satz Paßbilder in der Tasche. Dann machte ich mich auf die Suche nach den beiden Herren. Den einen entdeckte ich sehr bald in der Schuhabteilung; ich mußte ein Lächeln unterdrücken, als ich seine erleichterte Miene registrierte. Gemeinsam wanderten wir nun weiter umher, bis ich den zweiten sah; auch er war sichtlich froh bei meinem Anblick. Ich kaufte noch ein paar Kleinigkeiten, nahm mir dann wieder ein Taxi und fuhr heim. Am Abend kam Burton und berichtete, daß er einen Tip erhalten hatte. Ein heruntergekommener Maler in der Altstadt würde entweder selbst falsche Ausweise herstellen oder solche vertreiben. Er hatte sich für morgen mittag mit ihm verabredet. Ich gab Burton die Bilder und Geld und berichtete ihm von meinen Unternehmungen. Wir besprachen alles, was wir für wichtig hielten. Er gab mir die Adresse seiner Kusine, und ich bat ihn, Koffer und Umhängetasche per Post hinzusenden, möglichst morgen schon. Er würde die Gepäckstücke beim Portier lassen und dann einen Taxifahrer beauftragen, sie zu holen und zum Postamt zu bringen – so sollte es gelingen, die Aufpasser zu hintergehen. Ich wollte, sobald ich meine neuen Papiere hatte, die Wohnung für immer verlassen und versuchen, die ›Waldesruh‹ in Blue Springs, Montana, möglichst ungesehen zu erreichen. In dieser Nacht weckte mich das Haustelefon etwas vor sechs. »Blister hier, zwei zu ihnen rauf, einer unten. Verraten Sie mich nicht!«
Wortlos legte ich auf, raffte meine Kleider zusammen, sprang in die Schuhe und war Sekunden schon auf der Treppe nach oben. Zwei Stockwerke über mir stand der Lastenaufzug; ich betrat ihn lautlos und zog mich in Windeseile an. Den noch warmen Schlafanzug stopfte ich in die Reisetasche, die ich zum Glück nicht in der Aufregung stehengelassen hatte. Ich war froh, daß ich mir noch die Zeit genommen hatte, die Wohnung abzusperren, die Schlösser waren sehr gut, ich hatte sie schon vor einem Jahr anstelle der Standardschlösser einbauen lassen. (Warum eigentlich? Hatte ich geahnt, was mir einmal zustoßen würde? Egal, keine Zeit für unnütze Gedanken.) Ich hörte durch das Stiegenhaus herauf das Klopfen an meiner Tür. Wie sollte ich ungesehen aus dem Haus kommen? Und schnell mußte es geschehen, bevor man mich zu suchen begann! In großen Sätzen sprang ich die Treppe hinauf, immer weiter, bis unter das Dach – oben gab es einen alle Trakte des Hauses verbindenden Gang, der kaum benützt wurde. Ich hetzte den Gang entlang bis zum übernächsten Treppenhaus – dort hatte ich Glück, der Lift stand nur ein Stockwerk unter mir. Ich fuhr bis in die Tiefgarage, von dort rief ich meinen Freund an. »Burt, sie sind schon da. Ich weiß nicht, wie ich wegkomme, aber es wird schon klappen. Vielen Dank für alles! Und mach’s gut!« »Halt! Leg bloß nicht auf!« sagte er. »Ich werde versuchen, dir zu helfen. Ich – ich weiß schon. Ich werde losfahren, in ein paar Minuten. Und Jackie auch. Sie hat den roten Sportwagen an der Dreier-ausfahrt. Sie soll dich im Kofferraum mitnehmen. Ich fahre bloß so weg, vielleicht kann ich die Kerle irreführen! Wo bist du?« »Dank, Dank mein Freund! Ich bin in der Tiefgarage – also alles bestens. Ich warte auf euch!« »Jackie sagt mir eben, der Kofferraum ist unversperrt, kriech einstweilen rein. Wir werden uns beeilen! Bis dann!« Ich tat wie geheißen. Freunde muß man haben, wahre Freunde! Dann ist nichts unmöglich. Fünf Minuten später waren wir unterwegs. Ich hatte es verdammt unbequem, aber ich war glücklich. Nach einer Weile hielt der Wagen, und ich hörte eine Frauenstimme: »Ich fahre stadteinwärts.
Nehme an, Sie wollen noch zur Bank, bevor Sie endgültig abhauen. Was aber machen wir bis neun?« »Haben Sie einen Schatten?« Meine Stimme klang dumpf und fremd. »Bis jetzt nicht. Sie haben sich Burt angehängt. Und zwei sind noch immer im Haus.« »Gut, dann fahren Sie bitte in eine öffentliche Tiefgarage, wenn’s geht, vielleicht in die neben dem ›Palace‹!« »Okay. Grün, ich muß weiter.« Die Palacegarage war um diese Zeit wie ausgestorben. Der Motor des kleinen Sportwagens dröhnte in der Stille wie der eines Hubschraubers. Endlich stellte sie ihn ab und klappte den Deckel meines Gefängnisses hoch. Mühsam, steif wie ein alter Mann, kroch ich heraus. »Danke, vielen Dank!« Das waren die ersten Worte, die ich an sie richtete. Sie lachte. »Nichts zu danken, so was macht doch Spaß! Leider muß ich um acht in der Tretmühle sein, sonst hätte ich Ihnen noch weiter geholfen.« Die Tretmühle? Offenbar ihr Arbeitsplatz – nach ihrem Aussehen zu urteilen, ein durchaus schickes Büro. Sie war groß, fast so groß wie ich, schlank, wohlproportioniert. Ein schwarzer Wuschelkopf, ein rundes Gesicht, lachende grüne Augen. Sie trug ein enggeschnittenes graues Kostüm mit weißer Bluse – ein sehr hübsches und sehr junges Mädchen. »Trotzdem«, murmelte ich, »trotzdem tausend Dank. Sie sind ein Engel und haben mich gerettet. Wie kam es nur, daß Sie so schnell angezogen waren?« Wieder lachte sie. »Sie haben Glück gehabt! Wir waren noch gar nicht ausgezogen, sind eben erst nach einer durchbummelten Nacht heimgekommen.« So also war das. Offenbar war sie Burts Freundin. Ich überlegte, was ich in den eineinhalb Stunden bis acht tun konnte. Um acht öffnete die Volksbildungsbücherei, und die war in meinem Bankhaus untergebracht – dort konnte ich dann bis neun warten, das war praktisch. Aber bis dahin? Jackie hatte eine Idee. »Gehen wir doch zusammen frühstücken!
Im kleinen Salon des Palace gibt’s ab sechs Frühstück – dort fallen wir gewiß nicht auf!« Also frühstückten wir im ›Palace‹, und wir taten es langsam und ausgiebig, die Karte herunter. Anschließend waren wir beide so satt, daß es für den ganzen Tag reichen mochte. Es war aber mittlerweile Viertel vor acht, Jackie mußte ins Büro, und ich in die Bibliothek. Als ich mich von ihr verabschiedete, war mir, als hätte ich sie schon immer gekannt; wirklich, ein sehr nettes Mädchen. - Aber schließlich war sie das Mädchen meines Freundes, und ich war ein Spion auf der Flucht. Die Bibliothekarin – in fast allem das Gegenteil von Jackie – begrüßte mich mürrisch und teilte mir als erstes mit, daß heute nur bis zwölf geöffnet war. Nun, so lange wollte ich gewiß nicht bleiben. Ich verzog mich in einen Winkel, wo ich vom Eingang aus nicht gesehen werden konnte und las ein langweiliges Buch. Bis fünf vor neun. Um neun war ich in der Bank und löste mein Konto auf. Es war, wie schon gesagt, ein beachtliches Konto; das und die Tatsache, daß ich alles bar wollte, rief den Direktor auf den Plan. Zum Glück kannten wir uns. Ich log ihm vor, ich hätte einen interessanten Job in New York angeboten bekommen und würde mir dort ein neues Konto einrichten, wüßte aber noch nicht, bei welcher Bank. Es klang etwas matt und war keine sehr gute Story, aber mir fiel keine bessere ein, und der Direktor war so liebenswürdig, sie mir abzunehmen. Ich stopfte die Banknotenbündel in meine Tasche und kam mir einen Augenblick lang wie ein Bankräuber vor. Ich mußte mich besser beherrschen, keine verdächtige Hast an den Tag legen! Ich wechselte noch ein paar belanglose Worte mit den beiden Bankbeamten, wünschte ihnen alles Gute, Gesundheit und Erfolg und verabschiedete mich. Endlich stand ich wieder auf der Straße. Ich tat, als sehe ich mich nach einem Taxi um, winkte einem und gab vor, erst im letzten Augenblick bemerkt zu haben, daß es besetzt war. In Wirklichkeit hielt ich nach bekannten Gesichtern Ausschau; ich entdeckte auch einen Hausbewohner, der zusammen mit seiner Frau offenbar Einkäufe machte, und ein wenig später sah ich einen U-Bahnschaffner in Zivil. Noch hatten sie, meine Gegner, mich nicht entdeckt. Doch fraglos würden sie meinen Fluchtweg rekonstruieren können.
Hoffentlich brachte ich Burt und Jackie nicht in Gefahr! Jackies Wagen? Ich hatte Handschuhe getragen, also gab’s keine Fingerabdrücke im Kofferraum und am Wagen; hatte ich etwas im Kofferraum verloren? Einen Knopf vielleicht? Nein, alle da. Und Burt? Man wußte, daß er mein Freund war – aber man hatte sicher festgestellt, daß ich nicht in seinem Wagen gewesen war… Doch mein Gepäck stand in seiner Wohnung! Und es war anzunehmen, daß man seine Wohnung durchsuchte, schon um sicherzugehen, daß ich mich nicht in ihr versteckt hielt! Aber was half’s, jetzt konnte ich nichts mehr tun. Der alte Blister fiel mir ein. Hatte der dritte Mann in der Halle bemerkt, daß er mich angerufen hatte? Kaum, er hätte es wohl nicht gewagt, wenn er sich nicht sicher gefühlt hätte. Ich erstand einen Briefumschlag, steckte einen Hunderter hinein und schrieb ein paar Zeilen dazu, ohne Unterschrift. Ich adressierte den Brief an seine Schwester, die einen kleinen Strumpfladen im Nebenhaus besaß. Ihm selbst das Geld zu schicken wagte ich nicht. Neun Uhr dreißig. Ich sollte sehen, daß ich weg-kam – noch suchte man mich wohl nur in der Stadt, und wer weiß, ob man überhaupt daran dachte, die großen Ausfallstraßen zu kontrollieren. Das bedeutete einen gigantischen Aufwand an Personal und last but not least auch ein Verkehr-schaos. War ich so wichtig? Kaum. Aber sicher wissen konnte ich es natürlich nicht. Also auf zum Busbahnhof. Auf der Bank hatte ich von New York gesprochen – warum also sollte ich nicht tatsächlich die Flucht in Richtung New York beginnen? Burt hatte einen Zickzackkurs vorgeschlagen – also war’s ja egal, mit welcher Richtung ich begann. Vorher aber wollte ich noch die Karten studieren, die mir Burton besorgt hatte. Sie steckten in einer Plastikmappe, noch so, wie er sie mir gegeben hatte, im Seitenfach meiner Reisetasche. Doch hier in aller Öffentlichkeit wagte ich nicht, mich mit ausgebreiteten Karten sehen zu lassen – das fiel auf. Aber im Postamt gab’s so kleine Zellen mit Schreibpulten, das war die Lösung! Wenn der Vorhang zu war und das Licht brannte, war jedermann überzeugt, daß da einer drin war, der einen Brief schrieb. Erst die Übersichtskarte. Ich mußte, wenn ich nach New York
wollte, zunächst nach Cincinnati, dann weiter nach Pittsburgh – zumindest mußte ich meine Spur bis Pittsburgh legen. Das war aber dadurch möglich, daß ich in Cincinnati eine entsprechende Karte löste und dafür sorgte, daß mich der Verkäufer im Gedächtnis behielt. Tatsächlich bis Pittsburgh fahren wollte ich wirklich nicht, die Reise war so schon lang genug. Cincinnati, St. Louis, Des Moines. Dann vielleicht hinunter nach Kansas City, um eventuelle Verfolger irrezuführen. Dann nach Denver und weiter nach Salt Lake City. Von dort eventuell mit einem Flugzeug nach Portland oder Seattle und dann wieder zurück nach Osten. Three Forks war die letzte größere Stadt. Von dort aus ging’s dann hinauf in die Berge des Big Belts, zum Fremdenheim ›Waldesruh‹. Ich packte die Karte zusammen – ihr Bild hatte ich mir eingeprägt. Nun zum Busbahnhof! Doch – fast hatte ich es erwartet – kam alles anders als geplant. Ich hatte mir ein Taxi genommen, denn der Busbahnhof lag am anderen Ende der Stadt; als das Taxi in die Schleife, die zum Standplatz führte, einbog, sah ich sie bereits. Zwei nur allzugut bekannte Gesichter! »Ach verdammt«, sagte ich zum Fahrer, »mein Bus ist weg! Dabei hat er doch meist ein paar Minuten Verspätung. Aber so ist das: wenn man mal mit einer Verspätung rechnet, dann ist er pünktlich!« Der Fahrer wandte sich um, ein freundliches, altes Gesicht. »Soll ich ihm nach? Ich erwische ihn schon irgendwo!« Ich schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Ich sollte noch vor dem Mittagessen in Cincinnati sein. Sie könnten wohl nicht…?« »Na, und ob ich kann! Billig wird’s allerdings nicht sein, Mister. Aber auf alle Fälle bin ich eher dort als der Bus, und Sie haben dann noch Zeit, sich vor dem Essen frisch zu machen.« »Okay, fahren Sie los!« Hatten mich die Verfolger erkannt? Im Inneren des Taxis war es zwar dunkel, die Scheiben mochten gespiegelt haben, vielleicht hatten sie auch nur die abgehenden Busse kontrolliert? Ich mußte das Beste hoffen und auf das Schlimmste gefaßt sein – um mit meinem Freund Burton zu sprechen. Wir verließen unkontrolliert die Stadt; der Verkehr war relativ dicht, kein Wunder, das Wochenende stand vor der Tür. Wenn das
Wetter so blieb, würde es ein heißes Wochenende werden, und das bedeutete, daß die Verkehrsdichte noch weiter zunahm – gut für mich und meine Absichten. Ich plauderte mit dem Fahrer, ließ, wie unbeabsichtigt, eine Bemerkung fallen, daß ich die Septemberhitze in New York fürchtete und… Wie erwartet, war er überrascht. »Ich dacht’, Sie wollen bloß zu einem Geschäftsessen nach Cincinnati, da wollen Sie also noch weiter? Haben Sie denn nur das bißchen Gepäck?« Ich gab mich verlegen. »Ja, doch, natürlich… heute nicht, nein, ich fahre am Abend wieder zurück… aber Anfang nächster Woche muß ich dann nach New York und bleibe vielleicht 14 Tage…« Ein mißtrauisch – amüsierter Blick traf mich. »So, so. Na ja, mir ist’s ja gleich. Aber wenn Sie wieder zurückfahren wollen, soll ich dann auf Sie warten?« »Nein, nein, ich weiß ja nicht sicher, wann ich fertig bin, danke, ich nehme dann schon einen Bus.« So war’s gut. Er würde mich nicht vergessen, denn, das sah ich ihm an, er war überzeugt, daß ich ihm etwas vorgeschwindelt hatte. Er würde beschwören, daß ich unbeabsichtigt New York erwähnt und mich auch darüber geärgert hatte. Als wir uns Cincinnati näherten, fragte er: »Wo soll ich Sie denn absetzen, Mister?« Ich hatte mir das selbst schon überlegt, denn die Stadt war mir absolut fremd. Ich erinnerte mich nicht, überhaupt je Bensville verlassen zu haben. Zu allem Überfluß hatte ich noch so getan, als führe ich häufig nach Cincinnati (›Dabei hat er doch meist ein paar Minuten Verspätung…‹), das hatte er sicher nicht vergessen. Gab es auch hier ein ›Palace‹-Hotel? Vielleicht, ich mußte es riskieren. Die Leute hier waren nicht sehr erfindungsreich, jede zweite Stadt hieß X-ville in dieser Gegend, und hoffentlich hatte auch zumindest jede zweite ihr ›Palace‹. Bei der Größe Cincinnatis war die Wahrscheinlichkeit hoch. »Ich möchte zum ›Palace‹, kennen Sie sich denn gut aus?« Er lachte. »Na klar, bin ja da geboren, hab nur nach Bensville runter geheiratet. Die Eltern meiner Frau haben da ein Haus, wissen Sie, nichts Großes natürlich. Aber wir sparen so doch die Miete, und
das ist heutzutage eine Menge.« Ich murmelte Zustimmung. Ja, die Mieten waren hoch und ein Eigenheim war Goldes wert. Das ›Palace‹ erwies sich als großer, altmodischer Kasten. Windzerzauste Palmen beiderseits des Eingangs, verstaubte Goldlettern über dem Portal, ein Boy wie ein zentralafrikanischer Kaiser en miniature. Ich gab dem Taxifahrer ein gutes (aber nicht zu gutes) Trinkgeld und wünschte ihm angenehme Fahrt nach Hause. Den Empfangschef fragte ich, ob ein Mister Kenvinheel hier abgestiegen sei. Natürlich nicht, bei so einem Namen war es ja wirklich unwahrscheinlich. Browns und Millers gab es sicher mehrfach. Ich schob ihm zwei Dollar über den Tisch und bat, mir ein Taxi zu rufen. So war ich nach wenigen Minuten wieder unterwegs. Diesmal schenkte ich dem Fahrer reinen Wein ein und sagte, ich wolle nach New York, sei aber fremd hier und möchte keinesfalls fliegen, was er mir rate, Bus oder Bahn? Er empfahl die Bahn und brachte mich zu dem geeigneten Bahnhof. Dort löste ich tatsächlich eine Karte nach New York, stieg aber in Columbus bereits wieder aus. Hier übernachtete ich in einem Motel und bedauerte zum ersten Mal, daß ich keine falschen Papiere besaß. Zwei, drei Tage hätten mir meine Gegner doch noch Zeit lassen können! An der Bar lernte ich einen jungen Mann kennen, der am nächsten Tag geschäftlich nach Indianapolis mußte und mir vorschlug, ihn wenigstens soweit zu begleiten. Ich hatte ihm erzählt, ich wolle nach Peoria, zur Hochzeit meiner Schwester. So kam ich nach Indianapolis und von dort per Bus nach Springfield. Dort übernachtete ich wiederum in einem Motel, in der Hoffnung, eine ähnlich vorteilhafte Bekanntschaft zu machen. Aber diesmal hatte ich kein Glück. Zwei meiner Bekannten mußten nach St. Louis, einer nach Evansville – das war mir zu nahe bei dem Ausgangspunkt meiner Flucht. Also wieder einen Bus. Nach Minneapolis diesmal, diese Stadt lag ja auch auf meiner ursprünglich geplanten Fluchtroute. Und dann wurde ich kühner – sicher hatte ich meine Spuren gut
verwischt, nie hatte ich auch nur ein verdächtiges Gesicht erblickt. Ich buchte einen Flug nach Seattle; unter meinem richtigen Namen natürlich, ich mußte mich ja ausweisen und besaß noch keine falschen Papiere? In Seattle herrschte ein geradezu abscheuliches Wetter. Ein eisiger Wind kam aus der Bucht herein, peitschte mir den Regen ins Gesicht und durchnäßte mich schon auf der Gangway. Der Pistenbus, der die Fluggäste zum Hafengebäude bringen sollte, hatte eine Reifenpanne. Bis endlich ein Ersatzbus kam, fror, ich bereits in meinem dünnen Anzug wie ein nasser Hund. Und so ging’s weiter. Die Leute stritten sich um die wenigen Taxis, ich erwischte natürlich keines mehr und mußte über eine halbe Stunde warten, ehe mich ein Flughafenbus in die Innenstadt brachte. Jetzt nur schnell in ein Hotel und ein heißes Bad nehmen! Doch die Hotels waren besetzt, zumin-dest die ersten vier, in denen ich’s versuchte. Es fand gerade eine Fischereimesse statt und ein Philatelie-Kongress. In einem fünften hatte ich Glück, doch bekam ich nur eine Art Kammer, ohne Bad natürlich. Ich trank heißen Tee mit Rum und aß ein unbeschreiblich schlecht zubereitetes Abendessen. Das Fleisch war zäh und fettig – ich weiß nicht warum, aber ich stellte mir vor, es stammte von einem uralten Elch. Gab es hier Elche? Wahrscheinlich, bei der Kälte! Zähneklappernd kroch ich in ein steifes, feucht-kaltes Bett. Am nächsten Morgen fühlte ich mich elend. Ich konnte kaum meine Beine bewegen, mein Hals schmerzte, desgleichen mein Rücken. Ein Gedanke durchzuckte mich: Ich darf nicht krank werden! Ich darf doch keinen Arzt konsultieren! Bisher war ich noch nie auch nur einen Tag lang krank gewesen – das war eine Möglichkeit, an die ich nicht einmal im Traum gedacht hatte. Der Schrecken bewirkte, daß ich mich gleich ein wenig besser fühlte, daß ich meine Initiative wiederfand. Ich läutete dem Zimmerkellner. Es war ein schmuddeliger Geselle, schlecht rasiert; sein Anzug glänzte an Knien und Ellbogen. Ich gab ihm ein Trinkgeld und bat, mir den Chef der Etage zu schicken. Der sah nur wenig besser aus, schien mir aber doch eine Spur intelligenter zu sein. Er wirkte auch weniger unsympathisch.
»Können Sie mir in irgendeinem guten Hotel ein Zimmer mit Bad besorgen?« fragte ich. »In einem wirklich guten Hotel!« Er schüttelte den Kopf. »Das wird schwer sein, wissen Sie…« Ich unterbrach ihn. »In diesem Eisloch da kann man sich ja den Tod holen. Ich will ein erstklassiges Zimmer mit Bad, gute Bedienung und gutes Essen. Sie sind doch nicht der Besitzer dieses Schuppens, nicht wahr? Also! Besorgen Sie mir das Zimmer und ein Taxi, das mich hinbringt. Sofort! Das ist mir einen Fünfziger wert.« Die letzten Worte verwandelten den Mann. »Was? Der Fünfziger ist für mich?« »Ja, wenn Sie mir besorgen, was ich will.« »Okay, okay. Ich häng’ mich gleich ans Telefon.« Eine knappe Stunde später lag ich in einem heißen Bad. Das Badezimmer war fast so groß wie die Kammer, in der ich die Nacht frierend verbracht hatte. Das Zimmer war ein Traum, freundlich, blitzsauber, ein weiches, warmes Bett, ein dicker Teppich, Clubsessel, eine Eßnische in einem Erker ; Ich hatte hier bereits gefrühstückt; Orangensaft, frisch zubereiteten, knusprigen Toast, zarten Speck, Landeier, Sauerrahmbutter, Moosbeermarmelade. Trotz allem fühlte ich mich nicht wesentlich besser; ich hatte Fieber; Rücken und Hals schmerzten, die Beine trugen mich kaum. Keine Frage, meine Flucht hatte hier ihr Ende gefunden, zumindest einstweilen. Nach dem Bad wickelte ich mich in das große, weiche Handtuch und kroch wieder ins Bett, schaltete die Heizdecke ein (ich hatte mir eine durch das Stubenmädchen bringen lassen) und deckte mich bis zum Hals zu. Ich schlief sogar ein, wurde jedoch von wirren Träumen geplagt. Bisher waren meine Nächte stets traumlos gewesen, besser gesagt, meine Träume waren undeutlich geblieben, und ich hatte sie am Morgen stets vergessen gehabt. Aus meinen Büchern wußte ich, daß alle Menschen träumen, wenn sie schlafen, die Träume aber oft beim Erwachen vergessen haben. Aber diesmal träumte ich wild und überdeutlich, offenbar infolge
des Fiebers. Ich lebte unter Spinnen, großen, haarigen, aber nicht unfreundlichen Spinnen. Ich empfand sie als häßlich, ekelhaft; ihre Art, alles mit den vordersten Beinen zu betasten widerte mich an. Aber gleichzeitig war ich irgendwie befreundet mit ihnen, ich wußte, sie würden mir nichts zuleide tun, ich mußte ihnen nur helfen, durfte nicht widersprechen… Es war ein typischer Fiebertraum, die Schauplätze der Handlung wechselten rasch und unvermittelt, aber immer waren da die Spinnen, handtellergroße Tiere mit starren Augen und fürchterlichen Freßwerkzeugen – eine Art Zangen in dem haarigen Schädel. Schweißbedeckt erwachte ich wieder. Mein Herz raste, mein Traum verfolgte mich bis hierher in das Zimmer, die honigfarbene Wolldecke war ein Stück Wüste und das Muster auf der Tapete, waren das nicht tanzende Spinnen? Mit letzter Kraft griff ich nach meiner Tasche, die auf einem Stuhl neben dem Bett stand. Ich schüttete ihren Inhalt auf die Decke; da war die Reiseapotheke… ich brauchte ein Medikament gegen das Fieber, das schreckliche Fieber… und etwas gegen die Spinnen… Nur mit Mühe las ich die Aufschriften auf den Röhrchen und die Beipackzettel. Influenza, Fieber… 1-2 Stück, 3x täglich, Kinder entsprechend weniger… ich schluckte zwei Tabletten, trank einen Schluck Wasser nach. Zum Glück stand das Wasser auf dem Nachttischchen, ich hätte nicht die Kraft gehabt, mir welches zu holen. Wieder sank ich in Schlaf. Und wieder träumte ich von den Spinnen, doch diesmal waren sie nicht in meiner Nähe, sie waren weit, weit entfernt, auf einem anderen Stern; ich sah sie durch ein Fernrohr, wie sie umherkrochen und alles betasteten. Sie waren weit entfernt und winkten mir zu. Was wollten sie von mir? Ich zog das Fernrohr aus, lang, ganz lang, bis hin zu den Spinnen. Und nun begannen sie, durch das Rohr zu mir her zu kriechen… Nein! Nein! Ich will nicht! Wieder erwachte ich, mein Handtuch, in das ich mich gewickelt hatte, war ganz naß, es klebte an meinem Körper. Ich biß die Zähne zusammen. Ich darf nicht krank sein! Mühsam schälte ich das Handtuch von mir, warf es auf den Boden. Taumelte ins Bad, drehte die Dusche an, heiß, so heiß ich es nur ertrug.
Ich wusch mir den Schweiß ab, rieb mich mit einem frischen Handtuch trocken, zog den Schlafanzug an. Ich dachte noch, ich müßte ihn in die Wäsche geben und einen frischen holen… da übermannte mich der Schlaf schon wieder. Diesmal waren keine Spinnen mehr in meinem Traum. Diesmal baute ich ein kompliziertes elektronisches Gerät ich wollte mit einem Satelliten Verbindung aufnehmen, mit einem der vielen tausend Satelliten, die ständig die Erde umkreisten, und ich wußte nicht, mit welchem. Ich sah sie alle mit unbewaffnetem Auge – sie wirbelten durcheinander, umkreisten die Erde in sich schneidenden Bahnen, und ich sollte einen bestimmten herausfinden… Als ich wieder wach war, nahm ich nochmals zwei Tabletten. Ich fühlte mich ein wenig besser, hatte zwar wieder einen typischen Fiebertraum gehabt, aber diesmal schienen mir die Bilder blasser, irrealer gewesen zu sein. Ich läutete, und eine freundliche junge Frau erschien. Ich sagte ihr, ich hätte mich erkältet, vermutlich eine Grippe. Ob sie mir wohl einiges besorgen könnte? Mein Gepäck sei bereits in meinem Urlaubsort, ich hätte es vorausgeschickt aber nun sei ich wohl gezwungen, hier ein paar Tage zu verbringen und brauchte dringend frische Wäsche, Unterwäsche, Hausschuhe und wohl auch einen warmen Mantel, einen Schirm. Ich stellte ihr eine Liste zusammen und gab ihr Geld. Sie versprach, alles so gut wie möglich zu erledigen, wünschte mir baldige Besserung und ging. Wieder allein überdachte ich meine Lage. Keine Frage, daß ich krank war und nicht daran denken konnte, die weite Strecke nach Three Forks zurückzulegen, nicht einmal im Flugzeug. Ich fühlte mich wie zerschlagen, jede Bewegung bedeutete eine Anstrengung, jeder Entschluß fiel mir schwer. Ich begann, meine Reisetasche, deren Inhalt noch immer auf meiner Bettdecke verstreut umherlag, einzupacken. Da waren die Geldpakete, sorgfältig in einen Schal gewickelt und mit Sicherheitsnadeln zugesteckt. Die Reiseapotheke. Die Toilettentasche. Benützte Unterwäsche, ein zerknittertes Hemd, Handschuhe, die noch immer naß waren. Eine Flasche mit Rum, mit aufgestecktem Trinkbecher, Papiertaschentücher, ein Kombimesser.
Mein Rechner (wieso hatte ich den mitgenommen? Na ja, er war schon ein gutes Stück!) und ein dünnes Buch mit astronomischen Tabellen und Daten. Wozu das? Egal, vielleicht war es schon in der Tasche gewesen, als ich sie daheim gepackt hatte. Ich fühlte mich unfähig, über irgend etwas nachzudenken. Ich mußte lächeln, als mir die drei Zonen in meinem Gehirn einfielen. Es gab keine. In meinem Kopf war nur ein einziger, großer nasser Schwamm, in seinen Poren wirbelten Gedanken wie Aufgußtierchen in einem Wassertropfen. Keine Ordnung, keine Zusammenhänge; daran war natürlich das Fieber schuld. Wenn ich wieder gesund war, würde alles so sein wie zuvor, ich würde wieder ein normaler Mensch sein, ein junger Schriftsteller, der in die Berge fuhr, um in Ruhe sein neues Buch schreiben zu können. Gegen Mittag brachte die junge Frau – es war die Etagenaufsicht der Stubenmädchen – meine Sachen. Sie hatte, außer den Dingen, die ich ihr aufgetragen hatte, auch noch zwei warme Pullover, eine Wollmütze und Wollhandschuhe gekauft. Ich dankte ihr und sagte, sie solle sich für den Rest des Geldes irgend etwas kaufen, wonach ihr gerade der Sinn stand. Sie lachte. »Vielen Dank, Mister, mein kleiner Sohn hat in drei Tagen Geburtstag, und er wünscht sich einen Roller.« »Reicht das denn? Ich habe keine Ahnung, was so ein Ding kosten könnte!« »Vielen Dank, ja, das reicht. Wie fühlen Sie sich denn? Was wünschen Sie sich zum Mittagessen?« »Mittagessen? Ich bin gar nicht hungrig, nur Durst habe ich. Was meinen Sie?« »Ich werde Ihnen etwas ganz Leichtes bringen. Und ein paar Flaschen Fruchtsaft, Vitamine können nicht schaden. Aber sollte ich nicht vielleicht doch einen Arzt anrufen? Sie sehen so fiebrig aus!« »Nein danke, mein Fieber ist nicht der Rede wert. Nur ein bißchen erhöhte Temperatur. In zwei Tagen ist alles vergessen, vielen Dank jedenfalls!« Kurz darauf brachte sie gemeinsam mit dem Zimmerkellner ein Bettischchen, Hühnersuppe, Eischaum und ein Gebäck sowie einen übervollen Obstteller. Mehrere Flaschen verschiedener Fruchtsäfte folgten.
Als die beiden gegangen waren, versuchte ich etwas zu essen, aber ich brachte nur mit Mühe ein paar Löffel Suppe hinunter. Ich fühlte, wie das Fieber stieg, das Zimmer schien von rosigen Nebeln erfüllt, und die Spinnen im Tapetenmuster tanzten. Ich schlief wieder ein und erneut träumte ich von dem langen, langen Fernrohr; ich hatte einen Apparat konstruiert und versuchte nun, das Rohr daran zu befestigen; wenn schon die Spinnen durch das Rohr kamen, sollten sie wenigstens in den Apparat kriechen, nicht auf mein Auge zu… Da war auch der Zimmerkellner, der schmuddelige aus dem ersten Hotel; er goß Fruchtsaft in den Apparat und sagte, das sei sehr gesund, wegen der Vitamine… Ich lag in der Wüste, bis zum Hals eingegraben in den honiggelben Sand, die Sonne glühte auf mich herunter, nirgends war Schatten, nur hinter meinem Apparat… ich mußte versuchen, in den Schatten zu kriechen, aber ich konnte mich nicht bewegen, der Sand auf mir war so schwer… Mit einem Schrei erwachte ich, stieß die Decken von mir und saß schwer atmend im Bett. Mein Puls jagte und peitschte das Blut durch die Adern. Eine kühle Dusche, das war’s, was ich brauchte! Wenn mich nur meine Beine trugen… Als ich wieder zu mir kam – ich hatte das Gefühl, als seien Jahre vergangen – war mir relativ wohl, meine Gedanken schienen wieder klar zu sein. Ein Fremder saß an meinem Bett, eine Hand an meinem Puls, in der anderen eine altmodische Taschenuhr. Ein Arzt! Ich wußte es sofort, obwohl ich noch nie einen zu Gesicht bekommen hatte. Im selben Augenblick war ich erfüllt von Angst und Schrecken. Was war geschehen? Wieso hatte jemand einen Arzt geholt? »Na, na, alles mit der Ruhe!« Eine warme, gute Stimme. Ein älterer Mann, bärtig, mit ledriger Haut und struppigen Brauen über vergnügt blinzelnden Äuglein. »Da sind wir ja wieder. Und alles ist in Ordnung, nur keine Aufregung, alles wird wieder gut!« »Was ist… wieso…«, stammelte ich mit krächzender Stimme. »Bin ich krank?« »Kann man wohl sagen. Eine Grippe von der saftigsten Art! Wann
hatten Sie denn zuletzt eine?« »Weiß nicht. Noch nie, glaub ich.« »So so. Na ja, das sind diese Impfungen, ich kenn das ja. Aber wenn’s einen dann mal erwischt, dann haut’s einen um. Ein modifiziertes Virus, das lacht bloß über den Impfstoff. Wir erwischen es kla-rerweise auch – aber dann ist schon wieder ein neues da. Nun, ich hab Ihnen eine Spritze gege-ben. Morgen und übermorgen kriegen Sie noch mal eine und dann ist alles vorbei. Und jetzt schlafen Sie schön! Und morgen zum Frühstück essen Sie brav, was man Ihnen bringt. Sie müssen doch bei Kräften bleiben!« Ich schlief lang, tief und traumlos. Ich aß Haferbrei und Weizenkeimlingsbrot und einen geriebenen rohen Apfel. Und schlief wieder. Und aß Hühnersuppe, einen Getreidebrei und Kompott. Ich bekam eine Spritze. Ich trank Tee und aß Biskuit und Orangen und schlief wieder ein. Ich begann mich wieder wohl zu fühlen; noch waren meine Glieder schwer, und ich war sehr müde und schwach, aber nichts tat mir mehr weh, und keine Träume quälten mich. Als der Arzt mir die dritte Spritze verabreicht hatte, sagte er munter: »So, und jetzt setzen wir uns mal auf, ich möchte Sie abhorchen!« Wieder durchfuhr mich der Schrecken. Nein, das nicht! Keine Untersuchung! »Ach bitte, nicht heute schon, ich bin noch so schwach, lassen Sie mich doch liegen und schlafen. Ich fühle mich schon sehr gut, mir fehlt nichts mehr, nur müde bin ich. Bitte!« Der Arzt sah mich kopfschüttelnd an. »Was haben Sie denn? Eine Untersuchung tut doch nicht weh! Aber ich hab Sie damals, als Sie Frau Stevens auf dem Boden liegend fand, nur sehr oberflächlich untersuchen können und, das muß ich Ihnen ganz offen sagen, mir hat an Ihnen einiges nicht gefallen! Sie sollten sich überhaupt einmal in einer Klinik ordentlich durchuntersuchen lassen! Ich, mit der lächerlichen Ausrüstung hier«, er klopfte auf die Tasche, die neben ihm am Boden stand, »ich kann nicht viel sagen. Nur soviel, daß Sie nicht in Ordnung sind.«
Ich nickte. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich werde mich einmal gründlich untersuchen lassen. Aber nicht jetzt, nicht, solange ich mich noch so schwach fühle!« »Meine Untersuchung dauert doch nur ein paar Minuten, kommen Sie schon!« »Nein, nicht heute. Es kostet mich zu viel Anstrengung. Sagen wir morgen oder übermorgen, einverstanden?« »Das bedeutet noch einen Besuch; ich bin zwar der Hotelarzt, aber eine Visite kostet immerhin 35 bei mir!« »Das ist schon in Ordnung. Sagen wir also übermorgen um dieselbe Zeit, ja? Bis dahin habe ich mich schon soweit erholt, daß es mir nichts mehr ausmacht. Einverstanden?« »Des Patienten Wille ist sein Himmelreich!« Kopfschüttelnd packte er seine Sachen zusammen. »Also dann erholen Sie sich gut! Und trinken Sie reichlich. Sie haben viel Flüssigkeit ausgeschwitzt, das muß ergänzt werden.« Im Hinausgehen winkte er mir zu. Lebe wohl, sagte ich in Gedanken. Lebe wohl, wir sehen uns bestimmt nie mehr wieder! Den folgenden Tag verschlief ich größtenteils; ich hatte wieder Appetit und aß alles, was mir Frau Stevens brachte. Sie hatte offenbar vom Arzt Anweisungen erhalten, denn ich bekam eine Art Schonkost, keine Steaks, keinen gebratenen Speck, dafür aber zarte Hähnchen und wunderbare Filets von frisch gefangenen Fischen. Am Morgen des zweiten Tages war ich bereits angezogen, als sie mir das Frühstück brachte. »Das ging aber rasch!« begrüßte sie mich. »Fühlen Sie sich denn schon wieder so gut? Sie dürfen aber keinesfalls ausgehen, nicht bei dem Wetter!« »Nein, nein«, log ich. »Aber ich habe keinen Schlafrock und möchte doch im Zimmer ein bißchen Bewegung machen. Also hab ich mich angezogen.« Schade, ich hätte mich gerne von ihr verabschiedet, sie war so nett und hilfsbereit gewesen. Nach dem Frühstück zog ich einen Pullover und den warmen Mantel an, verstaute den Rest meiner neuen Kleider in einem Plastiksack und verließ das Zimmer. In der Nische vor der Tür wartete ich, bis der Lift zufällig in meinem Stockwerk hielt. Eine dicke Frau mit allerlei Päckchen beladen stieg aus. Ich stieg
ein. Niemand vom Personal hatte mich gesehen, das war die Hauptsache. Meine Rechnung, die ich schon vor dem Frühstück telefonisch bestellt hatte, war fertig. Ich vergewisserte mich, daß auch die Arztkosten enthalten waren, und zahlte. Für Frau Stevens hinterließ ich einen Umschlag mit einem reichlichen Trinkgeld und einer Karte, auf der ich mich bedankt und ihr alles Gute gewünscht hatte. Ich teilte ihr auch mit, ich hätte eben eine Nachricht von einem Todesfall in der Familie erhalten und müsse augenblicklich aufbrechen. Das vom Portier bestellte Taxi wartete bereits. Und damit war ich wieder unterwegs. Und nicht als Schriftsteller, der um zu arbeiten in die Berge fuhr, das mußte ich mir immer wieder vorsagen, ich war kein freier Mensch, ich war R 14, ein Spion auf der Flucht! Doch ich fürchtete mich nicht mehr vor Verfolgern, niemand hatte sich gezeigt, man hatte gewiß meine Spur verloren, suchte mich vielleicht, wenn überhaupt, in New York. Vor einem Reisebüro verließ ich das Taxi. Ich erkundigte mich nach der besten und raschesten Verbindung nach Three Forks. Die Dame am Schalter mußte erst nachsehen, wo der Ort mit dem komischen Namen lag. Dann sagte sie, indem sie flink mit dem Finger über einen Flugplan huschte: »Um elf Uhr dreißig geht ein Maschinchen nach Missoula. Von dort aus weiter per Bahn. Soll ich den Flug gleich buchen?« »Das sind dann ja noch immer knappe 300 km mit der Bahn, gibt’s denn keinen Flugplatz in der Nähe?« »Nicht dort, wo die Füchse Gute Nacht sagen! Three Forks liegt am Ende der Welt, da muß man schon für die Eisenbahn dankbar sein!« Ergeben nickte ich. »Also gut, buchen Sie!« »Ein Retourbillet, nicht wahr?« »Nein, einfach bitte. Ich weiß noch nicht, wie und wann ich zurückfahre.« Ich sah es ihr an, sie wunderte sich, daß ein Mensch ans Ende der Welt fahren konnte und wenn schon, daß er dann nicht augenblicklich wieder kehrtmachte.
Doch Three Forks war keineswegs das verschlafene Nest, als das ich’s mir vorgestellt hatte. Flug und Bahnfahrt waren ereignislos verlaufen; ich fühlte mich noch immer sehr schwach und schlief viel. Das Wetter hatte sich gebessert. In Seattle hatte es bei meinem Abflug gegossen – ob noch immer oder schon wieder, konnte ich nicht sagen. In Missoula war es bewölkt und windig gewesen, und hier schien nun eine milde Herbstsonne, die Laubbäume begannen sich ein wenig zu verfärben, die Bergwiesen leuchteten golden. Ein Taxi brachte mich nach Blue Springs. Der Ort bestand nur aus drei Hotels, etlichen Fremdenpensionen und mehreren Farmhäusern, die in der Landschaft verstreut waren. Die Kusine meines Freundes Burton begrüßte mich wie einen alten Bekannten. »Ach da sind Sie ja endlich Mister Baker. Burdie hat mir schon ‘ne Menge von Ihnen erzählt. Erst gestern hat er wieder angerufen, ich glaub, er hat sich schon gewundert, wo Sie steckten! Ihre Koffer sind schon vor ‘ner Woche gekommen. Burdie hat sie aber auch per Expreß aufgegeben, wissen Sie, das ist schon sicherer, die normale Post ist manchmal recht schläfrig, und ich glaub, es wird da auch alles mehr rumgeschmissen, oft kommt etwas ganz zerfleddert an…« Sie redete ununterbrochen, während sie mich hinaufführte und mir das Zimmer zeigte. Und sie sagte immer ›Burdie‹, ganz weich, es klang, als spräche sie von einer Angorakatze. Ich kam kaum zu Wort. Als sie hörte, ich sei von einer Grippe unterwegs aufgehalten worden, erzählte sie mir augenblicklich von einer Grippe, die sie vor zwei Jahren gehabt hatte, von der Grippe, die einer Bekannten fast das Leben gekostet hatte, von dem Arzt, der hier einmal die Woche in einem Bus ordinierte, von der gesunden Luft in den Bergen, von dem Klima, das, vom Winter abgesehen, sehr mild war, von Ozon und Vitaminen und zehntausend anderen Dingen. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine derart redselige Person kennengelernt. Ich konnte sie nur dadurch loswerden, indem ich sagte, ich sei von der Fahrt sehr ermüdet, von der Grippe wohl auch noch geschwächt, und ich müsse jetzt unbedingt ruhen. Das war nicht einmal gelogen. Ich fühlte mich wirklich noch immer sehr schwach und wäre am liebsten ins Bett gekrochen. Allein, ich
mußte erst auspacken. Miß Hamilton, so hieß meine Wirtin, hatte mich als ›Mister Baker‹ begrüßt; das ließ mich hoffen, daß Burton für mich Papiere besorgt hatte, die auf Baker lauteten. Hoffentlich hatte er sie meinem Gepäck beigelegt. Ich schnürte ein Paket auf, in dem sich meine Umhängtasche befand; den Inhalt schüttete ich auf den Boden und wühlte alles durch. Nichts. Jetzt der Koffer – ich verfuhr ähnlich, kippte den Inhalt auf den Teppich und durchsuchte ihn. Wieder nichts. Natürlich, Burton würde falsche Papiere doch nicht einfach obenauf legen! Tatsächlich, da war etwas unter dem Kofferfutter, mit dem Boden so verklebt, daß man es fast nicht spürte. Ich riß das Futter auf und zog ein flaches Couvert heraus. Ein Brief von Burt, und ein Reisepaß! Ein Paß mit meinem Bild auf den Namen Benjamin Baker ausgestellt. Ausgerechnet Benjamin! Na, egal. Dann entfaltete ich den mit Maschine eng beschriebenen Brief. Er lautete: Lieber Chip, geb’s Gott, daß Dich das alles heil und wohlauf erreicht, ich bin gar nicht sicher, ob es uns gelang, Deine Sachen unbemerkt aus dem Haus zu schmuggeln. Das mit dem Taxi und dem Portier war ja eine Schnapsidee; eine Freundin von Jackie hat’s rausgebracht und aufgegeben. Hier ist der Teufel los. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie man hinter Dir her ist. Seit Deinem Verschwinden sind alle überzeugt, daß Du bei dem Diebstahl die Hand im Spiele hattest. Hattest Du? Ich hoffe nicht. Ja, man hat in der Militärischen Forschungsstation eingebrochen und Formeln und Pläne entwendet, wovon, weiß ich nicht. Das war noch vor meiner Verhaftung – daher also die ganze Aufregung. Ich glaube, man verdächtigt Dich nicht des Einbruches selbst (Du wurdest damals schon beschattet), aber man nimmt an. Du bist ein Mittelsmann oder der Auftraggeber selbst, und die Pläne sollen außer Landes gebracht werden, von Dir oder einem anderen. Bitte, laß es mich irgendwie wissen, ob Du damit etwas zu tun hast! Und ob es Dir gut geht – ich wage
nicht mehr, bei Büri (Miß Hamilton) anzurufen. Erstens sind die Anrufe bei ihr immer schrecklich teuer, weil sie ja kein Ende finden kann, und dann weiß ich nicht, ob mein Telefon sauber ist. Bislang habe ich vom Apparat von Jackies Freundin angerufen, aber auch das wage ich nicht mehr, ich möchte nicht noch jemanden hineinziehen. Erinnerst Du Dich an jene Person, die wir im Drugstore trafen, als wir uns wegen dem Bier beschwerten? Vielleicht schreibst Du ihr mal. Ja, man hat uns nach Deinem Verschwinden verhört, Jackie und mich. Ein Segen, daß wir die Nacht in großer Gesellschaft zugebracht hatten und also reichlich Zeugen für unsere Abwesenheit beibringen konnten. Man hat ja angenommen, Du hättest das Haus bereits in der Nacht verlassen. Klar, niemand konnte annehmen, daß Du in einer knappen Minute angezogen und verduftet sein konntest. Und der Kerl, der unten den alten Blister bewachen sollte, behauptete, ihn nicht aus den Augen gelassen zu haben. Das mußte er wohl sagen, sonst hätte man ihn gefeuert. Blister erzählte mir aber, er hätte die hübschen Mädchen auf den Titelseiten der Magazine betrachtet, am Kiosk; Du weißt schon. So weit, so gut. Noch am Vormittag Deiner Abreise kam Jackies Freundin und holte Dein Gepäck ab. Sie behielt es bei sich, bis ich den Paß hatte; wir fürchteten ja, man würde meine Wohnung durchsuchen, doch dem war nicht so. Sie suchten nur nach Deiner Person, nicht nach Deinem Gepäck. Wer nimmt aber auch bei einer Flucht Gepäck mit? Ich verstehe nicht mal ganz, warum Du es getan hast, höchstens, daß sich Bibi gewundert hätte, wenn Du nur mit einer Tasche in der Hand gekommen wärst. Bei Bibi mußt Du übrigens vorsichtig sein. Sie redet entsetzlich viel und ist auch neugierig, schließlich ist sie ja immerzu auf Suche nach Gesprächsstoff. Du darfst auch nichts im Zimmer liegen lassen, was sie nicht sehen soll – sie sieht einfach alles Und beim Anblick eines Kärtchens, wie Du eines hier auf dem Schreibtisch hattest, würde sie glatt aus den Latschen fallen. Aber sonst ist sie eine gute Seele; Du kannst von ihr fast alles
haben. Leb wohl, ich werde versuchen, mit Dir in Verbindung zu bleiben. Und halte die Augen offen! Ich hoffe sehr, die Aufregung hier wird sich bald einmal legen. Trotzdem, riskiere nichts und telefoniere nicht von zu Hause. Bibi hört mit, nur so, aus Interesse! Es folgten mit schwer leserlicher Handschrift gekritzelte Grüße und die Unterschrift. Ich verbrannte den Brief sofort und spülte die Asche im WC hinunter. Den Paß legte ich auf den Schreibtisch, die echten Papiere verbarg ich sorgfältig in der Reiseapotheke. Dann duschte ich ausgiebig und warf mich aufs Bett. Minuten später war ich eingeschlafen. Als ich erwachte, dunkelte es bereits. Aber ich fühlte mich frischer, fast wieder so wohl wie einst in meinem gemütlichen Heim in Bensville. Ich duschte noch einmal, zog frische Wäsche an und holte meine echten Papiere wieder hervor. Die mußte ich als erstes loswerden – aber so, daß ich sie wiederbekam! Wenn Miß Hamilton wirklich so neugierig war, konnte ich sie keinesfalls hier im Zimmer lassen, aber wo sonst? Ich steckte sie einstweilen zu mir und beschloß, noch einen Abendspaziergang zu machen. Auf alle Fälle war es wichtig, die Umgebung zu erkunden. Jetzt war es kühler geworden, ich vertrug den warmen Mantel, den mir Frau Stevens gekauft hatte, sehr gut. Morgen mußte ich mir feste Schuhe besorgen, die leichten, die ich jetzt trug, waren für Wanderungen nicht geeignet. Auch andere Hosen wollte ich mir kaufen, derbe Strümpfe und ein kariertes Hemd und vielleicht einen Anorak. Ich ging ziellos durch den kleinen Ort, der sich, so schien es zumindest, schon anschickte, einzuschlafen. Alle Läden waren geschlossen, in den nur sparsam erhellten Cafes saßen die wenigen Gäste lustlos vor den Marmortischchen und rührten in ihren Tassen oder lasen Zeitung. Ein kühler Wind strich durch die Gassen und spielte mit den ersten welken Blättern. Ich entdeckte eine Art Plakatwand mit einer großen, schauerlich bunten Landkarte der Umgebung. Es war aber nicht eine Karte im
üblichen Sinn; in dem himmelblauen Flüßchen schwammen riesige Fische, da und dort standen Kirchen, auf den Wiesen Kühe und am Waldrand muntere Rehlein. Die Berge trugen weiße Gipfel, das Weiß war nach unten durch einen gezackten Rand abgeschlossen. Noch nie hatte ich etwas derart Lächerliches gesehen. Doch es bot natürlich auch Information. Die Wege waren eingezeichnet, je nach der Markierung in bunten Streifen, Punkten oder Kreuzen. Ein rot punktiertes Weglein schien in die Berge zu führen… entsetzt las ich die Höhenangaben, bis mir einfiel, daß man hier, ›am Ende der Welt‹, wohl noch die im vorigen Jahrhundert üblichen Fußeinheiten benützte. Ein Waldstreifen reichte von einem Ende der Tafel bis zum anderen. Wenn man der Karte Glauben schenken durfte, war er reichlich mit Wild bevölkert. Nun, morgen würde ich mir eine gute Wanderkarte besorgen. Als ich in die Pension zurückkehrte, sah ich, daß das Abendessen bereits aufgetragen wurde. Aß man denn hier schon so entsetzlich früh? Bei meinem Anblick ließ Miß Hamilton alles liegen und stehen, zog mich in das Eßzimmer und stellte mich den anderen Gästen vor. Sechzehn Personen, darunter zwei Kinder. Ich ließ es über mich ergehen wie ein Regenwetter. Das Essen war, wider Erwarten, durchaus genießbar, der Nachtisch sogar köstlich. Ich lobte es und ließ der Köchin ein Trinkgeld schicken, auch das Serviermädchen bekam, etwas. Damit hatte ich mir bereits zwei Freundinnen in diesem Hause geschaffen. Das weitere Personal bestand aus einem alten Hausdiener, der hinkte (er war in Vietnam gewesen, erzählte mir Miß Hamilton, die übrigens vom Personal respektlos Hami genannt wurde), einem Küchenmädchen und einer Frau mittleren Alters, die aufräumte, die Wasch- und Bügelautomaten bediente und sich um den Gemüsegarten kümmerte. Ich beschloß, mir nach und nach die gesamte Belegschaft zu verpflichten, es war ja so einfach und man konnte nicht wissen, wozu es gut war. An diesem ersten Abend beteiligte ich mich nicht am gemeinsamen Fernsehen oder an der Kartenrunde. Ich ginge ins Bett, sagte ich; Hami würde wohl sogleich von meiner eben erst überstandenen
Krankheit berichten und auch sonst alles, was sie von mir wußte. Hoffentlich machte sie mit ihren Erzählungen nicht irgend jemand auf mich neugierig; da war doch eine Miß Kelvin gewesen, die hier auch einen Rekonvaleszenzurlaub verbrachte und die mich beim Essen immerfort angesehen hatte… Und auch der eine Junge, der mich gleich gefragt hatte, ob ich ein richtiger Schriftsteller sei… und ich hatte mir’s nicht verkneifen können, todernst zu sagen, nein, ein falscher… Ach verdammt. Wahrscheinlich war dieses Fremdenheim doch keine ganz so gute Idee gewesen! Am nächsten Morgen stand ich sehr zeitig auf und packte meinen Rucksack. Einen Teil des Geldes, warme Kleidung, den Regenmantel und die Campingausrüstung. Dann schlich ich in die Küche und begrüßte die freundliche Köchin mit Verschwörermiene. Ich wolle eine Wanderung machen, aber allein – ob sie mir wohl ein Lunchpaket richten könne? Sie lächelte. »Versteh schon, die Miß Kelvin hat Sie im Visier! Der Lehrer ist letzte Woche abgereist, mit dem ist sie immer in die Berge gezogen; und sonst sind ja nur ältere Leute hier, aus denen macht sie sich nichts.« Sie packte mir Essen für eine Woche ein. Als ich protestierte, ich wolle doch am Abend wieder zurück sein, meinte sie nur, die frische Luft mache hungrig, und ich sei ohnedies zu dünn. Ich frühstückte in der Küche, und als ich das Ehepaar Hopkins die Stiege herunterpoltern hörte, warf ich der Köchin eine Kußhand zu und machte mich durch den Kräutergarten davon. Sobald die Läden geöffnet hatten, besorgte ich mir Wanderkleidung, feste Schuhe und eine gute Karte. Die alte Kleidung ließ ich mir einpacken und ins Fremdenheim schicken. In einem Lebensmittelladen, auf dessen Eingangstür ein großes Schild prangte und ›Reiseproviant bester Qualität verkündete, kaufte ich allerlei Konserven, Zwieback, Kekse, Schokolade, Tee und Kaffee, Streichhölzer und Kerzen. Ich ließ mir alles in zwei großen Plastiksäcken verstauen, die ich außerhalb des Geschäftes in meinen Rucksack packte. Der war jetzt randvoll und ich konnte nur hoffen, keinen Bekannten zu begegnen, denn so bepackt würde mir niemand mehr glauben, daß ich nur eine Tagestour machen wollte.
Doch das Glück blieb mir treu, ich sah kein bekanntes Gesicht; bald hatte ich das Dörfchen hinter mir gelassen, vor mir lag der Waldgürtel, und jenseits ragten die Big Belt Mountains in das tiefe Blau des Herbstmorgens. Der würzige Duft des Bergthymians lag in der Luft, eine leichte Morgenbrise rauschte in den Nadelbäumen des nahen Waldes. Wo waren die Rehlein? Mit raschen Schritten und ruhigen, tiefen Atemzügen wanderte ich den überreich markierten Weg entlang und dachte an die vielen Wanderungen, die ich gemeinsam mit meinem Freund Burton in der Umgebung von Bensville gemacht hatte. Es kam mir vor, als hätte sich das alles in einem anderen Leben abgespielt, unsere Ausflüge, die angeregten Diskussionen, die Schachpartien – ja überhaupt meine Vergangenheit in Bensville. Jenseits des Waldes wand sich der Weg durch ein tief eingeschnittenes Tal, unmittelbar neben einem fast ausgetrockneten Bachbett. Hier mußte es lange nicht geregnet haben. Je höher ich kam, desto flacher wurde das Tal; es endete in einem von Felsbergen umschlossenen Kessel, auf dessen Almen Schafe weideten. Nun zog ich die Wanderkarte zu Rate. Ich suchte ein Gebiet, das nicht zu hoch liegen und von möglichst wenigen Wegen durchzogen sein sollte. Es gab mehrere solche, und mir blieb nichts übrig, als zumindest die nächstgelegenen drei zu erforschen. Leider mußte ich in jedem Fall mehr oder minder hohe Pässe überwinden, und so nahm meine Suche fast den ganzen Tag in Anspruch. Die Sonne stand schon tief, als ich endlich gefunden hatte, was ich wollte: einen bewaldeten Talkessel mit mehreren Ausgängen, doch weglos. Der Wald hatte noch nie Holzfäller gesehen, wahrscheinlich kam der Transport der Stämme zu teuer; also gab es umgestürzte Baumriesen und Fichtendickicht in jeder Menge. Ich packte nun alles, was ich nicht brauchte, in die beiden Plastiksäcke, alles an haltbaren Lebensmitteln, an warmer Kleidung und Campingzeug. Die Säcke versteckte ich im Dickicht, bedeckte alles mit Moos und machte mich in großer Eile auf den Heimweg. Trotzdem war es schon dunkel, als ich das Dörfchen erreichte, acht Uhr vorbei, das Abendessen längst vorüber.
Im Fernsehen schien ein Lustspiel gegeben zu werden, ich hörte die Gäste lachen. In der Küche rumorte Frau Ann (ihren ganzen Namen kannte ich noch nicht), wahrscheinlich räumte sie das Geschirr aus der Spülmaschine. Ich schlich nach oben, warf meinen nahezu leeren Rucksack ins Zimmer, dann erst ging ich in die Küche. »Guten Abend, Ann!« rief ich in der Tür. »Können Sie mir verzeihen? Ich hab mich schrecklich verspätet, aber der Sonnenuntergang war so herrlich, und der Heimweg dauerte dann länger als gedacht.« Sie machte ein böses Gesicht, aber so, daß man gleich wußte, sie meinte es nicht ernst. »Der verlorene Sohn, das hab ich gern! Das Kalb, das wir Ihnen zu Ehren geschlachtet haben, ist aufgegessen – von den anderen, wie Sie sich denken können. Für Sie hab ich da nur noch ein paar Knochen im Rohr!« Die ›Knochen‹, die sie mir warmgestellt hatte, entpuppten sich als saftiges Schulterstück mit Kartoffelpüree und jungen Erbsen. »Danke, Ann, Sie sind ein Engel! Wie recht Sie hatten, als Sie mir sagten, die Bergluft mache hungrig!« Sie deckte mir am Küchentisch, brachte auch noch Salat und einen Pudding, der allein drei Personen satt gemacht hätte; dann fragte sie, ob ich lieber Wein, Fruchtsaft oder Mineralwasser hätte. Ging’s mir nicht gut? Die ›Waldesruh‹ in Blue Springs war doch eine prima Idee gewesen. Ich aß alles auf; kein Wunder, hatte ich mir doch mittags kaum Zeit genommen, ein paar Bissen im Gehen zu mir zu nehmen. Aber das wußte die gute Ann natürlich nicht, sie nahm wohl an, ich hätte auch noch all das aufgegessen, was sie mir am Morgen eingepackt hatte. Nach dem Essen plauderte ich mit Ann, bis drüben das Fernsehstück aus war, und Miß Hamilton in die Küche kam. Sie begrüßte mich, als sei ich wochenlang weg gewesen; erst nach einigen Minuten gelang es mir, ihren Redefluß zu unterbrechen und von meiner Bergtour zu berichten, von dem wunderbaren Sonnenuntergang… Ich sagte auch, beim Wandern kämen mir die besten Ideen für mein Buch, die Bergeinsamkeit rege meine Phantasie vorteilhaft an… (Dies in der Hoffnung, sie würde natürlich
alles den anderen Gästen wieder erzählen, und das würde dann vielleicht Miß Kelvin davon abbringen, mich begleiten zu wollen.) Endlich wieder in meinem Zimmer, schrieb ich an Burton. Lieber Burdie! Ich hoffe, Du weißt, daß das in diesem Hause Dein Name ist. Alles ist bestens, das Gepäck habe ich gut und vollständig erhalten. Deine Idee war ausgezeichnet. Leider hatte ich eine schwere Grippe unterwegs, in einer Stadt im Nordwesten. Das war das einzige Unglück, das mir auf meiner langen Reise zustieß. Was die Ursache all der Aufregungen daheim betrifft, so kann ich Dir versichern, daß ich nichts, absolut nichts damit zu tun habe. Ich kann es nicht beweisen, ich kann Dir nur mein Wort geben. Ich lege diesem Schreiben 500 bei und bitte Dich sehr, mir noch einmal so etwas zu besorgen und es nach Livingston zu senden, postlagernd. Nur vorbeugend, für alle Fälle, falls Mister Baker nicht sicher ist. Hier ist alles so friedlich, es geht mir wunderbar, und ich beginne, übermütig zu werden. Das sollte ich wohl nicht und, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, beuge ich vor. Ich kann nur hoffen, daß der Spuk bald einmal vorüber sein wird – ich hoffe es, kann aber nicht daran glauben. Grüße Jackie von mir. Und, unbekannterweise, auch ihre Freundin. Lebe wohl, alter Junge, und freue Dich alle Tage, daß Du nicht in meiner Haut steckst. Ben Ich legte das Geld bei und verschloß den Brief. Ich adressierte ihn an unsere gemeinsame Bekannte, eine alte Dame, die früher einmal für eine Zeitung geschrieben hatte und deshalb mit Burt bekannt war. Der nächste Morgen war wiederum wolkenlos und relativ warm; ich frühstückte gemeinsam mit den anderen, ließ mir aber für das Mittagessen wieder ein Lunchpaket richten. Ich hatte allen erzählt, ich arbeite an dem Entwurf für einen neuen Roman, und so ließ man mich in Frieden. Diesmal fuhr ich mit dem Bus nach Livingston, übrigens eine lange
und ermüdende Fahrt auf schmalen Straßen, die sich durch die Berge winden. In Livingston gab ich den Brief auf und erkundigte mich wegen postlagernder Sendungen; ich erfuhr, daß solche, wenn sie nicht binnen 14 Tagen abgeholt würden, an den Absender zurückgingen. Ein Zehner überzeugte den Beamten, daß man im Falle eines Mister Baker eine Ausnahme machen konnte. Er versprach, falls ein Brief für mich käme, diesen aufzuheben, bis ich ihn holte, egal, wie lang es dauerte. Dann kaufte ich noch zwei warme Decken und einen Metakocher, ein winziges Ding, mit Trockenspiritus zu betreiben. Das alles brachte ich wieder in meinem Rucksack unter. Auf einer Bank in der Sonne verzehrte ich einen Teil der Sachen, die mir Ann mitgegeben hatte, kalten Braten, Toast und Obst. Dann begab ich mich wieder zur Busstation und wartete auf eine Möglichkeit zur Heimfahrt. Diesmal kam ich schon am Nachmittag wieder in Blue Springs an, konnte gemeinsam mit den anderen den Tee zu mir nehmen und natürlich auch das Abendessen. Man fragte mich, wie es mit dem Buch vorwärts ginge, und ich erwiderte, ich sei ja noch in den Anfängen, aber der Entwurf mache gute Fortschritte. Am folgenden Tag stand ich wieder sehr früh auf und ging diesmal direkt zu meinem Versteck. Unter einem gestürzten Baum, einer breitkronigen Föhre, richtete ich mir ein Lager aus Fichtenreisig und Moos und überdachte es mit Rindenstücken. Meine Vorräte, die Decken und die Campingausrüstung verbarg ich an anderer Stelle. Der Weg hierher hatte mich bei gutem Marschtempo drei und eine halbe Stunde gekostet. Sollte ich einmal fliehen müssen, würde ich es auch in knappen drei Stunden schaffen, vorausgesetzt, es war nicht stockdunkle Nacht. Da ich noch Zeit hatte, erforschte ich die drei anderen Ausgänge dieses Kessels. Der eine, nördliche, war ein gut gebahnter Wildwechsel, der über einen kleinen Paß in einer höher gelegenen, nur von Legföhren bestandenen Trichter führte, von dem aus es nicht weiter ging. Blieben also die beiden anderen Ausgänge, nach Ost und Ostsüdost, zwei steinige Pässe, die nur durch einen schmalen, steilen Felsrücken getrennt waren. Jenseits des letzteren entsprang in einer
grasigen Mulde ein Rinnsal, ein handbreites Bächlein, das jenseits dieser langgestreckten Senke in einer Schlucht verschwand. Ich dachte mir, wo das Wasser seinen Weg findet, werde wohl auch ich durchkommen; gleichzeitig beschloß ich, ein Seil zu kaufen, sobald ich Gelegenheit dazu fand. Der Weg über den mittleren Paß erwies sich als Kletterei, mühsam, aber nicht unmöglich. An diesem Abend war ich wiederum zeitgerecht in der Pension, so daß ich am gemeinsamen Abendessen teilnehmen konnte. Ich schlief herrlich in dem Bewußtsein, nun alles vorbereitet zu haben, sollten, wider Erwarten, meine Gegner doch noch auftauchen. Die nächsten Tage verbrachte ich wiederum in den Bergen, allerdings ganz woanders, viel weiter im Norden. Ich gab mir Mühe, von Hirten und anderen Wanderern gesehen zu werden, benahm mich mitunter auffällig und ›legte eine Spur‹ nach Norden. Das Wetter war noch immer traumhaft, die Tage warm, die Nächte allerdings manchmal schon empfindlich kühl. Doch das machte mir in meinem warmen Bett ja nichts aus. Einmal rief auch Burton an – ich wagte nicht zu fragen, von wo aus. Er hatte eine Zeit gewählt, wo er wußte, daß seine Kusine wegen Besorgungen außer Haus war; Ann hatte abgehoben und mich dann an den Apparat gerufen. Er faßte sich sehr kurz: »Hab deinen Brief erhalten, morgen schicke ich das Verlangte ab. Fühle dich nicht zu sicher, das hier ist eine ernste Sache, und sie geben nicht auf. Ich laß wieder von mir hören. Bei dir was Neues?« Ich antwortete ebenso kurz: »Nichts Neues, alles okay. Hab vielen Dank für alles!« Damit legte ich auf. Zwei Tage waren mir noch vergönnt, zwei wunderbare, wolkenlose Tage. Ich verbrachte sie wie stets in den Bergen. Als ich am späten Nachmittag des zweiten Tages vor den Waldrand trat und zum Dörfchen hinunterblickte, sah ich sofort, daß etwas nicht stimmte. Zwei gleichartige, dunkelgraue Ford-Limousinen standen vor der Pension, vor und hinter dem Haus ein Polizist in Uniform, einige weitere in Zivil umstanden eine große, grauhaarige Person, es mußte Hami sein. Sie redete (vermutlich) wie ein Wasserfall, immer wieder deutete sie in die Berge.
Ich stand starr wie ein Stück Holz und beobachtete das Treiben vor dem Haus. Endlich gingen die Männer in Zivil hinein, die Uniformierten blieben, wo sie waren. Ich zog mich ins Innere des Waldes zurück. Hatte ich etwas im Zimmer zurückgelassen, was mich verraten konnte? Nein. Und etwas, was ich unbedingt brauchte? Auch nicht. Mein Seil, die Apotheke, Wasch- und Rasierzeug, mein falscher Paß, das restliche Geld, die neue Taschenlampe… Ich ging alles in Gedanken durch und fand, mir sei kein Fehler unterlaufen. Dafür hatten meine Gegner Fehler gemacht! Schon dadurch, daß sie ›während der Amtsstunden‹ versucht hatten, mich zu überrumpeln und auch dadurch, daß sie hier so auffällig ankamen, anstatt das Haus von einem Beamten, der mich kannte, erst beobachten zu lassen. (Ich erfuhr später, daß ich meine Freiheit in der Tat nur dem Übereifer der Beamten in Three Forks zu verdanken hatte, die dem FBI beweisen wollten, wie tüchtig sie waren. Mein Fall war ja mittlerweile auch ein FBI-Fall geworden, hatte ich doch mehrfach Grenzen überschritten.) Ich war schon spät dran, wollte ich noch vor Einbruch der Dunkelheit mein Versteck erreichen, zumal wenn ich Umwege machte. Doch auf diese wollte ich nicht verzichten, schon weil der Weg nach Norden unmittelbar an einem Farmhaus vorbeiführte, wo man mich mittlerweile kannte. Ich erreichte das Farmhaus nach einem etwa halbstündigen Marsch; als ich sicher war, daß mich zumindest zwei Personen von weitem gesehen hatten, begann ich, mich auffällig zu verbergen, umging das Haus in einem Bogen, hinter Zäunen Deckung suchend. Dann hastete ich weiter nach Norden, sicher, daß alle mir nachstarrten und sich wunderten, was ich da oben trieb. Der Umweg hatte länger gedauert, als ich erwartet hatte, obwohl ich, kaum außer Sicht der Bauersleute, mich nach Südost wandte und mit raschen Schritten meinem Versteck zustrebte. Von hier aus mochte es noch gut drei Stunden dauern, bis dahin aber war es stockdunkel. Der Mond war im Abnehmen und würde erst gegen Mitternacht aufgehen. Sollte ich es wagen, das letzte Stück im blassen Sternenschein, bei vorsichtiger Benützung meiner Taschenlampe zurückzulegen? Kommt Zeit, kommt Rat. Ich marschierte so rasch es ging, weglos,
aber trotzdem nicht unbequem, solange ich noch Almgras unter den Füßen hatte. Zweimal mußte ich eine Schafherde umgehen, hoffend, daß mich der Hirte nicht gesehen hatte. Das bedeutete hier im offenen Gelände jedesmal einen weiten Umweg. Zum Glück kannte ich mich inzwischen gut aus in der Gegend, jede Kleinigkeit konnte ich zu meinem Vorteil nützen. Mein Auge hatte Zeit, sich an die langsam einbrechende Dunkelheit zu gewöhnen, und so kam ich relativ weit, bevor es tatsächlich finster wurde. Ich war nun westlich meines Versteckes, auf der dem Dorf zugewandten Seite; hier mußte ich einen Wald durchqueren, der nahezu undurchdringlich war, gelang es einem nicht, einen Wildwechsel zu finden. Jetzt in der Nacht war das pure Glückssache. Die Taschenlampe wagte ich nicht zu benützen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein anderer Mensch in der Nähe aufhielt, praktisch gleich Null war. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Mond kam. Unter einer uralten Tanne, deren Zweige bis auf den Boden herabhingen, machte ich mir ein Lager aus Moos. Die Reste des mir von Ann mitgegebenen Lunchpaketes waren mein Abendessen. Bald war ich eingeschlafen. Die Kälte weckte mich; es war gegen fünf Uhr morgens, vom Mond nichts zu sehen, kein Wunder hier unter dem dichten Gezweig. Zähneklappernd und steif kroch ich aus dem Nest; alles war naß vom Tau, eine bleiche Dämmerung zeigte mir, wo Osten war. Noch immer frierend begann ich nach einem Wildwechsel in passender Richtung zu suchen, doch erst als es etwas heller wurde, hatte ich Glück. Kurz nach sieben hatte ich mein Versteck erreicht, nachdem ich den kahlen Höhenrücken, der zwischen ihm und dem Wald lag, in dem ich die Nacht verbracht hatte, mit großer Vorsicht überquert und alle Spuren verwischt hatte. Als erstes bereitete ich mir einen heißen Kaffee mit Kondensmilch und aß ein paar Scheiben Zwieback dazu. Die guten Zeiten in Anns Küche lagen weit, unerreichbar weit hinter mir. Dann begann ich mich einzurichten. Ich holte die Plastiksäcke, richtete mir ein bequemes und vor allem warmes Lager mit Schlafsack und Decken und baute mir vor meiner Rindenhütte eine
Feuerstelle. Kochen wollte ich nur nachts, wenn man den aufsteigenden Rauch nicht sah, früh und mittags wollte ich mir nur etwas auf dem Metakocher wärmen. Ich plante, hier in dem Versteck mindestens eine Woche, wenn das Essen reichte, auch zehn Tage zu verbringen, bis meine Gegner die erfolglose Suche nach mir aufgegeben hatten. Dennoch wollte ich mich auch jetzt nicht zu sicher fühlen. Mein Rucksack mit dem Geld, einer Notration, dem Zelt und den hundert Kleinigkeiten, die ein moderner Mensch zum Leben brauchte, lag stets griffbereit neben mir. Ich brauchte nur den Schlafsack, eine dünne Decke und den Metakocher einzupacken und war marschbereit. Ich übte das Packen so lange, bis ich es in zwölf Sekunden schaffte. Ich hatte ja nichts zu tun außer zu schlafen, zu essen und Brennholz herbeizuschaffen. Am vierten Tag hörte ich einen Hubschrauber; am fünften Tag sah ich ihn. Er kreiste über dem Wäldchen, in dem ich lag, der Wind der Rotorblätter peitschte die Baumwipfel. Man konnte mich nicht gesehen haben, doch nahm ich als sicher an, daß der Pilot dieses Walddickicht für ein ausgezeichnetes Versteck gehalten haben mußte. Wieviel Zeit blieb mir noch? Am späten Abend verließ ich mein Wäldchen und erstieg den nördlich davon gelegenen Berg, von dem aus ich einen weiten Rundblick hatte. Fern im Norden sah ich an mehreren Stellen Feuerschein. Lagerfeuer – also vermutlich Militär. Auch war mir, als hörte ich Hundegebell, doch das mochte Einbildung sein. Immerhin wußte ich genug. Es war eine sternklare Nacht und relativ hell, obwohl kein Mond schien. In großen Sprüngen lief ich den Berg hinunter, von einem Schotterkegel zum nächsten überwechselnd. Das machte zwar einen Heidenlärm, doch jetzt war’s mir egal. In meinem Versteck angekommen, packte ich. Die vielen Dinge, die ich hier lassen mußte, stopfte ich in die Plastiksäcke und verbarg diese unter den Zweigen, die Rinde, die mir als Dach gedient hatte, verbrannte ich im Feuerloch. Dann scharrte ich Erde und Nadeln darüber – wenn man nicht gründlich suchte, würde man nichts finden.
Nun überstreute ich alles mit Pfeffer, nicht umsonst hatte ich eine große Dose davon mitgenommen. Das mochte es den Hunden verleiden, hier genauer herumzuschnüffeln. Um Mitternacht war ich bereits unterwegs in Richtung Ostsüdost, wo ich jenseits des Passes das Bächlein wußte. Hoffentlich erwies sich die Klamm als begehbar! Jetzt bedauerte ich, daß ich mir nicht die Mühe genommen hatte, sie genauer zu erforschen. Doch, so hell die Sterne auch schienen, in der Schlucht war die Nacht pechschwarz, die nassen Felsen glitzerten gefährlich. Ich wagte es nicht, denn, brach ich mir ein Bein, war ich verloren; dann konnte ich nur noch hoffen, daß sie mich fanden! Also wartete ich bis die Dämmerung über die Gipfel kroch, und im fahlen Licht des Morgens stieg ich in die Klamm ein. Es ging besser, als ich befürchtet hatte, doch ohne das Seil war’s unmöglich gewesen. Ich kam nur langsam weiter und hatte noch nicht einmal die halbe Schlucht hinter mir, als die Sonne aufging; die Felszacken im Südosten griffen mit langen Schattenfingern in die rosigen Nebel, die noch über mir hingen. Sie lösten sich, wie mir schien, binnen weniger Minuten auf – und da hörte ich auch schon wieder den Hubschrauber und das vielfache Echo, das die Felsen zurückwarfen. Er mußte sehr tief fliegen und war wohl auch nicht mehr weit entfernt. Ich trachtete im Schatten zu bleiben und hielt, während ich hinabkletterte, nach einem Versteck Ausschau. Noch waren die Suchmannschaften zu weit im Norden, um, bei einigermaßen gründlichem Vorgehen, die Schlucht vor Einbruch der Nacht erreichen zu können; doch der Hubschrauber war gefährlich. Da war er auch schon! Mit ohrenbetäubendem Knattern schwebte er über der Schlucht, doch ein gutes Stück unterhalb meines Standorts; ich preßte mich in eine Felsspalte und verharrte bewegungslos. Ich sah, wie er langsam tiefer ging und dann, nach einer leichten Schwenkung nach Norden, den oberen Teil der Klamm inspizierte. Meine Spalte lag im violetten Dunkel, die gegenüberliegende Seite jedoch leuchtete rötlich – ich hoffte sehr, daß ich bei diesen Lichtverhältnissen
unsichtbar blieb. Endlich zog er nach Westen ab, wohl um das Wäldchen zu überfliegen, in dem mein Versteck gewesen war. Ich hastete weiter; dringend brauchte ich einen sicheren Platz, wo ich ungesehen den Tag verbringen konnte. Es gab zwar genug Nischen und Spalten, doch die einen waren zu flach, die anderen zu eng; eine kleine Höhle, die ich entdeckte, wäre ideal gewesen, doch das Wasser stand handhoch in ihr und von Decke und Wänden tropfte es. Also weiter! Hoffentlich kam der Hubschrauber nicht wieder zurück! Erst gegen elf fand ich einen halbwegs brauchbaren Platz, eine trockene Nische, in der ich zur Not liegen konnte. Ein zwischen zwei Felszacken eingeklemmter Gesteinsbrocken bot Schutz vor dem Gesehenwerden, doch es war eisig kalt; und naß, wie ich war, fror ich erbärmlich. Da half auch der heiße Tee mit Rum nur wenig. Ich aß etwas Zwieback und Dosenfleisch, wickelte mich in die Decke, legte mich auf den Schlafsack und versuchte, mich wenigstens etwas auszuruhen. An Schlaf war nicht zu denken, erstens, weil ich fror, und zweitens, weil es so laut hier war; das Wasser plätscherte und gluckste, von Zeit zu Zeit, polterte ein Stein das Bachbett herab, große schwarze Vögel stießen mit gellendem Schrei herab und, noch dreimal an diesem Tag, kam der Hubschrauber. Endlich, endlich ging die Sonne unter, kam der herbeigesehnte Abend! Ich zitterte vor Übermüdung, Kälte und Nässe. Auch mein Schlafsack und die Decke fühlten sich jetzt feucht an! Ich mußte mit Gewalt gegen eine Gleichgültigkeit ankämpfen, die mich zu übermannen drohte. Ich aß noch einmal etwas warme Suppe und Brot, trank einen Schluck Rum und machte mich wieder auf den Weg. Noch vor Mitternacht wollte ich die Schlucht hinter mir gelassen haben. Je tiefer ich kam, desto leichter wurde die Kletterei, endlich begann eine Art Pfad, vermutlich von Wild ausgetreten. Doch leider war diese Nacht sehr dunkel. Wolken waren aufgezogen und verdeckten die Sterne; der Mond, eine magere Sichel erst, ging bald unter, und ich mußte den Verlauf des Weges ertasten und erahnen. Doch unbedingt wollte ich noch vor Tagesanbruch den Wald erreichen, ich brauchte nichts so nötig wie ein paar Stunden Schlaf. Als ich endlich durch ein gewundenes Felsloch trat und am Ausgang der Schlucht
stand, packte mich kaltes Entsetzen. Sie waren schon da! Unter mir im Wald brannten zwei, drei Feuer. Hunde bellten, Männer lachten. Ich verharrte reglos, starr. Was sollte ich nur tun? Wieder zurück? In der Nacht schaffte ich nicht die ganze Länge der Schlucht, und am Tag würden sie mich dann finden, denn daß sie die Schlucht durchsuchen wollten, war keine Frage. Ich wunderte mich, daß sie die weite Strecke so rasch zurückgelegt hatten – doch vielleicht war das auch eine andere Abteilung, möglich, daß sie der Hubschrauber hierher beordert hatte. Ich war noch am Überlegen, da begannen die Hunde plötzlich wie irr zu kläffen und an den Leinen zu reißen. Konnten sie mich gewittert haben? Unmöglich, die warme Luft über dem Wald stieg auf, kam auf mich zu. Aber was war dann los? Die Männer an den Feuern sprangen auf und riefen einander zu, doch ich war zu weit entfernt, um etwas zu verstehen. Endlich ließen sie die Hunde frei, und die hetzten augenblicklich los. Wenige Minuten später hatten sie gestellt, was immer sie gejagt hatten. In dem Lärm schlich ich über das kurze kahle Stück in den Wald hinunter, hielt mich dann rechts und schlug mich, so gut es ging, Richtung Süden in die Büsche. Es war hier nicht mehr so dunkel, die riesigen Feuer warfen zuckende Schatten, erhellten aber, da sie auf kleinen Lichtungen entfacht worden waren, das ganze Gebiet bis zu den Felsen hin. Bald war ich dem Lärm so nahe gekommen, daß ich einzelne Worte verstand, und kurz darauf sah ich auch die Ursache all der Aufregung: Ein alter Mann stand auf einem Pfad, ein Bündel Klaubholz neben sich. Die Soldaten schimpften auf die Hunde und der Alte schimpfte auf die Soldaten. Einer von ihnen, offenbar der Anführer, schien sich zu entschuldigen und schrieb etwas auf einen Zettel, ein anderer verband dem Mann den linken Unterarm – offenbar hatte ihn einer der Hunde gebissen. Der Alte fluchte laut und saftig, die Hunde knurrten und jaulten. Ich stand reglos im Dunkel und beobachtete die gespenstische Szene. Endlich wurden die Hunde weggeführt; sie hatten nun gewiß auch mich gewittert, wurden zunehmend unruhig und zerrten an den Leinen in meine Richtung. Doch die Soldaten schrien ihnen Befehle zu und verschwanden schließlich in Richtung der Feuer. Zwei mit
Taschenlampen ausgerüstete Burschen aber blieben bei dem Alten; einer ging vor ihm her, der andere hinter ihm, das Holzbündel auf der Schulter. Und ich war der vierte im Gefolge. Da sich die beiden Soldaten über den Alten hinweg unterhielten und ihre Augen durch die grellen Lichtkegel der Taschenlampen geblendet waren, brauchte ich nicht einmal besonders vorsichtig zu sein. Nach einer knappen halben Stunde war ein Blockhaus erreicht, die drei gingen hinein, ich aber verließ den Pfad und umging das Haus am Waldrand. Ich sah, daß die Soldaten alles durchsuchten, nicht nur das Haus, auch den Schuppen, einen kleinen Stall und eine Heuhütte. Dann endlich machten sie sich auf den Rückweg. Ich aber hatte die Heuhütte im Auge, ich brauchte nichts so nötig wie Schlaf, und dort drinnen würde es warm sein, denn jetzt im Herbst mußte der Alte sein Heu wohl schon eingebracht haben. Lautlos schlich ich näher und begann endlich, die Tür millimeterweise aufzuziehen. »Na also, da bist du ja!« Ich erstarrte – es war doch stockdunkel, und ich hatte keinen Lärm gemacht, also konnte der Zuruf gar nicht mir gelten. Doch ich irrte mich. »Komm rein ins Haus! In der Hütte ist’s zugig!« Der Alte stand nur wenige Schritte vor mir, kicherte leise glucksend in sich hinein. »Na, was ist, bist du stumm?« »Nein, natürlich nicht«, sagte ich verlegen. »Aber wieso haben Sie mich entdeckt?« Wieder kicherte der Alte. »Bin ja nicht so grün wie diese Jungen, ich hab dich gehört, und die Hunde haben dich auch verraten… aber du hast verteufelt Glück gehabt, daß ich vor dir da war. Ja, du hast Glück gehabt, und ich auch, das sollten wir feiern. Also komm!« Im Haus ließ er mir Zeit, mich an die neue Situation zu gewöhnen. Umständlich machte er Feuer, setzte Kaffeewasser auf und ging dann hinaus. Ich sah mich um. Das Haus bestand nur aus einem Raum, eine Leiter führte nach oben unters Dach, wo vielleicht noch ein Schlafraum war; der Alte jedenfalls schlief hier, in der Stube; ich sah die offenen Türen eines Alkovens, eine Decke hing heraus. Vermutlich hatten sie auch darin gesucht.
Da kam der Alte wieder herein, in der Hand ein Reh, dem Kopf und Läufe fehlten. Wortlos warf er es auf einen großen Plastiksack, der in der Ecke lag; es war schon ausgenommen, die Keulen, vom Körper abgetrennt, steckten halb in seinem Inneren. Rasch durchschnitt er die Schnüre, holte eine der blutigen Keulen heraus und hielt sie hoch. »Was hältst du davon? Zu zweit sollten wir das wohl schaffen, wie?« Nun erst begriff ich: Er hatte gewildert, die Beute dann im Holz verborgen – und die Soldaten hatten sie ihm heim getragen! Das war im Grunde die Quelle seiner Heiterkeit und das Glück, von dem er gesprochen hatte. Ich nickte. »Vielen Dank! Ich bin hungrig, aber vor allem müde! Wenn Sie mich nur irgendwo schlafen ließen, morgen erzähle ich Ihnen dann alles.« »Na ja, du mußt’s ja wissen. Aber etwas Heißes in den Bauch kriegen mußt du schon, und dein nasses Zeug solltest du auch ausziehen!« Er hatte recht. Ich zog alles aus und die wenigen trockenen Sachen, die sich noch in meinem Rucksack fanden, an. Er hängte das ganze Zeug über und neben dem Ofen auf, auch meine Decke und den Schlafsack; und da er das Feuer tüchtig schürte, war es bald angenehm warm, und ich hörte auf zu zittern. Als das Wasser kochte, bereitete ich mir aus einem Päckchen eine Fertigsuppe, die ich heißhungrig verschlang. Dann kletterte ich, schon halb schlafend, die Leiter hinauf; oben, unmittelbar über dem Herd, hatte der Alte ein warmes Heulager gerichtet. Einen Dank murmelnd fiel ich darauf nieder; ich spürte noch, wie mehrere Felle auf mich fielen, dann versank ich in abgrundtiefem Schlaf. Am Morgen weckte mich der Regen, der auf das Schindeldach über mir prasselte, der in der Traufe gluckste und gurgelte und der Alte, der, mit sich selber plaudernd, in der Küche rumorte. Ich fühlte mich herrlich! Ausgeschlafen, hungrig und schon das Essen riechend und – sicher! Der Regen mußte alle meine Spuren verwischt haben. Vergnügt kletterte ich die Leiter herab. »Guten Morgen – mein
Retter!« Schmunzelnd nickte mir der Alte zu. »Guten Morgen auch. Das Bad ist da hinten!« Tatsächlich, da gab’s einen Vorhang und dahinter einen primitiven Abtritt und einen von der Traufe gespeisten Behälter, dem man Waschwasser entnehmen konnte. Einen Atemzug lang dachte ich an mein komfortables Bad in Bensville; unerreichbar fern war es, und es kam mir auch irgendwie unwirklich vor. Wirklich ist nur die Gegenwart, dachte ich, alles andere könnte man ebensogut nur geträumt haben! Zum Frühstück gab’s Kaffee mit Ziegenmilch, Brot, Käse und kalten Braten; die Rehkeule, die er am Abend zuvor über dem Feuer geröstet hatte! Das rohe Fleisch war übrigens spurlos verschwunden, wer weiß, wo er’s verborgen hatte. Während ich aß, erzählte der Alte, daß das Militär heute am frühen Morgen nach Süden weitergezogen sei. Um sein Haus hätte man einen Bogen gemacht, obwohl die Hunde wieder angeschlagen hätten. Nun, ich hatte das alles verschlafen und hinter der Suchtruppe fühlte ich mich sehr sicher. Doch ich schuldete meinem Retter eine Geschichte, und während des Essens hatte ich Zeit, mir eine auszudenken. Was lag näher, als mich als Deserteur auszugeben? Es wurde eine zu Herzen gehende Geschichte, die dem Alten sehr gefiel, von einem wunderschönen Mädchen, einem bösartigen Vorgesetzten und mir. Wir hatten beide das Mädchen geliebt, sie aber hatte nur mich gesehen, und ich hatte unter der Eifersucht und den Rachegelüsten des Vorgesetzten sehr zu leiden gehabt; schließlich blieb mir kein anderer Ausweg als die Flucht… Der gute Mann hatte Tränen in den Augen, und ich schämte mich ein bißchen. Aber hätte ich ihm die Wahrheit erzählen können? Er hätte sie mir mit Recht nicht geglaubt, sie klang so unwahrscheinlich; mein Märchen aber glaubte er gerne. Drei Tage lang blieb ich in dem Waldhaus, drei Tage, an denen es fast ununterbrochen regnete; wir verbrachten sie plaudernd, essend, schlafend. Der Alte verstand es, aus dem Fleisch des Rehs, den
Kartoffeln, Zwiebeln und Gemüsen des Gartens und der Milch seiner beiden Ziegen wunderbare Mahlzeiten zuzubereiten. Zudem holte er Pilze und Beeren aus dem Wald und gelegentlich eine Forelle aus dem Bach, kurzum, wir lebten wie die Könige. Doch ich wußte, daß ich in dem kleinen Paradies nicht länger bleiben konnte, denn hie und da kamen doch Menschen vorbei; zwar keine Besucher, aber Wanderer, ein Förster, Heilkräutersammler und auch ein Botaniker, der gewisse seltene Pflanzen studierte, die hier vorkamen. Der Alte kannte die meisten vom Sehen, nur die Wanderer waren oft Fremde, wahrscheinlich Urlauber, die ihre Feiertage in irgendwelchen Erholungsdörfern verbrachten. Ich fürchtete sie alle. Am Morgen des vierten Tages, nach einem reichhaltigen Frühstück, nahm ich Abschied. Um mich für die erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen, sagte ich dem Alten, er solle sich meine oben in dem Wäldchen zurückgelassenen Sachen holen; es waren doch zwei Plastiksäcke voll nahezu neue Kleidungsstücke, Decken und etliche Konserven. Ich beschrieb ihm den Platz genau; er war selbst vor Jahren einmal da oben gewesen, er kannte einen bequemen Anstieg, der natürlich nicht durch die Klamm führte. Geld wagte ich ihm nicht anzubieten, denn woher sollte ein Deserteur auf der Flucht übriges Geld haben? Es wurde ein langer Abschied mit viel Schulter-klopfen, guten Wünschen und Ratschlägen. Doch endlich war ich wieder unterwegs, unterwegs in Richtung Livingston. Tags zuvor hatten wir gemeinsam die Karte studiert, und der Alte hatte mir gesagt, wie ich gehen müsse, um möglichst keinem Menschen zu begegnen. Das bedeutete zwar, daß ich viele Umwege machen mußte, doch jetzt, so nahe am Ziel, wollte ich nichts mehr riskieren. Zum Glück hatte der Regen aufgehört; der Boden war zwar noch naß, und ich mußte nachts mein Minizelt aufstellen, doch hatte die unsichere Witterung auch ihr Gutes: Es gab kaum Menschen in den Wäldern. Am dritten Tag meiner Wanderung kam ich in freies Gelände und mußte nun doppelt vorsichtig sein. Ich verschlief die Tage in
Heuhütten oder Schafställen, vorausgesetzt, es waren keine Hirten in der Nähe, und wanderte des Nachts. Als ich, weit im Norden von Livingston, in dichter besiedeltes Gebiet kam, mußte ich meine Taktik neuerlich ändern; nun benahm ich mich wie ein Feriengast, benützte die Wanderwege und kehrte in Gasthöfen ein, allerdings ohne zu übernachten. Die Nächte verbrachte ich noch immer im Freien oder in leeren Gebäuden, denn ich fürchtete die Meldegesetze. Mister Baker durfte hier nirgends auftauchen, ein David Chippers schon gar nicht. Endlich war ich Livingston so nahe, daß mich eine knapp zweistündige Busfahrt in die Stadt brachte, wo ich sogleich das Postamt aufsuchte. Doch hier gab es eine Schwierigkeit: Ich hatte doch einen Brief an Ben Baker abzuholen, unter Vorweis eines entsprechenden Ausweises – dieser Name stand aber nun auf den Fahndungslisten und ich konnte nicht sicher sein, daß nicht auch die Postämter, zumindest hier in der Gegend, beobachtet wurden. Vielleicht hatten auch nur die Beamten den Auftrag erhalten, auf Leute zu achten, die Baker hießen und ihnen fremd waren. Ja, wenn man es einem fremden Baker gestattete, eine postlagernde Sendung abzuholen, dann mußten Polizei und FBI schlafen. Durfte ich das annehmen? Dumme Frage. Diese Überlegungen stellte ich an, als ich das Postamt bereits betreten hatte, genauer gesagt, in dem Augenblick, als ich feststellen mußte, daß der mir bekannte Beamte nicht an dem Schalter für postlagernde Briefe saß. Ich hatte mir neuerdings so eine KommtZeit-kommt-Rat-Mentalität zugelegt, die gefährlich sein mußte. Zum Glück war dies nur ein kleines Postamt; vielleicht war man hier nicht so gewitzt. Andererseits: man hatte mit Sicherheit für »zweckdienliche Hinweise« eine Belohnung ausgesetzt, und wo war es leichter, ein verdächtiges Gesicht zu entdecken, in einem halb leeren kleinen Amt mit gähnenden Beamten oder in dem Gedränge der Hauptpost? Ich verwünschte meine Hast, hier so hereingestürmt zu sein. Ich kaufte ein paar Briefmarken, sah mich unauffällig um und ging wieder. Ich hatte zwar kein bekanntes Gesicht entdecken können, doch was besagte das schon? Keinesfalls durfte ich wagen, hier den Brief
an mich abzuholen. War er überhaupt noch da? Wahrscheinlich ja; die Postgesetze waren streng, ein Brief wurde dem rechtmäßigen Empfänger ausgehändigt, nicht aber der Polizei. Die hatte ja die Möglichkeit, den Empfänger zu verhaften und dann den Brief zu beschlagnahmen. Ich hoffte sehr, daß das, was ich über die Sicherheit der Post gelesen hatte, auch zutraf. Ich betrat das dem Amt gegenüberliegende kleine Restaurant, suchte mir einen freien Tisch am Fenster, bestellte Kaffee mit Kuchen und dachte nach. Im Augenblick war nichts so dringend, wie neue Papiere zu erhalten – und da drüben, wenige Schritte von mir entfernt lag ein neuer Paß mit meinem Bild, auf einen Namen lautend, den niemand kennen sollte… oder? War es möglich, daß Polizei- oder FBIBeamte den Brief ohne Wissen der Post geöffnet hatten? Und nun über den Inhalt Bescheid wußten? Vielleicht hatten sie ihn auch einfach gestohlen? In diesem Zusammenhang klang es fast pervers, von Diebstahl zu sprechen – sagen wir also: inoffiziell beschlagnahmt. Aber, war das nicht eine Idee? Stehlen! Konnte ich nicht meinen Brief stehlen? (Wiederum ein perverser Gedanke – konnte man überhaupt sein Eigentum stehlen?) Aber nun war’s gedacht und je mehr ich die Sache überlegte, um so besser schien mir die Idee. Und ich begann zu planen, diesmal sehr sorgfältig. Dann ging ich einkaufen. Ich besorgte eine Lupe und neue Handschuhe. In einer Schnelldruckerei, die Reklame damit machte, daß man kleine Aufträge sofort erledige, bestellte ich Visitenkarten, die genauso groß wie ein Paß waren, lautend auf Benjamin Baker, Generaldirektor, Three Forks, Montana. Anschließend besuchte ich einen Friseur, ließ mir die Haare waschen und schneiden und den Bart (den ich mir seit meiner Flucht hatte wachsen lassen und der zwar dicht, aber noch sehr kurz war) ließ ich an den Wangen abrasieren. Dadurch wirkte mein Gesicht länger und schmäler. In einem großen Kaufhaus erstand ich einen Koffer, zwei Anzüge, Wäsche, Socken, Schuhe, einen neuen Wintermantel, zwei Hüte, einen Schirm und noch etliche Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten aus einem Touristen wieder einen Herrn machen, einen offensichtlich wohlhabenden Herrn.
Noch im Kaufhaus zog ich mich um und packte die alten und den Rest der neuen Sachen in den Koffer. Schließlich entschloß ich mich noch, meine alte Umhängetasche wegzuwerfen und eine neue zu kaufen, aus leichtem weichen Leder diesmal. Ich erkundigte mich nach dem besten Hotel und ließ mich von einem Taxi hinbringen. Ich nahm mir ein Zimmer für zwei Tage, bezahlte im voraus und bat den Portier, einstweilen nur den Koffer in mein Zimmer stellen zu lassen; ich selbst müsse gleich wieder weg, ich sei sowieso schon spät dran, die Anmeldeformalitäten könnten wir dann am Abend, bei meiner Rückkehr erledigen… Ich sprang wieder in das Taxi, das ich hatte warten lassen; es mußte mich nun in ein anderes Hotel bringen, das in der Nähe des Postamtes lag, in dem ein Brief auf Mr. Baker wartete. Dort aß ich zunächst einmal zu Abend, sah die Zeitungen durch und wartete; ich wartete auf die Dunkelheit. Dann rekognoszierte ich; das Postamt war in einem großen Haus untergebracht, rechts befand sich ein Installationsgeschäft und links ein Herrenschneider, oben vermutlich Wohnungen. In einem offenen Hausgang hinter dem Postamt entdeckte ich ein hohes schmales Fenster, das, wie ich mich gleich überzeugte, in einen Waschraum, führte. Ich bezweifelte allerdings, ob ich mich da hindurchzwängen konnte, ich war zwar schlank, aber so schlank? Doch ich mußte es versuchen, es schien mir die einzige Möglichkeit zu sein. Wieder im Hotel (wo man meine kurze Abwesenheit offenbar nicht bemerkt hatte), ließ ich mir einen Longdrink servieren und sah dem Fernsehprogramm zu. Bis um elf, da begann der Nachtkrimi. Ich ließ meinen Mantel über der Stuhllehne, einen aufgeschlagenen Reiseführer, eine Sonnenbrille und mein zweites Paar Handschuhe auf dem Tisch liegen und ging. Da auf dem Bildschirm gerade ein finsterer Mordgeselle durch schmale Gassen schlich, hoffte ich, daß niemand mein Weggehen bemerken würde. Minuten später versuchte ich bereits, mich durch das Waschraumfenster hinter dem Postamt zu zwängen; es war verdammt eng, doch ich machte die überraschende Feststellung, daß sich ein schlanker Mann ohne allzu große Mühe durch einen nur spannenbreiten Spalt zwängen konnte. Kaum war ich drinnen, schloß ich das Fenster, das vorher nur angelehnt gewesen war. Dann sah ich
mich um: zwei WC-Türen, zwei winzige Waschbecken mit tropfenden Hähnen, eine Handtuchrolle, ein schmales Blechschränkchen und die Tür zum Gang, alles nur dürftig erhellt durch den schwachen Lichtschein, der durchs Fenster fiel. Leise probierte ich die Türklinke und stellte erschrocken fest, daß von außen abgeschlossen war! Der Schlüssel steckte, doch das half nicht viel, da der Spalt unter der Tür kaum millimeterbreit war und demnach der Trick, mittels dessen die Helden oder Schurken in Krimis sich Eingang verschafften, nicht anwendbar. Ich zweifelte ohnedies, ob das in der Praxis funktionierte. Was, wenn der herausgestoßene Schlüssel nicht auf das untergeschobene Papier fiel? Es blieb mir also nichts anderes übrig, als das dünne Paneel der Türfüllung auszubrechen. Mit Hilfe meines Taschenmessers erwies sich das als erstaunlich leicht, allerdings war nun mein Plan, einen unbemerkten Einbruch zu verüben, nicht mehr durchführbar. Minuten später stand ich im stockdunklen Schalterraum; ich dankte im stillen dem unbekannten Architekten für die eisernen Rollbalken, die es mir gestatteten, meine Taschenlampe zu benützen, ohne befürchten zu müssen, von späten Passanten zufällig entdeckt zu werden. Rasch blätterte ich die Briefe, die im Fach B lagen durch. Nichts! Das war doch unmöglich! Hastig suchte ich weiter, auch in den Fächern des Schreibtisches unter dem Schalter. Doch halt, da war ein Fach, über dem ein Schildchen »Registered« angebracht war und in dem sich gut zwei Dutzend Poststücke befanden. Da! Endlich hielt ich den ersehnten Brief in Händen. Mit der Lupe untersuchte ich ihn sorgfältig – nein, er schien noch nicht geöffnet worden zu sein. Vorsichtig brach ich das Siegel. Dann erhitzte ich in meinem Meta-kocher ein wenig Wasser und hielt den Umschlag über den Dampf; schon nach wenigen Minuten konnte ich ihn öffnen. Ich entnahm ihm den Paß, las den beigelegten Brief (der nur wenige Belanglosigkeiten enthielt), und verschloß den Brief wieder, nachdem ich den Paß durch Visitenkarten in entsprechender Dicke ersetzt hatte. Nun erhitzte ich die dünne Klinge meines Taschenmessers, preßte die beiden Siegelränder aneinander und verstrich die Fuge. Das gelang zwar nicht besonders gut, doch wenn man die
Versiegelung nicht allzu genau untersuchte, würde man nichts entdecken. Ich hoffte, daß, wer immer einmal diesen Brief untersuchen würde, sich zuerst für seinen Inhalt interessieren mochte, für das Kuvert erst in zweiter Linie. Dann aber war das Siegel neuerlich erbrochen und vermutlich war in diesem Fall die erste Beschädigung nicht mehr feststellbar. Nun schob ich den Brief wieder unter die anderen und überlegte. Am Morgen würde man den Einbruch entdecken und sofort fragen, was gestohlen worden war; ein Einbruch ohne Beute war gewiß verdächtig, aber was sollte ich stehlen? Geld, das war naheliegend. Doch die Schalterkassen waren leer, von etwas Wechselgeld abgesehen. Der Safe in der Ecke war ein altmodisches Ungeheuer, eine (zumindest für mich) uneinnehmbare Festung. Also stocherte ich in den Schlössern herum und sorgte für deutlich sichtbare Kratzspuren. Dann ging ich. Unter dem Fenster ›verlor‹ ich einen Knopf, den ich tags zuvor gefunden hatte; es war der Knopf einer billigen Arbeitshose und eine solche nannte ich gewiß nicht mein eigen. Wieder im Hotel warf ich einen Blick auf meine Uhr. Vierzig Minuten war ich weg gewesen, hatte es jemand bemerkt? Auf dem Bildschirm tobte eine Verfolgungsjagd, die Zuschauer hatten Partei ergriffen und gaben teils dem Flüchtenden, teils dem Verfolger gute Ratschläge. Ich packte meine Sachen zusammen, verstaute alles in der Umhängetasche und schlich zum Ober. Flüsternd, um nicht das Fernsehspiel zu stören, bezahlte ich meine Rechnung und ging. Zu Fuß legte ich die Strecke bis zur Hauptstraße zurück, dort nahm ich ein Taxi und fuhr in mein Hotel. Nun endlich konnte ich mich anmelden. Ich hieß Charles Dean und stammte aus Buffalo. Dem Portier schob ich ein gutes Trinkgeld über das Pult und bat ihn, mir am nächsten Morgen um zehn ein Frühstück aufs Zimmer schicken zu lassen. Das war das Ende meiner Flucht.
3. Kapitel Zehn Tage verbrachte ich hier im Hotel, ruhend und lesend, gut essend und spazierengehend. Das Städtchen war tagsüber sehr betriebsam, nachts entsprechend schläfrig; der Großteil der Bevölkerung schien entweder in holzverarbeitenden Betrieben beschäftigt zu sein oder in den großen Fabriken im Osten, in denen offenbar Waggons für die Eisenbahn hergestellt wurden. Meine einzige produktive Tätigkeit bestand darin, daß ich nacheinander alle Immobilienhändler besuchte, ihnen erzählte, ich sei ein Erfinder und würde gerne ein Haus in ruhiger Läge mieten oder auch kaufen. Ich hatte schon eine Reihe von Objekten besichtigt, ohne jedoch etwas Passendes gefunden zu haben, als ich eine sonderbare Bekanntschaft machte. Er war zu mir ins Hotel gekommen, ein etwa vierzigjähriger, untersetzter Mann mit beginnender Glatze, weder elegant noch schäbig gekleidet. Ich sah in ihm zunächst einen Häusermakler (der er auch war) und ließ ihn ein; er aber benahm sich höchst merkwürdig. Er starrte mich kurz an, schloß dann für eine Sekunde die Augen und als er sie wieder öffnete, sah er durch mich hindurch und sagte mit tonloser Stimme: »Ich bin ein Helfer.« »Ein was?« Ich glaubte, ihn mißverstanden zu haben. Doch wieder kam das tonlose »Ich bin ein Helfer« aus seinem Mund. »Aha«, sagte ich, einfach weil mir nichts Besseres einfiel. »Wobei sollen Sie mir denn helfen?« »Sie haben eine Aufgabe.« Diese tonlose Stimme! War der Kerl in Trance? Oder ein simpler Irrer? »Im Augenblick suche ich ein Haus, vier bis fünf Zimmer, in einsamer Lage, doch mit guter Zufahrt – entschuldigen Sie, aber ich hielt Sie für einen Makler.« Ich wandte mich zur Tür, hoffend, daß er wieder ging, wenn ich sie einladend öffnete. Doch er blieb stehen, nickte. »Ich werde Ihnen eines besorgen. Pacht oder Kauf?« »Nicht so wichtig, wenn ein Objekt, das mir zusagt, nur käuflich zu erwerben ist, dann kaufe ich es.« Ich war mehr als verwundert, was war das nur für ein Mensch?
»In Ordnung«, sagte er und marschierte zur Tür hinaus. Ich dachte, es handle sich um einen Geisteskranken; vielleicht bildete er sich ein, ein Roboter zu sein? Ich hatte ihn schon fast vergessen, als er drei Tage später wieder aufkreuzte. Grußlos trampelte er herein und sagte: »Ich habe, was Sie suchen. Wollen Sie es ansehen?« Fassungslos starrte ich ihn an. »Wer sind Sie denn? Und was haben Sie?« »Ich bin ein Helfer. Und Häusermakler war ich auch, habe aber vor zwei Tagen das Geschäft meinem Neffen übergeben. Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung. Wollen Sie das Haus sehen?« »Na schön.« Ich gab mich geschlagen. »Sie sind also mein Helfer; dann besorgen Sie uns mal ein Taxi!« »Ich habe einen Wagen unten und kann Sie selbst hinausbringen.« Noch immer redete er so tonlos wie eine Maschine. Sollte ich mich tatsächlich in die Hände dieses offenbar Geisteskranken begeben? Doch, sonderbarerweise, hatte ich keine Angst, eine innere Stimme sagte mir, daß alles in Ordnung war. Zone III fiel mir wieder ein. Ich hatte seit Wochen nicht mehr (oder kaum mehr) an meine psychischen Probleme gedacht; war es möglich, daß der ›Helfer‹ eine Antwort auf meine Fragen wußte? ›Sie haben eine Aufgabe‹ hatte er gesagt. Was bedeutete das? Wir fuhren hinaus in die Wälder, zweigten am Fuße eines Hügels von der Hauptstraße ab und hatten nach einer Viertelstunde ein von einer Mauer umschlossenes parkähnliches Gelände erreicht; hinter prachtvollen alten Pinien erblickte ich ein Haus. »Das ist es.« Der Helfer beantwortete die Frage, noch ehe ich sie gestellt hatte. Das Haus war größer, als ich erwartet hatte, und wurde von einem alten Ehepaar bewohnt; sie kümmerte sich um das Haus und er um den Garten, erfuhr ich. Es war zu vermieten, mitsamt dem alten Paar, das sehr froh war, bleiben zu können. »Wenn es Ihnen zusagt, werde ich alles erledigen«, bot sich mein Helfer an. »Ich schlage vor, es auf meinen Namen zu mieten, dann können sich erst gar keine Schwierigkeiten ergeben. Brauchen Sie Geld?«
Wieder hatte es der Mann fertiggebracht, mich zu verblüffen. Wieso bot er mir Geld an? »Nein, danke«, stammelte ich, »danke, ich habe einstweilen noch genug.« »In Ordnung.« Gleichgültig nickte er. Mit dem Ehepaar machte ich aus, daß ich in drei Tagen einziehen würde, sie sollten inzwischen mehrere Zimmer heizen, die Betten beziehen und alles gut durchlüften, kurzum, das Haus bewohnbar machen. Das Ehepaar – die beiden hießen übrigens Myers – erbot sich auch für uns zu kochen und die Bedienung zu übernehmen – für uns, ja; mein Helfer ließ keinen Zweifel daran, daß er hier bei mir wohnen und mir bei dem, was ich tun würde, helfen wollte. Was aber würde ich tun? Ich hatte so ein paar vage Ideen, technische Spielereien, mit denen ich mich beschäftigen konnte, bis entweder Gras über jenen Diebstahl in Bensville gewachsen war, oder man den wahren Täter gefunden hatte. Auf alle Fälle wollte ich hier den Winter verbringen, und der sonderbare Helfer mochte mir die Zeit vertreiben. Gelegentlich fragte ich mich, warum ich den offenbar nicht ganz zurechnungsfähigen Menschen akzeptierte, warum ich nicht sagte, ich wolle seine Hilfe nicht, und ihn kurzerhand hinauswarf. Mitunter empfand ich ihn als ausgesprochen unsympathisch, besonders, wenn er Fragen, die ich ihm stellte, einfach ignorierte. Gewisse Fragen nur, andere wieder beantwortete er bereitwillig. Im stillen nannte ich ihn meinen Roboter; er hatte sich geweigert, mir seinen wahren Namen zu nennen und gemeint, ich könne ihm irgendeinen Namen geben, einer sei so gut wie der andere. Also nannte ich ihn Roby, ohne ihm allerdings zu verraten, was diese Abkürzung bedeuten sollte. Doch wahrscheinlich war’s ihm sowieso gleich gewesen. Noch bevor ich in die Villa übersiedelte, machte ich eine sonderbare Beobachtung. Durch Zufall sah ich meinen Helfer in der Stadt, er saß in einem Restaurant und unterhielt sich mit einem Bekannten; kurze Zeit später kam noch eine Frau dazu, eine sehr schöne, dunkelhaarige Frau in einem bodenlangen gebatikten Kleid. Mein Helfer bestellte für alle ein Essen mit vielen Gängen und – das war das Sonderbare – er benahm sich völlig normal. Er lachte,
scherzte mit der Dame, plauderte in lebendigem Tonfall mit seinem Bekannten und hatte auch nicht diesen starren, in die Ferne gerichteten Blick. Gerne hätte ich ihn auf die Probe gestellt, wäre auf ihn zugegangen, hätte ihn begrüßt – ob er dann wohl wieder sein Robotergehabe angenommen haben würde? Doch ich wagte es nicht; wer weiß, was geschah, was er tat, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte. Und ich, das durfte ich nicht vergessen, ich war noch immer ein Gejagter, vielleicht ein Spion. Ich war noch immer R 14. Es war besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Also beschränkte ich mich darauf, ihn zu beobachten. Ich war neugierig, und es nützte gar nichts, daß ich mir sagte, meine Neugier könnte mir gefährlich werden. Ich gab einem der Kellner ein größeres Trinkgeld und bat ihn, herauszubekommen, wer die drei waren. Tatsächlich interessierte ich mich ja nur für einen, aber so fiel es vielleicht weniger auf. Nun, ich erfuhr, daß mein Helfer ein Häusermakler namens Steve Cullingham war, die Dame hieß Tamara. Also kannte ich jetzt seinen wahren Namen – aber was hatte ich eigentlich davon? War es nicht wirklich egal, welchen Namen ein Mensch trug? Mein Helfer hatte recht gehabt, ein Name war so gut wie der andere, ich selbst war ja das beste Beispiel dafür… Den beiden Myers in unserem Haus sagte ich, ich sei ein Erfinder und Roby sei mein Assistent; sie gaben sich damit zufrieden. Wir richteten ein großes helles Zimmer im ersten Stock als Labor ein, und ich muß gestehen, Roby erwies sich als unbezahlbar. Anfangs gab ich ihm täglich Listen mit Bestellungen von Chemikalien, Drähten, Metallen, Transistoren, Widerständen, Kondensatoren, Spulen… Er fuhr damit in die Stadt und brachte das Gewünschte meist schon am nächsten Tag. Ich entwarf die verschiedensten Schaltungen und trug ihm auf, sie drucken und verkleinern zu lassen… Er kannte sich aus, er besorgte meine Aufträge. Er brachte auch einen Tischler und einen Spengler und einen Elektriker und etliche andere Handwerker, die die Laboreinrichtung nach meinen Plänen herstellten. Manche Sachen, die ich bestellte, waren völlig sinnloses Zeug: ich
wollte Roby auf die Probe stellen, aber es gelang mir nicht. Er fragte nie nach dem Zweck einer Sache, er nahm alles gleichmütig hin. Und er lachte nie, ja er schien überhaupt nicht zu wissen, was Humor war; allerdings nur mir gegenüber benahm er sich wie ein intelligenter, fähiger Roboter, allen anderen gegenüber war er ein Mensch, ebenfalls intelligent und fähig, aber eben auch menschlich. Ich fragte ihn häufig unvermittelt: »Was ist R 14?« Und er erwiderte dann: »Darf ich nach dem Frühstück läuten?« Oder: »Leider ist morgen Sonntag, da sind die Geschäfte geschlossen.« Mitunter sagte er auch gar nichts, wenn es sich so ergab. Meine Erinnerungen an die erste Zeit nach der »zweiten Geburt‹ hatte ich wieder zu Papier gebracht, und eines Tages beschloß ich, diese Notizen Roby zu lesen zu . geben. Es mußte mir doch irgendwie gelingen, diese Starre zu brechen! Er las langsam, aufmerksam, wie ich es ihm befohlen hatte. Dann reichte er mir wortlos das Manuskript. «Roby«, sagte ich, »setzen Sie sich bitte hierher und sehen Sie mich an!« Er tat wie geheißen, starrte durch mich hindurch. Ich nahm seine Hände in die meinen und sagte eindringlich: »Roby, ich will, daß Sie mir jetzt antworten. Sie wissen vieles, was ich nicht weiß. Es ist wichtig für uns, daß Sie meine Fragen beantworten, und wenn Sie das nicht tun, dann will ich Sie nicht länger als Helfer behalten. Haben Sie verstanden?« Er nickte ungerührt. »Ja.« »Was halten Sie von dem eben Gelesenen?« »Ich weiß nicht.« »Ich habe Ihnen alles erzählt, alle meine Erlebnisse seit damals, Sie wissen, was ich bin, Sie wissen, welche Aufgabe ich habe, warum sagen Sie es mir nicht?« »Ich sage, was ich weiß.« »Wissen Sie, was R 14 ist?« »Sie!« »Ja, aber was bedeutet es? Bin ich ein Spion?« »Ja. Nein.« »Himmel noch mal, warum sagen Sie so einen Unsinn?«
»Ich muß antworten.« Nun versuchte ich es anders. »Roby, wieso kamen Sie zu mir?« »Sie haben mich gerufen.« »Nein, das hab ich nicht, aber egal. Woher wußten Sie, daß Sie mein Helfer sind?« »Sie waren der erste. Ich war schon immer ein Helfer, Ihrer wurde ich, als Sie mich riefen.« Ich überlegte. Die letzte Antwort war relativ ausführlich gewesen, aber – waren seine Antworten auch wahr? Ich fragte: »Belügen Sie mich?« »Nein«, lautete seine Antwort. Im gleichen Augenblick wurde mir das Unsinnige meiner Frage bewußt, und das Paradoxon von Lügner fiel mir ein. War er ein Lügner, dann konnte die Antwort eine Lüge sein – ich war also so klug wie zuvor. Ich versuchte es anders: »Können Sie mich belügen?« »Ja.« »In welchen Fällen?« »Wenn die Wahrheit Ihre Sicherheit oder Ihre Existenz bedrohen würde.« »Nur dann?« »Nein, auch wenn Ihre Aufgabe in Gefahr käme.« »Noch andere Ausnahmen?« »Nein.« »Gut.« Ich wollte einmal annehmen, er war kein Lügner – es schien mir auch unsinnig, wenn ›man‹ mir einen Helfer geschickt hatte, der mich belog. »Was ist meine Aufgabe?« forschte ich weiter. »Ich weiß es nicht.« »Wer hat Sie geschickt?« »Niemand. Sie haben mich gerufen.« »Wie? Wodurch?« »Ich erinnere mich nicht. Ich wußte es plötzlich.« »Haben Sie auf mich gewartet, mich gesucht?« »Nein, ich glaube nicht. Jedenfalls erinnere ich mich nicht.« So kamen wir also nicht weiter. Ich mußte versuchen, eine Hypothese aufzustellen und mittels seiner Antworten eine Bestätigung oder Widerlegung zu finden. Wenn ich annahm, meine Aufgabe sei
Spionage, zukünftige Spionage, und er sei tatsächlich mein Helfer, von der Macht dazu ausersehen, die hinter allem stand. Wir konnten beide hypnotische Aufträge erhalten haben, die, so die Umstände günstig waren, ›frei‹ wurden. Nicht nur ich, auch er hatte eine Zone III in seinem Gehirn, seine war durch mein Erscheinen sozusagen geöffnet worden. Meine hingegen schien noch immer blockiert zu sein. Ich wandte mich wieder ihm zu. »Ich habe schon einmal gefragt, ob ich ein Spion sei, und Sie haben erst positiv, dann negativ geantwortet. Was bedeutet das?« »Ich spreche die Antwort aus, die mir einfällt. Ich kann sie nicht interpretieren.« »Versuchen Sie es trotzdem!« »Ich kann nicht.« »Hören Sie, wie soll ich je wissen, was meine Aufgabe ist, wenn Sie mir nicht helfen?« »Ich helfe Ihnen.« Auch so rannte ich gegen eine Mauer. Nun versuchte ich einen direkten Angriff: »Warum verfallen Sie in so eine komische Starre, wenn Sie mit mir sprechen? Sie wirken wie ein Android!« »Das tut mir leid.« »Hören Sie mir jetzt gut zu! Ich weiß, daß Sie sich auch ganz normal benehmen können, ich habe Sie mit Ihren Freunden im Restaurant des ›Golden Star‹ beobachtet. Nur in meiner Gegenwart verhalten Sie sich wie ein Roboter oder wie ein Mensch in Trance. Dieses Verhalten irritiert mich. Außerdem ist es eine Gefahr für meine Aufgabe, eine große Gefahr! Begreifen Sie das? Wenn uns je Dritte beobachten, werden sie die Polizei verständigen, in der Annahme, ich halte Sie unter Hypnose; man wird uns verhaften. Dann kann ich meine Aufgabe nicht durchführen! Sie bringen meine Sicherheit und die Aufgabe in Gefahr!« Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Er starrte mich an, als sei ich ein Monster von einem anderen Stern. Dann sackte er lautlos zusammen, rutschte von seinem Stuhl und fiel seitlich auf den Boden. Ich war nicht einmal erschrocken, fast hatte ich so etwas erwartet. Es war also doch Hypnose im Spiel, zumindest war dies sehr wahrscheinlich. Meine Annahme schien bestätigt zu sein. Er hatte, vermutlich unter Hintansetzung seines eigenen Lebens, primär dafür
zu sorgen, daß meine Sicherheit und meine Aufgabe nicht gefährdet, sondern im Gegenteil begünstigt wurden. Das war sein Auftrag. Ich hatte ihn durch meine Behauptungen (die ja zutreffend waren) in eine Konfliktsituation gebracht; der Verlust des Bewußtseins war die Folge. Ich faßte ihn unter den Armen und schleifte den schweren Körper in den Nebenraum; die Gummiabsätze seiner Schuhe hinterließen schwarze Streifen auf dem Bödenbelag. Im Nebenraum, einer Art wissenschaftlichen Bibliothek, legte ich ihn auf den weichen Spannteppich, schob ihm ein Kissen unter und drehte ihn seitlich. Ich hatte das Bild, wie ein Bewußtloser zu lagern sei, noch genau im Kopf. Es stammte aus einem Buch über Erste Hilfe, das ich in Bensville besessen hatte. Wie weit lag das alles zurück! Seine Atmung war flach, aber regelmäßig; er würde schon wieder zu sich kommen. Eben überlegte ich, wie ich die Befragung fortsetzen wollte, da überfiel mich ein beschämender Gedanke: Ich empfand keinerlei Mitleid mit dem Mann, ich behandelte ihn tatsächlich, als wäre er ein Android, ein humanoider Roboter! Wie konnte ich nur so herzlos sein! Er war an all dem, was ihm (und mir) widerfahren war, ebenso unschuldig wie ich. Doch auch ich war in Schwierigkeiten, auch mein Leben, zumindest soweit ich mich daran erinnern konnte, war sozusagen ein einziger Konflikt. Ich wußte nicht, wer und was ich war, kannte meine Aufgabe nicht, ich war nicht einmal sicher, ob ich diese Aufgabe erfüllen wollte, sollte ich sie einmal kennen. Ich empfand eine Abneigung gegen Leute, die mir Aufgaben stellten, Befehle erteilten. Was gab ihnen das Recht dazu? Wieso durften sie über mich verfügen? Ich hatte mich ihnen nicht verkauft. Ähnlich mochte es dem armen Kerl da zu meinen Füßen ergehen. Wahrscheinlich wollte auch er nicht tun, was ›man‹ ihm aufgetragen hatte – aber er war nicht stark genug, sich zu wehren. Ich empfand plötzlich großes Mitleid mit ihm, und – es war sonderbar – dieses Mitleid schien mich selbst stärker zu machen. Ich würde mich wehren, zumindest wollte ich es mit aller Kraft versuchen. Vorausgesetzt, die Aufgabe, die ich erfüllen sollte, sagte mir nicht zu, verletzte mein Gefühl für Ethik. Ethik – was bedeutete das überhaupt? Ich kannte den Begriff,
natürlich, aber was bedeutete es in meinem Fall? Gut und böse waren relative Begriffe, ebenso wie Nützen und Schaden, Vorteil und Nachteil. Es war schwierig, das, was ich meine Ethik nannte, überhaupt zu formulieren. Vielleicht so: Nichts zu tun, was einem Mitmenschen schadete. Wenn es aber nur einem einzigen schadete und vielen anderen Nutzen brachte? Auch dann nicht. Wenn aber dieser eine, dem ich schaden würde, ein schlechter Mensch war, ein Verbrecher, ein Mörder, ein Kriegshetzer – dann doch, oder? Ja, vielleicht dann doch. Und wer entschied, ob dieser eine, dem ich schadete, gut oder böse war? Ich, ich allein? Ich saß da, meinen bewußtlosen Helfer zu Füßen, und dachte nach, viele Stunden lang. Ich wollte, ich mußte zu einer klaren Antwort kommen, ungeachtet aller Schwierigkeiten, ich mußte einen Leitfaden für mein Handeln haben. Schließlich sagte ich mir: Ich will versuchen, so zu handeln, daß ich niemandem Schaden zufüge. Sollte ich jedoch einmal vor der Frage stehen, entscheiden zu müssen, ob ein Mensch gut oder böse ist, dann würde ich dieser Entscheidung nicht ausweichen. Ich würde entscheiden und handeln, auch auf die Gefahr hin, daß meine Entscheidung falsch war. Ich würde zwar alles tun, um eine Fehlentscheidung auszuschließen, doch volle Sicherheit zu erlangen war unmöglich. Ich würde auf seiten dessen stehen, dessen Sache ich für richtig hielt. (Und wenn dieser eine, dem ich schaden mußte, um andere zu retten, ich selbst war? Wenn ich selbst eine ›schlechte‹ Sache vertrat? – Ja, auch dann.) Es war lange nach Mitternacht, als sich Roby bewegte. Er versuchte ungeschickt auf die Beine zu kommen und murmelte unverständliches Zeug. Ich half ihm, so gut ich konnte, und das war nicht leicht, denn er war schwerer als ich. Begütigend redete ich ihm zu: »Komm Steve, ich bringe dich zu Bett! Alles ist wieder in Ordnung, du mußt nur jetzt schlafen!« Ich wollte ihn nicht länger als Roboter betrachten und Roby nennen, ich wußte ja, wie er hieß. Er war ein Mensch, und fast sicher ein unschuldiger Mensch. Ich würde versuchen, ihm ein Freund zu sein.
Ich half ihm, die Couch neben dem Ofen zu erreichen, ich legte ihm ein Kissen unter den Kopf, deckte ihn zu und blieb bei ihm, bis er schlief. Dann erst ging ich hinauf in mein Schlafzimmer und legte mich selbst nieder. Doch der Morgen graute schon, als ich endlich einschlafen konnte, und selbst in den Träumen wurde ich noch von der Frage gequält, was gut war und was böse. Steve, mein Helfer, schien unser Gespräch und seinen Zusammenbruch vergessen zu haben, doch er benahm sich jetzt normaler, menschlicher. Nur manchmal, wenn ich ihm Fragen stellte, deren Beantwortung ihm offenbar unangenehm war, verfiel er wieder in diese Starre, die Fragestarre, wie ich sie im stillen nannte. Wann immer mir ein Wortspiel einfiel, mußte ich an Burton denken – ihm hatte das, ebenso wie mir, viel Spaß gemacht; er war ein so menschlicher Freund gewesen. Steve hingegen… Immer wieder mußte ich mir sagen: Steve kann nichts dafür. Irgendeine schreckliche Macht hat von ihm Besitz ergriffen, hat aus ihm einen anderen Menschen gemacht, einen roboterhaften ›Helfer‹, der tun muß, was er vielleicht gar nicht tun will. »Steve«, fragte ich eines Tages, »hilfst du mir* eigentlich gerne?« »O ja«, erwiderte er mit fast normaler Stimme, »ich habe schon immer gerne gebastelt, schon als Kind war der Elektronikbaukasten mit all seinen Ergänzungen mein liebstes Spielzeug. Ich hätte ja auch gern studiert, ich war sogar zwei Semester auf der Technik, dann aber starb mein Vater, und ich mußte das Geschäft übernehmen.« »Hast du denn keine Geschwister?« »Nein.« »Und bist auch nicht verheiratet?« »Nein.« Seine Stimme war wieder monoton geworden, sein Blick abwesend. Also zurück zur Elektronik. »Für welches Gebiet im Rahmen der Technik interessierst du dich denn ganz besonders?« »Kommunikationstechnik und Computer.« Leben kehrte in ihn zurück. »Ich habe mich, kurz nachdem ich mein Studium aufgeben mußte, das Geschäft mich aber noch nicht so sehr in Anspruch nahm, mit dem Bau von sehr empfindlichen Kurzwellen-Empfangsanlagen
beschäftigt; ich kann sagen, es waren wirklich hervorragende Konstruktionen, ich empfing Sendungen aus aller Welt und in hoher Qualität, mein Fadingausgleich war Spitze!« »Erzähl doch weiter, das interessiert mich sehr!« Er schien verlegen zu werden. »Nun ja, aus mir spricht der Stolz des Laien – aber es machte mir jedenfalls viel Spaß. Ich begann dann mit der Störungsanalyse, ich hatte nämlich im Noiseeffekt eines ganz bestimmten Frequenzbandes gewisse… wie soll ich sagen; – gewisse Spuren entdeckt. Sendungen im Niveau der Rauschintensität, so dachte ich jedenfalls. Ich entwickelte ein Filtersystem mit den damals neuen Homside-Black-Verstärkern, und es gelang mir tatsächlich, wenngleich nur unter besonders günstigen Bedingungen, eine Art Sendung zu empfangen.« »Wieso eine Art Sendung?« »Ja, ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen sollte, es war weder Sprache noch Musik noch Morsezeichen – es waren akustische Reize; vielleicht gibt es irgendwo auf der Erde ein Volk, das eine solche Musik macht, aber das war gewiß kein Volk, das imstande war, Sender zu bauen! Es war, als versuchte jemand mit mir unbekannten Instrumenten eine Sprache zu simulieren; eine schreckliche, eintönige Musik, die einem durch Mark und Bein ging! Ich erinnere mich, wie ich anfangs fasziniert lauschte und mir vorkam wie ein Kaninchen angesichts einer Schlange. Es war die Faszination des Schrecklichen! Ich hörte diese Sendung viele Stunden lang, jeden Tag wieder. Es gab keine Pausen, ich empfing immer nur diese sonderbaren akustischen Reize. Ich hoffte, wenn ich nur lange genug zuhörte, doch einmal etwas zu verstehen, zu erahnen wenigstens, aber vergebens.« »Hast du diese Empfangsanlagen noch?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Schon lange nicht mehr. Ich glaube, ich habe mich wochenlang, vielleicht sogar mehrere Monate abgemüht, etwas zu verstehen oder wenigstens herauszubekommen, von welchem Teil der Erde diese Sendungen stammten, doch es war vergebliche Mühe. Eines Tages, in einem Anfall von Wut, schlug ich alles kurz und klein und warf die Trümmer in den Müllschlucker. Zu spät.« »Wieso zu spät?«
Er starrte mich an, alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen, ich fürchtete, er würde im nächsten Augenblick wieder ohnmächtig werden. Rasch sagte ich: »Glaubst du, du könntest noch einmal eine solche Anlage bauen? Wir beide gemeinsam?« Er erholte sich blitzartig. »Ja, das wäre großartig!« »Am besten, du fährst gleich in die Stadt und besorgst, was wir noch brauchen, einverstanden?« »Gut, ja, ich will mir nur eine Liste machen.« »In Ordnung. Laß dir nur Zeit, ich bin heute etwas müde, ich werde mich hinlegen. Sag bitte Frau Myers Bescheid, daß sie mir keinen Tee heraufbringen soll, ich werde versuchen zu schlafen.« Ich ging hinauf in mein ›Meditierstübchen‹, einen kleinen Mansardenraum, an dessen Fenster ein Großvaterstuhl stand. Der Ausblick von hier oben war zauberhaft, die herbstlich verfärbten Wälder, die fernen Berge, tief unten das Silberband des Yellowstone River und das Gold der Wiesen. Doch heute sah ich die Schönheit nicht bewußt, ich ließ sie nur auf mich wirken, mich beruhigen. Ich mußte nachdenken, ungestört nachdenken. Steve, mein Helfer, hatte zwei Worte gesagt, die er nicht hätte sagen dürfen – oder die ich nicht hätte bemerken sollen. Doch ich war einfach nicht auf eine solche Äußerung gefaßt gewesen, ich hatte diese Worte wie einen elektrischen Schlag empfunden. Sein Ich, sein wahres Ich, war durchgebrochen, es hatte resigniert festgestellt: Zu spät! Nehmen wir an, von seinem Körper hatte ein unbekanntes Etwas Besitz ergriffen, es hielt seinen Geist gefesselt, sein Gehirn besetzt. Sein Ich war in irgendwelche Tiefen geflüchtet, es saß, gelähmt vor Entsetzen, in einem Winkel. Nun hatte mir Steve von seinen Basteleien erzählt, von dem Empfänger, dem Rauschanalysator, der geheimnisvollen Sendung. Er hatte genau das getan, was das Etwas von ihm wollte, er hatte perfekt funktioniert und das Etwas war befriedigt, seine Wachsamkeit ließ nach, und so konnte es seinem gefangenen Ich gelingen, für eine Zehntelsekunde durchzubrechen. Zu spät! – Er hatte die Apparatur zu spät zerstört. Die Sendung, was immer sie war, hatte ihn bereits zu dem gemacht, was er heute war. Zehn Jahre oder mehr hatte
er als latenter Schizophrener gelebt, und mein Erscheinen hatte die Spaltung vollzogen. In meiner Gegenwart war er nur noch der Helfer, in Gegenwart anderer der Häusermakler. Was war dieses Etwas? Woher stammte es, wieso war es gerade über ihn gekommen? Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß es noch im vorigen Jahrhundert Teufelsaustreibungen und Hexenglauben gegeben habe – und das nicht nur in Afrika oder Borneo, wo die Menschen die Steinzeit kaum überwunden hatten, nein, im kultivierten, hochentwickelten Europa und auch hier, in Nordamerika. Ja, es gab heute noch Menschen in unseren Breiten, die an Teufel, Hexen und Geister glaubten. Sie würden sagen, Steve sei vom Teufel besessen. Und da sich seine Besessenheit nur in meiner Gegenwart manifestierte, war ich, wenn schon nicht der Teufel selbst, so doch eine Art Hexenmeister… Nun, es hatte wenig Sinn, mich in die Gefilde der Lächerlichkeit zu begeben und schlicht albernen Gedanken nachzuhängen. Was aber war wirklich geschehen? Wollte ich zu vernünftigen Ergebnissen gelangen, mußte ich auf dem Boden der Realität bleiben. Die wahrscheinlichste Erklärung schien mir noch immer Spionage zu sein. Ich überlegte: Er und ich – und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer Menschen – waren in die Hände eines Agenten der Macht X gefallen. Wie, war zunächst unwichtig. Dieser Agent hatte mit Hypnose gearbeitet; die sonderbare Sendung, die Steve glaubte empfangen zu haben, beruhte auf einem elektronischen Nebeneffekt, einer Art Computermusik. Durch das stundenlange Hören dieser eintönigen ›Musik‹ – nennen wir diese akustischen Reize einmal so – war Steve in Trance gefallen, und der Agent hatte ihm seine Befehle übermittelt, posthypnotische Aufträge. Aber was war mit mir? Ich hatte während der Lernperiode in den ersten Jahren nach meiner zweiten Geburt wohl auch herumgebastelt und mich mit Elektronik beschäftigt, aber ich wußte ganz genau, daß ich nie so weit gekommen war, daß ich keine anderen Sendungen als das normale Radioprogramm empfangen hatte, daß ich nie das Rauschen analysiert hatte. Wie hatte der hypothetische Agent es fertiggebracht, in meinem Gehirn jene Zone III zu errichten? Auf
diese Frage wußte ich keine Antwort. Ich konnte nur annehmen, daß es einmal in der Zeit ›vorher‹ geschehen war und ich alles, was damit zusammenhing, vergessen hatte. Was aber war mein Auftrag? Zu Spionage hätte ich daheim in Bensville wesentlich mehr Gelegenheit gehabt als hier in den Bergen und Wäldern. Hier gab es wirklich so gut wie nichts! Es blieb mir also keine Wahl, ich mußte einfach abwarten, ob mir mein Auftrag eines Tages einfiel oder ob mir vielleicht Steve etwas verriet. Daß er jetzt und heute noch nichts darüber wußte, glaubte ich ihm, doch es konnte ja sein, daß es auch in seinem Hirn Informationen gab, die erst später einmal frei wurden. Bis dahin konnten wir uns ganz gut mit allerhand elektronischen Spielereien die Zeit vertreiben, vielleicht gelang es uns sogar, Steves Empfänger nachzubauen, den Rauschanalysator… Ich war neugierig, hätte gerne auch einmal diese sonderbare Musik gehört; wenn es sich, wie ich annahm, um einen elektronischen Nebeneffekt handelte, war dies gar nicht ausgeschlossen. Hatte er aber tatsächlich irgendeinen obskuren Sender empfangen, so war es praktisch sicher, daß wir nun nichts mehr davon entdecken würden. Man konnte ja wohl nicht annehmen, daß es irgendwo einen Sender gab, der jahrzehntelang dieselbe Höllenmusik ausstrahlte, pausenlos und nervtötend. Sollte ich aber je eine Musik dieser Art hören, dann – das nahm ich mir heute schon vor – würde ich ihr nicht so lange lauschen, bis ich in Trance fiel. Ich würde mich wehren, würde mich nicht kampflos fremden Einflüssen unterwerfen! Es klopfte. Frau Myers brachte einen Brief. »Entschuldigen Sie«, sagte sie verlegen lachend, »ich hätt’ wohl nicht stören sollen, aber weil es doch ein Expreßbrief ist, dachte ich, er ist vielleicht wichtig.« »Schon in Ordnung«, murmelte ich, »ich konnte sowieso jetzt nicht schlafen. Seien Sie so nett und machen Sie mir doch einen Tee, bringen Sie ihn in die Bibliothek, ich komme gleich hinunter, sobald ich den Brief gelesen habe!« Burton hatte mir geschrieben! Nach der Dicke des Umschlags zu schließen, sogar sehr ausführlich. Ich freute mich und vergaß für eine Weile all meine Probleme und Sorgen.
Als ich den Umschlag geöffnet hatte, sah ich, daß er nicht nur ein Schreiben enthielt, sondern auch verschiedene Zeitungsausschnitte. Ich las: Lieber alter Chip, ich darf es wieder wagen, Dich so zu nennen, die Affäre hier ist mehr oder weniger aufgeklärt worden, man hat eine Reihe von Verhaftungen vorgenommen (Details findest Du in den beigelegten Zeitungsausschnitten). Du bist zwar noch nicht ganz aus dem Schneider, aber nicht mehr der Verdächtige Nummer Eins. Man hält Dich nur noch für ein kleines Rädchen in der Maschinerie, und ich glaube, man fahndet nicht einmal mehr nach Dir. Ich brenne darauf, von Dir selbst einen Bericht zu hören, Du mußt ja Abenteuerliches erlebt haben, damals in den Bergen! Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich war, als mir unsere alte Freundin Deine kurze Nachricht aus Livingston brachte. Für Deine Einladung danke ich Dir, ich hoffe sehr, ihr einmal Folge leisten zu können; im Augenblick ist es unmöglich, ich arbeite nämlich an einem Drehbuch, das in vier Wochen fertig sein soll. Ja, ich habe auf dem beruflichen Sektor Glück gehabt, doch davon berichte ich Dir mündlich, wahrscheinlich kann ich Anfang Dezember weg. Ja, Glück im Spiel…Du kennst das Sprichwort. Um es kurz zu machen: Jackie hat mich verlassen. Die alte Geschichte, ein anderer Mann, vermögend, erfolgreich. Mein Gott, was soll ich sagen, ich kann’s ja verstehen, eine schöne Frau wie sie will nicht ewig warten. Und ich verdiente ja immer nur gerade soviel, wie ich brauchte, um ein ordentliches Leben zu führen; eine Ehe, eine große Wohnung, Kinder vielleicht, das konnte ich mir nicht leisten. Anfangs war ich recht deprimiert, um nicht zu sagen unglücklich. Jetzt geht’s schon wieder einigermaßen; ich habe mich halt in die Arbeit gestürzt, der Roman, an dem ich vor Deiner Flucht herumgekaut habe, hat gefallen; mein Verleger hat einen Burschen vom Film aufgerissen, und das Ende vom Lied ist, daß die »Globus« den Stoff verfilmen will und ich das
Drehbuch zu schreiben habe. Junge, Junge, da steckt Geld drin! Jetzt könnte ich heiraten… Aber so geht’s eben im Leben. Solange mich die Muse alle Tage geküßt hat, war ich zwar glücklich, brachte es aber zu nichts. Nun, da sie mich verlassen hat, und ich ungeküßt an der Schreibmaschine sitze, nun habe ich Erfolg. Doch, wie schon gesagt, Details mündlich. Ich hoffe, daß es Dir gut geht und Du Dich von all den Strapazen, die Du auf Deiner Flucht zweifellos durchzustehen hattest, gut erholen kannst. Schreibe mir bitte bald wieder, vorsichtshalber weiterhin an die andere Adresse, bleib gesund und vergnügt und denke an Deinen alten Freund Burton Das war’s also! Der arme Junge hatte Pech gehabt mit seiner Jackie, aber Glück mit seinem Roman. Nun, er würde wohl bald darüber hinwegkommen, Arbeit war eine gute Medizin gegen Seelenkummer. Schade, daß er erst im Dezember kommen konnte, ich hätte so gerne einen Gesprächspartner gehabt, bei dem man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte. Ich hatte ihm, kurz bevor ich in das Haus übersiedelt war, geschrieben und ihn eingeladen; er konnte schließlich seinen Beruf überall ausüben, hier hatte er Ruhe, gute Luft und Frau Myers’ Essen war auch nicht zu verachten. Außerdem war das Haus groß, und drei oder vier Zimmer standen noch leer. Doch die Zeit bis dahin würde wohl bald vergangen sein, der Oktober neigte sich dem Ende zu, auf den Bergen lag schon Schnee. Auch hier unten war schon einmal Schnee gefallen, aber natürlich nicht liegen geblieben. Doch seit einigen Tagen konnte man das Wild beobachten, das in den Park kam (die Mauer hatte an der Waldseite mehrere Lücken); Frau Myers fütterte es im Winter, und wenn es kam, so sagte sie, dann kam auch der Winter. In den folgenden Wochen arbeiteten Steve und ich an dem Schaltplan für Empfänger und Analysator; eine Reihe von Schwierigkeiten traten auf, da sich Steve nicht mehr genau erinnern konnte, wie er gewisse Frequenzen ausgefiltert hatte, und ich mußte, sobald ein neues Problem auftrat, immer erst mehrere Bücher zu
Rate ziehen, ehe mir eine Lösung gelang. Doch meist zeigte sich, daß ein eben bewältigtes Problem neue Schwierigkeiten nach sich zog, und wir kamen nur langsam weiter. Das machte uns jedoch nichts aus, wir hatten Freude an der Arbeit und waren zufrieden, überhaupt Fortschritte zu machen. Längst war der Winter eingezogen, die Welt um uns in Schnee versunken; Herr Myers brachte alle Tage Körbe voll Buchenscheite ins Haus, und Frau Myers heizte die Öfen und den großen Kamin im Wohnzimmer. Ich liebte das Knistern und Knacken des brennenden Holzes, den würzigen Geruch, den Anblick der lodernden Flammen. Es war eine vor-sintflutliche Art, durch Verbrennen von Holz Wärme zu erzeugen, aber sonderbarerweise sagte diese Art mir am meisten zu. Ich nahm die sogenannten Segnungen der Zivilisation ganz gern in Anspruch, insbesondere ein modernes Badezimmer, doch meine Liebe galt den alten Bräuchen. Steve war da ganz anders, ihm war es egal, wodurch es warm im Haus wurde, bloß frieren wollte er nicht. Ihm war es auch gleich, was er aß, solange es ihn sättigte, und was er trank, solange sein Durst gestillt wurde. Er war eben doch nur eine Art Roboter, der sich am liebsten mit Idioten, Sensoren und Frequenzfiltern beschäftigte. Ich selbst fand ja auch Freude an der Arbeit, aber für mich war die Arbeit, die Forschung, nur eine der Facetten des Lebens. An einem grauen Novembertag, da der Nebel wie wäßrige Milch über den Wiesen lag und das allgegenwärtige Naß von den kahlen schwarzen Zweigen der großen Blutbuche tropfte, bekamen wir Besuch. Eine elegante junge Dame, das glatte schwarze Haar zu einem Knoten gewunden, in einem apfelgrünen Wollkleid, einen Waschbärmantel um die Schultern. Braune Wildlederstiefel. Mein Blick glitt von den schlanken Fesseln wieder hinauf zu dem schmalen madonnenhaften Gesicht und den blauen Augen, die, in entzückendem Kontrast zu dem damenhaften Aussehen der Figur, ein schalkhaftes Wesen verrieten. Es war Tamara, Tamara Dubois, die Frau, die ich im Restaurant des ›Golden Star‹ mit Steve und einem anderen Herrn beobachtet hatte. Frau Myers hatte sie hereingeführt, unter vielen Entschuldigungen,
die Dame ließe sich nicht abweisen, sie wolle unbedingt mit meinem Assistenten sprechen. Ich war gerade im Wohnzimmer gewesen, hatte vor dem Kamin kauernd in die Flammen gestarrt und über die Übersetzung eines altpersischen Liebesliedes nachgedacht. Ich brachte es nicht fertig, mich so wie Steve ausschließlich mit den verdammten Filtern herumzuschlagen. Nachdem wir uns begrüßt und vorgestellt hatten, bat meine schöne Besucherin sogleich, zu Steve geführt zu werden; es schien, als verdächtige sie mich, ihn in irgendeinem dunklen Verlies eingesperrt zu halten. Ich muß gestehen, ich war ärgerlich. Ich läutete Frau Myers, die eben erst gegangen war, und bat sie, Miß Dubois zu meinem Assistenten in den Experimentierraum zu führen. Wieder allein, überlegte ich, was dieser Besuch wohl bedeuten könne und wie sich der arme Bursche Tamara gegenüber verhalten würde. Ich hoffte sehr, daß er sein normales Benehmen an den Tag legte, zumal wenn ich nicht dabei war; die einzige Gefahr bildeten die Apparaturen, deren Vorhandensein oft schon genügte, um ihn in eine Art Trance zu versetzen. Er arbeitete dann zwar besonders erfolgreich und konzentriert, war jedoch kaum ansprechbar. Es blieb mir nichts übrig, als abzuwarten. Ich bat Frau Myers, Tee und Gebäck zu bringen, und entschuldigte mich, daß ich sie heute so auf Trab hielt. Sie lachte verlegen. »Das macht doch nichts, Professor!« (Sie titulierte mich so, und ich ließ es dabei bewenden.) »Aber wissen Sie, das ist schon eine energische Dame! Ich hab nicht gelauscht, aber sie hat Mister Cullingham richtig angeschrien und geschimpft mit ihm!« Auch ich lachte nun. »Steve wird sich nichts daraus machen; aber ich kann mir gut vorstellen, daß ihm eine Störung jetzt gar nicht willkommen war, und er sich demnach nicht gewillt zeigte, ihr überhaupt zuzuhören.« »Ja, so wird’s wohl gewesen sein. Aber ich geh jetzt lieber und setz das Teewasser auf!« Sie verließ das Zimmer, noch immer vor sich hin murmelnd. Offenbar hatte ihr die energische Dame nicht so gut gefallen wie mir.
Es waren kaum zwanzig Minuten vergangen, da klopfte es kurz und, ohne eine Aufforderung abzuwarten, stürmte Tamara wieder ins Zimmer. »Was haben Sie nur mit ihm gemacht?« fragte sie atemlos. Also doch! Ich beschloß, ihr für den Anfang das Reden zu überlassen, denn ich mußte erst wissen, was geschehen war, bevor ich einen Entschluß bezüglich meines Verhaltens treffen konnte. »Nichts«, antwortete ich. »Nichts? Das wagen Sie mir ins Gesicht zu sagen?« »Ja, denn es ist so.« Ihre blauen Augen funkelten vor Empörung. »Aber Steve benimmt sich wie ein Zombie, bemerken Sie das denn nicht? Ich wette, Sie haben ihn hypnotisiert, der arme Kerl ist ja gar nicht mehr er selber!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich schwöre Ihnen, ich habe ihn nicht hypnotisiert; aber natürlich ist mir sein absurdes Verhalten nicht verborgen geblieben.« »Na und? Da muß man doch etwas dagegen unternehmen, Steve ist ja krank! Wenn Sie wirklich unschuldig an der Sache sind, warum bringen Sie ihn dann nicht zu einem Arzt oder ins Krankenhaus?« »Ich fürchte, das wäre sein Ende. Ich wage es nicht, ihn von der Arbeit wegzureißen, im Augenblick ist diese Arbeit sein Leben, und ich meine das wörtlich!« Entsetzt starrte sie mich an. »O Gott, wenn das wahr ist, dann ist seine Konstruktion ein Werk der Hölle! Haben Sie Steve gekannt, wie er früher war? Nein? Nun, er war so normal wie Sie und ich, ein stets vergnügter, humorvoller und lebenskluger Mann – und jetzt, jetzt ist er ein Besessener!« Ich nickte. »Damit haben Sie recht, aber er ist einfach von seiner Arbeit besessen, er hat eine Idee, die er realisieren will. Mit der Hölle hat das gar nichts zu tun, im Gegenteil!« »Was bedeutet das?« »Nun, seine – besser gesagt, unsere – Arbeit hängt eher mit dem Himmel zusammen; wir bauen einen Kurzwellen-Empfänger sehr hoher Empfindlichkeit.« »Aber Steve ist… er ist ein ganz anderer Mensch geworden, und ich möchte wetten, er steht unter Hypnose! Ich habe noch immer große Lust, die Polizei hier herauszuschicken, aber wenn Sie meinen,
das könnte ihm schaden, dann werde ich nur einen Arzt bitten, ihn zu untersuchen. Ich kenne einen sehr guten Psychiater.« Das Mädchen hatte mir gerade noch gefehlt! Natürlich hatte sie recht, niemand wußte das besser als ich, doch mußte ich versuchen, sie irgendwie zu Vernunft zu bringen. Nicht nur, daß ihre Aktionen mich in Gefahr brachten, ich war auch überzeugt davon, daß Steve, wenn jemand energisch genug versuchte, ihm sein Geheimnis zu entreißen, einfach tot umfallen würde. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist; doch wir wollen gemeinsam überlegen. Darf ich zunächst fragen, wie Sie zu ihm stehen? Sind Sie eine Verwandte? Seine Freundin?« »Weder noch. Vielleicht bin ich eine Art Schwägerin aber das muß ich erklären. Steves Frau kam bei einem Autounfall ums Leben; ich bin ihre Stiefschwester, doch eigentlich nicht einmal das. Ihr Vater hat ein zweites Mal geheiratet und zwar meine Mutter; sie brachte mich mit in die Ehe.« »Kompliziert, aber sagen wir mal, Sie sind seine Schwägerin. Altersmäßig könnten Sie seine Tochter sein. Aber wieso fühlen Sie sich denn so verantwortlich für ihn?« Tamara war empört. »Verantwortungsgefühl ist doch nicht eine Frage des Verwandtschaftsverhältnisses! Wenn ich irgendeinen Menschen in Gefahr sähe, würde ich versuchen, ihm zu helfen. Und Steve kenne ich so gut, ich sagte Onkel zu ihm, solange ich klein war; später bat er mich dann, ihn bloß Steve zu nennen, als Onkel käme er sich so alt und würdig vor.« Sie lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Steve ist in Gefahr, und ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß Sie die Ursache sind!« Wie recht sie hatte! Doch ich mußte versuchen, sie von ihren für uns gefährlichen Plänen abzubringen. »Tamara«, sagte ich, »erlauben Sie mir bitte, Sie so zu nennen. Ich will Ihnen alles erzählen und dann wollen wir gemeinsam überlegen. Ich hatte beschlossen, mich hier niederzulassen und mich mit elektronischen Forschungen zu beschäftigen, als Steve zu mir kam. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen. Er sagte, er wolle mit mir zusammenarbeiten als mein Assistent, ohne Gehalt, im Gegenteil, er bot mir sogar Geld an. Er hatte als junger Mensch eine funktionierende Apparatur konstruiert, die es ihm gestattet hatte,
extrem schwache Sendungen aufzufangen. In einem Anfall von Wut hatte er jedoch einmal alles zerschlagen und weggeworfen. Nun wollte er wieder so etwas bauen, und es gelang ihm, mich für seine Ideen zu interessieren. Die Arbeit fesselte ihn, nahm immer mehr von ihm Besitz, er wurde ganz sonderbar; ich nenne ihn oft meinen Roboter. Er ißt, trinkt, schläft, atmet, nur um am Leben zu bleiben. Nie habe ich ihn lachen oder wenigstens lächeln sehen. Einmal habe ich versucht, seinem beunruhigenden Verhalten auf den Grund zu gehen; er verlor das Bewußtsein, fiel zu Boden und kam stundenlang nicht mehr zu sich. Ein zweites Mal konnte ich einen solchen Kollaps gerade noch rechtzeitig verhindern, doch ich wagte nicht, einen Arzt zu holen, denn der würde ihm gewiß Fragen über seinen Zustand stellen. Um ganz ehrlich zu sein, ich kann mir vorstellen, daß Steve bei einer solchen Gelegenheit stirbt!« Tamara war in sich zusammengesunken, nachdenklich drehte sie eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, zwischen den Fingern. »Ich glaube Ihnen«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wieso, aber ich glaube Ihnen. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß eine Forschungsarbeit einen Menschen so zu verändern imstande ist! Steve ist ein Fremder geworden, und er ist mir unheimlich, ich kann mir nicht helfen!« »Ich empfinde mitunter ähnlich«, erwiderte ich. »Dabei habe ich ihn nicht von früher her gekannt! Aber es ist nicht immer gleich schlimm mit ihm, manchmal benimmt er sich etwas normaler, menschlicher.« Frau Myers hatte Tee und Apfelkuchen gebracht, und wir aßen und tranken, ohne uns dessen recht bewußt zu werden. Wir waren beide mit unseren Gedanken bei Steve und wußten beide nicht, wie ihm zu helfen sei. Schließlich meinte ich: »Wahrscheinlich liegt die einzige Möglichkeit darin, ihn gewähren zu lassen. Einmal wird die Arbeit beendet sein, und ich hoffe sehr, daß er dann, wenn er am Ziel steht, wieder zu dem Menschen wird, der er früher war.« Hier log ich. Sollte es tatsächlich gelingen, jene obskure Sendung wieder zu hören, von der Steve mir berichtet hatte, so war ich überzeugt, daß er ihr von neuem stunden- und tagelang lauschen würde. Gelang es uns hingegen nicht, sie zu empfangen, würde Steve die Arbeit nicht aufgeben, sondern weitersuchen, wenn nötig bis ans Ende seines Lebens. Aber das durfte ich Tamara nicht sagen, sonst
hätte sie wohl darauf bestanden, einen Psychiater zu konsultieren. Tamara erhob sich. »Ich darf Sie nun nicht länger aufhalten, hoffen wir, daß Sie recht haben! Und entschuldigen Sie bitte mein Eindringen hier.« Ich verbeugte mich. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, es war mir eine große Freude, Sie kennengelernt zu haben, und ich hoffe, Sie wagen sich wieder einmal in Frankensteins Schloß!« Sie lachte, ihre Augen blitzten lausbübisch. »Vielleicht!« Ich begleitete sie bis ans Parktor, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Es nieselte, Schneematsch bedeckte die Wege, ein grauenhaftes Wetter. »Gute Fahrt und Vorsicht!« »Auf Wiedersehen!« Das, was ich damals an jenem trübseligen Vorwinterabend gefürchtet und erhofft hatte, geschah: Wir verliebten uns. Bald kam Tamara jeden zweiten oder dritten Tag heraus, die Abende verbrachten wir stets gemeinsam, meistens in der Stadt. Wir besuchten Theateraufführungen,1 Konzerte, Vorträge; wir aßen zusammen in einem kleinen französischen Restaurant, wir tanzten, wir gingen sogar spazieren und bemerkten kaum, wie abscheulich das Wetter in jenem November war. Zum Glück hatte Tamara keinen festen Beruf, um genau zu sein, sie war nicht irgendwo angestellt. Tatsächlich war sie Pianistin, hatte öffentliche Konzerte gegeben – doch das lag schon einige Jahre zurück. Ein rheumatisches Leiden hatte es ihr unmöglich gemacht, weiter aufzutreten; heute spielte sie nur noch gelegentlich bei Hauskonzerten oder zu ihrem Vergnügen. Neuerdings spielte sie auch für mich. Ich war wohl nicht musikalisch genug, um überhaupt zu bemerken, daß die Finger ihrer linken Hand nicht so beweglich waren wie die der rechten; sie allerdings störte es sehr. Doch Tamara war reich, und so war es nicht allzu schlimm, daß sie sich mit dem einzigen Beruf, den sie erlernt hatte, nicht ihr Brot verdienen konnte. Ich hingegen war egoistisch genug, um mich sogar darüber zu freuen, denn so hatte sie immer Zeit für mich und für gemeinsame Unternehmungen. Es war eine wunderschöne Zeit. Gegen Ende November wurde es richtig kalt, eine Reihe von
klaren Nächten brachte tiefe Strahlungsfröste, die Erde wurde hart wie Fels. Alles erstarrte. Der Teich im Park fror zu, das Bächlein säumte seine grasbestandenen Ufer mit bizarren Borten aus Perlen und Kristall. Und dann kam der Schnee. Es rieselte aus schweren grauen Wolken, die sich über die Berge heranwälzten in immer neuen Schüben; es schneite tagelang, nächtelang. Herr Myers hatte den ganzen Tag zu tun mit Schneeschaufeln und Holzschleppen, und Frau Myers heizte die Öfen, kochte, buk und wusch. Steve und ich arbeiteten an dem Analysator; er fast ununterbrochen, verbissen und unnachgiebig, ich hingegen nur gelegentlich (wenn Tamara keine Möglichkeit hatte herauszukommen) und ohne besondere Begeisterung. Doch jetzt, da wir nahezu eingeschneit waren und Tamara, zumindest solange der Schneefall anhielt, nicht zu mir kommen konnte, jetzt war ich fleißiger. Langsam begannen sich die ersten Erfolge abzuzeichnen, und die Sache machte mir wieder mehr Spaß. Eines Abends gelang es uns zum ersten Male, ein paar Fetzen jener Sendung aufzufangen, die Steve vor mehr als zwanzig Jahren gehört hatte: Eine Folge von Tönen, ohne Rhythmus, ohne Melodie – ja, ich weiß nicht einmal, ob ich diese Geräusche als Töne bezeichnen durfte. Steve hatte recht gehabt, einfach von akustischen Reizen zu sprechen. Wir waren beide fasziniert und wie berauscht vom Erfolg. Ich hatte, obwohl die Tonfolge so leise kam, daß sie nur gerade wahrnehmbar war, das sonderbare Gefühl, etwas Bekanntes zu hören, eine Sprache, die… Ich versuchte die Lautstärke zu erhöhen und drehte an dem Regelknopf, ganz wenig nur, aber ich löste einen Knall aus, eine Kaskade von Funken stob aus den Kühlschlitzen, und Steve stöhnte auf, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt. »Wie konntest du nur! Wir hatten doch ohnehin die höchste Leistung, die zulässig war, und der kleine Vorschaltwiderstand…« »Na wenn schon«, unterbrach ich ihn gereizt, »wir werden halt einen neuen Widerstand einlöten, ich mach das schon, gib mir mal das Schaltbild!« Wortlos reichte er es mir. Er hob den Deckel des Apparates ab
und zeigte mit einem vor Empörung zitternden Finger auf die Bescherung. Es war tatsächlich mehr Schaden als ein durchgebrannter Widerstand, wir mußten praktisch die gesamte Verstärkerstufe erneuern! Nun, das bedeutete nicht mehr als ein oder zwei Tage zusätzliche Arbeit; ich nahm es nicht weiter tragisch, schließlich hatten wir den ganzen Winter Zeit! Steve aber war böse und unglücklich. »Schau, Steve, wir werden in Zukunft den Regler blockieren, knapp bevor die maximal mögliche Leistung erreicht ist, dann kann so etwas nicht wieder geschehen!« Ich versuchte ihn zu trösten. »Und außerdem sehe ich da eine Möglichkeit, die Verstärkung zu erhöhen, und zwar selektiv, ich werde das heute abend noch durchrechnen… Sag mal, du hast doch damals diese Sendung deutlicher empfangen, nicht?« »Ja, das schon«, knurrte er, »aber ich hatte eine ganz andere Schaltung, damals gab’s doch die Murchinson-Selektoren noch nicht, bei mir ging’s primitiver zu!« »Und trotzdem war der Empfang besser!« »Ja, ich weiß auch nicht, wieso. Ich hatte einfach auch Glück, denke ich. Ich wollte, ich käme wieder drauf, wie ich’s gemacht habe, aber das scheint hoffnungslos zu sein!« »Na ja, probiert haben wir’s ja lang genug. Doch es führt auch unser Weg zum Erfolg, wie du gesehen hast, also laß den Kopf nicht hängen! Du wirst sehen, wir bauen eine verbesserte Verstärkerstufe ein, dann wird’s schon klappen. Ich werde mich gleich an die Berechnungen machen.« »Und wie bekommen wir die Ersatzteile? Ich kann doch jetzt nicht in die Stadt, der Schnee liegt meterhoch!« »Meterhoch ist schrecklich übertrieben, außerdem hat der Schneefall aufgehört, der Himmel ist klar, schau nur hinaus! In ein paar Tagen haben die Räumfahrzeuge alles weggeputzt.« Ich faltete den Schaltplan zusammen, suchte mir zwei Fachbücher heraus, die ich vielleicht brauchen würde, und nahm auch den großen Handrechner mit – in zwei bis drei Stunden sollte ich wissen, ob meine Idee, die selektive Verstärkung zu verbessern, durchführbar war.
In meinem Zimmerchen richtete ich mir alles griffbereit her, breitete den Plan wieder aus und begann mir die Daten der einzelnen Schaltelemente zu notieren. Doch viel weiter kam ich nicht – ich konnte mich einfach nicht richtig konzentrieren. Die Tatsache, daß wir jene Sendung empfangen hatten, ging mir nicht aus dem Kopf. Diese sonderbaren Signale, die irgend jemand oder irgend etwas jahrzehntelang und offenbar pausenlos sendete… Daß es sich dabei nicht um einen Randomeffekt handeln konnte, hatte ich sofort erkannt, obwohl das die logischste Erklärung gewesen wäre. Denn – und fast scheute ich mich, es vor mir selber zuzugeben – ich hatte es verstanden. Es war eine Sprache gewesen, eine Botschaft; besser gesagt, ein winziges Fragment einer Botschaft. Keine menschliche Sprache, das schien gewiß; vielleicht war es die Sprache von Tieren, von Insekten oder… mir fielen die Delphine ein, diese klugen, freundlichen Geschöpfe des Meeres… War es möglich, daß wir mit unserer zugegebenermaßen phantastischen Apparatur die Sprache von Tieren empfingen? Von Tieren, die sich mittels elektromagnetischer Schwingungen verständigten? Die, ähnlich wie wir selbst es tun, Gehirnwellen emittieren, Gehirnwellen mit wesentlich größerer Intensität! Das könnte eine Erklärung sein! Aber warum hatte ich es verstanden? Hatte ich es überhaupt verstanden oder eben nur erkannt? Erkennen ist eine Vorstufe des Verstehens; ich hatte es vielleicht doch nur als Sprache, als Fragment einer Mitteilung erkannt… Vergeblich versuchte ich, das Gehörte in Worte zu fassen, es war mir nicht möglich, es war so anders, es gab keine passenden Worte. Ein Vergleich drängte sich mir auf: Ich habe ein Blatt Papier, das bedeckt ist mit mathematischen Formeln – kann ich sie in Sprache fassen? In Sprache, die jedermann versteht? Nein. Oder: Ich höre Musik. Sie sagt mir viel, und doch kann ich das nicht durch allgemeinverständliche Sprache ausdrücken. Der zweite Vergleich ist nicht so gut – aber das mit den Formeln, das trifft die Sachlage schon eher. Ich erkenne die Formeln und verstehe auch, was sie aussagen. Sie sagen jedermann dasselbe (das trifft für die Musik nicht zu), sie sind eine Art Sprache, aber die
verbale Sprache ist trotzdem ungeeignet, das auszudrücken, was sie sagen. So ähnlich war’s. Jenes Fragment, das ich gehört hatte, war nicht Teil eines Satzes, es war… es war eine Scherbe von einem Glasmalereifenster… das Element eines Puzzles… Und ich hatte es sofort erkannt, ich hatte gewußt, was es war. Das gesamte Bild, die gesamte Mitteilung also, konnte irgend etwas sein, ich wußte nichts darüber. Trotzdem hatte ich das Fragment als Teil des Ganzen erkannt. Doch nun stellte sich sogleich die Frage: Wieso habe ich es erkannt, wieso war es für mich nicht sinnlos? (Für Steve zum Beispiel war es unverständlich und absolut sinnlos.) Zone III – war das die Erklärung? Wieso vergaß ich überhaupt so oft, mitunter für Wochen, auf diese Besonderheit in meinem Hirn? Gab es in ihr eine Art ›Sprachbereich‹, der es mir ermöglichte, solche Mitteilungen zu verstehen? Vielleicht war es tatsächlich die Delphinsprache, oder die Sprache der Elche, oder auch die der Erdhörnchen? Würde ich, wenn es uns gelänge, diese Mitteilungen zur Gänze in ausreichender Intensität zu empfangen, auch wissen, von wem (oder wovon) sie stammten? Die alte Frage, das Problem meines Ichs stand im Raum – nach langer Zeit wiederum ganz deutlich: Die drei zerebralen Zonen, Zone I, die des täglichen Lebens, Zone II, die des Vergessens und Zone III, die blockierte Zone, zu der ich keinen Zugang finden konnte. Gewisse Dinge, Tatsachen, Erkenntnisse wie etwa das Wissen um die Existenz von Zone III oder daß ich R 14 war, glitten sehr leicht und für lange Zeit in Zone II ab. Es war nicht ganz korrekt zu sagen, daß ich diese Dinge vergaß, ich dachte nur nicht daran, es kam mir nicht in den Sinn. Zone I war perfekt, manchmal sogar beängstigend perfekt: Alles, was ich in ihr gespeichert hatte, lag jederzeit griffbereit da, ich vergaß nichts, was ich einmal gelernt oder gelesen hatte. Zone I funktionierte wie ein Computer, ein organischer Computer… Das Telefon läutete. Tamaras weiche, warme Stimme wünschte mir einen guten Abend. »Tamara, meine Liebe, du ahnst nicht, wie willkommen mir deine Stimme in eben diesem Augenblick ist! Wie geht es dir, was machst
du immer?« Sie lachte leise. »Es geht mir gut, denn ich habe ja dich. Und ich denke an dich und warte darauf, daß die Straßen wieder befahrbar werden. Wie sieht’s bei euch draußen aus?« »Wie am Nordpol«, erwiderte ich. »Noch ist nicht einmal die Hauptstraße geräumt, aber vermutlich geschieht das schon in dieser Nacht.« »Und die Zufahrt zu deinem Hügel?« »Wird auch von den offiziellen Räumern frei gemacht; natürlich muß ich extra dafür bezahlen.« »Ja, das einsame Leben ist zwar schön, aber teuer. Was macht ihr zwei gerade jetzt?« »Heute haben wir zum ersten Male einen Fetzen von Steves alter Sendung hereinbekommen. Und es ist nicht, wie ich immer annahm, ein Randomeffekt! Aber das alles am Telefon zu erzählen, würde zu lange dauern, jedenfalls scheinen wir einer sehr interessanten Sache auf die Spur gekommen zu sein.« »Ach Charly, spann mich nicht auf die Folter! Woher kann diese Sendung kommen?« »Ich weiß es nicht, Liebste. Ich dachte eben darüber nach – es könnte eine Art Tiersprache sein, mir kamen die Delphine in den Sinn.« »Ist das nicht sehr unwahrscheinlich? Warum nicht Menschen, Menschen, deren Sprache du nicht kennst?« »Nun, es ist sicher keine menschliche Sprache.« »Und eine Art Morsesprache? Oder ein Code?« »Ja, eine vage Möglichkeit wäre es, normale Sprache, die man durch ein Kodiergerät geschickt hat. Aber ich bin fast sicher, daß es auch das nicht ist. Ich bitte dich, zu bedenken, daß diese Sendung nun schon jahrzehntelang und ununterbrochen läuft! Wer macht denn so etwas?« »Keine Ahnung. Nun, du hast recht, ich will mich gedulden; in ein paar Tagen kann ich sicher wieder hinauskommen und dann werde ich’s ja selbst hören.« »Hoffentlich. Wir müssen nämlich erst eine neue Verstärkerstufe bauen, die alte ist uns durchgebrannt. Um ehrlich zu sein, ich habe das Feuerwerk veranstaltet, unabsichtlich natürlich. Bei der
Gelegenheit werden wir die neue Stufe auch verbessern. Die Intensität war zu niedrig.« »Ich bin schon sehr neugierig. Wie geht’s Steve?« »Wie immer«, erwiderte ich; »er ist von der Arbeit derart besessen, daß man kaum mit ihm reden kann. Vermutlich fährt er in die Stadt, sobald es geht, wir brauchen ja Ersatzteile. Ich komme dann mit, schon deshalb, weil ich dich sehen will!« »Fein, ruf aber vorher an, damit ich zu Hause bin!« »Okay. Ich freue mich schon. Ich liebe dich, mein kleiner Engel, ich liebe dich sehr!« »Ich liebe dich auch, mein Kobold. Leb wohl und gute Nacht!« »Gute Nacht auch, schlaf gut!« Die Brücke zerriß, ich war wieder allein, allein mit meinen Gedanken, mit meinen Sorgen. Allein mit dem Schaltplan, dem Rechner, den Büchern. Ich hatte doch Steve versprochen, heute noch die modifizierte Schaltung durchzurechnen! Wieder notierte ich die Daten aus dem Plan und begann eine neue Schaltung zu skizzieren, doch ich war nicht recht bei der Sache, ich hatte sogar den Wert einer Induktivität falsch abgeschrieben! Den Fehler entdeckte ich erst, als ich die Daten in meinen Rechner einspeiste… zu dumm, so etwas passierte mir doch sonst nicht! Ärgerlich warf ich Bleistift und Papier zur Seite. Verdammt, warum ließ ich mich von Steve so hetzen! Wir hatten den ganzen Winter Zeit, da kam es doch auf einen Abend nicht an! Morgen, gut ausgeschlafen, würde ich die Arbeit in der halben Zeit bewältigen! Der Morgen brachte neue Schneefälle, es war, als hätte der Winter am Abend zuvor bloß einmal tief Atem geholt, um uns nun von neuem, frisch gestärkt, seine Macht zu zeigen. »So einen Winter hatten wir schon Jahre nicht mehr«, berichtete Frau Myers, als sie das Frühstück servierte. »Nicht mal das Wild kommt durch! Und die armen Vögel finden auch nichts! Na, die können wenigstens fliegen, aber Hasen und Rehe können ihre Schlupfwinkel nicht verlassen, und viele werden verhungern.« Steve warf ihr einen mürrischen Blick zu, und da mir auch keine Antwort einfiel, schien sie ein wenig gekränkt zu sein und schloß die Tür heftiger als sonst. »Die mit ihrem Viehzeug, das ist doch das Leben im Wald
gewöhnt! Und das Rotwild vermehrt sich ohnedies viel zu sehr, weil es kaum mehr eine natürliche Auslese gibt. Aber wie steht’s mit der neuen Schaltung? Wann können wir anfangen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab’s noch nicht. Aber solange wir uns die Ersatzteile nicht besorgen können, ist’s sowieso egal; was hast du gestern abend noch gemacht?« »Alles ausgebaut, was zerstört war. Mehr konnte ich nicht tun. Was sagst du zu der Sendung? Wir haben doch ein bißchen hereinbekommen, genau das war’s, was ich damals empfangen hab!« »Einstweilen kann man noch gar nichts sagen, jedenfalls ich nicht. Und du? Hast du etwas wiedererkannt?« Steves Blick wurde abwesend. »Es war ein Teil der Botschaft«, murmelte er tonlos. »Ich bin nur ein Helfer, die Botschaft ist für dich.« »Ach Unsinn, Steve! Ich verstehe kein Wort davon! Komm, wir wollen uns heute die Antennen vornehmen!« Wir arbeiteten bis gegen Mittag an den Antennenleitungen, die wir sehr sorgfältig isolierten, zusätzlich zu dem normalen Schutz. Oben am Dachboden war es kalt und zugig, und unsere Finger wurden bald steif, ebenso die in Plastik eingegossenen Isoliermäntel, die wir über die Drahtleitungen stülpten. Es war eine unangenehme Arbeit, und ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt Erfolg versprach. Dennoch war es in unserem Fall wichtig, jede nur mögliche Störung auszuschließen, egal wie unbedeutend sie scheinen mochte. Am Nachmittag hörte der Schneefall wieder auf, und es schien sich eine Wetteränderung anzubahnen. Das Thermometer fiel und ein scharfer Nordostwind kam auf. Nachts hörte ich das ferne Wimmern der Schneefräse, begleitet von dem dumpfen Brummen der starken Dieselmotoren. Endlich! Endlich waren wir nicht mehr von der Welt abgeschnitten; in meinem speziellen Fall bedeutete dies lediglich: Ich war nicht mehr von Tamara getrennt. Am nächsten Morgen brachen wir gleich nach dem Frühstück auf. Ich hatte eine Ersatzteilliste zusammengestellt, und Steve wollte versuchen, alles zu bekommen oder zumindest zu bestellen. Meine noch am Abend vorher durchgeführten Berechnungen zeigten, daß
meine Idee durchführbar war und eine beträchtliche Intensitätserhöhung versprach. Steve war nun auch nicht mehr deprimiert, im Gegenteil, er zeigte die beinahe menschliche Reaktion, die Zerstörung der Verstärkerstufe als Glücksfall anzusehen. In Livingston setzte er mich vor Tamaras Wohnung ab, bevor er auf Suche nach den Bauteilen ging. Und ich, ich glücklicher Narr, ich hoffte, seine Suche würde bis zum Abend andauern. Tamara begrüßte mich, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen, und ich hätte sie am liebsten überhaupt nicht mehr losgelassen. Wir küßten und umarmten uns und waren ein paar kurze Stunden wunschlos in unserer Liebe. Ich hatte Zone III vergessen, ich hatte vergessen, daß ich (wahrscheinlich) ein potentieller Spion war, daß ich etwas verstand, was ich eigentlich nicht hätte verstehen sollen… Ich dachte nicht an all das, was mich sonst bedrückte, ich war bis an die Haarspitzen erfüllt von Liebe. Heute, heute sollte Tamara meine Frau werden! Auf meine scheu und zärtlich geflüsterte Frage lachte sie nur. »Mein Geliebter, mein einziger Geliebter«, murmelte sie mit schläfrig klingender Stimme, »du hast es ohnehin so lange ausgehalten!« »Mein kleiner Engel, meine Süße, meine gute Fee!« Ich bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ich danke dir! Du hast mich zum glücklichsten Menschen auf dieser Erde gemacht!« Wir lagen eng umschlungen, bebend vor Freude und Sehnsucht, als der dunkle Schatten auf mich fiel wie eisiges Tuch. Ich erinnere mich noch, daß ich dachte, der Tod könne doch nicht vor der Vereinigung eintreten, nachher wäre ich bereit gewesen, aber jetzt! Noch einmal pulste heißes Blut durch meine Adern, ich lehnte mich auf gegen Schatten und Kälte – doch umsonst! Meine Kraft war wie der Atem eines Vogels im Sturm, wie die Wärme einer Kerzenflamme neben einem Gletscher. Ich versank lautlos. Als ich wieder zu mir kam, spürte ich zuerst die Wärme. Ich war also nicht tot, dachte ich, und gleichzeitig wurde mir die Albernheit dieses Gedankens bewußt. Scham floß in heißen Wellen durch meinen Körper. Ich hatte versagt, lächerlich, idiotisch versagt! Der Tod wäre das kleinere Übel gewesen. Doch dann hörte ich ein leises Weinen und öffnete die Augen.
Tamara saß an meinem Bett, sie trug ein hochgeschlossenes dunkles Kleid, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte verzweifelt. »Tamara!« Meine Stimme klang fremd und hohl. »Gott sei Dank!« Ihre zarten Hände hatten die Tränen von den Wangen gestrichen, sie lächelte, faßte mich an den Schultern, neigte sich über mich und küßte mich behutsam und scheu. »Mein Geliebter, wie froh bin ich, daß du wieder munter bist! Was ist nur geschehen?« »Ich weiß es nicht, Liebste! Es war plötzlich eine Kälte um mich, Kälte und Dunkelheit – ich dachte, es sei der Tod, aber offenbar war es nur eine Ohnmacht. O Tamara, ich schäme mich so, es ist einfach entsetzlich, wie konnte nur so etwas geschehen?« Sie lachte. »Du Dummer, du lieber dummer Kerl, wenn im Leben nicht mehr passiert, wollen wir dankbar sein. Kopf hoch! Wie fühlst du dich denn jetzt?« »Ganz gut, danke. Du hast mich ja in Daunen gepackt und eine Heizdecke angesteckt!« »Du warst plötzlich kalt wie ein Stück Eis, da dachte ich, es sei wichtig, dich wieder warm zu kriegen, daher die Daunendecke! Ach Liebster, ich bin ja so froh, daß du dich wieder besser fühlst! Sollen wir nicht doch lieber einen Arzt holen?« »Nein, das ist gewiß nicht notwendig. Ich will in den nächsten Tagen einmal mein Herz untersuchen lassen, vielleicht ist doch von der Grippe im Herbst etwas zurückgeblieben.« »Ja, tu das! Und nun wollen wir nicht mehr daran denken! Das zweite Mal wird es gewiß nicht mehr so aufregend sein, und selbst wenn dein Herz nicht ganz in Ordnung sein sollte, wird es dir nicht wieder solch einen bösen Streich spielen!« Aber es war nicht das Herz gewesen, das wußte ich genau. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wußte, doch ich war vollkommen überzeugt davon, daß Zone III diesen Schlag geführt hatte, diesen Schlag gegen den Menschen, der ihr Untertan war. Der nicht von seinem Weg abweichen durfte, der seine Aufgabe (was immer das sein mochte) zu erfüllen hatte. Stöhnend warf ich mich herum und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Fluch über euch, die ihr mir das angetan habt! Ich will nicht!
Ich will nicht! Ich will kein Spion sein – ich will nur leben, still und unbeachtet mein Leben führen. Ich will diese wunderbare Welt, unsere herrliche blaue Erde, die erfüllt ist von tausendfältigem Leben, kennenlernen und versuchen, sie zu verstehen – das ist die Aufgabe, die ich will! Nicht das Fremde in mir, das Feindliche! Das, das mich mit Ohnmacht schlägt, wenn ich dem größten Wunder gegenüberstehe! Fluch, Fluch über euch! Ich war so verzweifelt, weil ich mich so hilflos fühlte, so ausgeliefert dem übermächtigen Feind in mir. Dem Feind, der in Zone III saß, still und unbemerkt, wenn ich nicht vom Weg abwich, der aber unbarmherzig zuschlug, wenn mein Leben eine Richtung zu nehmen drohte, die ihm nicht gefiel. Ich war machtlos, ein Stück Holz, treibend im Strom… Ich hörte wie von fern Steves Stimme: »Die Botschaft ist für dich!« Ich hatte es ohnedies gewußt, ich hatte es erahnt und die Ahnung als richtig erkannt, aber ich hatte es nicht wissen wollen, ich hatte versucht, es zu ignorieren. Ich armer Narr, ich kleiner schwacher Mensch, was konnte ich tun? Konnte ich mich wehren? Konnte sich eine Libelle gegen einen Blizzard wehren? »Tamara«, sagte ich ohne Überlegung, »Tamara, ich will dir alles erzählen, alles! Ich habe es schon einmal einem Freund erzählt, es war ihnen nicht recht, aber ich glaube, daß sie gegen plötzliche Entschlüsse machtlos sind. Vielleicht ist es ihnen auch bloß nicht so wichtig, ich weiß es nicht. Ich will dir mein Leben erzählen, soweit ich mich erinnern kann. Und ich werde dir auch von ihnen erzählen, von ihnen, hört ihr?« Ich lauschte in mich hinein – doch Zone III schwieg. »Ich werde dir alles, alles sagen, auch alles über Steve… alles, alles! Ich bitte dich nur, glaube mir, halte mich nicht für verrückt, für krank. Ich bin es nicht, das weiß ich ganz genau.« Tamara strich mir über die Haare, zart wie ein Windhauch. »Liebster, beruhige dich! Ich weiß, daß du nicht verrückt bist, und ich werde immer zu dir halten, was auch geschieht! Vertraue mir und vergiß nicht, daß ich dich liebe.« »Ich weiß es und ich danke dir! Ich danke dir für alles. Aber du weißt nicht, wen du liebst, und wenn ich sage, ich liebe dich, dann kann ich nicht sagen, was oder wer das ist: Ich. Ich bin vielleicht nicht immer der, den du kennst, vielleicht geschieht mit mir einmal das, was
mit Steve geschah. Und ich werde es nicht wissen, werde es nicht erkennen. Heute sage ich: Ich will mich dagegen wehren – aber werde ich dazu imstande sein? Meine Zukunft ist mehr als unsicher und manchmal habe ich das Gefühl, daß jeder Tag ein Schritt ist – ein Schritt näher auf einen Abgrund zu. Und ich kann mich nicht wehren, kann den Lauf der Zeit nicht aufhalten, jeder Tag ist ein Schritt!« Meine Stirn war feucht, ich warf die Daunendecke ab, setzte mich auf. »Tamara, ich weiß nicht, was ich tun soll! Kannst du mich nicht halten?« Lächelnd reichte sie mir ihre beiden Hände. »Ja, ich werde dich halten, und du hältst mich. Weißt du, manchmal glaube ich an die Macht der Liebe, ich glaube, daß die Liebe stärker ist als alle Mächte dieser Welt. Wir lieben uns und wir sind stark!« »Dank mein Engel, tausend Dank! Ich hoffe sehr, daß du recht hast, daß wir stark genug sind, ihnen standzuhalten, ihnen, wer immer das sein mag. – Geh, bitte, gib mir etwas zu trinken, keinen Alkohol, einen Fruchtsaft oder Tee oder was immer du hast!« Sie nickte und ging, und ich sah ihr nach, bewunderte den Fall ihres bodenlangen Kleides das, als einzigen Schmuck, eine breite golddurchwirkte Borte hatte. An den Füßen trug sie kleine schwarze Pantöffelchen. Nach wenigen Minuten kam sie wieder, ein Tablett in den Händen. Tee! »Wie hast du das nur so schnell fertiggebracht, du, meine Zauberin?« Lachend stellte sie das Tablett ab. »Das Haus hat einen eigenen Restaurantdienst, jede Wohnung einen Speisenlift. Ich brauche nur zu bestellen und Minuten später ist das Gewünschte da. Praktisch, nicht? Außerdem ist ein Telegramm gekommen, wohl von Steve. Lies vor, bitte!« Ich riß den Umschlag auf. »Bin Salt Lake City geflogen, hier verschiedene Bauteile nicht erhältlich. Bin morgen mittags wieder zurück. Gruß Steve.« Überrascht sah ich auf. »Was soll das, warum rief er nicht an?« »Nun, ich denke mir, er wird dein Veto gefürchtet haben. Ein Telegramm stellt dich vor vollendete Tatsachen!« »Kluges Mädchen. Ja, das wird’s sein. Und ich bin froh – wenn du es erlaubst, bleibe ich bei dir über Nacht. Darf ich?«
»Natürlich. Doch jetzt trink erst einmal!« Sie hatte mir Tee eingeschenkt, mit Rahm und Zucker, sie wußte längst, wie ich ihn mochte. Es gab kleine Kuchen dazu, mit Rosinen und Nüssen gefüllt, ein delikates Gebäck. Ich begann mich wieder besser zu fühlen, die Angst war zurückgedrängt, der Feind der Zone III schwieg. Durstig trank ich zwei, drei Tassen. »Und jetzt erzähle!« Tamara setzte sich auf eine der weichen Plüschkugeln, die im Zimmer umherlagen; sie zog die Beine hoch, streifte die Schuhe ab. »Erzähle und ich höre!« Und ich erzählte, berichtete über die kurze Spanne eines .langen Lebens, die mir in Erinnerung war. Tamara unterbrach mich kein einziges Mal, sie hörte nur zu, und ihr Gesicht spiegelte den Inhalt meiner Erzählungen wider. Ich berichtete nicht nur über all meine Erlebnisse, die Flucht über die Berge, den Diebstahl meines Passes – ich erzählte auch von meinen Überlegungen, meinen Sorgen, meiner Angst und meinen Zweifeln. Und natürlich auch von unseren Forschungen, vom Rauschanalysator, von der Botschaft. »Ich habe Angst«, schloß ich, »ich fürchte mich vor der Botschaft und bin gleichzeitig begierig, sie zu erfahren. Ich glaube jetzt, daß sie es ist, die Zone III öffnen wird.« Tamara nickte. »Damit hast du sicher recht. Aber das wird auch sein Gutes haben, du wirst dann deinen Feind kennen, wirst wissen, wie stark er ist. Vielleicht ist es auch gar kein Feind, hast du diese Möglichkeit schon bedacht?« »Ja – und manchmal glaube ich sogar daran, manchmal habe ich die Empfindung, er sei mir wohlgesinnt. Das allerdings nur so lange, als ich nicht vom Weg abweiche.« »Immerhin muß der Weg ziemlich breit sein!« »Es scheint so, meine Auftraggeber tolerieren viel. Dennoch lehne ich mich auf gegen sie, ich will keinerlei Einschränkung dulden, ich will frei sein, vollkommen frei, verstehst du?« »Niemand ist doch völlig frei, jeder muß im Rahmen der Konventionen leben – zumindest das.« »Ja, aber in die sind wir hineingeboren, wir empfinden sie nicht als Einschränkung, oder nur selten als solche. In früheren Zeiten war es schlimmer, man hatte zum Beispiel keine wahre Glaubensfreiheit,
noch im vorigen Jahrhundert mußte man – um nicht von seinen Nachbarn geschnitten zu werden – einer allgemein anerkannten Konfession angehören, man mußte in eine Kirche gehen, wobei es allerdings nicht wichtig war, in welche. Es war damals in Europa schon besser als hier in den Staaten, wo die Pflicht zur Religiosität ja geradezu lächerliche Formen angenommen hatte. Aber heute? Heute sind wir doch weitgehend frei.« »Vorausgesetzt, wir sind begütert und nicht gezwungen, einen Teil unseres Lebens zu verkaufen.« »Nicht nur! Ich würde sagen, wenn wir entweder begütert sind oder anspruchslos. Oder wenn wir einem freien Beruf nachgehen, auch das gibt es!« »Ja natürlich. Aber die Freiheit der Anspruchslosen ist doch nichts als bittere Armut!« »Sag das nicht! Mein alter Freund in den Bergwäldern, er war frei und fühlte sich reich und glücklich. Jeder Tag brachte ihm tausend Geschenke, denn er liebte die Welt, in der er lebte. Er war ein König! Einen Tagesmarsch von seiner Hütte entfernt gab es ein Berghotel, dorthin ging er manchmal. Er beobachtete dann die Gäste, bleiche, übergewichtige, streßgeplagte Menschen, die, unter dem Kommando eines Sportlehrers, Fitneßläufe absolvierten. Hopp, hopp, hopp…! Und dafür mußten sie auch noch bezahlen! In anderen Worten, dafür mußten sie Stunden hinter Schreibtischen, über Akten gebeugt, verbringen. Und er? Er durfte in dieser traumschönen Welt leben, sie gehörte ihm! Niemand kommandierte ihn, niemand schnitt ihn, weil er nicht korrekt gekleidet war. Er war frei, frei wie ein Vogel in der Luft!« »Und diese Freiheit möchtest du auch für dich?« »Ich weiß es nicht, noch nicht. Erst einmal brauche ich die innere Freiheit, ich werde um sie kämpfen, das weiß ich. Aber ich habe keine Ahnung, wie dieser Kampf ausgehen wird.« »Ich werde versuchen, dir zu helfen. Was wirst du tun – als nächstes, meine ich -, wirst du an diesem Gerät weiterarbeiten?« »Ja. Ich muß diese Botschaft hören!« »Aber du glaubst doch nicht mehr, daß es tierische Gehirnwellen sind, oder?« »Es erscheint mir recht unwahrscheinlich, nun, da Steve gesagt hat,
die Botschaft sei für mich. Aber weißt du, ich wollte es glauben, ich wünschte es und verdrängte alle Gedanken an eine Macht, die in mir sitzt und mir Befehle erteilt!« »Es wäre auch zu schön gewesen, hätten wir mit den Delphinen reden können oder mit den Käuzchen im Wald!« »Ja. Ich muß versuchen, mich von dem Wunschgedanken freizumachen, es macht mich manchmal ein bißchen blind, und das könnte gefährlich werden, jetzt, wo ich vor der Endrunde meines Kampfes stehe.« »Deines Kampfes um die Freiheit!« Ich legte einen Arm um ihre Schulter. »Ja, Liebste. Um meine Freiheit und um dich. Ich fühle es, fast möchte ich sagen, ich weiß, daß, wenn ich jene Botschaft erst einmal empfangen habe, ich Zugang zu dem blockierten Bereich in meinem Hirn haben werde; dann werde ich wissen, was R 14 bedeutet und was mein Auftrag ist. Und was immer er sein mag, ich werde mit aller Kraft versuchen, ihn abzulehnen. Selbst wenn mich eine Macht dazu ausersehen hätte, ein Messias zu werden, ich würde es nicht wollen. Ich will keine Macht, ich will keinen Reichtum und keine Aufträge. Ich will in Freiheit leben. Sonst nichts.« »Ich habe Angst«, sagte Tamara. »Ich habe Angst, du wirst wie Steve, wirst besessen sein von irgendwelchem technischen Kram und wirst gar nicht mehr hören, was ich sage, wirst mich nicht mehr sehen, so wie du mich jetzt siehst!« »Ich hoffe – ich kann nur hoffen -, daß das nicht geschieht. Ich weiß nicht, wie stark die fremde Macht ist. Ich erinnere mich, damals in Bensville, in jener ersten Zeit meiner Menschwerdung, als ich viele Tage damit verbrachte, über mich selbst nachzudenken, da hat jene Macht mühelos zugeschlagen. Allerdings nur ganz leicht. Gerieten meine Gedanken auf Abwege, so schlief ich plötzlich ein, oder ich hörte die Glocke an der Wohnungstür, das heißt, ich bildete mir ein, sie zu hören; aber ich war abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. Heute sind die Mittel drastischer.« Tamara nickte. »Ja, wie bei der Erziehung eines Kindes. Solange es klein ist, hilft man ihm behutsam auf den rechten Weg, später aber toleriert man zwar mehr, doch man reagiert bei Abweichungen auch heftiger, gröber.«
»Ja, genauso. Und wenn ich einmal Zugang zu Zone III haben werde, dann bin ich ›erwachsen‹. Wie wird mich die fremde Macht bestrafen, wenn ich nicht gehorche?« »Wir können es nicht wissen, Liebster. Aber fürchte sie nicht! Angst macht schwach, und du mußt stark sein. Es kann doch auch der Fall sein, daß, wenn du einmal alles weißt, das Fremde in dir überhaupt keine Macht mehr hat. Daß es dich, wenn du ›erwachsen‹ bist; sozusagen ganz aus seiner Obhut entläßt, hoffend, daß du ihm nun freiwillig dienst?« »Das wäre wohl zu schön, um wahr zu sein. Wir müssen einfach abwarten; ich rechne damit, daß wir in etwa einer Woche so weit sind. Vorausgesetzt, daß Steve alles bekommen hat.« »Weil wir von Steve sprechen«, sagte Tamara und rieb sich die Arme, als fröre sie, »vom guten, fröhlichen Onkel Steve – glaubst du, daß er eine Gefahr für dich sein könnte?« Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich ganz einfach nicht; ich habe schon darüber nachgedacht, und ich glaube, daß Steve wirklich nur ein Helfer ist, mein Helfer. Das würde bedeuten, daß er mir gehorcht, meine Aufträge ausführt und nicht mich bevormundet oder gar zwingt, etwas zu tun. Ob er aber weiterhin nur Helfer bleibt, wenn ich etwa versage, mich auflehne – das kann ich nicht einmal erahnen.« »Sag, könnt ihr die Sache nicht noch ein bißchen hinauszögern? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie wir Weihnachten feiern sollen – so, unter einem Damoklesschwert!« »Wir werden Weihnachten feiern, mein Schatz! Wenn ich auch schon darauf brenne, endlich eine Entscheidung zu erlangen, eine Antwort auf all meine Fragen, eine Öffnung des blockierten Teils meines Hirns – auf ein paar Tage wird es nicht ankommen. Wir werden eine wunderbare Weihnacht erleben, du und ich! Meine erste Weihnacht, die erste stille, Heilige Nacht!« Am 14. Dezember kam Burton an. Ich hatte, versponnen in meine Liebe und bedrückt von meiner Angst, gar nicht mehr an sein Kommen gedacht. Meine Tage und Nächte hatte ich zwischen Tamara und der Arbeit aufgeteilt; ich hatte versucht, allen Grübeleien auszuweichen, meine Sorgen zu ignorieren, und vor allem Tamara gegenüber Zuversicht zu zeigen.
Doch nun war Burton gekommen! Unser Wiedersehen verlief recht stürmisch, wir feierten ausgiebig, und das Erzählen nahm kein Ende. Seine Anwesenheit verlieh mir eine gewisse Sicherheit, ich fühlte mich nicht mehr so hilflos und allein wie vorher, als ich nur den roboterhaften Steve um mich gehabt hatte. Tamara, die sehr sensibel und stets um mich besorgt war, versuchte ich ja doch irgendwie abzuschirmen, meine Sorgen vor ihr zu verbergen. Burton hatte wahre Berge von Gepäck mitgebracht, eine Menge Bücher und natürlich auch seine Skiausrüstung. Er war begeistert von der märchenhaften Winterlandschaft, und wenn Steve und ich an unserem Apparat arbeiteten, wanderte er auf Skiern durch die tief verschneiten Wälder. Tamara war über die Feiertage auch zu uns herausgezogen, und wir hatten noch zwei junge Leute als Hilfe für die Myers angestellt; die beiden kamen jeden Morgen von der nahegelegenen Farm herauf, sie half Frau Myers in Küche und Haus, er ging Herrn Myers zur Hand, der ja schon älter war und dem das Holzschleppen und Schneeschaufeln nicht mehr leicht fiel. Es tat mir leid, daß ich nicht schon eher daran gedacht hatte, eine Hilfe für die beiden Alten zu besorgen. Die große Blautanne neben der Einfahrt wurde einen Tag vor dem Fest mit elektrischen Kerzen besteckt und mit bunten Kugeln behängt, für das Wild wurde eine eigene Futterkrippe aufgestellt und Frau Myers sorgte dafür, daß sie stets gut gefüllt war. Wir hatten alle eine Menge Geschenke eingekauft, der Berg der Pakete und Päckchen in der Abstellkammer vergrößerte sich von Tag zu Tag. Eine Euphorie hatte uns alle erfaßt – für mich war es die Euphorie vor dem Untergang, doch ich ließ mir nichts anmerken, ja, mitunter vergaß ich sogar völlig den Feind in mir und genoß mit den anderen die Vorfreude auf das Fest. Nur Steve machte eine Ausnahme. Er arbeitete alle Tage mit beängstigender Verbissenheit; er ging erst dann zu Bett, wenn seine Hände vor Übermüdung schon so zitterten, daß ihm nichts mehr gelang. Mein Verhalten mißbilligte er ganz offensichtlich, er sagte zwar nichts, doch war sein Verhalten eine einzige Rüge. Die Fortschritte, die wir machten, waren in dieser Zeit nur gering,
obwohl ich täglich ein paar Stunden arbeitete und keinesfalls den Fortgang behinderte. Doch die neue Verstärkerstufe verlangte auch Änderungen in anderen Teilen der Apparatur, und die Verbesserung lief praktisch darauf hinaus, daß wir alles neu konzipieren mußten. Der Tag der Wintersonnenwende war wolkenlos, die Welt um uns bedeckt mit glitzerndem Schnee. Burton und ich waren auf Skiern unterwegs, wir wanderten durch die Wälder, tranken die Schönheit dieser Welt in uns hinein, und ich versuchte, nicht an das Schwert zu denken, das, an dünnem Faden leise schwankend, über mir hing. Am Nachmittag begannen Julfeiern im Dorf, die Burschen hatten große Feuer angezündet, über denen ganze Lämmer am Spieß gebraten wurden. Musik spielte, es wurde gelacht, getanzt und gesungen. Auch wir im Haus feierten, sogar Steve beteiligte sich an einem abendlichen Umtrunk, ohne allerdings sein abwesendes Verhalten auch nur für eine Stunde abzulegen. Er saß schweigend und verloren in unserem Kreis, ein Toter unter Lebenden, ein Android unter Menschen. Wir waren irgendwie erleichtert, als er ging – und wir schämten uns dessen ein wenig. Der arme Kerl konnte ja nichts dafür. Auch die folgenden Tage verbrachte ich mit Burton auf den Skiern im Wald, Tamara schmückte das Haus mit Girlanden aus Tannenzweigen, Stechpalmen und Misteln; sie buk Kekse und kleine Kuchen, die sie in den Weihnachtsbaum hängte, sehr zur Freude der Vögel. Dann kam der Heilige Abend, die stille Nacht; mein erstes Fest unter Freunden. Wir alle versuchten, froh und glücklich zu sein, nicht an das Kommende zu denken, doch an eben diesem Abend gelang es uns nicht, die dunklen Schatten zu vertreiben. Im Garten, vor dem Weihnachtsbaum, sangen wir zusammen das Lied von der stillen, Heiligen Nacht, Herr Myers begleitete uns auf einem mir unbekannten Saiteninstrument, einer Art Mandoline. Es war alles sehr schön, aber wir waren traurig und bedrückt. An den folgenden Tagen half ich Steve wieder bei der Arbeit, ich war fleißig und plagte mich redlich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, nicht länger in dieser Ungewißheit leben zu können. Ich
wollte Klarheit, wollte eine Entscheidung, was immer sie mir bringen mochte. Das Wetter war noch immer sonnig und windstill. Nun wanderte Tamara mit Burton durch die Wälder, und ich dachte, ich müßte eigentlich eifersüchtig sein. Ich war es aber nicht, ich liebte sie beide und vertraute ihnen. Doch es war nicht nur das, nicht nur Freundschaft und Vertrauen. Es war auch eine Art unbewußter Resignation und vielleicht auch der Wunsch, das Schicksal herauszufordern. Der Silvesterabend kam und ging, desgleichen der Neujahrstag. »Du bist manchmal schon ganz so wie Steve«, beklagte sich Tamara. »Diese elende, abscheuliche, widerwärtige Arbeit! Wie ich sie hasse! Wie gerne ich alles zerschlagen würde!« »Ach, mein armer Liebling! Das würde ja doch nichts nützen, nur die Zeit meiner Qual verlängern! Ich muß einfach Klarheit finden, muß wissen, ob ich auf ein Weiterleben hoffen darf, auf ein Leben mit dir – wenn du willst!« Lachend gab mir Tamara einen Kuß. »Wenn das ein Antrag war, dann kann ich ihn nicht annehmen. Nicht heute! Nachher, wenn dieser Teufelsspuk vorbei ist, dann frag mich noch einmal!« Obwohl die Feiertage nun vorbei waren, zog Tamara nicht wieder in die Stadt. Es schien ihr hier zu gefallen, sie verstand sich gut mit Burton und hatte großen Gefallen an den Skiwanderungen gefunden. Da es im Haus auch ein Musikzimmer gab, ließ sie den Flügel stimmen und begann zu üben. Bald gab sie zusammen mit Burton und Herrn Myers kleine Hauskonzerte. Da ich kein Instrument spielte, war ich das dankbare Publikum. Auch Frau Myers lauschte, und leise klapperten ihre Stricknadeln. Erst gegen Mitte Januar waren wir mit unserer Apparatur wieder so weit, daß wir versuchen konnten, den Analysator einzusetzen. Doch gerade in dieser Zeit gab es magnetische Stürme, die sogar den Empfang normaler Rundfunksendungen erschwerten und unsere Versuche im Keim erstickten. In dieser Zeit zeigte Steve die ersten Zeichen eines körperlichen Versagens; er hatte sich einfach zu viel zugemutet, hatte kaum geschlafen und die Nahrung nur geistesabwesend in sich hineingeschaufelt. Seine Hände begannen zu zittern, ein Tick zwang
ihn, den Kopf ruckartig zur Seite zu werfen, vor allem wenn er aufgeregt war oder sich zwingen wollte, besonders exakt zu arbeiten. Seine Augen waren entzündet und tränten, sein Magen revoltierte, sobald er mehr als ein paar Bissen zu sich nahm, und er begann unter Schlaflosigkeit zu leiden. Schließlich wurde es so schlimm mit ihm, daß er unser Werk in Gefahr brachte. Vernünftigerweise hätten wir jetzt einfach abwarten müssen, bis sich die Empfangsbedingungen besserten, die Apparatur war ja fertig, und nun sollten die Tests durchgeführt werden. Doch noch immer erklang das sonst gleichmäßige Rauschen wie das anund abschwellende Brausen eines Wasserfalls. Gelegentliches Kreischen und Krachen zeugte von fernen atmosphärischen Entladungen. Dagegen konnten wir nichts tun. Steve aber, von seiner Zwangsneurose beherrscht, versuchte da und dort noch etwas zu verbessern, zerstörte und reparierte und zerstörte wieder. Endlich entschloß ich mich, einzugreifen. »Steve, hör mir zu!« »Ich höre«, brummte er und fuhr fort, irgend etwas zu löten. »Steve, ich will, daß du den Lötstab abschaltest und zuhörst. Nur zuhörst!« »Ich höre doch nicht mit den Händen. Sag’s nur, ich begreife es schon. Aber ich muß diesen Widerstand…« »Steve, verdammt noch mal, du tropfst ja das Zinn in die Schaltung! Du machst alles kaputt!« Nun war ich wütend und nicht länger willens, untätig zuzusehen. »Die Apparatur ist fertig! Wir können nur noch warten, bis die Empfangsbedingungen besser werden.« Zitternd, mit Tränen in den blicklosen Augen, schaltete Steve die Lötnadel ab. »Es ist tatsächlich ein Tröpfchen auf den Print gefallen. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte.« Er schluchzte fast. »Ich fahre gleich in die Stadt und besorge einen neuen.« »In deinem Zustand fährst du nirgends hin. Du bist ein Wrack, und wenn du nicht endlich zu Vernunft kommst, gehst du uns vor die Hunde! Ich werde einen Arzt kommen lassen.« »Keinen Arzt, nein, bitte keinen Arzt«, wimmerte er, und ich fürchtete schon, er werde vor mir niederknien. Doch er erhob nur
bittend die Hände. »Keinen Arzt, mir fehlt doch nichts, bitte nicht! Ich werde den Schaden schon wiedergutmachen!« Ich dachte daran, wie ich selbst ängstlich jeder medizinischen Untersuchung aus dem Weg gegangen war, wie ich selbst mich vor einem Arzt gefürchtet hatte (und noch immer fürchtete). Mitleid erfaßte mich, ich wußte, wie groß seine Angst war. »Nein Steve, keinen Arzt, wenn du es nicht willst. Beruhige dich! Doch du mußt versprechen, mir zu gehorchen, dir Ruhe gönnen und die Finger von der Apparatur lassen. Du weißt doch, was magnetische Stürme sind, du weißt, daß dann ein Empfang unmöglich ist!« Schluchzend stammelte er: »Danke, danke!« Dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen, sein Kopf zuckte erbarmungswürdig. »Ich habe versagt! Ich bin ein schlechter Helfer!« »Unsinn, Steve! Ohne dich hätte ich das nie fertiggebracht, es war ja tatsächlich so, daß ich dir geholfen habe, nicht umgekehrt. Du hast Großartiges geleistet!« Doch er schien meine Worte nicht zu hören, er fuhr fort, sein Versagen zu bejammern und sich laut Vorwürfe zu machen, er habe alles zerstört. Endlich wurde er ruhiger, die körperliche Erschöpfung schien weitere psychische Exzesse unmöglich zu machen. Er taumelte zu dem Diwan, der in der Ecke stand, fiel darauf und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Sein Schlaf war einer Ohnmacht verdammt nahe, und ich bereute schon mein Versprechen, keinen Arzt zu rufen. Burton und Tamara waren im Musikzimmer, sie übten ein neues Stück ein. Mit langen Schritten ging ich hinüber und riß die Tür auf. Sie fuhren erschrocken auseinander, Tamara errötete leicht. Fast mußte ich lachen, es schien ja, daß die beiden ein schlechtes Gewissen hatten, dabei waren sie doch nur über ein Notenblatt gebeugt gewesen. »Ich muß mit euch reden«, begann ich abrupt, und da ich nun auch bei Burton eine sonderbare Verlegenheit registrierte, fuhr ich rasch fort: »Es geht um Steve.« Erleichtertes Aufatmen. »Er hat einen Nervenzusammenbruch. Ich möchte euren Rat, ich will nicht allein über ihn entscheiden, ich wage es nicht, ich bin selbst zu sehr von
allem betroffen.« »Was ist denn geschehen?« fragte Tamara erschrocken. Ich erzählte es ihnen. »Steve fürchtet, einen Arzt zu konsultieren – ebenso wie ich, das wißt ihr ja«, schloß ich den Bericht. Tamara schüttelte den Kopf. »Der arme Kerl! Wenn er eine ähnliche panische Angst vor ärztlichen Untersuchungen hat wie du, könnte eine solche für ihn, in seinem jetzigen Zustand, gefährlich sein, nicht? Wovor fürchtest du dich eigentlich, kannst du das konkret angeben?« »Nein«, erwiderte ich, »ich kann nur vermuten, daß es die Möglichkeit ist, daß der Arzt eine Neurose feststellt und die Einweisung in eine Heilanstalt fordert. Irgendeine geistige Abnormität, die zwar nicht für meine Mitmenschen, aber für mich selbst gefährlich sein könnte…« Burton lachte. »Ich hab selten einen Menschen gekannt, dessen Hirn besser funktionierte als deines! Von dieser Amnesie abgesehen, bist du doch normal wie irgendwer, nur eben gescheiter und in diese Arbeit verbissen wie ein Dackel in einen alten Schuh. Du wirst sehen, wenn du deine Untersuchungen vollendet hast, wird alles wieder ins Lot kommen. Wahrscheinlich löst sich dann auch diese Zone III, wie du sie nennst, in nichts auf, und du hast Zugang zu den Erinnerungen in ihr!« »Du glaubst also, Zone III enthält nur Erinnerungen?« »Davon bin ich überzeugt. Erinnerungen an irgendwas – vielleicht auch Erinnerungen an irgendeinen Kerl, der dir ›Aufträge‹ erteilt hat – aber ich bin sicher, daß du sie nicht ausführen mußt, wenn du es wirklich nicht willst. Ich glaube nicht an posthypnotische Befehle, jedenfalls nicht in deinem Fall. Du hast doch einen eigenen Willen, und der ist auf alle Fälle stärker als ein fremder!« »Hoffentlich!« »Das darfst du nicht bloß hoffen, wissen mußt du es! Felsenfest davon überzeugt sein!« Ich nickte. »Ja mein Freund, du hast wohl recht; ich will mich in Autosuggestion üben. Doch was soll mit Steve geschehen? Wir müssen ihn irgendwie hindern, weiter an unserer Anlage herumzupfuschen, sie ist fertig und in Ordnung so.« »Sperr doch einfach das Zimmer ab!« schlug Tamara vor.
»Dann müßten wir ihn heraustragen«, hielt ich dem entgegen, »und da würde er wohl aufwachen und sogleich weiterarbeiten wollen!« »Wenn er sich wirklich nur als deinen Helfer betrachtet, dann muß er dir doch gehorchen«, wandte Burton ein. »Befiehl ihm, schlafen zu gehen! Mache ihm klar, daß er in seinem übermüdeten Zustand mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Notfalls drohe ihm mit dem Arzt!« »Zum Befehlen habe ich kein Talent und drohen möchte ich nicht, ich kenne seine Angst und will sie nicht ausnützen – aber ich kann immerhin versuchen, ihm gut zuzureden.« Zu dritt begaben wir uns in den Experimentierraum. Steve lag noch immer auf dem Diwan, genauso, wie er vor mehr als einer Stunde gelegen hatte. Sein Atem ging flach, aber regelmäßig. »Tragen wir ihn mitsamt dem Überwurf in sein Bett«, schlug Tamara flüsternd vor. »Wir beide nehmen die Ecken am Kopfende, Burton die am Fußteil. Vielleicht wacht er dann gar nicht auf!« Vorsichtig gingen wir zu Werk, nachdem wir alle Türen geöffnet und sein Bett vorbereitet hatten. Wir hielten den Überwurf, eine dicke schottisch gemusterte Decke, gut gespannt und Steve war leichter als ich gedacht hatte – so gelang der Transport ohne Schwierigkeiten. Der Schläfer bewegte sich nicht ein einziges Mal. Wir legten ihn mitsamt der Decke auf sein Bett und schlichen dann hinaus. Ich verschloß die Türen des Arbeitsraumes und ließ den einen Schlüssel innen stecken; den anderen nahm ich an mich. Gemeinsam tranken wir den Tee in der Bibliothek. Frau Myers hatte frische Kuchen gebacken, kleine Teigschüsselchen mit Äpfeln, Rosinen und Nüssen gefüllt – eine Köstlichkeit. Wir aßen den Teller leer, sehr zur Freude der Bäckerin. Schon dunkelte es, die Tage waren noch immer entsetzlich kurz. Draußen war ein Sturm aufgekommen, es schneite zwar nicht, doch der Wind trieb den Schnee von Dächern und Bäumen vor sich her und jagte Schneewolken gegen die Fenster. Er heulte und sang im Kamin, und ich mußte daran denken, daß vor gar nicht langer Zeit die Menschen noch an Geister und Gespenster geglaubt hatten, ja, es heute noch in einigen Teilen der Welt taten. Wie jung war doch die Menschheit noch! Eben erst von den Bäumen geklettert… Burton las aus seinem neuen Roman ›Bergwinter‹ vor, und so
wurde uns der lange Abend kurz. Als es Zeit war, schlafen zu gehen, sahen wir wieder nach Steve. Er schlief noch immer und hatte sich offenbar nicht bewegt. Wir deckten ihn gut zu und lüfteten das Zimmer – mehr konnten wir jetzt für ihn nicht tun. Tamara und ich saßen noch eine Weile in ihrem Zimmer beisammen, wie wir es meist am Abend taten. Wir plauderten, liebkosten und küßten uns und machten Pläne für die Zukunft – für eine gemeinsame Zukunft, die, wie ich fürchtete, nur ein Märchen war. Wir hatten uns angewöhnt, immer vor einem ›Nachher‹ zu sprechen, alle Pläne für ›nachher‹ zu schmieden. Wir wußten, was es bedeutete. Ich wagte auch nicht wieder, den letzten Schritt zu tun; die Erfüllung unserer Liebe mußte warten – bis nachher. Es war nach Mitternacht, als ich endlich in meinem Bett lag – müde und dennoch hellwach. Die Liebe zu Tamara brannte in mir, jede Faser meines Körpers sehnte sich nach dem ihren. Warum war ich nur so feige? Warum schloß ich sie nicht endlich in die Arme? Auch sie wartete darauf, das wußte ich. Ich warf mich im Bett herum, bis Leintuch und Decken so verknüllt waren, daß ich aufstehen mußte, um alles wieder zu ordnen. Ich schlich in die Küche, aß etwas Honig und trank Mineralwasser – Frau Myers Patentrezept gegen Schlaflosigkeit. Der Wind sang leiser, das ferne Heulen wurde zu einem Wimmern, erstarb und lebte wieder auf. Von irgendwoher ertönte ein gellender Schrei, vielleicht ein schlafender Vogel, von einem nächtlichen Räuber überfallen. Plötzlich wußte ich, daß ich Angst hatte – Angst wie ein verlassenes Kind in einem fremden Haus. Das Wimmern in den Kaminen, das Klappern eines losen Ladens am Dachboden, das Schlagen eines Zweiges gegen das Fenster wurde für mich zu einer Sinfonie des Schreckens. Ich fühlte die Hand des Todes über mir, eine kalte, dürre Hand; ich hörte ein heiseres Lachen, leise nur, aber es ging mir durch Mark und Bein. Ich lag wie erstarrt in meinem Bett, wagte kaum zu atmen. Die Botschaft! Die Botschaft aus dem Äther, die Botschaft, die mir, mir allein, galt… ich hörte eine flüsternde Stimme, die mir den nahen Tod weissagte…
Mit ungeheurer Anstrengung setzte ich mich auf, schaltete die Nachttischlampe ein. Verdammt, was hatte ich nur? Da war nichts, nichts als der Wind draußen, der einen Zweig gegen das Fenster klopfen ließ. Ich zwang mich, aufzustehen, das Fenster zu öffnen und den Zweig abzubrechen. So! Der Wind fegte mit leisem Zischen eine Schneewolke ins Zimmer, ehe es mir gelang, das Fenster wieder zu schließen. Die Eiskristalle knirschten leise unter meinen Füßen, als ich zurück zum Bett ging. Alles war normal, eine Winternacht eben! Pervers, dieser Anfall von Angst. Jetzt mußte ich endlich schlafen, morgen wollte ich doch wieder arbeiten; ich mußte nachsehen, ob der Print vielleicht noch zu retten war, wenn nicht, war das Unglück auch nicht groß, Steve konnte aus der Stadt einen neuen besorgen. Schon spürte ich, wie der Schlaf über mich kam, wie die Gedanken in Fragmente zerbröckelten. Doch plötzlich, ganz unvermittelt (hatte ich mich vielleicht nach der Ursache dieses sonderbaren Angstanfalls gefragt?) wußte ich, daß meine Liebe zu Tamara der auslösende Faktor gewesen war. Ich hatte mich nach ihr gesehnt, mein Körper hatte sie begehrt – und Zone III hatte ihr eisernes Tor einen Spalt weit geöffnet und einen Tropfen Gift in mein Bewußtsein fallen lassen. Einen Tropfen Angst, die alles auslöschte – nicht nur die Erregung meines Körpers, auch die Gedanken an sie. Dennoch – und nun durchströmte ein Gefühl des Triumphes meinen Leib, dennoch hatte ich den Trick durchschaut, war ich meinem Feind auf die Schliche gekommen! So stark seid ihr also gar nicht, dachte ich, ich bin auch noch da! Ihr habt mich wieder gewarnt, meine Wachsamkeit aufgerüttelt, euer Fehler! Ihr habt meinen Willen gestärkt, den Willen euch zu widerstehen, was immer ihr von mir begehren mögt! Die Freude über diesen teilweisen Sieg, das Bewußtsein, daß der Feind in mir nicht göttlich unfehlbar war, ließ mich zufrieden in Schlaf sinken. Keine Träume quälten mich, denn ich war in dem Gedanken eingeschlafen, stärker zu sein als sie. Am nächsten Morgen erwachte ich spät, doch ich fühlte mich erfrischt und von Lebensmut erfüllt. Das Wetter hatte sich nicht gebessert, im Gegenteil; es war etwas wärmer geworden und Schneefall hatte eingesetzt.
Beim Frühstückstisch traf ich nur Tamara und Steve, Burton schlief offenbar noch. Steve benahm sich wie sonst, wortkarg, abwesend; sein Tick machte ihm mehr denn je zu schaffen, seine Hände zitterten, sein Blick irrte unruhig umher oder verlor sich im Nichts. Er schien wie geschaffen für einen Exorzismus. Tamara mußte ähnliches gedacht haben, denn sie wandte sich abrupt an ihn und fragte: »Von wem bist du eigentlich besessen, Steve?« Er zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. »Ich… ich weiß nicht… von der Arbeit wohl«, stammelte er. »Ich fragte nicht wovon, sondern von wem!« Tamaras Stimme klang scharf. »Tamara nicht! Laß ihn zufrieden!« Doch mein Einwurf kam zu spät. Steve erstarrte sichtlich, nahm wieder das roboterhafte Verhalten an und erhob sich. »Ich fahre in die Stadt, einen neuen Print besorgen«, sagte er tonlos. »Warte noch«, meinte ich, »wir wollen doch erst sehen, ob der Schaden irreparabel ist!« »Er ist es, ich habe schon heute früh nachgesehen«, murmelte er. »Die magnetischen Stürme haben nachgelassen, wir können die Botschaft heute nacht empfangen.« Es lief mir kalt über den Rücken. »Woher weißt du das?« fragte ich. »Ich habe eingeschaltet gehabt. Das Radio, Kurzwelle.« Nun war seine Stimme kaum mehr zu verstehen. »Steve, guter alter Steve«, rief Tamara, »was hast du nur? Du bist ein ganz anderer Mensch geworden, seit du dich mit diesem abscheulichen Apparat beschäftigst! Bitte, bitte schau mich doch einmal an, schau mir in die Augen!« Doch Steve reagierte nicht. Er ging mit steifen Beinen ins Vorzimmer und begann Mütze und Schal anzulegen. In diesem Augenblick kam Burton die Stiege heruntergepoltert. Mit einem Blick erfaßte er die Situation. »Seid ihr denn alle verrückt geworden?« rief er. »Ihr könnt doch Steve in diesem Zustand nicht weglassen! Noch dazu bei solch einem Wetter, das ist purer Wahnsinn. Steve, he!« Er hatte ihn an den
Schultern gepackt und schüttelte ihn. Doch Steve schob ihn mit einer Armbewegung zur Seite und zog den Wintermantel an. Es hatte eine erstaunliche Kraft in dieser Bewegung gelegen, keiner von uns hätte ihm eine solche zugetraut. Wieder mußte ich an einen Roboter denken. »Steve!« Nun wollte ich es probieren. »Steve, du bist doch mein Helfer, ja?« »Ja.« Er knöpfte den Mantel zu. »Steve, du weißt, ich bin hier der Boß. Ich will nicht, daß du weggehst, es ist zu gefährlich bei dem Wetter. Es bedeutet eine Gefahr für unser Werk!« »Nein.« Steve streifte die Pelzhandschuhe über. »Ich befehle dir, hierzubleiben!« »Ich muß den Apparat reparieren. Es war meine Schuld. Ich bin bald wieder zurück.« Burton hatte dem kurzen Wortwechsel entsetzt gelauscht. Tamara stand am Fenster und schluchzte leise. Draußen heulte der Wind und peitschte Schnee gegen das Glas. Noch ehe Steve begriffen hatte, was geschah, schob Burton die Hand in seine Manteltasche und nahm ihm die Autoschlüssel weg. »Schluß mit der Debatte!« knurrte er. »Du kannst fahren, sobald sich der Sturm gelegt hat! Vielleicht schon heute mittag, sei doch nicht so stur! Du kannst ja die Zeit bis dahin verschlafen, schaden täte es dir nicht, du hast dich überanstrengt in der letzten Zeit.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte ich zu. »Fahr nach dem Mittagessen, dann können wir den Schaden noch leicht bis zum Abend reparieren. Und ruh dich bis dahin aus!« Wortlos wandte sich Steve um und stapfte in der dicken Winterkleidung die Stiege hinauf. Wir starrten ihm nach und erst, als wir die Türe seines Zimmers hörten, wagten wir wieder zu sprechen. »Nimm seine Autoschlüssel an dich!« sagte Burton. »Ich hoffe nur, er hat kein zweites Paar. Was ist mit deinem Wagen, Tamara?« »Die Schlüssel sind in meinem Zimmer!« »Dann hol sie und gib sie auch Chip in Verwahrung!« Tamara nickte nur und ging hinauf. Ich schob die Schlüssel, die mir Burton gegeben hatte, gedankenlos in die Rocktasche. Da spürte ich
den Schlüssel der Arbeitszimmertür und erschrak. »Steve hat doch gesagt, er war im Arbeitsraum, er hat nachgesehen, ob der Print irreparabel zerstört war – und ich habe gestern doch abgeschlossen!« Einen Augenblick lang war auch Burton verblüfft. Doch dann meinte er: »Wahrscheinlich haben die Myers noch Reserveschlüssel, ich will sie gleich fragen. Wenn ja, dann brauchte sich Steve bloß auf schließen zu lassen.« Das war nun in der Tat des Rätsels Lösung, eine ganz simple noch dazu. Nur war ich schon so nervös und verstört, daß ich allenthalben Übersinnliches vermutete. Ich mußte mich zusammennehmen. Den Vormittag verbrachten wir drei zusammen in der Bibliothek, Tamara und ich lasen, Burton arbeitete an dem Entwurf einer Szene für seinen Roman. Als Frau Myers uns zum Mittagessen rief, hatten wir noch immer nichts von Steve gehört. Ich überlegte, ob wir ihn wecken sollten oder nicht, doch Burton meinte: »Laß den armen Kerl schlafen, er braucht Schlaf jetzt nötiger als Essen! Er ist ja völlig fertig mit den Nerven!« Beim Essen unterhielten wir uns angeregter denn je über die neuesten Ergebnisse der Quasarforschung, die Gefahr des Aussterbens der Eskimos und Czisorskys Orchesterstücke. Der Übergang von einem Thema zum anderen ergab sich ganz zwanglos, und wir genossen alle drei die Diskussionen ohne Steve, der immer ein wenig als Inhibitor gewirkt hatte. Heute sprangen förmlich Funken zwischen uns über, da die zähe Schicht von Steves erstarrtem Geist fehlte. Noch einmal, von Gewissensbissen geplagt, schlug ich vor, nach Steve zu sehen. Der Sturm hatte in der Tat nachgelassen, und der Schneepflug war auch gefahren. Jetzt, gegen drei, konnte Steve noch leicht mit dem Wagen in die Stadt und zurück kommen. Doch diesmal hielt mich Tamara zurück. »Schau«, sagte sie, »wir wollen froh sein, daß er schläft. Wochenlang hat er wie ein Irrer gearbeitet und nie genug geschlafen. Und auf einen Tag kommt es nun wahrhaftig nicht an!« Das stimmte. Doch auch ich selbst war ungeduldig, ich wollte endlich eine Entscheidung, wollte endlich die Botschaft, diese dreimal
verfluchte Botschaft hören und den Kampf austragen – so da überhaupt einer bevorstand. Vielleicht war der ganze Spuk nur die Ausgeburt meiner überreizten Phantasie – aber wissen wollte ich es! Klarheit wollte ich haben, lieber heute als morgen. Dennoch hatte Tamara natürlich recht, und Steves Gesundheit war wichtiger als… nun, was immer es war. Ich spielte mit Burton Schach, Tamara musizierte. Doch ich war nicht recht bei der Sache, ich spielte sonst wirklich sehr gut und erinnerte mich nicht, je geschlagen worden zu sein – doch an diesem Tag legte mich Burton herein, noch dazu mit einem uralten Rösseltrick. Ich schämte mich richtig und entschuldigte mein Versagen wortreich. Burton jedoch freute sich wie ein Kind. »Dem Himmel sei Dank«, lachte er, »endlich, endlich! Du hast ja geradezu unmenschlich gut gespielt, aber heute hab ich dich doch einmal erwischt. Du hättest es noch zu einem Patt hinbiegen können, wenn du nur meine Absicht einen Zug früher durchschaut hättest!« »Ja, wenn!« Nun lachte auch ich. »Den Unverwundbaren besiegt man mit der Gummischleuder!« Lachend gingen wir ins Musikzimmer hinüber und lauschten Tamaras Variationen alter Volkslieder. Alle drei waren wir in Hochstimmung, wir sangen sogar ein paar Strophen, wann immer uns ein Text einfiel. Am Abend saßen wir noch lange plaudernd vor dem Kamin, sahen in die prasselnden Flammen und fühlten uns geborgen. Ich erzählte Einzelheiten von meiner Flucht über die Berge und von dem alten Einsiedler im Wald, der heute wohl auch vor dem Feuer saß, einen Fisch in der Asche liegen hatte und sich seiner Freiheit freute. Ich erzählte, wie er sich von den Soldaten hätte sein gestohlenes Wild heimtragen lassen, wie er seinen vergnüglichen Krieg mit dem Jagdaufseher führte. Und wie er gelegentlich die Städter auf einem ihrer Fitneßläufe zum Narren hielt. Tamara erzählte Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Burton schilderte Studentenstreiche. Alles lag so weit zurück, selbst das, was erst gestern geschehen war. Real war nur die Gegenwart, die Vergangenheit war eine Sage. Es gab nur diese eine Gegenwart für uns, das knackende Holz,
das wärmende Feuer. Das war das Leben, unser Leben, mein Leben. Am nächsten Morgen, als Steve nicht zum Frühstück erschien, waren wir alle besorgt, war er doch sonst immer der erste gewesen. »Ob er beleidigt ist?« fragte Tamara, beantwortete die Frage jedoch gleich selbst: »Nein, das sähe ihm nicht ähnlich.« »Ich fürchte, er ist krank, ein Nervenfieber oder so etwas, das würde mich bei ihm nicht wundern!« Burton schüttelte den Kopf. »Er ist schon ein komischer Kerl, so verkrampft und steif, wie ein Automat. Aber vielleicht war das alles nur das Vorspiel zu einer Krankheit.« Gemeinsam gingen wir hinauf. Sein Zimmer war verschlossen, und alles Klopfen und Rufen hatte keinen Erfolg. Nun ernstlich beunruhigt, holten wir Herrn Myers, der mit einem Reserveschlüssel die Türe aufsperrte. Das Zimmer war leer, das Bett unbenutzt. Entsetzt sahen wir uns an, ohne ein Wort zu sagen stürmten wir die Treppen hinunter, zu den Garagen. Herr Myers schloß auf. Beide Wagen standen da, die Kühlerhauben kalt, wie sich Burton gleich versicherte. »Steve! Steve, wo bist du? Steve!« Laut rufend stürzte Tamara ins Haus, doch mit wenigen Schritten hatte sie Burton eingeholt. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Beruhige dich, Steve ist nicht im Haus, ganz sicher nicht. Es hat keinen Sinn, ihn zu rufen.« Auch ich ging ins Haus, benommen wie ein Schlafwandler. Ich dachte: »Steve ist tot« – aber ich sagte nichts. Ich ahnte die Wahrheit, ahnte, daß sich Steve noch gestern vormittags aus dem Haus geschlichen und versucht hatte, die Stadt zu Fuß zu erreichen. Geschwächt und überarbeitet wie er war, ein wahnsinniges Unterfangen. Ich rief den Elektrohändler an, der mich mit der Abteilung für Elektronikbedarf verband. Nein, Steve war nicht dort gewesen. Auch bei zwei anderen Händlern, bei denen wir gelegentlich Ersatzteile gekauft hatten, erhielt ich einen negativen Bescheid. Nun versuchte ich es in seiner alten Wohnung und in dem Motel, in dem er einmal übernachtet hatte, als der Wagen wegen, einer Panne unbenutzbar gewesen war. Nichts. Die Polizei? Die Krankenhäuser? Nein, vorher konnte ich es noch
bei der Tankstelle versuchen. Ohne Hoffnung fragte ich nach ihm, ein einsamer Fußgänger hätte dem Tankwart doch auffallen müssen. Nichts. Tamara und Burton standen neben mir, sie fragten nicht, meine niedergeschlagene Miene gab Auskunft über die Erfolglosigkeit meiner Bemühungen. »Mußte er denn bei der Tankstelle vorbei, wenn er in die Stadt ging?« fragte Tamara. »Ich erinnere mich, daß die Leute von der Farm eine Abkürzung erwähnten.« »Ja, ich kenne sie«, antwortete ich. »Aber sie schneidet nur die große Schleife der Straße ab, man kommt trotzdem an die Tankstelle, du mußt bedenken, daß die ja schon am Stadtrand liegt und zwischen der Einmündung der Abzweigung und ihr liegt eine Wegstrecke von einer Stunde etwa.« »Sie könnten ihn übersehen haben«, wandte Burton ein. »Gewiß, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Die Straße verläuft dort kerzengerade und ist übersichtlich.« »Die Polizei?« fragte Tamara. Ich nickte nur. Der Beamte am Telefon versprach, sofort Nachforschungen in die Wege zu leiten. Er wollte auch zwei Kollegen herausschicken, die uns helfen sollten, die unmittelbare Umgebung nach dem Abgängigen zu durchsuchen. Seine Beschreibung sollte an alle Streifenbeamten durchgegeben werden, man versprach, sich auch um Krankenhäuser und Kneipen zu kümmern. Die Stimme des Beamten klang zuversichtlich. Wahrscheinlich hatten sie schon oft Abgängige in einer Kneipe aufgelesen, so voll, daß sie nicht einmal mehr ihren Namen wußten. Auf meine Versicherung, daß Steve Alkohol nie angerührt hätte, erwiderte der Mann lakonisch, gerade die seien die Schlimmsten. Wir alle, das heißt Tamara, Burton und ich, sowie Herr Myers und die jungen Bauersleute, zogen uns warm an und machten uns auf die Suche. Mittlerweile hatte es wieder zu schneien begonnen, doch wenigstens war es windstill und nicht mehr so kalt. Wir hatten Zweiergruppen gebildet, Tamara und ich, Burton und Herr Myers und die beiden Farmer. Tamara und ich wollten längs der Abkürzung suchen, denn ich glaubte, dort am ehesten eine Spur von Steve zu finden.
Wir gingen die ganze lange Strecke bis zu der Tankstelle und von dort auf der anderen Straßenseite wieder zurück. Es war ein Glück, daß uns auf halber Strecke ein Polizeifahrzeug begegnete und dann bis nach Hause mitnahm. Ungewohnt des langen Marschierens im Schnee waren wir beide entsetzlich müde; was war doch das Gleiten auf den Skiern mühelos gegen das Waten im teilweise knietiefen Schnee! Es war schon nach drei Uhr, als wir endlich wieder daheim ankamen; die anderen waren schon früher zurückgekehrt. Heißhungrig machten wir uns über Frau Myers’ Essen her, auch die beiden Polizisten hielten wacker mit. Sie waren erst um elf herausgekommen, als sie vom Revier die Nachricht erhalten hatten, daß die Suche nach Steve in Krankenhäusern und Kneipen erfolglos verlaufen sei. Dann hatten sie den Park abgesucht und schließlich erst Burton und Herrn Myers und dann uns beide an der Hauptstraße aufgelesen. »Wir haben eine Suchmannschaft mit Hunden angefordert«, sagte der eine, »wenn’s auch bei dem Wetter nicht viel Sinn hat. Gestern abend ist doch der Schneepflug noch einmal gefahren, und wenn da einer am Straßenrand gelegen ist, wie sollen wir den je finden?« Tamara schauderte. »Sie wollen doch damit nicht sagen, daß man in so einem Fall einfach wartet, bis Tauwetter einsetzt?« »Nein, nein«, beschwichtigte sie der Beamte, »wir suchen auf alle Fälle weiter.« Aber es klang nicht sehr zuversichtlich. Gegen vier kam ein Lastwagen mit dem Suchtrupp und drei Hunden. Die Tiere ließ man an Steves Kleidern Witterung nehmen und dann zogen alle ab. Auch Burton und ich gingen wieder mit, diesmal allerdings auf Skiern. Etwas nach acht waren wir wieder zurück, niedergeschlagen und müde; nicht nur die Menschen, auch die Hunde. Die armen Tiere waren durchnäßt und erschöpft, teilnahmslos ließen sie sich verladen, und der Lastwagen fuhr zurück in die Stadt. Wir drei saßen wie tags zuvor am Kamin, stocherten in dem Stew herum und kauten unnütz lange an jedem Bissen. »Steve ist tot«, sagte Tamara plötzlich, und ich nickte nur: »Ich weiß.« Burton sagte gar nichts. Mechanisch schob er das Essen in den Mund und starrte in die Flammen.
»Warum nur…«, murmelte Tamara; es war keine Frage, eher ein Vorwurf. Ich erwiderte: »Ja, jetzt haben sie einen Mord auf dem Gewissen.« Niemand fragte, wer. Das Feuer brannte nieder, Burton schob ein paar Scheite in die Glut. »Ob wir nicht den ganzen gottverdammten Apparat kurz und klein schlagen sollten?« fragte er. »Das macht Steve nicht lebendig«, erwiderte Tamara. »Nein«, knurrte Burton, »aber vielleicht bewahrt es Chip vor einem ähnlichen Schicksal!« Erschrocken blickte Tamara auf. Es war, als hätten sie diese Worte geweckt, ich sah, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. »Mein Gott«, stammelte sie, »du hast recht. Man denkt an die Toten und vergißt die Lebenden!« »Was ist, Chip! Sag was! Wenn du auch glaubst, daß dieser Apparat, oder zumindest die Kerle, die da senden, etwas mit Steves Tod zu tun haben, dann bin ich wirklich dafür, diesen Spuk zu beenden!« Burton stand vor dem Feuer, den Schürhaken in der Hand, als wollte er sich auf einen unbekannten Feind stürzen. »Laß gut sein!« Ich schob mein Essen zurück. »Es hätte keinen Sinn. Es ist, als wüßtest du, daß – sagen wir um zehn Uhr – etwas geschieht. Du kannst das nicht verhindern, indem du sämtliche Uhren zerschlägst!« Doch Burton gab nicht nach. »Ein Vergleich, der auf allen Beinen hinkt. Es muß doch nichts geschehen!« »Vielleicht nicht«, erwiderte ich, »aber ich muß da durch. Ich muß einfach – ich kann dir nicht sagen, wieso. Wenn ich auch heute unsere Apparatur zu Schrott zerschlage, einmal werde ich diese Botschaft doch hören, das weiß ich ganz genau. Und ich hätte das alles schon so gern hinter mir, ich möchte wissen, ob ich leben darf!« »Liebster!« Schluchzend warf Tamara die Arme um meinen Hals und küßte meine Augen. »Du darfst nicht so reden. Natürlich wirst du leben, ich werde bei dir bleiben, auf dich aufpassen, niemand soll dir etwas tun!« Ich strich ihr zärtlich über das Haar. »Ich danke dir, mein Engel! Mach dir keine Sorgen um mich, ich glaube nicht, daß mein Leben in Gefahr ist, eher meine Freiheit. Aber für
mich ist das wohl dasselbe.« Tamara lächelte. »Ich weiß schon«, sagte sie, »was wir tun werden. Du Burt, und ich, wir werden dabei sein, wenn Chip dieses Signal empfängt, und wir werden ihn genau beobachten. Sobald wir sehen, daß etwas mit ihm geschieht, daß an ihm irgendeine Änderung vor sich geht, schalten wir den Apparat ab. Einverstanden, Burt?« Burton nickte. »Na klar, keine Frage. Wir werden auf dich aufpassen!« »Damit es euch dann so ergeht wie Steve?« fragte ich entsetzt. »Denkt doch daran, daß Steve durch dieses Signal so beeinflußt, ja, so verändert wurde! Er merkte zunächst gar nichts davon, erst Jahrzehnte danach kam es zum Ausbruch, und wie gravierend die Veränderung war, kann Tamara bezeugen. Nein, nie,(nie dürft ihr das Signal hören, das lasse ich auf gar keinen Fall zu!« »Ich bin nicht wie Steve«, meinte Tamara, »außerdem bin ich eine Frau – vielleicht wirkt es nur auf Männer so?« »Wir haben keine Ahnung«, erwiderte ich. »Aber ich will auf keinen Fall etwas riskieren. Bitte versprecht mir beide, dem Apparat fernzubleiben! Bitte!« »Okay, okay«, knurrte Burton, »du hast ja wohl recht. Aber wir müssen dir doch irgendwie helfen können!« Plötzlich brach Tamara in lautes Lachen aus. »Ich hab’s!« rief sie. »Ich hab’s! Odysseus!« Wir brauchten beide einen Augenblick, bevor wir verstanden, was sie meinte. Ich war von der Idee nicht so begeistert, doch Burton rief, nun ebenfalls lachend: »Das ist’s, ja, das ist’s! Wirklich, alles ist schon mal dagewesen. Wir stopfen uns Wachs in die Ohren, dann kann uns das Signal nichts anhaben!« »Ich bin da nicht so sicher«, wandte ich ein. »Akustische Schwingungen wirken ja nicht nur auf das Trommelfell, wenn wir sie auch nur durch dieses wahrnehmen können. Tatsache ist aber, daß sie auf die gesamte Körperoberfläche wirken, und dagegen könnt ihr euch nicht schützen.« »Wie kann uns etwas schaden, was wir nicht wahrnehmen? Simpler Schall?« fragte Tamara. »Na, Ultraschall zum Beispiel«, warf Burton ein. »Aber hier
handelt es sich ja wohl um Schall im Hörbereich, ohne große Intensitäten, nicht?« Ich nickte. »Das wohl. Ich kann den Empfänger sehr leise drehen, und ihr könntet, als weitere Vorsichtsmaßnahme, eure Körperoberfläche schützen, durch Sturzhelme etwa und dicke Kleidung. Aber es wäre mir lieber, ihr ließet mich allein!« »Nun, noch ist es ja nicht so weit. Kommt Zeit, kommt Rat!« Ich sah es Burton an, daß er bereits einen Entschluß gefaßt hatte. Auch Tamara schien selbstsicher und zufrieden zu sein – die beiden würden mich, sobald der Schaden am Apparat behoben war, nicht mehr aus den Augen lassen. Sollte ich ihre Hilfsbereitschaft zurückweisen? Wahrscheinlich ja. Doch gleichzeitig war ich ihnen so dankbar für den Beweis ihrer Freundschaft – und nicht nur das. Ich fühlte, daß mir ihre Anwesenheit in der Tat eine Hilfe sein würde. Am nächsten Morgen kamen viele Lastwagen voll Militär. Hunderte Soldaten, mit langen Sonden ausgerüstet, begannen nach Steve zu suchen. Sie stocherten in den Schneewällen, die der Schneepflug beiderseits der Straße aufgetürmt hatte, sie durchkämmten den Park und die umliegenden Wälder. Es schneite noch immer, doch nicht mehr so heftig. Frau Myers hatte in einem alten bauchigen Gefäß (stammte es von einem Destillierapparat aus der Prohibitionszeit?) Tee gekocht und verbrauchte nun unseren gesamten Rumvorrat, um die frierenden jungen Männer zu laben. Gegen Mittag landete ein Hubschrauber im Hof und brachte in großen Behältern heißes Essen; ein halbkugelförmiges Wärmezelt wurde aufgestellt. Es faßte an die fünfzig Soldaten, und elektrische Strahler, über ‘den Männern aufgehängt, sorgten für Wärme; Ventilatoren schafften die feuchte Luft nach draußen und bliesen trockene warme Luft ins Innere. Am Abend fuhren alle wieder in die Kaserne zurück. Sie suchten vier Tage lang, ohne Erfolg. Dann gab es in einem Skigebiet ein großes Lawinenunglück, und die Truppe wurde abgezogen. Wir waren wieder allein. Tamara hatte mich in ihrem Wagen in die Stadt gebracht, wo ich mir einen neuen Print besorgte und auch zwei Sturzhelme kaufte; sie sahen aus wie von einem Raumfahreranzug abgenommen, riesige,
plumpe Dinger. Vielleicht halfen sie. Wir hatten nicht mehr davon gesprochen, was ich und was meine Freunde tun würden, wenn es einmal so weit war, wenn ich die Botschaft hörte… Der Schaden, den Steve einst angerichtet hatte, war bald behoben, die magnetischen Störungen, die den Empfang unmöglich gemacht hatten, waren auch schwächer geworden, und eines Abends beschloß ich, den Apparat zu testen. Ich suchte das Signal, verbesserte die Einstellung so lange, bis es klar und deutlich im Raum stand. Ja, genau das traf zu: Es stand im Raum. Das, was Steve so treffend akustische Reize genannt hatte, war, wie ich schon erfahren hatte, keine Sprache, keine Morsezeichen. Es waren Teile eines Bildes, die sich in meinem Hirn zu einem Ganzen formten, sich veränderten… Nun erkannte ich es: ein dreidimensionaler Film von atemberaubender Realität lief ab, ich sah… »Nein!« schrie ich laut und riß den Stecker aus der Dose. »Nein, nein, bitte nicht… ich kann es nicht, nein…!« Wimmernd lag ich am Boden, meine Haut war kalt und von Schweiß bedeckt, meine Hände tasteten über den Boden, als suchten sie etwas, etwas… was nur? Langsam kam ich wieder zu mir, und, aufblickend, sah ich Tamara neben mir stehen. Burton lehnte an einem Kasten und sah wütend auf mich herab. »Chip! Liebster!« Tamara fiel auf die Knie und versuchte mir aufzuhelfen. »Liebster, warum hast du uns nichts gesagt? Du wolltest doch erst morgen…« »Ja, verdammt nochmal!« knurrte nun Burtons zornige Stimme. »Warum hältst du dich nicht an die Abmachungen? Du willst wohl so enden wie Steve, was?« Zitternd stand ich auf, tastete mich zum Diwan hinüber und warf mich darauf. »Gestern hast du gesagt: Mittwoch bin ich soweit, am Abend will ich es versuchen. Heute ist Dienstag, du Hundesohn, was hast du dir nur dabei gedacht?« Daß Burton mich beschimpfte, war ein gutes Zeichen. Es war überhaupt alles wieder gut, meine Freunde waren bei mir… »Ich wollte nur eine Probe machen, den Empfang testen«,
stammelte ich. »Ich wußte doch nicht, wie es sein würde. Zum Glück hielt ich den Stecker in der Hand – als hätte ich es geahnt.« »Was hast du gehört? Kannst du uns das sagen?« fragte Tamara, die neben mir saß und meine Hände hielt. »Ich habe nichts gehört.« Meine Stimme war nun fest und ruhig. »Es mag sonderbar klingen, aber diese Signale erweckten in mir nicht den Eindruck des Hörens, sondern den des Sehens. Ich kann es nicht anders beschreiben. In meinem Hirn – oder sagen wir, vor meinem inneren Auge – formte sich ein Bild, ein dreidimensionales, ungeheuer realistisches Bild, ein Film, um genau zu sein, denn das Bild änderte sich… und ich war unter ihnen…« »Unter ihnen? Wer waren sie?« »Das kann ich nicht sagen. Intelligente Geschöpfe jedenfalls, ich vermute, Menschen wie wir. Es herrschte eine unbeschreibliche Bevölkerungsdichte.« Burton schüttelte den Kopf. »Hast du – mein Gott, das klingt ja unwahrscheinlich – aber hast du vielleicht in die Zukunft gesehen? Die Erde in tausend Jahren?« »Kann sein. Ich weiß es nicht.« »Was aber hat dich so erschreckt? Du hast laut geschrien – nein, nein, bitte nicht! -, ich hab’s deutlich gehört, ich stand am Treppenabsatz. Was hast du so Entsetzliches gesehen? Was wollte man dir antun?« , »Ich habe nicht die leiseste Ahnung! Das müßt ihr mir glauben, ich erinnere mich an nichts Schreckliches. Ich befand mich in einer wogenden Massen von… von Intelligenzwesen… ich kann nicht sagen, ob es Menschen waren… ich fühlte ihre Anwesenheit eher, als daß ich sie sah. Und ich wußte, daß sie überall waren, auf den Straßen, in den Nestern…« »Halt!« schrie Burton, »Nester! Du hast ›Nester‹ gesagt!« »So genau dürft ihr es nicht nehmen, ich meinte natürlich Häuser. Sie waren in den Häusern, den Fabriken, allüberall. Ja, wenn ich versuche, mir das Bild wachzurufen, dann glaube ich, daß es auf der Erde war. Vielleicht wirklich eine Zukunftsvision, wie du meintest!« Doch Burton war noch nicht zufrieden. »Du hast erst gesagt, das Bild war klar und realistisch, ein dreidimensionaler Film,
erinnerst du dich? Nun sagst du, du hättest es nicht richtig erkannt, eher gefühlt als gesehen!« »Ja, und ich kann’s nicht anders beschreiben. Ich versuche es ja, auch um mir selbst darüber klar zu werden – aber ihr müßt bedenken, es war ein Sehen nicht mit den Augen, wie ich’s gelernt hab, es war ein Sehen, das irgendwie in meinem Inneren vor sich ging… etwas völlig Neues für mich, vielleicht muß ich mich erst daran gewöhnen, es auch erst lernen! Ich wußte: das und das ist um mich herum, das und das geschieht… ich empfand das Bild ganz deutlich – und doch kann ich Fragen nach Einzelheiten nicht beantworten.« »Wie dem auch sei, wir müssen von dem ausgehen, was sicher ist: Du hast ein reales, dreidimensionales, lebendiges Bild ›gesehen‹, kannst Einzelheiten aber nicht angeben. Du empfindest jetzt, rückblickend, keine Angst mehr, hast aber dennoch, in Schrecken und Verzweiflung den Empfang selbst unterbrochen. Soweit richtig?« »Ja Burton, das stimmt. Ich weiß, daß mich blankes Entsetzen gepackt hatte, als ich mit letzter Kraft die Botschaft unterbrach. Trotzdem muß ich sie zu Ende hören, oder sagen wir, zu Ende empfangen. Besser hier als ein andermal, wenn ich unvorbereitet bin.« »Es ist wie ein Gift«, murmelte Tamara, »aber dich dürstet danach!« »Ja«, erwiderte ich, »ich brauche es, um endlich leben zu können. Wirklich leben, wirklich frei sein!« »Wirst du das nachher können?« »Ich hoffe es und wünsche es – aber ich weiß es nicht.« Burton beugte sich zu mir herab und faßte mich an den Schultern. »Chip, hör mich an! Tamara hat wieder einmal eine Idee gehabt, diesmal unbewußt. Gift! Das ist es! Davon müssen wir ausgehen!« »Wie meinst du das?« »Nun, denk an den ›Grafen von Monte Christo‹, wer hätte ihn nicht gelesen! Gift! Betrachten wir dieses Signal als Gift, das Menschen im allgemeinen, dich aber ganz besonders schädigt, vielleicht sogar tötet. Du mußt es zu dir nehmen, sagst du. Also mußt du versuchen, dich zu immunisieren. Nimm es in kleinen Dosen zu dir, die du laufend erhöhst – so lange, bis es dir nicht mehr schadet, bis ›sie‹ keine Macht mehr haben über dich!«
»Eine phantastische Idee! Aber ob es funktioniert? Und ob ich immer die Kraft habe, rechtzeitig zu unterbrechen?« »Das tue ich für dich. Wir können uns vorher absprechen – sagen wir, eine halbe Minute für den Anfang. Also schalte ich nach einer halben Minute ab. Dann vielleicht eine ganze, dann zwei Minuten und so weiter. Ich schütze mich so gut als möglich, beobachte dich aber und unterbreche, wenn nötig, auch einmal vor Ablauf der vereinbarten Zeitspanne. Wie hört sich das an?« »Gut«, mußte ich zugeben. »Wir können es ja versuchen. Beginnen wir morgen abend, einverstanden?« »Einverstanden!« Burton schlug mir auf die Schulter. »Wir werden’s schon schaffen!« Gemeinsam gingen wir in die Bibliothek, setzten uns um das Kaminfeuer, tranken Tee und versuchten eine Unterhaltung, die sich nicht um Steve oder die Botschaft drehte. Es wurde nichts Rechtes draus, also gingen wir bald zu Bett. Ich erwachte gegen zwei Uhr nachts, der Mond schien mir ins Gesicht. Ich stand auf, um die Vorhänge zu schließen. So lange hatten wir keinen Himmel mehr gesehen, daß niemand an die Möglichkeit hellen Mondenscheins dachte. Die Landschaft draußen war zauberhaft, der Schnee funkelte in dem eisigen Licht, die Schatten waren tiefblau, in der Nähe der Laterne am Parktor fast violett. Trotz des Mondlichts war der Himmel von Sternen übersät, seine Schwärze war nicht samtig warm wie in Sommernächten, sondern kalt wie blauer Stahl, und man sah in die Tiefe des Raums, sah die glühenden Sonnen klein wie Funken in den unvorstellbaren Entfernungen. Nichts als Kälte, Leere, Unendlichkeit; Lichtjahre voneinander entfernt glühende Himmelskörper, von toten Gesteinsbrocken, Planeten, umkreist. Hie und da trug einer Leben. Und auf solch einem Planeten lebte ich – umgeben von Wundern und selbst ein Wunder! Eine tiefe Liebe zu diesem herrlichen blauen Planeten, der meine Heimat war, ergriff mich. Ich schlief wieder ein, ruhig, zufrieden, beglückt von der Schönheit dieser meiner Welt. Lautes Stimmengewirr weckte mich. Rasch stand ich auf, wusch
mich, kleidete mich an und lief hinunter. Es war spät – später, als ich gedacht hatte. Tamara und Burton waren schon auf, Herr Myers redete gestikulierend auf sie ein. Er hatte Steve gefunden. . Das Kienholz, das er zum Anzünden verwendete, war ausgegangen, so daß er am Pavillon, wo er seine Kienvorräte untergebracht hatte, neues holen wollte. Das war ein gedeckter, aber seitlich offener Rundbau, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Fluß hatte; jetzt im Winter lag er natürlich unter meterhohem Schnee begraben und niemand suchte ihn auf, außer eben Herr Myers – ein oder zweimal im Winter. Er hatte dort das Kienholz versteckt, um zu verhindern, daß unerfahrene Gäste vielleicht versuchten, es in den offenen Kaminen zu verheizen. Hinter dem Holz hatte er Steve gefunden. Es war ein eisigkalter klarer Wintertag. Zu viert gingen wir zum Pavillon hinüber, wir drei auf Skiern, Herr Myers auf Schneeschuhen, einen breitkufigen Holzschlitten hinter sich herziehend. Steve mußte hinter das Holz gekrochen sein, ein Versteck suchend, das ihm sicheren Tod gewährte. Der Schneesturm hatte dann nicht nur seine Spur, sondern auch seinen Körper verweht und verborgen. Nun wußten wir, daß alles Suchen vergebens gewesen sein mußte, denn wir waren von einer falschen Voraussetzung ausgegangen: Wir hatten alle angenommen, er sei auf dem Weg zur Stadt ermüdet rastend eingeschlafen und erfroren. Oder hatte sich im Sturm verirrt, war von der Straße abgekommen. Tatsächlich aber war er in genau entgegengesetzter Richtung gegangen, hatte, noch in Sichtweite des Hauses, ein Versteck gesucht und sich hingelegt, um zu sterben. Sein Körper war vereist und steif wie ein Baumstamm, wir zerrten ihn heraus und luden ihn auf den Schlitten; das war kein Mensch mehr, man glaubte kaum, daß es je einer gewesen war – es war ein Stück Holz, tot und gefroren bis ins Mark. Die polizeiliche Untersuchung war langwierig, umständlich und ermüdend. Wir wurden einzeln und gemeinsam verhört, ein junger Detektiv gab sich viel Mühe, die Möglichkeit eines Mordes ins Auge zu fassen, doch er ging nicht sehr geschickt dabei vor. Andererseits waren wir alle zu sehr vom Schicksal unseres Kameraden ergriffen,
um erfolgreich und überzeugend verbergen zu können, daß es in diesem Hause ein Geheimnis gab, etwas, über das keiner von uns sprechen wollte. Natürlich interessierte sich der Detektiv auch für den Empfänger, an dem Steve und ich gearbeitet hatten. Doch der Mann verstand so erschreckend wenig von der ganzen Sache, daß es fast schon wieder gefährlich für uns wurde. Es war mir natürlich ein leichtes gewesen, vor dem Einschalten die Frequenz zu verstellen, so daß der Apparat nur ein Brausen, Brummen, Quietschen und Zischen von sich gab. Daß das zu hören nicht der Zweck der ganzen Anlage war, konnte ich nun nicht einmal diesem blutigen Laien einreden, also schaltete ich das Oszilloskop ein und führte ihm allerhand Schleifen und Wellenzüge vor (es ist ja tatsächlich ein amüsantes Spielzeug!), und meine Erklärungen waren haarsträubend, sogar für Burton und Tamara. Der Detektiv schluckte sie zwar beeindruckt, doch mißtraute er der Sache an sich. Konnte man nicht vielleicht mit Hilfe dieses Apparates jemanden elektrisieren? Oder unbekannte ›Todeswellen‹ erzeugen? Oder Strahlen, die töteten? Vielleicht war uns ein Kunstfehler passiert? Oder es war ein Streit um das Urheberrecht an dieser Höllenmaschine entbrannt? Ach, es gab so viele Möglichkeiten. Nichts leichter, als einen Toten des Nachts hinauszutragen und im Schnee zu verbergen… Um gerecht zu sein, der Detektiv sprach keinerlei Beschuldigungen explizit aus, es war nur offensichtlich, woraufhin seine Fragen abzielten. Die Ergebnisse der Autopsie waren unsere Rettung. Es wurde einwandfrei bestätigt, daß der Tote erfroren war. Keinerlei Gift, kein Schlafmittel, kein Alkohol. Nur die Kälte einer Winternacht. Die angekündigte Untersuchung unseres Apparates durch einen Fachmann unterblieb, der Fall Steve Cullingham wurde als Selbstmord zu den Akten gelegt. Jedem von uns war ein Stein von Herzen gefallen, als wir es erfuhren. Und dennoch war uns klar, daß Steve ermordet worden war, wenn auch auf sehr komplizierte Weise und so, daß die Mörder, jenseits von Raum und Zeit, keine Vergeltung zu fürchten hatten. Oder doch?
Unser nächster Versuch mit der Botschaft (wir hatten uns auf diesen Terminus geeinigt) fand erst eine Woche nach dem ersten statt – doch diesmal wohlvorbereitet. Burton war, mit verstopften Ohren und dick vermummt, bei mir im Zimmer, Tamara stand draußen am Sicherungskasten. Wir hatten uns auf eine halbe Minute Empfang geeinigt; sollte Burton nicht in spätestens einer Minute am Gang erscheinen, mußte Tamara die Sicherung abschalten. Mit dem festen Vorsatz, alles zu registrieren, schaltete ich ein. Ich hörte das Signal sofort, den Bruchteil einer Sekunde lang allerdings nur. Dann war der Eindruck des Hörens verschwunden. Ich befand mich in einem Raum, der angefüllt war mit komplizierten Apparaturen, die mir unbekannt – nein, die mir bekannt waren. Ich sah zu, wie Gene zusammengebaut wurden; komplizierte Moleküle, Erbinformationen tragend (und ich wußte sogar welche!) wurden zu menschlichen Chromosomen geformt – oder sie formten sich selbst, unter den Händen einer hochentwickelten, überaus intelligenten und fähigen Rasse… Die Wände des Raumes bestanden aus einem silbrig schimmernden, extrem leichten und doch festen Gewebe… und überall wimmelte es von Wesen gleich mir, wir sprachen miteinander, tauschten Wissen und Erfahrungen aus… Es herrschte katastrophale Bevölkerungsdichte, Nahrungsmangel, und es gab zu wenig Metall auf dem Planeten… Ich hörte den Schrei, den ich ausstieß. Ich saß zitternd und schweißbedeckt vor dem Apparat und hörte Burtons ferne, dumpfe Stimme: »Zwanzig Sekunden nur!« Als ich endlich wieder wußte, wer und wo ich war, hatte Burton bereits Helm und Ohrpfropfen entfernt, Tamara half ihm gerade, die dicken Kleidungsstücke abzulegen. »Ich hab zu früh abgeschaltet, ich weiß«, sagte Burton eben, »doch du hast zu zittern begonnen, warst so blaß – und als du schließlich einen Schrei ausstießest…« »Ja«, rief Tamara, »ich habe ihn am Gang gehört, fast wäre ich hereingekommen!« »Was ist geschehen? Wieso hast du den Schrei ausgestoßen? Was hast du erfahren? Wer sind sie?« Ich fühlte mich zu schwach, um auch nur eine einzige der vielen Fragen beantworten zu können. Ich schüttelte den Kopf. Erst nach
einer Ruhepause und einem heißen Tee unten in der Bibliothek konnte ich berichten. Allerdings gab es nicht viel zu berichten – dort, in dieser anderen Welt hatte ich ja alles gewußt, brauchte keine Fragen zu stellen. Und dort wußte ich nichts mehr von meiner hiesigen Existenz, von meinen Problemen… Und hier saß ich nun, starrte in die Flammen und versuchte mich zu erinnern. »So sehr ich auch mein Hirn durchforsche, ich kann nicht sagen, warum ich einen Schrei ausstieß. Nichts ist in meiner Erinnerung, was mir Angst einflößte. Was ich erfahren habe? Sehr wenig. Die Häuser bestehen aus einem interessanten Material, ein leichtes, silbriges Gewebe, wie viele Schichten Spinnweb übereinandergelegt… es gibt wenig Metall, wenig Nahrung, hohe Bevölkerungsdichte… und einen hohen Stand des Wissens. Genmanipulation scheint allgemein bekannt zu sein… Wer ›sie‹ sind, weiß ich noch immer nicht, doch vermutlich Menschen, denn ich erinnere mich, daß ich menschliche Chromosomen sah und daß ich unter den anderen nicht auffiel – ich war einer von ihnen. Offenbar hast du mit deiner Vermutung recht, daß diese Signale aus der Zukunft kommen.« »Eine Botschaft aus der Zukunft für dich? Ausgerechnet und ausschließlich für dich?« fragte Tamara. »Bis jetzt haben wir keine andere Erklärung. Morgen wissen wir vermutlich mehr!« Ich hatte mir fest vorgenommen, wenn ich wieder in jener anderen Welt war (oder zu sein glaubte), Fragen zu stellen. Fragen, die mein ganzes Leben, soweit ich mich daran erinnern konnte, überschatteten. Was bedeut ete R 14? Was war Zone III? Doch das war natürlich ein unsinniges Vorhaben. Wenn man in einem 3-D-Kino sitzt, kann man auch nicht die Schauspieler etwas fragen und auf Antwort hoffen. Doch tatsächlich hatte ich wieder meine zweite Existenz ganz und gar vergessen, als ich unter ihnen, in ihrer Welt war. Wieder erlebte ich ein Fragment eines dreidimensionalen Films, wieder ›wußte‹ ich alles, ›kannte‹ alles. Ich sah von irgendeinem Flugkörper aus auf den Planeten herab, er war blau und grün und voll von wimmelndem Leben. Auch Tiere sah ich, riesige warme Tiere, warme Tiere, sie waren wunderbar, diese… »Achtunddreißig Sekunden!« Es war Burtons Stimme, die dumpf
an mein Ohr klang. Ich preßte meine schweißnassen Hände gegen die Augen, hörte ein Schluchzen in meiner Kehle. Dann sah ich Tamara neben mir. »Komm«, sagte sie, »ruh dich aus!« Unten am Kamin berichtete ich von dem wenigen, das ich erfahren hatte. »Riesige, warme Tiere«, sagte ich, »das ist die einzige wesentliche Information von heute. Es schien mir wichtig, daß sie warm waren, offenbar gibt es in dieser fernen Zeit auch kalte Tiere – komische Sache!« Am dritten Abend war’s etwas besser, ich sah mich in einer Art Kulturfilm, und nun wußte ich, wovor ich – völlig unbewußt – Angst empfunden hatte. Die Kunst jener Zeit, jenes Volkes, war herrlich und entsetzlich zugleich. Sie weckte in mir, so paradox das klingen mag, gleichzeitig Bewunderung und Abscheu, nahe Verbundenheit und abgrundtiefe Trennung, Liebe und Haß. Einer Ohnmacht nahe taumelte ich in die Gegenwart zurück. »Eine Minute!« rief Burton. Die vierte Sendung brachte so gut wie nichts, ich war einsam in einem leeren Raum, ich schwamm zwischen den Sternen und war tot. Noch tot. Ich wußte, ich würde einmal leben. Zwei Minuten hatte ich durchgehalten. Der fünfte Abend brachte dann doch wieder neue Erkenntnisse, obwohl ich nicht einmal ganz zwei Minuten die Botschaft vernommen hatte. Ich erlebte wieder die bekannte Szene der Genmanipulation, spürte die verzweifelte Hoffnung der Wissenschaftler auf Erfolg, ihr Wissen um den drohenden Untergang ihres Volkes, ihre Sorgen um das fehlende Metall. Ich sah die menschlichen Chromosomen, die Zellen, die Kernteilung… Ich sah ein zuckendes Schleimklümpchen in einer Nährlösung schwimmen… »Hundertzehn Sekunden!« Wieder saßen wir unten in der Bibliothek am Kamin, tranken Tee, knabberten Gebäck und besprachen die Ergebnisse. Sie waren dürftig genug, dennoch kamen wir weiter. Burton schrieb alles, was uns wichtig erschien, auf einzelne Karten, so daß man es später einmal ordnen konnte und so doch ein zusammenhängendes ›Drehbuch‹ erhielt.
Wir waren übereingekommen, daß Burton immer dann den Empfang unterbrach, wenn ich Anzeichen körperlich-seelischer Überforderung zeigte, unabhängig davon, ob die geplante Zeitspanne nun über- oder unterschritten wurde. Doch im großen und ganzen wollten wir versuchen, die Empfangsperioden immer länger werden zu lassen, mitunter aber auch einmal ein oder zwei Abende auszulassen, damit ich mich erholen konnte. Noch immer wußte ich eigentlich nicht, warum ich nach so kurzer Zeit schon versagte, warum ich von Angst und Schrecken gepackt wurde. In meiner Erinnerung war nichts, was eine solche Reaktion ausgelöst haben könnte, von der widerwärtig-herrlichen Kunst abgesehen. Der sechste Abend. Wir hatten einen Empfang von drei Minuten geplant gehabt, doch schon nach wenigen Sekunden mußte Burton abschalten, da ich laut zu schreien begann. Ich erinnerte mich an nichts, zitterte jedoch am ganzen Leib und war so schwach, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich nahm ein Schlafmittel und ging zu Bett. Der siebente Abend. Noch immer herrschte klares, kaltes Winterwetter, der Empfang war perfekt. Ich war bei einer Familie zu Gast, Freunde offenbar. Es gab dort an die dreißig etwa gleich alte Kinder, die in intelligente und unintelligente eingeteilt wurden; die Eltern beschäftigten sich fast ausschließlich mit den intelligenten (es waren ihrer nur zwei), die anderen mußten hart arbeiten und viele, sehr viele von ihnen starben. Alle hungerten, auch ich. Drei und eine halbe Minute. Der achte Abend. Der katastrophale Metallmangel zwingt uns, praktisch alles aus organischen Molekülen herzustellen, die langen Kettenmoleküle eignen sich besonders gut. Aber auch lebende Zellen können Halbleiterelemente ersetzen, sie sind vielseitiger, kleiner und leichter herzustellen, denn sie vermehren sich in geeigneten Nährlösungen von selbst. Früher haben wir viel mit Einkristallen gearbeitet, doch heute erreichen wir dieselben Effekte leichter und besser mit organischen Zellen. Unser Computer arbeiten auf der Basis von organi-schen Supraleitern praktisch verlustfrei, da das Kühlproblem gelöst wurde. Dennoch kommen wir nicht ohne Metalle aus, jedes Stäubchen ist
von unschätzbarem Wert – Ich lag in meinem Bett, Tamara saß bei mir, Burton stand am Fenster. Ich brauchte Minuten, ehe ich mich zurechtfand – eben noch hatte ich die Temperatur an einem Brutschrank kontrolliert, und jetzt war ich hier – in einer fremden Welt, unter fremden Intelligenzwesen… Tamara küßte mich, als ich die Augen aufschlug, und mein erster Gedanke war: Ein warmes Tier, wie wunderbar! Mein schizophrenes Bewußtsein taumelte sekundenlang zwischen den beiden Welten hin und her, langsam begriff ich, wo ich war, und noch langsamer wurde mir bewußt, daß diese Welt die reale war, daß dies hier meine Welt war! Burton berichtete, daß ich diesmal keinerlei körperliche Reaktionen gezeigt hätte. Offenbar teilnahmslos hatte ich der Botschaft gelauscht, und erst als Burton nach fünf Minuten abschaltete, war ich zu Boden gesunken, bewußtlos. Die beiden hatten mich dann in mein Zimmer getragen, zu Bett gebracht und mit Heizdecken gewärmt. Nach einer Viertelstunde war ich wieder zu mir gekommen. »Was ist nur geschehen, Liebster?« flüsterte Tamara. »Kannst du es uns sagen?« »Nichts Besonderes.« Meine Stimme klang fremd und rauh. »Ich war offenbar in einer Art Plastikfabrik, anfangs jedenfalls. Man erzeugte Kettenmoleküle, die versponnen und verwebt wurden, und aus denen man alle möglichen Gegenstände preßte – fast wie bei uns. Man züchtete auch organische Moleküle, lebendige Moleküle, die zu einer Art Transistoren verarbeitet wurden – ob das in einer anderen Fabrik war, weiß ich nicht, nehme es aber an. Der Übergang vom Organischen zum Lebenden war ganz einfach – aber ich weiß nicht, wie er geschah. Jetzt und hier weiß ich es nicht. Drüben wußte ich alles.« »Lieber Gott, mir ist das unheimlich!« Tamara schauderte. »Warum mußt du das alles durchleben?« »Meine Erlebnisse in der anderen Welt empfinde ich nicht als unheimlich – unheimlich war das Erwachen; die Rückkehr! Ich wußte minutenlang nicht, welche Welt nun die reale war, ich glaubte anfangs, hier der Fremde zu sein!«
»Ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir eine Pause einlegen müssen«, meinte Burton. »Die ganze Geschichte gefällt mir von Tag zu Tag weniger. Ganz abgesehen von deiner körperlichen Reaktion, die dich schwächt, ist deine psychische Reaktion beängstigend. Ich frage mich jetzt, ob nicht der arme Steve in einer ähnlichen Lage war, ob er nicht hier bei uns nur zu Gast war und sich in jener Welt zu Hause fühlte – und vielleicht nur deshalb den Tod suchte, weil er hoffte, auf diese Art ›heimkehren‹ zu können?« »Das glaube ich nicht. Steve wußte nichts von jener Welt, er hat die Botschaft nur gehört, nicht verstanden. Sie war auch nicht für ihn bestimmt – nein, er war nur ein Helfer. Vermutlich hat ihn diese oder eine ähnliche Botschaft dazu gemacht. Und ich glaube, er starb, weil er annahm, versagt zu haben.« »Ja, Chip, das glaube ich auch«, sagte Tamara. »Vielleicht haben sie ihm suggeriert, den Tod zu suchen, sollte er sich als unfähiger Helfer erweisen.« »Wahrscheinlich habt ihr recht«, meinte Burton. »Wir können ja nur raten und Vermutungen anstellen, sicher wissen werden wir es nie. Wichtiger ist, zu überlegen, was wir tun können, um Chip vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren. Ich bin jedenfalls für eine Pause von zwei bis drei Tagen!« Wir stimmten zu, und ich muß sagen, ich war sehr froh darüber. Nach einem Tag der Ruhe wanderte ich mit Tamara durch die tief verschneiten Wälder, auf Skiern natürlich; ich genoß die sonnigen windstillen Tage, die nun schon merklich länger wurden. Am Abend des vierten Tages beschlossen wir, es wieder mit einem Empfang zu versuchen, doch sollte Burton nach spätestens vier Minuten abschalten. Ich erlebte eine mir schon bekannte Szene: Das Schweben zwischen den Sternen in einem sonderbaren pränatalen Zustand, in dem ich zwar tot war, doch wußte, daß ich einmal leben würde. Als Burton nach vier Minuten den Apparat abstellte, fand ich den Übergang in die reale Welt ohne Schwierigkeiten, ja, diesmal sogar ohne körperlich angegriffen zu sein. Diese märchenhaft-phantastische Szene enthielt keine verborgenen Schrecken mehr. Burton notierte das Erlebnis samt Datum und Uhrzeit gewissenhaft
auf ein Kärtchen; auf der Rückseite vermerkte er meine körperlichseelische Reaktion. Wie auch sonst immer besprachen wir mein Erlebnis und seine Wirkung auf mich unten am Kamin. Ich war zuversichtlich, hoffte mich nunmehr doch an diese ›Trips‹, wie wir sie nannten, zu gewöhnen, längere Empfangsperioden durchstehen zu können und endlich einmal die Zusammenhänge zu erfahren. Diesmal gingen wir alle früh zu Bett, denn wir hatten für den kommenden. Tag einen gemeinsamen Ausflug zum Jackson Point geplant.
4. Kapitel Ich fühle mich vom täglichen Training überfordert, und ich habe das auch meinen Ausbildern gesagt. Warum hetzt man mich so? Ich bin doch ein Mensch und kein Biocomputer, in den man stundenlang Informationen stopfen kann! Seit ich weiß, daß ich alles Gelernte wieder vergessen werde, macht mir die Sache ohnedies nicht allzuviel Spaß. Gut, es wird ein prächtiges Abenteuer werden, das stimmt schon – aber daß alles so streng vorgeplant werden soll, leuchtet mir nicht ein. Zumal ich nun von den anderen, meinen Vorgängern sozusagen, erfahren habe. Alle, alle haben sie schmählich versagt! Und ich glaube, daß Dressur und Planung schuld daran waren, man sollte sich mehr auf die Intuition verlassen. Ich nehme mir jedenfalls fest vor, das Vertrauen, das mein Volk in mich setzt, nicht zu enttäuschen. Ich werde nicht versagen! Schließlich bin ich der letzte, zumindest dann, wenn man nicht, wie Hem wu da vorschlägt, die alten Regeln über den Haufen wirft. So ehrend es für mich ist, der letzte zu sein, so finde ich doch, daß der alte Hem recht hat. Diese blödsinnigen Regeln und Riten, diese komischen Götter mit ihren acht haarigen Beinen, für mich ist das alles bloß lächerlich; blanker Aberglauben, mühsam aus längst vergilbten Zeiten herübergerettet. Gebenedeiter Gasir, was soll denn das? Schon wieder dieses homogene Futter! Ich habe euch doch gesagt, ich brauche frische Kost, der ewige Blips bringt mich noch um! Ich will frisches Fleisch von jungen Tieren, gut gewürzt und gebraten; und zarte Gemüse, Früchte, Salat! Es ist doch nicht meine Schuld, daß ich mich anders ernähre als ihr, schließlich habe ich eine große Aufgabe und euer aller Leben hängt von mir ab! Ich bin euch über den Kopf gewachsen? Na, das will ich meinen, aber das ist schließlich auch nicht meine Schuld. Ach, ich sollte wohl nicht so grob zu ihnen sein, aber manchmal verliere ich die Geduld. Ich muß öfter daran denken, wie arm sie sind, wie hilflos, trotz der hochentwickelten Technik. Wie schrecklich ihr Leben ist, trotz der hohen Intelligenz. Nur fünf von hundert werden erwachsen, fortpflanzungsfähig – die anderen sterben jung, als Kinder schon. Daran sollte ich denken, wenn ich die Schale mit
der Kunstnahrung an die Wand werfen will… O Gasir, schon wieder Trainingsstunde! Schon wieder diese Konstruktionszeichnungen, diese Schaltpläne! Ich habe sie doch schon aufgenommen, ich behalte sie im Gedächtnis. Ich kenne die elektronischen Linsen, die Fokussierungsgleichung, die Adjustierung der Transmutationsebene… das lange Rohr… das Rohr… und die Antennen… ja, ich weiß… Das riesige Gesicht einer Frau beugt sich über mich. Es ist also doch gelungen, die Reise durch Raum und Zeit! Da ist auch ein Mann, wie groß diese Wesen sind! Aber warum bin ich jetzt schon hier, warum hat man nicht gewartet, bis ich erwachsen bin? Wenn sie mich nun erkennen und töten, wie sie die anderen getötet haben? Nein, nein! Bitte nicht! »Chip, um Gottes willen, beruhige dich doch! Niemand tut dir etwas zuleid.« Eine sanfte warme Stimme. Freundlich. Gut. Sie haben mich nicht erkannt. Sie sind mir nicht feindlich gesinnt. Aber ich muß jetzt gut aufpassen, darf mich nicht verraten. »Chip, bitte, bitte sag doch etwas! Starr mich nicht so an! Du – du blickst wie Steve, komm doch zurück!« »Laß ihn noch!« Das war die Stimme des Mannes. Tiefer, aber auch warm und gut. Besorgt. Ich spüre seinen Intellekt, wie er versucht, zwischen seinem und meinem Hirn eine Brücke zu schlagen. Es soll ihm nicht gelingen, ich werde mich abschirmen. »Er muß erst wieder zurückfinden, noch lebt er halb hier, halb drüben.« »Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn du nicht das Licht gesehen hättest!« »Ja, die beschneite Tanne reflektierte es direkt auf mein Bett.« »Was glaubst du, wie lange er drüben war?« »Schwer zu sagen, jedenfalls viel zu lange!« »Ich frage mich, ob er uns überhaupt hört und sieht! Dieser starre Blick ängstigt mich… können wir ihm nicht irgendwie helfen?« »Wenn ihm etwas hilft, dann die Erfahrung, die Erinnerung an die früheren Trips nach drüben!« Was meinen sie nur damit? Ich war schon früher drüben – das bedeutet also, daß ich schon hier gewesen bin, mehrmals offenbar! Das widerspricht doch dem Plan, das ist doch auch gar nicht
durchführbar, angesichts der Entfernungen! Sie belügen mich! Sie spielen Theater! »Tamara, gib ihm einen Kuß! Vielleicht hilft das!« Ihre Lippen sind weich, zärtlich. Ihr Duft weckt Erinnerungen… Ich kenne den Duft, ich habe auch den Namen schon gehört. Tama- ra… »Nichts! Es ist, als hätte ich einen Stein geküßt!« »Kein Wunder, du weißt ja, wie seine Körpertemperatur immer abfällt, wenn er die Botschaft hört. Noch haben wir ihn nicht wieder warm bekommen!« Die Botschaft! Natürlich, ich weiß doch, daß ich die Botschaft hören muß, damit meine Erinnerungen geweckt werden, die Erinnerungen an meine Aufgabe! Aber noch bin ich ja nicht fertig ausgebildet, noch bin ich nicht erwachsen – warum haben sie mich jetzt schon hierher geschickt? Haben auch sie mich betrogen? Doch wozu, um Gasirs willen? Ich war doch ihre letzte Hoffnung, ihre Rettung… aber warum dann? Ist etwas schiefgegangen? Die Berührung von Ta-ma-ras Lippen ist angenehm, sie erinnert mich an etwas Fernes… etwas Schönes… Bin ich wirklich schon einmal hier gewesen? Ist es möglich, daß sie mich nicht belügen? Ist die Erinnerung, die ich suche, nur durch die Botschaft noch nicht erweckt worden? Oder habe ich etwas vergessen? »Burton, es nützt nichts! Und ich muß immer denken, daß er, je länger er nicht zurückfindet, um so schwerer die Bindung lösen kann. Vielleicht wäre eine Schocktherapie angebracht?« »Ja, vielleicht. Aber wie stellst du dir das vor? Sollen wir ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten? Soll ich ihn ohrfeigen? Du weißt, wie hilflos wir beide sind, wir wagen ja nicht einmal, einen Arzt zu Rate zu ziehen!« »Burton, sieh nur, auf seiner Stirn bilden sich Schweißperlen… ja, seine Haut wird feucht! Noch immer ist sie kalt, aber sie wirkt nicht mehr so tot. Chip, Liebster, bitte heb den rechten Arm! – Ja, wunderbar. Und jetzt den linken, bitte! Sieh nur, Burt, er reagiert! Chip, wenn du alles um dich siehst, schließe die Augen, ja? Bitte! – Er hört mich! Er sieht mich!« »Chip, du gottverdammtes altes Stinktier, mach endlich den Mund auf und rede! Rede mit uns! Nimm dich zusammen, du weißt, du
willst stärker sein als sie! Du willst nicht ihre Befehle ausführen!« Nein, da hast du recht, ich will nicht eure Befehle ausführen, niemandes Befehle. – Aber wieso ›ihre‹ und nicht ›unsere‹, wieso ›sie‹ und nicht ›wir‹? Von wem sprecht ihr überhaupt? Das ist alles so verwirrend! Wo bin ich denn überhaupt? Ist das alles nur ein Test, oder habe ich den Verstand verloren? Aber ich kenne diese Menschen doch! »Chip! Du hörst uns, du siehst uns, du kannst dich bewegen. Also mach endlich den Mund auf und rede! Siehst du nicht, daß sich Tamara, deine Geliebte, um dich sorgt und ängstigt? Hast du denn kein Herz? Sag etwas!« Ich habe Angst. Ich sollte wirklich zu diesen Menschen sprechen, aber was soll ich sagen? Ich fürchte, das Falsche zu sagen, und für Fehler werde ich bestraft. Aber ich bin doch noch nicht erwachsen, warum schickte man mich jetzt schon zu ihnen? Was um Gasirs willen soll ich denn sagen? »Chip, mein Geliebter, sprich meinen Namen aus! Bitte! Nur ein einziges Mal!« »Ta-ma-ra.« Das war meine Stimme! Ich habe nicht versagt! Sie lachte und weinte und klatschte in die Hände. »Danke! Ich danke dir!« Das Lachen! Das Lachen war es! Millionen habe ich gesehen, aber nie sah ich jemanden lachen. Diese beiden Menschen aber lachen, sie freuen sich und geben so ihrer Freude Ausdruck! Und ich habe das Lachen sofort wiedererkannt – wiedererkannt – also war ich schon einmal hier! Sie haben nicht gelogen! Sie sind meine Freunde – hier, hier gibt es Lachen und Freundschaft und Liebe, hier bin ich zu Hause, alles andere war nur ein Traum, ein schrecklicher Traum… Rote, heiße Wirbel erfaßten mich, rissen mich erbarmungslos in die Tiefe; verzweifelt versuchte ich freizukommen, kämpfte mit aller Kraft gegen den Sog an. Graurote Lava wälzte sich heran, die Schwefeldämpfe nahmen mir den Atem – gab es denn keinen Ausweg, keine Hilfe? Die Felsen boten keinen Halt, sie waren weich und heiß und sanken in sich zusammen. Dunkle Glut lauerte in den Spalten – ich kann nicht mehr atmen, ich ersticke! So helft mir doch! Helft mir! Mein Herz pochte wie irr, es jagte brennendes Blut durch meine
Adern, meine Augen glühten, ich spürte die heiße Luft, die ich ausatmete, in der Nase. »Es wirkt! Gott sei Dank!« Ich hörte Tamaras Stimme aus der Ferne. Und dann Burtons Polterton: »Es scheint, der Bursche ist noch mal davongekommen, ja, die Pharmaindustrie hat schon ein paar gute Sachen auf Lager!« Ich schloß die brennenden Augen wieder, spürte ein kühles, feuchtes Tuch über meinem Gesicht und lauschte Tamaras beruhigenden Worten. »Danke!« sagte ich mit einer fremden Stimme, die nicht mehr als ein heiseres Flüstern war. »Danke.« Ich erholte mich erstaunlich rasch. Ich verschlief einen Tag und eine Nacht, ruhig, traumlos; ich trank viel und aß wenig, und das Fieber, das mich fast umgebracht hatte, kam nicht wieder. Am übernächsten Vormittag versuchte ich aufzustehen und wunderte mich, daß es relativ gut ging. Burton half mir, er begleitete mich auch ins Bad, sah zu, wie ich mich duschte. Beim Frühstück, angesichts der von Frau Myers aufgetischten Herrlichkeiten, kam mir der Appetit. »Ich lebe wieder, Burton, ich lebe! Du ahnst nicht, wie schön es ist, zu leben!« Burton lachte. »O ja, ich ahne es. Und ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, nach all dem. Hoffentlich weißt du, daß du uns eine Beichte schuldest!« »Wo ist Tamara?« »Sie muß gleich kommen! Sie hatte die erste Wache bei dir, deshalb schläft sie so lange.« »Die erste Wache? Was bedeutet das?« »Nun, das bedeutet, daß wir dich keine Minute aus den Augen lassen. Was ist dir nur eingefallen, so klammheimlich in finsterer Nacht den verdammten Apparat einzuschalten?« Gedankenverloren schichtete ich Käsescheiben und Schinken auf ein Stück Toast. Ja, was war mir eingefallen? So sehr ich mich bemühte, ich fand keine Antwort. Diese Frage hatte ich mir ja selbst schon gestellt. Warum war ich aufgestanden und wann? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, keinerlei Erinnerung. »Ich weiß es nicht«, murmelte ich lahm.
Tamara kam, setzte sich an den Tisch. Sie sah müde aus, blaß, mit dunkel umschatteten Augen; doch sie lächelte mir zu. »Wie froh bin ich, daß du wieder hier bei uns sitzt! Du, du selbst, nicht der andere!« Wir wußten, was sie meinte. Diesmal war die Rückkehr sehr, sehr schwierig gewesen, fast wäre sie mir nicht mehr gelungen. Lange hatte ich geglaubt, hier der Fremde zu sein – so real war mir das Leben in der anderen Welt erschienen! Ich brauchte nur die Augen zu schließen, da spürte ich wieder diesen seifigsalzigen Glutamatgeschmack, den alle Speisen hatten, hörte die Stimme des Instruktors, sah die Schaltpläne, las die Gleichungen… »Dir, Burton, verdanke ich meine Rettung…« »Nicht mir! Du verdankst sie der beschneiten Tanne vor dem Haus…« Himmel, ich mußte mich zusammennehmen! Da saß ich bei meinen Freunden, redete, hörte zu, war aber mit meinen Gedanken meilenweit entfernt. Meilenweit? Oder jahrtausendeweit? Lag diese andere Welt nun räumlich oder zeitlich entfernt von hier? Nicht einmal das wußte ich. »Ihr wollt meinen Bericht hören? Wollt wissen, was ich erlebt habe?« Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die weiße Decke. »Es ist wenig genug, fürchte ich. Und nicht viel, was uns weiterhilft. Ich war eine Art Schüler – in einem Internat, nehme ich an. Meine Umgebung war mir so gewohnt, so selbstverständlich daß ich sie kaum beachtete. Ich erinnere mich, daß ich mich überfordert fühlte von all der Lernerei, die nur durch Essen und Schlafen unterbrochen wurde. Ja, an das Essen erinnere ich mich auch. Es schmeckte alles irgendwie gleich, unterschied sich nur durch Aussehen und Konsistenz. Und, das weiß ich genau, ich bekam anderes Essen als die Bevölkerung, wahrscheinlich mehr und besseres. Als Schüler habe ich nie gehungert, wußte aber, daß meine Mitbürger sehr wohl unter Nahrungsmangel litten.« »Was weißt du sonst über sie? Wie sahen sie aus?« »Das weiß ich einfach nicht, noch immer nicht. Ich kann nur annehmen, daß sie aussehen wie ich – sonst wäre es mir wohl aufgefallen. Es ist überhaupt so, daß ich meiner Umgebung wenig
Aufmerksamkeit schenke, weil ich sie ja so gewohnt bin. Aber ich denke, die Leute dort müssen kleiner sein – ich erinnere mich, daß ihr beide mir zuerst riesengroß erschient.« »Das scheint mir nicht recht mit unserer Theorie in Einklang zu stehen, daß die Botschaft aus der Zukunft kommt«, warf Burton ein, »wenn wir nicht annehmen wollen, daß eine Trendumkehr einsetzt.« »Ja, in den letzten Jahrhunderten sind die Menschen im Durchschnitt immer größer geworden, zumindest in den hochentwickelten Ländern!« »Wenn es aber dort eine so starke Überbevölkerung gibt«, meinte Tamara, »und die Leute stets zu wenig zu essen haben, dann kann ich mir durchaus vorstellen, daß diese Trendumkehr stattgefunden hat. Nicht nur, daß die Leute klein bleiben, weil sie unterernährt sind, sondern es werden auch die Kleinsten unter ihnen die besten Überlebenschancen haben. Je kleiner einer ist, desto eher wird er mit seiner Ration sein Auskommen finden und ein Alter erreichen, in dem er sich fortpflanzen kann.« »Das hat etwas für sich.« Ich versuchte mir die Leute vorzustellen, doch es gelang nur unvollkommen, denn meine Phantasie › schuf‹ ganz einfach kleine Menschen, die ich mit meinem inneren Auge sah, wie sie ihre beste Nahrung dem Riesen in den Mund stopften… Diese Gulliver-Visionen waren sicher falsch, doch ich hatte einfach keine echten Erinnerungen an sie. »Technisch gesehen sind sie uns aber voraus, nicht?« fragte Burton. »Ja, zweifelsohne. Ihre technischen Fähigkeiten sind schlechthin phantastisch!« »Könntest du nicht abschätzen, welcher Zeitraum zwischen unserer Technik und der ihren liegen könnte?« »Nein. Ich würde sagen, mehrere Jahrhunderte, wenn wir annehmen, daß die Entwicklung weiterhin exponentiell fortschreitet. Aber das ist nur so eine Idee – es kann sich ebensogut um Jahrzehnte, oder auch um Jahrtausende handeln. Ich weiß es ganz einfach nicht.« »Wie empfindest du sie«, wollte Tamara wissen, »böse oder gut? Feindlich oder freundlich?« Diese Frage konnte ich leicht beantworten. »Sie sind gut und
freundlich, jedenfalls die, mit denen ich bisher zu tun hatte. Aber ich habe nie einen lachen sehen – nein, ich glaube, sie lachen nicht. Dennoch herrscht eine Atmosphäre, die ich stets als positiv empfand. Eine Art gutartiger Fatalismus. Zum Beispiel ist die Kindersterblichkeit enorm, aber niemand regt sich sonderlich darüber auf; nur den überdurchschnittlich intelligenten Kindern widmen die Eltern eine gewisse Aufmerksamkeit und Fürsorge.« »Kein Wunder bei dem Kindersegen! Aber warum haben sie keine Pille? Keine Sterilisationsvorschriften? Das wäre doch humaner, als einfach 90 % des Nachwuchses verhungern zu lassen!« »Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich weiß es ganz einfach nicht. Vielleicht hat Gasir es verboten.« »Gasir?« »Ja, das ist ein Gott oder ein gottähnliches Wesen. Sagte ich das nicht schon?« »Nein, den Namen hören wir zum erstenmal!« Burton notierte ihn gewissenhaft. »Kennst du sonst noch Namen?« »Ich weiß, daß sie dreisilbig sind. Die letzte Silbe gibt Auskunft über Geschlecht und Status der betreffenden Person.« »Das ist praktisch. Was bedeutet Status? Bildung? Vermögen? Adel?« »Keine Ahnung – vielleicht alles zusammen. Ich glaube, wenn die letzte Silbe mit» endet, so nimmt der Träger des Namens den höchsten Status ein. Folgt auf das a noch ein Mitlaut, so bedeutet das eine Abschwächung; es muß sich zum Beispiel der Herr Sun ka wan dem Herrn Pi ro da unterordnen.« Tamara lachte. »Und der Herr Bim bam bum ist ganz unten in der Reihe! Man weiß jedenfalls gleich, wie man dran ist. Hattest du übrigens auch mit Frauen zu tun?« »Ich erinnere mich nicht daran. Aber ich sah Frauen im Familienverband.« »Du sahst sie und weißt doch nichts über sie? Kannst du dich denn gar nicht erinnern, wie sie aussahen?« Tamara schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir müssen ihm schon glauben, daß er sich daran nicht erinnern kann«, meinte Burton. »Aber eine andere Frage: Weißt du etwas über ihre Politik, ihre Regierungsform?«
Wieder mußte ich verneinen. »Ich habe bisher nichts darüber erfahren. Ich weiß nur, daß es mehrere Rassen und viele Völker gibt, und daß die Unterschiede in Kultur und Zivilisation sehr groß sind – ähnlich wie bei uns, wo es Raumfahrtnationen gibt und Völker, die noch in der Steinzeit leben.« »Ja, es ist klar, daß du noch nicht alles über sie wissen kannst, hast du doch immer nur Bruchstücke der Botschaft empfangen. Bedenklich erscheint mir nur, daß du dich nicht an das Aussehen dieser Leute erinnerst. Fast so, als wollten sie es vor dir geheimhalten!« Ich nickte. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Möglicherweise hat die Menschheit gravierende Mutationen durchgemacht, und die Leute aus der” Zukunft – wenn wir einmal diese Hypothese gelten lassen wollen – sind für unsere Begriffe häßlich, abstoßend. Das wäre eine Erklärung.« »Was glaubt ihr, wie uns diese Botschaft überhaupt erreicht? Ich meine, auf welchem Wege!« Tamara hatte die Frage gestellt, über deren Beantwortung ich schon so oft nachgedacht hatte, ohne eine Antwort zu finden. Ich sagte: »Wir wissen nichts darüber. Wir können nur annehmen, daß eine so hoch entwickelte Kultur Möglichkeiten kennt, deren Vorhandensein wir nicht einmal ahnen können. Stell dir vor, Columbus hätte eine Rundfunksendung empfangen.« Nachdenklich schwiegen wir. Tamara schenkte mir noch etwas Kaffee ein und bestrich ein Brot mit Orangenmarmelade. Im großen Kachelofen knackte das brennende Holz, leise sang der Wind in den Kaminen. Ich fühlte mich geborgen. Plötzlich blickte Burton auf und sagte unvermittelt: »Was ist R 14? Weißt du noch immer nichts darüber?« »Nein, nichts.« »Aber du glaubst doch jetzt auch nicht mehr daran, daß es etwas mit Spionage zu tun hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß ich für jene Leute aus der Zukunft spioniere.« »Und deine Amnesie? Diese Zonen in deinem Gehirn?« »Ich weiß nur, daß alle Annahmen, die ich bisher machte, falsch waren. Heute denke ich, daß ich vielleicht vor dem Zeitpunkt, den ich
immer als meine ›zweite Geburt‹ bezeichne, dem Einfluß einer Botschaft ausgesetzt war, ähnlich der, die Steve empfangen hat. Sie ließ mich alles Vergangene vergessen und stopfte einen Teil meines Gehirns mit suggestiven Aufträgen und Informationen voll. Vielleicht enthält auch diese Zone III, wie ich sie nenne, nur diesen dreidimensionalen Film, den ich zu erleben glaube, wenn ich die Botschaft höre. Die Botschaft selbst wäre dann nur der auslösende Impuls, der jeweils Teile dieses Films freigibt. Ihr seht, es gibt so viele Erklärungen, die alle möglich wären. Ich wollte, ich hätte endlich Sicherheit.« »Könnte die Botschaft nicht auch von einem anderen Stern kommen?« fragte Tamara. Ich nickte. »Auch daran habe ich schon gedacht. Doch selbst wenn wir annehmen, daß die nächsten bewohnten Planeten nur fünf bis zehn Lichtjahre entfernt sind, so sind das so unsagbar weite Strecken, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie eine Kontaktaufnahme erfolgt sein könnte. Und irgendein erster Kontakt muß einmal stattgefunden haben, sei es mit einem Helfer oder einem Botschaftsempfänger. Diese Vorbereitungen, die erforderlich sind, um einen präparierten Menschen wie mich etwa wieder seiner Umwelt auszusetzen, die können unmöglich über so gigantische Entfernungen dirigiert werden. Stellt euch nur vor, wie meine Wohnung, in der ich die zweite Geburt erlebte, hergerichtet war! Perfekt ausgestattet für die selbständige Ausbildung und Anpassung. Ich hatte reichlich Geld, Papiere, die nichts über meine Vergangenheit aussagten… Das muß doch alles von jemandem so eingerichtet worden sein – einem anderen Helfer, vermute ich. Bekam der seine Aufträge von einem Planeten durch Signale, die Jahre oder Jahrzehnte unterwegs waren? Unvorstellbar!« »Und eine Botschaft aus der Zukunft? Die ist doch ebenso unvorstellbar!« »Nein, Tamara, das könnte ich mir vorstellen. Man brauchte doch nur etwas zurückzulassen – ich persönlich glaube nämlich an die Möglichkeit von Zeitreisen; einen Sender, der auf verschiedenen Frequenzen verschiedene Botschaften emittiert – einen sehr schwachen Sender, dessen Signale im Rauschen untergehen…«
»Die eine Erklärung scheint mir ebenso phantastisch zu sein wie die andere«, brummte Burton. »Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, was du noch durch die Botschaft erfährst. Falls du dich ihr wieder aussetzen willst.« »Nach alldem?« fragte Tamara entsetzt. »Diese gräßliche Botschaft hat dich durch die Hölle gejagt und dich beinahe das Leben gekostet, du darfst sie nicht wieder hören! Bitte nicht!« »Ich muß es. Ich fürchte mich davor, das gebe ich offen zu, aber ich bin der Überzeugung, daß ich einmal die Botschaft in ihrer Gesamtheit hören muß. Es – es ist vielleicht der Sinn meines Lebens, meine persönliche Aufgabe, verstehst du? Schau, vielleicht würde sich die Zukunft anders entwickeln, vielleicht günstiger für die Menschheit, wenn ich etwas ganz Bestimmtes täte oder nicht täte – und man versucht, mir das mitzuteilen!« »Unlogisch«, warf Burton ein. »Du hast dann auf alle Fälle versagt, denn die Zukunft ist ja offensichtlich so, daß man glaubt, nicht ohne deine Hilfe auskommen zu können!« »Das stimmt – wenn es nur eine einzige Zukunft gibt. Gibt es aber viele, dann lösche ich durch mein Handeln oder Nichthandeln nur einen ganz bestimmten Zweig, der für die Menschheit ungünstig ist, vielleicht sogar zu ihrer Vernichtung führt.« »Das Löschen bedeutet aber doch für die Menschen, die in dieser Zukunft leben, den Tod, nicht?« »Nein. Dann wird nur eine andere Zukunft real, und sie leben in dieser!« »Hört auf!« rief Tamara. »Welch ein irrer Spuk! Haben wir nicht so schon genug Sorgen?« »Das stimmt«, gab ich zu. »Außerdem sind derlei Überlegungen mäßige Spielereien. Einmal werden wir ja wissen, worum es tatsächlich geht – vorausgesetzt, ich habe die Kraft und den Mut die ganze Sache einmal durchzustehen.« »Etwas beunruhigt mich«, sagte Burton, »und das ist die Widersprüchlichkeit deiner Erlebnisse und Reaktionen. Irgend etwas stimmt da nicht! Einerseits berichtest du, daß deine Erlebnisse ›drüben‹ nichts Schreckliches an sich hatten, daß die Leute freundlich und gutartig waren, daß sie ein zwar hochentwickeltes, aber dennoch bedauernswertes Dasein führen. Du hast Mitleid mit ihnen. Das ist die
eine Seite – die andere sieht jedoch so aus: Die Erlebnisse ›drüben‹ rufen sowohl physisch als auch psychisch die schrecklichsten Reaktionen bei dir hervor. Dein Gesicht spiegelt Entsetzen, du hast Angst, du schreist! Die Botschaft ist so abgefaßt, daß du nichts von diesen Leuten bewußt siehst, oder wenn du sie wahr nimmst, wieder vergißt, wie sie ausgesehen haben! Das kann nur den einen Grund haben, daß sie dich in Angst und Schrecken versetzen durch ihr Aussehen. Sie trachten danach, dich dahingehend zu beeinflussen, daß du glaubst, einer der ihren zu sein, hier auf der Erde aber als Fremder zu leben! Sie wenden Gewalt an, und wenn du versuchst, dich ihr zu entziehen, kostet dich das fast das Leben. Und vergiß Steve nicht!« »Glaubst du, daß diese Leute etwa böse sind? Feindlich?« »Vielleicht nicht böse, aber dennoch feindlich. Egoistisch… verzeih, Tamara, ich bin dir ins Wort gefallen, was wolltest du sagen?« »Ach, nichts Wichtiges. Ich mußte nur daran denken, daß sie sich Chip gegenüber verhalten wie Herr Myers zu seinen Hasen: Er ist gut zu ihnen, freundlich – ja, er ist an sich ein liebenswerter, gutmütiger, hilfsbereiter Mann – aber eines Tages schlachtet er sie doch.« Wir mußten alle drei lachen. Nein, als Nahrung für sie war ich bestimmt nicht gedacht, gaben sie mir doch ihr bestes Essen und mehr, als sie sich selbst gönnten. Doch – und dieser Gedanke kam mir jetzt erst – erfuhr ich durch die Botschaft die Wahrheit? Waren meine Erlebnisse drüben, die Erfahrungen die ich dort machte, echt und wahr? Meine Freunde glaubten, sie seien es – denn was hätte es auch für einen Sinn, mich mit Märchen und Lügen zu füttern? Wozu der Aufwand? Wieder eine Frage, auf die wir keine sichere Antwort wußten. Meine Welt, mein Leben, war nur noch ein fragiles Gerüst aus wahrscheinlichen Annahmen, plausiblen Hypothesen – nichts war sicher, nichts fest! Noch lange erörterten wir an diesem Vormittag verschiedene Möglichkeiten und Erklärungsversuche. Gemeinsam gingen wir meine ersten Erinnerungen durch, suchten dort nach Hinweisen, ohne allerdings etwas Brauchbares zu finden. Wie sehr sehnte ich mich
schon danach, endlich die Wahrheit zu erfahren! Kaum hatte ich mich einigermaßen erholt, wagten wir einen neuen Versuch, wenige Minuten nur. Ich erlebte eine bekannte Szene – ja, ich konnte mit Gewißheit sagen, daß es in allen Einzelheiten eine Szene war, die ich kannte: Die Familie mit den beiden intelligenten Kindern, die umherflitzenden ›normalen‹ Kinder, denen es bestimmt war, früher oder später zu verhungern… Diese Identität, die ich mit voller Sicherheit als solche erkannt hatte, bewies, daß es sich bei der Botschaft um ein sozusagen endloses Band handelte: Der Film lief ab und endete und begann, und auf jedes Ende folgte der Anfang, und es war immer wieder derselbe Film. Am folgenden Abend sah ich etwas Neues: ich sah die Landschaft, Straßen, Städte. Die Landschaft war parkähnlich, sehr reizvoll, aber künstlich – sie erinnerte mich an Bilder, die ich von Japan gesehen hatte. Die Straßen waren schmal, doch immer verliefen drei oder vier Straßen übereinander; die langsamen Fahrzeuge fuhren unten, die schnellen oben. Die Städte lagen halb unter, halb über der Erde und waren Welten für sich; bedeckt und durchzogen von wimmelndem Leben gleich Ameisenburgen. Die Gebäudekomplexe waren riesig, jeder einzelne mußte Millionen dieser Kleinwohnungen enthalten. Das war möglich, weil das Baumaterial dieser leichte spinnwebartige Stoff war, der eine gewisse Elastizität aufwies und nahtlos verschweißt werden konnte. Wieder hatte ich der Botschaft nur wenige Minuten gelauscht, und wieder war es für mich glimpflich abgelaufen; meine einzige Reaktion war, daß ich fror und mich nur langsam erwärmen konnte. Schon begannen wir zu hoffen, daß ich mich an die Botschaft ›gewöhnt‹ haben könnte, als ich eines Abends wieder sehr heftige Reaktionen zeigte und eine neue Erfahrung machte: Ich hatte, als ich schreiend und mit kaltem Schweiß bedeckt in mein reales Leben zurückkehrte, alles vergessen, was ›drüben‹ geschehen war. Deprimiert beschlossen wir, neuerlich eine Pause einzulegen. Um zu verhindern, daß ich – ohne mir meines Tuns bewußt zu werden – wieder einmal in den Experimentierraum ging und den Apparat einschaltete, ließen mich meine Freunde nie allein. Burton hatte ein
Feldbett in meinem Zimmer aufgestellt, das er des Nachts vor die außerdem noch versperrte Türe schob. So war Zone III jede Chance genommen – und sonderbarerweise schien sie das auch zu wissen. Nie wieder unternahm ich einen solchen Versuch. Nach drei Erholungstagen, die wir mit Skiwanderungen, Schachspielen und Musizieren verbrachten, begannen wir wieder mit dem Empfang. Erst fünf Minuten, dann zehn, dann eine Viertelstunde. Ich erinnerte mich stets an das Erlebte und zeigte keine allzu heftigen Reaktionen. Doch noch immer wußte ich nicht, wie die Leute in jener Welt aussahen – und ich wußte hier nichts mehr von der Sprache, die ich dort perfekt beherrschte. Nur an Namen erinnerte ich mich, so auch an einen Sti pen ra, einen Gelehrten, mit dem ich diskutiert hatte. Und an ein Kind, Hai wen ma, das wegen seines außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten schon in jungen Jahren die ehrenvolle Endsilbe ma seinem Namen anhängen durfte. Es besaß einen Bruder, Pro he, der sich durch besondere technische Fähigkeiten auszeichnete und mir bei der Konstruktion eines komplizierten Apparates half. Darauf wagten wir einen halbstündigen Trip. Auch er verlief harmlos, und meine Rückkehr in die reale Welt bereitete mir keine Schwierigkeiten. Damals erfuhr ich ganz beiläufig, daß ich R 14 war; Hai wen ma erwähnte es indirekt, als sie jemandem sagte, er solle eine neue Schaltskizze anfertigen lassen, R 14 habe seinen Blips über die erste geschüttet. Und R 14 war ich. Ich erinnerte mich auch daran, daß Pro he einmal sagte, er würde mich gerne begleiten, worauf die anderen Anwesenden – und es waren ihrer sehr viele – brummten: ›Wer würde das nicht‹, und dann schoben sie das Kind von mir weg, und ich sah es nicht wieder. Ich erinnerte mich an eine Art Wiese, auf der aber nicht Gras, sondern Klee oder Lupinen oder so etwas Ähnliches wuchsen. Die großen warmen Tiere fraßen die Wiese ab – aber nicht so wie bei uns das Rindvieh. Nein, die Tiere standen in einer Reihe und ein elektrisch geladener Draht war vor ihren Mäulern quer über die Wiese gespannt; langsam wich der Draht zurück und die Tiere fraßen den freigegebenen Streifen kahl. Auch hinter ihnen gab es einen solchen Draht, der sie daran hinderte, wieder zurückzulaufen. So konnte das Kraut dort wieder nachwachsen. Ganz praktisch, aber es
wirkte so – so unmenschlich… Ich erinnerte mich, daß ich Früchte zu essen bekam, und daß mir die anderen beim Essen zusahen und es abscheulich fanden und angewidert das Gesicht verzogen. Ich erinnerte mich deutlich an den Ausdruck der Gesichter, nicht aber an die Gesichter selbst. Ich projizierte unbewußt menschliche Physiognomien auf die leere Erinnerung… Burton notierte noch immer gewissenhaft jede Einzelheit, die ich von ›drüben‹ berichtete, auf eine Karte und versuchte, die Karten zu ordnen, beginnend mit jenem Erlebnis des Schwebens im leeren Raum, da ich wußte, daß mein Leben in der Zukunft lag. Doch die Kartei ließ kaum Zusammenhänge ahnen, der Film mußte lang sein. Sonderbar war es auch, daß ich mitunter auf einem langen Trip sehr wenig erlebte, dann wieder innerhalb von drei oder vier Minuten sehr viel. Im großen und ganzen gesehen, schien ich mich ja doch an die Botschaft gewöhnt zu haben, nur der Abfall meiner Körpertemperatur machte uns noch Sorgen. Stets war nach der Rückkehr meine Haut eisig kalt, und ich hatte bis zu zwei Grad Untertemperatur. Ein heißes Bad nachher, Tee mit Rum, gymnastische Übungen – das alles half mir wieder auf die Beine. Erst als wir dazu übergingen, mich schon vor Antritt meiner ›Reise in die Zukunft‹, wie wir die Trips auch nannten, in Heizdecken zu wickeln, wurde es besser. Eines Tages, als wir unten am Kamin, bei einem gemütlichen Imbiß, meine Erlebnisse in der anderen Welt besprachen, hatte Tamara eine Idee. Sie meinte, ob da nicht ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Kälte, die ich von ›drüben‹ mitbrachte, und den ›warmen Tieren‹. Wenn ich von den Tieren berichtete, so waren das immer »große warme Tiere‹ – andere gab es vielleicht gar nicht, oder ich hatte sie nie zu Gesicht bekommen. «Es würde doch keinem Menschen einfallen, beim Anblick von Kühen, Giraffen oder Elefanten von ›großen warmen Tieren‹ zu sprechen«, meinte sie. »Könnte das ›warm‹ bedeuten, daß es dort drüben kalt ist, so kalt, daß du immer halb erfroren zurückkehrst?« »Ich weiß es ganz einfach nicht«, mußte ich zugeben. »Wie steht’s denn überhaupt mit der Kleidung«, fragte Burton,
»was trägst du, was tragen die anderen?« »Auch das weiß ich nicht. Wenn es nicht so unwahrscheinlich klänge, würde ich sagen, wir sind unbekleidet.« »Wie werden die Gebäude beheizt?« »Vermutlich elektrisch – aber ich erinnere mich nicht, je Heizkörper gesehen zu haben. Sie könnten Fußbodenheizung haben. Außerdem ist ihr Baumaterial in hohem Maße wärmedämmend, und ich erinnere mich, daß es nur selten Fenster gibt – die meisten Räume haben keine.« »Steht elektrischer Strom unbegrenzt zur Verfügung?« »Ja, das glaube ich mit Sicherheit sagen zu können. Wahrscheinlich haben sie Fusionsstrom – ich erinnere mich dunkel, einmal mit Sri pen ra über die Fusion gesprochen zu haben, und er sagte, vor dem Fusionszeitalter habe es große Schwierigkeiten gegeben, da Nahrungs- und Energiemangel sicheren Untergang bedeuten würden. Man hätte damals nur gerade noch, sozusagen im letzten Augenblick, gelernt, die Kernfusion zu beherrschen.« »Weil wir gerade von Fusion sprechen«, warf Tamara ein, »weißt du, ob es in dieser Welt Kriege gibt oder gegeben hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung – aber vielleicht hat man das nur vor mir geheim gehalten? Übervölkerung und Hunger sprächen eher dafür, doch ich habe nie von Kriegen gehört.« »Auch nicht gelesen? Liest du dort überhaupt?« »Ja, natürlich«, sagte ich, »doch ich glaube, daß sie keine Bücher haben, sondern nur eine Art Schriftfilme. In allen Räumen gibt es sogenannte Schriftwände, auf denen man lesen kann.« »Lesen, was man will, oder was einem vorgesetzt wird?« fragte Tamara. »Wieder weiß ich die Antwort nicht«, mußte ich zugeben. »Doch ich vermute, daß Schüler wohl eher das lesen müssen, was ihnen die Lehrer vorlegen. Von den Erwachsenen weiß ich es einfach nicht.« »Bist du drüben meistens erwachsen oder oft noch ein Kind?« »Ersteres. Ich kann nicht sagen, daß ich erwachsen bin, aber ich bin auch kein Schüler mehr. Ich habe immer den Eindruck, fertig zu sein – das bedeutet wohl, fertig mit der Ausbildung. Vielleicht bin ich bloß körperlich erwachsen, aber noch nicht im Besitz der Rechte eines Erwachsenen – jedenfalls erinnere ich mich, daß mich die
anderen nie wie ihresgleichen behandeln. Eher etwas diskriminierend – aber doch auch wieder nicht wie ein Kind.« »Das ist interessant«, warf Burton ein, »denk nach, versuche es dir vorzustellen!« »Ja, ich glaube, ich war nur auf einem oder zwei Trips ein Kind, ein Schüler jedenfalls. An ein Kindsein erinnere ich mich nicht explizit. Sonst bin ich immer ein – sagen wir, ein ganz besonderer Erwachsener. Rechtlich bin ich den anderen nicht gleichgestellt, habe aber massenweise Privilegien, die ich sehr genieße. Ich bin einerseits irgendwie wertvoll, kostbar, unverletzlich, andererseits sehen die anderen fast ein wenig auf mich herab, betrachten mich als… als eine Art Drohne…« »Vielleicht bist du ein Herrscher, ein Monarch, den man nur der alten Überlieferungen zuliebe durchfüttert?« »Möglich, aber unwahrscheinlich. Ich weiß einfach noch nicht genug, um diese Fragen beantworten zu können.« Die Tage wurden länger, ein Hauch von Frühling lag in der Luft. An sonnigen Morgen probierten die Vögel eine Strophe ihrer Lieder, untersuchten die rissigen Baumrinden nach verfrühten Insekten oder Larven und begannen zaghaft ein kurzes Liebesspiel. Der Schnee fiel von den Bäumen, in der Traufe gluckste das Schmelzwasser. Mittags konnte man schon im Hemd auf der Terrasse sitzen, so warm schien die Sonne. Ich erlebte dieses zarte, fast unmerkliche Frühlingserwachen wie ein Traum, ich empfand das Leben auf dieser herrlichen, einzigartigen Welt als geborgtes Glück. Mit jeder Minute, die ich länger in jener anderen Welt verbrachte, kam mir das Leben hier immer unwirklicher – und immer schöner und begehrenswerter vor. Jeder Tag war ein Geschenk. Ich erinnere mich an einen Morgen, als ich früh wachgeworden war und zusah, wie die tief verschneiten Berge den Tag empfingen. Erst war der Himmel noch bleigrau, fast schwarz, die Berge jedoch leuchtend weiß. Dann wurde der Himmel langsam heller, blaugrau erst, dann zart lila – und die Berge schimmerten in blassem Grün. Dann endlich wurde der Himmel blau, die Berge rosig und auf dem höchsten Gipfel glomm ein Feuer auf, das Licht sickerte in den Schnee wie helles Blut, das rasch verblaßte. Dann leuchteten die
anderen Gipfel auf, binnen Minuten war der Bergkamm in Licht getaucht, und dieses geborgte Leuchten war so hell, daß es Schatten warf in meinem Zimmer. Noch wagte ich nicht, die Sendung aus jener anderen Welt zur Gänze zu hören, mein längster Ausflug dauerte vierzig Minuten. Was jene Zone III in meinem Gehirn betraf, dieser verbotene Bereich, der mir einst soviel Sorge und Angst gemacht hatte, der zerfiel, zerbröckelte völlig undramatisch. Manchmal dachte ich, er sei damals, als ich nach dem heimlichen Trip von dem hohen Fieber befallen war, einfach verbrannt. Wie immer die Wahrheit aussah, Zone III schien nicht mehr zu existieren, ich hatte nicht länger das Gefühl, daß es in meinem Hirn Antworten gab, die mir nicht zugänglich waren. Doch noch immer wurde ich von meinen Freunden bewacht, noch immer schlief Burton in meinem Zimmer, Tamara begleitete mich auf meinen Wanderungen. Ihre scheue, zarte Liebe war für mich wie ein Wunder, an das ich nicht zu rühren wagte, zumal ich fühlte, wir seien nicht füreinander bestimmt. Auch ich liebte sie, liebte sie so, daß es schmerzte. Doch das Wasser war viel zu tief… Es gab aber auch Tage, da schalt ich mich einen Narren, da hatte ich Lebensmut und Lebensfreude, und ich fragte mich, wie es nur möglich war, daß sich ein Mensch wie ich, der mit beiden Beinen im Leben stand, so wehmütig sentimentalen Gedanken hatte hingeben können. Dann fühlte ich mich stark, ja unbesiegbar. Dann lachte ich, lachte aus purer Freude am Dasein! Drüben gibt es kein Lachen, keine Freude, keinen Übermut, keinen Humor. Sie kennen keine Liebe (nur Sexualität), keine Freundschaft, sie haben keine Märchen. Ihre Phantasie ist arm und düster – die einzige Ausgeburt ist die Geschichte eines herrschsüchtigen Gottes, der seine Untertanen bestraft, wenn sie ihn nicht anbeten, ihm nicht dienen, ihm nicht opfern. Dieser Gott ist gerecht, vorausgesetzt, man befolgt seine vierzehn Gebote; er kennt weder Güte noch Haß. Sie nennen ihn Gasir, den allmächtigen Beherrscher der Welt, der alles sieht und alles weiß. Auf mich wirkt er wie ein seelenloser Computer, ich glaube nicht an ihn, bete ihn nicht an. Es ist mir überhaupt unverständlich, wie eine so streng
mathematisch-technische Intelligenz einen so absurden Götterglauben beibehalten konnte. Geschah das nur wegen der vielen unterentwickelten Völker, ja, wegen des Volkes überhaupt, das ethische Gesetze brauchte, strenge ethische Gesetze, um nicht über den Nächsten herzufallen und ihm die Nahrung zu rauben? (Nahrungsraub galt als eine Art Todsünde und zog ewige Verdammnis nach sich.) Es hatte übrigens sehr wohl Kriege gegeben, entsetzliche Kriege mit Milliarden Toten, doch das lag schon Jahrhunderte zurück, und ich erfuhr nur durch Zufall davon. (Ich glaube, es war ein Zufall, eine Unachtsamkeit meiner Ausbilder.) Das größte Problem auf diesem Planeten war der Metallmangel. Konnte es sein, daß die Vorfahren der jetzigen Bevölkerung alle Metallvorkommen ausgebeutet und vergeudet hatten? Man stellte alles, oder fast alles, aus organischen Materialien her – es war eine Art Plastikwelt. Dennoch brauchte man in vielen Industriezweigen Metall, vor allem die Elektronikbranche kam nicht ohne Leiteratome aus, wenngleich man mit lebenden Zellen wahre Wunder vollbrachte. Auch die chemische Industrie, der zweite große Zweig, brauchte Metalle, zumindest Spuren davon. Die bedeutendste aller Industrien war jedoch die Bio-Industrie; sie stand einsam an der Spitze. Jede Stadt hatte ihren Biokomplex, in dem der Großteil der Bevölkerung arbeitete und wo auch die Kunstnahrung hergestellt wurde. Dorthin wurden auch von Zeit zu Zeit warme Tiere gebracht und – wie ich vermute – geschlachtet. Man betrieb auch Raumfahrt, es gab einen recht lebhaften Verkehr zu den beiden Monden, wo man nach Meteoriten suchte, die in den meisten Fällen aus Eisen und demnach sehr kostbar waren. Ich erinnere mich nicht, jemals dort oben gewesen zu sein. Der eine Mond, schlicht Nr. 2 genannt, ist übrigens sehr klein; vermutlich ein von einem Meteor aus Nr. l herausgeschlagenes Stück. Nach und nach erfuhr ich immer mehr über jene Welt, doch bis zum Ende wußte ich nichts über das Aussehen ihrer Bewohner und über die Aufgabe, die dem Spion R 14 hier auf der Erde zugedacht war. Diese Tatsache gab Burton zu der Hypothese Anlaß, daß die
Botschaft immer nur gewisse Informationen aus Zone III freigebe, und daß die entscheidenden Antworten sozusagen ganz tief unten lagen und mir als letzte bewußt wurden. Erst mußte ich alles andere wissen, jene Welt kennenlernen. Obgleich ich selbst den Eindruck hatte, daß es keine Zone III mehr gab, daß ich frei war und keinerlei fremden Macht unterworfen, hatte Burtons Annahme viel für sich. Denn mitunter, bisher hatte ich es auf drei Trips beobachtet, führte das Hören der Botschaft zu keinem Erlebnis, zu keiner Information. Das konnte man sich so erklären, daß ich zwar jene Signale vernommen hatte, die die letzten Antworten freigeben sollten, diese Antworten aber noch von anderen blockiert waren und mir so nicht bewußt werden konnten. Wie dem auch immer war, bald würde ich Klarheit haben, denn, so sehr ich den Tag auch hinausschob, einmal mußte es ja sein. Ich befand mich in einem sonderbaren Zwiespalt – einerseits sehnte ich ein Ende dieser Unsicherheit herbei, andererseits fürchtete ich mich vor dem Urteil, das fremde Mächte über mich sprechen würden. Ich schwankte zwischen wilder, empörter Auflehnung (niemand hat ein Recht, mir Befehle zu erteilen!) und apathischer Unterwerfung (ich bin ja doch hilflos, kann nichts gegen mein Schicksal unternehmen). Wir besprachen die Vorsichtsmaßnahmen, die wir für den Letzten Akt ergreifen wollten, in allen Einzelheiten. Ich baute noch zusätzliche Sicherungen ein, konnte ich doch nicht einmal ahnen, wie ich auf die letzten Antworten reagieren würde. An meinem rechten Handgelenk befestigte ich eine Schnur, die so straff mit einem Schalter verbunden war, daß ich, sollte ich zu Boden stürzen oder auch willentlich meinen Stuhl verlassen, der Empfang unterbrochen wurde. Wir hielten es nicht für ausgeschlossen, daß ich mich, nicht mehr Herr meiner selbst, vielleicht auf Burton stürzte, um ihn außer Gefecht zu setzen, ja vielleicht sogar zu töten. Burton selbst, vermummt wie er war, konnte nicht viel gegen mich ausrichten. Die Zimmertür wollten wir versperren, um Tamara vor mir zu schützen, die Fensterriegel blockieren, um zu verhindern, daß ich mich durch ein Fenster stürzte. Sorgfältig untersuchten wir den Raum auf alles, was ich eventuell als Waffe benützen könnte. Burton selbst bekam einen Schalter in die Hand, der es ihm ermöglichte, den Strom für den ganzen Raum zu unterbrechen – ein Wiedereinschalten war dann nur vom Gang aus
möglich. Und am Gang wartete Tamara vor der von außen verschlossenen Tür; sie würde nur auf Befehl von Burton öffnen, und das auch nur dann, wenn Burton einen langen, komplizierten Satz sagte… Wir probten alles mehrmals, immer fielen uns noch Verbesserungen und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ein. Schließlich beschlossen wir, daß ich mit all den zusätzlichen Sicherungen noch einen vorletzten Trip unternehmen sollte, für den wir eine ungefähre Zeitspanne von einer Stunde vorsahen. Alles verlief ohne Störung. Ich erlebte teils bekannte Szenen, wo ich in einem Biokomplex verschiedene Arbeitsmethoden studierte, teils neue, in denen ich einen Metallsuchertrupp begleitete. Die Leute besaßen kleine, sehr leichte Fahrzeuge, an deren Böden Metalldetektoren angebracht waren. Auf Instrumenten war Art und Größe des Vorkommens sowie die Tiefe der Lagerstätte abzulesen. Die Ergebnisse wurden sorgfältig in Karten eingezeichnet. Von Lagerstätten zu sprechen war arge Übertreibung, meist handelte es sich nur um winzige Einschlüsse von etlichen Gramm, ein halbes Kilo war schon ein sensationeller Fund. Darauf folgte scheinbar übergangslos (oder hatte ich den Übergang nur vergessen?) ein Erlebnis in einer Art Zoo, in dem ich zehn oder zwölf verschiedene warme Tiere beobachten konnte. Die meisten waren große, behaarte Vierbeiner, die apathisch in einem Winkel des Käfigs lagen und sich nicht um die Besucher kümmerten. Doch es gab auch haarlose, aufrechtgehende Geschöpfe, eine Art Affen, die bei meinem Anblick wild zu schnattern begannen und versuchten, ihre langen dünnen Arme durch die Gitterstäbe zu schieben, um nach mir zu fassen. Entsetzt wich ich zurück. Damals erfuhr ich auch weitere Einzelheiten von der Religion und ihren Priestern. Es war tatsächlich so, daß Gasir den Auftrag gegeben hatte, die naturgegebene Vermehrung nicht zu behindern; das Ei war heilig und mußte gepflegt und geschützt werden. Heilig war übrigens auch die Zahl 14 (war ich demnach ein Heiliger?) und, wo immer möglich, kam alles vierzehnmal vor, oder wenigstens in Vielfachen von 14. Es gab in jeder größeren Stadt ein Heiligtum des Gottes, dem dort 14 Priester dienten. Der Bevölkerung war der Zutritt verboten; sie verehrte Gasir in ihren Heimen. Jeder, unabhängig von
Geschlecht und Alter, mußte jeden Morgen vor einer winzigen Altarnische zu Gasir beten und schwören, den 14 Geboten zu gehorchen. Und jeder mußte täglich dem Gott ein winziges Opfer bringen, den Gegenwert einer kleinen Münze. Das war eine Art Steuer, die aber nicht den Priestern zugute kam, sondern dem Staat. Als Burton nach einer knappen Stunde abschaltete, fand ich ohne besondere Schwierigkeiten zurück; dank der Heizdecken fror ich nicht einmal, ja, ich fühlte mich fast wohl, und meine Angst vor den letzten Antworten war verschwunden. Diese andere Welt, lag sie nun in der Zukunft oder auf einem fernen Planeten, barg doch gar keine Schrecken, sie erschien mir fast so vertraut wie die Welt hier. Es war eine sehr verschiedene Welt, ärmer als unsere, bedauernswert arm. Vielleicht konnte ich jenen Leuten helfen – freiwillig, ohne Befehl und Zwang! Vor der letzten Botschaft wollten wir noch einen Ruhetag einlegen; Burton hatte in der Stadt zu tun, ich wollte mit Tamara einen Ausflug machen, eine Frühlingswanderung. Ja, es war Frühling geworden, der Winter hatte sich erst spät in die Berge zurückgezogen, und der Frühlingsbeginn erfolgte mit seltsamer Hektik, so als wollte die Natur das Versäumte möglichst schnell nachholen. Warme Regen hatten den letzten Schnee durchweicht und für Tage die Landschaft in einen einzigen Sumpf verwandelt, den die Sonne jedoch rasch trocknete; Wärme und Feuchtigkeit erweckten tausendfältiges Leben, man glaubte zusehen zu können, wie die Knospen schwollen, sich dicke grüne Triebe durch die braune Decke fauligen Laubes bohrten, und die ersten zarten Blüten aufbrachen. Gelbe Schmetterlinge tauchten auf, wärmten sich in der Sonne und schlugen mit den samtig schillernden Flügeln. »Wir wissen gar nicht, wie reich wir sind, wie atemberaubend schön diese Welt ist, in der wir leben dürfen«, sagte ich zu Tamara, und sie erwiderte darauf: »Ich weiß es.« Hand in Hand wanderten wir durch den Park, stiegen im Osten über die dort teilweise eingestürzte Mauer und folgten einem Wildpfad, der zu dem großen Hochmoor führte. Dieses lag zwischen unserem Haus und den Farmen, die im Osten und Norden das
Landschaftsbild prägten mit ihren Scheunen und Weidezäunen. Am nördlichen Waldrand, am Ufer des Hochmoors, lag ein Berg entrindeter Stämme, auf dem wir schon an sonnigen Wintertagen gesessen waren und vom Frühling gesprochen hatten. Nun war es so weit, die Sonne schien fast schon zu warm; Tamara und ich saßen eng umschlungen auf einem Baumstamm, mit zwei anderen Stämmen als Rückenlehne und unseren Jacken als Kissen. Es war ein traumhaft schöner Tag, und wir waren glücklich. »Ich hoffe so sehr«, sagte Tamara, »daß wir übermorgen wieder hier sitzen. Daß dann alles vorbei si t, daß dann auch für uns ein neues Jahr beginnen kann, ein neues Leben!« »Ich schwanke zwischen Zuversicht und Hoffnungslosigkeit«, erwiderte ich. »Manchmal glaube ich, daß ich alle feindlichen Kräfte besiegen kann, ja, sie schon besiegt habe. Daß es keine Gefahr mehr gibt für uns. Dann wieder bedrücken mich dunkle Ahnungen, ich habe Angst vor der letzten Botschaft, fürchte, daß sie meinen Tod bedeuten könnte.« »Welch ein unsinniger Gedanke! Du glaubst doch nicht im Ernst, daß jene fremde Macht einen so ungeheueren Aufwand getrieben hat, bloß um einen Menschen zu töten! Ich bin ganz sicher, daß du zuletzt nur von irgendeinem Auftrag erfährst, der wohl darauf hinausläuft, jenen Leuten Hilfe zu bringen.« »Ich hoffe, es ist so.« »Wirst du ihn erfüllen? Wenn es sich um Hilfe handelt, wirst du ihnen helfen?« »Ja, vorausgesetzt, ich kann helfen, ohne anderen zu schaden. Bedeutet die Hilfe eine Gefahr für die Menschen der Gegenwart, dann werde ich mit aller Kraft versuchen, eine Erfüllung des Auftrags zu verweigern. Geht es aber etwa darum, jene absurde Gottheit zu stürzen oder etwas zu unternehmen, das die religiöse Entwicklung in andere, menschlichere Bahnen lenkt, dann werde ich es tun. In meinen Augen sind nämlich Gasir und seine Gebote schuld an Unglück und Not.« »Wahrscheinlich hast du recht.« Tamara gab mir einen Kuß. »Weißt du, letzthin träumte mir doch, jene Leute hätten dich zu ihrem Gott und Beherrscher machen wollen! Wie gefiele dir das? Würdest du annehmen?«
Ich gab ihr den Kuß zurück. »Nein, mein Engel. Andere Menschen zu beherrschen wäre das letzte, was ich mir wünschte. Ich will keine Macht, nur Freiheit. Anbetung finde ich lächerlich und für den, dem sie entgegengebracht wird, geradezu peinlich. Nein, nichts von alldem. Mein Wunsch wäre ein Leben mit dir in einer friedlichen Welt – ist das so unbescheiden?« »Nein. Morgen wirst du es hoffentlich wissen – und wenn du mich morgen fragst, ob ich deine Frau werden will, dann werde ich Ja sagen, also sieh dich vor!« Lachend tauschten wir von neuem Küsse und Zärtlichkeiten. Die Sonne schien warm und gol-den und wob Netze aus Licht zwischen den dunk-len Tannen. Die Luft war schwer und feucht, durchtränkt vom Geruch der lebendigen, erwa-chenden Erde.
5. Kapitel Am Tag der Entscheidung war ich ruhig und gefaßt, aber zugleich hatte ich das Gefühl, wie in Trance zu handeln. Tief in mir schlummerte die Angst, verschnürt und weggepackt wie alte Kleider, die man nicht mehr sehen wollte. Ich wußte, sie war da, sie existierte irgendwo, konnte mir aber nichts anhaben. Ich tat, was ich tun mußte, mechanisch verrichtete ich, was zum täglichen Leben gehörte, versuchte einen gedanklichen Sprung auf den morgigen Tag, den Sonnenaufgang, das gemeinsame Frühstück… Doch ein solcher Sprung war nicht möglich, meine Zukunft war leer, vollkommen leer. Also hielten meine Gedanken mitten im Sprung inne – wie ein Film, der plötzlich angehalten wurde. Es gab kein Morgen, und auch das Heute war nur ein Traum. Ich nahm Abschied von meinen Freunden, küßte Ta-ma-ra ein letztes Mal und fühlte mich den Tränen nahe – doch das geschah nicht in Wirklichkeit; in Wirklichkeit gab ich mich zuversichtlich, spielte den mutigen Mann, der der Gefahr kalt ins Auge sah, der vor der Schlacht noch einmal die Waffen prüfte und die Rüstung anlegte… Nur Tamara, die Frau, wußte, was in mir vorging, und gab Antwort auf Fragen, die ich, der Mann, nie zu stellen gewagt hätte. Sie sah durch den Helden hindurch, und ihre Augen liebkosten das zitternde Kind, das sich hinter Maske und Rüstung verbarg. Mechanisch traf ich die letzten Vorbereitungen. Burton, schon in seiner dicken Schutzkleidung, den Sturzhelm in der Hand, schlug mir auf die Schulter und sagte: »Halt die Ohren steif, alter Junge!« So spielten wir alle drei das Spiel nach den alten Regeln, und die Regeln halfen uns, unserer Gefühle Herr zu werden. Das Bewußtsein, daß die anderen von mir ein gewisses Maß an Heldentum erwarteten und ich sie nicht enttäuschen durfte, half mir, die Furcht zu besiegen. Meine Hand zitterte nicht, als ich den Schalter umlegte. Die Rückkehr erfolgte wiederum völlig undramatisch. Ich selbst hatte den Apparat abgeschaltet, als ich sah, daß das Leben, das ich drüben zu führen glaubte, wieder am Ausgangspunkt angelangt war. Nun wußte ich alles, kannte alle Antworten.
Meine Freunde begrüßten mich, als wäre ich von den Toten auferstanden, lachend und weinend umarmten sie mich und bestürmten mich mit Fragen. Ich versuchte zu sprechen, doch meine Kehle war so ausgetrocknet, daß ich kein Wort herausbrachte. Tamara lief hinunter, um etwas zu trinken zu holen. Nicht umsonst hatte ich mir täglich eingeschärft, was ich als erstes tun mußte, sobald ich einmal die letzte Botschaft gehört hatte: Ich begann sofort, den Apparat zu zerlegen. Ich ging dabei keineswegs behutsam vor, wenn eine Schraube nicht gleich nachgab, nahm ich den Hammer und schlug die Teile auseinander. Gemeinsam schafften wir die Trümmer in den Garten, übergossen sie mit Benzin und zündeten es an. Die Reste vergrub ich und sagte zu Tamara: »Ich möchte, daß du darauf Blumen pflanzt. Es ist ein Grab.« Das waren die ersten Worte, die ich wieder gesprochen hatte, nachher, in meinem neuen Leben. Gemeinsam gingen wir nach oben, saßen wie alle Tage um den Kamin herum, tranken und aßen von Frau Myers’ köstlichem Gebäck. Ich sollte erzählen, die Neugierde meiner Freunde befriedigen; sie hatten es wahrhaftig verdient, waren sie mir doch so treu zur Seite gestanden und hatten mir geholfen, den Sieg zu erringen. Den Sieg? Ja, ich hatte wohl gesiegt, doch zugleich auch alles verloren. Konnte ich ihnen die Wahrheit berichten, durfte ich es? Oder war es gnädiger, zu lügen, gnädiger für sie und für mich? »Chip, so sag doch endlich was! Wie sehen sie aus? Weißt du es endlich?« Tamara wollte nicht länger warten. »Sie sind anders, ganz anders als wir.« »Wie anders? Keine Menschen? Kannst du sie nicht beschreiben?« »Keine Menschen, nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind in allem anders, vollkommen anders, und sie sehen für Menschen schrecklich aus, es sind Geschöpfe aus einem Fiebertraum. Ich will und kann sie nicht näher beschreiben, erlaßt es mir, bitte!« »Aber es sind doch intelligente Geschöpfe, nicht?« fragte Burton. »Gewiß«, erwiderte ich. »Sie sind hochintelligent, viel höher
entwickelt als wir – und dennoch ganz und gar unmenschlich. Sie kennen keine Gefühle wie wir, nur einen Intellekt.« »Waren sie tatsächlich kleiner als du?« »Ja, viel kleiner.« »Und was wollten sie von dir? Wirst du es tun?« »Ich werde es nicht tun. Mein Auftrag war, hier auf der Erde ein Gerät zu bauen, das ihnen einen Durchschlupf ermöglichen würde. Sie brauchen so dringend neuen Lebensraum, es ist ihnen jedoch nicht möglich, ihren Planeten mittels Raumschiffen zu verlassen. Erstens haben sie nur wenige und die Entfernung ist sehr groß, zwölf Lichtjahre, um genau zu sein; zweitens würde ein Raumschiff vielleicht eine Million von ihnen fassen, das wäre aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.« »Es sind also keine Geschöpfe aus der Zukunft?« »Nein, sie bewohnen tatsächlich einen anderen Planeten – die Lösung, die mir immer am unwahrscheinlichsten erschienen war, ist die zutreffende.« »Und was sollte das für ein Apparat sein?« »Nun, sie haben ein Verfahren entwickelt, das ihnen gestattet, einen Gegenstand von einem Ort an einen anderen zu bringen, ohne daß er die Entfernung im Raum zurücklegt. Jahrhundertelang funktionierte das nur mit toten Dingen, doch schließlich gelang es ihnen, die Methode auch auf lebende Organismen anzuwenden. Erst waren es nur einzelne Zellen, später Zellverbände, dann kleine Tiere und dann große.« »Und du weißt auch, wie man so einen Empfänger baut?« »Ja, man hat es mich gelehrt. Ich könnte ihn im Schlaf bauen, werde es aber gewiß nicht tun.« »Ich begreife das nicht!« Burton fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. »Das ist doch unlogisch. Da existiert eine hochintelligente Rasse, der die Lösung der abenteuerlichsten Probleme gelingt, und dann beauftragen sie einen Kerl wie dich mit einer Aufgabe, von der buchstäblich ihre Existenz abhängt. Sie beauftragen einen Versager – entschuldige, aber in ihren Augen bist du das doch!« Ich mußte lachen. »Ja, ich bin ein Versager. Sie haben einen
Fehler gemacht, einen grundlegenden Fehler. Sie machten ihn nicht zum erstenmal, und sie werden ihn weiterhin machen, denn ihnen sind Gefühle so fremd wie… wie… uns ein siebenter Sinn, wenn ihr wollt. Sie kennen sie nicht nur nicht, sie wissen auch nichts von ihrer Existenz.« »Und es sind Gefühle, die es dir ermöglichen, ihren Befehlen Widerstand zu leisten?« »Ja, ich glaube schon. Ich liebe diese wunderbare Welt mit jeder Faser meines Herzens, ich liebe Lachen und Freude, ja sogar Angst und Schmerz. Ich liebe alles, was das Leben von der bloßen Existenz unterscheidet. Ich bin so sehr Mensch, und eben dieses Menschsein macht es mir leicht, ja, richtig leicht, ihre Befehle zu ignorieren! Man hat mir eingeprägt, unter allen Umständen diesen Apparat zu bauen und ihn in einer möglichst einsamen Gegend in Betrieb zu setzen. Es ist überhaupt der Zweck meines Daseins, diesen Apparat zu bauen. Ich muß ihn bauen, ich muß… ja, das ist das Kernstück aus Zone III, die letzte Botschaft… doch ich bin ein Mensch, und sie ahnen nicht, was das bedeutet. Ich lasse mir von niemand sagen, was der Zweck meines Daseins ist, was ich tun soll, gar tun muß. Ich habe einen freien Willen, und für mich ist das der Wille, frei zu sein!« »Du erwähntest vorhin, du seist nicht der einzige Beauftragte, weißt du etwas von den anderen?« »Nein, ich weiß nur, daß ich der vierzehnte bin, der mit dieser Mission hierhergeschickt wurde, und wenn sie das Gesetz der Vierzehn nicht brechen, dann bin ich der letzte. Offenbar haben alle versagt, sind alle zu sehr Mensch gewesen…« »Und die Helfer?« »Ich habe keine Ahnung, wieviele es gibt, vermutlich sehr viele. Doch sie werden sich dessen nur bewußt, wenn sie mit einem Beauftragten zusammenkommen, ihm etwa auf der Straße begegnen. Dann erkennen sie ihn und stellen sich ihm zur Verfügung. Fragt mich nicht woran sie ihn erkennen, ich weiß es nicht.« »Und sie sind es auch, die die erste Umwelt für einen Beauftragten vorbereiten?» Ja, sie tun es und vergessen dann wieder, was sie getan haben.« »Warum können sie sich nicht wehren, den Befehl verweigern«, wollte Tamara wissen.
»Wahrscheinlich können sie es, wenn sie sich überhaupt des Feindes in ihrem Inneren bewußt werden. Das ist vielleicht nicht immer der Fall.« »Und wie senden sie? Wie stellen sie es an, daß diese Botschaften die geeigneten Leute erreichen?« »Das ist doch offensichtlich: Die Botschaften werden ununterbrochen abgestrahlt und Menschen, die sich mit Kurzwellenempfang beschäftigen – das sind stets technisch begabte Personen, hören durch Zufall diese Signale, sind fasziniert von deren Fremdheit, lauschen ihnen Und werden eingesponnen…« »Von einem Sender, der zwölf Lichtjahre weit entfernt ist?« fragte Burton ungläubig. »Aber nein«, erwiderte ich, »von einem Satelliten über uns! Sagte ich das nicht schon?« »Kein Wort. Doch man müßte diesen Satelliten doch erkennen und abschießen können!« »Das dürfte schwer sein, kreisen doch inzwischen weit über tausend künstliche Himmelskörper um unsere alte Erde, und niemand kann sagen, welcher wem gehört. Klar, die größten sind bekannt, doch wer weiß, wieviele von den kleinen nicht identifiziert sind? Wieviele gehören China, Indien, Zentralafrika, Algerien, Brasilien und so fort? Zu viele Staaten sind nicht kooperationswillig.« »Du hast letzthin von einem Zoo erzählt«, sagte Tamara, »erinnerst du dich? Dem Zoo, in dem du die warmen Tiere sahst. Und da sprachst du von haarlosen aufrechtgehenden Affen, die bei deinem Anblick laut schnatterten. Ich glaube, wir haben dem zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Könnten das nicht – Menschen gewesen sein?« Ich nickte. »Auch mir ist das damals nicht aufgefallen, ich war ja so in der Überzeugung verhaftet, in einem Zoo könnten bestensfalls Affen leben… Aber du hast recht, es waren Menschen, braunhäutige, ziemlich primitive Menschen, die letzten Reste einer humanoiden Urbevölkerung. Man weiß nicht, ob sie früher einmal Intelligenz besessen haben, jedenfalls sind sie heute praktisch ausgestorben, ebenso wie die anderen großen warmblütigen Säugetiere. Sie werden nur noch in Zoos gehalten, vermehren sich aber nicht mehr.«
»Du hast aber einmal von Weidetieren gesprochen?« »Ja, ich weiß. Sie haben eine Art Rindvieh, doch es handelt sich um lauter Ochsen, sozusagen natürliche Ochsen.« »Also unfruchtbare Tiere?« »Ja.« »Das würde aber doch bedeuten, daß es in einigen Jahrzehnten dort überhaupt keine Tiere mehr gibt!« »Nein, das nicht. Man hat gelernt, verschiedene Tiere künstlich herzustellen, wenngleich ›künstlich‹ vielleicht nicht das richtige Wort ist. Man braucht gewisse Körperzellen lebender Tiere dazu, Zellen, die die Erbinformationen enthalten. Aus diesen Zellen gewinnt man die Gene, die man optimal kombiniert, zu Chromosomen zusammenbaut, Ei- und Samenzellen herstellt und dann in geeigneten Nährsubstanzen und Brutschränken die Embryos züchtet. Es sind sehr komplizierte Arbeiten, und ich verstehe zu wenig von Biologie, um das genauer beschreiben zu können.« »Und diese Menschen?« fragte Tamara entsetzt. »Man kann doch nicht…« »Bei ihnen ist es etwas einfacher, es gibt noch männliche und weibliche Geschöpfe, man hat also Samen- und Eizellen zur Verfügung. Doch da diese ›Menschen‹ nicht fortpflanzungsfähig oder auch nur nicht fortpflanzungswillig sind, ist dies die einzige Möglichkeit, ein Aussterben der humanoiden Rasse zu verhindern. Ich finde es nicht so schrecklich, wenn der Embryo in einem Brutschrank heranwächst.« »Um, wenn er groß genug ist, in einem Zoo ausgestellt zu werden!« »Das ist vermutlich der einzige Ort, wo er zu essen bekommt. Ich find’s ja auch nicht schön, aber es ist eine Tatsache. Zudem dürften diese Geschöpfe wohl nur äußerlich den Menschen ähneln, es gibt eine Art säugende Fische dort, die sind wesentlich intelligenter als diese Menschen.« »Die intelligente Bevölkerung«, warf Burton ein, »von der du sagtest, sie sei der menschlichen völlig unähnlich, besteht dann wohl aus Kaltblütern, nachdem sie stets von ›warmen Tieren‹ sprechen. Es sind aber keine Tiere?« »Sie halten sich gewiß nicht für Tiere, sie sind Ebenbilder der
Gottheit und nennen sich Amada. Die vielen A drücken aus, daß sie der Gipfel der Schöpfung sind. Doch seid mir nicht böse, wenn ich euch heute nichts mehr erzähle, ich bin schrecklich müde, offenbar hat mich das alles doch mehr angestrengt, als ich anfangs dachte.« »Natürlich«, rief Tamara, »wir sind doch selbstsüchtige Leute, daß wir nur an uns und die Befriedigung unserer Neugier denken! Klar, daß du dich erst einmal ordentlich ausschlafen mußt! Nun, da wir wissen, daß keine Gefahr mehr für dich besteht, werden wir alle wunderbar schlafen. Du hoffentlich auch!« »Gewiß. Leb wohl, Tamara, ich wünsche dir eine gute Nacht!« Ich küßte sie, drückte sie an mich. »Gute Nacht, Burton, schlaf gut!« Seit langem war ich zum erstenmal wieder allein in meinem Zimmer, zum erstenmal jenseits aller Ängste und Gefahren. Ich trat ans Fenster, blickte auf den Garten hinaus, der im blassen Mondlicht wie verzaubert schien. Frau Myers’ Katze stand an der Einfassung des Rosenbeetes und starrte reglos auf den Boden, irgendwo in den alten Bäumen schrie ein Kauz. Ich ging zum Schreibtisch, ließ mich erschöpft auf den Sessel fallen. Was bedrückte mich nur? Ich war doch Sieger geblieben in diesem ungleichen Kampf, und der Sieg war mir nicht einmal schwer gefallen. Doch das Leben nach dem Sieg? Diese leere, leere Zukunft? Ich nahm ein Blatt Papier zur Hand und begann zu schreiben. Ich schrieb rasch, ohne nachzudenken. Lieber Burton, ich kann Dir nur noch danken für alles, für Deine Freundschaft, Deine Hilfe. Ohne Dich wäre mir der Sieg nicht so leicht geworden, die Gewöhnung an das Gift hat mich zuletzt immun gemacht. Ich danke Dir l Tröste Tamara, sie ist eine wunderbare Frau, und ich hoffe sehr, Ihr beide werdet einmal ein Paar. Ich werde sie lieben, solange ich lebe – aber mehr kann es nicht sein. Wenn Du die Wahrheit ahnst, verzeih mir! Ich habe es bis zuletzt nicht gewußt, nie hätte ich Euch, meine Freunde, willentlich getäuscht. Ich ahne noch nicht, was ich tun werde, meine
Zukunft ist noch leer – doch fürchte nichts; ich weiß, ich werde leben und diese Welt lieben und bewundern bis zum letzten Atemzug. Vielleicht gehe ich zu meinem alten Freund in die Berge – eben fiel er mir ein. Dort in der herrlichen Einsamkeit zu leben, das müßte schön sein. Zumindest für einige Jahre. Bitte sucht mich nicht, ich möchte nicht noch einmal fliehen müssen. Den Myers könnt Ihr sagen, ich sei abgereist oder plötzlich erkrankt oder was Euch sonst einfällt. Die Miete für das Haus ist für ein Jahr bezahlt, der Vertrag liegt auf meinem Schreibtisch. Nochmals Dank für Deine Freundschaft! Ich wünsche Dir alles Gute, ein langes, glückliches Leben in Frieden und Freiheit. Dein Freund. Ich konnte keinen Namen darunterschreiben, zu viele Namen hatte ich in diesem kurzen Leben besessen – und was bedeutete schon ein Name? Einer ist so gut wie der andere, hatte Steve gesagt. Ich griff nach einem neuen Blatt. Liebe Tamara, Du meine Einzige! Verzeih mir, daß ich mich so von Dir verabschiede, aber es ist für mich die einzige Möglichkeit, ich bin einfach zu schwach, zu sehr Mensch. Denke stets im guten an mich zurück, zürne mir nicht! Ich kann, nach alldem, was ich erlebt und erfahren habe, nicht bei Dir bleiben, nicht Dein Mann werden. Heute sind wir beide noch sehr unglücklich darüber, doch das Leben geht weiter und einmal kommt der Tag, da Du ein neues Glück gefunden haben wirst und ich nicht mehr als eine Erinnerung bin. Ich werde noch heute nacht aufbrechen, wahrscheinlich ziehe ich auf einige Zeit zu jenem alten Mann in die Berge, von dem ich Euch erzählt habe. Wenn alles gutgeht, bin ich in einer Woche bei ihm. Bitte folgt mir nicht! Und glaube mir, es ist am besten so. Hab Dank für alles, für jeden Augenblick des Glücks, den Du mir geschenkt hast! Lebe wohl, Tamara, ich habe Dich sehr geliebt!
Dein Freund. Ich faltete die Briefe, schob sie in Umschläge, verklebte diese und schrieb die Namen darauf. In der sentimentalen Stimmung, in der ich mich befand, hätte ich gerne noch einen dritten Brief geschrieben. Einen Brief an die Menschheit. Bewahrt euch diesen herrlichen Planeten mit seiner unendlichen Vielfalt des Lebens, verderbt ihn nicht! Nie sollte er werden wie meine Heimatwelt, in dem die Natur nur noch in Parks und Zoos ein kärgliches Dasein fristete; wo eine intelligente und fähige Rasse, gemeinsam mit dem von ihnen erschaffenen Gott, es fertiggebracht hatte, die Einbahnstraße einer synthetischen Welt zu beschreiten. Natürlich schrieb ich diesen Brief nicht. Wer hätte ihn schon gelesen? Wer würde mir glauben? So begann ich zu packen. Ich holte den Rucksack hervor, den alten Gefährten meiner Flucht. Wie weit lag das alles zurück, wie fern war dieser Teil meines Lebens! ‘Doch jedes Stück, das ich aus den Tiefen des Kastens ans Licht zog, weckte Erinnerungen und ließ die Gegenwart verblassen. Mein kleines Zelt, der Schlafsack, das Kochgeschirr, die karierte Decke… Noch vor Mitternacht war ich fertig, schulterte den Rucksack, hängte mir die Tasche über. Leise schlich ich die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Von Mondlicht übergossen lag die Auffahrt vor mir, im Rasen leuchteten schon ein paar Blumen. Die Laubbäume waren noch kahl, die Zweige schwarz. Der Hochwald im Westen ragte in den bleichen Nachthimmel wie eine Mauer. Die Katze schmiegte sich an meine Beine, leise schnurrend, mit steil hochgerecktem Schwanz. Ich kraulte sie. »Du Dumme«, flüsterte ich, »du Dumme, nicht einmal du hast mich erkannt!« Dann ging ich durchs Tor hinaus auf die mondhelle Straße und wandte mich nach Westen, den fernen Bergen zu.
Epilog »Verehrte Ratsmitglieder und Abgesandte! Zum drittenmal ist die Sonne gesunken, und es ist an der Zeit, daß ich die Ergebnisse unserer Konferenz zusammenfasse. Sie alle, verehrte Anwesende, waren mit mir einer Meinung: Unser letzter Versuch, einen Empfänger für die Transmutationsanlage auf dem dritten Planeten der Sonne GLI 726 zu installieren, ist als gescheitert anzusehen. Die Tragik liegt darin, daß es der vierzehnte Versuch auf diesem Planeten war; wollen wir weiterhin dem Gesetz der Vierzehn gehorchen, so müssen wir mit einem anderen Planeten neu beginnen. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, daß ich selbst dafür bin, das Gesetz zu brechen, und ich werde meine Gründe noch vor einer allgemeinen Abstimmung durch die Massenmedien verbreiten lassen. Keine Frage, daß unsere Völker mir zustimmen werden. Wie Sie alle wissen, suchen wir nun schon seit fast zweihundert Sonnenzyklen nach einem passenden Planeten, den wir besiedeln können, und der uns und unserer zahlreichen Nachkommenschaft Nahrung für lange Zeit bieten könnte. Wir haben es in einem Umkreis von fast sechzig Lichtstrecken um unseren Heimatplaneten versucht, auf Planeten, die alle nur gut oder mittelgut geeignet waren, und wir haben ein Scheitern der Versuche nicht tragisch genommen. Wir haben uns gesagt, wir müssen proben, Erfahrungen sammeln und die Bioroboter optimieren. Erst als wir sagen konnten, daß unser Bioroboter – dessen Entwicklung übrigens seit Hunderten von Zyklen unser Volksvermögen verschlingt – perfekt ist, wagten wir uns an GLI 3 heran, wie wir diesen optimal geeigneten Planeten der Kürze halber nennen. Seit wir wissen, daß GLI 3 von haarlosen Warmblütern bewohnt und beherrscht wird, die hier bei uns so gut wie ausgestorben sind, haben wir ihre Körper, ihre Chromosomen, ihre Gene studiert. Wir haben nur die vorteilhaftesten Gene kombiniert und so lange modifiziert, bis wir wirklich optimale Gewils züchten konnten, die hohe Intelligenz, gute Körperbeherrschung und großen Selbsterhaltungstrieb aufwiesen. Dank der Arbeiten von Gro we na gelang es uns, ihre Körperstruktur zu verbessern, ich möchte in
diesem Zusammenhang nur das elastische Bindehautband erwähnen, das ihren empfindlichen Nacken und das Rückgrat schützt. Selbstverständlich haben alle Gewils, die wir nach GLI 3 schickten, den Befehl erhalten, jedweden Körperexperten aus dem Wege zu gehen, die man dort benützt, um die natürliche Auslese zu behindern. Der größte Erfolg gelang uns aber mit der Entwicklung der biologischen Selbstoptimierung mit kontinuierlicher Rückkopplung; wie Sie alle wissen, bedeutet das folgendes: Je länger sich ein Bioroboter unter den Gewils aufhält, desto besser paßt er sich ihnen an, desto ähnlicher wird er ihnen. Nach etwa zwei Sonnenzyklen auf GLI 3 ist er perfekt angepaßt, ein solcher Roboter kann nicht mehr versagen. Die Möglichkeit einer zufälligen Vernichtung muß natürlich in Rechnung gestellt werden – aber die Wahrscheinlichkeit, daß vierzehn Bioroboter durch zufällige Ereignisse zerstört worden sind, ist gleich Null. Eine Selbstvernichtung des Roboters ist ebenfalls ausgeschlossen. Die Frage nach dem Schicksal unserer Roboter auf GLI 3 bleibt demnach unbeantwortet. Zumindest einige von ihnen müssen auf dem Gewil-Planeten existieren; das Programm für die Errichtung des Transmutationsempfängers ist ihnen eingespeichert und kann nicht gelöscht werden. Sobald günstige Bedingungen herrschen, wird es durch unseren Satellitensender gestartet – und die Suche nach günstigen Bedingungen ist den Robotern einprogrammiert. Wir stehen vor einem Rätsel. Wir haben sogar die Theorie des zweifellos geisteskranken GLIForschers Gern sik da geprüft, der die Ursache des Versagens in der perfekten Anpassung an die herrschende Lebensform sieht – eine absurde Annahme, denn, wie zahlreiche Tests gezeigt haben, führt eine weniger gute Anpassung zur Entdeckung des Roboters durch die Eingeborenen. Ich erwähne das nur, um zu zeigen, daß wir nichts unversucht gelassen haben. Seit die Empfangskontrolle einwandfrei arbeitet, wissen wir, daß R 12, R 13 und R 14 unsere Botschaft vernommen haben – warum haben sie nicht reagiert? Selbst wenn wir annehmen, daß R 14, unser bestes Modell, einem Zufallsereignis zum Opfer fiel, was geschah mit seinen Vorgängern? Nachrichten haben wir von R 4, 5 und 8
erhalten, doch diese stammten alle aus Entwicklungsperioden der Roboter, in denen die Anpassung noch nicht perfekt war, sie also noch relativ wenig Kontakt mit den Eingeborenen hatten. Was geschah dann mit ihnen? Wir wissen es nicht. Die nichtbiologischen Beobachtungssatelliten, die wir eingesetzt haben, können darüber keine Auskunft geben, da sie ja die Roboter nicht erkennen – und auch nicht erkennen dürfen, sonst wäre ja wieder die Gefahr einer Entdeckung durch die Eingeborenen gegeben. Die Situation hier, auf unserem Heimatplaneten, ist Ihnen allen bekannt. Katastrophale Übervölkerung; trotz synthetischer Nahrung leiden wir alle ständig Hunger, leiden unter Krankheiten, die auf Mangel an frischer Kost zurückgehen. Die Geburtenregelung hat versagt, das heißt, sie hat zu dem Ergebnis geführt, daß die intelligenten und tüchtigen Rassen vom Aussterben bedroht sind, während sich die unintelligenten, die in Lethargie, Aberglauben und Schmutz dahinvegetieren, ungehemmt vermehren. Ein Ergebnis, das übrigens auf vielen Planeten zu beobachten ist. Was die Situation auf unserem Zielplaneten GLI 3 angeht, wissen wir ebenfalls Bescheid. Er ist ideal geeignet die Gebiete der Polkappen ausgenommen; wunderbares Klima, reichlich Wasser, eine zahlreiche, sich stets vermehrende Urbevölkerung, Warmblüter mit unbehaarter Haut, die sich wiederum von solchen mit behaarter Haut ernähren; doch sie können auch pflanzliche Kost verdauen und züchten diese. Mit einem Wort, es handelt sich um eine intelligente, technisch begabte Abart unserer Gewils. Das alles ist perfekt für unsere Bedürfnisse. Einzig die chemischen Kenntnisse der Gewils sind zu fürchten, doch haben wir in den letzten Sonnenzyklen derartige Fortschritte in der Bioprogrammierung gemacht, daß auch auf diesem Gebiet so gut wie keine Gefahr mehr besteht. Zusammenfassend kann ich nur sagen: Dieser Planet ist ideal und wir müssen ihn haben! Wir müssen das Gesetz der Vierzehn brechen, R 15 steht bereit, und ich hoffe, die allgemeine Volksabstimmung wird mich autorisieren… Ja, verehrte Gern dun ma, Sie wollten etwas sagen? Bitte, kommen Sie nach vorne, damit Sie von allen gehört werden; aber lassen Sie vielleicht doch Ihre Eierkugel auf dem Sitz zurück, es ist so eng hier…«
»Danke… ja, eng ist gar kein Ausdruck… so… ja… also: Verehrte Ratsmitglieder und Abgesandte, ich, Gern dun ma, gewählte Präsidentin der Weiblichkeit aller Völker, ich werde keine lange Rede halten, es ist ohnedies viel zu viel geredet worden. Ich will Ihnen nur etwas mitteilen: Wir, alle Frauen auf diesem Planeten, haben feierlich bei Gasir geschworen: In jedem Sonnenzyklus eine Eierkugel mit vier mal vierzehn Eiern. Ihr Männer laßt euch gefälligst etwas Besseres einfallen als Geburtenbeschränkung und nichtfunktionierende Roboter! Es ist eure Sache, einen Ausweg zu finden, denn ihr habt diese Welt zu dem gemacht, was sie heute ist. Es ist eure Welt! Wir aber werden euch durch ungehemmte Vermehrung zwingen, rascher einen Ausweg zu finden. Befruchtungsverweigerung? Daß ich nicht lache! Ihr solltet euch doch besser kennen.»Wir wollen diesen neuen Planeten GLI 3 haben. Wir müssen ihn haben! Bei dem Gedanken an diese haarlosen Warmblüter läuft uns allen doch das Wasser im Munde zusammen, nicht wahr? Worauf also warten Sie noch, meine Herren? An die Arbeit!«