Alexei Panshin
Die Blurb-Revolution Science Fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Act...
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Alexei Panshin
Die Blurb-Revolution Science Fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action Band 21 162 © Copyright 1963 by Alexei Panshin All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1983 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: The Thurb Revolution Ins Deutsche übertragen von: C. T. Bauer Titel Illustration: Vincent di Fate/Agentur Utoprop Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-21162-6
Was halten Sie von Humor in der Science Fiction? Viel? Dann lesen Sie dieses Buch und bereiten Sie sich vor auf die zweite Begegnung mit unserem charmanten Helden Anthony Villiers. Bereiten Sie sich auch darauf vor, • daß Villiers, der galaktische Dandy (so heißt übrigens auch der erste Band seiner Abenteuer, Bastei-Lübbe 21158), wegen Pornographie, Heldenverehrung und Mord gesucht, auf Shiawassee, einen malerischen Urlaubsplaneten, landet; • daß Sie Admiral Beagle kennenlernen, den unnachgiebigen, allmächtigen Zensor dieses Planeten, der jeden Lesestoff bis auf die unschuldigen Erzählungen der seligen Mrs. Waldo Wintergood verbietet, • daß Torve, der Trog, Villiers Freund und Kammerdiener, auf einem roten Dreirad durch die Gegend fährt, gefolgt von der wachsenden Gruppe derer, die verzückt seinen Blurb-Äußerungen lauschen, daß Sie miterleben, wie Torve sich hin und wieder mit sprechenden rosa Wölkchen unterhält, die sich fälschlicherweise (?) für göttlich halten.
Zu Beginn des Jahres 1462 C. E. Auf dem Planeten Shiawassee im Tanner-Trust.
I
Die Nacht ist unmoralisch, regellos. Was man am Tag nicht tut, wird möglich in der Nacht: Mord und Sex und Denken. Einfache Menschen werden von den Anforderungen des morgigen Tages und von der Angst vor der Dunkelheit früh ins Bett getrieben und träumen nie von der unmoralischen Welt draußen. Und allderweil mag es geschehen, daß ein Vicomte und ein Raumhafengepäckjunge sich die Zeit mit Bokkugelschieben im Stadtpark vertreiben. Und das ist mehr als nur ungewöhnlich – das ist subversiv, unmoralisch. Der Vicomte war Anthony Villiers, kein gewöhnlicher Vicomte. Meistens reiste er unter seinem Familiennamen und sparte sich seinen Titel für Augenblicke auf, in denen er ihm einen Vorteil brachte. Er war jung, schlank und braunhaarig. Im Nebenberuf war er Reisender. Im Hauptberuf war er ein guter Gesellschafter, und als Gesellschafter war er gut genug, um davon mehr Monate angenehm leben zu können als nicht. Die Umstände hatten Villiers gezwungen, eine Nacht im Park zu verbringen. Um offen zu sein: Er wurde gejagt. Er war anpassungsfähig genug, um sich gemütlich in die Arme einer vollautomatischen Kontur-Parkbank sinken zu lassen, ein Buch aufzuschlagen und in geselligem Schweigen zu lesen. Das Buch war von Morgenstern. Der Geselle war ein glubschäugiger Alien, der Torve der Trog genannt wurde. »Blurb«, sagte Torve der Trog, wie es seine Art war.
Torve war eine weißbäuchige, braunbepelzte Kröte und 1,83 Meter groß. Seine Augen waren von einem einzigartigen Blau. Er und Villiers reisten zusammen. Wenn Sie nach dem Warum gefragt hätten, hätte Villiers vielleicht geantwortet, daß Freundschaft der Schlüssel sei. In der Tat lag hier ein Fall von Freundschaft vor, aber sie war erst nach der vollendeten Tatsache gekommen. In Wahrheit wußte Villiers gar nicht, warum sie zusammen reisten. Wenn Sie Torve gefragt hätten, hätte er vielleicht etwas über Ereignislinien gesagt, ein philosophisches Konzept der Trogs, das man am besten mit »Zufall« übersetzt. Ich weiß auch nicht, warum sie zusammen reisten, aber beide schienen mit diesem Arrangement vollauf zufrieden zu sein. Warme Finger aus Nacht tasteten zwischen den dunklen, stillen Häusern herum und sondierten die Maserung der mitternächtlichen Straßen. Lichter, die Schatten der Nacht, fielen auf Straße und Park und warfen wirkliche Schatten als Echos. »Blurb«, sagte Torve der Trog nachdenklich. Seine Kompositionen – ja, hier wurde gerade komponiert! – nahmen ihre Gestalt in seinem Geist an. Was über seine Lippen gelangte, waren gelegentliche Bruchstücke, die auf Substanz und Form geprüft wurden. »Hey, Mister. Was ist das?« Der Sprecher war ein junger Rotschopf in den Niederungen zwischen Jungen- und Ernsthaftigkeit. Seine Kleidung war billig und salopp. Seine Manieren waren gewöhnlich. Seine Frage – Kopfnicken, Hand winken – bezog sich auf Torve. »Ich bin Torve. Ich bin ein Trog.« Der junge Bursche war verblüfft. »Sie sprechen!« »Natürlich«, sagte Torve mit freundlicher Nachsicht. »Ich will Sie ja nicht beleidigen, ganz bestimmt nicht, aber so jemanden wie Sie habe ich noch nie gesehen.«
»Blurb«, sagte Torve. Sein Interesse ließ merklich nach. »Das war es. Das war das Geräusch, das ich gehört habe.« »Es ist Kunst«, sagte Villiers. Für ihn war das eine Glaubensangelegenheit. Er hatte nur Torves Wort dafür. »Oh, ist das alles?« Ein angemessener Kommentar, um damit eine Unterhaltung zu beenden, sollte man meinen. Der Junge ging jedoch nicht weg. Er kauerte sich vielmehr nieder und blickte Villiers und Torve an, die wieder ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Der Junge sagte: »Wie wär’s mit ein paar Talern? Sie sehen aus, als könnten Sie’s entbehren.« »Warum brauchen Sie welche?« fragte Villiers. »Hey, hör’n Sie mal – keine Fragen. Entweder Sie geben mir das Geld, oder Sie geben’s mir nicht. Ich bin Ihnen keinerlei Erklärungen schuldig.« Villiers schloß sein Buch – kein Lesezeichen, er konnte die Stelle jederzeit wiederfinden. »Wie heißen Sie?« Der Junge erhob sich bei diesem Anzeichen tiefergehenden Interesses. Er drehte sich halb um und verkündete dann: »Gilfillian. Sergei Gilfillian.« »Nun, Mr. Gilfillian…« »Hey, nennen Sie mich nicht so!« »Entschuldigen Sie vielmals. Das ist bloß meine gewöhnliche Sprechweise. Hätten Sie es lieber, wenn ich Sie Sergei nennen würde?« »Yeah.« »Ich würde Ihnen kein Geld für nichts geben, Sergei. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich im Moment so neugierig bin.« »Yeah, aber warum sollte ich mich davon abhängig machen, ob Ihnen meine Geschichte gefällt, nur um das Geld zu kriegen?«
»Weil die Welt nun einmal so ist. Jeder ist auf der Suche nach ein bißchen Amüsement.« Es gab ein weiteres Schweigen von beträchtlicher Länge, aber Villiers wandte sich nicht wieder seinem Buch zu. Sergei trat von einem Fuß auf den anderen. Torve schleuderte seine Pfoten in die Luft als Begleitung zu den Wallungen im Amphitheater seines Geistes. Er langweilte sich nie an verregneten Sonntagen. Endlich sagte Sergei: »Wie wär’s mit ein bißchen Bok? Sind Sie Kugelspieler?« »Zum Spaß oder um Geld?« »Einen Zehner pro Ball. Wenn Sie kein Kleingeld locker haben, sagen Sie’s ruhig.« Der Junge rechnete offensichtlich nicht damit, zu verlieren. Villiers betrachtete ihn eine Minute lang unverwandt, dann legte er sein Buch beiseite und stand auf. »Also dann zehn Minims pro Ball«, sagte er. Für Amüsement sollte man bezahlen, und er hatte vor, sich gut zu amüsieren. Rings um den Park erhoben sich Kuppeln, Spitztürmchen, Rundtürme und Erkertürmchen, die Kennzeichen moderner Architektur im Tanner-Trust. Der Stil hatte den Trust erst verspätet erreicht, aber nachdem er erst einmal da war, hatte er sich auch festgesetzt. Als sie zur Bowlingbahn hinübergingen, spaltete ein Raumschiff die Nacht im Osten und ließ die diversen Türme und Türmchen einen Augenblick im Gegenlicht hervortreten. Ein schmissiges Grollen folgte ihm nach unten. »Das ist das Intrasystemschiff von Pewamo. Morgen früh tritt es wieder die Rückreise an. Rot oder grün?« »Grün«, sagte Villiers. Er hob eine grüne Kugel auf. Nachlässig rollte Sergei einen kleinen Malstein aus Metall die Sandbahn hinunter. Mit erheblich größerer Sorgfalt legte er dann einen langsamen roten Roller auf den Boden, der um den
Malstein herumkurvte und weniger als einen Fuß dahinter zu liegen kam. Villiers war ein exzellenter »schneller« Spieler, als »langsamer« nicht ganz so exzellent. Hier war jedoch »langsames« Spiel gefordert, weil der Malstein rasches Maßnehmen unmöglich machte. Es kostete ihn drei Kugeln, um Sergeis Wurf gelinde zu übertreffen. Bok ist das beste aller Kugel-Spiele. Der Boden verändert sich von einer Spielrunde zur nächsten, da der Malstein immer dort liegenbleibt, wo es ihm gerade gefällt. Kraft hat ihren gebührenden Platz, aber auch Finesse. Es liegt Befriedigung in einer solide geschobenen Kugel, die den Gegner aus dem Spiel wirft, und weitere Befriedigung darin, eine »langsame« Kugel durch eine abschirmende Gruppe ins Ziel gleiten zu lassen. Sergei hatte die am dichtesten plazierte Kugel in der ersten Runde, was Villiers zehn Minims in die Miesen brachte. Sergei rollte den Malstein die Bahn entlang zurück. Er hatte das Recht, als erster zu werfen. Bevor er seine erste rote Kugel schleuderte, hielt er inne. »Sehen Sie den Planeten gerade über dem Dach da? Das ist Pewamo.« »Ich sehe ihn«, sagte Villiers. »Wenn Sie genau hinschauen, können Sie seinen Mond erkennen. Zur linken Seite hin.« »Ich glaube, ich kann ihn erkennen. Ja, ich sehe ihn. Wie kommt es, daß Sie das alles wissen?« Villiers legte seinen Mantel und seinen Schulterüberwurf ab. Es war zu heiß, um sie anzubehalten und zu spielen. »Ich arbeite am Raumhafen«, sagte Sergei. »Ich bin im Gepäckgeschäft.« Falls das eine Erklärung ist. Er warf, und Villiers übertraf den Wurf mühelos mit seiner ersten Kugel. Villiers sagte: »Ah, ja. Ich werde mich in ein paar Stunden zum Raumhafen begeben. Wir müssen ein Schiff erreichen.« »Nach Mandracore oder Duden?«
»Nach Mandracore«, sagte Villiers. »Mir gefällt der Klang dieses Namens«, fügte er hinzu. »Mandracore. Aber das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum ich dort hinfliege.« »Wie kommt’s, daß Sie in einer solchen Nacht draußen im Park sind?« fragte Sergei. »Ein Durcheinander bei der Kabinenreservierung«, sagte Villiers. Unwahr. In Wirklichkeit war er Hausgast von Lord Broccoli gewesen, und sein Gastgeber wußte noch nichts von der etwas überstürzten Abreise seines Gastes. »Ein paar Stunden im Park schienen ungefährlich.« »Ich hatte auch Schwierigkeiten mit meiner Kabine«, sagte Sergei und warf. Er gewann auch dieses Spiel. Als sie auf die andere Seite überwechselten, konnten sie sehen, daß Torve mehrere Bewunderer angezogen hatte. Zwei Jungs im selben Alter wie Sergei, aber teurer gekleidet, sahen und hörten Torve mit jener Art hingebungsvoller Bewunderung zu, die für gewöhnlich von dreijährigen Kindern für die Welt im allgemeinen reserviert wird. »Ach, die«, sagte Sergei. Als sie die Seiten gewechselt und noch einmal gewechselt hatten, war einer der beiden verschwunden, dafür aber waren zwei andere gekommen. Wenn man genau hinhörte, konnte man ein gelegentliches »Blurb« vernehmen. »Ach, die«, sagte Sergei. »Sie sind ein exzellenter Bowls-Spieler, Sergei.« »Yeah«, sagte Sergei. »Ich halte mich in Übung, wenn Sie wissen, was ich meine.« Auf den ersten Blick war Villiers nicht gerade beeindruckend. Er war jung, sanft, von guten Manieren, gut gekleidet und eigentlich recht mittelmäßig. Auf den zweiten Blick verfügte er über beträchtlichen Charme. Auf den dritten Blick war er offensichtlich die Art von Mensch, um die herum
immer etwas passiert, und warum hatte man das eigentlich nicht schon längst zuvor bemerkt? Und wir wollen hier nicht einmal seine verborgenen Qualitäten erwähnen. Villiers war neugierig, zu erfahren, was eigentlich hinter Sergei steckte, aber das war er bei vielen Dingen. Absonderliche Neugier war einer seiner Hauptcharakterfehler. Er war neugierig, herauszufinden, ob Sergei sensibel oder bloß empfindlich war. Bis zu dem Zeitpunkt, da Villiers’ Charme Sergei weit genug geöffnet hatte, um seine Geschichte aus ihm herauszuholen, glaubte Villiers an »sensibel«, wenngleich er sich nicht vollständig sicher war. Diese Einschätzungen hängen ebenso sehr von persönlicher Ausstrahlung und Bewegungen ab wie von Worten. Was Sergei sagte, war dies: »Meine Mutter hat mich ausgesperrt. Sie hat ‘n Pick auf mich.« Na, klingt das etwa sensibel? »Ich hab’ ihr erzählt, daß ich nicht mehr mit den Typen von der X-Straße zusammen wär’. Sie haben mich ‘rausgeschmissen, weil ich immer über alles diskutieren wollte. Die Polizei sucht also nicht nach mir. Aber das reicht meiner Mutter nicht. Ich hatte mal mit denen zu tun, also bin ich jetzt für die alte Dame gestorben.« Das Geld sollte dazu dienen, zur Arbeit zu kommen, und nicht vor Hunger aus den Pantinen zu kippen. Sergei arbeitete in der Morgenschicht. Villiers richtete es ein, vier Taler dreißig zu verlieren, den Löwenanteil davon gegen Ende der Nacht. »Ich spiele nicht oft genug«, sagte er, sozusagen als formelle Entschuldigung. »Und wenn ich’s tue, wird mir der Arm so rasch müde. Morgen bin ich bestimmt ganz steif.« Er hob seinen Mantel auf. Als er ihn anlegte, sah Sergei seinen Grene McKenna-Gerinner in seinem Mantelhalfter.
»Sie tragen einen Gerinner?« fragte Sergei. »Das ist de rigueur in meinen Kreisen«, erläuterte Villiers entschuldigend. »Oh.« Als sie von der Bokbahn zurückkehrten, hatte Torve immer noch drei Zuschauer. »Ach, die.« »Wer ist das?« fragte Villiers. »Das sind Yagoots«, sagte Sergei voll Abscheu. »Oh. Geld und nichts zu tun.« Villiers nickte. Dieser Typus ist im ganzen Nashuite-Imperium bekannt. Sie schlagen Rad und lassen Drachen steigen und sind im günstigsten Falle harmlose Tunichtgute, im schlimmsten jedoch ein öffentliches Ärgernis. Die Gilfillians der Welt haben natürlich keine Verwendung für sie. »Kommen Sie noch mit?« erkundigte sich Villiers. »Oh, nein, das könnte ich nicht.« »Schauen Sie mal, Sergei, Sie können doch mit ihnen sprechen. Wenn Sie mit mir sprechen können, können Sie auch mit denen sprechen.« »Aber Sie sind anders, Mr. Villiers. Sie sind nicht so wie die. Außerdem muß ich los zur Arbeit.« Villiers deutete einfach auf Torve und winkte Sergei dann vorwärts. Die Wirkung seiner Persönlichkeit war derartig stark – oder vielleicht war es die Wirkung der noch nicht bezahlten vier Taler dreißig –, daß Sergei tatsächlich in die angezeigte Richtung marschierte. Aus nächster Nähe erwiesen sich nur zwei der jungen Männer bei Torve als Yagoots. Der dritte war mit ärmlichen Flair gekleidet. Ein Student, ganz zweifellos. Er saß in einer ihn deutlich von den anderen absondernden Entfernung von den Yagoots und betrachtete Torve durchdringend.
Villiers sagte zu Torve: »Es ist Zeit, daß wir gehen. Mr. Gilfillian wird mit uns im Flitzer zum Raumhafen fliegen.« Diesesmal erhob Sergei keine Einwände dagegen, Mr. Gilfillian genannt zu werden. Er schien sogar ein bißchen zu wachsen. Und er lächelte. Torve stellte sich auf seine großen Plattfüße. »Der Abend war zuhöchst erfreulich. Tony, sie verstehen Frobb vielmals besser als du.« Frobb ist als lautliche Wiedergabe nicht viel genauer als blurb. Der wahre Klang von Frobb ist ein Pulsierton, der ans Herz rührt. Daß sich bei Villiers jetzt rein gar nichts rührte, daß sich während ihrer ganzen gegenseitigen Bekanntschaft nichts gerührt hatte und daß sich wahrscheinlich auch in alle Zukunft nichts rühren würde, bei Überfluß oder Hungersnot, Hoch- oder Niedrigwasser, konnte nur bedeuten, daß er völlig Frobb-taub war. Einer der Yagoots stand auf. Seine Kleidung war eine Übertreibung der, die Villiers trug. Sie etikettierten einander sofort als »jung« und »alt.« »Reisen Sie jetzt ab, Sir?« erkundigte sich der Yagoots. »Torve war sich nicht sicher, wenn Sie abreisen und wohin Sie gehen würden.« »Ist im wesentlichen unwichtig«, sagte Torve. »Wir fliegen nach Mandracore«, sagte Villiers. »Oh, das ist wirklich schade«, sagte der Student. Der zweite Yagoot sagte: »Dann kann ich mich ja auch verabschieden. Torve. Ralph. Entschuldigt mich.« Und er ging seines Wegs, mit flottem Schritt unter dem Perlmutthimmel. Noch bevor er außer Sicht war, begann er jedoch zu hüpfen. Der Student klappte seine Kladde zu. »Ich bin John Kettleborough. Ich studiere Erneuerungstheorie, aber eigentlich bin ich Poet.« Sergei regte sich unbehaglich.
»Anthony Villiers«, sagte Villiers. »Und Sergei Gilfillian.« Der Yagoot sagte: »Ralph Weinsieder. Ich singe. Ich habe das absolute Gehör.« Er sang einen mehr als nur annehmbaren Refrain von »Dämmerungsreise«, um zu zeigen, daß er dazu in der Lage war. John meinte: »Ich wollte gerade sagen, daß dies die anregendste Nacht meines Lebens gewesen ist. Wie ich sehe, gilt das auch für dich.« In seiner Stimme war Zimt. Ah, aber Sie wissen schon – Studenten und Yagoots…! Ralph nickte. »So ist es. Hierher kommt sonst nie jemand wie Torve. Ich wünschte, Sie blieben länger. Sagen Sie, wäre es vielleicht möglich, sich an den Unkosten für den Flitzer zu beteiligen und zusammen mit Ihnen hinaus zum Raumhafen zu fliegen?« »Ich auch«, sagte John streitlustig. »Natürlich auch du, John. Ich habe auch dich gemeint.« Villiers erwog den Vorschlag und sagte dann: »Aber gewiß. Kommen Sie mit, meine Herren.« Er schaute sich um. »Ich hatte ein Buch. Warten Sie… es muß dort gelegen haben, glaube ich.« Aber ganz offensichtlich war es nicht dort, wo Villiers es liegengelassen hatte. Der Haken bei Büchern als Schoßtierchen ist, daß man ihnen nie vollständig vertrauen kann. Nach einer Weile sagte Ralph mit gedämpfter Stimme: »Fillmore hat es genommen.« »Ihr Freund hat mein Buch gestohlen? Morgenstern? Farbwahl bei der galaktischen Pantographie?« »Ja«, sagte Ralph. »Wir haben Hölzchen darum gezogen. Er gewann.« »Sie auch, John?« John nickte.
»Aber warum Morgenstern? Ich werde nie wieder ein anderes Exemplar davon im Umkreis finden.« »Genau das ist es«, sagte John. »Admiral Beagle würde nie erlauben, daß ein derartig umstürzlerisches Buch hier verkauft würde.« »Umstürzlerisch?« fragte Villiers verblüfft. Und: »Admiral Beagle?« »Zensur«, sagte John. »Er ist mein Onkel Walter«, sagte Ralph entschuldigend. »Er erlaubt nichts als Mrs. Waldo Wintergood-Geschichten.« »Er ist mit der Schwester meiner Mutter verheiratet.« »Hier ist absolut nichts los, und er ist der Grund dafür.« »Ganz genau«, sagte Ralph, und John schien halbwegs erfreut über die Zustimmung zu sein. Halbwegs.
Auf dem Raumhafen kaufte Villiers ein paar Kompromißkleider und mietete ein Zimmer. Der Kompromiß war einer zwischen Stil und Verfügbarkeit, mit Betonung auf der Verfügbarkeit. Während Villiers sich umzog, bummelte Torve in Gesellschaft von Ralph und John von dannen. Das ließ Villiers allein mit der schwierigen Aufgabe zurück, sich modegerecht mit seinen neuen Gewändern zu behängen und diese korrekt zu drapieren. Als Villiers mit seiner äußeren Erscheinung zufrieden war, meldete er ein Vid-Gespräch mit Lord Broccolis Residenz an. Der Anruf wurde von Broccolis loyalem Familienrobot Morris entgegengenommen. »Sir, wir waren schon unruhig«, sagte Morris. »Dazu besteht kein Grund, Morris«, beruhigte ihn Villiers. »Aber vielen Dank, daß Sie sich Sorgen um mich gemacht haben. Würden Sie bitte Lord Broccoli meine besten Empfehlungen übermitteln? Er wird sich sicher erinnern, daß
ich einen Onkel auf Duden erwähnte, der sich leider nicht der besten Gesundheit erfreute. Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß mein Onkel verstorben ist und es sich nicht vermeiden läßt, daß ich auf der Stelle abreise, um seine Angelegenheiten zu regeln.« Villiers sorgte dafür, daß sein umfangreiches Gepäck ihm zu Händen von Mr. Jackson Blinoff auf Duden nachgeschifft wurde. Dann meldete er ein zweites Gespräch an. »Ahem«, sagte er und richtete sich womöglich noch etwas gerader auf. Die Frau, die auf dem Bildschirm erschien, war dünn und müde, aber er bildete sich ein, daß vom Gesicht her eine Ähnlichkeit mit Sergei bestand. »Mrs. Gildillian«, sagte er, »ich bin Lord Charteris.« Seine Geschicklichkeit, Lord Charteris zu sein, wenn die Umstände es erforderten, war derart, daß sie ihm vorbehaltlos glaubte – wie Sie es auch getan hätten. Es gibt Schulen, die Ihnen beibringen können, ein Lord zu sein – falls Sie nicht von Natur aus einer sind –, wenn man Sie in einem hinreichend frühen Alter in ihre Obhut übergibt. Mit einem Wort: Ein Lord zu sein, heißt, mit solchem Stil arrogant und selbstsüchtig zu sein, daß die Leute sich noch freuen, Ihnen zu Diensten sein zu können. »Ja?« fragte Mrs. Gilfillian und preßte die Hand an die Kehle. Der Haken bei den meisten Lords ist, daß sie nichts anderes sein können. Villiers andererseits war viel öfter Villiers als Charteris. Obgleich er über eine gewisse natürliche Arroganz verfügte, fand er es schwierig, Charteris über längere Zeiträume hinweg aufrechtzuerhalten. Villiers erklärte: »Ich mache gerade auf dem Wege nach Mandracore auf Shiawassee Zwischenstation, und bei dieser Gelegenheit hatte ich das außerordentliche Glück, gestern Ihren Sohn Sergei kennenzulernen.«
»Oh«, sagte Mrs. Gilfillian und begann zu strahlen. »Oh.« Torve der Trog, Ralph und John an jeder Ferse, einen respektvollen Viertelschritt hinter sich, spazierte langsam die Terrasse entlang. Er war weder ein Peripatetiker noch ein Sedentarist, daß er taufrischer Jugend die Wankelmütigkeit der Welt gepredigt hätte. Er war jedoch ganz Charisma, dem zwei nichtreflektierende Oberflächen folgten. Die Terrasse erhob sich über dem Landefeld – einem aufgerauhten Grün, das von in Reih und Glied angetretenen Büschen, Bäumen und Tharve-Büscheln in Kästchen eingeteilt wurde. In jedem Kästchen war das metallische Flechtwerk eines Landenetzes. Drei der Netze hielten mit ihren klebrigen Fingern Beute umklammert: das gerade angekommene Schiff nach Duden, das Schiff nach Mandracore und das kleine Intrasystem-Schiff für Ausflugsfahrten nach Pewamo – ein Hüpfer, ein Hopser und ein Sprung über quer. Sowohl Ralph als auch John fühlten sich im Augenblick angenehm benebelt, ein Ergebnis der morgendlichen Hitze, des Schlafmangels und der anregenden Gegenwart Torves. John schuldete Ralph einen Taler zwanzig, sein Fünftel der Flitzerfahrt. Hier sind sie: John Kettleborough war groß, hager, sensibel und mißtrauisch. Er war ein vom Mangel an Publikum frustrierter Möchtegern-Poet. Möchtegern-Poeten lassen sich dadurch frustrieren. Leuchtende Augen, von dunklen Ringen umgeben. Taschentuch um den Hals geschlungen. Gerade begann er zu denken, daß Ralph gar nicht so übel sei, für einen Yagoot. Ralph Weinsieder war gar nicht so übel – für einen Yagoot. Mittelgroß, ein kleines bißchen dicklich, wohlbetucht, weder besonders helle noch besonders sensibel, aber ein freigebiger, liebenswerter Kumpel. Mehr ein Zuschauer als ein Schöpfer,
aber sehr begierig darauf, jemanden zu haben, dem er zuschauen konnte. Die Terrasse führte zu dem vielgiebeligen Hafenhaus. Es war ein exzellentes Beispiel einer Architektur, die aus Grauen vor sich selbst wie versteinert erschien – was ihr angesichts ihrer Bausubstanz sicherlich nicht schwergefallen war. »Blurb«, sagte Torve der Trog übergangslos. Dann, mit größerer Selbstsicherheit: »Blurb.« Es klang abgerundet, wunderschön und völlig anders. Schrott, Müll und Gerümpel des kompositorischen Prozesses lagen allesamt hinter ihm. Man sollte einen Künstler nie beobachten, während er seinem Stoff den letzten Schliff verleiht, genausowenig wie man einen Politiker nach irgend etwas von dem beurteilen soll, was er sagt, während er herauszufinden versucht, woher der Wind weht. Nichtsdestotrotz waren Torves Schüler in seinem am wenigsten beeindruckenden Augenblick zu ihm gekommen. Und irgendwie scheint das auch angemessen für die Inkarnation des Karmas. Jetzt wurden Ralph und John für ihr gläubiges Vertrauen mit dem wahren, verfeinerten und strahlenden Frobb belohnt, einer nichtmenschlichen Kunstform, die einen zuvor nie wahrgenommenen Sinn befriedigte. Der ansteigende Bogen verlieh Torves Vortrag zusätzlichen Widerhall. Nicht jedermann hatte jedoch den Esprit oder den Geschmack, Torves Baßlinie zu würdigen. Wir wissen schon, daß Villiers dazugehörte, und auch Sergei Gilfillian hatte mit nichts reagiert, was man auch nur annähernd als Begeisterung hätte bezeichnen können. Wenn sie sich aber auch nicht aufgerufen fühlten, zu applaudieren, so fühlten sie sich wenigstens auch nicht aufgerufen, Protest einzulegen. Jetzt jedoch erschien ein solcher Kritiker.
Torve war direkt vor dem Hafenhaus stehengeblieben. Ein vierschrötiger, vor Wut schäumender Mann in Uniform riß die Tür auf und brüllte: »Hey, Sie da, hören Sie auf damit! Ralph Weinsieder, was machst du da?« Ralph sagte: »Das ist mein Onkel! Lebwohl, Torve.« Worauf er davonhetzte. John riskierte einen verunsicherten Blick und entschied dann, ein ehrenwerter Rückzug sei durchaus in Ordnung. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, Lebewohl zu sagen, aber immerhin winkte er. Zwischen dem Hafenhaus und der Terrasse gab es eine Treppe, die hinunter zum Landefeld und zu den tiefergelegenen Ebenen des Gebäudes führte. Ralph und John nahmen immer gleich drei Stufen auf einmal, eine magische Zahl, wenn man schnell entkommen will. Alleingelassen, schenkte Torve all dem keine Beachtung. Er fuhr fort, Shiawassee mit erweiterten Parametern von Kunst zu beglücken – und das heißt: »Blurb.«
Sergei war so erfreut, zu erfahren, daß seine Haustür ihm in dieser Nacht wieder offenstehen würde, daß Villiers Schwierigkeiten hatte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich meine, danke, Mr. Villiers«, strahlte Sergei. »Sind Sie wirklich ein Vicomte?« Villiers sagte: »Was für einen Nutzen hat ein Titel, wenn man ihn nicht sinnvoll anwendet? Ich möchte Sie um einen kleinen Gefallen bitten. Ein guter Freund von mir ist gerade angekommen, und ich würde gerne mit ihm sprechen. Hier ist Geld für zwei Tickets nach Mandracore. Würden Sie die für mich besorgen?« »Oh, sicher.«
Villiers sah zu, wie Sergei sich dem richtigen Schalter näherte, und wandte sich dann um. Er durchquerte den Raum und sagte: »Mr. Guillaume.« Guillaume – ah, Mr. Guillaume. Seine Nerven waren nicht besonders gut. »Verdammich, Mr. Villiers«, ächzte er. »Machen Sie doch so was nicht.« »Was habe ich denn gemacht?« »Sie sind hier. Und Sie sollten nicht hier sein – das geht einfach zu weit. Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sie mich erschreckt haben!« Villiers sagte: »Manchmal scheinen sich die Leute in Provinznestern wie dem Tanner-Trust auch wirklich zu sammeln. Nächstesmal werde ich mich wohl in Richtung Zivilisation davonmachen, wenn ich mich verstecken will.« Guillaume blickte um sich. »Ganz schön scheußlich, das hier, oder?« Wenn es dieser Konversation an der eleganten Förmlichkeit mangelt, die man beim Verkehr zwischen Männern von Qualität erwartet, möchte ich Sie doch darauf hinweisen, daß die Umstände keineswegs so durchschnittlich waren. Und, wie meine Mutter sich immer im Stillen sicher war, wenn Sie die Hochwohlgeborenen in einem unbeobachteten Augenblick überraschen, sprechen sie gerade so wie alle anderen. Villiers sagte: »Wie geht’s denn so?« »Weiß nicht. Im einen Augenblick denke ich, Finch sei hinter mir, im nächsten ist er mir schon wieder voraus. Alles, was ich jetzt mache, ist, immer weiter zu laufen und zu hoffen, daß ich durchhalte. Ich vermute, Sie haben alles so gut unter Kontrolle wie immer.«
»Diesesmal nicht«, bedauerte Villiers. »Ich bin nur einen Schritt voraus. Ich mußte die letzte Nacht sogar in einem Park verbringen.« »Es gab mal eine Zeit, da hätte ich das schockierend gefunden.« »Ja – na ja, wir verändern uns alle. Ich würde mir nicht zu viel Sorgen machen, Sir. Irgend jemand hat vor zwei Jahren versucht, mich umzubringen – die Art von Irrtum, die man nicht voraussehen kann –, und ich habe es überlebt, ohne auch nur einen Arzt aufsuchen zu müssen. Bedenken Sie, wieviel besser Sie dran sind, da Sie doch wissen, was Sie zu erwarten haben.« »Jede Minute, die ich stillstehe, fühle ich mich nervös«, sagte Guillaume. »Ich muß weiter. Glück, Villiers.« »Viel Glück.« Die Lautsprecher verkündeten den Beginn der Einschiffung für die Pewamo-Intrasystem-Ausflugsfahrt. Mit seinen neuen Tickets für Mandracore in der Tasche trat Villiers an den Schalter. »Ich bin Lord Charteris«, sagte er zum Schalterbeamten. »Sie hatten zwei Tickets nach Duden für mich zurückgelegt.«
Admiral Walter Beagle, N. S. N. (a. D.) – ja, der Admiral Beagle; Sie haben schon von ihm gehört – schüttelte zufrieden seine Faust. Sein Neffe und der andere Wirrkopf in seiner Begleitung verschwanden eine Treppenflucht hinunter, aber der Admiral verfolgte sie nicht. Dafür hatte er nicht mehr genug Puste. Statt dessen wandte er sich dem nächstmöglichen Ziel zu. Das war Torve, entrückt in seiner Suche nach innerer Wahrheit: »Blurb.« Der Admiral war ein Versager. Er war ein Randmitglied einer bedeutenden Familie. Seine Karriere hatte sich durch nichts
ausgezeichnet. Und er war nicht wirklich ein Admiral – er war ein Kommodore mit einer Gnadenbeförderung anläßlich seiner Pensionierung. Eine der Hauptquellen seines Admiralsstolzes war die Tatsache, daß er sich nie verkauft hatte. Im weitesten Sinne traf das wirklich zu, aber nur deswegen, weil niemand ihm ein anständiges Angebot gemacht hatte, als er noch jung war, und jetzt, da er älter war, war er zu steif, um sich noch zu beugen. Er hatte die unterdrückten Leidenschaften eines Bankangestellten, die indirekt auf verschiedene Arten zu Tage traten; eine davon war Streitsucht, eine andere Konservativismus. Da sein Konservativismus zufällig jenem des Administrators des Tanner-Trusts entsprach und da er ein Mitglied der Familie war, hatte er bei seinem Abschied aus der Marine den Vorsitz des Kunstausschusses des Trusts übernommen – und das hieß: das Amt des Zensors. Er war glücklich bei seiner Arbeit. Von jenen, deren Aufgabe es ist, die universelle Hackordnung zu entscheiden, wurde er als eine enthusiastische, aber harmlose Skurrilität angesehen. Für eine genervte, aber ahnungslose Öffentlichkeit war er eine passive Plage. Für einen Studenten hier, einen Yagoot da und einen gelegentlichen Neffen war er eine aktive Plage – aber am meisten war er eine aktive Plage für die Durchreisenden im Shiawassee-Hafenhaus. Er betrachtete es als Sport und als Teil seiner Pflicht in freien Augenblicken, Reisende zu belästigen, die von der Norm Shiawassees abwichen, einer Norm, die er genau kannte, weil es seine eigene war. Sie werden daher verstehen, daß es für ihn völlig in Ordnung war, sich vor Torve aufzubauen, dessen Geheul er nicht nur bizarr, sondern auch wenig anziehend fand, violett anzulaufen und zu brüllen: »Hör sofort damit auf, du pelziger Affe!« Er fällte nicht nur künstlerische Entscheidungen, er war sie.
Aber verstehen Sie bitte auch, daß Torve andere Bedürfnisse hatte. Was er tat und was er war, war: »Blurb.« Es erscheint angemessen, ein Ausdruck kosmischer Ordnung, daß Torve »Blurb« machte und Admiral Beagle violett anlief und brüllte. Allerdings will mir scheinen, daß es sowohl ein Verstoß gegen diese Ordnung als auch eine Verletzung des Höflichkeitsgebots durch Admiral Beagle war, daß dieser seinen rechten Fuß hob, Torve gegen das Bein trat und brüllte: »Habt ihr eure Lektion denn nicht am Aleph-Wall gelernt?« – wobei es sich um die entscheidende Niederlage der Trogs im Helix-Antihelix-Tragus-Conch-Lobus-Krieg handelte. Torve stieß ein paar abschließende, heftig pulsende Schwelltöne aus. »War sowieso beinahe fertig«, sagte er. »Aach – tung!« kommandierte der Admiral. »Zeig’ deine Papiere, Trog!« Seit ihrer Niederlage waren die Trogs als Bewußtler mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit auf zwei Sonnensysteme begrenzt. Nur eine bessere Handvoll verfügte über die nötigen Papiere, um zu reisen, und Torve gehörte nicht dazu. Nichtsdestotrotz reiste er. Wenn man ihm auflauerte und ihn ohne ordnungsgemäße Genehmigung antraf, drohten Torve Strafen von unglaublicher Härte. Nichtsdestotrotz reiste er. Torve wurde oft ein erstes Mal nach seinen Papieren gefragt, selten ein zweites Mal, nie aber ein drittes Mal. Das war das ganze Geheimnis. Gerade kam der zweite Aufruf für Pewamo, als Villiers auf seiner Suche nach Torve dazukam, wie Admiral Beagle auf und ab hüpfte und etwas von »Barbarei« brüllte und Torve sanft im Takt seiner Hüpfer nickte. Irgendwie hatte sich der Diskussionsgegenstand verändert, ohne daß Admiral Beagle sich dessen bewußt geworden wäre. »Sir«, sagte Villiers, indem er Admiral Beagle zunickte. »Torve, es ist Zeit, daß wir gehen.«
»Sind Sie für diese Kreatur verantwortlich?« verlangte der Admiral zu wissen. »Nein, Sir«, erwiderte Villiers. »Er ist für sich selbst verantwortlich.« »Nun, äh, verlassen Sie den Tanner-Trust? Er scheint es nicht zu wissen.« »Ich verlasse den Tanner-Trust. Sie werden ihn wohl selbst fragen müssen, wo er hinwill.« Beagle plusterte sich auf. »Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt: Er weiß es entweder nicht, oder er will es mir nicht sagen.« Villiers zuckte hilflos die Achseln. Beagle verkündete: »Wenn er den Tanner-Trust verläßt, wird keine Anklage gegen ihn erhoben. Andernfalls geht’s ab ins Loch. Es gibt Gesetze gegen unerlaubte öffentliche Musikaufführungen.« Villiers sagte: »Sie müssen Admiral Beagle sein. Ihr Name genießt weithin einen bemerkenswerten Ruf. Sir, könnten Sie mir einen nicht unbedeutenden Dienst erweisen? In Ihrer Stellung als Zensor müssen Sie doch viele Bücher lesen. Können Sie mir etwas als Lektüre auf dem Schiff empfehlen?« Bedächtig erklärte Admiral Beagle: »Nun, ich persönlich habe immer die größte Bewunderung für die Bücher von Mrs. Waldo Wintergood empfunden. Sie sind in erster Linie für unsere Jüngeren gedacht, aber sie stellen auch eine erquickliche Lektüre für die ganze Familie dar.« »Vielen herzlichen Dank«, sagte Villiers. »Ich werde nach ihnen Ausschau halten.« Der Ansagedienst wies die Passagiere nach Mandracore an, sich für den Transport zum Schiff zu sammeln. Villiers nickte zu den Tönen der Durchsage. »Ah, jetzt ist’s so weit«, meinte er. »Zeit für mich, zu gehen.«
»Ist auch mein Schiff«, ergänzte Torve. Admiral Beagle blickte Torve mit einigem Mißtrauen an, erhob aber keine Einwände gegen seinen Abgang. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl, daß irgend etwas bei dieser Sache schiefgelaufen war. Er war es gewöhnt, Menschen zu tyrannisieren, aber Außerirdische lagen außerhalb seines normalen Tätigkeitsfeldes, und er war sich nicht sicher, ob er nun einen moralischen Sieg errungen hatte oder nicht. Villiers sagte: »Ich habe mit Morris gesprochen. Ein guter Roboter, wenn man sein Modell bedenkt. Warten Sie mal einen Augenblick.« Sie blieben vor einem Stand stehen, wo eine Fak-Maschine in Zwanzig-Sekunden-Abständen Bücher ausstieß. »Sir, haben Sie auch Bücher von Mrs. Waldo Wintergood?« erkundigte sich Villiers. »Aber gewiß«, sagte der Mann an der Maschine. Er deutete auf einen Ständer mit fünf Titeln zur Auswahl. Villiers blätterte einen davon durch und kaufte dann alle fünf. Morgenstern waren sie nicht gerade, aber sie sahen lesbar aus. »Meine Kinder schwören darauf«, schwor der Mann an der Maschine. Unterwegs hielten sie sich noch ein zweites Mal auf. Villiers stoppte Sergei Gilfillians Gepäckwagen. »Wir reisen jetzt ab«, sagte er. »Auf Wiedersehen, Sir. Und noch einmal vielen Dank. Auf Wiedersehen, Torve.« »Auf Wiedersehen«, sagte Torve. »Mir ist da etwas eingefallen«, wandte sich Villiers an Sergei. »Ein paar Freunde suchen nach mir. Wenn sie fehlgeleitet werden sollten, könnte es sein, daß sie sich bei Ihnen nach mir erkundigen. Bitte zögern Sie nicht, ihnen alles zu sagen, was Sie wissen.«
Sie hielten sich noch ein letztes Mal auf – bloß eine leichte Verzögerung im Schritt –, als Villiers mit einem tiefem Selam einen weiteren Bekannten begrüßte. »Mr. Finch«, sagte er. »Mr. Villiers.« Es war die gegenseitige Ehrenbezeugung von Männern, die dazu bestimmt sind, unterschiedliche Richtungen einzuschlagen: einer ein Jäger, der andere ein Gejagter. Dann bestiegen Villiers und Torve das Transportwägelchen, um sich zu ihrem Schiff hinausfahren zu lassen.
Das orangene Transportwägelchen rollte den von der Sonne ausgebleichten Fahrweg zum Hafenhaus entlang. Ralph und John lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, als sie das untere Ende der Treppe erreichten, waren immer noch gleichauf, als sie vor dem Wagen herflitzten, aber ihr ZweiPersonen-Feld zog sich doch deutlich auseinander, als Ralph ein gutes Stück vor dem Aufgang zur entsprechenden Treppe auf der anderen Seite des Hafenhauses zurückfiel. Von all dem unberührt, rollte das Transportwägelchen in Position, um einen zweiten Schub Passagiere für die Pewamo Redball aufzunehmen. Ralph schleppte sich die Treppe hinauf, blieb stehen, atmete tief durch, drehte sich um und ließ sich hinplumpsen. Dann schnaufte er. John, nicht ganz so außer Atem und ernsthaft an der Klärung einer ganz bestimmten Frage interessiert, sagte mit so besorgter Stimme, wie er es gerade noch fertigbrachte: »Sollten wir nicht besser weiterlaufen?« »Warum? Onkel Walter weiß, wo er mich finden kann. Onkel Walter wird mich finden.«
»Tja«, sagte John und senkte seinen Blick, »wenigstens weiß er nicht, wer ich bin.« »Oh, das wird er schon aus mir herauslocken.« Ralph nickte wie zur Selbstbestätigung mit dem Kopf. »Ja. Ich werds ihm wohl sagen.« »In diesem Fall«, bemerkte John düster, während er auf seine Handflächen starrte, die er wie ein aufgeklapptes Buch vor sich hielt, und die Seiten dann übergangslos wieder zuschlug, »müssen wir uns etwas einfallen lassen.« Er setzte sich zu Ralphs Linken. Beide verfielen sie in Denkerposen. Beide leisteten nicht das geringste bißchen Denkarbeit, das Ergebnis einer Kombination aus Schlafmangel und Hyperventilation. Nach ein paar Minuten sagte John: »Worüber sollten wir eigentlich nachdenken?« Ralph war zu sehr von der Rolle, um die Frage noch verarbeiten zu können. Nennen Sie es Schlaf oder Stumpfsinn, ganz wie Sie wollen. Er registrierte die Frage überhaupt erst beim dritten Mal und beantwortete sie gerade noch rechtzeitig, um ein viertes Mal zu verhindern. »Mein Onkel«, sagte er ganz langsam. »Ich muß sehr betrunken oder sehr erregt gewesen sein, daß ich nicht an ihn gedacht habe.« »Du warst letzte Nacht innerlich erregt.« »Betrunken?« »Vielleicht ein bißchen«, meinte John. Dann: »Wir müssen dich für eine Weile von deinem Onkel fernhalten.« »Sehr gut. Das ist sehr gut«, sagte Ralph. »So machen wir’s, bis meine Mutter mit meiner Tante und meine Tante mit meinem Onkel gesprochen hat. Aber wo?« »Darüber müssen wir noch nachdenken.« Sowohl Ralph als auch John hatten sich ihre Müdigkeit ehrenhaft erworben. Ralph benötigte volle neun Stunden
Schlaf pro Nacht und hatte sie nicht bekommen. John hatte drei anstrengende Tage an einem Referat gearbeitet und war zu einem spätnächtlichen Spaziergang aufgebrochen, nachdem er es vollendet hatte. Ein paar Minuten später sagte John: »Ralph?« Ein fragender Unterton. »Ich denke«, sagte Ralph sehr langsam. Er sagte es gleich noch einmal, aber diesmal verkam es zu einem kaum verständlichen Gemurmel. »Erwachet, erwachet!« sagte John. »He, wach auf! Ich habe ein Stipendium, und heute möchte ich das auch behalten. Letzte Nacht war’s mir ziemlich egal. Heute nicht mehr. Also müssen wir dich von deinem Onkel fernhalten – dir eine neue, geheime Existenz verschaffen. Weißt du, manchmal gibt es Zeiten, da würde ich am liebsten alles hinschmeißen und in die Berge gehen, um ein Robin Hood zu werden. Nur würde ich mir eine geheime Farbfabrik einrichten und des Nachts in die Stadt stürmen und ein Gebäude pink oder chartreuse anstreichen. Oder vielleicht beides? Pink und chartreuse, wäre das nicht ein Gedanke?« »Mir gefällt er«, sagte Ralph. Sofort sträubte John die Stacheln. »Was weißt denn du schon?« »Nun, ich verstehe nicht viel von Kunst, aber« – er hielt inne, als sei er dabei, eine geschliffene Formulierung zu erdenken – »ich finde, es klingt aufregend.« »Es würde schon Spaß machen, aber es wäre zu gefährlich. Was ich wirklich toll fände, wäre, Mrs. Waldo Wintergood Konkurrenz zu machen. Eine geheime Literaturfabrik.« »Das gefällt mir«, sagte Ralph. »Ich habe schon begriffen, was du meinst. Aber es wäre zu gefährlich. Jedenfalls, solange es meinen Onkel gibt.« John sagte: »Ralph?« Er sagte es sehr nachdenklich.
»Ja?« »Wie ist deine finanzielle Situation?« »Ganz gut. Wieso?« »Wer ist das in dem Transporter, der zur Pewamo-Fähre rausfährt?« John bezog sich dabei auf Villiers und Torve den Trog, die tatsächlich unbestreitbar in dem Transportwägelchen saßen – derselbe Wagen, dasselbe Orange –, der entlang der Heckenreihen dem Pewamo-Intrasystem-Ausflugsschiff zusteuerte. »Sie sind’s, sie sind’s, sie sind’s«, sagte Ralph. »Wie würde es dir gefallen, einen Urlaub auf Pewamo zu verbringen? Würde dein Onkel auf die Idee kommen, dort nach dir zu suchen?« »Wie würde es dir gefallen, einen Urlaub auf Pewamo zu verbringen?« fragte Ralph und deutete mit einem Du-hastgerade-einen-Preis-gewonnen-Finger auf John. »Ich werde die Tickets kaufen.« »Du kaufst die Tickets. Ich erledige inzwischen ein paar Anrufe. Weißt du, Ralph, du bist gar nicht so übel.« Ralph erkannte dieses Eingeständnis mit einem Nicken an.
Klavan Guillaume blinzelte im heißen Morgensonnenschein. Er fühlte sich so unbehaglich, daß es wehtat. Da sitzt man nun, bis das Sitzen unerträglich wird. Dann läuft man, ohne den Mut zu haben, anzuhalten. Er haßte und beneidete Villiers zugleich dafür, so ruhig zu sein – nicht ungebührlich heftig, nur mit nominellen Anflügen von Haß und Neid. Guillaume ging hinüber zum Flitzerstand, um die Fahrt anzutreten, die ihn in die entlegeneren Gegenden des Planeten bringen würde. Er verlagerte die einzelne Reisetasche, die er sich selbst gestattete, von der linken in die rechte Hand.
»Stehenbleiben, Klavan.« Er drehte sich um. Es war Finch. Dieser verdammte Finch. Er seufzte, ließ seine Tasche fallen und begann zu laufen, aber das war nur eine leere Geste. Es gab keinen Ort mehr, wo er hätte hinlaufen können.
II
Erfolgreiche Räuber müssen robuste erwachsene Männer in körperlichem Topzustand sein – das ist von Berufs wegen erforderlich. Ein Mörder andererseits kann auch ein zweijähriges Kind oder eine ans Bett gefesselte Großmutter werden. Verbrechen wie die Herstellung und Verbreitung von Falschgeld oder Hauseinbrüche hinterlassen wahre Schutthaufen von Beweisen. Viele Morde werden nie erkannt. Die meisten werden nie aufgeklärt. Mord, als ein Verbrechen betrachtet, ist gefahrlos, leicht und ohne große Kosten zu begehen und unmöglich zu verhindern. Es gibt keinen Menschen im Universum, einschließlich des Imperators von Nashuite hinter seinen Türen, der nicht umgebracht werden kann, wenn nur der hinreichende Wille dazu vorhanden ist. Mord erfordert jedoch größere Entschlossenheit als andere Verbrechen, was erklärt, warum ein so einfaches Verbrechen so vergleichsweise selten vorkommt. Möchtegernmöder verpfuschen ihre Taten. Erfolgreiche Mörder werfen sich selbst der Polizei in die Arme. Und das alles, weil die Nerven versagen. Das wirft ein einigermaßen schwieriges Problem auf. Was machen Sie, wenn Sie einen dringenden Mord zu begehen haben und es Ihnen völlig an der Nervenkraft mangelt, ihn zu begehen? Es gibt eine Antwort darauf, die die Gefahr des Verbrechens erhöht, aber wenigstens ermöglicht, daß es überhaupt ausgeführt wird. Und die lautet: Sparen Sie lange genug Ihr Taschengeld und lassen Sie dann morden.
Zuerst diskrete Erkundigungen. Dann ein Treffen in angenehmer Umgebung, ein gemütliches Pläuschchen. Abwägungen, eine Übereinkunft, Geld wechselt den Besitzer. Schließlich, nach mehreren Monaten, eine Zeitungsnotiz über einen Todesfall. Aber was dann, wenn diese Notiz niemals erscheint? Schließlich mag auch ein gedungener Meuchelmörder seine eigenen Skrupel zu überwinden haben. So wie Sophokles später den dritten Schauspieler einführte, was die menage à trois ermöglichte, wird Aeschylus der zweite Schauspieler als Verdienst angerechnet, der jenen StandardSchmachtfetzen ermöglichte, der vom griechischen Publikum und all jenen, die seither noch auf es folgten, so überaus hoch geschätzt wird – die Erkennensszene. Die Literatur ist voll mit Wanderern in Inkognito, die nach zehn Jahren voller Abenteuer heimkehren und scharf darauf sind, plötzlich erkannt und geliebt zu werden. Im wirklichen Leben jedoch sind die meisten Begegnungen nach zehn Jahren viel prosaischer. Hier ist, was passieren könnte: Villiers fand einen Sitzplatz neben einem hageren jungen Mann mit einem übergroßen blonden Schnurrbart. Torve ließ sich auf einer großen Couch in der Nähe nieder und begann selbstvergessen, Mrs. Waldo Wintergood zu lesen. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte der junge Mann. »Wie hast du es bloß geschafft, Tony?« »Hmm?« sagte Villiers und hob fragend die Augenbrauen. »Es ist jetzt zehn Jahre her, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben. In der Zwischenzeit bin ich zwei Zoll gewachsen und habe fünfzig Pfund abgenommen, und ich trage einen Schnurrbart, der verhindern soll, daß Leute mich erkennen. Eigentlich hatte ich vor, mit Vergnügen zuzuschauen, wie du
versuchtest, mich zu finden. Nur daß du mich gefunden hast. Bloß wie?« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich’s verraten soll. Ich glaube, mir gefällt es, den Eindruck zu erwecken, ich verfügte über geheimnisvolle Fähigkeiten.« »Das weiß ich.« »Ich habe mir alle genau angeschaut, Fred, und keiner von denen warst du. Darum habe ich nochmal Ausschau gehalten nach einem Mann mit einem sehr großen Schnurrbart, und wen sah ich da? Dich.« »Oh.« »Ist schon gut. Vergiß nicht, ich erwartete, daß du an Bord sein würdest. Ich glaube nicht, daß man dich erkennen wird.« »Gott, ich hoffe nicht«, sagte Fred. »Und wie hast du mich nach zehn Jahren wiedererkannt? Du hattest schließlich nicht den Vorteil, mein derzeitiges Aussehen von Bildern zu kennen. Ich hasse es, daran zu denken, wieviele unbedeutende Hintergründe du geziert hast.« »Du hast dich nicht so sehr verändert«, sagte Fred. »Und mir will partout niemand außer dir einfallen, dem es einfallen würde, mit einem Trog zu reisen.«
Das orangene Wägelchen brachte seine letzte Menschengabe dar, und das Pewamo-Ausflugsschiff gewährte ihm die Ehre, sie gnädig anzunehmen. Ralph und John führten die letzten Passagiere an, die an Bord gingen. Die Türen des Schiffes schlossen sich hinter ihnen. Das orangene Wägelchen glitt flink davon, auf der Suche nach einem neuen Schiff, vor dem es mit dem Schwanz wedeln konnte. Ralph sagte zu John: »Warum verwendest du immer Mrs. Wintergood als schlechtes Beispiel? Ich habe das jetzt schon vier- oder fünfmal mitgekriegt.«
John zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Sie ist so ungefähr das ultimate Beispiel für das, was ich abschaffen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.« Ralph verkündete: »Mir gefallen diese Bücher zufällig. Wenn ich ehrlich sein soll, ich liebe sie sogar. Sie mögen altmodisch und spießig sein, aber sie sprechen mich an. Ich will gar nicht, daß sie abgeschafft werden. Ich möchte bloß etwas mehr Abwechslung. Wenn deine geheime Literaturfabrik kein Eckchen für Mrs. Waldo Wintergood findet, glaube ich nicht, daß sie mir gefallen würde.« John schuldete Ralph den Preis seines Tickets nach Pewamo, was bedeutete, daß er einen gewichtigen Grund hatte, allem beizupflichten. Andererseits war John ein intelligenter Student, während Ralph ein weniger intelligenter Yagoot war, was einen gleichermaßen gewichtigen Grund darstellte, nicht allem beizupflichten. Weder Dankbarkeit noch Wissen noch angeborene Überlegenheit bestimmten jedoch Johns Reaktion. Er hatte sich selbst dadurch überrascht, daß er zu dem Schluß gekommen war, Ralph zu mögen. Das war der bestimmende Faktor. Er sagte: »Wenn ich jemals einen Weg finden sollte, die Welt zu verändern, werde ich mein Bestes tun, daß Mrs. Waldo Wintergood bleibt. Eigentlich haben mir diese Bücher nämlich auch gefallen, als ich jünger war.« Beachten Sie den Unterschied: Ralph gefielen sie immer noch; John hatte sie beiseite gelegt. Ralph schlief nicht länger mit seinem Teddybär, aber er hatte seinen Ehrenplatz auf einem Bord über seinem Bett; John schlief nicht länger mit einem Teddybär und wäre auch nicht bereit gewesen, zuzugeben, daß er das je getan hatte. Der Zustand des Erwachsenseins wird von manchen durch die Ablehnung der Kindheit erreicht, von anderen durch ihre Anerkennung. »Da ist Villiers«, sagte Ralph. »Oh, und da ist Torve.«
Da ich kein Freund leidiger Verwicklungen bin, meine ich, daß es immer am besten ist, Mängel und Fehler offen zuzugeben. Verbirg nichts und fürchte nichts. Es hat seit jeher zu meinen persönlichen Überzeugungen gehört, daß eine Geschichte mit einem jungen, gutaussehenden, unverheirateten Mann geradezu auch nach einem attraktiven Mädchen verlangt, und sei es nur, damit er Gesellschaft hat. Bisher gibt es ein halbes Dutzend derartiger junger Männer in unserer Geschichte und nicht eine einzige junge Dame. Unglücklicherweise ist auch nicht damit zu rechnen, daß es viel mehr werden. In jenen Jahren führten Frauen auf den Planeten des TannerTrusts ein stärker behütetes Leben, als sonst allgemein üblich ist. Außer Exzentrikerinnen bewegten sich kaum welche frei in der Öffentlichkeit, und oft ist es gerade persönliche Unansehnlichkeit, die Exzentrikerinnen exzentrisch macht. Aus dieser Richtung haben wir wenig also Hilfe zu erwarten. Pewamo war da bei weitem liberaler, weil es kein Teil der Territorien des Tanner-Trusts war. Viele Jahre lang war er ein »Geschlossener Planet« gewesen. Jetzt war er wieder offen, aber die einzigen, die das ganze Jahr über dort lebten, waren Verwalter von Interstellar und eine Handvoll Leute mit einer Erschließungskonzession, und es ist eine Naturgegebenheit, daß junge Beamte im öffentlichen Dienst und aufgeweckte junge Geschäftsmänner stets verheiratet sind. Pewamos winzige Bevölkerung bestand fast ausschließlich aus abgeschotteten kleinen Familien. Damit bleiben uns nur jene Vertreterinnen der holden Weiblichkeit übrig, die sich an Bord des Schiffes nach Pewamo befinden. Ich würde vorschlagen, daß wir uns die beste davon aussuchen, ihre Qualitäten kurz und angemessen
bewundern und uns dadurch frei dafür machen, uns jenen Problemen von größerer Bedeutung zuzuwenden, mit denen wir uns sogleich konfrontiert sehen werden. Die potentiellen leidigen Verwicklungen sind also noch nicht ganz vorbei. Die beste jener an Bord, eine von nur drei jungen Damen, die weder Matronen noch Kinder waren, war ein Schlaks. Sie belegte einen Platz in einer Reihe nicht weit von Villiers und Fred. Sie war jünger als sie, ungefähr im selben Alter wie Ralph und John. Sie war groß, dürr und linkisch. Ihre Nase war zu lang für ihr Gesicht. Ihre Schultern hingen herab. Ihre Figur war zum Vergessen. So sei es denn: Erweisen wir ihr trotzdem alle Ehre. Nicht jeder mag darauf ansprechen, aber schlaksige Mädchen haben etwas Faszinierendes an sich – und etwas Hoffnungerweckendes. Das Faszinierende ist, daß äußerlich so unweibliche Wesen sexuell attraktiv sein können. Das Hoffnungerweckende ist, daß, derweil viele Schlakse ihr ganzes Leben lang Schlakse bleiben, neotenische Anomalien, eine geringe Zahl zu etwas mehr wird. Spät und plötzlich reifen sie zu einer raren Zucht heran – lang aufgeschossen, kühl, hager, kleinbrüstig, alles andere als spröde und zimperlich, freimütig, ein bißchen zerbrechlich, mit Temperament und Feuer für viele Start-ZielSiege, wenn man sie gut behandelt. Darum – heil dir, du munterer Schlaks! Heil dir, und alles, alles Gute. Und nachdem wir das hinter uns hätten, können wir wohl weitermachen.
Torve las immer noch. Zu seiner Linken schlief Ralph. Zu seiner Rechten schlief John.
Fred sagte: »Mit wie vielen müssen wir noch rechnen?« Der Grundgedanke dieses Urlaubs war, die Zahl der Personen in seinem Leben zu verringern, nicht, sie zu vergrößern, und darum hatte seine Frage einen leicht aggressiven Unterton. Villiers sagte: »Mit keinem mehr. Bloß mit Torve.« Torve schaute auf. Villiers sagte: »Das hatte ich befürchtet. Sie können draußen mit uns campen oder aber das tun, was immer Ralph und John tun wollen. Im Touristenzentrum bleiben, nehme ich an.« »Ich werde campen«, sagte Torve und senkte seinen Kopf wieder über sein Buch. Er tauchte noch einmal auf, um ihnen zu verkünden: »Ist gutes Buch«, und dann tauchte er wieder unter. »Dann sind wir bloß drei«, rechnete Fred. »Gut. Ich hasse Menschenansammlungen.« Er war eine interessante Persönlichkeit. Er war außerordentlich gescheit und eine merkwürdige Mischung aus Kultiviertheit und Unschuld. In die falsche Familie hineingeboren, war er in einer Atmosphäre abgezirkelter Förmlichkeit erzogen worden; er aber verabscheute die Rituale, deren Einübung ihm abverlangt wurde. Als Kind vollzog er sie mehr schlecht als recht, als Erwachsener mechanisch. In der Zwischenzeit hatte er sich, gegen den Wunsch seiner Familie, im Selbststudium zu einem außerordentlich kompetenten theoretischen Agrostologen herangebildet. Erst in den letzten Jahren war es ihm möglich gewesen, praktische Erfahrung zu sammeln, um damit sein formales Wissen zu untermauern. Obwohl er einen unorthodoxen Weg in seinem Spezialgebiet eingeschlagen hatte, hatte er einen gesicherten Platz darin errungen. Fred und Villiers waren zusammen in der Schule gewesen. Die Leute hatten sich vor Fred gefürchtet und ihn gemieden. Villiers für seinen Teil war inoffiziell als die unabhängige
Macht der Schule anerkannt worden, und als solche stand es ihm frei, sich mit Fred zusammenzutun. Das hatte er getan und sie waren dicke Freunde gewesen. Die beiden waren erst kürzlich wieder in Kontakt miteinander gekommen, und da sie sich in annehmbarer räumlicher Nähe aufhielten, hatten sie beschlossen, sich zu treffen und einen gemeinsamen Wiedersehensurlaub zu verbringen. In der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten, hatte Fred eine Vorliebe für das Leben im Freien entwickelt. Daher hatte er Pewamo vorgeschlagen. Und hier waren die zwei nun, unterwegs zu ihrem Bestimmungsort. »Komm, laß uns ein paar Geschichten austauschen«, schlug Fred vor. »Du erzählst mir, wie es dir ergangen ist, und ich erzähle dir, wie es mir ergangen ist.« Villiers nickte und gähnte. »Aber wirklich nur ein paar«, sagte er. »Ich habe letzte Nacht keinen Schlaf gekriegt, und ich bin hundemüde.« »Okay. Erzähl mir was.« Villiers dachte nach. Dann hielt er seine linke Hand in die Höhe. An seinem kleinen Finger fehlte die Hälfte des ersten Glieds. Es war weder eine Deformation noch ein Handicap, sondern gehörte zu jener Art von Dingen, die man seinem Repertoire an Späßen, amüsanten Anekdoten und Partytricks hinzufügt. Villiers stand natürlich über diesen Dingen. »Das hier habe ich vor zwei oder drei Jahren verloren«, sagte er. »Jemand hat versucht, mich zu töten. Die Drahtschlinge hat aber nur das Ende meines Fingers erwischt.« »Du meinst, jemand hat versucht, dich zu ermorden? Ist ja lustig. Mich hat noch nie jemand zu ermorden versucht.« »Dich lieben auch alle, Fred. Aber es war eigentlich kein richtiger Mordversuch. Ich bin kaum ein geeignetes Ziel dafür. Macht es dir viel aus, zu lügen?« Die Frage war ein forschender Nachtrag.
»Kommt darauf an«, sagte Fred und hielt inne, um über die notwendigen Bedingungen nachzudenken. »Das ist wahrscheinlich die einzig vernünftige Antwort«, meinte Villiers, der mit dem Ende seines verkürzten Fingers spielte. »Ich frage mich bloß, warum gerade das eine Sache ist, die mich immer wieder beschäftigt. Na, lassen wir das. Erzähl mir, wie du abgenommen hast. Du siehst sehr fit aus.« »Ach, das«, sagte Fred, zutiefst erfreut. Sein Schnurrbart kräuselte sich in kleinen Wellen, als er lächelte. Er deutete auf ein metallenes Abzeichen an seinem Rock. Es stellte ein arg zahnlastiges Kleintier dar. »Die Großen Biber. Sie haben mich zum Manitou gemacht. Das ist eine jener Sachen, die einem aufgeladen werden und denen man nicht entgehen kann.« »Kenne ich«, sagte Villiers. »Ich war der Anführer der Segosta Cheki, der Zweiggesellschaft der Großen Biber auf Charteris. Vielleicht bin ich es immer noch. Das wäre amüsant.« »Nun, die Diskrepanz zwischen mir als Fred, und mir als dem Manitou der Großen Biber begann mir Kummer zu bereiten. Ich interessierte mich nicht dafür, und darunter hatte ich Angst, und darunter wiederum interessierte ich mich wirklich nicht dafür. Aber ich kam über die Angst hinweg, und nachdem mein Interesse dann doch erwachte, stellte ich fest, daß ich das alles konnte. Jetzt bin ich Oberbiber oder das Äquivalent davon auf sechs Planeten.« »Da komme ich nicht einmal annähernd dran«, sagte Villiers. »Mein Gewissen hat mich nur bis zum Segosta Savoda gebracht –Ehrenoberbiber. Du siehst mich tief beeindruckt.« Fred war jetzt in einer Position, um seine drei »Ehrenoberbiber« (oder deren Äquivalante) und seinen »Außerordentlichen Fieselschweif« im schwierigen Barks-Stil aufzuzählen. Bescheidenheit, guter Geschmack und die Überzeugung, daß Villiers wirklich beeindruckt war,
veranlaßten ihn jedoch, einfach nur zu sagen: »Und so habe ich meine fünfzig Pfund verloren.« Zehn Jahre zuvor wäre das noch ganz anders gewesen. Villiers sagte: »Laß mich mal schauen. Ich war verheiratet.« Er warf das als ein mögliches Gesprächsthema aus, und Fred biß sofort an. »Oh?« »Hast du je bemerkt, daß hier draußen in den Randgebieten die Edelleute ruhig und moderat sind? Charteris ist einer der beschaulichsten Außenposten des Imperiums. Aber mein Vater will unbedingt sichere Bündnisse eingehen.« »›Sichere Bündnisse‹«, sagte Fred voll Überdruß. »Ja. So kam es, daß ich mich für zwei Jahre im Hafen der Ehe wiederfand. So hatte es mein Vater gewünscht. Aber nach Ablauf der zwei Jahre wollte er den Ehekontrakt verlängern lassen, und Evelyns Vater auch, aber Evie und ich waren beide nicht dazu bereit. Du hast noch nie zwei Menschen gesehen, die weniger zueinander gepaßt hätten. Darum haben wir einfach nicht verlängert. Evie ging in ein unitarisches Konvent und schreibt mir wunderschöne Briefe. Sie liest. Sie schickt mir Bücherlisten, aber ich kann nie mithalten. Mein Vater und ich brachen endgültig miteinander, als ich die Ehe nicht erneuerte.« »Ich erinnere mich, daß ihr ziemlich verschieden wart.« »Das waren wir. Das sind wir. Ich reise. Er schickt mir von Zeit zu Zeit eine Geldanweisung. Manchmal arbeite ich auch, aber davon erzähle ich ihm nichts.« »Das würde ich auch nicht hoffen wollen!« sagte Fred. »Arbeitest du wirklich, Tony?« Villiers lachte. »Das ist lustig. Vor einigen Monaten habe ich einem jungen Mädchen aus meiner Bekanntschaft – mit dem du, nebenbei bemerkt, gar nicht einverstanden sein würdest –
erzählt, daß ich von Zeit zu Zeit Jobs annähme. Ihr gefiel die Idee auch nicht.« »Das würde ich auch wirklich nicht hoffen wollen. Glaubst du, daß das deiner würdig ist?« »Fred, du arbeitest doch ebenfalls. Und sogar mit deinen Händen.« »Das ist was anderes. Das ist doch Wissenschaft.« Dann ließ er das Thema fallen. »Weißt du, mein Vater versucht seit Jahren, mich zu einer Heirat zu drängen. Er ist eigentlich gar nicht so übel. Er wünscht sich bloß Enkelkinder und glaubt wirklich daran, daß ich glücklicher sein würde, wenn ich eines der Mädchen seiner Wahl nehmen und mich niederlassen würde. Jedesmal, wenn er einem Mädchen begegnet, das ihm gefällt, schickt er einen Boten los, um mich davon zu unterrichten. Seit sechs Monaten versucht er nun schon, mich dazu zu kriegen, jemanden namens Gillian U kennenzulernen. Aber ich bin fest geblieben. Offen gestanden, ist sein Geschmack manchmal etwas… sonderbar.« »Wie ist es eigentlich gekommen, daß er dich zu einem so späten Zeitpunkt doch noch von der Leine gelassen hat?« »Oh, mein Bruder Ted bekam einen zweiten Sohn. Erinnerst du dich nicht?« »Doch. Aber ich hatte bisher nicht daran gedacht, das beides miteinander in Verbindung zu bringen. Was ich natürlich hätte tun sollen.« »Das brachte mich zurück auf Platz vier, und ich machte meine ersten vorsichtigen Schritte hinaus in die Welt. Glücklich ist mein Vater allerdings nicht damit. Er konnte mich bloß nicht mehr länger halten.« »Schön, daß du draußen in der Welt bist«, sagte Villiers. »Mich freut es auch.«
Eine gleichmäßige Schicht von Broschüren, die die Wunder Pewamos anpriesen, war überall im Schiff ausgestreut worden. Als Ralph und John erwachten, tauschten sie den Schutz, den der Schlaf ihnen bot, gegen die Sicherheit der Broschüren ein. Sie fühlten sich als Eindringlinge, hofften aber, daß, wenn sie sich sehr ruhig verhielten, niemand genügend Anstoß nehmen würde, um ihnen das auf den Kopf zuzusagen. John gab vor, zu lesen. Er blätterte nur weiter, wenn es ihm durch Zufall einfiel. Ralph hingegen zog Lesen dem freien Denken vor, und alsbald schlugen ihn die Verheißungen Pewamos, des Spiellands von morgen, in ihren Bann. Sorgfältig schaute er sich all die exotischen Attraktionen an. Fred für seinen Teil saß bloß da und blickte Ralph und John düster an. Sie wußten, daß er da war, aber der undurchdringliche Broschürenwall gestattete es ihnen, seine Anwesenheit offiziell zu ignorieren. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Fred wurde fortschreitend unglücklicher. Sie näherten sich jetzt Pewamo, und Villiers schlief immer noch. Fred wollte ihn auch nicht wecken. Andererseits wollte Fred aber, daß bei allen Beteiligten Klarheit herrschte, bevor sie ankamen. Für ein Kind ist es leicht – ja, sogar schön –, einem anderen Kind zu sagen, daß seine Gegenwart unerwünscht ist. Für Fred, der ein echtes Weichherz war, war das viel schwerer. In einem heftigen Anfall von Erregung weckte Fred schließlich Villiers und flüsterte lange auf ihn ein. Villiers sagte: »Ralph, John«, die magischen Worte, die den Broschürenwall durchdrangen. Zögernd schenkten sie ihm ihre Aufmerksamkeit. »Was sind Ihre Pläne auf Pewamo?« Ralph sagte: »Wir hatten uns überlegt, was Sie wohl vorhaben, Sir.« »Mr. Fritz und Torve und ich werden campen.«
»Nun, John und ich könnten vielleicht auch campen.« John, der nicht davon überzeugt war, daß Ralph ihr Sprecher sein sollte, warf ihm einen scharfen Blick zu. Die letzte Erklärung war nichts als leeres Gerede gewesen. Weder Ralph noch John hätten jemals ernsthaft erwogen, im Freien zu kampieren, wenngleich aus entgegengesetzten Gründen. Ralph würde nicht draußen kampieren, weil das nicht zu den Dingen zählt, die man als Yagoot tut. John hingegen würde nicht draußen kampieren, weil das nicht zu den Dingen zählt, die man als junger Intellektueller tut – eine völlig andere Angelegenheit, wie Sie mir sicher beipflichten werden. »Haben Sie eine Campingerlaubnis für Pewamo?« erkundigte sich Villiers. »Nein, Sir«, sagte Ralph. »Benötigt man denn eine?« »Ich befürchte, ja«, nickte Villiers. »Oh«, sagte Ralph. John nutzte den Zustand von Ralphs Geldkatze und seinen Zugang dazu aus: »Nun, Torve – Ralph und ich werden dann also in einem Touristenzentrum bleiben. Möchten Sie sich uns nicht anschließen?« »Vielen Dank«, sagte Torve, »aber Ereignislinien erlauben nicht. Ich werde campen.« »Oh«, sagte John. Es war ein scheußlicher Augenblick. Villiers und Fred fanden nicht mehr Gefallen daran als Ralph und John. Hartnäckig erklärte Ralph: »Mr. Villiers, wir hegen keineswegs den Wunsch, Ihren Urlaub zu stören, aber ich glaube nicht, daß Sie begreifen, wie wichtig Torve für uns ist. Wir würden gerne so viel wie möglich von ihm sehen, solange er hier ist.« »Ja«, pflichtete John bei. »Genauso ist es.« »Es ist ja sehr viel von Ihnen verlangt, aber könnten Sie nicht auf der Binkin-Insel campen?«
Wie der Zufall wollte, lautete die Campingerlaubnis, über die Fred verfügte, auf die Binkin-Insel. Als logische Folge daraus fragte er »Warum?«, statt »Nein« zu sagen. Ralph schlug die Broschüre bei der stilisierten Karte auf den Mittelseiten auf. Er hielt sie seitwärts, so daß Villiers und Fred und er selbst etwas davon hatten. John verrenkte sich den Hals, um auch einen Blick zu erhaschen, dann gab er auf und öffnete eine andere Broschüre. Torve stand über all dem. »Wie Sie sehen werden, gibt es auf der Binkin-Insel sowohl ein Touristenzentrum als auch ein Entwicklungsareal. Wenn Sie im Entwicklungsareal blieben, könnten wir im Touristenzentrum bleiben. Wir würden unser Bestes tun, Ihnen nicht zur Last zu fallen.« John hatte das vage Gefühl, daß vielmehr er statt Ralph diese räumliche Nähe hätten bemerken sollen, aber er gestattete es der Solidarität, über den Ärger zu siegen. Er nickte heftig. Er fürchtete sich davor, zu sprechen, um nicht gegen empfindliche Entscheidungsmechanismen zu stoßen. Einer derjenigen, die hier die Entscheidungen zu fällen hatten, zog den anderen beiseite. »Ich kann auf meine soziale Stellung pochen oder die Erlaubnis umschreiben lassen. Aber ich wollte eigentlich auf die Binkin-Insel.« »Dann laß uns dort auch hinfahren. Wie es ausschaut, ist es eine große Insel. Und wenn sich die Sache nicht gut anläßt, können wir immer noch verschwinden.« »Na gut«, sagte Fred. Er war ein Weichherz.
III
Yagoots und ihre anders benannten Brüder sind eine allgemeine geschichtliche Erscheinung. Sie sind die Paradepferde einer Überflußgesellschaft – dekorativ, aber nutzlos. Sie sind Schauspieler von niederem Adel, die vor Stadt oder Haus spielen. Wo sie zu vielen auftreten, striegeln sie sich. Wo sie zu wenigen sind, putzen sie sich heraus. In beiden Fällen beschäftigen sie sich hauptsächlich damit, Rad zu schlagen oder Drachen steigen zu lassen. Aber das ist nicht fair. Der sorgfältig gekleidete junge Lümmel, der die Schildwache boxt oder auf der Straße Schubsden-Opi mit alten Männern spielt, ist ein Klischee, in der Yagootrie liegt viel mehr als nur unverständlicher Nihilismus. Sai Din der Mundu war ein Yagoot und Duncan McGub und J. W. v. Goethe. Sie alle stiegen empor zu Besserem. Yagoots sind in erster Linie ein Symptom der Krankheit unserer Gesellschaft. Jene, die Yagoots werden, sind zugleich jene, die der Gesellschaft nichts bieten können, und jene, denen die Gesellschaft nichts zu bieten hat. Weil Yagootrie ein Spiel des So-als-ob ist, arrangieren sich die meisten Yagoots schließlich mit der Gesellschaft, indem sie den besten Kompromiß eingehen, den sie zustande bringen können. In seltenen Fällen ist es andererseits auch manchmal die Gesellschaft, die den Kompromiß eingehen muß.
Da seine Frau ihm die Erlaubnis dazu gegeben hatte, bildete Admiral Beagle sich ein, ein starker Mann zu sein, und außerhalb ihrer Begleitung ging er manchmal auch als einer durch. In Wirklichkeit jedoch beherrschte sie ihn vollständig. Als der Koch ihr bedeutete, daß es soweit sei, übernahm Irma Beagle die Verantwortung für den Lunch ihres Gatten. Er sah lecker aus, aber sie blieb nicht stehen, um davon zu kosten. Sie trug ihn vielmehr flink zu ihrem Mann hinein und stellte sich dann zwei respektvolle Schritte hinter seinem Stuhl auf, während er behutsam probierte und dann zu essen begann. Es war Kulaby, und zwar recht guter. »Walter«, sagte sie. Sie war keine gewöhnliche ShiawasseeEhefrau. Nach fünfunddreißig Jahren Marineleben und vielen nach allgemeinen Imperiumssitten verspeisten Mahlzeiten mochte sie immer noch nicht bequem am selben Tisch mit ihm sitzen, aber sie war ohne Schwierigkeiten dazu fähig, mit ihm zu sprechen, während er aß. »Weißt du, wohin Ralph verschwunden ist? Rosalie macht sich solche Sorgen.« Rosalie war ihre Schwester und Ralphs Mutter. »Das sollte sie auch, bei einem solchen Taugenichts als Sohn«, sagte der Admiral. »Walter, wo bleibt denn deine Nächstenliebe? Du hast Ralph nie eine Chance gegeben.« »Man muß nur einmal beißen, um zu wissen, daß ein Apfel faul ist«, entgegnete der Admiral. Er sprach immer so, wenn er gerade daran dachte. Er hatte sich ein Notizbuch mit markigen Bonmots angelegt, und manche davon waren gut genug, um auch eine Wiederholung zu vertragen. Eines hatte er dreimal am selben Tag in Gegenwart des Trust-Administrators gebraucht, worauf ihm mit dem Verlust seines Amtes gedroht worden war, aber das war eine seltene Reaktion. Die meisten Leute zählten nie mit.
»Walter, sei nicht albern.« »Er hatte allen Grund, zu verschwinden. Er verkehrte mit einem schamlosen und obszönen Außerirdischen.« Das bedeutete so gut wie nichts für Irma, die sich auf eine Handvoll realer Belange beschränkte, von denen einer die Beziehungen zu ihrer Schwester war. »Walter, weißt du, wo Ralph hin ist?« Er blickte auf sein Essen. »Er ist nach Pewamo geflogen. Soviel haben meine Agenten herausgefunden.« »Oh, du mußt dem Jungen wirklich schreckliche Angst eingejagt haben. Na, dann wird eben jemand nach Pewamo fliegen und ihn nach Hause bringen müssen. Du weißt doch, daß Rosalie ganz allein auf der Welt steht und Ralph ihre einzige Stütze ist.« Admiral Beagle schüttelte den Kopf. Er wußte, wen seine Frau im Sinn hatte. »Soll Ralph doch von sich aus zurückkommen. Wenn Rosalie ihn früher wiederhaben will, kann sie ihn doch selbst holen.« »Du weißt doch, daß Rosalie nicht selbst nach Pewamo fliegen kann. Walter, aber wirklich! Soll denn ich gehen?« Er sagte nichts, sondern aß weiter. Typisch. Sie sagte jedoch auch nichts, und das war untypisch, so daß er sich nach mehreren Minuten des Schweigens umdrehte und feststellte, daß sie verschwunden war. Ihm fiel ein markiges Bonmot ein, aber er wagte nicht, es dem leeren Zimmer gegenüber auszusprechen. Allerdings wiederholte er es in der Heiligkeit seines Geistes. Er konnte es sich nicht leisten, seine Frau nach Pewamo fliegen zu lassen. Das hätte ihr einen zu großen moralischen Vorteil gegeben. Andererseits hatte er auch nicht das Verlangen, seinen Neffen zu finden, ihm seine ein- und vielfältigen Missetaten zu vergeben und ihn zu bitten, nach
Hause zu kommen. Auch das hätte bedeutet, einen moralischen Vorteil zu vergeben. »Ralph von Pewamo heimholen?« sagte er laut. Ja, bei Gott; aber an den Ohren. »Also gut. Ich tu’s.« Seine Frau erschien unter der Tür. »Danke, Walter«, sagte sie. Und so machte er sich auf nach Pewamo. Ah, auf zur Versöhnung!
Solomon »Biff« Dreznik hockte in einem Dschungeldickicht, bereit, jeden Augenblick zuzuschlagen. Lohfarbene Hitze hüllte ihn ein. Staubteilchen trieben träge im Sonnenlicht. Er wartete, Villiers nun dicht auf der Fährte. Die meisten Leute leben sehr beschränkte Leben. Farmer verbringen ihr Leben auf Farmen. Krämer verbringen ihr Leben in Läden. Schauspieler verbringen ihr Leben in den Büros von Agenten. Meuchelmörder jedoch sehen das Grün und das Braun des Lebens. Sie kosten die süße, saftige Frucht, die die meisten Menschen nur als blasse, künstliche Geschmacksstoffe kennen. Die Gelegenheit, weit herumzukommen und Menschen aller Stände zu studieren, war einer von Drezniks Gründen, ein Meuchelmörder zu werden. Drezniks ausgedehnte Erfahrungen mit den Wechselfällen des Lebens gestatteten es ihm, von Rechts wegen Mutmaßungen anzustellen, die vorzubringen es einem Farmer, einem Krämer oder einem Schauspieler an Sachverstand ermangelt hätte. Zum Beispiel hätte ein berufsmäßiger Gärtner voller Selbstvertrauen gesagt, was Dreznik etwas weniger selbstsicher sagen mochte: daß nämlich Lord Broccoli das Interesse daran verloren hatte, seine Gärten in einem ordentlichen Zustand zu erhalten. Für weniger erdverbundene Menschen hätte es sich jedoch nicht geschickt, wie
verschiedentlich geschehen, die Ansicht zu äußern, daß die Gärten völlig zugrunde gingen. Sei es an dem. Immerhin boten sie Solomon »Biff« Dreznik einen Platz, wo er hocken und beobachten konnte. Zwei Geräusche waren das einzige Anzeichen seiner Gegenwart – ein kaum vorhandenes Atmen und das für menschliche Ohren unhörbare Summen seiner persönlichen Klimatisierungseinheit. Er kannte die gewohnheitsmäßigen Abläufe des Haushalts. Jeden Augenblick würde jetzt Lord Broccolis getreuer Familienrobot Morris die große Steintreppe aus dem Haus herunterkommen, den Rasen mit blecherner Würde überqueren und die Blasenfledermausfütterungsstation mit einer ausgewählten Mischung aus zweiundsechzig Prozent Farofa, dreiunddreißig Prozent Samen und Nüssen und fünf Prozent Süßigkeiten und kleinen Überraschungen füllen. Dreznik hatte die Mischung analysiert und diese Zusammensetzung an drei aufeinanderfolgenden Tagen festgestellt. Jeder objektiv denkende Mensch hätte gesagt, Dreznik sei durch und durch verderbt. Er tötete Leute für Geld und manchmal um des Vergnügens willen. Auf seiner Karte stand: »Kontaktieren Sie Dreznik – Livermore.« Daneben befand sich ein Schädel mit einer Rose im Auge, und in der unteren linken Ecke stand: »Solomon ›Biff‹ Dreznik« und die Adresse seines Agenten. Jetzt wartete er darauf, daß Morris kam. In der Hand hielt er eine Blechschere. Seine Erscheinung war düster und morbid. In den meisten Branchenleitfäden wurde Dreznik hoch eingeschätzt, aber einige wenige hatten Vorbehalte. Seine Liste erfüllter Aufträge war gut, aber er war dreimal getötet worden, wo doch einmal im allgemeinen als äußerste Grenze des Glücks angesehen wurde. Seine Tode schienen weiter keine
Auswirkungen auf ihn gehabt zu haben, außer ihn noch düsterer und morbider zu machen. Blasenfledermäuse, braune und weiße und graue, begannen aus den Himmeln herabzutreiben, und Dreznik sammelte sich, wobei sein Geist den Angriffsrhythmus fand, den Löwen mit einem metronomischen Schlagen ihres Schwanzes ausdrücken. Morris schritt langsam zwischen den verwilderten Gartenreihen einher und zirpte den Blasenfledermäusen zu. Er ahnte nichts Böses. Dreznik wartete bis zum richtigen Augenblick, bis Morris genau auf seiner Höhe war und nur noch einen Schritt entfernt, und glitt dann aus den Büschen. Gleiten war eigentlich nicht, was er vorgehabt hatte, aber sein linker Fuß war weniger sicher aufgestellt gewesen, als für einen wirkungsvollen Angriff notwendig war. Er schlug mit dem Gesicht ins Gras. Mit offensichtlichem Stolz auf sein irrationales Verhalten, das ihn zu mehr als einer Maschine machte, floh Morris mit lautem Gekreische. Die Geschichten, die sich Roboter des Nachts erzählen, sind sogar noch gruseliger als die zwölfjähriger Jungen, und Morris war ein alter Robot. Um vom Hause aus sichtbar zu sein, mußte Morris das Ende der Gartenreihe erreichen. Augenblicklich war Dreznik wieder auf und hinter dem kleinen Robot her, wobei er einen verknacksten Knöchel ignorierte, auf dem ein weniger gut geschulter Mann gar nicht hätte laufen können. Die Blasenfledermäuse verteilten sich gleichmäßig und stiegen in die Luft. Ihre wachsamen schwarzen Augen beobachteten die wildverwegene Jagd durch den Garten mit einer Neutralität, die wenig Dank für ihr tägliches Farofa erkennen ließ. Immerhin stießen sie gelegentliche schwülstige Quiekser aus, aber die waren dem Wesen nach eher Kommentare als Rufe um Entsatz.
Keine Hilfe erschien. Dreznik überholte Morris fünf Meter vor dem Ziel mit einem letzten Sprung und fällte ihn mit einem unbarmherzigen Hieb gegen das Befehlszentrum. Er beugte sich über den Robot und zückte seine Blechschere. »Ich weiß, wie ich aus dir herausbekomme, was ich wissen will«, sagte er. Nicht zufrieden damit, Villiers’ Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht zu haben, ließ Dreznik Morris als metallenen Schrotthaufen zurück, ein wirres Durcheinander abgetrennter Arme und Beine und Rumpfpartien mit seinem Kopf als piece de résistance obendrauf. Dreznik floh auf demselben Weg, den er auch gekommen war, über eine hohe Ziegelmauer am unteren Ende des Gartens. Ein paar Minuten, nachdem er verschwunden war, trieb eine neugierige gescheckte Blasenfledermaus herab und schwebte über der Rose, die Dreznik in Morris’ linkes Auge gesteckt hatte. »Sch!« sagte Morris schwach, und die Blasenfledermaus stieß ein übergangslos abbrechendes Dudelsackhupen aus und stieg wieder hoch. Am Raumhafen von Shiawassee kaufte Dreznik ein Ticket nach Duden und richtete sich mit endloser Geduld darauf ein, auf sein Schiff zu warten. Seine Knöchel arbeiteten nicht mehr paarweise, und er humpelte, wenn er ging, aber das war bedeutungslos für diesen düsteren, morbiden, nicht abzuschüttelnden Mann. Er saß da, beobachtete die Welt und wartete auf sein Schiff.
Fillmore Djaha war von seiner Begegnung mit Torve dem Trog ebenso angeregt wie Ralph und John. Als er in der frühen Morgendämmerung den Park verließ, Farbwahl bei der galaktischen Pantographie mit leichtem Ellbogendruck unter dem Mantel an sich gepreßt, war auch er noch nicht bereit, die
Nacht ausklingen zu lassen. Folglich schlug er, als er immer noch hüpfend sein Zuhause erreichte, das Buch auf, das er geklemmt hatte, und begann es zu lesen. Fillmore war ein ununterbrochen emsiger Mensch, sein Geist und seine Hände immer beschäftigt zu gutem Nutz und Frommen. Er war ein Macher, was selten und gut ist. Das war à droite. À gauche tat er alles, dem er sich zuwandte, ohne jegliche Wertabstufung, ohne wahrnehmbaren Grad an Vorwärtsentwicklung und ohne sichtbare Auswirkungen auf ihn selbst. Er hatte seinen Weg zur Yagootrie gefunden, und wenn die bisherige historische Entwicklung überhaupt eine Richtschnur darstellt, so würde er auch wieder seinen Pfad von ihr fort finden. Bei ihrem Sprößling hatten Filimores Eltern nur die übliche Wahl zwischen Akzeptieren und Ablehnen. Sie hatten sich fürs Akzeptieren entschieden. Sie irritierten ihre Nachbarn, indem sie nicht nur das Betragen ihres Sohnes verziehen, sondern sogar darauf bestanden, daß er sich als ebenso erfolgreich wie jedes ihrer anderen Kinder erweisen würde, wenn man ihm nur Zeit ließe. Sie irritieren ihre Freunde, indem sie im privaten Gespräch zugaben, daß sie sich nicht besonders darum scherten, ob es nun dazu kam oder nicht. Und sie gaben keinen Kommentar ab, als er am frühen Morgen heimkam und ein Buch zu lesen begann. Es war Filimores Leben und Filimores Weg. So groß war die Fillmore eigentümliche Konzentrationsfähigkeit, daß er nicht von jener Schläfrigkeit geplagt wurde, die Ralph und John heimgesucht hatte. So groß war der anregende Effekt Morgensterns, daß er das Buch nicht weglegte, bis er nicht die letzte Seite umgeblättert hatte, von einer ständig zunehmenden Erregung erwärmt, während er las. Dabei ist Morgenstern eigentlich gar nicht so besonders. Die These ist annehmbar, aber der Stil ist mittelmäßig.
Erfolgreiche Bücher müssen jedoch nicht unbedingt gut sein – sie müssen nur im rechten Augenblick auftauchen. Dieses Buch war erfolgreich. In dem Augenblick, als er es beendet hatte, dachte Fillmore, daß es leicht das anregendste Buch sein mochte, das er je gelesen hatte. In jenem Augenblick wollte er nichts mehr, als wieder am Anfang beginnen und es noch einmal ganz durchlesen, aber er unterdrückte den Impuls, um sich lieber mit köstlicher Vorfreude zu quälen. Unter dem Einfluß einer unwiderstehlichen Anwandlung setzte Fillmore sich hin und schrieb einen Brief an Morgenstern. Er sagte ganz gewöhnliche Dinge in nicht ganz so gewöhnlichen Worten. Er brachte zum Ausdruck, daß er das Buch in einem Durchgang gelesen und daß es ihm sehr gefallen habe und daß es hier in letzter Zeit ziemlich langweilig gewesen sei, aber dieses Buch habe all das geändert. So groß war jedoch sein Feuer, daß der Brief zu sagen schien: »Manche Bücher muß man einfach verschlingen« und »Wie lieb’ ich dich? Laß mich die Arten meiner Liebe zählen« und »Tage des Kummers brachten mich zum Weinen, jetzt schau’ ich auf und seh’ die Sonne scheinen.« Er hatte den Brief eben beendet und las ihn noch einmal auf Sinn und Klang gegen, als Ralph vom Raumhafen anrief. »Ralph, hör’ dir das mal an.« »Ich habe keine Zeit«, sagte Ralph. »Mein Schiff startet gleich.« Das war eine komische Äußerung aus Ralphs Mund, aber so groß war Filimores Zielstrebigkeit, daß er gar nicht darauf achtete, sondern einfach zu lesen begann. Nach einem anfänglichen symbolischen Protest hörte Ralph zu. Für gewöhnlich hätte er das nicht getan, aber er hatte es wirklich eilig. Als Fillmore fertig war, berichtete Ralph ihm von dem Trip nach Pewamo, und endlich wirkte die Neuigkeit.
»Komm’ doch ‘rüber«, sagte Ralph. »Je mehr, desto fröhlicher.« »Nach Pewamo?« »Es ist zwar nicht in, aber genau da fliegen wir hin. Das ist der Ort, wo’s rundgeht.« »Auf nach Pewamo«, sagte Fillmore. »Ich bin morgen da.« Er unterbrach die Vid-Verbindung in der Aufwallung eines manischen Anfalls. Er tanzte im Raum umher und trällerte »Pewamo, Pewamo, Pewamo, Pewamo, Pewamo, Pewamo.« Es war so viel Gefühl in ihm, daß er unbedingt ein Ventil dafür finden mußte. Es war eine Sucht, ein Zwang. Der Wahnsinn brachte seinen Geist dazu, einen Sprung von einer Art zu machen, wie er ihn nie zuvor gemacht hatte, und er wurde dazu getrieben, ein früheres Interesse Wiederaufleben zu lassen, um einem gegenwärtigen zu dienen. So wachsen wir über uns hinaus, wenn die Umstände es erfordern. Er brüllte seiner Mutter eine Frage nach seiner DupAusrüstung zu, und bevor sie noch antworten konnte, erinnerte er sich schon selbst daran, wo sie verstaut lag. Er grub sie aus, worauf sich die Notwendigkeit erhob, alles, was er beiseite geworfen hatte, wieder an Ort und Stelle zu räumen, damit er Platz zum Arbeiten bekam. Er reinigte die Ausrüstung, ersetzte ein kaputtes Leitlicht und ging los, um das notwendige Einsatzmaterial zu kaufen. Er hatte im Sinn, eine Kopie des Morgenstern-Buches für sich anzufertigen. Wenn er Villiers demnächst wiedersah, dachte er, würde es taktisch klug sein, ihm sein Buch zurückzugeben. Als er mit der ersten Kopie fertig war, hörte er nicht etwa auf. Er machte gleich noch eine. Ihm fiel jemand ein, dem er sie schenken konnte, und er machte noch eine Kopie, und wieder fiel ihm jemand ein, dem er sie schenken konnte. Nach zehn Kopien mußte er losgehen und weiteres Material besorgen.
Er schlief nicht. Er arbeitete bis tief in die Nacht daran, Morgenstern zu kopieren. Als ihm das Material wieder ausging, hatte er dreiundsiebzig Kopien und dreiundsiebzig Leute, denen er diese Kopien schicken konnte. Ohne eine Pause machte er die Bücher zum Verschicken fertig. Er gab sie kurz nach der Morgendämmerung auf, zusammen mit seinem Brief an Morgenstern. Sein Vater frühstückte gerade, als er nach Hause zurückkam. Müde hockte er sich dazu. »Ich bin unheimlich schläfrig«, sagte er. »Könntest du mich zum Raumhafen bringen und mich in das Ausflugsschiff nach Pewamo setzen?« Sein Vater, der zu den sehr netten Menschen gehörte, tat, wie ihm geheißen. Und damit war wieder einer mehr unterwegs nach Pewamo.
Wie Villiers schon Gelegenheit gehabt hatte, zu bemerken, war Sergei Gilfillian ein liebenswerter junger Mann ohne Arg in sich. Es ist eine Ironie, daß seine Mutter, die ihn viel besser kannte, als Villiers ihn je kennenlernen würde, ihrem eigenen Urteil so stark mißtraute, daß sie Villiers’ Bestätigung benötigte. Aber freilich hatte sich Sergei auf eine Weise benommen, die sie seit einiger Zeit nicht mehr begriff. Was konnte sie anderes tun, als das Schlimmste denken? Villiers’ Bestätigung änderte nichts an Sergeis Verhalten. Er kam von der Arbeit nach Hause und schlief. Er nahm das Essen gemeinsam mit ihr ein, ignorierte aber die meisten ihrer Fragen. Sie erkundigte sich, ob Lord Charteris’ Freund Sergei gefunden hatte. Sie war nicht in der Lage gewesen, sich daran zu erinnern, welchen Planeten er als seinen Zielort angegeben
hatte, und hatte den Mann darum zu ihrem Sohn geschickt, damit er mit dem sprechen konnte. Sergei sagte: »Ja. Mr. Kuukkinen. Nach Mandracore, habe ich ihm gesagt.« Nach dem Abendessen ging er auf sein Zimmer und schloß die Tür ab. Das war es, was sie nicht begriff. Sie erwog, zu klopfen und nachzufragen, ob alles in Ordnung sei, tat es aber dann doch nicht. Jedenfalls nicht für eine Weile.
IV
Innerhalb der Grenzen des Nashuite-Imperiums gibt es viele Welten, die zu besuchen nur einer beschränkten Zahl von Menschen erlaubt ist. Innerhalb der Grenzen des NashuiteImperiums gibt es fünftausend Welten, die völlig geschlossen sind. Früher waren es mehr als dreimal so viel, aber die Zeiten ändern sich, und die Menschen lernen, mit dem Unbekannten fertig zu werden. Nicht alle Geschlossenen Planeten sind gefährlich. Zumindest einige in jedem Oktanten sind Frühlingslande, die man für den Gebrauch durch ein paar Hochgestellte reserviert hat. Es gibt eine unendliche Zahl gesetzlich geregelter Gründe, um Welten zu schließen, aber im allgemeinen fallen sie in zwei Kategorien: Einfache Menschen müssen vor gefährlichen Welten geschützt werden. Einfache Welten müssen auch geschützt werden. Pewamo war aus einem ganz besonderen Grund eine geschlossene Welt gewesen. Im Jahre 1187 hatte ein Statistiker namens Bohunir Hinkle (an den man sich in Schachkreisen im allgemeinen wegen seiner Fähigkeit, die Mittelposition zu halten, und im besonderen wegen Hinkles Gambit erinnerte) einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Wahrscheinlichkeit intelligenten Lebens auf Planeten nachwies, die einer Liste spezieller Kriterien genügten. Einige dieser Kriterien waren altvertraut: kleiner Planet, großer Mond – die alte »Gezeitenbeeinflussungs-Theorie«. Andere hingegen waren weniger vertraut: Jodkonzentration und das, was Hinkle den Solimoes-Faktor nennt, nach dem Planeten gleichen Namens. Pewamo, eine von sieben Welten, die zu achtzig Prozent oder
mehr Hinkles Kriterien entsprachen, wurde 1189 geschlossen und daher folgerichtig nicht in den Tanner-Trust integriert, als jener im Jahre 1207 zusammengeschustert wurde, und das trotz seiner großen räumlichen Nähe zum Zentralplaneten des Trusts. Hinkle verwarf später seine eigene Theorie wieder, als er einen ständig wiederkehrenden Fehler in den Daten entdeckte, auf denen er seinen Solimoes-Faktor gegründet hatte. Eine andere Folge war natürlich der Solimoes-Skandal, der mit der Suspendierung einer vollständigen Planetenkommission endete. Heute erinnert sich kaum noch jemand an Hinkles Theorie, außer vielleicht begeisterte Anhänger des Schachspiels und der Regierungskorruption, aber die Planeten, die als ein Ergebnis seiner Theorie geschlossen worden waren, blieben geschlossen. Schließlich wurde auf zweien von ihnen intelligentes Leben entdeckt, jedoch nicht auf Pewamo. Da es keinen anderen Grund gab, ihn geschlossen zu lassen, wurde Pewamo zu gegebener Zeit wieder geöffnet. Im Jahre 1462 war Pewamo immer noch wild und weitgehend unerschlossen. Trotz seiner Nähe zu Shiawassee, seines angenehmen Klimas, seines großen Mondes und seines Jods sah Pewamo nur wenige Ferienreisende. Zu jener Zeit unterhielt sich nur Four Points, die ersterbaute unter den Ansiedlungen Pewamos, aus eigener Kraft. Shiawassee war konservativ, und es ist allgemein bekannt, daß Niemand-derwer-ist einen Ort aufsuchen wird, den Niemand-der-wer-ist aufsucht. Womit Pewamo gemeint ist.
Drei untereinander verbundene Vulkangipfel bilden das Rückgrat der Binkin-Insel. Die Insel war in der üblichen Weise benannt worden – durch ihren Entdecker, Seymour Binkin,
nach sich selbst. Die drei Gipfel heißen Mount Seymour, Mount Ernest und Bount Binkin. Wenn Sie die Namen mehr als zehnmal laut aussprechen, gewinnen sie irgendwie eine gewisse Majestät – werden zu mächtigen Namen für mächtige Berge. Mount Binkin ist der mittlere und höchste Gipfel. Orte haben, wie Menschen, ihre eigene Persönlichkeit. Manche sind Typen, die man immer und überall wieder antrifft. Manche sind Individuen. Manche fallen gleich beim ersten Kennenlernen ins Auge. Mit manchen muß man erst lange vertraut sein, um sie zu lieben. Manche brüten dumpf vor sich hin, manche sind sanft und scheu. Manche verrückt, manche wild. Manche hartnäckig und geduldig. Die Gipfel der Binkin-Insel sind Fortsätze eines einzigen großen Meeresberges, der sich dreißigtausend Fuß vom Meeresgrund und weitere fünfzehntausend bis zur Spitze des Mount Binkin erhebt. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs. Aus den Bergen steigt ununterbrochen Rauch auf, aber er ist nur schwer von Nebel und Schnee zu unterscheiden. Auf den Spitzen der Berge liegt ewiger Schnee. Gletscher ergießen sich aus Hochtälern und bilden hoch oben auf den Bergschultern Hermelinbehänge. Es gibt vier Wälder in unterschiedlichen Höhen, jeder Wald mit seiner eigenen reichen Vielfalt an Bäumen, seinen eigenen Tieren und Vögeln. Wo der Blitz eingeschlagen und ganze Morgen verbrannt hat, gibt es Wiesen voller Blumen. So ist es möglich, dem Frühling von Wiese zu Wiese den Berg hinauf zu folgen, die gleichen Blumen wieder und wieder erblühen zu sehen und Zugvögel zu beobachten, die mit dem sich ändernden Wetter höher und höher wandern. Eine braune Straße windet sich um die Insel herum, manchmal dicht an der Meeresküste, manchmal der Gebirgsflanke folgend, manchmal verloren in bewaldeten Tälern außerhalb der Sicht von Bergen und Meer. Straßen sind
geduldig, und diese bescheidet sich damit, auf ewig an der Spitze ihres eigenen Schwanzes zu knabbern. Die Green Mountain-Siedlung liegt auf den unteren Hängen des Mount Binkin. In ihrer Nähe finden sich eine Handvoll Farmen und das Hauptquartier des Entwicklungsareals. Es gibt sieben entwickelte Campingareale. Diese und die Straßen sind das einzige Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen auf der Insel. Die gesamte ortsansässige Bevölkerung beläuft sich auf 247. Die Insel ist von Amts wegen geprüft und freigegeben worden. Dabei hat man zwei große und potentiell gefährliche Fleischfresser entdeckt und Schilde der Klasse B entwickelt, um mit ihnen fertig zu werden. Zu diesen zwei Tierarten sagt so ein Schild rundweg: »Ich rieche nicht angenehm. Ich bin widerlich. Widerlich. Wenn du mich ißt, mache ich dich krank!« Kleinere Raubtiere sehen und riechen die Menschen, wie sie wirklich sind, und fällen ihre eigene Entscheidung.
Das Ideal der Großen Biber ist, nackt in der Wildnis anzufangen und die Zivilisation zu reproduzieren. Um der anderen willen hatte Fred einen Kompromiß mit diesem Ideal geschlossen und sich mit einem gemäßigt einfachen Leben begnügt. Am ersten Abend errichteten sie auf einer Bergwiese Zelte und legten ein Feuer an. Eine frische, klare Nacht. Am Morgen kam Nebel auf. Alles, was er berührte, machte er kalt und klamm. Villiers schob sich nur ungern aus seinem warmen Bett. Er stand auf, einen Fuß in seinem wirr zusammengeknäuelten Bett und den anderen auf dem glatten Zeltboden. Der Temperaturunterschied war erschreckend. Er setzte seiner ästhetischen Würdigung des Kontrasts Grenzen, indem er seinen kalten Fuß geschwind wieder einzog.
Während sich auf seinem ganzen Körper eine Gänsehaut bildete, zog er erst einmal Strümpfe an. Dann verfiel er in einen den Kreislauf wiederherstellenden Tanz: hopp, hopp, ein Hosenbein; hopp, hopp, das andere. Das Gürtelschloß hopp, hopp. Gedämpfte Wiederholung des Themas mit dem Überkleid. Balance, Schuh an. Balance, Balance verloren. Balance, der andere Schuh. Jackett und Gerinner vom Boden aufgehoben und raus aus dem Zelt. Fred und Torve waren schon auf und mit nützlichen Dingen beschäftigt. Um sich sein Frühstück zu verdienen, ging Villiers los und holte Wasser. Wie Fred hatte auch er sich in den zehn Jahren verändert. Es war eine Viertelmeile durch Gras, um Felsen herum und zwischen Bäumen hindurch. Der Tag wurde Zusehens heller, als er dem, was langsam zu einem Pfad wurde, zurück den Hügel hinauf folgte, wobei das Wasser in seinen Eimern eine arhythmische Begleitung zu seinen ungleichmäßigen Schritten schwappte. Als er die Eimer absetzte, ließ er seine rechte Schulter rotieren. »Ich wußte doch, daß sie steif werden würde«, sagte er. »Was ist los?« erkundigte sich Fred, während er ihm einen Teller mit heißem Essen reichte. Villiers demonstrierte, daß er keinen Dauerschaden erlitten hatte, indem er den Teller mit seiner rechten Hand entgegennahm. »Das soll heißen, daß ich diese Ferien dazu nützen werde, ein paar vernachlässigte Muskeln zu trainieren.« Das Motto dieses Urlaubs lautete Folge deinem eigenen Behilfe. Villiers interessierte sich für schöpferische Aktivitäten. Fred wollte erkunden und die angemessene Weidmannskunst entdecken, um mit der Binkin-Insel fertig zu werden. Torve hatte vor, den größten Teil seiner Tage zwei Meilen entfernt in der Green Mountain-Siedlung zu verbringen
– das heißt, wenn die Ereignislinien nichts anderes bestimmten. Villiers trödelte immer noch mit seinem Frühstück herum und Fred rieb sich seinen Schnurrbart mit einem Handtuch trocken, als Torve sorgfältig die Dinge, die er mitnehmen wollte, auf die hintere Ladefläche seines roten Dreirads lud und aufstieg. Er strampelte davon, den Pfad entlang, begleitet vom Winken Freds und Villiers’. Das Fahrrad ist das beste primitive Fortbewegungsmittel, das die Menschheit je erfunden hat. Villiers und Fred hatten Fahrräder, aber Trogs und Fahrräder sind so inkompatibel wie Menschen und die Tretkurbelscheiben, in denen die Durelianer ihre Straßen entlangrollen. Mit dem großen Dreirad mit dem Schaufelsitz kam Torve jedoch hervorragend zurecht, und auf abschüssigen Strecken erreichte er sogar eine beträchtliche Geschwindigkeit. Bei stetigem Strampeln konnte er die drei Kilometer in weniger als einer halben Stunde zurücklegen. Er brauchte allerdings doppelt so lange, weil er am Straßenrand anhielt, um sich mit einer freundlichen rosa Wolke zu unterhalten.
Villiers kniete neben dem Feuer. Vorsichtig setzte er seine Tasse ab und spannte sich. Wenn sie ihn gefunden hatten, war es zu früh. Er war noch nicht bereit. Dann lockerte er sich wieder, sagte »Fred« und deutete auf etwas. Fred drehte sich um. Der knochige Junge am Waldrand zögerte auf der Schwelle zur. Flucht und kam dann näher. Er hielt seinen Hut in der Hand. Sein schwarzes Haar, beinahe schulterlang wie das von Fred und Villiers, war an den Seiten geknotet. Er trug einen eine Nummer zu großen blauen Mantel zum Schutz gegen die dünne Morgenkälte.
»Meine Herren«, sagte er in zurückhaltendem Ton. Aus einer verlegenen nachträglichen Überlegung heraus wedelte er mit dem Arm, eine Geste, die man als einen Selam deuten konnte. Villiers’ Umgangsformen konnten überall in der kultivierten Gesellschaft bestehen. Die von Ralph konnten mühelos auf Shiawassee bestehen. Die dieses Halbwüchsigen konnten nirgendwo bestehen als auf einem ländlichen Planeten. Nirgendwo als auf Pewamo. Es war offensichtlich, daß er keine formelle Ausbildung in Anstand genossen hatte. Er verdrehte den Hals in die eine Richtung und dann in die andere. Villiers sagte: »Setzen Sie sich. Möchten Sie etwas zu trinken?« Fred berührte seinen Schnurrbart mit zögernden Fingern, die die Bestätigung suchten, daß er immer noch über seinen Lippen sproß und gedieh. Als er herausgefunden hatte, daß dem so war, fragte er: »Womit können wir Ihnen behilflich sein?« Dieser Junge war einer derer, mit denen die Kommunikation zu einer Angelegenheit freundlicher, sanft führender Fragen wird, die entweder ignoriert oder mit einem kaum merklichen Nicken beantwortet werden. Schweigeperioden von beunruhigender Dauer. Wenige Worte, und die weder wohlgesetzt noch voll Selbstvertrauen ausgesprochen. Undurchdringliche, gesenkte Augen. Er wurde zu einem Felsen geführt, wo er sich hinsetzte, und bekam einen Becher in die Hand gedrückt. Villiers und Fred kauerten sich auf ihre Hinterbacken, um nicht bedrohlich zu wirken, und stellten sich vor. Der Junge sagte nicht, wer er sei. Er richtete allerdings seine Augen auf das Abzeichen der Großen Biber an Freds Rock und zeigte dann scheu ein Exemplar des Buchs der Großen Biber. Fred sagte: »Sind Sie ein Großer Biber?«
Keine Reaktion. Fred fing die Unterhaltung im letztmöglichen Augenblick auf. »Wir sind beide Große Biber.« Keine Reaktion. »Wir sind beide Oberbiber.« Keine Reaktion. Ein Schweigen dieser Art ist weder leer noch dumm. Es ist ein wildes, gefangenes, intelligentes Schweigen, das einen Sprecher herausfordert, Tiefgründiges von sich zu geben, und unweigerlich dazu führt, daß er in albernes Geschwätz verfällt. »Äh-hem, gibt es eine Abteilung der Großen Biber auf Pewamo?« (Eine Reaktion. Eine Reaktion.) Ein kleines NeinKopfschütteln. Villiers sagte: »Ich glaube, deine Fragen gehen in die richtige Richtung.« »Aber Sie möchten gerne ein Großer Biber werden? Möchten Sie gerne ein Großer Biber werden?« Zweimaliges klar erkennbares Nicken. Dann versteckten sich schwarze Augen hinter dem Becher. »Tja, Fred«, sagte Villiers, »das ist eine echte Herausforderung. Und ebenso eine Pflicht, wie ich es sehe.« Fred meinte: »Du warst immer einer, der Hürden erfand, über die man springen mußte. Aber warte mal einen Augenblick. Warte hier und rühr’ dich nicht vom Fleck. Wir wollen doch mal sehen, was sich da machen läßt.« Der Junge blickte sie beide mit starker, ruhiger Anteilnahme an. Villiers blickte mit ebensolcher Anteilnahme zurück. Fred war viel zu beschäftigt, um irgend jemanden anzublicken oder überhaupt auch nur etwas wahrzunehmen. Mit vier leuchtend grünen Bänden auf dem Arm trat er aus dem Zelt in den gescheckten Sonnenschein. Er schleppte sie zu ihnen hinüber und ließ sie auf den Boden plumpsen.
»Da«, sagte er. »Die Pewamo-Berichte. Was für ein Glück, daß ich daran gedacht habe, sie mitzubringen. Damit sollten wir in der Lage sein, die grundsätzlichen Normen für die Großen Biber der Binkin-Insel aufzustellen. Wie war doch gleich Ihr Name?« Schlucken. Sehr langsam: »David Clodfelter, Sir.« »Können Sie jeden Morgen kommen, David?« Ein Nicken. Villiers erkundigte sich: »Willst du deine eigene Charta unterzeichnen?« »Warum nicht?« meinte Fred. Dann sagte Fred: »Hast du eigentlich immer noch diesen Block mit den Allzweckformularen?« gerade zur selben Zeit, als Fred sagte: »Ich habe immer noch meinen Formularblock, weißt du.« Sie lachten, und dann verkündete Fred: »Ich, Fred Fritz, bin Manitou der Binkin-Insel.« »Ta-daa«, sang Villiers zur feierlichen Untermalung des Gründungsfestes, und der Junge lächelte einen winzigen Augenblick lang. »Tony, du bist der Erste Graupelz.« »Einverstanden.« »Und Bewahrer des heimischen Feuers.« »Das hättest du aber mit viel mehr Selbstvertrauen sagen müssen. Nein, du mußt sowieso deinen eigenen Ton finden. Hör mal, ich mache dir ein Angebot. Wenn du deine Zeit damit verbringen willst, David zu einem Großen Biber zu machen, kümmere ich mich um den ganzen Kram hier, erledige die Kocherei und schwinge den Wedel.« »Willst du mich vermickymausen?« erkundigte sich Fred mißtrauisch. »Das ist aber nicht der Villiers, an den ich mich erinnere!« »Habe ich dich je belogen?«
»Ich könnte mich jedenfalls nicht dran erinnern.« »Dann nimm mich beim Wort.« »Ich nehme dich beim Wort. Ich sage gerne ja, aber ich begreife es nicht.« »Sag einfach ja. Das ist die beste Art, das Leben anzugehen.« Fred winkte Jung-David, sich zu erheben. Der Junge stand auf. Während ihres Wortabtauschs war sein Blick regelmäßig von einem zum anderen gewandert, wobei sie immer ein kleines bißchen größer wurden, wenn sie Fred anschauten. Und das war ganz natürlich – Manitous sind gespannter Aufmerksamkeit würdiger als Erste Graupelze. Schweigend stand er stramm. »David, du bist jetzt ein Paddelschwanz. Wir werden sehen, ob wir dich nicht ein paarmal befördern können, bevor ich wieder abreisen muß. Du kannst mich Fred nennen. Heute unternehmen wir einen Erkundungsmarsch, und dabei gehe ich die Grundregeln der Großen Biber mit dir durch. Tony wird dich abfragen, wenn wir zurückkommen.« Es mag seltsam erscheinen, daß jemand von draußen sich so mir nichts, dir nichts selbst zum Manitou der Binkin-Insel ernennt, aber das hier war nicht das erstemal, daß Fred eine neue Abteilung der Großen Biber begründet hatte. Insbesondere wußte er, wie man mit einer Vielzahl von Klimata, Terrains, Flora und Fauna fertig wurde. Aber was noch besser war, er kannte seine Leitsätze gut genug, um angemessen auf das Unbekannte reagieren zu können. Andererseits berechtigt jemanden die Tatsache, Eingeborener eines Planeten zu sein, zu nicht mehr als dem Rang eines Paddelschwanzes. Wenn man etwas mehr weiß, kommt man leicht darauf. Die meisten kommen aber nie darauf. Nachdem Fred und David zu ihrem Marsch aufgebrochen waren, begann Villiers, das Lager mit kritischem Auge zu überprüfen. Er stöberte in seinem Gedächtnis und in Freds
Handbüchern nach dem Möglichen und dem Nötigen. Latrinengruben. Er wählte einen Platz für sie aus. Eine Abfallgrube. Eine Kochgrube. Abflußkanäle rings um die Zelte. Ein Dreibein, um die Wasservorräte daranzuhängen. Ein Spieß über dem Feuer. Villiers sah sich die Bäume und Felsen im Bereich des Lagers sorgfältig daraufhin an, wie man sie zum Nutzen der Bequemlichkeit verwenden konnte. Er hob die Abfallgrube sofort aus und beseitigte die Reste des Frühstücks. Als er damit fertig war, hatte sich die Luft entweder erwärmt, oder aber er hatte sich genügend körperlich betätigt, um diesen Eindruck zu gewinnen. Er wusch und trocknete seine Hände und griff nach zweien der Mrs. Waldo Wintergood-Büchern, Sammy schwimmt stromauf und Der kuschelige Winter. Er klemmte sie sich unter den Arm und stromerte los. Als kleine Übung suchte er den Weg, den Jung-David gekommen war, und verfolgte seine Fährte so weit durch die Wälder zurück wie eben möglich. Dann bog er ab und schlug einen weiten Kreis um das Lager, wobei er die Schönheit des Maude Binkin-Gedächtnis-Campingplatzes in all ihrer Vielfalt bewunderte. Er war nicht so außer Kondition, wie er befürchtet hatte, aber als er am oberen Ende der Wiese wieder aus dem Wald herauskam, war er trotzdem ganz zufrieden damit, anhalten und sich hinsetzen zu können, um auszuruhen und zu lesen. Er war so erhitzt, daß er eine Jacke ablegte, aber nach wenigen Minuten zog er sie wieder an. Die windbewegte Wiese war kühler als erwartet. Er las Mrs. Waldo Wintergood. Er las die Bücher mit großem Vergnügen. Es waren Tiergeschichten, die eine über einen armen blinden Fisch, der sich tapfer stromaufwärts kämpft und in Ekstase verscheidet, um in höherer Form wiedergeboren zu werden, die andere über eine Mutter und ihre Jungen in einem
warmen unterirdischen Bau unter hoch aufgetürmten Schneewächten und einem Wind, der Eiszapfenlieder singt, und ihr Hinaustreten in das Rosa und Grün des Frühlings. Die meisten Leute haben ihre Freude an Geschichten über das Wirken der Natur. Diese Bücher jedoch verrieten mehr über das Wirken der Natur, als ein konservativer shiawasseeanischer Autor nach menschlichem Ermessen aussagen wollte, und wurden zweifellos unbewußt von ihren Lesern aus eben diesem Grunde geliebt. Villiers für seinen Teil mochte sie sowohl als Tiergeschichten und als Metaphern. Er blickte flüchtig auf und sah etwas, das auf ihn wie eine kleine rosa Altokumulus-Wolke wirkte, die dreißig Fuß über den Lagerzelten in der unteren Wiese hing. Sie schwebte dort ein paar Minuten lang, wobei sie an eine elegante freitragende Kunstfrisur erinnerte, und trieb dann langsam den Berg hinunter. Villiers nahm sich den grellorangenen Band der PewamoBerichte vor, den er sich aus einem Impuls heraus angeeignet hatte. Er fand den Abschnitt über die Fauna der Binkin-Insel. Da waren sie. Man nannte sie Plumpser, und ihre luftigen Gewohnheiten wurden bis in alle Einzelheiten beschrieben und ihre offensichtlichen Ähnlichkeiten mit anderen fliegenden Lebensformen erörtert. Der nächste Eintrag handelte von der einheimischen Wildkatze, dem größeren der beiden bedeutenden Fleischfresser der Binkin-Insel. Dreißig Yards hinter Villiers stellte gerade am Waldrand eine solche graue Wildkatze ihre Vorderpfoten auf einen umgestürzten Baumstamm. Sie blickte in Villiers’ Richtung und strengte ihre Sinne an, um Informationen über diesen Eindringling zu sammeln. Plötzlich schürzte sie die Lippen, nieste konvulsivisch, wie um ihren Verstand zu klären, und sprang in langen Sätzen davon.
Villiers legte bei dem Niesen lauschend den Kopf schief, aber da es in seinem Buch nicht als ein charakteristischer Schrei der Binkin-Wildkatze aufgeführt war, versäumte er, mit den blitzartigen Reflexen zu reagieren, die von einem Raubtierbeobachter mit Klasse B-Schild gefordert werden. Als er sich schließlich in aller Gemütsruhe doch noch umschaute, sah er nichts mehr. Ein Weilchen später kam er den Hang herunter, verstaute die Bücher wieder dort, wo er sie hergeholt hatte, und schulterte seine Schaufel. Ah, die Schaufel – Symbol des einfachen Lebens! Da er immer in der Rangfolge der Notwendigkeiten vorging, hob er nun eine Latrine aus.
Wo beginnt eigentlich das Meer? Abschreckende strenge Felsen säumten die Küste. Fred umging am Strand zurückgebliebene Gezeitenpfützen, sprang von Fels zu Fels über auf Erkundung ausgehende Seefinger hinweg und erreichte zuletzt den Punkt, wo es keine weiteren Felsen mehr gab und sich das offene Meer vor ihm ausbreitete. Die Flanken der Felsen waren mit einem gelbgrünen Schleimpolster bedeckt, ihre Oberseiten waren nackt und trocken. Das Meer war heute sanft und plätscherte eher gegen die Steine, als daß es sich an ihren brach. Fred fiel auf ein Knie und ließ das Meer seine Hand berühren. Ja, genau da beginnt das Meer – wo eine Welle, die Haschen spielt, tausend Meilen hat, um sich zu verstecken und davonzulaufen. Mittag war schon vorbei. Fred stand auf und sagte: »Warum bleiben wir nicht hier und essen?« Er war der Ältere – sein erster Frühling war schon vorbei. Er war der Fremde hier. Er trug den Tornister mit den GroßeBiber-Grundausstattungen (den »Zehn G. B. G. S.« – steht alles im Buch der Großen Biber). Er hatte den ganzen Morgen
über das Tempo vorgegeben. Er hatte den Weg gefunden, als das Terrain schwierig wurde. Und doch war es Jung-David, der müde war und nur allzu bereit, eine Pause einzulegen. Um die Wahrheit zu sagen, fühlte Fred sich noch ziemlich munter. Nur selbstlose Rücksichtnahme auf seinen Gefährten veranlaßte ihn dazu, diese Ruhepause vorzuschlagen. David unterließ es, zu antworten. Fred erwartete keine verbale Antwort – nicht einmal ein einfaches Ja oder Nein. Aber es gibt nonverbale Arten der Kommunikation, und Fred hatte jeden Grund dazu, mit der huschenden Bewegung an seinem Ellbogen zu rechnen, die einen nickenden Kopf bedeutete. Angesichts des Mangels an Reaktionen drehte er sich um, ohne jedoch das Geringste von David entdecken zu können. Daraufhin drehte er sich noch ein bißchen weiter um, und da sah er David sitzen, ein ganzes Stück zurück höher droben auf den Felsen, die Hände auf den Knien, vorgebeugt, nach Atem ringend, sich ausruhend. Einen Fußmarsch zu unternehmen, ist eine Sache; eine ganz andere ist es, fröhlichen Schrittes entkräftende Abstecher zu unternehmen, um dem Ozean die Hand zu schütteln oder herauszufinden, wie die Welt aus halber Baumeshöhe aussieht. Fred suchte sich einen Weg zurück über die Felsen, wobei er einmal ausrutschte und sich einen nassen Fuß holte, was die Art von Dingen ist, die passiert, wenn man sich mit Ozeanen abgibt. Fred machte das jedoch nichts aus, ebensowenig wie ihm seine Kratzer und die eingerissenen Splitter etwas ausmachten. Selten der Mann, der nasse Füße als hart erkämpfte Schlachtverletzungen ansehen kann, aber genau das war Fred, ein Prinz, der sich zu abenteuerlichen Entdeckungsfahrten aufmacht, manch Fährnis erleidend, aber am Ende erfolgreich.
Es war schwieriger, die Felsen hinauf als sie hinunter zu klettern. David streckte Fred eine kleine, starke Hand entgegen, um ihm über die letzte Felskante zu helfen. »Laß uns essen«, sagte Fred. Das Meer tanzte zu seiner Rechten. Zu seiner Linken war das Land grün und leicht gewellt. Geistesabwesend blickte er auf seine rechte Handfläche und ging dann mit langen Schritten voraus durch Felsen, Krüppelsträucher und Kurzgras, auf der Suche nach einem guten Platz, um anzuhalten und sich hinzusetzen. Er fühlte sich prächtig. Die Sonne lächelte mit scheuer Anmut, und der vernachlässigte Wind hüpfte umher in einem vergeblichen Werben um Aufmerksamkeit. Es war ein guter Tag, um auf Erkundung auszugehen, sich an den vertrauten großen Umrissen dieser Landschaft ob ihrer Vertrautheit zu erfreuen und die nur ihr eigentümlichen Einzelheiten innerhalb dieser großen Umrisse auszukosten, die diesen Ort einzigartig machten. Freds Vater in seiner Ungeduld, daß sein Sohn endlich eine Wahl traf und damit anfing, Kinder zu bekommen, wie es ihm geziemte, hätte bestimmt gesagt, daß Fred sich der BinkinInsel in einer Weise näherte, die er besser für Frauen oder noch besser für eine Frau reserviert hätte: voller Respekt, voller Kenntnis, voller Aufgeschlossenheit und vor allem voller Begeisterung. Was für eine verdammte Schande! So eine Verschwendung! Er hatte einen Kommentar dieser Art im Verlauf ihrer letzten… Diskussion… abgegeben, und Fred war nicht imstande gewesen, etwas darauf zu erwidern. Was Fred jedoch an diesem Tag am meisten erfreute, war die Gelegenheit, das, was er sah, mit einem interessierten Gefährten zu teilen. Gesellschaft erhöht das Reisen immer ungemein, wie Temudschin bemerkt haben soll, und weitaus mehr Männer waren begierig darauf, ihre Reisen mit guten
Kameraden zu teilen, als die Reize ihrer Geliebten zu teilen. Fred dachte daran, daß er in ungefähr das seinem Vater sagen würde als Beweis dafür, daß ungeduldige Analogien falsche Analogien sind, denn Freds Vater hätte nie Promiskuität gebilligt und wäre nie auf den Gedanken gekommen, allein zu reisen. Sie hielten an, um auf der Sonnenseite eines von einem Bach eingekerbten Tals zu essen. Ihre Mahlzeiten erhitzten sich selbsttätig in Sekunden. »Hübsch hier«, sagte Fred. David nickte und aß. »Es ist beinahe warm genug, um schwimmen zu gehen.« David setzte seinen Teller ab. Er legte eine beschützende Hand an seine Kehle und überprüfte mit der anderen die Temperatur des Bachs. »Es ist zu kalt, Sir«, sagte er beinahe unhörbar. »Fred.« Er spülte seinen Teller ab und meinte: »Ich glaube, du hast recht.« Eine Wucherung unkrautartiger Pflanzen, die sich den Schutz des Tales zunutze gemacht hatten, zog sein Augenmerk auf sich. »Was ist denn das?« sagte er, während er auch seinen Schnurrbart abspülte. »Doch nicht etwa eine parallele Evolution? Komm’ mit. Vielleicht gibt’s da Nachtisch für uns.« Er erhob sich, sprang über den Bach und begann, die Pflanzen, die er gesehen hatte, genau zu untersuchen. David blickte erst bachauf-, dann bachabwärts auf der Suche nach einem besseren Platz, um zu springen, sah keinen und sprang schließlich doch, nur um mitten hinein zu patschen und sich seine eigenen kalten, feuchten Schlachtnarben zu verdienen. Fred schimpfte: »Ich hatte gedacht, sie hätten die Insel sauber gehalten, aber offensichtlich doch nicht.« Er hielt einen raschen Vortrag über Erkennung und Nutzung von Pflanzen
und brach dann mehrere sorgfältig ausgewählte Hanfstengel ab. »Das ist es, was wir wollen.« Er beauftragte David damit, Holz für ein kleines Feuer zu sammeln, und machte sich selbst daran, in seinem Tornister zu wühlen. Er holte sein leuchtend grünes Exemplar des zweiten Bandes der Pewamo-Berichte und etwas Salz und Honig heraus. Als David sein Holz gesammelt hatte, hatte er auch seine Stelle gefunden. »Hier ist es«, sagte er. »Eingeführt von Seymour Binkin, eine von drei fremden Pflanzenarten, die wild auf der Binkin-Insel wachsen. Offenbar mochte Seymour Binkin einen Hauch von Heimat.« Er reichte Jung-David den Abschnitt und kümmerte sich um das Holz. Mit Kennerblick wählte er die besten Plätze aus, eroberte Davids Aufmerksamkeit zurück und gab ihm eine rasche Vorführung darin, wie man ein Feuer macht. Als das Feuer hell lodernd brannte, reichte er David einen Stengel und begann, vorsichtig einen anderen zu rösten. »Vielleicht bemerkst du einen minzeartigen Geruch«, sagte Fred. »Das ist Harz.« Als sie rundherum gebräunt waren, wurden die Stengel mild gesalzen und in Honig getaucht. »Nun«, fragte Fred, »gefällt es dir, von dem zu leben, was das Land dir bietet?« David nickte, lächelte und leckte einen Finger ab. Seine Augen waren schwarz in schwarz, und dann schaute er weg.
Als das Feuer im bewährten Stil der Großen Biber erstickt war, machten sie sich wieder auf. Wie man sieht, haben Mittagspausen etwas für sich. Sie können die Einschätzung eines Tages ganz erheblich aufwerten.
V
Das Imperium ist ein Mischmasch aus Kulturen, von denen die sogenannte »Hochkultur« nur eine ist. Kulturen sind Ausdruckslinien, wie Sprachen. Die meisten Menschen beherrschen wenigstens einige fließend, wechseln mühelos zwischen ihnen hin und her, fühlen sich aber in einer am heimischsten. Die »Hochkultur« ist weitgehend künstlich, der angeborene Lebensstil bloß einiger weniger, und wird nur von einem unwesentlich größeren Prozentsatz begriffen und ausgeübt. Andererseits ist sie eine lingua franca. Sie ist das Ausdrucksmedium der Menschen von hohem Rang und hoher Bildung und jener, die reisen. Sie ist die oberste der unsichtbaren Kräfte, die das Imperium zusammenhalten. Der ehrgeizige Junge, der aus einem kleinen Drecksnest aufsteigt, um in den Korridoren der Macht auf Nahua zu wandeln, erlernt die Hochkultur, während jene, die zusammen mit ihm geboren wurden, die mit ihm gelernt und gespielt haben, Maß und Gestalt ihres Lebens finden, bis er an seiner Normalität, seiner Fähigkeit, zu fühlen, und an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln beginnen mag. Diese Zweifel werden von allen in seiner Umgebung enthusiastisch bestärkt. Aber die Hochkultur ist die Leiter zu der größeren Welt, auf die er entgegen aller Hoffnung doch noch hofft. Von unten ist jene größere Welt verborgen, aber eines magischen Tages legt er eine Hand auf die letzte Sprosse, und seine eigenen grünen Felder liegen offen vor ihm. Man könnte es Apotheose durch Erziehung nennen. Schulen und reisende Meister, die die Befähigten ermutigen, die Hochkultur zu erlernen, machen das Imperium erst
möglich. Wenn sie so belohnt würden, wie sie es verdienten, würden sie zu reich sein, um sich um die Fortführung ihrer Arbeit zu bekümmern. Glücklicherweise gibt es weitsichtige Männer, die bereit sind, sie in Ehre verhungern zu lassen – und der Traum dauert fort, wenigstens für eine Weile. Der kulturelle Eintopf köchelt unaufhörlich vor sich hin. Kulturen tauchen auf, breiten sich aus, vermischen sich, stagnieren, erleben Rückfälle und vergehen. Es ist ein imposanter ritueller Tanz, der sich auf ewig wiederholt. Die Hochkultur wandelt sich rasch, wenigstens an der Oberfläche, die Unterkulturen langsamer, aber wandeln tun sie sich alle. Die Entwicklung von Völkern kann das bewirken oder der Einfluß durch Nachbarn oder Niederschläge aus der Hochkultur. Selbst die unabsichtlichen Handlungen zufällig vorbeikommender Fremder. Einmal erwähnte ein Zeitgenosse ein grünes und freundliches Land gegenüber einem Hirten an einem Dornbuschfeuer in der Wüste – ein Leckerbissen für die Konversation, nichts weiter – und löste damit eine Massenauswanderung aus. In späteren Jahren wurde er in einen Engel verwandelt, etwas, was wenigen Menschen zu ihren Lebzeiten widerfährt. Aber er erfuhr nie etwas davon, und so blieb ihm manche Peinlichkeit erspart. Bis jetzt gibt es keine universelle Kultur. Was heute einen Clan auf Controlled Berkshire bewegt, ist vielleicht kurz zuvor das vordringliche Problem einer Gilde im Abhängigen Gebiet Kandahar gewesen, und morgen mag es das Schlagwort des Tages auf dem gesamten Planeten San Bartolome de Tirajana sein. Aber wirkliche Einheit ist unmöglich – das Universum ist zu groß. Die gemeinsame Erfahrung der Öffnung des Weltraums beendete für immer die Möglichkeit einer gemeinsamen Kultur. Und das ist schon gut so. Es wäre auch schrecklich langweilig gewesen.
Eine von einem offenen Balkon gekrönte Veranda bildete die Vorderseite des Green Mountain-Gerätehauses. Nach ihrer Fertigstellung würde sie die zweitlängste Veranda auf Pewamo und die größte in einem Umkreis von zehn Lichtjahren sein, die von einem Balkon gekrönt wurde. In seinem gegenwärtigen Zustand war das Green MountainGästehaus eine Beleidigung für das Auge. Das halbe Gästehaus sah wie die Hälfte eines Gästehauses aus, die auf einer Hügelflanke steht. Die andere Hälfte war ein Gästehausin-posse, kein Gästehaus-in-esse. Außerdem gab es noch ordentliche, häßliche Materialstapel, die geduldig neben dem Gästehaus standen und auf das Wunder ihrer Transsubstantiation warteten. In der Zwischenzeit war die Wirkung die eines frustriert aufgegebenen chinesischen Puzzles. Das Green Mountain-Gästehaus war von Hannifin General begonnen und halb vollendet stehengelassen worden, als diese Firma ihre Pewamo-Konzession in den isostatischen Anpassungen verlor, die auf den Zusammenbruch von Nieman, Mullin und Lund folgten. Hannafin war froh und glücklich, seine Entschädigung abzukassieren und sich zurückzuziehen – als Pewamo tatsächlich nach zweihundertundfünfzig Jahren geöffnet, die Reden gehalten und der Grundstein gelegt worden war, schien das kein einziger zu merken. Absolut kein Hannafin gemäßer Markt. Absolut nicht das, was Hannafin erwartet hatte. Manche behaupteten sogar, daß es die Firma selbst so eingerichtet habe, ihre Konzession zu verlieren, und diese Vermutung hat eine gewisse Plausibilität. Der gegenwärtige Besitzer von Green Mountain war ein kleiner Mann namens Caspar Smetana, gesegnet mit einem ergrauenden Schnurrbart, Entschlossenheit und dem festen Glauben, das Leben sei ein Abenteuer. Er war so ernsthaft und
farblos, daß niemand je hätte glauben können, welche Freude er daraus zog, blind einen Zufallspfeil auf die Zielscheibe des Lebens zu schleudern und es dann einzurichten, den Folgen standzuhalten. Einmal hatte er es sogar mit dem Ruhm aufgenommen. Seine Frau und er hatten als »Daisy und ihr Racker« eine loyale örtliche Anhängerschaft auf einem anderen Planeten gehabt, doch das war schon so lange her, daß Wochen und Monate verstreichen konnten, ohne eine Erinnerung an jene Es-wareinmal-Zeiten, bevor er davongezogen war, einem anderen Regenbogen hinterher. Nur an seltenen, köstlichen Sommerabenden verschlossen er und Daisy ihre Türen, und dann! dann! zogen sie die alten Nummern ab. »Oh«, pflegte er dabei zu sagen, »erinnere mich nicht daran. Was waren wir da wild!« Daisy pflegte ihm zuzustimmen, aber wahr war es nicht. Caspar Smetana war nie in seinem Leben übermäßig wild. Die Erinnerung ließ ihn sich jedoch teuflisch fühlen, und das war die Hauptsache. Meistens summte und lächelte er dann den ganzen nächsten Tag. Daisy, die eigentlich Maßliebchenglöcklein, schalle hell, verkünd den Ruhm Emanuels hieß, war in einer christlichen Familie aufgewachsen, aber sie hatte ihre Familie, ihre Religion und den Wust ihres Namens (bis auf das Maßliebchen, das sie in Daisy übersetzte) für den alles in allem wenig anziehenden Mann hinter sich gelassen, den sie geheiratet hatte und dem sie von Planet zu Planet gefolgt war, von Job zu Job, Leben zu Leben. Das Leben mit Caspar war durchgängig interessant, und sie hielt ihn für sexy. Sie war glücklich, bei Caspar zu sein, und er war glücklich, sein Leben zu erschaffen, während er durch es hindurchschritt. Er hatte dieses Gästehaus aus zwei Gründen erworben. Der erste war, daß es unvollendet war. Der zweite war, daß er ein
überzeugter Hinkleanhänger war, der sogar Glauben in den Solimoes-Faktor setzte – ob Sie’s nun glauben oder nicht! – und er Pewamo romantisch fand. Bisher waren die Geschäfte eher interessant als gut. Ein Student mit Augen so wild wie sein Haar. Ein mondgesichtiger Yagoot, der Mandoline spielt. Ein übergroßes Geburtstagsgeschenk von einem Außerirdischen, das auf einem roten Dreirad den Hügel hinaufgestrampelt kommt. Solche Geschäfte kann man wohl wirklich nicht als gut bezeichnen – aber als interessant, das ja. Ralph Weinsieder spielte sich mit entschlossen-behutsamer Präzision auf der Mandoline ein. Zehn Meter weiter trieb Daisy Smetana Nägel ein, mit weit größerer Entschlossenheit, aber erheblich geringerer Präzision. Die Echos zurückwerfende Hügelflanke verwandelte den Klang ihres Hämmerns in Geratter. Caspar Smetana, der Drinks hinaus in den Schatten der Veranda brachte, hörte Gehämmere mit Mandolinenuntermalung. Ralph hörte nur seine eigene Musik, ein kleines Geschenk, das er darbrachte mit Hilfe der Mandoline, die er gefunden hatte. John war sich weder der Musik noch des Gehämmeres bewußt. Da er sich in den Schatten gestellt fühlte, zählte er vor sich selbst seine Talente auf und versuchte, ein geeignetes auszuwählen, das er im richtigen Moment hervorkehren konnte – bei erstbester Gelegenheit. Torve hörte sowohl Hammer wie auch Mandoline, würdigte beide und wippte einen pelzigen Fuß in trogschem Metrum. Ralph dämpfte seine Musik und nickte, als Smetana ihm seinen Drink hinstellte. »Dankeschön.« Smetana sagte: »Wenn Sie noch etwas wollen, ich bin gleich nicht mehr da. Sie müssen sich entweder selbst was holen oder sich über die Brüstung lehnen. Rufen Sie.«
Ralph neigte sich in seinem Stuhl nach hinten und blickte über die Brüstung. Er konnte Daisy und ihren Hammer sehen. Er hatte sie schon vorher gehört, aber sein Gehirn hatte nichts mit der Information angefangen. »Hey, bauen Sie etwas?« erkundigte er sich. Er liebte es, zuzusehen, wie etwas errichtet wurde, wenn er es zufällig mal bemerkte. John schaute auf. »Natürlich«, sagte er. »Sie stellen dieses Gebäude fertig.« »Mit unseren eigenen Händen«, ergänzte Smetana. »Handwerker können wir uns nicht leisten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen?« »Sagen Sie, könnte ich Ihnen zusehen?« fragte Ralph. Er hörte auf zu spielen und stellte seine Mandoline weg. »Ich würde Ihnen auch nicht im Weg stehen.« »Das glaube ich«, sagte Smetana. Sein erster Eindruck von dem Jungen war kein sehr günstiger gewesen – wer schließlich mag schon Yagoots? –, aber bei näherem Kennenlernen wirkte er doch harmlos und freundlich. »Na gut, von mir aus.« Vielleicht tat es ihm gut, mal zuzuschauen, wie gearbeitet wurde. Die Dynamik in Kleingruppen ist unglaublich. John hatte die Gelegenheit herbeigesehnt, Torve zu beeindrucken, aber nun, da Ralph weg war, stellte er fest, daß er nichts Wertvolles zu Torve zu sagen wußte. Sein hilfloses Gemurmel wurde von dem Lärm eines Hammers überlagert, dann von dem von zweien. Als es plötzlich drei Hämmer wurden, benutzte er das als Entschuldigung, zu verstummen und über die Brüstung zu blicken. Ja, auch Ralph arbeitete jetzt mit. »Die lassen mich hämmern!« rief Ralph. »Komm runter und mach mit!« Torve sagte: »Ich denke, ich werde gleichfalls hämmern.«
Und so gingen sie nach unten und hämmerten alle. Die merkwürdigsten Dinge können Spaß bereiten, aus den merkwürdigsten Gründen. Teilweise bereitete die Arbeit Spaß, weil sie sie nicht machen mußten, und teilweise, weil sie sie alle machten. Ungeachtet dessen, was man Ihnen erzählt hat: Auf diese Weise sind die Pyramiden erbaut worden. Die Sonne versank an der Vorderseite des Gästehauses. Die Luft war kühl genug, um anregend zu wirken, und warm genug, um angenehm zu sein. Die sich hebenden und niederfallenden Hämmer erzeugten ein konstantes Klopfen. John arbeitete ungestüm, Ralph stetig, Torve langsam. Torve war verwirrt von der Art und Weise, in der sich ein Nagel ins Holz zurückzog, nachdem man ihn auf den Kopf geschlagen hatte. Daisy, eine Frau in ihren mittleren Jahren, hatte ein angenehmes Gesicht. Sie mochte Ralph und John und Torve, aber sie mochte jedermann. Nach einer Stunde oder so holte sie Plätzchen und kalte Getränke von drinnen, und sie alle hielten in der Arbeit inne. John untersuchte eine Blase auf seinem Zeigefinger. Er hatte einen Einfall und drehte und wendete ihn in seinem Kopf hin und her, auf der Suche nach dem besten Angriffspunkt. »Sir«, sagte er, »wie würde Ihnen eine Kolonne von Handwerkern gefallen, die das Gebäude fertigstellt?« »Die würd’ mir schon gefallen, keine Frage«, erwiderte Smetana, indem er ein hübsches Stück von seinem Plätzchen abbiß. »Gut ist das, Daisy. Sehr, sehr gut. Du mußt das Rezept unbedingt aufbewahren. Aber wie ich Ihnen sagte, Handwerker anzuheuern, können wir uns nicht erlauben.« John winkte zu Ralph hinüber. »Wir haben Freunde, Sir. Ich denke, gegen Essen und einen Platz zum Schlafen würden sie halbtags hier arbeiten.«
»Glaubst du das wirklich?« sagte Ralph. Der Großteil seiner Freunde arbeitete nicht. »Natürlich«, meinte John. »Ich wette, wir können dreißig zusammenkriegen. Sie müssen bloß herausfinden, wie aufregend hier alles ist, dann kommen Sie bestimmt.« »Arbeiten sie auch bloß so gut wie Sie?« erkundigte sich Smetana. »Ich glaube nicht, daß sie viel besser sind«, sagte John, mehr daran interessiert, seine eigene Arbeit zu verteidigen, als daran, seine Freunde zu verteidigen. »Tja…«, zweifelte Smetana. »Jetzt hör mal, Smetana«, warf Daisy ein. »Du willst bloß nicht, daß man dir deinen Spaß wegnimmt. Sag ja. Es wäre nett, Trubel und junge Leute im Haus zu haben, und vielleicht können wir dann ein richtiges Touristenzentrum sein und nicht bloß ein halbfertiges.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Smetana, eine Antwort, die verfahrenstechnisch als ein indirektes Ja bekannt ist. Als sie sich wieder an die Arbeit machten, nahm Ralph John beiseite. »Was hast du im Sinn?« fragte er. »Ganz einfach«, sagte John. »Wir holen die richtigen dreißig Leute hier herüber. Wir arbeiten am Morgen. Oder die Hälfte von uns arbeitet am Morgen und die Hälfte nachmittags. Die übrige Zeit betreiben wir eine Fabrik.« »Eine Fabrik?« »Eine Fabrik. Erinnerst du dich nicht?« »Oh, ja. Ja!« Ralph holte tief Luft und ließ sie hörbar wieder aus sich herausströmen, um anzuzeigen, wie beeindruckt er von dem Einfall war. »Fang schon mal an, dir Leute auszudenken«, sagte John. Und damit verbrachten sie den Rest des Nachmittags – sich Leute auszudenken. Das Licht war schwach und golden, als sie
begannen, ihr Bauholz abzudecken und ihr Werkzeug wegzuräumen. Dann kam ein blaues Fahrrad die Straße hinauf, angestrengt getrampelt. »Das ist Fillmore«, sagte Ralph, während er sich die Verandastufen hinabbewegte. »Er ist ein guter Arbeiter. Das wäre also schon mal einer. Hey, Fillmore. Fillmore, hey.« Fillmore Djaha brachte sein Fahrrad mit dem Flair des Pheidippides zum Stehen, der mit den Nachrichten aus Marathon ankam (außer, daß er nicht tot zu Boden fiel). Er holte keuchend Luft und wies blindlings hinter sich. »Admiral Beagle«, ächzte er. Und immer noch fiel er nicht tot zu Boden – vielleicht war die Ähnlichkeit doch nicht so groß.
Admiral Beagle kam mit der Nachmittagsfähre von Pewamo Central auf der Binkin-Insel an. Es gab noch andere Passagiere – Frauen, die von einem Tag in der Metropole zurückkehrten, zwei Männer in I. S.-Uniformen, ein junger Bursche, der sich entschlossen in einem Buch vergrub, ein gutaussehender Mann mit Silberhaar –, aber der Admiral schenkte ihnen keine Beachtung. Er verbrachte seine Zeit nutzbringend, indem er schwierige Entscheidungen traf. Sie waren schwierig für seine Untergebenen gewesen; für ihn waren sie nicht schwierig. Mehr als einmal handhabte er sein rotes X voller Erbitterung, daß irgend jemand außerstande sein konnte, ganz offensichtlich Unannehmbares als solches zu erkennen. Als das Schiff landete, schloß er seinen Koffer, blickte die Frauen mit einem Mißtrauen an, das auf Gegenseitigkeit beruhte, und schritt gemessen hinaus in den schwachen, milden Glanz spätnachmittäglichen Sonnenscheins. Der Wind wirbelte Staubteufel auf, die in goldenen Schwärmen tanzten. Der
Admiral hätte stehenbleiben sollen, um ihnen zuzuschauen, aber er tat es nicht. Das Landefeld wurde von Farmen und dem Hauptquartier des Entwicklungsgebiets begrenzt. Die Frauen machten sich rasch in Richtung Heimat auf. Der Mann mit dem Silberhaar und die Männer in I. S.-Uniform begaben sich in das Hauptgebäude des Entwicklungsgebiets. Der junge Mann strebte auf die Ständer mit den Mietfahrrädern am Tor des Landefeldes zu. Der Admiral sah sich nach einer annehmbaren Transportmöglichkeit um, und da er keine sah, ging er schließlich auch selbst ins Hauptgebäude. Der Mann mit dem Silberhaar sagte gerade: »Danke. Und wenn ich Sie recht verstehe, kann ich ein Fahrrad auch ohne mieten?« »Das ist richtig, Sir.« Admiral Beagle sagte: »Ich bin Admiral Beagle.« »Ja, Sir. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich benötige eine Transportgelegenheit zum Green Mountain-Touristenzentrum .« »Wenn Sie auf die Straße hinauskommen, ist Green Mountain anderthalb Kilometer nach rechts. Wenn sie nach links abbiegen, sind es knappe hundertfünfzig Kilometer. Sie können die Entfernung zu Fuß zurücklegen oder mit einem Fahrrad fahren.« »Sir!« »Tut mir leid. Es gibt keine andere Transportmöglichkeit auf der Binkin-Insel. Wenn Sie Green Mountain anrufen möchten, schicken sie ein Trampeltaxi runter, aber das dauert eine Stunde. Vielleicht mehr.« »Haben Sie denn keine Behördenfahrzeuge?« »Gewiß, Sir, aber die stehen nicht zum privaten Gebrauch zur Verfügung.«
»Das ist kaum die Haltung, die ich anzutreffen erwarte, junger Mann. Ich bin keine gewöhnliche Privatperson. Ich bin Admiral Beagle.« »Sir, ich weiß, wer Sie sind, aber ich fürchte, ich kann Ihnen trotzdem nicht helfen.« Das war der willkommene Anlaß für einen Wutanfall, der die von der Reise ausgelöste üble Laune des Admirals ein wenig hob und gesunde Röte in seine Wangen zurückkehren ließ. Er verhalf ihm allerdings nicht zur Benutzung eines Behördenfahrzeugs. Am Ende gab er sich kompromißhalber damit zufrieden, den Namen des höflichen jungen Mannes am Informationsschalter zu notieren. Der höfliche junge Mann am Informationsschalter wartete, bis der Admiral ihm den Rücken zugekehrt hatte und legte dann eine Hand neben den Mund, »Alter Bleikopf«, sagte er nachdrücklich und betont. Das war der Flottenspitzname des Admirals gewesen, den ihm lieblose Untergebene verliehen hatten. Der Admiral wirbelte herum, aber der junge Mann hatte seinen Kopf in einer Schublade. Der Admiral fand die Straße und Schilder, die nach Green Mountain und den verschiedenen Campingplätzen wiesen. Er hatte nicht vor, Fahrrad fahren zu lernen, also marschierte er los und setzte im Stillen diese Entwürdigung seinem Neffen auf die Rechnung. Nicht am Ohr, sondern an der Nase… Wer immer motorgetriebene Fahrzeuge von der Binkin-Insel (und finden Sie nicht auch, daß die Gewöhnung dem Namen Würde verliehen hat?) verbannt hatte, war an den zarten Gefühlen und der Kurzatmigkeit von Admirälen im Ruhestand nicht interessiert gewesen. Es kostete Admiral Beagle zwanzig Minuten, die Meile bis zum Touristenzentrum zurückzulegen, und als er den letzten Hügel hinaufkam, der Koffer eine schwere Last in seiner Hand, das Herz, die Lunge und die
Beine ganz schwach von all der Anstrengung, wurde seine Aufmerksamkeit für den Augenblick von den Gedanken an Wiedergutmachung und Vergeltung abgelenkt. Ein kleiner Mann mit einem grauen Schnurrbart und passendem Pullover saß schaukelnd auf der Veranda, als Admiral Beagle die Stufen nahm. Der Admiral erkannte ihn als das, was er war – die Art von Unteroffizier oder Gemeinen, den die jüngeren Männer »Paps« nannten. Der Mann nickte und sagte: »Und einen wunderschönen guten Abend wünsche ich auch Ihnen.« Der Admiral ging an ihm vorbei, ohne seiner Gegenwart Beachtung zu schenken, vielleicht, weil es erst später Nachmittag war. Drinnen war es dunkel, und niemand war zu sehen. Der Admiral blickte sich um, fand aber keine Menschenseele. Er rief, doch keiner antwortete. Er klingelte, und keiner kam. Nach einigen Minuten ging er zurück auf die Veranda. Der kleine Mann schaukelte immer noch und genoß die Herrlichkeiten dieses Tages. Im späten Sonnenlicht vollführten ein Plumpser und sein Schatten einen pas de deux. Ihre Figuren waren einfach, aber ihre Form exzellent. Der kleine Mann nahm keine Notiz von Admiral Beagle. Admiral Beagle, der seine Aussagen in Gesprächen ebensooft mit dem Fuß unterstrich, wie andere Menschen sie mit Stimme oder Händen unterstreichen, stupste ihn mit einem Schuh an. »Wer ist hier verantwortlich?« »Oh, guten Abend.« Der Mann fuhr fort, den Plumpser zu beobachten. »Wer ist verantwortlich?« Der Mann sagte nichts. Als das Schweigen sich lange genug ausgedehnt hatte, begriff sogar Admiral Beagle. So schwer von Begriff war er nun wieder nicht.
»Guten Abend«, sagte er. »Ich würde gerne wissen, wo ich Ralph Weinsieder finden kann.« Der Mann wies mit wischender Geste von links nach rechts. »Ralph Weinsieder ist irgendwo da draußen. Aber er möchte Sie nicht sehen.« »Was meinen Sie damit?« »Er möchte Sie nicht sehen.« »Das soll er mir mal ins Gesicht sagen! Einmal ein Schuft, immer ein Schuft.« »Er bat mich, Ihnen zu sagen: ›Geh heim, Onkel Walter.‹« Admiral Beagle blies sich auf und erkundigte sich: »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?« Betonung auf ›Wissen‹ und ›bin‹. Zum erstenmal, seit er wieder auf die Veranda zurückgekommen war, blickte der kleine Mann zu Admiral Beagle hinauf. Er beugte sich vor und schaute sich die Regenbogen des Admirals an. »Oh«, sagte er sanft und lehnte sich wieder zurück. »Was?« verlangte der Admiral zu wissen. »Was?« »Es war mein Fehler, Admiral. Ich dachte, Sie wären bei Adipietro gewesen.« »Ich war bei Adipietro!« Der kleine Mann beugte sich neuerlich vor. »Oh, ja. Die Auszeichnung für Adipietro ähnelt zu sehr dem Ordensband für Tüchtigkeit im Nachschubwesen, finden Sie nicht auch?« »Das Nachschubwesen ist sehr wichtig«, sagte der Admiral. »Schließlich kann man kein Omelett machen, wenn man keine Eier hat. Und jetzt würde ich gerne wissen, wo mein Neffe ist.« Der Mann wies wieder mit einer wischenden Geste von links nach rechts. »Immer noch da draußen, Admiral Beagle.« In diesem Augenblick bog ein rotes Dreirad unter dem Kommando eines braunen Trogs mit weißem Bauch elegant um die Gebäudespitze, segelte zwischen einer mit Persenning
abgedeckten Klippe und einem Bauholzriff hindurch und richtete sich aus für den Seeweg nach Hause. Admiral Beagle erkannte das Gefährt natürlich als Piratenlogger. »Aha!« rief er. »Aha! Das hätte ich wissen müssen. Halt, Trog!« Aber der Trog hielt nicht. Er setzte auch nicht mehr Segel. Er schipperte bloß unbeirrbar weiter, vor dem Winde laufend. »Unverschämter Alien!« bellte der Admiral und schüttelte die Faust hinter ihm her. Angesichts des Lärms unterbrach der Plumpser seinen Tanz und hing zitternd da. Rot im Gesicht, bleiern im Fuß, doch fest entschlossen, polterte der Admiral die Veranda entlang, zeterte, nahm die Stufen eine nach der anderen, zeterte und machte sich auf zu vergeblicher Verfolgung, wobei sein Koffer gegen seinen Schenkel schlug. Er verlor keinen Boden gegenüber dem dreiradstrampelnden Trog, gewann jedoch auch keinen. Bald waren sie außerhalb der Sicht von Green Mountain, den Hügel hinab und um die erste baumverschattete Biegung herum. Der Admiral mußte außerordentlich frustriert gewesen sein, weil er immer noch auf der Jagd war. Smetana fuhr fort, auf der Veranda zu schaukeln. Der Plumpser, ein für seine scheue Unschuld bekanntes Geschöpf, war still davongesegelt. Smetana seufzte und schüttelte den Kopf.
VI
Das Nashuite-Imperium ist riesig. Es gibt genug Planeten innerhalb seiner nebulösen und fließenden Grenzen, daß es die Beschäftigung von Monaten, das Hobby von Jahren sein würde, sie alle bloß zu zählen und zu benennen. Die meisten dieser Planeten sind natürlich uninteressant, unauffällig und unbewohnt – und doch starb der einzige Mensch, der jemals versucht hat, wenigstens die übrigen zu besuchen, der legendäre Kazumatsu Ohno, im Alter von dreiundsiebzig an nervöser Erschöpfung und chronischer akuter Diarrhöe, sein Lebenswerk kaum halb vollendet. Das meine ich mit ›riesig‹. Das Nashuite-Imperium ist vielfältig. Es enthält Planeten, die von einer einzigen Familie bewohnt werden, und Planeten, die Bevölkerungssümpfe sind, welche es mit der Alten Erde aufnehmen können. Jeder Planet ist ein Individuum. Jeder hat seine eigene Geschichte. Jeder ist auf seine eigene Weise zum Imperium gestoßen, zu seiner eigenen Zeit, unter seinen eigenen besonderen Bedingungen. Innerhalb des Imperiums gibt es freie Planeten und Trusts und Lehnsgüter und Satrapien und Provinzen und halbautonome Schutzgebiete. Vielfalt für jeglichen Geschmack. Durch die gesamte menschliche Geschichte hindurch ist es das übliche Vorgehen von Regierungen gewesen, Informationen zu sammeln, sie zu bewerten, in vernünftigem Rahmen Voraussagen aus ihnen abzuleiten und schließlich zu handeln. Das ist offenkundig für das Nashuite-Imperium unmöglich. In vielen Fällen gibt es schlichtweg keine Informationen. Wo es Informationen gibt, sind sie oft ungenau oder veraltet. Infolgedessen hat es sich als nötig erwiesen,
nicht-statistische Methoden der Selbstbeschreibung als Grundlage der Politik zu erfinden. Die wichtigste darunter ist der Pantograph. In den Zentralverwaltungsämtern von Nashua gibt es ein gewaltiges Gebäude, das mit Pantographen angefüllt ist, dreidimensionalen Homologen der Verteilungsmuster des Imperiums. Der Pantograph basiert auf den zwei uralten Prinzipien: dem, daß die Gegenwart die Zukunft und in sich trägt, und bestimmt sowie dem, daß der Teil das Ganze impliziert. Der Rest ist Wellenmechanik. Der Schwachpunkt des Pantographen ist, daß Kulturen, Betätigungen und Tätigkeiten, die Wanderungsströme der Völker und der Rest nicht isoliert existieren. Sie verflechten sich miteinander und verflechten sich miteinander und verflechten sich miteinander. Sie getrennt zu behandeln, bedeutet unweigerlich, Ungenauigkeiten in Kauf zu nehmen. Dennoch hat bisher niemand ein besseres Instrument der Beschreibung erfunden, und eines Tages wird der Universelle Pantograph vollkommen sein, und zum erstenmal wird der Mensch definitiv wissen, was als nächstes passiert. Im Jahre 1457 wurde der erste Pantograph, der jemals in private Hände kam, an einen gewissen Clifford Morgenstern ausgeliefert, der ihn zu einem völlig anderen Zweck verwendete. Dieser Pantograph beschrieb die gegenwärtige und zukünftige Verteilung künstlerischer Strömungen. Morgenstern jedoch kümmerte sich keineswegs darum, wie diese ausschauen mochten. Statt dessen zog er es vor, den Pantographen selbst als eine Form im Fluß befindlicher Kunst zu betrachten, und er schrieb ein Buch, in dem er die wirkungsvollste Verwendung von Farbe innerhalb des Modells umriß. Dieses Buch war es, das Fillmore Djaha aufwühlte und stimulierte. Er scherte sich nicht um Pantographie oder
Farbwahl, und dennoch sprach das Buch zu ihm. Es sagte eindrucksvoll und wunderbar, daß Veränderungen nicht hur möglich, sondern unvermeidbar seien. Im Tanner-Trust war das in jenen Tagen eine aufregende Neuigkeit.
Sir Thomas Edmund Fanshawe-IV strampelte mit einem wackeligen Fahrrad den Pfad hinauf, der von der Straße zum belegten Lagerplatz führte. In die Rolle Merkurs gezwungen, aber Merkurs geflügelten Zubehörs ermangelnd, war sein Wahlspruch notwendigerweise: »In strebendem Bemühen.« Er machte diesem Wahlspruch alle Ehre, was heißen soll, daß er, wenngleich er wackelte und wankte, doch an sein Ziel kam. Er verlor den letzten Rest Schwung, bevor er das Lager erreichte, stieg rechtzeitig ab und rollte das Fahrrad die letzten fünfzehn Meter. Ein Feuer brannte, aber niemand war zu sehen. Er lehnte das Fahrrad gegen einen Felsen, und als er sich umwandte, stand da ein kleingewachsener, magerer junger Mann am nähergelegenen Zelt und schloß seine Jacke. Sir Thomas sagte: »Lord Charteris, nehme ich an.« »Sir Thomas, Ihr Gedächtnis ist hervorragend«, erwiderte Villiers. »Wir sind uns nur einmal begegnet, und da auch nur flüchtig.« »Und nicht unter den besten Umständen.« »Und nicht unter den besten Umständen. Ich hoffe, daß ich nicht länger verdächtig bin, ein schlechter Einfluß zu sein, oder soll ich erneut überprüft werden?« »Das ist schon geschehen, Mylord.« »Ah.« »Wie zuvor wurden Sie, glaube ich, als tolerierbare Schrulle eingestuft.« Das stand nicht so sehr im Widerspruch zu Villiers’ Selbstbild, daß er sich bemüßigt gefühlt hätte, zu protestieren.
Er lächelte aber auch nicht. Es war allerdings nicht seine Art, Schmeichelei zu ermutigen. Zu dem Ministerialbeamten mit dem silbernen Haar sagte er: »Setzen Sie sich doch, Sir, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Heiß, kalt, alkoholisch…« »Wasser wäre vortrefflich«, erwiderte Sir Thomas. Villiers brachte ihm kaltes Wasser. »Wenn Ihr Gefolge klein ist, Sir Thomas, kann ich Ihnen allen einen Platz an unserem Feuer und eine warme Mahlzeit anbieten.« Er legte den Kopf schief und blickte zum Himmel hinauf. »Ich würde schätzen, daß wir heute nacht keinen Regen haben werden. Wenn Sie jedoch eine herkömmlichere Unterkunft wünschen, so gibt es meines Wissens ein Touristenzentrum einige Meilen von hier.« »Ich habe es gesehen«, sagte Sir Thomas. »Als ich auf meinem Fahrrad vorbeifuhr. Wie es sich jedoch so trifft, bin ich mit Flottenkurier nach Duden gereist und daher notwendigerweise allein.« Villiers war einmal an Bord eines Flottenkuriers gereist und hätte sich nicht leicht dazu verleiten lassen, diese Erfahrung noch einmal zumachen. Villiers war Rechtshänder. Sein Pilot war Linkshänder. Sie waren in die falschen Sitze eingepaßt worden und hatten sich zwei Wochen lang mit den Ellbogen angerempelt. »War der Flug lang?« erkundigte sich Villiers. »Sechsundzwanzig Tage«, sagte Sir Thomas. »Sie haben mein Mitgefühl.« »Fanshawe-IV!« rief Fred hocherfreut aus, der aus den langschattigen Wäldern herausgestampft kam. »Also haben Sie mich hier draußen aufgespürt. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Sir Thomas erhob sich und entbot sein Selam. »Mitnichten, Mylord«, sagte er. »Bloß, daß ich angesichts einer zeitweiligen Botenknappheit in diesen Dienst gepreßt wurde.«
»Eine Botschaft von meinem Vater.« Sir Thomas sagte: »Ja.« »Tja, es tut mir leid, daß Sie sich dieser Mühen unterziehen mußten, Sir Thomas. Falls es das Übliche ist, war es die Anstrengung nicht wert. Ich fürchte, daß wir Ihnen hier nicht viel bieten können, aber es ist uns eine Freude, Sie als Gast zu haben.« »Nein«, entgegnete Sir Thomas. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Mylord. Ich war gerade im Begriff, Lord Charteris für seine Einladung zu danken, als Sie erschienen, aber ich beabsichtige, heute abend nach Pewamo Central zurückzukehren. Wenn ich Glück habe, komme ich noch rechtzeitig zum Rendezvous mit dem Kurier, der mich nach Duden gebracht hat.« »Een rollende steen neemt geen mos mede«, sagte Fred. »Genau«, Sir Thomas nickte. Fred lächelte. Villiers erkundigte sich: »Was ist mit David passiert?« Angesichts von Sir Thomas’ fragend gehobener Augenbraue fügte er hinzu: »Ein junger Rekrut der Großen Biber. Wir haben ihn unter unsere Fittiche genommen.« Fred blickte sich überrascht um. Dann meinte er: »Er versteht es anscheinend aus dem Effeff, unbemerkt zu verschwinden. Eben war er noch bei mir.« »Nicht, seitdem du zuerst gesprochen hast«, berichtigte ihn Villiers. »Er ist scheu. Ich glaube nicht, daß er den ganzen Tag über mehr als zehn Worte gesagt hat.« Sir Thomas fragte: »Sind Sie sich seiner sicher?« »Ziemlich«, sagte Villiers. »Ich habe ihn heute morgen überprüft.« Bei Sir Thomas’ Frage hatte Fred zu einem Protest angesetzt, der aber augenblicklich von Villiers’ Antwort abgeschnitten
wurde. Er seufzte, dann richtete er anklagend den linken Zeigefinger auf Sir Thomas und sagte: »Können Sie es denn nie ohne das bewenden lassen?« Anschließend schwang er herum und richtete anklagend den rechten Zeigefinger auf Villiers. Er schüttelte den Kopf. »Tony, war das nötig?« Villiers sagte: »So wahr ich ein Segosta Savoda bin – reine Neugierde.« »Oh, sind Sie das wirklich?« fragte Sir Thomas. »Ich habe es nur bis zum Elimosa Segosta geschafft, aber meine Gesundheit als Junge war ja auch nicht gut.« Er hustete probeweise. »Ja.« Er klopfte sich auf die Brust. »Wirklich, Tony?« fragte Fred. Dann hob er die Hände. »Klar doch, ich glaub’s dir. Schließlich bist du es. Sir Thomas, warum können Sie nicht wie Villiers sein und mir eine faire Chance einräumen, zur Hölle zu fahren?« Unbehaglich sagte Sir Thomas: »Vielleicht werden Sie das eines Tages verstehen. Ich verlange nichts als die allerüblichsten Vorsichtsmaßnahmen.« Fred rollte mit den Augen. »Sir Thomas, ich will nicht, daß man mein Leben lenkt. Ich will meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich will sogar das Vergnügen haben, mir meine Zehen zu stoßen, weil ich nicht klug genug war, zu schauen, wo ich hingehe. Warum, glauben Sie wohl, habe ich diesen Ort für meinen Urlaub ausgewählt?« »Das weiß ich in der Tat nicht, Mylord.« Sir Thomas blickte umher. »Nun, ich werde es Ihnen sagen. Weil ich nicht geglaubt habe, daß Sie mich hier finden würden. Deshalb.« Villiers sagte ruhig: »Fred, nimm die Nachricht für dich entgegen und mache deine Antwort fertig. Da kommt Torve, und es ist Zeit zum Abendessen, und Sir Thomas muß eine Fähre erreichen.«
Sein gutes Benehmen vergessen? Dazu war Fred viel zu wohlerzogen. Im Geiste rügte er Sir Thomas, weil er so unvernünftig war – durchaus zu Recht – und Villiers für genau das Gegenteil – wieder zu Recht. Er stellte seinen Rucksack ab, nahm die Nachricht entgegen, ging in sein Zelt, schloß die Klappe und drehte das Licht an. Sir Thomas sagte: »Danke, Lord Charteris. Ich sehe mich gezwungen, Sie als einen Mann von Vernunft anzuerkennen.« Er schaute zu, wie Torve sich dem letzten steilen Anstieg ins Lager hinauf näherte. Er fuhr fort: »Das ist Ihre erträgliche Seite.« Seine Augen weiteten sich erst und verengten sich dann wieder, als Torve erfolgreich den Anstieg bezwang. Zu wenig Schwung – das war es. Staub stieg auf, als Torve sie passierte. Villiers hob eine Hand zum Gruß. Sir Thomas hob eine Hand, um den Staub davonzuscheuchen. »Und dieser Trog kann als Symbol für Ihre wunderlichen Launen stehen. Ich finde Sie verwirrend, Lord Charteris. Vielleicht wird man Sie neu evaluieren müssen. Unser vorangegangenes Treffen war, wie Sie schon sagten, flüchtig. Wenn es länger gewesen wäre, hätte ich die Ähnlichkeit möglicherweise bemerkt.« »Ähnlichkeit?« fragte Villiers. »Zwischen dem, was Sie sind, und dem, was er sein möchte.« »Sie würden keine Ähnlichkeit festgestellt haben, glaube ich«, sagte Villiers. »Vor zehn Jahren war ich eine ganz andere Person.« »So anders wieder nicht, glaube ich.« »Mag sein«, sagte Villiers. »Auf jeden Fall, Sir Thomas, findet er weit mehr Freude an der Agrostologie, als er jemals daran finden würde, in der Fremde von Geldsendungen aus der
Heimat zu leben, und was noch wichtiger ist: Er weiß es. Sie haben ihn sicher. Sie müssen sich keine Sorgen machen.« »Ich mache mir aber Sorgen. Es ist meine Aufgabe, mir Sorgen zu machen.« »Ich glaube, er würde weitaus lieber er selbst sein als ich zu sein. Wenn Sie ihm einen fairen Abschlag auf Reife und Verstand anrechnen, mögen Sie feststellen, daß er sehr gut allein klarkommt. Wenn Sie ihn aber zu sehr unter Druck setzen, könnte das Resultat für Ihren Geschmack zu sehr mir ähneln.« Torve, der mittlerweile sein Dreirad abgestellt hatte, deutete auf die obere Wiese und sagte: »Ich gehe, die Sonne niederzudenken.« (Lassen Sie uns im Vorübergehen anmerken, daß das eine Lüge war. Torve hatte keinen Charakter in Gegenwart von Weißwürmern in Gelee. Kandierten Weißwürmern. Weißwürmern in süßer Sahnesauce. Beim Gelieren verwandelt sich das undurchsichtige Weiß des Wurms in durchscheinendes Bernsteingelb, ein inneres Leuchten, das jeder Sauce Wärme und Feuer verleiht. Torve hatte in Green Mountain ein angebrochenes Glas mit Weißwürmern entdeckt und mitgehen lassen. Er hatte vor, das ganze Glas in heimlicher Schande hinunterzuschlingen, und konnte es kaum noch erwarten, seine eigene Schwäche beweinen zu müssen. Das ist natürlich bildlich gesprochen. In Wirklichkeit konnte er es kaum noch erwarten, seine Nickhäute niederzuschlagen, aber das läuft auf dasselbe hinaus.) Als Torve den Arm ausstreckte, sah Villiers mit plötzlicher Besorgnis drei Gestalten über den goldenen See aus Gras flitzen. Ein Plumpser hing über der Wiese. Er nahm keine Notiz von ihrem Vorübereilen. Als sie verschwunden waren und der See wieder ruhig dalag bis auf vom Wind aufgekräuselte Wellen und Erinnerungen, blieb er zurück.
Villiers beugte sich zu Freds Rucksack nieder und holte Band II der Pewamo-Berichte heraus. Er blätterte den Abschnitt über Plumpser durch und knöpfte seine Jacke auf und überprüfte seinen Gerinner, während er ihn las. »Ja«, sagte er. »Hier ist es. ›Von Natur aus ist der Plumpser scheu.‹ Hatte mir doch gedacht, daß das da stand. Ich wollte es schon den ganzen Nachmittag nachprüfen.« Sir Thomas verkündete: »Da kommt jemand.« Villiers blickte sich scharf um. »Oh, ja. Ich glaube, ich kenne ihn. Admiral Beagle, wenn ich mich nicht täusche.« »Muß eine Gnadenbeförderung gewesen sein. Ich kenne den Mann nicht.« Villiers schloß das grüne Buch und steckte es in Freds Rucksack zurück. »Das ist sehr merkwürdig. Der Plumpser da über der Wiese treibt schon den ganzen Tag hier herum. Ich werde wohl einen Brief an die Herausgeber schreiben und eine Fußnote vorschlagen müssen.« »Sie könnten eher reserviert gemeint haben als scheu.« »Das wäre eine Möglichkeit, Sir Thomas. Der Admiral sieht aus, als brauche er Wasser. Würden Sie ihm wohl ein bißchen holen?« »Gewiß«, sagte Sir Thomas und wandte sich um, um den Becher zu füllen, den er immer noch hielt. Als er sich wieder zurückdrehte, war Villiers nirgends in Sicht, und Admiral Beagle kam allmählich näher. Gangart und Form des Admirals waren nie gut gewesen. Auf diesem letzten Hang hatte sich seine Gangart zu etwas weniger als Spaziergängertempo verlangsamt, und seine Form hatte sich in ein Geschwabbel aufgelöst. Sein Atem war harsch und hilflos. Seine Farbe rot. Seine Augen verloren. Sein Gesicht eine bildhafte Veranschaulichung des Osmoseprinzips. Das einzige Saubere und Ordentliche an ihm war der Koffer, den er konvulsivisch von der linken zur rechten Hand wechselte. Sir
Thomas hielt wieder Ausschau nach Villiers und trat dann vor, den Becher in der Hand. »Mein lieber Admiral«, sagte er. »Etwas Wasser gefällig?«
Mit einem Gefühl wirklichen Abenteuers führte Ralph John und Fillmore den leicht begehbaren Grund einer mit Blättern gefüllten Rinne hinab, die Wiese außer Sicht zu ihrer Rechten. Er drehte sich mit erhobenen Händen um, in der einen die Mandoline, und bedeutete den anderen, langsamer zu werden. »Still jetzt. Psssst.« Ralph führte andere? Ralph? Nun, schließlich war es sein Onkel. Aber wenn Sie noch Ihre Zweifel haben, kann ich es Ihnen beweisen. Behalten Sie einfach immer im Gedächtnis, daß, wenn drei Leute sich als Gruppe betrachten, einer von den beiden anderen in den Mittelpunkt gerückt wird, während sie marschieren. Stellen Sie sich vor, John gehe zwischen Ralph und Fillmore. Ralph fühlt sich wohl. John fühlt sich verhältnismäßig wohl in der Mitte, da er sich von dort aus mit Ralph unterhalten kann. Fillmore fühlt sich nicht wohl – er kommt sich ausgestoßen Vor. Er senkt den Kopf und fällt einen Schritt zurück und schließt dann auf Ralphs anderer Seite wieder auf. Die Gruppe stabilisiert sich, alldieweil John die Sicherheit der Mitte gegen die Erleichterung eintauscht, diesen komischen Vogel an seinem Ellenbogen los zu sein. Stellen Sie sich vor, Fillmore gehe im Mittelpunkt. Ralph fühlt sich wohl. (Ralph fühlt sich immer wohl.) Fillmore fühlt sich ein kleines bißchen unwohl, weil er sich nicht ganz sicher ist, daß er in die Mitte gehört. John fühlt sich überaus unglücklich. Er hebt den Kopf und bahnt sich seinen eigenen Weg über den rauhen Grund oder schreitet voraus und wartet.
Als sich die Gruppe neu formiert, ist Ralph schon wieder in der Mitte. Ralph ist es also, das ist unvermeidlich. Und schließlich war es sein Onkel. Er deutete die Wand der Rinne hinauf und begann zu klettern, wobei er immer gut in Deckung blieb. Die beiden anderen folgten nach. Am Kamm hob Ralph den Kopf, vorsichtig wie ein Faun, der mit dem Verbotenen spielt. Dann duckte er sich wieder. »Kann nichts sehen«, sagte er. »Aber voraus sind Felsen, und von dort aus müßten wir in der Lage sein, mehr auszumachen.« Rutschend und raschelnd legten sie die Strecke bis zu den Felsen zurück und krochen wie die Würmer zwischen sie. John stieß Ralph mit dem Ellenbogen an. »Torve sitzt im Feld«, verkündete er aufgeregt. »Ich glaube, er ißt etwas.« »Ich kann’s auf die Entfernung nicht erkennen«, sagte Ralph. Admiral Beagle war periodisch zwischen Bäumen rechts unterhalb ihrer Position sichtbar. Er trank aus einem Becher und keuchte vor sich hin. »Wo ist Villiers?« »Ich bin hier«, sagte Villiers. Als sie sich umschauten, knöpfte er gerade seine Jacke zu. Es wurde langsam kühler. Er zog die Jacke glatt, und auf der linken Seite war ein Klumpen unter ihr. John rief aus: »Mr. Villiers!« Ralph duckte sich womöglich noch tiefer und sagte: »Nicht so laut!« zu allen beiden. Fillmore, der Villiers weniger gut kannte, streckte ihm sein Exemplar des Morgenstern entgegen, sich plötzlich sehr schmerzlich der Tatsache bewußt, daß es erheblich angestoßener war als zu dem Zeitpunkt, da es in seine Hände
gekommen war. »Hier ist Ihr Buch, das ich mir ausgeliehen hatte.« Villiers nahm es ihm ab. »Dankeschön«, sagte er. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß Sie uns keine Scherereien machen würden.« Ralph ließ den Kopf hängen. »Tut mir leid, Sir, aber mein Onkel ist gekommen. Wir mußten verschwinden.« »Mußten Sie das?« fragte Villiers. »Aber wen sucht er denn?« Langsam: »Uns, vermute ich. Mich.« »Warum kommen Sie nicht einfach ins Lager mit, und wir sprechen alle gemeinsam mit ihrem Onkel?« »Oh, nein, Sir. Bitte.« »Manchmal ist Direktheit der leichteste Weg«, sagte Villiers. »Sie wollen nicht? Nun, ich muß in aller Offenheit zugeben, daß es auch Zeiten gibt, in denen Direktheit nicht der leichteste Weg ist. Kommen Sie doch zum Abendessen, wenn Ihr Onkel wieder weg ist. Sie alle drei. Wir unterhalten uns dann weiter.«
Admiral Beagle glaubte nicht an Altruismus. Er glaubte an solide, rationelle Motivationen wie Haß und Gier und Furcht. Er war zum Commodore aufgestiegen, weil er nach oben gebuckelt und nach unten getreten hatte. Folglich fühlte er sich unbehaglich, als ihm anscheinend aus reiner Herzensgüte von einem Fremden ein Becher Wasser angeboten wurde. Sein Verstand war umnebelt, und seine Knie waren weich, aber so dumm war er immer noch nicht. Als seine Augen wieder klar sehen konnten, blickte er sich um und erspähte ein vertrautes rotes Dreirad. Unter Halbmastaugenlidern blickte er seinen einstmaligen Schrittmacher an und schleuderte dann mit einem säuberlich
berechneten Ruck seines Handgelenks das noch verbliebene Wasser aus dem Becher. Den Rest des dritten Bechers. »Hatten Sie geglaubt, ich würde das da nicht bemerken, wenn Sie mich ablenkten?« fragte er kühl. »Ich bin fixer als Sie denken, das kann ich Ihnen wohl versichern, Sir. Wo ist er?« »Wer?« »Machen Sie mir gegenüber keine Ausflüchte, Sir. Der verdammte Trog!« Der junge Mann, der in Pewamo in Gesellschaft des Trogs gewesen war, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, indem er sagte: »Admiral Beagle, wie schön, Sie hier zu sehen. Sir Thomas, entschuldigen Sie bitte. Jemand wollte ein geliehenes Buch zurückgeben und hatte nicht die Geduld zu warten.« In seiner linken Hand hielt er ein Buch hoch. Der Wasserträger mit dem Silberhaar neben dem Admiral bemerkte: »Ich hatte schon begonnen, Sie für einen Hasenfuß zu halten. Unser scheuer junger Freund?« Der Mann kam leichtfüßig den Hang hinunter. »Sie sind mit manchem flink zur Hand, Sir Thomas.« Admiral Beagle fragte: »Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name?« Der junge Mann kam zu dicht heran, entbot sein Selam und sagte: »Anthony Villiers.« Er trat einen Schritt zurück, deutete mit einer Hand auf Sir Thomas und stellte ihn vor: »Sir Thomas Edmund Fanshawe-IV. Admiral Walter Beagle, Zensor auf Shiawassee und im Tanner-Trust.« Sir Thomas erkundigte sich: »Ruhestandsbeförderung, Admiral?« Beagle sagte: »Ich dachte, Sie wären im Begriff, den TannerTrust zu verlassen?« »Mein lieber Admiral, ich bin jetzt nicht im Tanner-Trust.« »Sie sagten, Sie würden nach Mandracore reisen.« Admiral Beagles Erinnerung war fehlerhaft. Villiers hatte nichts dergleichen gesagt, und jemand, der keine günstige
Gelegenheit ausließ, hätte das sogleich betont. Villiers wußte es besser. Aus seinen eigenen Gründen hatte er den Admiral dazu verführt, blind einen Schritt vom Folgern zum Vermuten zu tun, und es wollte ihm scheinen, daß es sehr wohl unklug sein mochte, das zuzugeben. Er trat um das verworrene Gespinst der Irreführung herum. Er rief eine höhere Wahrheit an – wenngleich keine so sehr viel höhere. Er sagte, recht höflich: »Man sollte glauben, daß sich im Gefolge unserer Unterhaltung meine Pläne geändert hätten und daß ich es versäumte, Sie davon zu unterrichten. Ich bitte um Verzeihung.« Admiral Beagle sagte: »Erlauben Sie, daß ich Sie auch von etwas unterrichtete, mein lieber junger Herr. Dieselben Gesetze, die ich gestern schon erwähnte, gelten immer noch für sie.« Villiers setzte ein überraschtes Gesicht auf. »Admiral Beagle – wie können Sie das sagen? Ihre Befehlsgewalt erstreckt sich nicht auf Pewamo, und Ihre Gesetze auch nicht.« »Nun, versuchen Sie es einmal damit: Haben Sie vor, den Rest Ihres Lebens auf Pewamo zuzubringen? Die einzigen Schiffe gehen nach Shiawassee, und sobald Sie umsteigen wollen, dann sind Sie unter meiner Befehlsgewalt.« »Kommen Sie, Admiral. Seien wir ehrlicher miteinander. Wir wissen beide sehr genau, daß, ungeachtet, wie die örtlichen Gesetze aussehen mögen, Raumhäfen stets unter Imperiumsrecht fallen. Andernfalls würden keine Schiffe landen.« Die ganze Zeit sprach Villiers respektvoll und höflich, wenn nicht ehrerbietig. Was Admiral Beagle jedoch heraushörte, war klugscheißerischer Hohn. Daß er in höfliche Form gekleidet war, machte ihn, wenn überhaupt, noch unerträglicher.
»Wenn Sie nach Imperiumsrecht spielen wollen, dann zeigen Sie mir Ihre Campingerlaubnis. Und zeigen Sie mir die Papiere des Trogs.« Villiers nickte. »Na gut. Wie Sie sehen können, sitzt Torve dort drüben im Feld. Ich werde mich für ein paar Minuten zurückziehen müssen, um den Erlaubnisschein zu finden, aber ich halte ihn bereit, wenn Sie zurückkommen, nachdem Sie mit Torve gesprochen haben.« So fand Admiral Beagle sich durch das schattige Gras marschieren. Er fühlte sich schwerfällig und plump und kochte vor Wut, aber er war immer noch in der Lage, innerlich Strafpunkte zu notieren. Als er jung gewesen war, hatte er eine Kladde über Kränkungen, Beleidigungen und gehegte Grolle geführt, aber als er älter geworden war, hatte er festgestellt, daß er sich recht gut an sie erinnerte, ohne sie schriftlich fixieren zu müssen. So viel zu denen, die behaupten, das Gedächtnis lasse im Alter nach. Sir Thomas wandte sich an Villiers. »Sie müssen ihm überhaupt nichts zeigen. Sie wissen das.« »Das weiß ich wohl, Sir. Aber es kommt mir so doch einfacher vor.« »Wieso denn einfacher, Mylord? Zufällig weiß ich, daß Ihr Trog keine Papiere hat.« Villiers blickte ihn an. »Ich glaube, Sie werden feststellen, daß das keinen großen Unterschied macht.« »Sind Sie sicher, daß Sie in der Lage sind, mit diesem Mann fertigzuwerden? Es wäre unklug, ihn zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen.« »Ohne ihn auf die leichte Schulter nehmen zu wollen, würde ich ihm trotzdem einen verhältnismäßig niedrigen Rang auf meiner Sorgenskala zuordnen.« »Niedrig?« »Verhältnismäßig, Sir Thomas.« Villiers lächelte.
»In diesem Falle, Sir, mag es nachgerade unumgänglich sein, Sie neu zu evaluieren. Ich kann Ihnen versichern, daß er mich beunruhigt. Wenn das bei Ihnen nicht so ist, dann ist entweder Ihr Urteilsvermögen kläglich bis mangelhaft, oder Ihr Leben ist noch unsicherer, als jedem maßvollen Mann gefallen könnte. Ich werde jedwede Schritte unternehmen, die das Gebot der Vorsicht nötig erscheinen läßt.« »Fred würde eine Einmischung gar nicht gefallen. Intervenieren Sie behutsam. Besser gar nichts als eine große Zurschaustellung von Macht.«
Es gab keine Stühle im Lager, und es würde auch keine geben, wenn nicht Villiers von Thalia geküßt werden würde, der Muse der Korbflechterei. Als Villiers auf der Suche nach ihrer Campingerlaubnis das Zelt betrat, saß Fred folglich im Schneidersitz da und sah und hörte sich die Botschaft seines Vaters an. Er wirkte unbehaglich, sah aber nicht unglücklich aus. Die wichtigste Lektion, die Fred bei den Großen Bibern und aus dem Verlauf seines Lebens gelernt hatte, war, daß ein behagliches und sorgenfreies Leben dem Wechsel mit natürlicher Abneigung gegenübersteht und daß jene, die am behaglichsten und Sorgenfreiesten sind, die Toten sind. Infolgedessen wertete er sein Unbehagen als Beweis dafür, daß er noch lebte – und dieses Wissen verschaffte ihm Trost und Behagen. In diesem Grade war er ein Mann, dem es an Leben mangelte. Sein Vater sagte eigentlich genau dasselbe, wenngleich in anderen Worten. Er sagte nämlich, daß Fred an etwas Größeres denken solle als an Zuckergrasreiser und bukolische Ferien. »Du versteckst dich vor den Realitäten des Lebens. Du entziehst dich der Welt im großen.«
Und bis zu dem Grad, daß Fred jene Welt höchst unbehaglich finden würde – wie er es früher schon getan hatte und weiter tun würde –, hatte sein Vater natürlich völlig recht. »Wie steht’s?« erkundigte sich Villiers. »Ich habe es mir angehört und meine Antwort formuliert«, sagte Fred, indem er die Botschaft ausschaltete. »Jetzt höre ich sie noch mal durch, um festzustellen, ob es irgendwas gibt, das ich übersehen habe. Es ist der alte Kram. Warum ich denn nicht aufhöre, wegzulaufen, und was das für eine klägliche Gegenleistung für die Privilegien sei, die ich genossen hätte. Und er droht mir immer noch mit Gillian U. Er sprach darüber, sie zu mir zu bringen, damit wir uns kennenlernen könnten, wenn ich nicht willens sei, zu ihr zu kommen. Was, glaubst du, soll ich ihm sagen?« »Du könntest ein Treffen auf neutralem Boden vorschlagen, auf halbem Wege.« »Tony, das nützt mir nicht sehr viel.« »Falls du weiterhin auf gutem Fuße mit deinem Vater stehen möchtest, wirst du das Mädchen treffen. Je eher daran, je eher davon, so, als wenn du bittere Medizin nehmen müßtest.« »Mach dich nur lustig über mich.« »Wenn du dich bitte mal erinnern würdest, mein Vater hat etwas in derselben Art von mir verlangt, und ich bin seiner Bitte nicht gefolgt. Ich weiß ganz einfach, was vonnöten ist, um auf gutem Fuße mit Vätern zu bleiben. Ich bin bereit, darauf zu wetten, daß du in… sagen wir mal, einem Jahr ohnehin verheiratet bist.« »Warum sagst du das?« fragte Fred, erfreut über die Aussicht, aber unsicher hinsichtlich Villiers’ Prämissen. »Weil du reif dafür bist«, sagte Villiers. Ich überlasse es Ihrer Vorstellungskraft, ob Fred erfreut war oder nicht.
Villiers und Fred kamen aus dem Zelt zum Vorschein. Villiers hielt die Nachrichtenbox, während Fred eine Jacke gegen die zunehmende Kühle überzog. Dann tauschte Villiers die Nachricht gegen die Campingerlaubnis aus. Der aufkommende Wind ließ sie in seiner Hand flattern. Admiral Beagle kam gerade den Hügel herunter zurück. Die Wolken waren schwelende Aschen. Weiß während des Tages, zeigten sie nun, bei Anbruch der Nacht, orangenes Feuer. Die Felder verdunkelten sich. Fred gähnte in die Kälte hinein. Er blickte dem Admiral entgegen und berührte seinen Schnurrbart. In der Mitte seines Philtrums, der Rodelbahn in Lippenmitte, befand sich ein Leberfleck. Fred fand, daß dieser Leberfleck ein ganz besonders unverwechselbares Merkmal darstellte, und wenngleich er sich sicher war, daß er hinreichend zugedeckt war, war er sich doch wiederum nicht heiter und gelassen sicher. Als er zu ihnen stieß, schaute Admiral Beagle über seine Schulter zurück auf Torve. »Sehr, sehr merkwürdig. Sehr merkwürdig. Er hat sich dauernd weggedreht und etwas aus einem Einmachglas in sich hineingestopft.« Sir Thomas fand das faszinierend und hätte gern mehr darüber gehört. Aber wie es so oft im Leben ist, erfolgten nicht sogleich nähere Erläuterungen. Er legte die Fragen »Was war in dem Einmachglas des Trogs?« und »Warum hat der Trog sich abgewandt?« zu einer Million anderer zufälliger Merkwürdigkeiten ab, die unbeantwortet geblieben waren. Er erfuhr die Antworten nie, aber ungefähr sechs Monate, bevor er starb, erinnerte er sich an die Fragen und wunderte sich erneut. Villiers händigte Admiral Beagle die Campingerlaubnis aus. »Hier bitte, Sir.«
Admiral Beagle hielt sie hoch und betrachtete sie eindringlich. Tatsächlich wußte er nicht besser als Sie oder ich, wie eine Campingerlaubnis aussehen sollte. Er wußte bloß, daß man eine benötigte, und hatte ad libitum angegriffen. Villiers sagte: »Sie könnte nicht besser sein, wenn sie vom Herrscher unterzeichnet wäre.« »Hüten Sie Ihre Zunge, Sir!« rief Admiral Beagle aus. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mit größerer Zurückhaltung sprächen.« »Aber, Sir…«, sagte Villiers, einigermaßen erschrocken. Admiral Beagle unterbrach ihn. »Das ist ein Punkt, in dem ich höchst eigen bin. Es gibt Gesetze gegen den Mißbrauch des Namens unseres Herrschers.« Er richtete seine Augen himmelwärts in Ehrerbietung. »Imperiumsgesetze.« Villiers sagte: »Ich glaube, diese Herren können bezeugen, daß ich nichts Übles gegen unseren Herrscher sagte und dies auch nicht beabsichtigte. Vergebung, Sir. Ich nehme an, Sie werden feststellen, daß die Campingerlaubnis gültig ist. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie auch zu einer Rücksprache mit dem I. S.-Beauftragten, der sie bei unserer Ankunft abgestempelt hat.« Villiers stand unangenehm dicht bei Admiral Beagle, während er sprach. Jeder Mensch hat eine Zone, in der er weder zu nahe noch zu weit entfernt für eine ungezwungene Unterhaltung ist, sondern gerade den richtigen Abstand hat, um sich behaglich zu fühlen. Diese Zone variiert von Kultur zu Kultur, und wenn sich Menschen aus zwei Kulturen begegnen, kann es passieren, daß sich der eine gerade dann wohlfühlt, wenn er sich an die von seinem Gesprächspartner weit entfernte Seite des Konferenztisches setzt, während der andere unbewußt über den Konferenztisch hinwegklettert, um eine größere Vertraulichkeit zu erreichen.
Villiers hatte bemerkt, daß Shiawasseeaner großen Wert auf ihren Abstand legten. Seine Schulen hatten ihm beigebracht, derartige Dinge zu bemerken – das gehört dazu, ein Lord zu sein. Admiral Beagle war zurückgezuckt, als Villiers seine Ausführungen gemacht hatte, und das war nicht unbemerkt geblieben. Jetzt belagerte Villiers Admiral Beagles Wahrnehmung, nicht so offenkundig, daß es feindselige Handlungen hätte auslösen können, aber auf die subtile Art und Weise, die man von einem so geschliffenen Gentleman erwarten durfte. Der Admiral trat einen Schritt zurück, und schon war er verloren. Er faltete den Erlaubnisschein zusammen und händigte ihn Villiers aus und wich einen weiteren Schritt zurück. Eine Taube, wenn man sie mit Respekt behandelt, kann man auf diese Weise dazu bringen, eine Straße von Anfang bis Ende entlangzustolzieren. »Danke«, meinte Villiers. »Liegt sonst noch etwas an, Admiral?« Der arme, verwirrte Mann blickte umher. Und wich noch einen Schritt zurück. »Eines darf ich Ihnen sagen, junger Mann«, sagte er. »Passen Sie nur ja auf, was Sie tun. Ich werde ein Auge auf Sie haben.« Und wich zurück. Sir Thomas schob sein Fahrrad heraus, bestieg es aber nicht. Er verkündete: »Admiral Beagle, ich kehre jetzt zum Landefeld zurück. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten.« Die Ehre gerettet, wandte sich Admiral Beagle halb von Villiers ab und schwang dann noch einmal zurück, um zu sagen: »Ich bedauere, daß ich Ihnen jemals Mrs. Waldo Wintergood empfohlen habe.« Als Sir Thomas und der Admiral im Zwielicht verschwunden waren, erkundigte sich Fred: »Kannst du das erklären?« Villiers sagte: »Ich werde es später versuchen.«
Er sagte das, weil Ralph und John Fillmore plötzlich aus den nächstgelegenen Felsen auftauchten und er weltklug genug war, um an Vorzeichen zu glauben. John und Fillmore hatten David in einem Versteck entdeckt. John hielt ihn bei den Händen, Fillmore bei den Füßen. Ralph stand seitlich von ihnen mit seiner Mandoline. David trat und zappelte schweigend. »Sehen Sie mal, wen wir gefangen haben, als er Ihnen nachspionierte!« rief John. »Laßt ihn runter«, befahl Fred. Villiers sagte: »Sie sollten ihn wirklich besser absetzen. Er ist nämlich ebenfalls Gast unseres kleinen Abendessens.« Er drehte sich zum dunkler gewordenen Hügel und legte die Hand an den Mund. »Torve – Zeit zum Abendessen.«
VII
Die Erde grübelt, die Luft bezweifelt, das Wasser träumt. Das Feuer lebt, und Feuer regiert die Nacht. Die Erde wälzt tiefbraune Gedanken über vergangene Zeiten, während das Feuer tanzt. Die Luft berührt die Welt mit bleichen, fragenden Fingern, und das Feuer tanzt. Das Wasser singt vom Trugbild der Freiheit, aber das Feuer tanzt. Vergänglich’ Feuer. Feuer so hell. Leuchtendes Feuer. Das Feuer entzündet, und Feuer regiert die Nacht. Ein gewöhnlicher Mann hätte vielleicht die Tatsache akzeptiert, daß jedwede verderbte Handlungen, in die Villiers verstrickt sein mochte, außerhalb seiner Einflußmöglichkeiten standen. Ein gewöhnlicher Mann hätte vielleicht auch die Tatsache akzeptiert, daß sein Neffe kein Ziel besaß. Ein gewöhnlicher Mann wäre vielleicht nach Hause gegangen. Da er sich aber für außergewöhnlich hielt, bahnte Admiral Beagle sich einen Weg eine bewaldete Rinne nahe Villiers’ Lager hinauf. Die Nacht war finster, und er wünschte sich, ein Nachtglas zu besitzen. Er verlangte nichts von anderen, das er nicht auch von sich selbst verlangt hätte, und morgen würde er einen Tadel in sein Notizbuch eintragen. Mangelnde Voraussicht, Mr. Beagle. Ein guter Offizier ist immer auf alle Eventualitäten vorbereitet. Er war sich nicht völlig im klaren, was er eigentlich vorhatte, aber ohne Rekognoszierung konnte er den Rückzug nicht antreten. Als er noch jung war, hatte man ihm beigebracht, daß es im Zweifelsfalle immer das beste sei, eine Reko zu machen,
und dieses Prinzip hatte er so gründlich in sich aufgesogen, daß er sich jetzt, rund fünfzig Jahre später, dabei ertappte, wie er eine Hügelflanke hinaufpirschte, um einen langen heimlichen Blick auf den Feind zu werfen. Während er so pirschte, drehte und wendete er im Geist einen Satz hin und her, wie ein Hund, der den angenehmsten Zugriff bei einem Knochen sucht. Er hatte sich mit seiner lahmen Abgangsrede an Villiers selbst Schande gemacht. Als ein Connoisseur des Markigen plagte ihn das Gefühl, daß er erst nach einem passenden und geistvollen, alles übertreffenden Hieb hätte abtreten dürfen. Wenn sich ihm eine weitere Gelegenheit böte, hatte er vor, das beste daraus zu machen. Ein bildlicher Vergleich war ihm in den Sinn gekommen – daß Villiers so überreif des Bösen wirke wie ein Schimmelkäse (welche er allesamt verabscheute, vom blauen Edelschimmel bis hin zum Bagnasco) –, aber bis jetzt war die höchste Verfeinerung des Bildes, zu der er es gebracht hatte, gewesen: »Sie sind so durch und durch verdorben wie ein Gorgonzola«, und das war nicht viel, nicht einmal als Metapher. Vom oberen Ende der Rinne konnte er ein Feuer flackern sehen. Am Nachmittag hatte er ein Felsgewirr an der Nordseite des Lagers bemerkt. Er honorierte sich selbst mit der Streichung eines Tadels, als er diese Felsen erreichte. Er fühlte sich überaus waldkundig. Er konnte Gestalten sich bewegen sehen und das Geräusch, jedoch nicht den Inhalt einer Unterhaltung hören. Plötzlich blitzte ein Licht vom Lager zu ihm hinüber, und er ging in Deckung. Nach ein paar Sekunden ging das Licht wieder aus. Er lag still da und keuchte und machte sich Komplimente für seine Schnelligkeit. Die Felsen erstreckten sich bis hinein ins Lager, wo verschiedene davon in den Dienst als Stühle und Tische gepreßt worden waren. Stückchenweise arbeitete der General
sich zwischen ihnen herab, bis er die am Feuer hören konnte – und auch sehen, wenn er es wagte, aufzuschauen. Die ersten Worte, die er vernahm, empfand er als beunruhigend. Es handelte sich dabei um eine Unterhaltung in Metaphern, eben jener Gegenstand, der ihm auch im Kopf herumgegangen war, und er erwog kurzzeitig, sich einen Tadel zu erteilen, weil er dadurch Schwierigkeiten heraufbeschworen hatte. Das zufällige Zusammentreffen war ein schlechtes Omen. Was er in jener Nacht sah und was er hörte, brachte ihn erheblich durcheinander: Gespräche über Aristoteles und Mrs. Waldo Wintergood, die Planung einer Revolution und, was das schlimmste war, die Ausführung von schwarzen Ritualen, fremd und geheimnisvoll. Neun von zehn Leuten – nein, neunundneunzig von hundert – würden eine Menge dafür geben, eine derartige Schau zu sehen. Admiral Beagle fand sie erschütternd. Hätte er für seinen Platz bezahlt, würde er bestimmt sein Geld zurückverlangt haben.
»Vielleicht könnten wir das häßlichste Gebäude auf Shiawassee in die Luft jagen«, sagte Fillmore. Das Abendessen schwappte behaglich in den Mägen aller und wurde jetzt verdaut. Die Kühle der Nacht war rings um das Feuer herangekrochen. Ralph saß auf einem Felsen und hatte ein Knie angewinkelt. Fillmore saß gegen den Felsen zu seiner Rechten gelehnt. Zu seiner Linken saß John auf einem Baumstamm und spielte mit dem um seinen Hals gebundenen Taschentuch. Torve, ihr Erster Beweger ehrenhalber, saß ihnen gegenüber auf dem Boden, weiter als sie vom Feuer entfernt, weil sein Pelz sich leicht überhitzte. David saß sogar noch weiter entfernt. Man konnte ihn zwar sehen, aber sein Gesicht lag im Schatten. Seine Hände waren über einem Exemplar des
Buchs der Großen Biber gefaltet. Fred warf einen Stamm aufs Feuer und trat aus dem Funkenregen zurück. Villiers ließ eine Handlampe in Richtung der Felsen blitzen, wo die Jungen sich vor dem Abendessen versteckt gehalten hatten, und sagte zu Fred: »Da werde ich meine Behemothenfalle aufstellen. Wenn ein Behemoth vorbeikommen sollte, während wir hier kampieren, wäre es eine Schande, ihn nicht zu erwischen. Eine Falle dort drüben ist die einzige Antwort. Ich bin fest zu diesem Projekt entschlossen.« John sagte zu Fillmore: »Wir werden keine Gebäude in die Luft jagen. Das wäre destruktive Kritik. Wir wollen positive Alternativen anbieten.« »Bist du dir sicher, daß das eine gute Idee ist, Tony?« fragte Fred. Ralph meinte: »Da in den Felsen? Wo wir waren?« »Ja, natürlich«, erwiderte Villiers. »Das ist der beste Ort im Umkreis des Lagers. Euch kann nichts passieren, wenn ihr euch an die Wege haltet.« »Oh«, sagte Fred. »Oh, ja. Wenn es denn sein muß, Tony. Bau deine Falle. Ich würde gerne mal einen Blick auf einen Behemothen werfen.« Er blinzelte. Fillmore warf ein: »Du meinst, dir war es nicht ernst damit, als du von einer geheimen Fabrik gesprochen hast, die Sprengstoff herstellt?« »Eine Fabrik, die Sprengstoff herstellt?« erkundigte sich Ralph, während er zu John auf seinem Baumstamm hinüberschaute. »Es war doch eine Farbenfabrik.« John zupfte an seinem Halstuch. »Ich dachte, die Metapher sei auf diese Art kraftvoller.« »Gütiger Himmel, Fillmore«, sagte Ralph. »Was sollte denn diese Bemerkung darüber, Gebäude in die Luft zu jagen?« »Als John es sagte, klang’s so, als würde es Spaß machen.«
»? ??? de µ???s t ?? t? µetaf ?????? e??a?«, bemerkte Fred. »? ???? ?a? t??t? ??te pa?’ ????? es t ? ?aße?? e?f ??a? t e s ? µe??? ?s t ?’ t? ?a? e? µetaf ??e?? t? t? ?µ???? ?e? ?e?? ?s t ??«, antwortete Villiers. »Er meint es doch nicht wirklich so«, sagte Ralph. »Wir werden bloß einfach so um die dreißig Freunde anrufen und sie hierherkommen lassen. Dann unterhalten wir uns darüber, was wir hinsichtlich einer Revolution tun können.« »Werden Sie auch eine Zeitschrift herausgeben?« fragte Villiers. »Nun, ja. Ich nehme es an.« »Gut. Ich hoffe, Sie schicken mir ein Exemplar.« »Warum hat das bisher noch nie jemand gemacht?« erkundigte sich Fred. »Ich nehme an, es hat noch nie jemand daran gedacht. Niemand, den ich kenne, ist je nach Pewamo gekommen. Nebenbei bemerkt haben wir einen unfairen Vorteil. Ich glaube nicht, daß sie uns ins Gefängnis stecken werden. Nicht Leute wie Larry Ajamian und Pyatt Blevko und mich.« »Wirklich?« fragte Villiers. »Sie würden uns ins Gefängnis stecken, wenn wir Gebäude in die Luft jagten«, bemerkte John. Fillmore sagte: »Ich glaube, es würde Spaß machen, solange man uns nicht erwischte.« »Pyatt ist der Sohn von Richter Blevko, und Larry ist der Sohn des Administrators. Mein Onkel mag mich verhaften wollen, aber meine Tante würde ihn nicht lassen.« Villiers hegte seine privaten Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit dessen, was Ralph und John (und Fillmore) beabsichtigten – Revolten gibt es wie Sand am Meer, Revolutionen sind seltener. Nichtsdestotrotz wirkte es wie eine gute, gescheite Art, einen Mordskrach zu schlagen. »Ich wünsche Ihnen Hals- und Beinbruch«, sagte er.
»Mr. Villiers, was haben Sie da vor ein paar Minuten gesagt? Sie sagten etwas, das sehr seltsam klang.« »Wir zitierten aus Aristoteles Poetik«, erläuterte Villiers. »Er glaubte, Metaphern seien ein Zeichen genialer Schöpferkraft im Stil.« »Weil er ein Metaphoriker war«, warf Fred ein. »Ich bin stolz auf mich, daß ich mich daran noch erinnere. Ist lange her, seit wir das studiert haben.« Villiers fragte: »Hat irgend jemand von Ihnen die Poetik gelesen?« Köpfe wurden geschüttelt. John sagte: »Was ist das?« »Das ist der erste streng methodische Versuch einer Schauspielkritik. Wir werden Ihnen ein Exemplar besorgen. Und Fred, warum schreibst du nicht einen Artikel für ihre Zeitschrift? ›Die Relevanz Aristoteles für die moderne Kunst.‹« »Noch eine Hürde, Tony«, sagte Fred. »Noch eine Hürde.« »Das macht doch das Vergnügen am Leben aus.« »Wir würden uns über einen Artikel von Ihnen sehr freuen, Sir«, meinte Ralph. Fred konterte: »Na gut, Tony, und was machst du für sie?« »Das ist nur fair«, nickte Villiers. »Laß mich nachdenken.« Einige Minuten lang schritt er am Feuer auf und ab, wobei er vor sich hin murmelte und sich leicht seine Hände rieb und andere Anzeichen des Denkens zeigte. Zuletzt verkündete er: »Aha. Wie würde Ihnen ein Artikel gefallen, der die Metaphern in den Mrs. Waldo Wintergood-Büchern behandelt?« »Metaphern?« sagte Ralph langsam. »Ja«, sagte Villiers. »Ich habe die fünf Bücher gelesen, die ich besitze, und sie alle sind Metaphern.« »Was bedeuten sie denn?«
Also erklärte Villiers es, indem er Sammy schwimmt stromauf und seine spermatozoische Symbolik als Beispiel benutzte. Als er geendet hatte, herrschte Schweigen. Fillmore lachte in das Schweigen hinein, ein Lachen, das sich aus Entzücken und Schockiertheit zusammensetzte. Abrupt hörte er auf zu lachen. Fred sagte: »Hör mal, Tony, das Buch würde ich gerne mal lesen.« John sagte: »Ich sehe es. Ich sehe es, aber es gefällt mir nicht.« (David sagte wie gewöhnlich gar nichts, schaute jedoch mit tiefgründigen Augen zu.) Ralph sagte ebenfalls nichts. Er schüttelte benommen den Kopf. Torve sagte: »Buch ist überhaupt nicht so.« Fillmore, John und Ralph, von David und Fred ganz zu schweigen, wären völlig aus der Fassung geraten, hätten sie das Buch durch Torves Augen sehen können. Admiral Beagle blieb ein Schlaganfall erspart. Ralph sagte: »Haben Sie die anderen auf dieselbe Art gelesen Sir?« Vorsichtig erwiderte Villiers: »Ja.« »Oh, mein Gott.« »Irgendwie gefällt’s mir«, bemerkte Fillmore zögernd. John meinte düster: »Ich bin mir da nicht ganz so sicher.« Ralph holte tief Luft und sagte mannhaft: »Ich denke, wir sollten das verwenden. Schließlich sind wir entschlossen, den Leuten Alternativen in der Kunst zu bieten. Und dies ist eine Alternative.« »Du hast recht«, entgegnete John. »Außerdem wird es die meisten Leuten mehr aufregen als uns, und das gibt bestimmt Spaß. Ich denke auch, daß wir es verwenden sollten.« Sie alle nickten einander zu.
Ralph sagte: »Natürlich, Mr. Villiers, muß Ihr Artikel unseren Ansprüchen als Herausgeber genügen.« »Das verstehe ich vollkommen«, nickte Villiers. »Ich würde nie verlangen, daß Sie Ihre Ansprüche um meinetwillen senken sollten.« »Ich werde ein paar meiner Gedichte beisteuern«, verkündete John. »Wer entscheidet denn überhaupt, ob sie unseren Ansprüchen als Herausgeber entsprechen?« fragte Fillmore. »Das obliegt dem Herausgebergremium«, sagte Ralph fest. »Und wer ist das?« »Wir.« »Oh.« Ralph fuhr fort: »Und wir werden Aufnahmen von Torve machen. Das ist noch eine Alternative.« »Blurb«, sagte Torve. »Blurb.« Torve hätte vielleicht darauf beharrt, daß dieses neuerliche Moment der Inspiration einzig und allein das Ergebnis gewisser Ereignislinien sei, aber es war wirklich ein verdammt günstiger Augenblick dafür, die Begeisterung weiter anzufachen, das muß ich schon sagen! »Sekunde mal«, protestierte Villiers. »Still, Torve. Wollen Sie mir allen Ernstes erzählen, daß Sie die Leute dazu bringen wollen, sich Torves Kompositionen anzuhören?« »Ja«, sagte Ralph. »Sie sind eine Alternative.« »Das mag schon sein, aber für mich darf ich sagen, daß ich und viele andere den Verzauberungen des Frobb gegenüber taub sind.« Fred hob die Hand. »Ich zum Beispiel.« David hob ebenfalls die Hand, sagte aber nichts. Torve erklärte: »Sehr gut, Tony. Beinahe Sie haben gesagt Frobb wie sollte sein.«
»Danke«, meinte Villiers. »Erinnern Sie sich an die Komposition, an der Sie vor einigen Nächten gearbeitet haben? Die Nacht im Park.« »Ist beendet. Ist hinweg. Ist freigesetzt im Universum.« »Können Sie sie sich noch ins Gedächtnis rufen?« Torve schloß die Augen und schaute beseligt drein, während er seine inneren Prozesse konsultierte. »Ja«, berichtete er schließlich. »Gut«, sagte Villiers. »Jetzt schlage ich vor, daß wir eine wirkliche Alternative anbieten. Torve wird Frobben, und der Rest von uns begleitet ihn. Ralph, wie ich bemerke, haben Sie eine Mandoline. Können Sie darauf spielen?« »Natürlich kann er das«, warf John ein. »Er spielt sehr gut.« »Ich habe das absolute Gehör«, verkündete Ralph. »Oh, ja. Ich erinnere mich, daß Sie davon sprachen. Das ist günstig.« Villiers blickte sich auf dem vom Feuer erleuchteten Lagerplatz um und hatte in nullkommanichts eine metallene Wanne und einen Hammer entdeckt. »Schaffen Sie diese Wanne ein Stückchen weit weg und hämmern Sie sie zu einem Musikinstrument um, während wir andere Dinge suchen, auf denen sich spielen läßt.« John sah Ralph nach, als jener die Wanne in Richtung Wiese schleifte, wobei er sie probeweise mit dem Hammer attackierte. »Wie macht man aus einer Wanne ein Musikinstrument?« »Keine Ahnung«, sagte Villiers. »Aber er hat doch das absolute Gehör. Er wird sich schon was ausdenken. So, haben wir noch andere Instrumente zur Verfügung?« »Ein Kazoo«, meldete sich Fred. »Das sind schon zwei Instrumente, oder vielleicht drei, plus Torve. Wir brauchen etwas Rhythmus. Löffel. Eine Kanne.« »Darf ich die Wanne spielen?« fragte Fillmore.
Es dauerte einige Minuten, bis sie alle versammelt waren. Villiers in seiner Eigenschaft als Dirigent verteilte die Leute, bis er vollauf zufrieden war. Torve befand sich im Mittelpunkt. Zu seiner Linken saß Ralph mit seiner Mandoline. Zu seiner Rechten saß Fred mit seinem Kazoo. Fillmore spielte die Wanne – vier reine Töne plus eine Anzahl schiefer. John an der Kanne. Für David hatten sie eine Mundharfe improvisiert – geschwungenes Holz, metallene Saite, twoing, twoing. Villiers hatte die Hände voller Löffel. »Fallen Sie ein, wenn ich das Zeichen gebe«, sagte Villiers. »Torve, würden Sie beginnen?« Gespannte Stille. Dann: »Blurb, blurb, blurb.« Wie üblich, ein Geräusch von unbestimmter Anziehungskraft. Villiers nickte Ralph zu, und die Mandoline kam dazu. Villiers ließ seine Löffel von den Fingern hängen und begann, einen Rhythmus zu klicken. Das Kazoo, das eine körnige Melodie tutete. Reine, sanfte Töne von der behutsam angeschlagenen Wanne, plus ein paar schiefe. Wuuh, tröt, tröt von der Kanne. Twoing, twoing. Blurb, klirr, boing, tröt, twoing, twoing. Musik, bei Gott. Musik. Sie können jetzt von Ihren Ereignislinien sprechen, wenn Sie wollen, aber Musik ist ein Wunder zufälligen Zusammentreffens. Geräusche, die schließlich zusammenpassen, um ein Ganzes zubilden, das größer ist, als die Vernunft erwarten könnte. Und sie alle kommen von verschiedenen Köpfen. Wenn die Geräusche tatsächlich zusammenpassen, dann ist das ein Akt heiliger Gemeinschaftlichkeit. Sie spielten einige Zeit lang zusammen, und sogar Torve war zufrieden mit dieser Ummodelung seiner Kunst. Aber sein Herz war ja auch kindlich und sein Geist schlicht. Sie geboten ihrem Spiel Einhalt, solange es noch Spaß machte, und verlegten den Sitzungsort ans Feuer, wo sie in ein
Gespräch über Frauen und andere Geheimnisse verfielen. Genau wie Frauen, die in ihren Zirkeln zusammensitzen, vermuten, sprechen Männer, wenn sie beisammen sind, wirklich über Dinge des anderen Lagers. Torve lauschte mit großem Interesse. Ralph, John und Fillmore, die einer sehr restriktiven Kultur entstammten, vertraten absonderliche Theorien über das Leben, die Liebe und den Sex, mit welchen weder Fred noch Villiers übereinstimmten, denen sie aber mit Höflichkeit und großer Geduld zuhörten. Eine der wichtigsten Lehren der Hochkultur ist es, sich nie von dem echauffieren zu lassen, was andere Leute tun, selbst wenn sie es auf sehr merkwürdige Weise tun. David, von dem man einen Blickwinkel hätte erwarten können, der sich von denen aller anderen unterschied, sagte nichts. Am Ende erklärte Fred: »Aristoteles mag sehr wohl geistesverwandt mit Ihnen sein. Er vertrat die Auffassung, daß Frauen, wenngleich minderwertig, so doch immer noch gut sein könnten, obwohl er glaubte, daß Heldenmut oder übermäßige Klugheit bei ihnen unangemessen sei.« »Das hat Aristoteles gesagt?« erkundigte sich John. »In der Poetik.« »Das muß ich lesen.« »Glauben Sie an diese Dinge?« fragte David. Der stille David. »Im Kontext wohl. Er sprach da über Folgerichtigkeit in der Darstellung bestimmter Charaktere. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich jedoch nicht so gut von Frauen sprechen. Die meisten von denen, die ich kennengelernt habe, waren allesamt Schicksen.« »Das ist hart«, sagte Villiers.
»Das ist die Wahrheit. Ich hoffe immer noch, eines Tages etwas Besserem zu begegnen, aber diese Hoffnung ist eine sehr entfernte.« »Lassen Sie mich von einer erzählen, die etwas Besseres war«, sagte Villiers. »Meine Familie verfügt über einen gewissen Reichtum und ein gewisses Ansehen, und mein Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß unser Reichtum und unser Ansehen am besten durch das Arrangieren einer standesgemäßen Hochzeit für seinen zweiten Sohn und Erben – das heißt, mich – zu sichern wären. Er erwog Bündnisse mit vielen Männern, und am Ende strich er seine Liste bis auf drei zusammen, von denen jeder für ihn akzeptabel war. Und er glaubte, daß ich unter den vier Töchtern gewiß eine finden würde, die für mich akzeptabel war. Ich kannte von den vieren zwei persönlich. Schwestern. Eine war nicht besonders aufgeweckt und die andere nicht von angenehmem Wesen. Auch ich war nicht nach dem Geschmack der beiden. Die Schlafmütze fand Unterhaltungen mit mir verwirrend. Die Unangenehme fand mich zu verschlossen. Ich kannte die dritte ihrem Ruf nach, der besagte, daß sie gleichgültig sei. Sie war gleichgültig genug, in eine Heirat mit mir einzuwilligen, aber ich war so wie du, Fred, darin, daß ich mich nach etwas Besserem sehnte.« »Und die vierte?« fragte Ralph. »Die vierte war etwas Besseres. Ein außergewöhnlich attraktives Mädchen. Sie war intelligent, von exzellenter Anlage und Charakter und voller Interessen und Begabungen. Sie fand nicht, daß ich wegen meiner Vorgeschichte abzulehnen sei, und so kam es zu einer ersten Begegnung. Wir mochten einander recht gern.« »Haben Sie sie geheiratet?« fragte Ralph. »Nein«, sagte Villiers. »Nein. Unglücklicherweise war das Mädel ein Meter achtundachtzig groß, während ich, wie Sie
selbst sehen können, ein ganzes Stück kleiner bin. Ich wäre fähig gewesen, den Größenunterschied, der sich auf rund acht Zoll belief, zu akzeptieren; sie hingegen war es nicht. Tatsächlich war sie entsetzt. Ich frage mich von Zeit zu Zeit, was aus ihr geworden sein mag. Ich hoffe, es ist ihr gelungen, einen großen Mann zu finden.« »Hat Ihr Vater Sie dazu gezwungen, eine der anderen zu heiraten?« erkundigte sich John. »Zum Glück nicht. Er zog eine fünfte Kandidatin aus dem Ärmel, und die habe ich dann geheiratet. Sie war auch etwas Besseres, wenngleich auf andere Weise.« »Wer war das vierte Mädchen?« fragte Fred. »Miriam Passalaqua Peragine.« »Das hatte ich mir beinahe schon gedacht. Es gibt nicht viele Mädchen von dieser Größe. Und ich gebe zu, daß sie etwas Besseres als eine Schickse ist. Mein Vater hat sie mir vorgeschlagen, aber sie interessierte sich nicht für Agrostologie. Sie hat Aalholm geheiratet. Das muß jetzt ungefähr drei Jahre her sein.« »Davon hatte ich noch nichts gehört. Ist er groß genug?« »Ja. Ein Meter vierundneunzig.« »Das freut mich wirklich. Sie war ein Mädchen, das nur Gutes verdiente.« Da sagte Fred: »Wo ist denn David hingegangen?« Irgendwann in den letzten paar Minuten war David aufgestanden und hatte sich still zurückgezogen. Fred, der sein Verschwinden erst jetzt bemerkte, war beunruhigt. Menschen sollten nur wie durch Zauberei verschwinden, wenn man darauf vorbereitet ist. Es ist dasselbe Gefühl, das Leute dazu veranlaßt, um die Wiederholung eines Kartentricks zu bitten. Villiers erklärte: »Er ist vor rund fünf Minuten gegangen. Ich nehme an, er hatte das Gefühl, es sei langsam Zeit für ihn, nach Hause zu gehen.«
»Das ist ein komischer Bursche«, sagte John. Fred meinte: »Eines ist wahr – für Small Talk ist er nicht zu haben.« Ralph erhob sich. »Ich glaube, es wird auch für uns langsam Zeit, nach Hause zu gehen. Dürfte ich wohl vorher noch Ihre Latrine benutzen? Wo ist sie?« Villiers deutete. »Hinter den Felsen. Passen Sie aber auf. Sie hat noch keinen Sitz. Der kommt erst morgen an die Reihe.« Ralph schob sich am Feuer vorbei und marschierte in die Richtung, die Villiers angezeigt hatte. Wie es sich gerade traf, führte ihn diese Route geradewegs dorthin, wo sein Onkel Walter in seinem Versteck lag. Um ein Haar hätte Ralph denn auch auf seinen Onkel getreten, aber mit einem wilden Tanz zur Wiederherstellung des Gleichgewichts gelang es ihm, diese zusätzliche Unehrerbietigkeit zu vermeiden. Später würde er es bedauern, nichts aus dieser Gelegenheit gemacht zu haben, aber sein erstes instinktives Gefühl ließ es ihn vermeiden, auf Leute zu treten, da sie den Füßen nur unsicheren Halt bieten und dazu neigen, sich zu beschweren. Das volle Erwachsensein stellt sich schließlich erst ein, nachdem alte Beziehungen neu bestimmt worden sind. Ralph mochte in der Lage sein, eine Revolution zu planen, aber im Umgang mit seinem Onkel zeigte er immer noch die alten Reflexe. Er war erschrocken. Er war entnervt. Er war seines männlichen Muts beraubt. Er schrie. Er sprang. Er rannte. Er vergaß seine anderweitigen Absichten. Seine Füße fanden den Pfad zur Straße, die ihn nach Green Mountain oder sonstwohin führen würde, je nachdem, ob er nach links oder rechts einbog. Die rings um das Feuer blickten von den Felsen zu dem in der Ferne verschwindenden Rücken und dann wieder zu den
Felsen, zwei voller Besorgnis, zwei voller Neugier und der letzte in unschuldigem Staunen. Endlich erhob sich Admiral Beagle hinter seinen Felsen, und Besorgnis, Neugier und Staunen fanden ihre Bestätigung. »Das Böse!« kreischte er. »Verderbnis!« kreischte er. »Schimmelverpestete, geronnene Ziegenmilch!« kreischte er. Villiers gab John und Fillmore einen Wink. »Machen Sie sich jetzt besser auch auf den Heimweg. Ich glaube, der Admiral möchte mit mir reden.« »Wie können Sie es wagen, Sir! Wie können Sie es wagen! Sie haben kein Recht, sie zu entlassen!« Villiers sagte: »Darüber haben wir doch schon heute nachmittag diskutiert, Admiral, und ich dachte, wir hätten ein für allemal klargestellt, daß ich jedes Recht habe, hier zu sein. Ich habe auch das Recht, jedwede Gäste einzuladen, die ich einladen möchte – zu denen Sie sich gleichfalls zählen dürfen, Sir, wenigstens für den Augenblick. Und meine Gäste können gehen, wie es ihnen beliebt. Und falls es Ihnen beliebt, können Sie natürlich auch gern gehen, genau wie John und Fillmore.« John und Fillmore beliebte es in der Tat, zu gehen. Mit der Entfernung wuchs ihre Neugier, gerade so, wie ihre Besorgnis nachließ, und zu dem Zeitpunkt, da sie die Straße erreichten, waren sie beinahe so weit, umzukehren. Nach zwei Schritten zurück überlegten sie es sich jedoch noch einmal anders und setzten ihren Weg nach Green Mountain fort.
Villiers sagte: »Nun, Sir, ich dachte, zwischen uns sei alles klar?« Was als nächstes geschah, ist erniedrigend zu berichten. Es zeigt die Verwundbarkeit von Männern mit festen moralischen Prinzipien. Wenn ein Prinzip in Konflikt mit einem anderen gerät, kann eines davon im Interesse der höheren Gerechtigkeit
zurücktreten. Falls der höheren Gerechtigkeit damit tatsächlich gedient wird, entsteht daraus kein Schaden. Wenn aber das zugrundeliegende Urteil sich als falsch erweist, dann fordert der Teufel seinen Lohn, entweder in Seelenpein oder Streben nach Rechtfertigung. Admiral Beagle brachte Villiers gegenüber ein neues Argument vor, wobei er geflissentlich Fred ignorierte und Torve mied. Das neue Argument, welches er vorbrachte, war eines von den ganz alten. Ein Mann, der überzeugen will, kann sein Argument an die reine Vernunft richten, wenn dieses Argument zufällig selbst Vernunft enthält. Mangelt es daran, muß er sich so gut behelfen, wie er eben kann. Er kann drohen. Argumentum ad baculum. »Glauben Sie mir, Mr. Villiers, oder ich schlage Sie.« Aber Admiral Beagle hatte auch das ohne Erfolg ausprobiert. Er kann sich auf die Unwissenheit seines Zuhörers verlassen. Argumentum ad ignorantiam. »Glauben Sie mir, Mr. Villiers.« Aber Villiers hatte ihm durchaus zu recht nicht geglaubt. Er kann seinen Gegenspieler in eine solche Position drängen, daß der einzige Weg aus ihr heraus beinhaltet, sich selbst so zu beschmutzen, daß ihm sowieso keiner mehr zuhört. Argumentum ad verecundiam. Aber Villiers hatte den ganzen Abend über dreckige Dinge gesagt, besonders über Mrs. Waldo Wintergood. (Und wie das den Admiral in Rage gebracht hatte!) Villiers schien sich nicht um seine Anstößigkeiten zu bekümmern, und es war gerade kein Mob zur Hand, der ihn in Stücke hätte reißen können. Tatsächlich hatte das, was einem Mob noch am nächsten kam, Villiers’ Verderbtheiten unterstützt, weil sie ihre Eltern und Vorgesetzten in Aufregung versetzen würden. Ah, die Perversität der Jugend!
Nachdem also all dies versagt hatte, versuchte Admiral Beagle mit einem letzten Argument, Villiers dazu zu bewegen, den näheren Umkreis zu verlassen. Argumentum ad crumenam. Admiral Beagle hatte seine bisherigen Argumente als sauber und einwandfrei betrachtet. Bei diesem hier fühlte er sich recht unbehaglich. Kurz gesagt, er bot Villiers Geld dafür, zu verschwinden. Villiers nahm das Angebot nicht an, da er schon vor langer Zeit die Worte der Alten vernommen hatte, die da lauteten: Es steht geschrieben, daß Tzu Kung einst den Meister fragte, was ein Beamter tun müsse, um dieser Bezeichnung würdig zu sein. Der Meister antwortete, indem er sprach: »Ein Mann mag ein wahrer Beamter genannt werden, sofern er in seinem privaten Verhalten einen Sinn für Schamgefühl erkennen läßt und als Bevollmächtigter die Aufträge seines Prinzen nicht verpatzt.« »So frage ich dich denn, wer wohl als nächster in der Rangordnung folgen möge?« Darauf der Meister: »Jener Mann, der von seinen Anverwandten höchstlich gerühmt wird für seine Hochachtung den Eltern gegenüber und für seine Ehrerbietung gegenüber Älteren von seinen Dorfgenossen.« »Und darf ich fragen, wer als nächster folgt?« Der Meister sprach: »Jener Mann, der seine Worte hält und unbeirrbar seinen Weg verfolgt. Ja, solch ein Mann, wenngleich auch klein von Geist, mag wohl als nächster in der Ordnung kommen.« »Und was würdest du von jenen sagen, die jetzt in der Regierung sitzen?« »Äh!« sagte der Meister. »Diese alten Reissäcke! Die sind es doch nicht wert, daß man sie in Betrachtung zieht.«
VIII
Zwischen den Philosophen besteht seit langer Zeit ein Zerwürfnis in der Frage der Namen. Realisten nehmen sie ernst, da sie glauben, daß sie konkrete Dinge seien. Nominalisten nehmen sie leicht, da sie sie für reine Hilfsmittel halten, für praktische, handliche Etiketten. Jeder Mensch auf der Welt ist entweder ein Realist oder ein Nominalist. Probieren Sie es selber mal bei sich aus: Wenn jemand Sie einen Matschkopp oder einen Läuseluffel nennt und Sie wissen, daß das nicht wahr ist, würden Sie ihn dann schlagen oder würden Sie lächeln? Sehen Sie, so leicht läßt sich das herausfinden. Da sie Namen so hochschätzen, gehen Realisten sparsam mit ihnen um. Für gewöhnlich kennt man sie nur als Joe oder Bill oder Plato. Und sie lächeln nicht viel. Nominalisten haben mehr Spaß. Sie sind als Aristoteles oder Decimus und Ultimus Barziza bekannt oder als Edward John Barrington Douglas-Scott-Montagu oder vielleicht in der Kindheit unter dem einen und im Laufe ihres Lebens unter diversen anderen Namen. Ein überzeugter Realist läßt sich eine der befriedigendsten aller menschlichen Aktivitäten entgehen – das Annehmen geheimer Identitäten. Ein Mann, der gelebt hat, ohne je jemand anders zu sein, hat nie gelebt. Es ist wahr, daß geheime Identitäten gelegentlich auch ihre Probleme und Unannehmlichkeiten mit sich bringen können, aber nur ein Realist wird die ganze Angelegenheit ernst genug nehmen, um Sie zu schlagen. Also: Haben Sie viel Spaß, und gehen Sie Realisten aus dem Weg.
Entweder war Ralph tatsächlich nach rechts abgebogen, oder aber er hatte, nachdem er nach links abgebogen war, ein ungeheures Tempo zugelegt, denn jetzt saß er an dem kurzen Straßenstück, das nach Green Mountain hinaufführte, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn in dem aus Daumen und Zeigefinger gebildeten L seiner verschlungenen Hände. Er machte einen unglücklichen Eindruck. Er regte sich nicht, als John und Fillmore die mondhelle Straße entlangkamen. »Lauf«, sagte John. »Lauf. Dein Onkel kriegt dich noch, wenn du nicht aufpaßt.« »Laß das«, meinte Fillmore. »Du hast dich auch schnell genug davongemacht, als sich die Gelegenheit dazu bot.« »Ich war drauf und dran, umzukehren«, protestierte John. »›Drauf und dran‹, ja.« »Na, ich bin wenigstens nicht weggelaufen. Ich habe nicht von diesen ganzen Dingen geredet, die ich machen würde – ›Revolution‹, ›Veränderungen‹ – und mich dann umgedreht und bin davongerannt.« »Natürlich hast du das getan«, sagte Fillmore. »Du hast dir die Sprengstoffabrik ausgedacht, davon gesprochen, was sich so alles damit machen ließe, und dann, als ich deine Idee ernsthaft aufgegriffen habe, bist du weggelaufen.« »Das ist etwas anderes!« »Nur, weil du es bist.« Ralph hebelte sich auf die Füße. »Tut mir leid«, sagte er. »Mein Onkel ist meine schwache Stelle. Gebt mir Zeit, damit fertig zu werden.« John streckte Ralph die Mandoline hin. »Hier«, sagte er. »Das hast du vergessen.«
Daisy und ihr Racker – nein, Entschuldigung; das hatten sie ja aufgegeben – Daisy und Caspar Smetana warteten und machten sich Sorgen. Nur das Ungewisse ist beängstigend, und auch wenn Sie sich sagen mögen, daß die Tatsachen sich als das herausstellen werden, als was die Tatsachen sich herausstellen, ist das Ungewisse trotzdem immer noch das Ungewisse, und das Ungewisse ist beängstigend. Sie warteten auf der Veranda. Smetana in seinem Schaukelstuhl, als ob er ihn nie verlassen hätte, den grauen Pullover über den Schultern, als Ralph und John und Fillmore mühsam den Hügel heraufgestapft kamen. Smetana erhob sich und legte seine Hände auf die Brüstung. Hinter ihm machte der Schaukelstuhl weiter wump, wub, wump, wub. Er sagte: »Also, wo sind Sie gewesen?« Daisy berührte ihn am Ärmel. »Hör mal, das wolltest du sie doch eigentlich nicht fragen.« »Ich frage ja gar nicht grob. Ich frage ganz sanft.« Ralph führte die drei auf ihrem Weg die Treppenstufen zur Veranda hinauf an. »Tut mir leid«, sagte er. »Wir hatten leider keine Möglichkeit, Sie wissen zu lassen, wo wir waren.« Daisy tat das Thema mit einer Handbewegung ab. »Ist schon in Ordnung. Beachten Sie ihn gar nicht. Wir sind einfach nur froh, daß sie unversehrt wieder zurück sind.« Ralph erläuterte: »Ein Freund von uns, Mr. Villiers, hat ein paar Meilen von hier sein Lager aufgeschlagen. Wir waren dort. Torve hält sich dort auf.« »Darüber hatte ich mir schon Gedanken gemacht«, sagte Smetana. »Es ist eine Sache, Freunde zu haben, die aus dem Nichts auf roten Dreirädern auftauchen, aber solche Freunde sind… ungewöhnlich. Ich dachte, er würde vielleicht in einem Baum wohnen, aber ein Lager, na, das ist besser. Normaler.«
Daisy fuhr sich mit der Hand an die Stirn. »Oh, ich hatte ganz vergessen, Sie zu fragen, ob Sie hungrig sind. Ich kann in nullkommanichts etwas fertig haben. Es macht mir wirklich keine Mühe.« »Das ist nicht nötig«, erklärte Ralph. »Vielen herzlichen Dank, aber das ist nicht nötig. Mr. Villiers hat uns verpflegt.« »War es denn genug?« fragte sie. »Ja«, meinte John. »Aber vielleicht ein bißchen Nachtisch…?« »Oh«, sagte sie entzückt. »Kein Problem.« Sie eilte ins Haus. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ein kleines Minütchen, dann gibt’s Nachtisch für drei.« »Mr. Villiers will uns einen Artikel für unsere Zeitschrift zur Verfügung stellen«, berichtete Fillmore. »Und einen guten obendrein. Über Mrs. Waldo Wintergood.« »Nur, wenn er unseren Anforderungen als Herausgeber genügt.« »Sicher, ja. Aber er klingt gut. Und wir werden auch einen Artikel über Aristoteles Poetik bekommen, von Mr…« »Mr. Fritz.« »Fred.« »Von Fred.« Smetana sagte nachdenklich: »Aristoteles. Sie bringen einen Artikel über Aristoteles?« Er schüttelte den Kopf. »Stimmt irgend etwas nicht mit Aristoteles?« fragte John. »Oh, nein, nein. Aristoteles, der ist schon in Ordnung. Aber wenn Sie einen Artikel haben wollen, dann sollte der über Rambam sein.« »Wer?« »Moses ben Maimon. Maimonides.« »Hat er was über Kunst gesagt?« »Rambam sagt über alles etwas, eingeschlossen Aristoteles. Er schrieb Moreh Nevukhim, den Führer für die Verwirrten.
Ich werde mal nachschauen, was er über Kunst sagt. Ich schreibe Ihnen einen Artikel.« »Er muß unseren Ansprüchen als Herausgeber genügen«, erklärte Fillmore. »Ich schreibe – Sie überlegen es sich. Und jetzt erzählen Sie mir mal von Mr. Villiers. Wer ist Mr. Villiers?« »Sein Name ist Anthony Villiers«, sagte Ralph. »Wir wissen eigentlich nicht viel über ihn. Er kommt nicht von hier. Er ist einen oder zwei Zoll kleiner als Sie. Er ist jung. Langes braunes Haar. Ich glaube, er könnte aus einer reichen und bedeutenden Familie stammen. Nicht, daß er einen auf Adel macht. Er ist zurückhaltend.« »Was hältst du von Fred… Mr. Fritz?« fragte Fillmore. »Gute Familie, aber nicht so gut wie die von Villiers’. Er ist zu salopp.« In diesem Augenblick eilte Daisy wieder hinaus auf die Veranda. »Der Nachtisch ist fertig. Hier entlang bitte.« Als die drei mit ihrem Nachtisch beschäftigt waren, nahm Smetana Daisy beiseite. Er sagte: »Diese Junges, sie geben eine Zeitschrift heraus. Ich schreibe einen Artikel über Rambam für sie.« »Oh, das ist schön. Du hast nichts mehr geschrieben, seit wir auf Babad waren.« »Es gibt auch schlechte Nachrichten. Dieser Mr. Villiers – das ist Anthony Villiers.« »Der Anthony Villiers, den wir auf Livermore gekannt haben? Oh, ich glaubte, wir würden nie wieder irgend jemandem von diesen Leuten begegnen.« »Es ist derselbe. Kleiner als ich, jung, braunes Haar, zurückhaltend.« »Vielleicht ist’s nicht derselbe.« »Daisy, kleiner als ich, kleiner als ich. Es gibt nicht so viele, die kleiner als ich sind.«
»Glaubst du, er erinnert sich noch?« »Wie könnte er so leicht vergessen?« fragte Smetana. »Hoffen wir einfach, daß wir uns nicht begegnen – und wenn doch, nun, dann ist das halt für mich sehr peinlich. Andererseits – mit Peinlichkeiten kann ich leben.«
Villiers blieb außerhalb des kleinen Zeltes stehen und lauschte mit starrem Gesichtsausdruck dem Geräusch verzweifelten Weinens. Er fragte sich, ob dies der rechte Augenblick für ein Palaver sei. Er hatte gewartet, bis Torve und Fred sich zurückgezogen hatten, bevor er zu seinem stillen Mitternachtsspaziergang aufgebrochen war. Schließlich hatte er dieses Zelt gefunden, das in einigem Abstand von seinem eigenen Lager aufgeschlagen worden war. Er wollte jetzt reden, aber er war sich nicht sicher, ob er das wehe Schluchzen im Innern stören wollte. Endlich rief er: »David! Gillian! Ich bin’s, Mr. Villiers.« Das Weinen verstummte abrupt mit einem Keuchen. Aber es folgte kein weiteres Geräusch, als ob die Stille einen Ort bieten würde, sich zu verstecken. »Gillian«, sagte Villiers wieder. Erst nach einer langen Minute erschien dann doch ein Gesicht, eingerahmt von Zeltklappen. Villiers sagte: »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, wenn ich darf.« »Sie wissen es?« fragte das Gesicht. »Ja, ich weiß es.« Sie versuchte, Tränenspuren wegzuglätten, kaute am Fingerknöchel herum und schnüffelte. Gillian oder David, die Unfähigkeit, Worte leicht zu gebrauchen, schien durchgängig
zu sein. Sie stellte Fragen, bei denen ein Wort für vier oder vierzig stand. Sie fragte: »Haben…?« Villiers sagte: »Nein, ich habe Fred nichts verraten. Und ich werde es auch nicht tun. Aber ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.« »Wie…?« »Es ist einer meiner Charakterfehler, daß ich neugierig bin. Ich habe heute morgen Ihre Spur hierher zurückverfolgt. Falls Sie vorhaben, weiterhin David zu sein, sollten Sie besser die Straße benutzen, wie ich gerade. Wenn Sie einen zu offensichtlichen Pfad hinterlassen, könnte Fred Ihnen folgen.« Sie war jetzt hinreichend beruhigt, um aus dem Zelt herauszukommen, da das Zelt zu klein für zwei war, sofern sie nicht intimer miteinander waren als sie und Villiers, und das Knien im Zelteingang sowohl der Unterhaltung abträglich als auch auf lange Sicht knierunzelnd war. Villiers war fähig, Ruhe auszustrahlen, wenn er Wert darauf legte. Gillian setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. Sie trug immer noch ihren viel zu großen Mantel, und sie kauerte sich zusammen und zitterte. Sie war nicht weit von ihren Tränen weg, und innerlich fror sie immer noch. So schauen Sie sie an – ein Schlaks. Derselbe Schlaks. Groß für ein Mädchen und dünn. Schwarzes Haar von mittlerer Länge, die Augen schwarz wie je, eine Idee zu viel Nase. Wenn Sie von ihr als einem Jungen denken, steht die Nase in besserem Verhältnis zum Rest des Gesichts, aber es ist ein komischer Junge. Wenn Sie von ihr als einem Mädchen denken und sie in Ihren Augen komisch bleibt, bedeutet das ganz einfach, daß Ihr Geschmack beschränkt ist. Ungewöhnlich ist das richtige Wort, nicht komisch. Was sonst läßt sich noch von ihr sagen? Drei Dinge wissen wir. Sie verfügt über Mut, Entschlossenheit und einen
ruhelosen Geist. Die ersten beiden sind wertvolle Eigenschaften, und wenn das dritte das nicht aus sich selbst heraus ist, dann ist es etwas, das den ersten beiden Wert verleiht. Stellen Sie sich vor, Sie seien jung und verängstigt und ruhelos. Aus Gründen, die gut erscheinen, selbst wenn Sie sie nicht klar ausdrücken können, nicht einmal vor sich selbst, hauen Sie ab, hinein ins Unbekannte. Sie reisen wochenlang, Ihrer Ruhelosigkeit ergeben, jedoch außerstande, sie zu beeinflussen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Sie da weinten. Nachdem Sie nun so viel investiert haben, wäre es auch nicht verwunderlich, wenn Sie aufs neue weinten, sobald Sie entdeckten, daß der Mann, den zu suchen Sie gekommen sind, eine schlechte Meinung von den Frauen hat. Schließlich: Als Gillian – Sie also – begann, die Mundharfe zu spielen, hatte sie die Metallseite mit ihrem Finger angerissen statt mit einem Piektrum. Sie hatte gelernt, aber um den Preis von Blasen an zwei Fingern. Wenn Sie sich einsam und unglücklich und ruhelos fühlen – und Ihnen außerdem die Finger wehtun –, dann dürfen Sie ruhig verzweifelt schluchzen. Sie fragte wieder: »Werden Sie es ihm sagen?« Manche Fragen müssen wieder und wieder und wieder beantwortet werden. Die Antwort muß im tiefsten Inneren begriffen sein, damit man an sie glaubt. Der Hering glaubt nicht an den Essig, bis er nicht für eine Weile darin eingelegt gewesen ist. »Nein«, sagte Villiers. »Ich werde es Fred nicht sagen. Ich hoffe aber, daß Sie es tun werden, und zwar bald. Sie werden es ihm entweder verraten müssen oder weggehen und ihn nie wiedersehen. Und je mehr Sie ihm von David zeigen, desto langwieriger und schwieriger wird es sein, den Schritt zurück
zu tun und ganz von vorne damit anzufangen, ihm Gillian zu zeigen.« Dann erkundigte er sich: »Sind Sie wegen dem gegangen, was er gesagt hat?« Sie nickte betrübt. »Sie sind zu früh gegangen«, meinte Villiers. »Auch mir schien sein Urteil über die Frauen übermäßig hart zu sein, bis ich darüber nachdachte. Der größte Teil seines Lebens hat sich in engen Grenzen abgespielt, und zwar in weitaus größerem Maße als sowohl bei Ihnen als auch bei mir. Sie wissen, wie es dort ist. Sie kennen die Art von Frauen, denen er begegnet ist. Diejenigen, die ihre Bedeutung in der Bedeutung der Männer finden, mit denen sie schlafen. Puppen, Marionetten, mechanische Monster. Er will etwas Besseres.« »Aber was ist, wenn er mich nicht mag?« »Das könnte sein«, sagte Villiers. »Aber dann wiederum glaube ich, daß er Sie vielleicht doch mögen wird. Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Seien Sie einfach nur. Fred und ich sind seit langem Freunde.« Villiers lächelte. »Wir könnten uns zehn Jahre lang nicht sehen und trotzdem ohne ein ungutes Gefühl dort weitermachen; wo wir aufgehört haben. Ich wünsche ihm nur Gutes. Aber ich werde Ihnen solange helfen, wie es ihn nicht verletzt. Ich habe mehr Vertrauen in das Urteil seines Vaters als er, und ich glaube, daß Sie genau das sein könnten, was er braucht. Und jetzt hören Sie auf zu weinen. Schlafen Sie gut. Und sagen Sie es ihm so bald wie möglich.«
IX
Lernen, Spielen und Lieben – und Kombinationen davon – sind eine gute Art, ein Leben zuzubringen. Zugegebenermaßen eine schwierige Lebensweise, aber nichtsdestotrotz nicht jenseits des Erreichbaren. Beginnen Sie mit dem Spielen.
Als Admiral Beagle versäumte, den Anschluß nach Pewamo Central zu erreichen, wurde Sir Thomas Edmund Fanshawe-IV unruhig. Als der Admiral die Ausflugsfähre zurück nach Shiawassee verpaßte, entschied sich Sir Thomas, etwas zu unternehmen. Er war jemand, der fest an vorbeugende Maßnahmen glaubte. In seiner Jugend hatte man seinen Neigungen bei einer Vielzahl von Gelegenheiten vorgebeugt, und er war dankbar dafür und wollte auch für andere so viel tun. Als er Shiawassee erreichte, nahm er auf der Stelle einen Flitzer zu den Verwaltungsbüros des Tanner-Trusts. Durch einen Unter-Unter-Untersekretär ließ er um eine Audienz nachsuchen, und zu gegebener Zeit wurde er vor Administrator Ajamian geführt. Der Administrator entließ den Geheimen Sekretär, der Sir Thomas zu ihm gebracht hatte, und der junge Mann zog sich zurück. »Ihr berühmter Name ist Ihnen vorausgereist«, sagte Ajamian. Er selamte. »Administrator Ajamian«, erwiderte Sir Thomas, indem er leicht den Kopf neigte.
Ajamian ließ Sir Thomas Platz nehmen und setzte sich dann selber wieder. Beschaulich saßen sie einander gegenüber: Sie sprachen über das Wetter und andere Nettigkeiten. Sie pflichteten einander bei, daß es heiß auf Shiawassee sei. Der Administrator sagte, das läge an der Jahreszeit. Sir Thomas erlaubte sich die Bemerkung, daß es auf Pewamo kühler gewesen sei. Administrator Ajamian gestand daraufhin, daß er zu Zeiten Besuche auf den anderen Planeten des Trusts arrangiere, um sich eine wettermäßige Abwechslung zu gönnen. »In notwendigen Geschäften, natürlich«, sagte er. »Natürlich«, sagte Sir Thomas. Ajamian flocht einen kleinen Spaß in die Unterhaltung ein, eine Anspielung auf Sir Thomas’ Brevier-Sammlung. Das war ein Insiderscherz. Ajamian war nicht mittelpünktlerisch genug, um zu begreifen, woraus das Komische in diesem Scherz entsprang, aber er wußte darum, daß es als Scherz betrachtet wurde und daß Sir Thomas es so auffassen würde. Er wollte Sir Thomas deutlich machen, daß er sehr wohl wußte, was was war. Sir Thomas faßte den Scherz richtig auf. Er lächelte ein mildes Lächeln. Sie fuhren fort, von nichts zu sprechen. Ajamian nahm an, daß das die Art sei, wie es gemacht wurde, und er war keineswegs gewillt, sich durch plumpe Nachfragen zu verraten. Er merkte jedoch, daß er nervös war. Sir Thomas war nicht nervös. Er war sich auch offiziell nicht der Anspannung Ajamians bewußt. Obwohl er sich ein wenig für Ajamian interessierte – etwa in dem Maße, in dem er sich für jeden Trust-Administrator interessiert hätte –, war er eigentlich in der Hauptsache damit beschäftigt, sich die Zeit zwischen jetzt und jenem Dann zu vertreiben, da sein Schiff nach Duden starten würde.
Dieser Stand der Dinge setzte sich während des Mittagessens fort. Administrator Ajamian lud Sir Thomas zum Mittagessen ein. Sir Thomas nahm die Einladung an. Während der Mahlzeit blickte Sir Thomas auf und sagte: »Ich habe einen Ihrer Untergebenen auf der Binkin-Insel auf Pewamo getroffen.« »Ja, Sir Thomas.« »Einen Admiral Walter Beagle. Ein übertrieben diensteifriger Mann. Fast ein wenig aufdringlich.« Ajamian nickte. »Ja, dazu neigt er. Ich habe mich schon mit ihm darüber unterhalten. Aber sagten Sie auf Pewamo?« »Ja.« »Das ist aber merkwürdig. Wir haben keine administrative Gewalt auf Pewamo.« »Wirklich ausgezeichnet, dieses Gallimaufry au Baboulis.« »Ach, das ist eigentlich bloß ein ganz gewöhnlicher Eintopf«, sagte Ajamian. Ein Dienstagsessen nach seinen Maßstäben, gut, aber ganz gewöhnlich. »Genau, wie ich immer vermutet habe«, sagte Sir Thomas. »Ein Essen ist am besten in seiner eigenen Heimat – und wird dort am wenigsten gewürdigt.« Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu. Schließlich bemerkte Sir Thomas die fortgeschrittene Zeit, erklärte bedauernd, daß er nun gehen müsse, dankte dem Administrator für seine Gastfreundschaft und bat um eine Fahrgelegenheit zum Raumhafen. Ajamian übergab ihn in umsichtige Hände und kehrte dann in sein Büro zurück. Dort angekommen, dachte Ajamian nach. Er betrachtete die vergangenen Stunden von allen Seiten. Am Ende läutete er nach seinem Vertraulischen Sekretär. »Geoffrey«, sagte er, »ich möchte, daß Admiral Beagle eine Nachricht zugeleitet wird, wo immer er sich auch aufhalten mag.«
»Ja, Sir.« »Versuchen Sie es bei ihm zu Hause. Schicken Sie eine Kopie nach Pewamo Central. Und versuchen Sie es auf der Binkin-Insel auf Pewamo. Wenn das alles vergeblich ist, versuchen Sie es in seinem Büro. Unterrichten Sie ihn davon, daß er nicht länger Vorsitzender des Kunstausschusses ist.« Das ist die Art, wie es gemacht wird.
Sergei Gilfillian hätte es besser wissen sollen. Und vielleicht war das auch der Fall. Wer da oben auf seinem Gepäckwägelchen als Anhalter mitfuhr, während er durch die Hallen des Raumhafens von Shiawassee fuhr, war niemand anderes als Mr. Nilsson, sein unmittelbarer Vorgesetzter. Zu solchen Zeiten ist es stehender Brauch, seinen Job präzise nach dem Regelbuch zu tun. Sergei erkannte jedoch Elmo Kuukkinen, der durch die Halle schritt, und hielt das Wägelchen an. »Mr. Kuukkinen«, rief er. Nilsson blickte erzürnt. Kuukkinen sagte: »Ja, bitte.« »Haben Sie Lord Charteris gefunden?« Kuukkinen erwiderte: »Nein, bis jetzt nicht. Ich danke Ihnen für Ihre hilfreichen Wegweisungen, aber Lord Charteris ist ein Mann, der dazu neigt, seine Pläne zu ändern. Er ist nie nach Mandracore gereist.« »Oh«, sagte Sergei. »Das tut mir leid.« »Es fällt nicht sehr ins Gewicht«, meinte Kuukkinen. »Wie ich erfahren habe, hält er sich jetzt auf Pewamo auf, und ich nehme an, ihn dort vielleicht anzutreffen.« »Nun, das hoffe ich für Sie«, sagte Sergei. Er setzte das Wägelchen wieder in Bewegung. Nilsson schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll, Gilfillian«, bemerkte er. »Erst kritzeln,
kritzeln, kritzeln, und jetzt das. Sie sollten lieber anfangen, besser auf Ihre dienstlichen Obliegenheiten achtzugeben.« Sergei schenkte sich eine Antwort. Er mag ganz einfach dumm gewesen sein, aber das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, daß er bloß seine eigenen Angelegenheiten höher einstufte als die des Raumhafens. Weiter so, Junge.
Verstreuen Sie einmal Eisenspäne auf Glas, wenige nur und diese völlig wahllos. Das Auge mag sie niemals finden. Männer mit befremdlichen Zielen aus der großen weiten Welt außerhalb des Tanner-Trusts hätten auf Shiawassee ebenso selten sein müssen, aber wie wir gesehen haben, war dem nicht so. Ein Magnet richtet Eisenspäne aus und versammelt sie um sich, und ein Mann wie Villiers bewirkt ebendies bei anderen Menschen. Jemand rief Elmo Kuukkinen quer durch die höhlenartige Große Halle des Raumhafens an. Er drehte sich um und erkannte Phil Finch, einen langjährigen Freund, in Begleitung Klavan Guillaumes, den er weniger gut kannte. Finch sagte: »Da ist ja der Schwarze Marodeur«, während er näherkam. Sein Auftreten war beinahe unbeschwert, jetzt, da die Jagd für ihn vorüber war. »Finch«, sagte Kuukkinen. »Schön, Sie zu sehen, Mr. Guillaume.« »Mr. Kuukkinen. Immer noch auf der Jagd nach Villiers?« »Auf seiner Fährte. Ich war ihm hier schon dicht auf den Fersen, aber dann führte er mich in die Irre und brachte mich dazu, ihn auf Mandracore zu suchen.« Finch meinte: »Ich will hoffen, daß er Sie in die Irre führte. Ich habe Grund zu glauben, daß er nach Duden geflogen ist.«
Kuukkinen bedachte seinen Freund mit einem mißtrauischen Blick. »Phil, wie kommt’s, daß Sie freiwillig nützliche Informationen herausgeben?« Finch schlug ihm auf die Schultern. »Je weniger Punkte Villiers macht, desto glücklicher bin ich. Wenn Sie ihn völlig erledigen können, werde ich ›Gratuliere!‹ sagen. Um offen zu sein, ich setze ihn an zweite Stelle.« »Nach wem?« »Nach mir, natürlich. Da ich ihn als lästiger betrachte als Sie, werde ich Ihnen alles an Informationen zur Verfügung stellen, was ich kann.« »Sie sind zu freundlich.« »Jedenfalls war ich mir sicher, daß Sie es wußten.« »Daß ich was wußte?« »Daß Villiers nach Duden geflogen war.« »Nein. Wieso dachten Sie, ich wüßte das?« »Nun«, meinte Finch, »Guillaume hier und ich haben bei einem überaus reizenden Mann gewohnt, Lord Broccoli. Keineswegs der Schlag, den man in einer Ecke wie der hier erwarten würde anzutreffen. Fabelhaft. Villiers war vor unserer Zeit dort zu Gast gewesen. Ich bin ihm tatsächlich sogar begegnet, als ich auf Shiawassee eintraf. Während unseres Aufenthaltes bei Lord Broccoli wurde sein Robotbutler von einer geheimnisvollen Gestalt in Schwarz, die nach Villiers suchte, in kleine Stücke zerlegt. Ich nahm an, Sie seien es gewesen.« »Nun, ich war’s nicht.« »Um die Wahrheit zu sagen, Elmo, kommt mir das in der Tat übermäßig brutal vor, vor allem, da Sie nichts weiter hätten machen müssen, als zu fragen.« »Ich war es nicht.«
»Sie haben echte Schwierigkeiten, den Butler wieder zusammenzusetzen. So viel rohe Gewalt. Und sie machen solche wie die heute nicht mehr.« »Ich sage, ich war es nicht.« Guillaume warf ein: »Ich frage mich nur, wer es dann gewesen sein könnte.« »Ich weiß das ganz bestimmt nicht«, erwiderte Kuukkinen.
Tja, wir wissen, wer es gewesen sein könnte. Und wie der Zufall es so wollte, stand gerade in diesem Augenblick Solomon »Biff« Dreznik in höchsteigener Person rund fünfundsiebzig Fuß weiter vor einem FlugversicherungsAutomaten. Er war in eine Unterhaltung mit einem dicken Mann verwickelt. »Nach Adipietro kehrte die Flotte nach Llandaff zurück«, sagte der dicke Mann. »Nun, Sie denken jetzt bestimmt, das erste, was wir gemacht hätten, wäre feiern gewesen, richtig? Schließlich war es ein kolossaler Sieg, und wir hatten vier Monate lang keinen Hafen mehr gesehen.« »Ihr Name, Sir«, sagte Dreznik. »Pencisely. Pyotr Pencisely.« »Wie buchstabiert man das?« »P-e-n-c-i-s-e-1-y. Aber das, Sir, war es gerade nicht, was passierte. Keine Feier. Wir saßen rum wie die Toten, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen.« »Adresse.« »Sektor sechs, Mooretown, Luvashe. Ich will damit sagen, wir fühlten uns leer. Wir wollten keine Frauen. Wir wollten keinen Spaß. Wir wollten nicht tanzen. Wir wollten nicht singen. Trinken, rauchen und rumsitzen – dazu waren wir noch zu gebrauchen. Llandaff konnte es nicht glauben, und nach all der Zeit bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich es noch
glauben soll. Wofür wollen Sie eigentlich meinen Namen und meine Adresse? Was schreiben Sie da?« Dreznik drückte den REGISTRIERT-Knopf an dem Automaten und zog dann seine Kopie heraus. »Da hätten wir’s«, sagte er. »Sie haben gerade eine Versicherung für mich zu Ihren Gunsten ausgestellt.« »Natürlich, mein lieber Pencisely. Das ist mein Hobby. Manche wetten im Casino, manche auf der Rennbahn. Ich wette auf dem Raumhafen.« »Haben Sie jemals gewonnen?« »Selten. Würden Sie wohl mitkommen, Sir?« Pencisely zögerte. »Wenn es zu Ihrer größeren Beruhigung beiträgt, lassen Sie sich bitte nicht abhalten, eine Versicherung für mich zu Ihren Gunsten auszustellen. Der Automat wartet.« Pencisely schaute den Automaten an und sagte dann mit einem Gesichtsausdruck, der Widerwillen verriet: »Nein. Ich glaube, das möchte ich nicht.« »Dann kommen Sie mit.« »Wohin?« »Oh, Sie mißverstehen mich, Sir. Ich interessiere mich dafür, mehr über Adipietro zu hören. Es gibt so wenige Überlebende der Schlacht. Außerdem lade ich gern jene zu Gast, auf deren Gesundheit ich wette. All die Myriaden Möglichkeiten des Raumhafens von Shiawassee stehen Ihnen offen. Ganz wie Sie belieben, Sir.« »Nun, wenn dem so ist.« Dreznik ging voraus durch die Hallen, bis sie zu den Mieträumen kamen. Bei dem ersten freien Raum warf er Geld ein, und die Tür öffnete sich. »Hier werden wir uns bedienen lassen.«
Pencisely betrat den Raum vor Dreznik. Dreznik wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, und versetzte Pencisely dann einen Handkantenschlag. Der dicke Mann sackte matschig zusammen, und Dreznik hievte ihn auf das Bett. Der gewöhnliche Mann handelt für gewöhnlich dreist, aber nicht voll Selbstvertrauen. Nur der außergewöhnliche Mann – wie etwa Solomon »Biff« Dreznik – kennt seinen Geist so gut. Schnurrend breitete er seine Werkzeuge aus, berechnete Dosen gegen Körpergewicht, und sein Auge fand professionelle Freude an der akkuraten Abschätzung der Pfundzahl. Sein Körper war kalt, durchzuckt von eisigen Schauern der Erregung. Beherrschung, Beherrschung, Beherrschung. Exakte Bewegungen – Hände, die Geist und Auge ökonomisch und präzise gehorchten. Anstellwinkel, und Eisen, Eis, Blut und scharfe Kanten. Hände, die vor verhaltener Kraft erbebten, hielten die Spritzen. Eine würde Pencisely in zwölf Stunden töten. Die andere würde die Todesursache verdecken. Er drehte sich um – und stellte fest, daß Pencisely schon tot war. Dreznik hielt Penciselys schlaffen Arm in den Händen und starrte ihn an. Übergangslos hob er den Arm an, öffnete den Mund und biß zu. Ich möchte keineswegs den Eindruck in Ihnen erwecken, daß Dreznik ein anthropophager nekrophilischer Perverser war. Er drückte bloß seinen Ärger und seine Enttäuschung auf sehr direkte Art und Weise aus. Er leckte sich allerdings tatsächlich die Lippen, als er zu Ende gebissen hatte, also war er vielleicht doch ein bißchen komisch. Er blickte seine linke Hand an – die böse, die ungezogene, ungehorsame. Er versetzte ihr einen scharfen Klaps. Dann stand er auf und räumte seine Werkzeuge zusammen und verließ den Raum ohne einen Blick zurück, während er das Versicherungsformular zerknüllte und im Geiste grollte.
Als sich die Tür hinter ihm schloß, wurde gerade sein Flug nach Pewamo angekündigt. Hervorragendes Timing. Böse Hand. Böse böse Hand. Bedauern Sie Dreznik. In seinem ganzen Leben hatte er nie »Ich liebe dich« zu jemandem gesagt. Trotzdem war das eine scheußliche Art, mit einem Veteran von Adipietro umzugehen.
»Duden«, beharrte Finch. »Nein«, sagte Kuukkinen. »Pewamo. Das ist näher, und außerdem glaube ich, daß er da ist.« »Ich würde jede Wette eingehen, daß es Duden ist.« »Welches Verhältnis?« »Sieben zu fünf.« »Gemacht. Guillaume, Sie sind unser Zeuge. Sieben Royais gegen fünf.« Guillaume sagte: »Bei Finch ist mir klar, wie er seinen Einsatz machen will, aber bei Ihnen nicht. Schließlich hat Finch Geld auf der Hand, weil er mich zur Strecke gebracht hat. Aber nehmen Sie Villiers nicht zu sehr auf die leichte Schulter?« »Nein, Sir«, erwiderte Kuukkinen. »Ich habe den größten Respekt vor ihm. Ich glaube bloß einfach daran, daß er auf Pewamo ist. Phils Wette wird mir ein ausgezeichneter Trost sein, sollte Villiers sich als zu groß für mich erweisen, und da ich Villiers an erste und Phil an vierte Stelle setzen würde, mag dem durchaus so sein. Und jetzt erlauben Sie mir vorzuschlagen, daß Sie beide mich auf meinem Abstecher nach Pewamo begleiten. So viel ich weiß, verfügt der Planet über Touristenzentren. Nachdem Villiers gefunden ist, können wir alle auf Phils Kosten Urlaub machen.« »Falls Villiers gefunden wird.«
Finch und Guillaume waren mehr als bereit, sich Kuukkinen anzuschließen. Auf Shiawassee war es langweilig gewesen, seit Morris, der Robot, seiner Inquisition unterzogen und Broccolis Haushalt in Unordnung gestürzt worden war. Tatsächlich konnten sie sich nichts Prickelnderes vorstellen, als sich auf den Weg zurück nach Yuten zu begeben. Das hier erschien ihnen als ein glücklicher Ersatz. Als das Schiff nach Pewamo angekündigt wurde, bestiegen sie alle das orangene Transportwägelchen und rollten farbenfroh vom Hafenhaus hinfort. Finch meinte: »Ich freue mich schon auf die Gelegenheit, Ihre Arbeitsweise zu beobachten, Elmo.« »Ich werde gewiß mein bestes geben.« »Und wie gut ist das?« »Gut genug. Auf jeden Fall bin ich des Spaßes wegen eingestiegen, nicht wegen des Gewinns.« »Ich bin wegen des Gewinns dabei.« Guillaume sagte: »Ich bin des Spaßes wegen eingestiegen und habe wenig Spaß gehabt. Jetzt, da ich wieder draußen bin, amüsiere ich mich prächtig.« Plaudernd und scherzend betraten sie das Schiff und fanden eine Sitzgruppe, die ihnen zusagte. Finch nahm Platz und wirkte plötzlich ernüchtert. »Stimmt etwas nicht, Mr. Finch?« erkundigte sich Guillaume. In gesenktem Tonfall sagte Mr. Finch: »Ich fürchte, ich könnte Ihnen bald sieben Royals schulden, Kuukkinen. Versuchen Sie, den Eindruck zu vermeiden, als würden Sie hinschauen. Dort. Der Mann in Schwarz.« »Ich sehe ihn, aber ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Das ist Solomon ›Biff‹ Dreznik.« »Ich bin ja bereit, Ihnen das zu glauben«, meinte Kuukkinen, »aber ich kenne den Namen trotzdem nicht.«
»Dann kennen Sie Villiers weniger gut, als ich dachte. Dreznik ist ein Meuchelmörder. Vor drei Jahren ist er bei einem Anschlag auf Villiers’ Leben getötet worden. Ich wette, daß er der Mann in Schwarz ist, der Morris aufgemacht hat, und daß er zwischenzeitlich nach Duden geflogen ist und wieder zurück.« »Die Wette halte ich nicht«, sagte Kuukkinen. »Was sollen wir jetzt tun?« sagte Guillaume.
X
Die herausragendste Eigenschaft des Menschentieres ist sein Bedürfnis, Gegenstände zu manipulieren. Es muß das tun. Es kann nicht anders. Dieses Bedürfnis als gegeben angenommen, reagieren Menschen auf drei Arten darauf: Einige rechtfertigen ihr Herumgepfusche mit der Idee des Fortschritts. Manipulationen werden zum rationalen Versuch, Ziele wie mehr und größer, weiter und besser zu erreichen. Es gibt viele Menschen dieses Schlages im Dienst des NashuiteImperiums. Sie sind glücklich oder nicht, je nachdem, ob sie Erfolg haben oder scheitern, und am Ende sind sie alle unglücklich. Einige andere begreifen, daß mehr und größer, weiter und besser überhaupt keine Ziele sind, sondern bloße vage Punkte auf einer unendlichen Linie, die ins Nichts führt. Diese Menschen sind auch unglücklich, weil sie Gründe für das brauchen, was ihre Hände zu tun beschließen, und ohne die Idee des Fortschritts haben sie keine. Die letzte Gruppe? Die ist nur klein. Es sind jene Menschen, die die Tatsache akzeptieren, daß Manipulieren das ist, was menschliche Wesen nun einmal tun, und glücklich vor sich hinmanipulieren. Nehmen Sie einen Faden von ungefähr sieben Fuß Länge und binden Sie die Enden mit einem adretten kleinen Knoten zusammen. Hängen Sie den Faden über den Daumen und den kleinen Finger beider Hände. Haken Sie Ihren rechten Zeigefinger über den linken Handflächenfaden. Ziehen Sie den Faden in die andere Richtung weg und verdrehen Sie ihn dabei
mehrmals, indem sie den Zeigefinger kreisen lassen. Nehmen Sie mit dem linken Zeigefinger den Faden auf, der die rechte Handfläche an der Wurzel des rechten Zeigefingers kreuzt. Ziehen Sie die Hände auseinander und lassen Sie Schlingen vom rechten Daumen und kleinen Finger gleiten. Und siehe da, zwischen Ihren beiden Händen haben Sie nun einen deutlichen Fischspeer. Das ist mal eine leichte Übung. Sie würden eine Stunde brauchen, um zu lernen, wie man eine Koralle macht, und einen Tag für die Gewirkte Tür. Und ein weiser Mann weiß, daß er ein ganzes Leben mit einem sieben Fuß langen Stück Faden zubringen und seine Möglichkeiten doch nicht alle erschöpfen könnte. Fäden waren zufällig nicht die von Villiers auserwählten Gegenstände, aber sie hätten es durchaus sein können, ebenso wie das Geschäftsleben oder Wahlkämpfe oder jede der anderen naheliegenden Möglichkeiten. Im gegenwärtigen Augenblick entschied er sich jedoch dafür, sich mit der Konstruktion rustikaler Möbel und Fallen und dergleichen Dinge mehr zu befassen. (Befassen.) Und war glücklich dabei.
Das Feldbett bestand aus schlichtem Segeltuch, ausgespannt über rückenzermarternden Metallknochen. Es war dafür ausgelegt, dem Motto »Die Raummarine schläft nie« Substanz zu verleihen. Wer immer das Pech hatte, den Nachtdienst im Entwicklungsareal Binkin-Insel zu erwischen, durfte mit Genehmigung von oben sein Bestes tun, eine Mütze voll Schlaf zu erwischen, solange er es nur auf besagtem Feldbett tat. Seine Vorgesetzten ruhten derweil behaglich und in dem sicheren Wissen, daß ein guter Mann hellwach und auf dem Posten war.
Es gab noch ein zweites Feldbett, gerade eben weniger feindselig genug, daß ein entschlossener Mann in einer Nacht vielleicht vier Stunden darauf schlafen konnte. Derzeit war es in Gebrauch. Admiral Beagle lag zusammengeklumpt darauf und schlief so fest, wie es ihm eben möglich war. Auf dem Knochenbrecher saß mit untergeschlagenen Beinen der junge Mann, der von Admiral Beagle eine Tirade zum Thema »Transportmöglichkeiten« und eine weitere zum Thema »höckerige Feldbetten« hatte ertragen müssen. Er hielt ein Zeremonienschwert in Händen. Mit kunstvollen bihändigen Schwüngen vollzog er die vorgeschriebenen Andachtsübungen. Von Zeit zu Zeit schürzte er verächtlich die Lippen gegen Admiral Beagle, was nur beweist, daß religiöse Übungen, die darauf angelegt sind, das Gemüt zu beruhigen und das Herz zu besänftigen, von nur geringem Nutz und Fruchten sind ohne die Unterstützung eines willigen Geistes. Die Tür öffnete sich und ließ den Morgen ein. »Sachte, sachte, Jackson«, sagte Comroe, während er einem auf präzise Weise wilden Streich aus dem Wege ging. »Das Schiff von Pewamo Central muß jede Minute kommen.« »Ich steh’ gleich auf. Ich steh’ gleich auf.« Witsch, witsch, witsch. »Schon gefrühstückt?« »Nein, ich trink’ ne Tasse von was Heißem.« »Wer is’n denn das?« Ein Nicken zum zweiten Feldbett hinüber. »Admiral Walter Beagle. Sagte, er hätte keinen anderen Platz zum Pennen. Aber mit dem Feldbett da war er auch nicht glücklich.« »Du hättest ihm deines geben sollen.« »Glaub’ mir, ich habe mich versucht gefühlt.« Witsch, witsch.
»Ich habe eine Nachricht für ihn.« Comroe lächelte. »Gerade aus dem Com-Center mitgenommen. Ich wußte allerdings nicht, daß er hier ist.« »Ja, er ist hier. Worüber lächelst du?« »Die Nachricht für Beagle besagt, daß er seines Postens als Vorsitzender des Kunstausschusses des Tanner-Trusts enthoben worden ist.« Das Schwert senkte sich langsam in einem Bogen dem Fußboden entgegen. »Das meinst du doch nicht ernst. Sie haben ihn gefeuert? Hey, laß mich ihm die Nachricht geben.« »Wenn du willst.« Jackson hüpfte vom Feldbett herunter, legte das Schwert nieder und begann, notwendige Renovierungsarbeiten an seiner Garderobe vorzunehmen. Wenn man einem Admiral schlechte Neuigkeiten mitteilt, ist es am besten, untadelig auszusehen und sich auch so zu benehmen. Er produzierte ein glückliches, melodisches kleines Pfeifen. »Ah, ja.« »Das Schiff kommt rein.« »Erst die Nachricht, dann das Schiff.« Jackson nahm die Nachricht, las sie zur Bestätigung, lächelte breit und nahm sich alsdann selbst an die Kandare. Ernst, energisch, ich tue nur meinen Job, und ich stelle keine Fragen. Ho, ho. Er packte Admiral Beagle an der Schulter und schüttelte ihn wach. »Was soll das bedeuten?« fragte Admiral Beagle trübe. »Nachricht für Sie, Admiral.« Admiral Beagle raffte sich weit genug auf, um seine Füße auf den Boden zu setzen. Er war kein Schnellaufsteher. Er starrte den Boden an, als lese er unheilverkündende Vorzeichen in der Maserung des Holzes, dann schüttelte er den Kopf und streckte eine Hand nach der Nachricht aus. Jackson deponierte sie mit
froher Exaktheit in ebenjener und trat anschließend einen Schritt zurück. »Mein Gott, schau dir das an!« sagte Comroe. Er stand am Fenster, von wo aus er auf das Landefeld schaute. Jackson gesellte sich zu ihm. »›Mein Gott‹ ist genau richtig«, meinte er. »Wo kommen denn die alle her? So viele Fremde habe ich in den letzten fünf Jahren nicht gesehen.« »Komm«, sagte Comroe, und die beiden gingen nach draußen. Admiral Beagle betrachtete die Nachricht in seiner Hand mehrere Minuten lang, bevor ihm ihre volle Bedeutung klar wurde. Er war seines Postens enthoben. Und das in dieser Stunde, da Frieden und Stabilität von Außerirdischen und bösen, geisteskranken Menschen und Neffen bedroht wurden. In dieser Stunde der Prüfung nahmen sie ihn aus der Feuerlinie. Er verstand es nicht. Was dachte sich der Administrator bloß dabei? Was war mit der Welt los? Langsam ging er zum Fenster hinüber, um seinen Geist Abstand gewinnen zu lassen. Was er sah, empörte und entsetzte ihn. Er war ein Mann, der sich leicht empören und entsetzen ließ. Er sah seinen Neffen und seine beiden Gefährten, die am Landefeldtor standen. Auf dem Feld befand sich die Fähre von Pewamo Central. Gerade ging eine Bande von zottigen Studenten und Yagoots von Bord. Ralphs verdammte Revolution. Ralph winkte dem Haufen zu, und der Haufen winkte zurück. Es mußten mindestens dreißig sein. Admiral Beagle wußte alles über Treue und Pflichterfüllung und die Notwendigkeit, einen klaren Kopf zu behalten, wenn alle rings um dich herum ihren verlieren und dir das in die Schuhe schieben. Er schaute sich um und erblickte Jacksons Zeremonienschwert, das immer noch auf dem Bett lag.
Als Comroe und Jackson ins Gebäude des Hauptquartiers zurückkehrten, waren Admiral Beagle und das Schwert verschwunden.
Ungeübte Hände gingen willig an die Arbeit. Wenige der Zimmerleute von Green Mountain hatten jemals Bauarbeiten dieser Art verrichtet, und viele hatten noch nie Arbeit irgendeiner Art verrichtet, aber alle stimmten darin überein, das als ein kleinkrämerisches Detail zu betrachten. Die Arbeit wurde von der Tatsache abgesegnet, daß alle bereit waren, sie zu tun, gerade so, wie die Binkin-Insel Respektabilität als Aufenthaltsort durch die schlichte Tatsache gewann, daß sie sich dort aufhielten. Ralph Weinsieder übernahm ihre Leitung, als sie landeten. Erst, als er dreißig Freunde und Fremde aus dem Fährschiff klettern sah, hatte er begriffen, daß, wenn er und John und Fillmore die Kontrolle über die Situation behalten wollten, einer von ihnen würde vortreten und die Spielregeln für die Neuankömmlinge bestimmen müssen. Und er wollte die Kontrolle behalten. Schließlich war es ja ihre Idee gewesen. Er sah Fillmore an. Fillmore konnte nicht. Er sah John an. John würde nicht, so sehr er auch gerne gewollt hätte. Also trat er vor. Er wußte nichts von Organisation, daher überraschte es ihn selbst, als er feststellte, daß seine Improvisationen wirkungsvoll waren. Er versammelte sie alle um sich und verkündete ihnen, daß sie der Green Mountain-Trupp seien. Er erklärte, womit sie würden fertig werden müssen, einschließlich seines Onkels. Er machte ihnen klar, was zu vollbringen sie im Begriffe stünden. Er zitierte freigebig und eindrucksvoll aus Heinrich V.: »Und Edelleut in England, jetzt im Bett, verfluchen einst, daß sie
nicht hier gewesen, und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht, der mit uns focht am Sankt-Krispinus-Tag!« Und schließlich führte er sie – singend – die Straße nach Green Mountain hinauf. Ralph war gleichermaßen entzückt und erschrocken von seiner Entdeckung, daß er ein Demagoge war – ein Volksführer. Es ist schon eine ganze Menge, die Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, und viele Menschen bringen nicht einmal das fertig. Wie viel mehr ist es da, die Verantwortung für eine ganze Schar zu übernehmen! Smetana sichtete kritisch die Fähigkeiten seiner neuen Arbeitskräfte, während Ralph und Daisy oben auf der Veranda die Schlaf-, Eß- und Arbeitseinteilung austüftelten. »Na dann, der nächste«, sagte er. »Treten Sie vor, wählen Sie ein Werkzeug. Sägen Sie ein Brett durch. Schlagen Sie einen Nagel ein. Ist gut, hören Sie auf. Ich seh’s schon. Ich seh’s schon.« »Aber ich bin willig«, sagte der Junge. Smetana ernannte die fünf Fähigsten zu seinen Unterführern und erteilte mit ihrer Hilfe eine Grundlektion im Gebrauch von Handwerkszeug. Er teilte jedem seiner Assistenten eine besondere Aufgabe zu und gestattete ihnen, sich ihre Mannschaften selbst zusammenzustellen. »Geschwindigkeit allein ist nicht gut. Sorgfalt bei der Arbeit!« gemahnte er sie, als die Gruppen sich in ihre jeweiligen Tätigkeiten stürzten. Anschließend zog er sich auf die Veranda zurück, wo Daisy und Ralph stiller arbeiteten. »Das ganze Gebäude scheint zu beben«, meinte Daisy. »Die Begeisterungsfähigkeit der Jugend. Eines kann ich dir sagen: Bei diesem Lärm werden wir abends für eine ganze Weile keinen Plumpser mehr zu sehen kriegen.«
Aber die Horde war der Green-Mountain-Trupp und fest entschlossen, das zu zeigen. Ralph hatte flüchtig erwogen, ihnen zur Steigerung des Zusammengehörigkeitsgefühls den Schlachtruf »Eins, zwei, drei, vier, wofür werken wir? Green Mountain, Green Mountain, hurra, hurra, hurra!« beizubringen, diese Idee dann aber als unnötig verworfen. Ralph überreichte Smetana den Ablaufplan. »Hier, das haben wir ausgearbeitet«, sagte er. »Alles, was Sie tun müssen, ist, die Namen einzusetzen.« Dann ging er zur Brüstung und rief: »John! Hey, John.« John kam mit einem Hammer und einem mürrischen Gesichtsausdruck hoch auf die Veranda. »Die lassen mich für deinen Freund arbeiten, Pyatt Blevko.« »Tja, sehen wir den Tatsachen ins Gesicht, John. Du bist eben nicht sehr gut mit dem Hammer. Aber mach dir nichts daraus. Wenn ich hämmere, werde ich es auch unter der Anleitung von jemandem wie Pyatt tun.« John drehte den Hammer um und hielt ihn Ralph hin. »Äh, nein«, sagte Ralph. »Nicht jetzt sofort. Ich gehe runter zu Mr. Villiers’ Lager.« »Warum?« wollte John wissen. »Ich will ihn fragen, ob wir nicht heute abend da unten eine Show machen dürfen. Wir können alle mit runter nehmen und so spielen, wie wir neulich abends gespielt haben. Und wenn wir fertig sind, können wir Torve solo auftreten lassen. Das wird allen richtig klarmachen, was wir eigentlich vorhaben.« »Das ist eine gute Idee«, sagte John. »Das ist eine großartige Idee.« Ein wenig zögernd erkundigte sich Smetana: »Sie machen heute abend eine Show im Lager Ihres Freundes Mr. Villiers?« »Nun, wir haben das sozusagen in der Planung.« »Glauben Sie, daß wir willkommen sein würden, Daisy und ich?«
Daisy blickte ihren Gatten lange und scharf an. Sie gab aber keinen Kommentar ab. Auf Shiawassee hätte das daran gelegen, daß man so etwas nicht tat. Bei Daisy lag es einfach daran, daß sie es nicht tat. »Natürlich«, meinte Ralph. »Natürlich wären Sie willkommen. Wir werden dafür sorgen, daß Sie die besten Plätze kriegen.« Er wandte sich John zu. »John, während ich weg bin, bist du verantwortlich.« »Wofür?« Ralph gestikulierte zu der Blasen entwickelnden Horde hinüber. »Oh«, sagte John. »Oh. Oh, ja.« Er lächelte. Ralph machte sich auf den Weg zu Villiers’ Lager, wobei er sich daran erinnerte, die Straße und den Fußpfad zu benutzen. Er hielt im allgemeinen viel von Villiers, aber gewisse bizarre Aspekte seines Wesens – wie etwa das Bedürfnis, Behemothenfallen zu bauen – fand er verblüffend und exzentrisch. Smetana blickte Daisy an und lächelte dann wehmütig. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Es ist am besten, hinzugehen. Es ist am besten, es hinter sich zu bringen. Dann muß ich mir keine Sorgen mehr machen.« John stolzierte einige Minuten lang mit verschränkten Armen die Veranda auf und ab und fühlte sich sehr als Herr der Lage. Da waren sie, und hier war er. Er schaute auf sie herab, außer auf die wenigen, die weiter oben im Gebäude waren als er selbst. Er verbrachte ein paar Minuten damit, sich auf diese Art zu amüsieren, aber schließlich gab er es auf. Er wog den Hammer in der Hand und seufzte. Dann kam er wieder von der Veranda herunter und ging zurück an die Arbeit unter Pyatt Blevko. Weil er es so wollte.
Fred stapfte voraus, die Bergflanke hinauf, wobei er einem markierten Pfad folgte. Gillian folgte hinter ihm. Sie trugen beide Rucksäcke. Gillian war in Schweigen versunken. So, wie manche Frauen eine Vielfalt von Plaudereien anbieten, verfügte sie über Schweigen für jede Gelegenheit. Einige erschrocken. Einige fragend. Einige intelligent. Einige warm und tröstlich – aber von denen haben Sie noch keines mitbekommen, kein wirklich gutes jedenfalls. Das hier war grau und schmal, ein nachdenkliches Schweigen. Fred nahm keine Notiz von ihrer ernsten Stimmung. Sofern man nicht weiß, welche Zeichen man zu lesen hat, sieht ein Schweigen von außen wie das andere aus. Er sprach von dem, was sie sahen, und wie es sich im Gleichgewicht befand. Manchmal drehte er sich um und deutete auf etwas oder hielt an und kniete nieder. Manchmal sprach er davon, welche Taten der Menschen ein Eindringen darstellen würden und welche nicht. Sie durchquerten drei Wälder. Er zeigte, wo der eine endete und der nächste begann, nicht in klaren Abgrenzungslinien, sondern in allmählichen Übergangszonen. Hoch über anderen seiner Art ein kleines Gehölz, ein selbstgenügsames Wäldchen in einer sicheren Tasche unter der Bergschulter. Trotz seines Versagens, das zu erkennen, was schließlich auch überaus schwer zu erkennen war, nämlich die Richtung von Gillians Gedanken, benahm sich Fred exakt so, wie er sich benehmen sollte. Trotz seines Versagens, das zu erkennen, was, jedenfalls für gewöhnlich, überaus leicht zu erkennen war, nämlich die Tatsache von Gillians Weiblichkeit, machte er sich immer noch nicht so schlecht. Er kümmerte sich um seine Angelegenheiten und hatte mächtig Spaß dabei. Er betrachtete es als seine Angelegenheit,
in eine Höhle hineinzujohlen, einfach nur, weil es Laune machte. Er betrachtete es als seine Angelegenheit, einen Unterschied zwischen den Blumen der einen und der anderen Wiese festzustellen. Er betrachtete es als seine Angelegenheit, mit den Vögeln zu sein, die wie silberne Blätter in einer azurnen Schüssel dahintrieben. Wenn Sie einen Hund mit Beständigkeit behandeln, ihm Beachtung und Zuneigung und Sicherheit schenken, werden Sie erfahren, wieviel der Hund wert ist, den Sie da haben. Dasselbe Rezept funktioniert bei Menschen sogar noch besser. Daß Fred Gillian von Natur aus und nicht aus Prinzip auf diese Weise handelte, sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Sie hielten zum Mittagessen an. Hier wuchsen keine Kräuter, die man hätte rösten können. Fred machte eine diesbezügliche Bemerkung. Gillian öffnete daraufhin ihren Rucksack und holte Stengelstücke heraus, die sie im Laufe des Morgens abgeschnitten hatte. Salz. Honig. Ein richtiger Großer Biber plant voraus. Fred beglückwünschte sie. Also rösteten und salzten sie und tauchten ein. Als sie weitermarschierten, fühlte sich Gillian beinahe sicher genug, um zu sprechen. Aber man kann so etwas nicht einfach sagen. Man muß sich hineinarbeiten. Als sie fürbaß schritten, hatte sie daher Kummer gegen Nervosität eingetauscht. Ihre Hände, die sie in die Taschen ihres Übermantels geschoben hatte, zitterten vor Anspannung. Fred fuhr fort, in seiner beständigen, offenen Art weiterzusprechen. Einmal allerdings hielt er inne, um zu fragen: »Hast du noch Kraft? Du fängst langsam an, müde zu wirken.«
In jenem Augenblick, in jenem Augenblick, da hätte sie beinahe gesprochen. Aber sie tat es nicht. Sie schüttelte den Kopf und winkte ihm, weiterzugehen. Zu guter Letzt kamen sie in das Reich von Fels und Wolke und Wind. Nur wenig wuchs hier. An diesem Ort, sogar mehr noch als anderswo, war das Leben eine Sache der Fruchtbarkeit, die verfügbaren Ritzen und Nischen zu besamen. Humus sammelte sich, wo immer er konnte, und aus ihm wuchsen Moose und andere niedrige Formen des Lebens. Vereinzelte winterfeste Bäume forderten den Zorn des Windes heraus, duckten sich krummrückig hinter vergeßlichen Felsen und beteten, unbemerkt zu bleiben. Der Fels war bereit, sich Freds und Gillians Gehen gefallen zu lassen, wenn sie nur darauf achteten, wohin sie ihre Füße setzten. Die Wolke hing über ihren Schultern und wedelte verwirrende Nebelfinger vor ihren Augen. Der Wind, ruhelos wie eh und je, wehklagte, während sie dahinschritten, pfiff durch Stahlzäune, sang von reiner kalter Liebe, von Regen und Schnee. Sie wußten, daß sie hier nur geduldet waren. Sie erreichten ein Vorgebirge, einen vulkanischen Pfropfen, und nach einiger Kraxelei dessen Gipfel. Sie wagten nicht, sich aufrecht hinzustellen, um nicht weggeweht zu werden, und so klammerten sie sich einfach fest und blickten staunend in alle Richtungen. Fels und Wolke trübten ihre Aussicht, aber geradewegs unter sich konnten sie einen Granitsturz erkennen und dann den Wald, steil aufgestapelt, und das Meer. Es gab auch eine Straße, aber die konnten sie nicht sehen. Auf der anderen Seite, dem sanfter ansteigenden Hang, über den sie hinaufgekommen waren, gab es noch mehr Klippen und Wald. Andere Einzelheiten verloren sich. Gillian glaubte, daß sie nie zuvor so hoch gewesen war. Natürlich war sie das, aber nie aus eigener Kraft. Es macht
einen Unterschied, ob man sich sicher in einem Schiff befindet oder sich an das Antlitz eines Berges klammert, hoch über dem Meer. Von dem Vulkanpfropf wieder herunterzukommen, war schwerer, als ihn hinaufzuklettern. Fred ging als erster. Kurz vor dem Hangende streckte er die Hand aus und half Gillian über eine schwierige Stelle hinweg. »Handschuhe«, sagte Fred. »Du solltest Handschuhe tragen. Wenn wir uns direkt auf den Heimweg machen, sollten wir vor der Dunkelheit da sein.« Dunkelheit? Das klang gut in Gillians Ohren. Sie gibt einem etwas, worin man sich verstecken kann. Im Dunkeln ist es leichter, zu reden. Vielleicht.
Villiers rief Torve zu sich herüber, damit er ihm half, an einem Seil zu ziehen. Es erforderte ihr vereintes Gewicht, es zu straffen, und Villiers hatte erhebliche Schwierigkeiten, es an der vorgesehenen Stelle festzuzurren. »Jetzt passen Sie auf, wohin Sie treten«, sagte Villiers. Die Schwierigkeit bei Fallen als Instrument der Politik ist, daß es ihnen an der Fähigkeit mangelt, zu unterscheiden. Torve kehrte zu seiner Lektüre zurück, und Villiers begann, rings um seinen Bauplatz herum aufzuräumen. Normal und harmlos, so sollte es stets aussehen. Während er in diese Verschönerungsarbeiten vertieft war, trieb Claude dicht über ihm dahin. Claude war der örtliche Plumpser des Lagers. Er interessierte sich offensichtlich für alles und ließ sich durch nichts entmutigen. Villiers betrachtete seine Arbeit und fand sie gut. Er hielt noch ein letztes Mal Ausschau nach möglichen verräterischen Kleinigkeiten, fand jedoch keine. Befriedigt begab er sich
hinunter ins Lager, um einen anderen Blickwinkel auszuprobieren. Auch von dort sah alles prima aus – bis auf eine Kleinigkeit. Claude, der Plumpser, schwebte genau darüber und ließ keine Anzeichen für einen Rückzug erkennen. Normal und harmlos, so sollte es stets aussehen. Eine normal und harmlos erscheinende Falle verliert etwas, wenn eine kleine rosa Wolke über ihr hängt. »Hau ab«, sagte Villiers. »Los, beweg’ dich schon.« Sie tat es nicht. Er warf einen Kieselstein nach ihr und verfehlte sie. Und immer noch bewegte sie sich nicht. »Na ja«, sagte er und wandte sich ab. Gerade kam Ralph den Pfad herauf. »Oh, hallo, Ralph«, begrüßte Villiers ihn.
XI
Ich möchte wetten, Sie haben noch nie in Ihrem Leben ein richtiges Abenteuer erlebt. Dem Weisen Aldahondo, dessen nach wie vor bekanntestes bon mot »nichts riskieren, nichts verlieren« ist, würde das bestimmt gefallen haben. Er hatte keinen Hang zum Abenteuer. Er klammerte sich krampfhaft an seinem Leben fest, damit es auch ja keiner berührte und es dabei vielleicht beschädigte. Und das tun die meisten von uns. Wir führen Leben, von denen wir wissen, daß sie sicher, behaglich und stinklangweilig sind. Im geheimen jedoch beneiden wir jene, die ihr Leben nach dem Fallen der Würfel ausrichten. Ihrer ist das Abenteuer. Aber Solomon »Biff« Dreznik hatte sein Leben dreimal bei der verwegenen Jagd nach der Gefahr verloren und kannte das Abenteuer nicht. Das Abenteuer ist jenen nicht Abenteuer, die nicht fühlen können. Im geheimen beneiden wir jene, die große Wagnisse im Namen romantischer Liebe auf sich nehmen. Ihrer ist das Abenteuer. Aber Gillian U war waghalsig viele Meilen fern der Heimat und überdies in einer Mission unterwegs, die nur als romantisch bezeichnet werden kann, und doch kannte sie das Abenteuer nicht. Das Abenteuer ist jenen nicht Abenteuer, die mit dem Fremden und Erschreckenden umgehen müssen. Aber warum sehnen Sie sich nach dem Abenteuer? Leben und Tod umgeben Sie. Ihre Leben stehen tagtäglich auf dem Spiel. Und Sie, Sie dreisten, anmaßenden, siegesgewissen Menschen, Sie schreiten durchs Leben und gehen dabei so
mechanisch und berufsmäßig mit Gefahr und romantischer Liebe um, daß Sie sie nicht einmal bemerken. Sie erleben Abenteuer. Aldahondo hat Abenteuer erlebt. Er hat sich bloß diese Tatsache nie eingestanden. Gestehen Sie sich die Tatsachen ein. Vorwärts! Finden Sie Ihre Abenteuer in den gewöhnlichen Erfahrungen des Alltags. So wie Villiers. Das Licht begann zu verblassen, der Himmel aufzuklaren und die Luft, sich abzukühlen, als Fred und Gillian wieder im Lager ankamen. Villiers sagte: »Ich bin froh, daß ihr zurück seid. Ich brauche jemanden, der Wasser holen geht. Müde?« Fred streifte seinen Rucksack ab. »Nicht besonders. Allerdings könnte ich ein gutes Abendessen gebrauchen.« »Ist in einer Minute fertig. Aber erst muß einer wegen des Wassers gehen.« Gillian nahm ihren Rucksack ab. Sie war müde, aber nicht erschöpft. »Wir werden nach dem Essen Gesellschaft haben«, teilte Villiers ihnen mit. »Wieder dieselbe Bande?« fragte Fred. »Um dreißig verstärkt.« »Dreißig! Dies sollte eigentlich ein möglichst schlichter Urlaub sein.« »Ja, daran erinnere ich mich. Aber das Leben eröffnet uns manchmal Möglichkeiten, die wir nicht vorhersehen können. Man muß sie sich zunutze machen. Wir werden heute ein Konzert für die dreißig veranstalten. Und dann gibt Torve eine Solovorstellung.« Fred berührte seinen Schnurrbart und seufzte dann. »Na denn. Hol dich der Teufel, Tony. Wenn mir diese Band nicht
so viel Spaß gemacht hätte, würde ich heute abend nicht spielen.« Villiers lächelte. Gillian ebenfalls. Sie blickte auf ihre immer noch blasenbedeckten Finger und entschied, daß ja, sie konnte und wollte. Sie schaute auf und lächelte noch einmal. Villiers schaute sie an und hob die Augenbrauen, wobei er den allerwinzigsten Wink in Richtung Fred machte. Sie schüttelte den Kopf. Fred sagte: »Was macht der Plumpser eigentlich, der da drüben rumschwebt?« Villiers erklärte: »Das ist Claude. Ich kann ihn einfach nicht loswerden. Ich frage mich, was er von unserer Musik halten wird.« Nach einem Augenblick stand Gillian auf und nahm den Eimer, um darin Wasser zu holen. Villiers kümmerte sich um das Essen, und Fred redete. Sie spazierte den Pfad entlang, nachdenklich den Eimer schwingend. Heute abend. Ja, nicht vielleicht. Das Problem ist bloß, daß dein Verstand dich nicht läßt. Du mußt ihn austricksen. Du könntest eine Unterhaltung beginnen – wenn Unterhaltungen deine Stärke sind. Du könntest eine Unterhaltung beginnen, die, oh, eine Million Meilen weit weg anfängt, und dich gemächlich mit ihr treiben lassen. Der Verstand beruhigt sich. Der Verstand beruhigt sich. Die Zunge trägt die ganze Last. Dann reichst du der Zunge die Worte an, die du sagen willst, und sie sind ausgesprochen, bevor der Verstand es verbieten kann. Wenn du gut reden könntest. Aber das konnte sie nicht. So ging sie weiter, schwang den Eimer und dachte nach. Die Antwort kam, als sie schon wieder die halbe Strecke den Hügel hinauf war, seitwärts gehend, den gefüllten Eimer in beiden Händen, einen Ellenbogen höher als den anderen gegen
die Neigung des Hügels. Die Antwort kam, und sie stellte den Eimer ab. Sie klatschte einmal in die Hände und lächelte breit. Aber freilich – sie mußte es immer noch tun.
Admiral Beagle strich mit dem Finger den Rücken der langen Klinge entlang. Er rieb die Hände aneinander. Er packte das Schwert mit einem beidhändigen Griff, indem er den Zeigefinger seiner linken Hand mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand verschränkte und seinen linken Daumen längs des Heftes und unter seinen rechten Daumen legte. Er grüßte das kleine Bäumchen mit erhobener Klinge. Holà. Admiral Beagle war großartig. Der Schößling war von der Wut seines Angriffs so überwältigt, daß er keinerlei Widerstand leistete; so hypnotisiert war er von der Magie der Klinge, daß er den Schmerz ohne Protest ertrug. Ein Hieb nach links, ein Hieb nach rechts, und dann der enthauptende Streich – schnipp, schnapp, schnorum.
Fred sagte: »Eigentlich hätte ich wegen des Wassers gehen sollen, aber ich wollte mit dir reden, Tony.« »Es tut einem Gast nicht weh, eine Hand zu heben.« »Vermutlich nicht.« Fred setzte sich auf einen Felsen. Er blickte Villiers an, der rings um das Feuer geschäftig tätig war. Der Wind wurde mit dem Feuer handgemein. »Hast du jemals einen Mann geliebt?« erkundigte sich Fred. Villiers verdaute die Frage. »In welchem Sinne?« »Sexuell.« »Bisher nicht. Warum?«
»Oh, das hängt damit zusammen, herauszufinden, wer man ist. Ich dachte, ich wüßte ganz schön viel über mich, und jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« »Warum nicht?« »Es ist wegen David – ausgerechnet wegen dem! Ich habe ihn heute angefaßt, und das hat mir so einen Schock versetzt, daß ich nur noch irgendwas Schwachsinniges über Handschuhe plappern konnte. Ich habe mir den ganzen Nachmittag den Kopf deswegen zerbrochen. Ich muß sagen, ich finde ihn attraktiv.« »Kleinere Entgleisungen zählen nur wenig in den großzügigen Augen eines grundgütigen Himmels. Gott drückt die Augen zu bei einem einzelnen Schlückchen Wein oder einem gelegentlichen lüsternen Blick.« »Oh, das ist es nicht, Villiers. Es macht mir nichts aus, abgesehen davon, daß ich meine Selbsteinschätzung ändern muß. Aber ich habe mir Gedanken über David gemacht. Soll ich ihn nach Hause schicken, oder möchtest du seine Ausbildung zum Großen Biber übernehmen? Ich glaube nicht, daß ich weitermachen sollte. Er ist zu jung.« Fred hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn nach Claude, dem Plumpser. Er traf besser als Villiers, vielleicht, weil seine Absichten weniger feindselig waren. »Ich wäre froh, wenn Sie damit aufhören könnten«, sagte der Plumpser. Wenn eine kleine rosa Wolke mit Ihnen spricht, sind sehr vielfältige Reaktionen möglich. Sie können sich vor die Brust schlagen und sich die Haare raufen, sei es aus Furcht oder aus Verzückung. Sie können ihre Augen nach oben rollen lassen und in todesähnliche Bewußtlosigkeit fallen, aber das führt dazu, daß Sie eine Menge von dem versäumen, was weiter vor sich geht.
Fred sagte: »Ich würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erklären, warum?« »Ja«, erwiderte der Plumpser. »Ich bin Gott. Und was noch wichtiger ist, ich drücke die Augen nicht bei einem einzelnen Schlückchen Wein oder einem gelegentlichen lüsternen Blick zu. Ich lege strengere Maßstäbe an. Und ich bin mir nicht so ganz sicher, ob ich Homosexualität billige, also sehen Sie sich vor.« »Ich habe nichts getan.« »Nein, aber Sie haben daran gedacht.«
Ah, die motivierende Kraft der Fanpost! Clifford Morgenstern hatte Jahre damit zugebracht, darüber nachzugrübeln, welcher geheime, von ihm nicht in Rechnung gestellte Einfluß den vorausgesagten Farbfluß in seinem Pantographen störte. Dann war ein Brief aus dem Tanner-Trust gekommen und hatte es ihm verraten. Der kleine galoppierende Irre sagte: »Ich bin Clifford Morgenstern«, als sei das der Schlüssel zu allen Geheimnissen. Comroe blickte auf. »Ja, kann ich Ihnen helfen?« »Erkennen Sie mich nicht?« fragte Morgenstern. »Mein Name ist berühmt. Jeder kennt mich. Ich schrieb Farbwahl bei der galaktischen Pantographie. Lesen Sie es, Sir, und Sie werden nie mehr derselbe sein. Hier, lassen Sie mich Ihnen einen Brief zeigen, den ich von einem intelligenten jungen Mann auf Shiawassee erhalten habe. Der kennt seine Bücher.« »Ich darf während des Dienstes nicht lesen«, sagte Comroe höflich. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ja. Ich suche Admiral Beagle, diesen Kretin. Ich möchte mich ein bißchen mit dem Manne unterhalten.«
Comroe war natürlich außerstande, mit einer exakten Richtungsweisung zu dienen, deutete jedoch an, daß Green Mountain der rechte Ort sein möge, um Nachforschungen anzustellen. »Das ist nämlich die Richtung, in die der Rest von dem Zirkus auch weitergezogen ist«, formulierte er es in Gedanken. Die Worte hielt er allerdings zurück. Als Morgenstern sich aufgemacht hatte, ein kleines Fahrrad zu mieten, schüttelte Comroe den Kopf. »Mein dritter Autor«, sagte er, »und sie waren alle so.«
Solomon »Biff« Dreznik lag wie ein angelegter Pfeil auf der Hügelflanke. Er befand sich schon den ganzen Nachmittag dort. Sein Kopf war leicht im Gras erhoben. Seine Beine waren gestreckt, seine Fersen geschlossen. Seine Arme hatte er gegen die Seiten gepreßt. Er zielte mit sich selbst und ließ die Kraft in sich wachsen. Er hatte den Abschluß von Villiers’ Fallenbau beobachtet und sie als das erkannt, was sie war. Er lächelte ein eisiges Lächeln der Verachtung. Er grinste ein hochmütiges Grinsen. Die Kraft fuhr fort, sich in ihm aufzubauen. Aus den Tiefen seines Ichs strömten warme Feuer herauf. Er konnte sie nicht zu früh aus sich entlassen. Er stieß nach dem Rot, mit kaltem, schwarzen Gedanken; es stieß zurück, und eine Spannung baute sich auf. Zuerst hält Schwarz es leicht im Zaum, doch dann wächst die Kraft Rots. Bald ist es ein Kampf, zwischen Gleichen. Wenn Schwarz es nicht länger zügeln kann, bricht Rot hervor, und die Kraft entlädt sich. Solomon »Biff« Dreznik lag wie ein angelegter Pfeil auf der Hügelflanke und sammelte diese Kraft.
»Ich verlange nicht viel von Ihnen«, sagte Claude. »Bloß, daß Sie Gerechtigkeit walten lassen, die Barmherzigkeit lieben und voller Demut Hand in Hand mit mir gehen. Bildlich gesprochen, natürlich.« »Vergeben Sie mir, Sir… Ist ›Sir‹ respektvoll genug?« »Ja, aber Sie müßten es schon etwas nachdrücklicher sagen.« »Vergeben Sie mir, Sir«, fuhr Villiers fort, »wenn ich Ihnen sage, daß eine bloße Erklärung Ihrerseits nicht hinreichend ist, Glauben zu erzwingen. Falls Sie in der Tat wünschen, angebetet zu werden, wie Sie es nach Ihren Worten tun, sollten Sie lieber einen Beweis Ihrer Göttlichkeit erbringen.« »Warum sollten Beweise nötig sein, um zu glauben?« fragte der Plumpser. »Für manche Leute sind sie das nicht«, sagte Fred. »Für uns schon. Tut mir wirklich leid.« »Mir auch«, pflichtete Villiers bei. »Das Abendessen ist fertig, und wir können nicht damit warten. Sie werden uns aus dieser Diskussion entlassen müssen, bis wir gegessen haben.« »Sir«, fügte der Plumpser korrigierend hinzu. »Sir«, sagte Villiers in Anerkennung der Kritik. »Sie sollten die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt.« »Nicht vom Brot allein, aber auch vom Brot.« Fred warf ein: »Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß Sie kein besonderer Gott sind, wenn Sie die menschlichen Bedürfnisse nicht begreifen.« Der Plumpser schluckte die Zurechtweisung. »Na, schön«, sagte er. »Welche Art von Beweis würden Sie denn für hinreichend erachten?« Villiers meinte: »Ich glaube, es wäre besser, Sir, wenn Sie uns von sich aus einen Beweis anbieten würden. Wenn überhaupt irgendwer, dann müßten Sie es ja schließlich wissen.«
»Sie meinen, ich muß erraten, welchen Beweis Sie belieben würden zu glauben?« »Denken Sie darüber nach, während wir essen«, schlug Villiers vor. Er rief Torve aus dem Zelt, wo jener gelesen hatte. Er servierte Torve sein gesondertes vegetarisches Essen und legte dann den anderen und sich selber vor. Nach ein paar Minuten sagte der Plumpser: »Würde ein Blitzstrahl reichen?«
Ralph stand auf und ging zur Brüstung der Veranda hinüber. Er reckte sich. Er fühlte sich sehr zufrieden mit sich selbst. Er wandte sich um und sagte zu Smetana: »Halten Sie jetzt mehr von unserem Handel?« »War gar nicht so schlecht, glaube ich. Vielleicht zählt Begeisterungsfähigkeit doch mehr als handwerkliches Geschick.« Ralph griff nach der Mandoline. »Ich denke, wir sollten uns bald auf den Weg machen.« Smetana meinte: »Es ist so angenehm hier. Eine Schande, wegzugehen. Vielleicht noch ein paar Minütchen.« »Nein, ich glaube, wir sollten aufbrechen«, sagte Daisy. »Es wird auch angenehm sein, wenn wir gehen.« Smetana blickte sie zärtlich an. »Du kennst mich zu gut.« Ralph schritt die Verandastufen hinunter und wandte sich dann um, wobei er das Gefühl genoß, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er hielt die Mandoline vor dem Gebäude hoch wie einen Kommandostab. Poch, poch. Aaaach-tung! Und eins und zwei und drei, und eins und zwei und drei! Der Demagoge Ralph, der sein Volk führte. Sie sammelten sich auf sein Signal hin, und er ließ sie abmarschieren, zum
Maude Binkin-Gedächtnis-Campingplatz und ihrem Zusammentreffen mit der kulturellen Welle der Zukunft.
Kuukkinen sagte: »Ich nehme nicht an, daß es jetzt noch irgend welche Zweifel gibt, Phil. Sie schulden mir sieben Roy als.« »Wie gewonnen, so zerronnen«, meinte Finch. Er hob den Kopf. »Liegt Dreznik immer noch da?« »Ja. Ich denke, Mr. Guillaume und ich werden uns zur Straße hinunter lavieren und Villiers warnen müssen. Außer, wenn Sie bei einem Angriff auf Dreznik mitmachen wollen.« Kuukkinen überlegte. »Nein, das wohl nicht. Sind Sie sich der Tatsache bewußt, daß Sie mich um meine Chancen bei Villiers bringen werden?« »Nicht im geringsten, Elmo. Nicht im geringsten. Wir haben bloß Dreznik gesehen. Sie sind uns nicht unter die Augen gekommen. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich froh sein, ein solches Ablenkungsmanöver frei Haus geliefert zu bekommen.« »Dieses Ablenkungsmanöver nützt mir auch eine Menge, wenn Dreznik Villiers ermordet, bevor ich zum Zug gekommen bin.« »Ein ausgezeichneter Punkt, Mr. Kuukkinen«, sagte Guillaume. »Ausgezeichnet. Wir werden unser bestes tun, Villiers für Sie aufzusparen.« »Aber ihn dabei nicht zu warnen«, ergänzte Finch. Nachdem sie weg waren, richtete Kuukkinen sich auf die Knie auf und spähte den Hügel hinunter. Es wurde langsam zu düster, um das Lager sehen zu können. Dreznik war ein hagerer schwarzer Fleck im Gras. »Wie wäre es mit einem Wunder? Würde das reichen?«
Villiers erkundigte sich: »Was betrachten Sie als ein Wunder?« »Transsubstantiation gilt allgemein als in Ordnung.« Villiers schüttelte den Kopf. »Nein, unzureichend, Sir. Das kann man durch physikalische Mittel bewerkstelligen.« »Die Toten auferwecken?« »Nein, so gerne ich sehen würde, wie Sie das machen, und das würde ich wirklich, ist auch das in unserer Zeit ein Gemeinplatz.« »Ich fange langsam an, zu glauben, daß ich hartnäckigen Skeptizismus als ernste Sünde werten sollte. Hüten Sie sich, Ihr Guthaben bei mir verringert sich allmählich.« »Aber nicht doch, Sir. Ich behandle Sie nur mit der tiefen Ernsthaftigkeit, die Sie verdienen. Sicherlich werden auch Sie die Verehrung falscher Götter als eine ernste Perversion der natürlichen Ordnung betrachten.« »Oh, das tue ich. Das tue ich.« »Nun, wenn ich Sie dann einer genauen Prüfung unterziehe, so geschieht das nicht aus Respektlosigkeit, sondern auf daß ich Sie besser erkenne.« Fred sagte: »Wenn mir eine möglicherweise ungehörige Frage gestattet ist, warum haben Sie sich nicht schon früher zu erkennen gegeben?« »Ich bin erst vor vergleichsweise kurzer Zeit gewählt worden.« »Von wem?« fragte Villiers. »Von den anderen Plumpsern. Wenn es die Zeiten erfordern, versammeln wir uns und wählen einen aus unserer Mitte zu Gott. Ich bin noch nicht sehr lange Gott. Ich bin noch dabei, mich daran zu gewöhnen.«
Von der Straße drang Gesang herüber und kündigte die Ankunft Ralph Weinsieders und seiner Schar von Revolutionären an. Villiers meinte: »Ich glaube, ich höre unsere Gäste.« Torve sagte: »Ja. Sind Gäste, die kommen, um Frobb zu hören.« Fred tutete zum Aufwärmen auf seiner Kazoo. Villiers wandte sich an Claude. »Sir«, sagte er, »wir würden uns geehrt fühlen, Sie heute abend zu Gast zu haben. Es wird unterhaltsame Vorführungen geben, und nach dem Ende des formellen Teils des Abends wird gewiß Gelegenheit zu weltläufigem Gespräch bestehen. Ich freue mich außerordentlich darauf, unsere Diskussion fortzusetzen.« »Nun gut denn«, erwiderte der Plumpser. »Aber Sie lassen eine recht schäbige Werteskala erkennen.«
XII
Die Nacht ist unmoralisch regellos. Was man am Tag nicht tut, wird möglich in der Nacht: Mord und Sex und Denken. Die Nacht verleiht Größe und Macht. Ein Bihänderschwert wird eine Sichel. Ein angelegter Pfeil füllt sich mit Feuer. Ein* fünf Fuß vier Zoll großer Besessener, der auf einem Fahrrad durch die Nacht rast, sieht einen vom Mond geworfenen, dreißig Fuß langen Schatten und wünscht sich, daß jeder die Wahrheit sehen könne. Die Hand wird frei zu schreiben, was die Zunge nicht sprechen kann. Dreißig Yagoots und andere Tunichtgute erreichten den Zustand des Satori. Und Einer wird erfüllt mit einem Gefühl seiner eigenen Erhabenheit und dadurch befähigt, auf ein bißchen Aufmerksamkeit zu warten, wenn auch voll Ungeduld.
Nahezu alle waren auf ihren Plätzen. Die Jungs schubsten und beschimpften sich, während sie sich setzten. Die Instrumentalisten versammelten sich mit ihren Wannen und Mundbögen. Auf einer Seite des Feuers gab es eine natürliche Felseinbuchtung. Die Jungs saßen auf dem Hang auf der anderen Seite des Feuers. Ralph sagte: »Und darf ich Caspar und Daisy Smetana vorstellen. Sie sind die Besitzer des Green MountainTouristenzentrums und außerordentlich freundliche Gastgeber.« »Ich fühle mich geehrt«, erklärte Villiers, während er zugleich selamte. »Unser Vergnügen ist einfach. Ich hoffe, Sie finden Gefallen daran. Ralph – helfen Sie mir mal mit diesem
Baumstamm. Wir werden dafür sorgen, daß Sie einen so guten Sitzplatz haben wie nur eben möglich.« Villiers ließ die Löffel in die Tasche gleiten und winkte Ralph, die Mandoline wegzulegen. Sie hoben den kurzen Baumstamm hoch und trugen ihn den Hügel hinauf. Villiers wählte eine gute Stelle aus, und sie setzten den Stamm ab. Fred tutete auf dem Kazoo und rief: »Komm, Tony. Wir warten.« Eine Beifallssalve aus dem Publikum. Villiers sagte: »Sie entschuldigen uns. Wir müssen jetzt Musik machen.« Die Smetanas bekundeten nickend ihre Zustimmung. Als sie das Feuer umkreisten, wandte sich Villiers Ralph zu und sagte: »Wenn Ihre Reformen auf Schwierigkeiten stoßen, denken Sie daran, daß es ein großes Universum außerhalb des Tanner-Trusts gibt.« Ralph erwiderte: »Darüber habe ich letztlich auch schon nachgedacht.« Caspar und Daisy Smetana nahmen ihre Plätze ein und blickten den Hügel hinunter. Die Band war beinahe bereit, anzufangen. Villiers holte seine Löffel heraus und steckte sie sich zwischen die Finger. Caspar meinte: »Er hat nichts gesagt, nichts.« »Vielleicht hat er dich nicht erkannt.« »Nun, das ist nicht recht. Wenn die Musik vorbei ist, gehe ich hin und spreche mit ihm.« Die Musik begann. »Ist die laut«, sagte Caspar. »Ich glaube, mir gefällt sie«, antwortete Daisy. »Und jetzt pssst.«
Dreznik erhob sich abrupt auf die Knie. Seine Augen bewegten sich aufmerksam, und dann rannte er geduckt durch das Gras zum Waldrand. Dort hielt er inne und legte den Kopf schief angesichts der ungewöhnlichen Klänge, die ihm vom Winde zugetragen wurden. Vorsichtigen Schritt um vorsichtigen Schritt folgte er schließlich dem Waldrand auf die Felsen zu, in denen er Villiers seine Falle hatte bauen sehen. Einen entschlossenen Schritt um den anderen. Beim ersten Felsen blieb er stehen. Er blickte um seine Kanten herum und dann hinauf zu seiner unregelmäßigen Krone. Er konnte mit Unterbrechungen die vom Wind zerblasene Musik hören. Das Feuer wurde von Fels und Bäumen verborgen. Er sprang nach einem Halt an der Felsfront, aber seine suchenden Hände griffen daneben. Er stieß sich das Knie. Er trat einen Schritt zurück und versuchte es noch einmal. Seine Finger erfaßten etwas und hielten sich daran fest, und einen Augenblick lang zappelte er an seinen ausgestreckten Armen, bis er sich schließlich hochschwang und mit einer Hand höher hinauf reichte. Er entdeckte einen festen Vorsprung von Handgröße und zog sich daran nach oben. Einen Augenblick später war er auf der Krone des Felsens. Dort kauerte er sich nieder. Er fühlte sich wie eine Schlange, mit einer Zunge, die zuck, zuck, zuck in seinem Geiste machte. Eine Verlängerung des Nackens und ein Blick nach links. Durch die Bäume konnte er einige von denen sehen, die dort saßen und der Musik lauschten. Ihre Gesichter spiegelten inneres und äußeres Feuer wider. Ein Über-die-Schulter-Blick nach rechts. Wind, der in der Dunkelheit Bäume bewegte, und schweigende Felsen. Trippel, trippel, trippel, schlich er auf Zehenspitzen weiter, wobei er sich feinfühlig seinen Weg entlang der hohen Front
der Felsenlinie ertastete. Innehalten, springen. Sehr sicher auf den Füßen, ja, das war Dreznik! Er blieb stehen. Er kniete nieder. Er konnte die Musiker sehen. Sie hatten aufgehört zu spielen und legten gerade ihre Instrumente weg. Alle bis auf den mit der Mandoline. Der klimperte immer noch und wedelte damit herum. Er fand sie offensichtlich nützlich bei der Konversation. Genau vor Dreznik und vier Fuß unter ihm befand sich Villiers’ Falle. Für einen weniger achtsamen Mann war es der natürliche Platz, sich hinzulegen. Dreznik lächelte spöttisch über Villiers.
Gegen Ende eines jeden lang andauernden Unternehmens kommt ein unvermeidlicher Moment, da man das Ende sehen, die Hand sich aber nicht bewegen kann. Wenn die Hand sich bewegt, ist das Unternehmen vorüber, und sich das zu wünschen, ist eine Angelegenheit von großer Tragweite. Etwas in einem drinnen hat den Verdacht, daß Vorfreude besser sein könnte als Erinnerung, und möchte sich für einen letzten Moment an die Vorfreude klammern. Aber schließlich hat es etwas ein bißchen sinnloses an sich, in der Dunkelheit auf einer kalten, bewaldeten Hügelflanke zu sitzen, besonders, wenn man weiß, daß die Ereignisse sich ohne einen weiterentwickeln werden. Elmo Kuukkinen seufzte und stand auf. Er erkannte Drezniks Ruheplatz, als er ihn erreichte. Der Boden war warm und das Gras von seiner Körperwärme verwelkt. Dreznik selbst war Gott sei Dank verschwunden. Die Wiese hinauf kam der Klang einer Musik, die anders war als jede, die er je zuvor gehört hatte. Er konnte den Feuerschein über der Mulde mit dem Lager sehen, aber er konnte keine einzelnen Personen unterscheiden. Dann rauschte
der Mond hinter einer Wolkentafel hervor und warf seinen Schatten dreißig Fuß lang den Hang hinunter. Er hatte das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen. Kuukkinen warf sich zu Boden und erstarrte, und nach einer Minute verschwand der Mond wieder. Strauße wissen, was sie da machen. Kuukkinen seufzte. Er mußte unsichtbar bleiben. Er mußte Dreznik ausweichen oder ihn – irgendwie – überwältigen, falls er doch auf ihn traf. Und er mußte gegen Villiers punkten. Aber dann dachte er an die sieben Royals, die er bereits gewonnen hatte, und das Leben kam ihm noch immer möglich vor. Er huschte nach links davon, wo die Wiese anstieg und Wald trug und dann wieder abfiel und sich der Straße entgegensenkte. Es war ein unsteter, sanfter kleiner Hang. Er hielt sich dicht am Boden und arbeitete sich die Wiese hinunter. Er nutzte den Schutz der Bodenwelle, der winzigsten Erhebung, des Grases, eines einzelnen Baumes. Er bewegte sich vom einen zum anderen und machte sich jedesmal unsichtbar, wenn der Mond ihn anblinzelte. Endlich kam er an den letzten kleinen Hügel. Er lag mit der Wange flach an den Boden gepreßt da. Auf der anderen Seite des Hügels saß ein applaudierendes Publikum. Während er dalag, hörte die Musik auf. Er kroch Zoll um Zoll zum Hügelkamm und blickte hinüber. Feuer. Umrißhafte Rücken, einige stehend. Guillaume, Finch und ein kleiner Mann, den er nicht kannte, die alle auf Villiers einredeten. Gerade über ihnen etwas, das eine kleine rosa Wolke zu sein schien, die herabstieß und Sturzflüge machte, von der Menge angefeuert. Ein Baum stand genau unter ihm auf dem Abhang, und er schob sich darauf zu. Villiers schaute sich jetzt nach allen Richtungen um. Guillaume und Finch hatten ihn gewarnt.
Kuukkinen dachte daran, zu warten, bis Villiers ihm den Rücken zukehrte. Es war eine Sache von eins, zwei, drei Schritten, und er würde einfach ein weiteres Mitglied des Publikums sein. Dann noch einmal, eins, zwei, drei Schritte, und Villiers war bloß noch eine Armlänge von ihm entfernt. Aber nein, er konnte warten. Er legte eine stützende Hand gegen den Baum und verschmolz mit seinem Schatten. Sproing. Tauhände hoben ihn hoch in die Luft und ließen ihn baumeln. Sie hielten ihn so, daß er völlig hilflos war. Gefangen. Das Publikum wandte sich um und applaudierte.
Admiral Beagle stand da, die Beine seemännisch geschickt gespreizt. Die Schwertspitze stak in der Erde, und der Admiral stützte sich auf seine Hände. Seine Augen blickten verächtlich den Hügel hinauf. Er konnte den Lärm aus Villiers’ Lager hören, entartet und fremdländisch. Er dachte an die armen jungen Männer, deren Geist dort krank gemacht wurde, und an ihre unschuldigen Eltern. Er dachte daran, wie er verraten worden war. Er dachte an Villiers. (Und er lächelte nicht.) Er dachte an den Herrscher. (Er lächelte.) Er dachte an die Wahrheit. Er dachte an das Rechte. Er dachte an das Gute. Zorn stieg in ihm auf. Er atmete tief durch und wog das Schwert in seinen tüchtigen, ehrbaren Händen. Er räusperte sich und begann mit freier Kehle und klarem Geist, den Pfad hinaufzuschreiten. Als er sich in Bewegung setzte, hörte die Musik zu spielen auf.
Gegen Ende eines jeden lang andauernden Unternehmens kommt ein unvermeidlicher Moment, da man das Ende sehen, die Hand sich aber nicht bewegen kann. Wenn die Hand sich
bewegt, werden die Vielleichts beantwortet werden – und manche Vielleichts sind weniger anziehend als andere. Etwas in einem drinnen weiß, daß Vorfreude besser als Erinnerung ist, und möchte sich einen letzten Moment an die Vorfreude klammern. Aber das habe ich schon einmal gesagt. Die Hand bewegte sich. Als sie mit dem Spielen aufgehört hatten, ließ Fred sich auf einem Felsen nieder und blickte sich um. Er schaute zu dem Plumpser hinüber, der herumlungerte und darauf wartete, sich weiter mit Villiers zu unterhalten. Er betrachtete Villiers augenscheinlich als sein bevorzugtes Ziel für eine Bekehrung. Fred schaute nicht David an, der sich gegen denselben Felsen lehnte. Sollte er ihn auffordern, zu verschwinden? Er schaute Smetana an, der mit Villiers sprach, und dann wurde sein Blick von zwei wohlgekleideten, aber aufgelösten Fremden gefangengenommen, die den Pfad heraufkamen. Er schaute nicht David an. Mit unsicherer Hand, unsicherem Herzen und unsicherem Kopf schob Gillian das Briefchen zu ihm hinüber. Es bewegte sich auf ihn zu, langsam, aus eigenem Willen. Ihre Hand wurde womöglich noch langsamer, und dann, mit einer letzten Bewegung, stieß sie den Zettel vorwärts, bis er Freds Hand anstupste. Sein Kopf drehte sich. Er schaute auf den Zettel. Er schaute zu ihr auf und dann wieder auf den Zettel. Endlich griff er nach ihm. Er glättete ihn zwischen zwei Fingern. Dann faltete er ihn auseinander, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Das Briefchen lautete: »Ich bin Gillian U. Ich verstehe etwas von Agrostologie.« Er las es noch einmal.
Torve blickte Villiers erwartungsvoll an. »Hat Spaß gemacht«, sagte er. »Wann Frobbe ich?« »Noch nicht«, erwiderte Villiers. »Wir geben ihnen ein paar Minuten, sich zu erholen.« Er nickte Smetana zu. »Mr. Smetana. Hat Ihnen gefallen, was Sie gehört haben?« »Es war in Ordnung«, sagte Smetana. Dann, langsam: »Anders.« Er hatte angefangen, rot zu werden. Er hatte recht damit, wenn er glaubte, daß es das beste ist, mögliche leidige Angelegenheiten geradeheraus anzugehen. Andererseits empfand er die Existenz leidiger Angelegenheiten wie dieser als überaus leidig, und so errötete er. Torve sagte: »Bald werde ich Frobben.« Versuchsweise machte er »Blurb«. Augenblicklich reckten sich Köpfe. »Sieh, Tony«, sagte er. »Sie sind bereit.« »Noch nicht«, erklärte Villiers. Smetana begann: »Wir sind uns schon einmal begegnet, Mr. Villiers. Sie sollten sich daran erinnern. Es war vor mehreren Jahren, auf Livermore.« Eine unerträgliche Last, die man da jemandem aufbürdet – zu erwarten, daß er einen erkennt. Smetana hatte um so mehr Grund, zu erröten, als Villiers ihn mit vollständigem Nichterkennen anblickte. »Ich weiß, es ist unverzeihlich von mir«, sagte Villiers, »aber es tut mir leid, Sir. Es ist wahr, daß ich bei mehr als einer Gelegenheit auf Livermore gewesen bin. Ich erinnere mich jedoch nicht daran, dort Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Sind Sie sich sicher, daß wir uns schon einmal getroffen haben?« Smetana nickte. »Ich bin mir sicher.« »Dann muß ich Sie vielmals um Entschuldigung bitten. Ihr Name kommt mir tatsächlich irgendwie bekannt vor, Ihr Gesicht aber nicht, und normalerweise habe ich ein gutes
Gedächtnis für Gesichter. Schön – erlauben Sie mir, daß ich uns als alte Freunde betrachte.« Ein fataler demokratischer Zug war einer der Mängel, die Villiers anhafteten. Bokkugeln mit jedermann schieben, das war seine Devise. Erkenne jeden an, der für sich in Anspruch nimmt, mit dir bekannt zu sein. Man hätte hoffen sollen, daß er es besser wußte. Der Plumpser wurde im Laufe dieses müßigen Geplauders zunehmend unruhig. Claude fand, daß jetzt, da die Musik beendet war, ihm Aufmerksamkeit zustand, die er nicht erhielt. Er war sehr dafür, daß Torves Darbietung verschoben wurde, und hatte Villiers Beifall gespendet, als dieser den Trog zurückhielt. Aber nicht dafür, statt dessen mit so etwas anzufangen. »Villiers. Hey, Mr. Villiers.« Es waren zwei Fremde, die quer durch das Lager kamen. Sie winkten Villiers dringlich zu. Villiers wandte sich um. »Guillaume«, sagte er. »Finch.« Und die waren es tatsächlich. Sie hatten gelernt, daß der längere Weg, der auch zum Ziel führt, ein ganz schön langer Weg sein kann. Aber angekommen waren sie. Sie bahnten sich einen Weg rund ums Feuer und durch die Menge hin zu Villiers. Verzweifelt sagte Claude: »Würden Sie Allwissenheit als Wunder anerkennen, Mr. Villiers? Oder sollte ich Charteris sagen? Würde Sie das überzeugen? Zum Beispiel – « Er hielt inne. »Zum Beispiel weiß ich, daß der Junge dort drüben, den Sie für einen gewissen David Clodfelter halten, in Wirklichkeit ein Mädchen namens Gillian U ist.« Eine dramatische Eröffnung. Claudes Stimme war kräftig genug, um weit zu tragen, und noch mehr Köpfe drehten sich in Richtung ihrer kleinen Bühne. Instanttheater.
Fred, hier nur eine Randerscheinung, hob den Kopf. »Das weiß ich«, entgegnete er Claude. »Tut mir leid. Das zählt nicht.« Er schaute das Briefchen an und dann Gillian. Sie erwiderte seinen Blick schweigend, und er spürte den Druck, antworten zu müssen. »Ich denke darüber nach«, sagte er endlich. Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Tust du das wirklich?« Sie nickte. Smetana rief: »Der Plumpser spricht! Er spricht! Hinkle hatte recht. Hinkle hatte recht. Der Solimoes-Faktor ist bestätigt!« Er riß die Arme hoch und sprang auf und nieder, völlig verzückt. Jeder sollte sich drei oder vier harmlosen, ausgeflippten Theorien verschreiben, um des bloßen Vergnügens willen, etwas Harmloses zu haben, dessentwegen man hin und wieder ausflippen kann. Und wenn sich eine Theorie dieser Art als richtig herausstellt, ist das ein echter Augenblick zum Feiern. Villiers schaute Smetana an. Unterdessen genoß das ganze Publikum den mittleren Teil seiner abendlichen Unterhaltung. Smetana legte einen Holzschuhtanz aufs Parkett. Die heimlichen Nächte, in denen sie die alten Zeiten wieder auferstehen ließen, hatten dafür gesorgt, daß er noch voll auf Zack war. Nichts von der üblichen Peinlichkeit, wenn ein alter Bühnenstar nach zwanzig Jahren Ruhestand noch einmal vor den Vorhang tritt! »Natürlich kenne ich Sie, Sir!« sagte Villiers. »Wie konnte ich nur! Sie sind Smetana, der Racker. Daisy und ihr Racker. Daisy und ihr Racker. Ich habe Sie geliebt, als ich jung war.« »Das haben Sie?« fragte Smetana, der seinen Tanz abrupt beendete. Es gab nur kurzen Applaus, aber Geschmack will erst herangebildet sein.
»Seid still!« sagte der Plumpser. »Daisy und ihr Racker sind nicht der Gegenstand der Unterhaltung.« Für einen Gott war er einmalig ungeduldig. Aber der Unerfahrenheit muß man Zugeständnisse machen. Smetana schien drauf und dran, noch ein Tänzchen zu veranstalten. (Hinkle hatte recht. Hinkle hatte recht.) Finch warf Smetana und dem Plumpser je einen vernichtenden Blick zu und ergriff Villiers am Arm. »Ist schon Zeit?« fragte Torve. »Noch nicht«, erwiderte Villiers. »Anthony, hören Sie zu!« sagte Finch. »Sie sind in Gefahr, und wir sind gekommen, um Sie zu warnen. Solomon ›Biff‹ Dreznik ist da draußen in der Nacht. Ich fürchte, er will Ihnen Böses.« »Dreznik? Hier?« »Ja.« »Sie beide verschwinden«, sagte der Plumpser. »Also, Villiers, meine Geduld erschöpft sich ganz allmählich.« Villiers legte den Kopf schief und blickte Finch an. »Philip«, fragte er, »Sie versuchen doch nicht, mich in die Irre zu führen, oder? Ich bin mir sehr wohl im klaren darüber, daß Sie gewinnen wollen.« »Das will ich, aber so sehr auch wieder nicht.« »Ich finde es verdächtig, daß gerade Sie mit einer solchen Nachricht zu mir kommen.« »Es ist wahr.« Guillaume nickte. »Mr. Villiers, Dreznik hat Sie den ganzen heutigen Nachmittag von der Wiese aus beobachtet. Sie sollten sich besser davonmachen, solange Sie das noch können.« Villiers überprüfte seinen Gerinner und stellte dabei seine Ladung auf »Tödlich«. »Ich laufe nicht weg«, sagte er. »Hier bin ich am sichersten.«
Der erzürnte Plumpser begann, auf sie alle herabzustoßen, und das Publikum jubelte. Es amüsierte sich prächtig. Ein lautes Sproing hinter ihnen ließ sie sich umwenden. Die Hochrufe für Claude verwandelten sich in spontanen Applaus. Hoch über ihren Köpfen nahm Kuukkinen den Beifall mit dankendem Nicken entgegen. Das war das einzige, was einem Mann mit Würde in einer solchen Situation zu tun blieb.
Villiers wandte sich erneut Finch zu. »Ist Ihnen auch Mr. Kuukkinen auf der Wiese begegnet?« Als der Applaus verklungen war, rief er: »Guten Abend, Mr. Kuukkinen.« Kuukinen sagte: »Schauen Sie hinter sich, Mr. Villiers.« Dreznik stand hoch auf dem Felsen, eine drohend aufragende Gestalt, aus Nacht und Dunkelheit entsprungen. Er deutete auf den baumelnden Kuukkinen. »Ihre Fallen sind nicht gut genug für mich, Villiers.« In der plötzlichen Stille hallte seine Stimme laut. Die Leute sahen nach der Zeit, aber sowohl nach Shiawassee- als auch nach Pewamo-Zeit war es weder zwanzig Minuten vor noch zwanzig Minuten nach der vollen Stunde, obwohl es Uhren, die beides anzeigten, im Zuschauerraum gab. Es war der atemlose Augenblick der Stille vor einer großen Nummer in einem Freiluftvariete. »Ihr Glück hat Sie verlassen«, sagte Dreznik. »Solomon ›Biff‹ Dreznik ist da. Bereiten Sie sich auf Ihr Ende vor.« Er legte einen Gerinner an. Er war wirklich kein sehr netter Mensch. Ralph, der sich einigermaßen sicher war, daß Gerinneranlegen kein angemessener Teil des Abends war, beugte sich nach hinten und bereitete sich darauf vor, seine Mandoline zu werfen. Villiers machte eine Bewegung in
Richtung seines eigenen Gerinners, den er wieder weggesteckt hatte, und zweifelte an seinen Chancen. Der Tag wurde jedoch von Claude, dem Plumpser, gerettet. Aber schließlich hat man, wenn man Gott ist, auch gewisse Verantwortlichkeiten. Er flog geradewegs auf Dreznik los. »Was ist mit Ihnen?« zeterte er. »Haben Sie keine Achtung vor dem Herrn, Ihrem Gott? Sie sollten allermindestens so lange ruhig sein, bis ich zu Ende gesprochen habe.« Dreznik zuckte zurück, tat einen Schritt nach hinten, verlor das Gleichgewicht und mußte mit einem Sprung einen neuen Platz zum Stehen suchen. Das war Villiers Falle, und sie machte sproing. Die Menge machte oooh. Wohlgemerkt: Dreznik trat in eine Falle, von deren Vorhandensein er wußte. Sie mögen das für seltsam halten, aber tatsächlich war gerade die Falle, die er kannte, die Falle, die er mit der größten Wahrscheinlichkeit auslösen würde. Er gehörte zu dieser Art von Menschen. Dreznik pendelte in seiner Seilwiege hin und her, aber ohne jene sofortige Anpassung an seine Lage, die Kuukkinen gezeigt hatte. Kuukkinen hatte seine Beine durch die Seile gesteckt und schwang vor und zurück, während er alles als Zuschauer verfolgte. Dreznik war dazu nicht in der Lage. Sein Gerinner war irgendwo in den Felsen unter ihm verschwunden. Der Plumpser schwebte direkt vor ihm, und er kauerte sich zusammen. »Ky-eee«, gellte Admiral Beagle und lenkte damit alle Augen auf die andere Seite des Lagers. Mit rotglänzendem, hoch wirbelnden Schwert stürmte er auf Villiers los. Bevor er noch ans Feuer gelangte und die praktische Entscheidung zwischen hinüber, drumherum oder hindurch zu treffen hatte, sprang Ralph in seinen Weg, die Mandoline einsatzbereit. Es war ein wunderbares Zeugnis seiner neuen
Männlichkeit. Ohne auch nur zu überlegen, wie er das hinterher seiner Frau und ihrer Schwester erklären sollte, ließ der Admiral das Schwert zu einem langgezogenen Streich herabsausen. Der Schößling hatte nichts so Albernes getan, wie eine Mandoline in den Weg zu halten. Auf seiner Kreisbahn traf das Schwert auf das Instrument, ließ Saiten springen und zerschmetterte es in lauter kleine Splitter. Der über Kopf geführte, spaltende Schlag war dazu gedacht gewesen, Ralph im Stile Rolands und Olivers und anderer muskelbepackter Helden aus alter Zeit zu halbieren, aber das tat er nicht. Als die Mandoline aus Ralphs Hand gerissen wurde, tauchte jener weg. Admiral Beagles Schwung trug ihn nach vorne. Vielleicht hätte er doch üben sollen, auf den Schößling zuzustürmen, statt seine Füße fest in den Boden zu stemmen, bevor er ausholte. Das Schwert ging an Ralph vorbei, und die Knie des Admirals wurden unter ihm weggeprellt. Seine Ellenbogen schlugen auf den Boden. Das Schwert flog ihm aus den Händen. Ralph, Stolperstein und Landeplatz, machte nur noch uff. Der Admiral wälzte sich schwer am Boden, und ein Fahrrad überfuhr ihn von hinten. Das war nicht bewußte Absicht Clifford Morgensterns, sondern ein Unglück, das sich aus dem Augenblick ergab. Später nahm er zwar für sich in Anspruch, daß es mehr gewesen sei, aber da flunkerte er. Das Fahrrad flog in die eine Richtung und Morgenstern in die andere. Ein wunderbarer Augenblick der Stille trat ein. Dann zog Admiral Beagle sich benommen hoch und stand allein inmitten der Trümmer. Das Publikum brach in wilden Applaus aus, den lautesten des Abends. Wenn dies die Welle der Zukunft in der Schauspielkunst war, dann gefiel sie ihnen. Wie früher schon
bemerkt, läßt Geschmack sich bilden. Wichtig dabei ist, ihn Neuem auszusetzen. »Das ist Mrs. Waldo Wintergood«, verkündete der Plumpser in vertraulichem Tonfall. »Admiral Beagle?« fragte Villiers. Admiral Beagle? »Natürlich«, sagte der Plumpser. »Das Auge Gottes weiß alles.« »Sind Sie wirklich Gott?« erkundigte sich Dreznik aus seinen schaukelnden Seilen. »Natürlich«, erwiderte der Plumpser. »Ich bin der Herr, Ihr Gott. Wer an mich glaubt, der soll nicht sterben, sondern des ewigen Lebens teilhaftig werden.« »Wirklich?« fragte Dreznik. »Zweifeln Sie am Worte Gottes?« »Nein, nein«, sagte Dreznik. »Ich glaube. Und wie ich glaube!« »Tun Sie das wirklich?« fragte der Plumpser.
Clifford Morgenstern rappelte sich vom Boden hoch, baute sich vor Admiral Beagle auf und starrte ihm ins Gesicht. Admiral Beagle gab den Blick zurück. Ralph Weinsieder betrachtete ein ineinander verflochtenes Schwert und Fahrrad. Er überlegte, ob es dafür nicht einen Platz gab in der Neuen Kunst. »Sind Sie Admiral Beagle?« »Ja, der bin ich.« Morgenstern musterte ihn von oben bis unten. »Was Besonderes sind Sie ja nun wirklich nicht«, sagte er. Er langte hoch – so klein von Wuchs der Admiral sein mochte, Morgenstern war kleiner; er war kleiner als alle, kleiner sogar als Napoleon – und ohrfeigte Beagle mit scharfer Hand.
Beagle blickte ihn mit verdutztem Gesicht an. Man darf wohl erwarten, daß jemand sich vorstellt, bevor er einen mit dem Fahrrad überfährt. Und ein Schlag ohne vorherige Vorstellung gehört sich ganz einfach nicht. Morgenstern sagte: »Sie sind der, der sich die ganze Zeit über in mein Braun einmischt. Sie sind ein Barbar. Ein Philister. Sie verdienen eine gehörige Tracht Prügel.« »Glauben Sie wirklich, Sie seien der richtige Mann dafür?« verlangte Admiral Beagle zu wissen. Er war ein Mann der Tat. Er wußte, wann er herausgefordert wurde. »Und ob ich das glaube.« Worauf sie dazu übergingen, sich mit den Fäusten zu bearbeiten. Nach einer Weile stürzten sie sich in einen Doppelgriff, rangen mutig miteinander und kugelten schließlich über den Boden. Sie wälzten sich vom Pfad herunter und ins Unterholz hinein, wo man sie außer Sicht verlor. Der Lärm ihres Titanenkampfes – ein unterdrücktes Klatschen – war jedoch immer noch zu hören.
Villiers blickte sich langsam in alle Richtungen um. Schwert, Fahrrad, Mandolinenüberreste, Guillaume, Finch, Smetana, Ralph, das Publikum, Kuukkinen, Claude der Plumpser, Dreznik, Fred, Gillian. Er blickte noch einmal Dreznik an und seufzte. Bedauerlicherweise redeten Meuchelmörder nie. Es verstößt gegen die Berufsregeln. Eine Sache der Ehre. Und wer würde einen netten Mann wie Villiers töten wollen? Das ist eine Frage, über die sich lange nachdenken ließe. Er blickte Torve an. »So. Jetzt«, sagte er. Torves Auftritt war leicht der Höhepunkt des Abends. Sogar Villiers empfand ihn als genußreich. Vielleicht hatte die
Erfahrung, mit dem Meister selbst zu spielen, seine Aufnahmefähigkeit erweitert. Später in jener Nacht, als sie alle schon beinahe schliefen, gab es ein drittes Sproing. Es stellte sich heraus, daß eine unvorsichtige Wildkatze es ausgelöst hatte. »Na also«, sagte Villiers mit großer Gebärde. »Ich hatte Ihnen doch versprochen, daß ich einen Behemothen fangen würde.«
XIII
Villiers sagte Finch, Kuukkinen und Guillaume auf dem Raumhafen von Shiawassee Lebewohl. »Sind Sie sicher, daß Sie es sich nicht doch noch anders überlegen und mit uns nach Yuten zurückfliegen wollen?« erkundigte sich Kuukkinen. Villiers schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« »Verdammt«, meinte Finch. »Ohne Sie ist der Wettkampf nicht mal die Hälfte wert.« »Danke«, sagte Villiers, »aber wenn jemand ernsthaft versucht, sich ermorden zu lassen, sollte ich wohl besser nicht mehr Interplanetares Haschen spielen. Ich kann mir das damit verbundene Durcheinander nicht leisten. Überbringen Sie Lord Hawkwood meine Empfehlungen.« Finch entgegnete: »Und bestellen Sie Lord Broccoli unsere allerbesten Grüße.« »Grüßen Sie Morris schön«, sagte Guillaume. Auf seinem Weg durch das Hafenhaus begegnete Villiers Sergei Gilfillian. Sergei winkte wie toll. »Sergei«, begrüßte Villiers ihn. »Haben Sie schon gegessen? Ich wollte gerade essen gehen.« »Oh, nein. Ich war noch nicht dazu gekommen.« »Sie müssen nicht hinter mir gehen, Sergei.« Sergei faßte neben ihm Schritt. »Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten, Sir.« »Nur zu.« Sergei hielt ihm ein Blatt Papier entgegen. »Ich kann das niemandem anders zeigen. Würden Sie das wohl für mich lesen?«
Villiers griff nach dem Blatt. Es war ein Gedicht. Er erinnerte sich daran, wie Sergei ausgewichen war, als das Thema Dichtkunst zur Sprache kam. An eine Teetasse, des Mordes angeklagt Zerbrechlicher, einfältig Lächelnder Aus weißem Porzellan: Blümchengeschmückter Vetter Von Krug und Deckelkanne: Ihr lächelt und Ihr sagt Daß man Euch vollgegossen Und Ihr daher wohl kaum verantwortlich gewesen Für alles, was da folgte. Erwartet Ihr im Ernst, Daß dies Gericht dergleichen anerkennt? Kommt, kommt, mein Herr: Ihr müßt es besser wissen. Das ist kein Milderungsgrund – denn das Gesetz ist klar Verantwortlich ist das Gefäß Für seinen Inhalt. – Flanders Modrian Sergei erklärte: »Ich habe ein Pseudonym verwendet.« »Das sehe ich«, sagte Villiers. »Sehr interessant.« »Ist es denn gut?« Villiers schüttelte den Kopf. »Das zu entscheiden, bin ich nicht der rechte Mann. Es mag sehr gut sein. Wenn ich Ihnen
einen Vorschlag machen dürfte, so wüßte ich wohl einen Platz, wohin Sie es schicken könnten.« »Sie meinen zur Veröffentlichung?« »Ja«, sagte Villiers. »Erinnern Sie sich noch an die Herren, mit denen wir uns einen Flitzer geteilt haben? Sie haben damit begonnen, eine Zeitschrift herauszugeben, Die Green Mountain-Rundschau. Schicken Sie Ihr Gedicht an Ralph Weinsieder, Green Mountain-Touristenzentrum, Binkin-Insel, Pewamo. Wenn es seinen Ansprüchen als Herausgeber genügt, wird er es bringen.« »Aber er ist ein Yagoot«, protestierte Sergei. »Er ist in erster Linie ein Herausgeber und erst in zweiter Linie ein Yagoot«, sagte Villiers. »Und jetzt wollen wir zu Mittagessen.«
Caspar Smetana stellte fest, daß Maimonides nichts Nützliches über die Künste gesagt und auch persönlich keine große Freude an ihnen gefunden hatte. Als Ersatz polierten er und Daisy einiges von ihrem besten Material auf, und Ralph veröffentlichte statt dessen das. Im Zuge seiner Kritik an Admiral Beagle hatte Clifford Morgenstern sich den linken Daumen gebrochen – aber es beinhaltet immer ein Risiko, Kritik zu üben. Seine Schmerzen wurden von der lebhaften Aufnähme besänftigt, die ihm durch den Green Mountain-Trupp zuteil wurde. Sobald sein Daumen hinreichend verheilt war, begann Morgenstern, Autogramme zu geben. Eine Zeitlang, bis der Markt sich übersättigte, war ein echtes Morgenstern-Autogramm auf Shiawassee eine Menge Geld wert. Binnen weniger Tage nach seinem Erscheinen in der Maude Binkin-Rundschau erhielt Admiral Beagle einen Befehl zugestellt, der ihn in den aktiven Dienst in der N. S. N.
zurückrief. Er war so überrascht, wie man es von ihm erwarten durfte, aber keineswegs unzufrieden, wenngleich man ihn beim Nachschub einsetzte. Wieder einmal. Es gab ein paar verbitterte Seelen, die sich freuten, ihn gehen zu sehen. Sie gehörten zu jener Art von Leuten, die meinen, es müsse eine Raummarine geben, und sei es aus keinem anderen Grund, als die Möglichkeit zu bieten, unerwünschte Elemente aus der Gesellschaft zu entfernen. In diesem Punkt befanden sie sich in vollster Übereinstimmung mit jenen, die Admiral Beagle in den aktiven Dienst zurückgerufen hatten. Beagle war bekümmert über den neuen Erfolg der Mrs. Waldo Wintergood-Bücher, der alsbald einsetzte. Besonders brachte es ihn auf, daß ihr Erfolg in weiten Kreisen auf etwas beruhte, daß seiner Ansicht nach eine völlige Fehlinterpretation des Textes darstellte. Indigniert lehnte er das Angebot eines Buchclubs für symbolische Pornographie ab, seine Bücher zu Hauptvorschlagsbänden für Kinder zu machen. (Denn er war Mrs. Waldo Wintergood.) Es ist allgemein bekannt, daß ein Autor seine Bücher nicht besser versteht als jeder andere. Und, in manchen Fällen, weniger gut. Armer Admiral Beagle.
Solomon »Biff« Dreznik zog sich aus seinem Beruf zurück und verschmähte alle Angebote, die darauf abzielten, ihn umzustimmen. »Ich habe ein besseres Leben gefunden«, sagte er, und niemand konnte an dem vergeistigten Ausdruck auf seinem Gesicht zweifeln. Er verschwand aus den gewöhnlichen Gefilden der Menschen und ward fortan nur noch von Zeit zu Zeit aus der Entfernung von Touristen und Campern auf der Binkin-Insel gesehen. Er
folgte seinem Gott durch Wald und Feld und sprang barfuß über Klippen, hoch droben an den Hängen des Mount Binkin. Ein Bericht besagt, er sei auf dem Mount Seymour gesichtet worden, aber dieser Geschichte mag ich keinen rechten Glauben schenken.
ENDE