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Das Buch Es scheint ein wenig spektakulärer Auftrag für den Provinzrepor ter Paul Tomm zu sein. Er soll den Nachruf auf einen estnischen Professor schreiben. Erstaunlich erscheint zunächst nur der Be fund des Gerichtsmediziners, der von einem unnatürlich guten Zustand der inneren Organe spricht. Erste Station von Pauls Re cherchen ist das Haus des Toten. Das Wohnzimmer ist völlig ver kommen, doch in dem Chaos und Schmutz sticht Paul eine selt sam leere Vitrine mit 15 Exponateständern ins Auge. Gespräche mit Professorenkollegen fördern zutage, dass der Tote sich bereits seit längerem verfolgt fühlte. Als auch noch der Gerichtsmedizi ner vor Vollendung der Obduktion bei einem merkwürdigen Un fall stirbt, merkt Paul, dass er einem mörderischen Geheimnis auf die Spur gekommen ist. Einem Geheimnis, das an mysteriöse Ob jekte geknüpft ist, die im 12. Jahrhundert aus der Bibliothek des großen Universalgelehrten und Alchemisten al-Idrisi geraubt wur den. Gemeinsam mit Hannah, der einzigen Person, die den Pro fessor näher gekannt zu haben scheint, hofft Paul, das alchemisti sche Rätsel lüften zu können – und wird selbst zum gnadenlos Gejagten. »Einer der interessantesten und fesselndsten Unterhaltungsroma ne dieses Jahres.« Kirkus Reviews Der Autor Jon Fasman, 1975 in Chicago geboren, wuchs in Washington auf. Nach seinem Studium arbeitete er als Journalist in New York, Ox ford und Moskau. Seine Artikel sind unter anderem im Times Li terary Supplement, in der Moscow Times und der Washington Post er schienen. Derzeit ist er Redakteur beim Economist in London. Sein Romandebüt Die Bibliothek des Alchemisten wurde auf Anhieb ein internationaler Bestseller.
JON FASMAN
DIE BIBLIOTHEK
DES ALCHIMISTEN
Roman
Aus dem Amerikanischen von Birgit Moosmüller
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe THE GEOGRAPHER’S LIBRARY erschien bei The Penguin Press, New York
SGS-COC-1940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen.
2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 06/2007 Copyright © 2005 by Jon Fasman Copyright © 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2007 Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München, nach einer Idee von Mucca Design, New York, unter Verwendung eines Holzschnitts von P. Apian, Astronomicum Caesareum (1540). Stadtbibliothek Mainz, Signatur: III f: 2°/348b (Rarasammlung) Satz: Leingärtner, Nabburg Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-453-81108-9 www.heyne.de
Für Alissa
Ich schwanke immer zwischen zwei Auffassungen:
der Überzeugung, dass das Leben besser sein sollte,
als es ist, und der Überzeugung, dass es dann,
wenn es besser scheint, in Wirklichkeit schlechter ist.
� Graham Greene � Journey Without Maps
Verzeichnis der Gegenstände
� Der Destillierkolben Der Turm
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Ferahids goldene Flöte
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Ferahids silberne Flöte
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Der Äthiopier
167
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Xinjiangs Elfenbein (Erde) Die weinende Königin Das Sheng (Luft)
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194
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Regenbogenstaub und Pfauenschwanz Die Käfige des Kaghan (Feuer) Der weiße Mediko
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Die gelbe Sonne
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Der rote Mediko
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Die Sonne und ihr Schatten �
536
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307
332
371
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Al-Idrisis Kamal (Wasser)
Der Koffer
�
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Liebe H, ich dachte, du wärst inzwischen längst tot. Ich hatte wirk lich nicht damit gerechnet, noch einmal von dir zu hören. Und vielleicht habe ich das ja auch gar nicht: Die Hand schrift kommt mir vertraut vor, aber das Fälschen von Schriften gehört bei deinen neuen Freunden wahrscheinlich zu den leichtesten Übungen. Trotzdem gehe ich von der Annahme aus, dass die Nachricht tatsächlich von dir stammt. Eine so optimistische Annahme scheint mir die pas sende Art zu sein, dir Tribut zu zollen. Anbei findest du, worum du mich gebeten hast: einen voll ständigen und objektiven Bericht über unsere gemeinsame Zeit. Du hast betont, er sei nicht für dich allein bestimmt, aber selbst wenn dem so wäre, bezweifle ich, dass ich ihn anders hätte schreiben können: Du hättest hier nicht »du« sein können, auch wenn ich mir das gewünscht hätte. Und obwohl ich am liebsten deine Bitte ignoriert hätte, brachte ich das doch nicht fertig. Außerdem hatte ich gerade nicht viel anderes zu tun. Ich hatte mich ja bereits hier verkrochen, bevor ich dich kennen lernte, und auch wenn ich jetzt noch sehr angeschlagen bin (und bestimmt eine Weile bleiben werde), so beginnt dein Gesicht doch bereits zu verblassen, und dafür bin ich dankbar. Trotzdem mache ich mir Sorgen um dich. Ich wünsche dir ein längeres und glücklicheres Leben, als du, fürchte ich, haben wirst. Paul 9
Es ist wahr, ohne Lügen, gewiss und wahrhaftig.
Für einen Journalisten, der bei einer Wochenzeitung arbeitet, noch dazu einer so kleinen wie dem Carrier, ist der Erscheinungstag der Zeitung ein Tag der Er holung. Für gewöhnlich spazierte ich dann gegen elf ins Büro, arbeitete meine Post auf, las all die Zeit schriftenartikel, die ich während der Woche nicht hatte lesen können, führte ein paar private Fernge spräche und tat anschließend noch eine Weile so, als würde ich über die Artikel der nächsten Woche nachdenken, bevor ich um Punkt fünf ging. Wenn ich meinen tugendhaften Tag hatte, heftete ich zu sätzlich einen Teil der Notizen ab, die ich mir wäh rend der Woche gemacht hatte, und räumte auf mei nem Schreibtisch eine Einflugschneise frei. Aber in der Regel sparte ich mir das für die Phase auf, in der mein Abgabetermin drängte und ich ein bisschen geistlose Betriebsamkeit brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Was nicht heißen soll, dass ein Abgabetermin wirklich eine so große Rolle spielte: Wie die meisten Kleinstädte hatte sich auch Lincoln, Connecticut, auf Nachrichten mit langer Haltbarkeit spezialisiert. Jedenfalls verlor niemand seinen Job, wenn ein Artikel über die Einzelheiten der Kontro verse rund um das Highschool-Maskottchen – den kämpfenden Sioux: kulturell unsensibel, respektvoll
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traditionell oder traditionell respektvoll? – nicht rechtzeitig fertig war. Zum einen würde die Debatte im nächsten Jahr von neuem losbrechen, aller Wahr scheinlichkeit nach im Herbst, weil um diese Zeit ehrgeizige Schulabgänger plötzlich den Wunsch ver spürten, vor dem Eintritt ins College ihre politische Glaubwürdigkeit aufzupolieren. Außerdem verfügten wir über einen endlosen Vorrat an Anzeigen, Ankün digungen, Notizen und schlichtweg Lückenfüllern, die wir wiederverwerten oder neu aufbereiten konn ten, wenn der Jungreporter ohne Stützräder noch nicht so recht klarkam. Allerdings passierte mir das immer seltener. Ich arbeitete nun schon anderthalb Jahre beim Lincoln Carrier. Seit meinem Abschluss an der Universität von Wickenden, um genau zu sein. Freunde von mir hatten – scheinbar ohne groß darüber nachzudenken – gleich im Anschluss ans College ihr Medizin- oder Jurastudium angetreten oder schicke Berater-Jobs gefunden oder durch irgendeine Handlangertätigkeit den Einstieg in den New Yorker Literaturbetrieb geschafft, als wäre das das Normalste der Welt. Mir selbst boten sich keine solchen Aussichten, und ich verspürte auch keine große Lust, nach New York zurückzukehren, wo ich aufgewachsen war. Eigent lich hatte ich den vagen Plan, weiterzustudieren und irgendwann das weltabgeschiedene, ruhige Leben eines Geschichtsprofessors zu führen, vorzugsweise in einer pittoresken kleinen Universitätsstadt (mit einem schönen Kirchturm, einer Hauptstraße, die auch Hauptstraße hieß, und einem Kino mit einem Schirmdach), wo ich meinen ganzen Alterungspro
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zess schon Anfang dreißig hinter mich bringen konn te, um dann den Rest der mir zugeteilten siebzig Jahre ohne größere Krisen oder Überraschungen zu verleben und mich dabei nur noch schrittweise zu verändern. Ich hatte nicht wirklich vorgehabt, Journalist zu werden, was aber in erster Linie daran lag, dass ich keine wirkliche Vorstellung davon hatte, wie man das anstellte. Zwar hatte ich für unsere Collegezeitung ein paar Buch- und Musikbesprechungen geschrie ben, aber dabei war es mir hauptsächlich um die kos tenlosen Bücher und CDs gegangen, die ich dadurch bekam. Ich las das Buch oder hörte mir die Musik an, schrieb ein paar hundert Wörter darüber, und eine Woche später sah ich meinen Namen über einem Text, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem auf wies, was ich abgeliefert hatte. Das Ganze war für mich ein Job gewesen, kein Berufswunsch. Nach meinem Abschluss war ich einfach in der Wohnung geblieben, in der ich während meiner Zeit am College das ganze Jahr über gewohnt hatte. Ich sah keinen Grund, umzuziehen. Als dann ein Monat jenes trägen Sommers ins Land gezogen war, kam von meinem Vater der Vorschlag/die Aufforderung, ich solle doch in Indianapolis, wohin er nach der endgültigen Trennung von meiner Mutter gezogen war, in der Kanzlei eines mit ihm befreundeten An walts als juristische Hilfskraft anfangen, was ich aber dankend ablehnte. Trotzdem plagte mich danach ein so schlechtes Gewissen, weil ich keinen Job hatte, dass ich zum ersten und einzigen Mal das Berufsbe ratungszentrum von Wickenden aufsuchte. Dort füll
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te ich einen Fragebogen nach dem anderen aus und unterhielt mich mit munteren Berufsberatern, die selbst vor nicht allzu langer Zeit ihren Col legeabschluss gemacht hatten und nun mit Twinsets und Perlenketten beziehungsweise Halbschuhen und ersten Ansätzen von Bierbäuchen ausgestattet waren. Dann sah ich Stellenangebote durch, aus de nen ich nicht wirklich schlau wurde. Am besten ge fielen mir die Anzeigen der Unternehmensberaterfirmen: »Bei uns werden Sie lernen, strategische Managementprotokollentscheidungen umzusetzen« et cetera. Ich befürchtete, dass ich mich nach drei Wochen in einer solchen Firma in eine Art Cyborg verwandeln würde. Wenn ich dann zu Thanksgiving das erste Mal wieder nach Hause kam, würden statt Worten endlose Lochstreifen aus meinem Mund quellen. Nach zwei Stunden Berufsberatung war ich sicher, dass ich ein langes, einsames und völlig nutzloses Leben führen würde. Irgendwann würde ich mutter seelenallein sterben, und kein Mensch würde mich vermissen. (Habe ich schon erwähnt, dass ich mir bis dahin noch nicht die Mühe gemacht hatte, die nöti gen Formulare auszufüllen, um mich für ein weiter führendes Studium zu bewerben?) Man darf sich nicht so gehen lassen, ich weiß, aber genau das pas siert nun mal mit den schulisch erfolgreichen, aber letztendlich zu nichts zu gebrauchenden Kindern von Eltern, die ihre Sprösslinge zwar dazu erziehen, bei Prüfungen gut abzuschneiden, andererseits je doch versäumen, sie auch mit den giftgetränkten Sporen echten Ehrgeizes auszustatten.
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Art Rolen rief genau in dem Moment bei der Be rufsberatung an, als ich mich anschickte, nach Hause zu trotten und für den Rest des Tages in Selbstmit leid zu versinken. Ich weiß noch genau, wie das Ge sicht meiner Berufsberaterin plötzlich einen strahlen den, fast schon glückseligen Ausdruck annahm, wäh rend sie immer aufgeregter nickte und schließlich ins Telefon sagte: »Sir, ich glaube, ich habe zufällig ge rade die passende Person für Sie vor mir sitzen. Der junge Mann ist zwar nicht von der Collegezeitung, aber seine Gibson-Montaneau-Punkte weisen darauf hin, dass er bestens für Sie geeignet sein dürfte.« Sie zwinkerte mir aufgeregt zu und reichte mir dann mit einer Hand das Telefon, während sie mit der anderen nach guter alter Achtziger-Manier den Daumen hochreckte. Nachdem ich mich gemeldet hatte, brummte am anderen Ende der Leitung eine tiefe Stimme ziemlich gedehnt: »Tja, wie ich höre, sind diese Gibbon-Martindale-Zahlen bei Ihnen recht vielversprechend. Aber eines würde ich schon noch gern wissen: Was haben diese Ziffern zu bedeu ten? Und können Sie schreiben?« Ich klemmte mir das Telefon unters Kinn und drehte meiner Berufsberaterin den Rücken zu, weil mich ihr strahlender Enthusiasmus auf Dauer fast ein wenig blendete. »Also ehrlich gesagt ist mir auch nicht so ganz klar, was sie bedeuten. Hier scheinen die Leute jedenfalls viel davon zu halten. Und genau genommen bin ich nicht von der Collegezeitung, habe aber hin und wieder für sie geschrieben. Ich gehe also davon aus, dass ich einigermaßen schreiben kann. Von wo aus rufen Sie an?«
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»Lincoln, Connecticut. Das liegt ungefähr zwei Stunden westlich von Wickenden. Ich gebe hier eine kleine Wochenzeitung heraus, etwa sechzehn Seiten. Ich brauche noch eine Vollzeitkraft, so eine Art Mäd chen für alles. Im Moment besteht unser Team nur aus mir, einem Kolumnisten und unserer Anzeigen dame. Die zweite Vollzeitkraft, die wir hatten, ist vor kurzem gegangen. Wegen eines neuen Jobs. Mit bes seren Aufstiegsmöglichkeiten, nehme ich an. Wie auch immer, Sie würden ein bisschen recherchieren, ein bisschen schreiben, ein bisschen redigieren und ein bisschen Papierkram erledigen, die übliche Büro arbeit.« Ich hörte ihn leise Luft einsaugen, offenbar rauchte er nebenbei eine Zigarette. »Ach ja, und ein bisschen Telefondienst, aber nicht mehr als alle an deren. Nichts Aufregendes. Vielleicht eine Gelegen heit für Sie, herauszufinden, ob Sie so was in der Art machen möchten oder nicht.« Ich zuckte die Achseln, aber dann fiel mir ein, dass Achselzucken am Telefon nicht so gut rüber kommt. »Klingt interessant. Das wäre bestimmt et was für mich. Soll ich Ihnen meinen Lebenslauf schicken?« »Ja, machen Sie das. Aber tun Sie mir einen Gefal len: Schicken Sie ihn mit der Post. Mein neues Faxgerät hat noch Probleme mit dem Ausdrucken, und ich hätte ihn lieber schwarz auf weiß in der Hand als bloß auf dem Computerbildschirm. Ginge das?« »Natürlich, kein Problem. Oder soll ich persönlich bei Ihnen vorbeikommen? Zu einem Vorstellungsge spräch oder so etwas in der Art?« »Ich war eigentlich der Meinung, das würden wir
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gerade führen. Jetzt schicken Sie mir erst mal Ihre Unterlagen. Ich heiße übrigens Art Rolen. Schicken Sie sie zu meinen Händen. Und legen Sie ein paar Textproben von Ihnen bei. Dann sehen wir weiter. Sind Sie damit einverstanden?« Ich war einverstanden, und nun, an einem eisigen Dienstagmorgen sechzehn Monate später, hievte ich mich hier in Lincoln gerade mühsam aus dem Bett. Es war zehn Uhr, ich hatte nachts bis um drei neben der Druckerpresse gestanden und gewartet, bis auch die letzte Zeitung vom Band gerollt war. Art schätzte es, wenn einer von uns bis zum Schluss in der Dru ckerei blieb, und rein theoretisch sollte abwechselnd immer einer von uns vieren diese Aufgabe überneh men, aber da ich der Jüngste und als Einziger unver heiratet war, traf es mich am häufigsten. Was mir aber nicht wirklich etwas ausmachte: Die Rückfahrt von New Haven dauerte um diese Zeit nie lang, auf den Straßen war es ruhig und friedlich, und außer dem mochte ich die nächtliche Frische der Luft. Es ist ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, was in jener bestimmten Nacht im schläfrigen Lincoln pas sierte, während ich mich gerade auf dem Heimweg befand. Ich nehme an, ich werde es nie erfahren, jedenfalls nicht genau. Ich wohnte im Geschäftsviertel der Stadt, Lincoln Station genannt, weil dort in den Zwanzigerjahren, als der Ort noch keine Zufluchtsstätte für New Yor ker, sondern ein richtiges Bauerndorf war, die Züge ankamen, die Korn und Viehfutter brachten und But ter, Milch und Käse mitnahmen. Nun standen dort, wo früher die Züge standen, nette kleine Geschäfte
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mit echten kleinen Rasenflächen hinter echten wei ßen Palisadenzäunen. Die Räume der Zeitung lagen im Wohnviertel der Stadt, das Lincoln Common hieß, weil es in seinem Zentrum (meine Brooklyner Augen konnten es anfangs kaum fassen) eine alte weiße Holzkirche mit einem schönen Kirchturm gab, vor der sich eine ausgedehnte Rasenfläche erstreck te: Village Common, der Dorfanger. Natürlich nahm die Zahl der Leute, die noch auf diese Unterschei dung Wert legten, von Jahr zu Jahr ab, weil die alt eingesessenen Bewohner von Lincoln wegstarben oder jüngere Generationen die Häuser, die ihre Großeltern gebaut hatten, an Anwälte oder Zeit schriftenverleger aus der Stadt verkauften. Die Neu linge bauten die Häuser innen komplett um und verpassten ihnen außen ein paar Säulen, nur um sich dann an drei Wochenenden im Jahr hier blicken zu lassen und mit ihren Geländewagen durch die Stadt zu rasen. Manton’s General Store hatte mittlerweile Ziegenkäse und fünf verschiedene Sorten Oliven in sein Sortiment aufgenommen und führte die New York Times, das Wall Street Journal und Crains. Natür lich war ich selbst auch ein Neuling, aber ich hatte nur einen Kleinwagen, keinen weiteren Wohnsitz und – das war die größte aller Ehren – Freunde in der Stadt (die Rolens). Jedenfalls neige ich aufgrund meiner Wesensart dazu, von den guten (oder zumin dest besseren) alten Tagen zu reden. Jede Ära, die vor meiner Geburt liegt, weckt in mir nostalgische Gefühle. Als ich an jenem Tag gegen ein Uhr unsere Re daktion betrat – eine freundliche und etwas verlege
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ne Übertreibung für etwas, was im Grunde nur ein leidlich isolierter Gartenschuppen mit vier Schreibti schen und vier Computern war –, saß Art mit einer Zigarette an seinem Schreibtisch und las die Times: Blick aufs Blatt, Paff, nächste Seite, Paff, Blick aufs Blatt, Paff, nächste Seite, Paff »Da ist er ja«, stellte er fest, ohne auch nur aufzublicken, als ich die Tür hin ter mir zuzog. »Was für ein Lichtblick zu so zeitiger Stunde.« Nun warf er mir über den Rand seiner Le sebrille hinweg einen scharfen Blick zu. Der Raum roch nach Zigaretten und Parfum. Für Ersteres war Art verantwortlich, Letzteres dagegen gehörte Nancy Llewelyn, die für uns Werbeanzeigen verkaufte und ihr Möglichstes tat, damit wir nicht Pleite gingen. Sie war wie Art in Lincoln geboren und laut Mrs. Rolen seit der siebten Klasse auf eine zurückhaltende, harmlose Weise in ihn verliebt. Ich schnupperte demonstrativ, und Art musste lachen. »Sie hat kurz vorbeigeschaut, um sich was zum Lesen mit in den Urlaub zu nehmen. Kannst du dir das vorstellen? Sie nimmt tatsächlich Arbeit vom Carrier mit. Das nenne ich Engagement!« Er zog erneut an seiner Zigarette, faltete den ersten Teil der Zeitung zusammen und griff nach dem Sportteil. »Vorhin hat mich der Panda angerufen.« »Wer ist der Panda?« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte durch das lange Fenster auf den Lake Maa sapaug hinaus, die Zigarette im Mundwinkel. Ich mochte die Art, wie er rauchte: mit stiller, unverhoh lener Befriedigung statt verstohlen und mit schlech tem Gewissen wie die meisten älteren Raucher oder
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mit der aufgesetzten, lauten und fast defensiven Freude vieler jugendlicher oder kalifornischer Rau cher. Art rauchte, weil er rauchte, und nicht, weil er etwas beweisen wollte. Die Zigarette im Mundwin kel wirkte bei ihm auch nicht störend, sondern eher, als würde sie irgendwie zu ihm gehören. Die dichten weißen Brauen über den tief liegen den dunklen Augen, das ausgeprägte Kinn und der weiße Bart verliehen seinem Gesicht einen stets leicht melancholischen Ausdruck. Er sah aus wie ei ne Kreuzung zwischen einem älteren Humphrey Bo gart und Leo Tolstoi gegen Ende seines Lebens. Art hatte fast sein ganzes Leben lang als Auslandskor respondent (in Vietnam, Kambodscha, Paris, Beirut und Jerusalem) gearbeitet, eine Weile auch als Re dakteur in New York, und war wie die meisten Langzeitreporter ein Zyniker, zugleich aber auch – wie die meisten zynischen Reporter – ein großherzi ger Gefühlsmensch von der allerschlimmsten, aller besten Sorte. Er ließ den Rest seiner Zigarette in den Rest sei nes Kaffees fallen, zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemds und schob sie über den Tisch zu mir herüber. »Der Panda. Er hat gemeint, du sollst ihn anrufen. Ich habe ihm deinen Namen genannt, er weiß also, wer du bist.« Ich drehte die Karte um: VIVEPANANDA SU NATHI-PALA, WESTON COUNTY CORONER. NEW WESTON HOSPITAL, NEW WESTON, CONNECTICUT. Etwa fünfundvierzig Minuten von Lincoln entfernt, war New Weston die nächste größere Stadt. Ich legte fragend den Kopf schief, und
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Art antwortete mit einem leichten Nicken. »Das ist der Panda. Sein Name stammt aus Sri Lanka. Genau wie er selbst. Ein alter Freund von mir: Schachpart ner, Saufkumpan, Bridgepartner. Seine Tochter ist mit meiner in die Schule gegangen. Ich schätze, er lebt nun schon dreißig Jahre oben in New Weston. Ziemlich genau zu der Zeit, als ich anfing, durch die ganze Welt zu reisen, hat er sich hier niedergelas sen.« Er streckte sich gähnend, als hätte ihn der Ge danke an das Alter, das seine Tochter inzwischen erreicht hatte, schlagartig müde gemacht. »Irgendeine Vorwarnung zum Zweck seines An rufs?«, fragte ich. Er zog sein Notizbuch zu sich heran. »J-A-A-N. Das spricht man wahrscheinlich ›Yan‹, oder? Genau. Jaan – der Nachname ist ein bisschen knifflig – P-U H-A-P-A-E-V. Mit Umlaut auf dem u und dem zwei ten a. Die Aussprache überlasse ich dir. Der Mann hat hier in Lincoln gelebt. Ich bin ihm nie begegnet und habe auch nie von ihm gehört. Jedenfalls ist er gestern Nacht gestorben. Mehr weiß ich nicht über ihn.« Aber ich wusste mehr über ihn: Pühapäev war an der Universität von Wickenden Professor für Ge schichte gewesen. An die Themen seiner Vorlesun gen konnte ich mich nicht erinnern. Er war mir immer wie ein Stück Uni-Mobiliar vorgekommen – alt, farblos und ein wenig ramponiert, auf eine un auffällige Art präsent –, und nicht wie ein wirklich lebender, atmender Professor. Ich erklärte Art, dass ich ihn kannte oder zumindest von ihm gehört hat te. Er nickte und fuhr sich dabei über den Bart.
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»Möchtest du seinen Nachruf für uns schreiben? Dich ein bisschen umhören, was es über ihn zu sa gen gibt?« »Klar.« »Was hast du denn diese Woche sonst noch?« Ich griff nach meinem Notizbuch, aber er winkte ab. »Nein, nein, vergiss es. Sonst bekomme ich bloß ein schlechtes Gewissen, weil ich dir zu viel Arbeit auf brumme. Das war jetzt übrigens ein Witz. Hör zu, ich weiß eigentlich nicht so recht, warum da jemand den Coroner angerufen hat. Das erscheint mir ungewöhn lich. Vielleicht steckt mehr dahinter. Womöglich et was Pikantes oder zumindest Interessantes. Viel leicht wird es aber auch nur ein ganz normaler Nach ruf. Was bei unserer Zeitung wahrscheinlich schon unter interessant fällt. Du schaust auf jeden Fall mal, was du damit anfangen kannst, ja?« »Natürlich.« Er deutete auf das Telefon, und ich wählte die Nummer der Gerichtsmedizin von New Weston. »Pathologie. Chefpathologe am Apparat. Womit kann ich dienen?« Der Mann hatte eine abgehackte, knappe Art zu sprechen. Sein Tonfall klang militä risch, sein Akzent leicht singend. »Ich hätte gern Mr. Panda gesprochen.« »Dr. Sunathipala, wenn ich bitten darf. Sie spre chen gerade mit ihm. Und wer sind Sie, bitte?« »Mein Name ist Paul Tomm, Sir. T-O-M-M. Ich arbeite für den Lincoln Carrier. Art Rolen hat mir ge sagt, ich soll Sie anrufen.« Er lachte. »Art, ja. Ist er wohlauf? Geht es ihm gut?«
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»Er ist wohlauf, und es geht ihm gut.« »Ja, ja. Ich nehme an, dass Sie wegen des Toten hier anrufen, Mr ….« Ich hörte Papier rascheln. »Mr. Pühapäev, nicht wahr?« »Ja, deswegen rufe ich an. Ich wollte nur …« »Ich fürchte, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Ich habe heute zwar früh angefangen, musste mich aber erst einmal um andere Dinge kümmern und kann Ihnen noch überhaupt nichts Genaueres zu Mr. Pühapäev mitteilen. Einen kleinen Moment bit te, ich nehme das Telefon mit hinüber in den eigent lichen Untersuchungsraum.« Ich hörte eine Tür aufund wieder zugehen, dann Schritte. »Ja, hier haben wir ihn. Frisch eingetroffen, wie mir scheint. Ich se he ihn mir gerade an, er dürfte noch nicht allzu lange tot sein. Ein alter Mann, nach Gesicht und Körper zu urteilen. Ein alter Mann.« Ich hörte ein schabendes Geräusch, über das ich nicht näher nachdenken woll te. »Raucher. Kinn- und Schnurrbart in Mundnähe gelblich. Sieht alles in allem recht mitgenommen aus. Das könnte auf … nun ja, auf so ziemlich alles hindeuten, fürchte ich. Zumindest deutet es darauf hin, dass er lange genug gelebt hat, um ein gelbbärti ger Weißbart zu sein.« Erneut hörte ich eine Tür zufallen. Die Stimme meines Gesprächspartners klang jetzt energischer, als würde er seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf das Telefongespräch richten: »Wie gesagt, Mr. Tomm. Im Moment gibt es noch nichts zu berichten, bis auf die Raucherei. Eine sehr schlimme Angewohnheit, das Rauchen. Schlimm, aber schön. Ihr Freund Art weiß darüber ja bestens Bescheid. Am Ende läuft es
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allerdings auf dasselbe hinaus, ob mit oder ohne Zi garetten, mit oder ohne Whiskey. Jüngling und Jung frau, goldgehaart, zu Essenkehrers Staub geschart.‹ Vielleicht sagt Ihnen das etwas, oder gibt es für Sie nur Fernsehballett und Krimis?« Ich schloss die Augen. Ich kannte dieses Zitat. Ich wusste, dass ich es kannte. »Shakespeare.« »Ja, natürlich, ganz, ganz großes Lob. Shakes peare. Aber was von Shakespeare?« »Eines der späteren Werke, würde ich sagen.« Ich versuchte es einfach aufs Geratewohl. Meine Chan cen standen eins zu fünf. »Cymbeline?« »Ja, ausgezeichnet, höchst beeindruckend. Natür lich habe ich den ratenden Unterton in Ihrer Stimme gehört, aber denken Sie ruhig auch an Ihren Martin Luther: ›Sündige tapfer.‹ Wenn man raten muss, dann besser laut als leise. Wie auch immer, Mr. Tomm, großer Shakespeare-Experte, ich würde liebend gern den ganzen Tag an diesem Telefon verbringen und mit einem belesenen Reporter wie Ihnen über Literatur plaudern, aber die Toten erwar ten mich. Mein eigenes gebanntes Publikum. Viel leicht können Sie heute Nachmittag noch mal anru fen oder morgen früh. Ich hoffe sehr, dass ich ihn bis dahin aufgemacht habe. Bis dann, und noch einen schönen Tag.« »Er hatte eigentlich noch nichts Interessantes zu berichten«, informierte ich Art. »In all den Jahren, die ich den Panda nun schon kenne, ist es noch nie vorgekommen, dass er mir nichts Interessantes zu berichten hatte«, lachte Art. »Wirst du ihn noch einmal anrufen?«
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»Heute Nachmittag oder morgen früh. Er hat ge sagt, bis dahin weiß er mehr.« »Und was machst du jetzt?« »Jetzt? Na ja, vielleicht … wo wohnt er denn? Ich meine, wo hat er gewohnt?« »Das ist die richtige Einstellung. Hier hast du sei ne Adresse.« Art reichte mir einen Zettel. »Ach ja, nur so als Anregung: Vielleicht solltest du mal nach Wickenden rüberzuckeln. Wie spät ist es jetzt? Schon Mittag? Wenn dir nach schnellerem Fahren zumute ist, könntest du es heute Nachmittag noch schaffen. Ansonsten vielleicht morgen. Schau einfach mal, ob deine früheren Joggingkumpels etwas über ihn zu erzählen wissen. Solange wir die Zeit haben – und wir haben die Zeit –, warum nicht dem alten Herrn die letzte Ehre erweisen?« Ich hatte Pühapäevs Haus nie gesehen, weil mir sei ne Straße während der ganzen Zeit, die ich nun schon in Lincoln lebte, nie aufgefallen war. Tief he rabhängende Weidenäste und ausladende Eichen versperrten die Sicht auf die Abzweigung. Selbst nun, da das Laub spärlicher und zum Teil schon ab gefallen war, hielt ich sie im ersten Moment für eine Hauseinfahrt. Die Straße war selbst für einen einzel nen Wagen fast zu schmal, auch wenn sie dann ein wenig breiter wurde, ehe sie ziemlich abrupt in einer ungeteerten Fläche mit ein paar knorrigen Bäumen endete. Nicht allzu weit von der Einmündung in die Hauptstraße entfernt standen sich zwei völlig iden tisch aussehende Häuser mit graublauen Fensterlä
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den und großen, fast rundherum verlaufenden Ve randen gegenüber. Sie wirkten wie zwei Wachen, die schweigend miteinander kommunizierten. In einer anderen Straße oder an einem anderen Tag hätte ich diesen Effekt interessant gefunden, hier aber er schien er mir eher beängstigend, insbesondere weil aus beiden Schornsteinen Rauch aufstieg, ich aber in keinem der beiden Häuser Licht entdecken konnte. Das nächste Haus auf der linken Seite war etwas zurückgesetzt, ein großes, weitläufiges, gelbliches Schindelgebäude, das aussah, als wäre es aus Rock port oder Gloucester eingeflogen worden. Gegenüber lag die Nummer vier, wo Pühapäev gewohnt hatte: ein flaches braunes Haus, bei dem die Farbe abblät terte und die Dachrinnen durchhingen. Der Garten schien nur aus Schlamm, herumliegenden Zweigen und einzelnen Grasflecken zu bestehen. Mittendrin stand ein verloren wirkender Ahornbaum. An der Vorderseite des Gebäudes gab es eine kleine Veran da mit einer Schaukel, die noch Reste von rosa Farbe aufwies, sich aber auf einer Seite aus ihrer Veranke rung gelöst hatte, sodass sie auf der Veranda lehnte wie ein fetter alter Mann, der zu müde war, um sich zu bewegen. Ich parkte hinter einem Lincolner Streifenwagen – dem Lincolner Streifenwagen, um genau zu sein. Während ich auf das Haus zuging, ließ ich den Blick die Straße entlangschweifen und sah an einem der oberen Fenster eine Hand einen Vorhang zurückzie hen. Die Tür zu Pühapäevs Haus stand offen. Nach dem ich geklopft hatte, rief ich »Hallo« und trat dann ein.
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»Lieber Himmel!«, stöhnte eine entnervte Stim me. »Das ist hier kein Museum, sondern ein Privat haus!« »Ist es vielleicht auch ein Tatort?«, fragte ich, während ich wieder vors Haus trat und von dort hin einspähte. »Geht Sie das irgendwas an? Sind Sie Tourist, oder wollen Sie ein Haus kaufen?« Ein rundlicher Polizist kam in Sicht. Er sah in seiner knapp sitzen den Uniform aus wie in eine Wursthaut gezwängt, hatte seine Dienstmütze unter dem linken Arm und hielt in der rechten Hand ein Klemmbrett. Seine Oberlippe zierte ein alberner kleiner Bart, der mich an eine schlafende Raupe erinnerte, und ein paar rötliche Haarsträhnen waren strategisch klug über ein ansonsten ziemlich kahles Haupt verteilt. Ich hatte ihn schon ein paarmal gesehen, persönlich aber nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Mein Vater hatte mir den Rat gegeben, mich von Kleinstadtpolizisten möglichst fern zu halten, weshalb ich in Lincoln noch nicht mal einen Strafzettel wegen Falschpar kens bekommen hatte. Für gewöhnlich war er immer mit einem Partner unterwegs, einem schlanken Ty pen, der so wenig Präsenz besaß, dass man ihn kaum wahrnahm. Falls Art mir je seinen Namen gesagt hat te, war er mir entfallen. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Ich bin vom Carrier. Mein Name ist Paul.« Ich hielt ihm die Hand hin, und er schüttelte sie schwei gend, ohne dabei aber seinen Gesichtsausdruck oder seine Haltung zu verändern, als hätte er weder Kon trolle darüber noch Interesse daran, was seine Hand da gerade schüttelte.
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»Bert«, antwortete er mit ausdrucksloser Stimme. »Sind Sie hier auf irgendetwas Interessantes gestoßen?« »Wir überprüfen nur, ob es Anzeichen für einen Einbruch gibt. Bis jetzt haben wir außer einer Menge Müll nichts gefunden.« Er sah sich über die Schulter um, und ich beugte mich vor, um ebenfalls einen Blick in das große Wohnzimmer zu erhaschen, das es kaum noch schaffte, sich gegen die Kräfte der Entro pie zu behaupten. In einer Ecke stand ein einge staubter Flügel, auf dem sich Bücher und Zeitungen stapelten, auf der anderen Seite des Raumes ein Tisch mit überquellenden Aschenbechern, Tellern, auf denen Ketchup-Reste (jedenfalls hoffte ich, dass es sich um Ketchup handelte) und alte Knochen ver teilt waren, sowie verkrusteten Schüsseln, aus denen Löffel herausragten. Ein fleckiges Sofa vervollstän digte das Bild. Häuslichkeit, die in Chaos überge gangen war. Das Heim eines permanent Einsamen. Es roch ziemlich muffig, nach einer Mischung aus Zigaretten, Bratenfett, Schimmel, Staub und altem Mann. »Ich weiß wirklich nicht, wie wir hier feststel len sollen, ob etwas entwendet worden ist.« »Können Sie mir sagen, wo Sie ihn gefunden ha ben?« Bert verdrehte seufzend die Augen, als hätte ich ihn gerade aufgefordert, die Fenster zu putzen. Dann deutete er auf die Couch. »Da drüben. Ir gendwie hatte er alle viere von sich gestreckt, mach te dabei aber trotzdem einen recht friedlichen Ein druck. Ich tippe auf Herzinfarkt. Allerdings kam mit ten in der Nacht dieser Anruf, angeblich hatte ir gendjemand schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört oder so. Na ja, man muss allen Hinweisen
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nachgehen. Aber jetzt sind wir hier erst mal fertig. Nicht wahr, Al?« Sein farbloser, trübsinnig wirkender Partner – Al, wie ich annahm – kam die Treppe herunter. »Ja, ich schätze schon«, antwortete er mit völlig ausdruckslo ser, leiser Stimme, als hätte er sich, noch bevor die Worte seinen Mund verlassen hatten, bereits damit abgefunden, dass sie sowieso nichts bewirken wür den. »Wenn du so weit bist, können wir gehen.« »Ja, lass uns verschwinden. Du hast auch nichts gefunden, was für die Zeitung interessant wäre, oder?« Nach einem finsteren Blick in meine Rich tung sah Bert seinen Kollegen an, der mit dem Rü cken zu uns stand und die große Uhr an der gegenü berliegenden Wand betrachtete. »Bis jetzt noch nicht«, antwortete Al. »Schwer zu sagen, ob was fehlt, höchstwahrscheinlich hat er al lein gelebt, aber es scheint zumindest nichts beschä digt zu sein. Er hat in einem ziemlichen Chaos ge haust, aber das ist ja nicht verboten. Nun sieh dir das da mal an.« Obwohl er wahrscheinlich Bert gemeint hatte, fasste ich es trotzdem als Einladung auf. Al nickte zu der alten Standuhr hinüber. Sie war aus Mahagoni, hatte zwei lange goldfarbene Pendel, und ihr Zifferblatt war mit ineinander verschlunge nen geometrischen Mustern verziert. Die Zeiger standen auf 10 Uhr 25. Die Pendel waren unten stark verstaubt, sie hatten sich wohl schon eine ganze Wei le nicht mehr bewegt. »Bert, kannst du dich noch daran erinnern, dass Grandpa Per in seinem Schlaf zimmer auch so eine Uhr stehen hatte? So ein altes Ding zum Aufziehen?«
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»Keine Ahnung«, antwortete Bert kurz angebun den. So langsam, wie ich nur konnte, schlenderte ich durch die Diele, vorbei an zwei überquellenden Bü cherregalen, zwischen denen eine Vitrine stand. Die beiden Glastüren waren geschlossen, die fünf Fächer nahezu leer. Das Einzige, was sie enthielten, waren fünfzehn dreibeinige Holzständer, pro Fach jeweils drei. Es war nicht klar, ob Pühapäev auf diesen Stän dern jemals etwas stehen gehabt hatte. Ich beschloss, die Polizisten nicht auf die Vitrine aufmerksam zu machen, auch wenn ich bis heute nicht genau weiß, warum. Vielleicht aus reinem Eigensinn. Warum kickt man einen Stein über den Gehsteig, statt ihn einfach liegen zu lassen? Trotzdem ging mir irgend etwas an dieser Vitrine – diesem fast leeren Glas schrank in einem ansonsten so voll gestopften Haus – nicht mehr aus dem Kopf. »Nun komm schon, Al, ich hab Hunger.« Bert ras selte mit seinem dicken Schlüsselring, während er zur Tür ging. »Das können wir alles im Vinchy’s be sprechen und uns nebenbei ein paar Spiegeleier reinziehen. Ich lade dich ein.« Er legte mir die Hand auf den Rücken und schob mich sanft, aber ener gisch aus dem Haus. »Wenn es irgendwas Neues gibt, rufen wir Sie an. Nicht wahr, Al? Aber jetzt las sen Sie sich nicht aufhalten, wir sperren hinter Ihnen ab.«
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Der Destillierkolben
D Ist nicht unsere Welt selbst wenig mehr als ein Des tillierkolben im Regal des Schöpfers? Tun wir nicht im Kleinen Gottes Werk, indem wir diese unsere Kunst der Umwandlung in unseren bescheidenen kleinen Gefäßen praktizieren? Würden wir das laut aussprechen, dann würden wir uns damit zweifellos dem fälschlichen Verdacht aussetzen, Gotteslästerer zu sein, obwohl wir doch in Wirklichkeit die treues ten und ergebensten Jünger Gottes sind, und diese unsere Mission eine höchst heilige, und unsere Ex perimente nichts anderes als Gebete von höchst gottgefälliger Art, auch wenn uns dazu keine Religi on außer unserer eigenen den Segen erteilt. D SANOPLUS VON ALEXANDRIA D Über natürliche Handlungsweisen
In den ersten Frühlingstagen des Jahres 1154, als der wilde Salbei nicht mehr vom Frost bedroht war und die Palastgärtner die Stoffabdeckungen entfernen konnten, die zum Schutz der königlichen Zitronen-, Orangen- und Olivenbäume angebracht worden wa ren, rief König Roger II. von Sizilien seinen Geogra phen an den Hof von Palermo. Dieser Geograph war der berühmte Kartograph, Herbalist, Heilkundige,
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Komponist, Oud-Spieler, Illustrator und Philosoph Yussef Hadras ibn Azzam Abd Salih Jafar Khalid Idris, in den Geschichtsbüchern oft al-Idrisi oder nur Idrisi genannt, der wandernde Bibliothekar von Bag dad. Über sein frühes Leben weiß man nur wenig: Einige Chronisten geben an, er sei in Tunis als Sohn einer reichen Händlerfamilie zur Welt gekommen, andere behaupten, er habe seine Jugend als Bettler in Aleppo verbracht, geschlagen mit einer schrillen, durchdringenden Stimme und der zweifelhaften Ga be des ungenauen Weitblicks. Wieder andere beteu ern, allerdings weniger glaubwürdig, er sei der Sohn von Solomon ben Avram gewesen, dem blinden Rabbi von Merw. Al-Idrisi erlangte zunächst Berühmtheit als Schreiber, dann als Illustrator, später als Wesir von Haroun Ali Haroun in der Stadt Yazd, deren labyrin thische Straßen selbst in der mittäglichen Wüsten sonne eine kühlende Luftzirkulation zulassen. Von Yazd aus reiste er auf Wunsch des Kalifen nach Bag dad, und dort schuf er die sechsunddreißig Biblio theken von Bagdad, deren Ruhm sich durch die gan ze zivilisierte Welt ausbreitete und sogar bis zur Christenheit vordrang. Gelehrte, Imame, Musiker, Männer der Wissenschaft, Gottesmänner und Theo logen kamen von überall her, aus Córdoba und Buchara und Mikkouni, und sie alle trugen Manu skripte mit sich: Sie hatten die Erlaubnis, als Entgelt für die Schrift, die sie brachten, eine aus den Bestän den der Bibliotheken zu kopieren. Auf diese Weise legte al-Idrisi Bibliotheken an, deren Bestände sogar die von Alexandria übertrafen, ehe die Tragödie, von
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der wir hier nicht zu sprechen brauchen, über jene unglückliche Stadt hereinbrach. Ein gewissenloser Berater des Bagdader Kalifen verbreitete aus Neid auf al-Idrisis Ruhm und die ho he Wertschätzung, die »ein unehelicher Schreiber ling« bei seinem Herrn genoss, zweifelhafte Gerüch te über den religiösen Glauben und die persönlichen Neigungen des Bibliothekars, insbesondere in Bezug auf den Lieblingsneffen des Kalifen. Al-Idrisi floh nach Beirut, musste jedoch feststellen, dass diese zügellose Stadt voller Spione und Gefahren war, und segelte deshalb nach Westen, bis er schließlich nach Sizilien gelangte, dessen gelehrter König vertraut war mit al-Idrisis Abhandlung über die epidermalen und enterischen Heilkräfte einer bestimmten Art von Distelblüte, welche nur gekaut, aber niemals hinun tergeschluckt werden durfte. Dort fand al-Idrisi eine Anstellung als königlicher Geograph und Herbalist: Er übernahm die Pflege eines großen und vielfältigen Gartens sowie mehre rer Obstgärten, in denen der König und die Königin oft flanierten, wenn die sizilianische Hitze unerträg lich wurde. König Roger nahm al-Idrisis Dienste häu fig in Anspruch und betraute ihn mit immer umfang reicheren und ehrgeizigeren kartographischen Pro jekten. Sein erstes Werk zeigte jeden Stich, jedes Fädchen und jede Verzierung auf den prächtigen Roben der Königin, seine zweite Karte die Anord nung sämtlicher Heilpflanzen, Kräuter, Obstsorten, Blumenbeete, Baumgruppen und Haine in seinem Garten. Er fertigte zur Unterhaltung des Königs auch eine
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Reihe hypothetischer Karten an – den Löwenraum in Ounanga, ein Unterwasser-Schachmuseum in Atlan tis, die geheimen Felsengärten einer gnostischen Sekte von Khazar in den Khamantor-Bergen –, die für die Öffentlichkeit zugänglich blieben, bis eine kurzsichtige und ziemlich linkische Bibliothekarin, die eine heiße Affäre mit einer der jungen Biblio theksaufsichten hatte und es kaum erwarten konnte, zu ihrem nachmittäglichen Stelldichein zu kommen, die Sammlung 1972 in der Bodleiana verstellte. Die Karten sind seitdem nicht wieder aufgetaucht. Außerdem zeichnete er aus dem Gedächtnis Stra ßenkarten von Yazd, Isfahan, Ahwaz, Dimashq, Bei rut und Jerusalem. Seine Karte von Palermo hängt noch immer im Büro des dortigen Bürgermeisters, und Roger verschenkte al-Idrisis Karten von Malta und Menorca an Theobald den Frommen und Karl den Prächtigen. An jenem Morgen im März 1154 ließ der König alIdrisi zu sich kommen, um ihm eine positive Antwort auf das Anliegen zu geben, mit dem sein Geograph an ihn herangetreten war. Al-Idrisi bekam die Er laubnis und die nötigen Mittel, ein Schiff und eine Mannschaft, die er brauchte, um das größte kartogra phische Unterfangen seines Lebens – und mit Si cherheit auch das größte in der Geschichte Siziliens – in Angriff zu nehmen: eine Landkarte der bis dato bekannten Welt. Beginnen würde er natürlich mit Europa, und zwar im Norden. Entsprechende Schreiben an König Sweyn III. von Dänemark, in denen sein Einverständnis und seine Hilfe bei der sicheren Durchführung erbeten wurden, waren be
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reits abgesandt. Nicht ohne ein gewisses Bedauern stellte Roger es seinem Kartographen frei, aufzubre chen, wann immer er es für richtig erachtete. AlIdrisi übergab seine Gärten und sein Haus in die Obhut seines Lehnsmannes und äußerte dabei nur die Bitte, er möge seine Bibliothek – die Raritäten ebenso wie die Bücher – stets zusammenhalten. Der Königin überreichte al-Idrisi seine Juwelen, »kostba re, im Laufe eines Wandererlebens erlangte Gaben, von denen ich gehofft hatte, ich könnte sie eines Ta ges an meine Frauen und Töchter weitergeben. Nun weiß ich, dass ich keine haben werde, und falls Ihr sie zur Erinnerung an mich annehmen möchtet, wer det Ihr mir vielleicht die Freude machen, sie an Eure Töchter weiterzugeben, und auf diese Weise – zu sammen mit der tröstlichen Gegenwart Gottes – den Schmerz und das Bedauern eines einsamen alten Mannes lindern.« Gegen Ende dieses Sommers machte al-Idrisi sei nen Antrittsbesuch bei dem dänischen König Sweyn, der schon begierig darauf wartete, einen Ausländer aus dem Süden kennen zu lernen, dessen Haut von der Wüstensonne dauerhaft gebräunt war. Der Kar tograph blieb dort nicht lange. Er schrieb an Roger, dass »ein Mann, der nach Norden reist, aus der Zivi lisation in die Barbarei gelangt. Die Frage, ob Zivili sation in den nördlichen Klimazonen überhaupt mög lich ist, wäre durchaus berechtigt. Wenn ein Mann seine Kräfte hauptsächlich darauf verwenden muss, sich im Winter vor der Kälte und im Sommer vor teuflischen Stechmücken und Krankheiten zu schüt zen, wie soll man dann von ihm erwarten können,
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dass er jene Künste der Seele und des Geistes entwi ckelt – ich spreche hier von Musik, Gelehrsamkeit, Konversation, Kochkunst –, die dank Gottes Gnade an Eurem edlen Hofe gepflegt werden, dessen ich so voller Sehnsucht gedenke?« Er schrieb weiter, dass er den dänischen Hof so schnell wie möglich wieder verlassen wolle, »denn offen gestanden (und ich bete zu Gott, dass diese Nachricht niemand anderem in die Hände gerät als Euch selbst) haben die Männer hier nichts anderes im Sinn als Saufgelage, Schlägereien, primitives Kräf temessen und kunstloses Geschrei, das sie fälschli cherweise als Gesang bezeichnen. Dank Gottes wei ser Voraussicht hält sich derzeit ein junger Bischof namens Meinhard bei Hofe auf. Sobald die Tage kürzer und kälter werden, wird er nach Osten segeln, und um Eures Namens willen und wegen des wohl verdienten Ruhmes Eures höchst königlichen Hofes hat er sich bereit erklärt, mich mit seiner Gefolg schaft nach Lübeck mitreisen zu lassen und von dort weiter in die noch unerforschten Regionen, die man che Livonia nennen, andere Karelien und wieder andere Lettgallien oder Astlanda. Ich habe gehört, dass zu den Städten Astlandas auch Qlwri zählt, eine kleine Stadt, die eher Ähnlichkeit mit einer großen Burg haben soll. So Gott will, werde ich dort an kommen, bevor der erste Schnee fällt.« Astlanda war al-Idrisis Übersetzung für Estland und Qlwri einer der vielen Namen für die Stadt, die wir heute Tallinn nennen. Meinhard und seine Ge sellschaft segelten nicht weiter als bis zum christli chen Außenposten Riga. Al-Idrisi setzte seine karto
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graphischen Reisen entlang der baltischen Küste fort, bis ein Unwetter sein Schiff an der Insel Hiiu maa auf Grund laufen ließ. Er schrieb, während jenes Winters »mussten wir beschämt alles erdenkliche Elend und Unglück mit ansehen. Menschen aßen Pferdefleisch, Baumrinden, Hunde, abgestorbenes Gras und Moos, gelegentlich sogar einander. Väter und Mütter setzten ihre kleinen Kinder in Boote, weil sie hofften, dass sie anderswo sichereres Land erreichen würden. Wir fanden Dutzende dieser Kleinkinder steif gefroren am Ufer der Insel. Es übersteigt meine Kräfte, zu beschreiben, welche Verderbtheit Hunger und Kälte mit sich bringen können.« Das Auffallendste an dieser Nachricht ist nicht ihr Ton – Adam von Bremen und die Nowgo rod-Chroniken berichten über ähnlich schlimme Er eignisse –, sondern die Tatsache ihrer Existenz: Sie erreichte Rogers Hof im April 1155. Wie konnte alIdrisi, der nie weiter nördlich als in Sizilien gelebt hatte, einen Winter überleben, der den Chroniken zufolge einen von drei Bewohnern Nowgorods das Leben kostete? Im darauf folgenden Frühjahr erhielt Canute V, König der Dänen, einen Brief von Bischof Meinhard. Der Geistliche erwähnte, dass er während seiner Rei se von König Sweyns Hof nach Riga, »mit der Ab sicht, der Heiligen Kirche eine weitere Seele zuzu führen und den Ruhm unseres Herrn Jesus Christus zu vermehren, einige Zeit im Gespräch mit einem dunklen Magier verbracht habe, der ebenfalls in die kalten und wilden Regionen reiste, einem recht um gänglichen Heiden mit sehr vielfältigem Wissen, so
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wohl über die natürliche Welt als auch über Dinge, die sich unserer genauen Kenntnis entziehen. Er trägt stets eine Tasche bei sich, deren Inhalt angeb lich die Macht besitzt, einen Menschen für immer zu retten oder aber in Stücke zu reißen.«
GEGENSTAND 1 Ein Destillierkolben ist der obere Teil einer zum Destillieren verwendeten Apparatur. Der uns vorliegende besteht aus starkem grünem Glas, ist 36 Zentimeter hoch und hat an seiner brei testen Stelle einen Umfang von 18 Zentimetern. Der obere Teil des Gefäßes läuft schmal zusammen und dann scharf nach rechts. Destillierkolben werden über einem Destillierapparat angebracht, um Dämp fe zu sammeln und in ein anderes Gefäß überzulei ten. Das Innere des Gefäßes ist mit einer grauen Kruste überzogen, offenbar einer Mischung aus Blei, Eisen und Antimon sowie einigen organischen Sub stanzen, unter anderem Hunde- und Menschenkno
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chen. An der Außenseite des unteren Teils sind bis zu einer Höhe von 5 Zentimetern Brandflecken zu erkennen. Kein feststellbarer Geruch. HERSTELLUNGSDATUM Unbekannt. Die Schätzun gen reichen von 100 v. Chr. bis 300 n. Chr. HERSTELLER Unbekannt. In Anbetracht des Alters handelt es sich um eine außergewöhnlich schöne Arbeit. Die scheinbar so schlichte Form täuscht dar über hinweg, wie viel Planung, Sorgfalt, Arbeit und Kunstfertigkeit zur Herstellung eines solchen Gefä ßes nötig war. HERKUNFTSORT Das hellenistische Ägypten. Die ara bische Bezeichnung für einen solchen Destillierkolben lautet ul-anbiq, abgeleitet von dem griechischen Wort ambix, das »Tasse« oder »Becher« bedeutet. LETZTER BEKANNTER BESITZER Woldemar Lö wendahl, dänisch-estnischer Generalgouverneur von Tallinn. Der Destillierkolben wurde 1723 während des Baus der Kassari-Kirche auf der Insel Kassari ausgegraben und im Juni desselben Jahres in Lö wendahls Büro gebracht. Der Generalgouverneur stellte ihn in das oberste Fach eines leeren Bücher regals in der hintersten Ecke seines Büros und be merkte nicht, dass er nach zwei Jahren, sechs Mona ten und siebzehn Tagen plötzlich abhanden kam. GESCHÄTZTER WERT Unbekannt. Solche Antiquitä ten werden selten auf dem freien Markt verkauft.
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Wenn sie bei einer archäologischen Ausgrabung ent deckt werden, landen sie für gewöhnlich in dem Mu seum der Institution, die die Ausgrabungen finan ziert hat. Werden sie zufällig oder durch eine Privat person entdeckt, sorgt Diskretion oft für höhere Prei se. 1997 bezahlte der holländische Lakritze-Magnat und leidenschaftliche Sammler Joop van Eeghen 70.000 Dollar für einen Destillierlöffel, der angeblich Roger Bacon gehörte. 1999 bezahlte ein arabischer Herr, von dem gemunkelt wurde, er fungiere als Stellvertreter für die Regierung des Irak, 790.000 Dollar an einen italienischen Exil-Baron, der in den Besitz eines Originalmanuskripts von Aub’l-Qasim Muhammad ibn Ahmad al-Iraqis Buch des Wissens über die Erzeugung von Gold gekommen war. Am Morgen nach dem Kauf wurde er in seinem Hotelzimmer ohne das Buch und ohne seinen Kopf aufgefunden. Außerdem fehlten drei Finger seiner linken Hand.
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Was oben ist, ist wie das, was unten ist, und was unten ist, ist wie das, was oben ist, damit die Wunder des Einen zur Vollendung gelangen.
Als ich ins Büro zurückkam, war Art bereits nach Hau se gegangen, und draußen begann es zu dämmern. Wenn ich jetzt nach Wickenden aufbrach, würde ich dort ein verschlossenes, leeres Institut für Geschichte vorfinden. Der Tag war gelaufen. Ich hätte höchstens noch irgendwelche Notizen abtippen können, wenn ich mir welche gemacht hätte. So aber schaltete ich im Büro das Licht aus, sperrte ab und fuhr zurück in meine leere Wohnung an der Eisenbahnlinie. Mein Abendessen bestand aus zwei Dosen Bier und einem Sandwich, das ich aß, während ich aus dem Fenster starrte. In meiner Anfangszeit hier hatte ich diese ru higen Kleinstadtabende recht schön gefunden: Ich hatte sie mir sozusagen selbst in leuchtenden Farben geschildert. Aber es gibt eine feine Grenzlinie zwi schen klösterlicher Romantik und Langeweile. Eine Zeit lang war ich direkt auf dieser Grenze dahinmar schiert, und nun war ich dabei, auf die dunkle – oder zumindest dumpfe – Seite hinüberzurutschen. Um zehn schlief ich bereits tief und fest. Als ich am nächsten Morgen im Büro eintraf, war Austell McFarquahar schon da. Das hätte ich mir
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denken können: Schließlich war es halb elf, und Austell kam jeden Werktag um Punkt zehn zur Tür herein. Ohne Ausnahme. Während der ganzen Zeit, die ich nun schon beim Carrier arbeitete, war er noch nie krank gewesen. Seinen Urlaub nahm er jedes Jahr um die gleiche Zeit: Ende Juli ging es zum Fi schen und Segeln nach Nova Scotia, und an Weih nachten nach England zur Familie seiner Frau. Mit tags um halb zwölf machte er sich auf den Heimweg, um zu essen und sich anschließend das zu gönnen, was er sein »Studierstündchen« nannte. Das Ganze dauerte bis zwei, und abends ging er dann zwischen halb sieben und sieben. Wenn er am Morgen zur Tür hereinkam, sagte Art zu jedem, der gerade da war: »Austell McFarquahar – nach dem kann man seine Uhr stellen«, woraufhin Austell eine imaginäre Uhr in die linke Hand nahm, sie mit der rechten aufzog und dann mit jungenhafter Selbstzufriedenheit sagte: »Wie ein Uhrwerk.« Austell nutzte sein »Studierstündchen«, um Mate rial für die Naturkolumne zu sammeln, die seine ein zige Aufgabe bei der Zeitung war. Er hatte den Titel seiner Kolumne schon so oft geändert – »Holz und Pilz«, »Bäumereien«, »Arboralia«, »Skurriles rund um Wald und Feld«, »Wind in den Weiden« –, dass Art die Titelzeile irgendwann ganz eliminiert hatte, woraufhin Austell in eine tiefe Depression versunken war, die fast volle fünf Minuten gedauert hatte. Er weigerte sich stets, ein Honorar für seine Kolumne anzunehmen, und Art hatte mir gegenüber schon öfter fallen lassen, dass der Carrier seine Existenz Austells Großzügigkeit zu verdanken habe.
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Er und Art waren zusammen in die Grundschule und Highschool gegangen. Art hatte nach seinem Abschluss eine Stelle als Redakteur beim Hartford Courant ergattert und war erst wieder nach Lincoln zurückgekommen, nachdem er beschlossen hatte, sich halbwegs zur Ruhe zu setzen. Austell dagegen hatte ein Studium in Yale begonnen, aber nie abge schlossen, und war dann nach Hause zurückgekehrt, um dort Vollzeitprivatier und Stadtlegende zu wer den. Seine Familie lebte schon seit über zweihundert Jahren in Lincoln (Lincoln Common, wie er immer betonte, auch wenn er beschämt einräumte, dass ein paar Cousins und Cousinen von ihm in Lincoln Sta tion gelebt hatten, bevor sie nach San Francisco ge zogen waren), und er sprach ständig über die Chro nik Lincolns, an der er arbeite. Je länger er über das Projekt sprach, umso umfangreicher wurde es: eine Geschichte der Stadt, in der über jedes Ereignis seit ihrem Bestehen detailgetreu berichtet werden sollte, und zwar genau so lange, wie das betreffende Ereig nis tatsächlich gedauert hatte. Ich hörte auf, ihn nach dem Projekt zu fragen, nachdem ich einmal fast ein geschlafen war, weil er mir stundenlang die Hinter gründe erklärte, die dazu geführt hatten, dass 1892 in Lincoln zwar die Einnahme, nicht aber der Vertrieb bestimmter alkoholhaltiger Tropfen verboten wor den war. Art witzelte hin und wieder, er habe immer ein paar Rauchbomben in der Tasche, damit er je derzeit ein Ablenkungsmanöver inszenieren könne, wenn Austell ihn mal allein im Büro erwische. Wir hatten gerade etwa die Hälfte der Phase hin ter uns gebracht, die Art »die Heimsuchungen des
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heiligen Austell« nannte, womit er in Wirklichkeit aber die Heimsuchungen der Menschen in Austells Umkreis meinte. Von Thanksgiving bis zu seiner Abreise nach England steigerte Austell sich in einen fast schon hysterischen Zustand der Vorfreude hin ein, der ihn am Ende nur noch aufgeregt vor sich hin plappern ließ. Sein Ziel war jedes Jahr, die Erfahrung des Vorjahres so annähernd wie möglich zu wieder holen. Die zwölf Monate, die seitdem vergangen wa ren, hatten Abweichungen in neue Traditionen ver wandelt. Wenn das Pub, in dem sie am 27. Dezem ber immer zu Abend aßen, ausnahmsweise mal ge schlossen hatte, dann wurde das neue Pub im nächs ten Jahr zu einem Teil des Familienprogramms, und das alte wurde gestrichen. Seine freudige Erregung, die anfangs etwas leicht Prahlerisches, Jungenhaftes hatte – »Eine englische Weihnacht ist einfach mit nichts zu vergleichen, müsst ihr wissen, auch wenn in dem Teil des Landes natürlich schon seit Ewigkei ten kein Schnee mehr gefallen ist. Trotzdem tischt Mum (so nenne ich Lauras Mutter) jedes Jahr ein feudales Festessen auf …« –, äußerte sich nach ein paar Tagen zunehmend in einem wirren Durchein ander von Hinweisen auf Pasteten mit Dörrobstfül lung, Christmas-Cracker und Gänsebraten. Ob das daran lag, dass Austell mit der Zeit immer tiefer in seine eigenen nostalgischen Träumereien versank oder er für uns einfach zu einem Teil der Geräusch kulisse wurde, lässt sich schwer sagen. Äußerlich ähnelte er einer menschlichen Wind mühle: groß und dünn, mit ausholenden, leicht schlenkernden Bewegungen. Er hatte einen wilden
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Schopf aus strähnigem roten Haar, und sein Ge sichtsausdruck wirkte immer ein wenig erstaunt. An diesem speziellen Morgen saß er gerade vor einem halb geöffneten Fenster, als ich das Büro betrat. Die Zugluft ließ seine Haare hochwehen, und sein lan ges, schmales Vogelscheuchengesicht mit der großen runden Hornbrille wandte sich mir zu. »Ahoi, junger Schreiber! Ein erfrischender Morgen, nicht wahr? Absolut erfrischend! Zeit zum Forellenfangen, die Jagdsaison hat begonnen, und im Wald warten jede Menge Pfifferlinge darauf, gefunden zu werden. Da soll mir mal einer genau erklären, warum ein Mensch jemals den Wunsch verspüren sollte, anderswo zu leben als im westlichen Connecticut.« Ich war tat sächlich gerade im Begriff, jede Vorsicht in den Wind zu schlagen und ihm darauf eine Antwort zu geben, als er sich plötzlich mit einer schwungvollen Bewe gung von mir wegdrehte, das Fenster noch weiter aufriss, die eisig kalte Luft einsog, bis seine Brust sich blähte, und das Fenster dann genauso schwung voll wieder zuschlug. Diese Angewohnheit von ihm wurde im Lauf des Winters immer lästiger. »Du bist nicht aus Neuengland, stimmt’s?« Austells Fragen zu beantworten war wie eine Wanderung zwischen riesigen, schwankenden Bü cherstapeln: Ein einziger falscher Schritt, und man wurde unter einstürzenden Bergen von Worten be graben. Ich entschied mich für eine Antwort, mit der ich ohne Umschweife auf den Punkt kam, vor allem, weil er mir diese Frage schon mindestens ein Dut zend Mal gestellt hatte. »Nein, ich bin in Brooklyn aufgewachsen.«
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»Brooklyn, hm? Big Apple und die Dodgers und das alles. Warum dort?« »Mein Vater hat in Manhattan gearbeitet, und meine Mutter ist in Brooklyn aufgewachsen. Aller dings in einem anderen Teil.« »Ach ja, Arbeit. Ich schätze, davon gibt’s hier draußen nicht allzu viel. Bestimmt besuchen dich deine Leute, sooft sie können, oder? Damit sie mal rauskommen aus dem Smog und alldem.« »Na ja, mein Dad ist inzwischen zurück nach In dianapolis gezogen, wo er herstammt. Er hat mich noch nie hier besucht. Aber meine Mom lebt noch in New York und schaut gelegentlich zu mir heraus.« »Großartig. Wunderbar. Dann bist du also nicht ganz und gar verwaist. Freut mich, das zu hören.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann die Kappe eines Kugelschreibers als Zahnstocher zu be nutzen, während er mit dem Stift selbst unbeküm mert in seinem linken Ohr herumbohrte. »Weißt du, ich glaube« – er nahm den Stift wieder aus dem Ohr und unterzog ihn einer eingehenden Prüfung –, »ich werde diese Woche über die Unter schiede in der Kappenstruktur der tödlichen und der weniger tödlichen Amanita-Pilze schreiben. Unser furchtloser Führer meint zwar, ich hätte so was Ähn liches schon mal gemacht, aber ich habe nachgese hen und festgestellt, dass ich lediglich über die ver schiedenen Arten von Baumstämmen geschrieben habe, auf denen die beiden Amanita-Sorten zu fin den sind. Oder in deren Nähe sie gedeihen. Oder zumindest … Jedenfalls geht es mir darum, dass es gar keinen Unterschied in der Kappenstruktur gibt,
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sodass man, wenn man Pilze sammeln geht, entwe der ein verlässliches Pilzbuch braucht oder aber ei nen erfahrenen Pilzsammler, den man fragen kann. Und da ich nicht sicher bin, wie viele Leute es wirk lich für nötig erachten, sich ein richtiges Pilzbuch zu kaufen, habe ich mir gedacht, ich sollte die Unter schiede vielleicht einfach selbst erklären. Damit könnte ich viele Amateur-Pilzsammler vor hässlichen Bauchschmerzen oder Schlimmerem bewahren. Was hältst du davon?« »Klingt nach einer großartigen Idee, Austell«, antwortete ich so begeistert wie möglich, während ich mich gleichzeitig langsam von seinem Schreib tisch entfernte. »Ist Art in seinem Büro?« Ich spähte um die Ecke, aber seine Tür war geschlossen. »Ich denke schon, ich denke schon. Furchtloser Führer? Furchtloser Führer! Einer von deinen La kaien möchte dich sprechen!« Er begann laut zu la chen. Einen Moment später machte Art die Tür auf. Er hatte einen Kopfhörer um den Hals und einen Walkman in der linken Hand. Nachdem er sich mit einem dünnen Lächeln bei Austell bedankt hatte, winkte er mich in sein Büro. Er zog die Tür hinter uns zu und deutete dann auf seinen Walkman. »Mein Anti-AustellAbwehrmechanismus. Du weißt, wie gern ich den Kerl habe, aber er ist mal wieder in sehr gesprächiger Stimmung. Und wir sind ein bisschen in Verzug, weil Nancy doch jetzt zwei Wochen nicht da ist. Am bes ten, wir sitzen es einfach aus. So früh am Vormittag hat er das öfter. Redet er immer noch über den tödli chen Wie-heißt-das-Teufelszeug-noch-mal?«
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Ich nickte, woraufhin Art kopfschüttelnd lächelte und ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hemdtasche zog. »Wenigstens kann ich sicher sein, dass er nicht reinkommt, wenn ich das hier mache.« Er hielt mit der einen Hand ein Zündholz, mit der anderen eine Zigarette hoch. »Was wahrscheinlich bedeutet, dass der Nutzen für meine geistige Gesundheit den Schaden für meine Lunge überwiegt.« Ich gab ihm keine Antwort, aber das hatte er of fensichtlich auch gar nicht erwartet, denn gleich dar auf fragte er mich nach Pühapäevs Haus. Ich erzählte ihm von den beiden Polizisten, die dort herumgestö bert und mich ziemlich schnell wieder hinausbeför dert hatten. »Die Olafsson-Cousins«, meinte Art. »Kaum zu glauben, oder? Was für ein Name für zwei Kleinstadtbullen – einen besseren könnte man sich kaum ausdenken. In gewisser Hinsicht sind sie wirk lich verlässlich: Man meldet ein Verbrechen, und die Olafsson-Cousins sind zur Stelle – wenn auch dreißig Minuten zu spät. Mindestens. Und am Monatsende verpassen sie dir einen Strafzettel wegen Geschwin digkeitsübertretung auf der Elias Road, egal, ob du zu schnell fährst oder nicht. Hattest du noch nie mit ihnen zu tun?« »Gesehen habe ich sie schon ein paarmal, aber persönlich hatte ich noch nicht das Vergnügen«, ant wortete ich. »Ich wusste auch nicht, dass sie Olafsson heißen. Wie lange arbeiten sie hier schon als Polizis ten?« »Bei meiner Rückkehr vor fünf Jahren waren sie schon da. Während meiner Kindheit war ihr Großva ter der Stadtgendarm, später dann ihr Vater, und als
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die Stadt größer wurde, stellte er seinen Bruder als seinen Vertreter an. Und jetzt sind es diese beiden. Es heißt, ihr Großvater, der in den Zwanzigern mit der ersten Welle schwedischer Bauern herkam, sei nicht in der Lage gewesen, ein Feld zu bestellen, und habe deswegen den Bürgermeister dazu überre det, ihn als Sheriff anzuheuern. Vielleicht solltest du Austell mal danach fragen. Er wird es dir genau er zählen. Vielleicht lässt du das auch lieber bleiben, weil er bestimmt mit dem Dorf ihrer schwedischen Vorfahren anfangen wird.« Für einen Moment wirkte er leicht entrückt, wahrscheinlich stellte er sich gera de vor, wie Austell die Geschichte erzählen würde – als eine Art Genesis Neuenglands, eine nicht enden de Abfolge von Generationen guter, bodenständiger Menschen. »Auf diese Weise«, fuhr er fort, »erbte Allen – das ist der dünne – den Job von seinem Vater, der sei nerzeit der eigentliche Wachtmeister war, nicht der Stellvertreter. Er kam auch recht gut klar, zumindest was seinen Job betraf. Als Kleinstadtbulle in einer Stadt wie dieser – was hat man da schon viel zu tun? Wenn die Kasse mal leer ist, braucht man bloß sei nen Streifenwagen unterhalb vom Station Hill zu parken, und schon kann man anfangen, Strafzettel zu verteilen. Und hin und wieder rettet man mal eine Katze aus einem Baum. Oder macht das die Feuerwehr? Ich glaube, das macht die Feuerwehr. Wie auch immer, jedenfalls war der Sohn des Stell vertreters, Bert – das ist der dicke – fünf oder viel leicht auch zehn Jahre bei der Polizei in Hartford. Dann tauchte er plötzlich hier wieder auf. Allen
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stellte ihn als seinen Stellvertreter an, aber ein Blick auf die beiden reicht, und man weiß, wie der Hase läuft: Bert hat den armen Kerl total unter seiner Fuchtel. Wenn die Gerüchte stimmen, ist Bert im mer wieder durch die Prüfung zum Sergeant geras selt und hat sich außerdem so allerlei zuschulden kommen lassen – Alkoholexzesse, Schlägereien, alle möglichen üblen Sachen –, sodass es ihn am Ende wieder nach Hause trieb. Um noch mal ganz neu durchzustarten, nehme ich an. Das Problem ist bloß, dass er sich für einen solchen Neustart von Grund auf hätte ändern müssen, was er aber nicht getan hat. Er trinkt nach wie vor, ist immer noch faul, im mer noch grob. Es würde mich nicht wundern, wenn er Allen dazu überredet hätte, zum Haus des Toten rüberzufahren, um sich dort irgendetwas unter den Nagel zu reißen.« »Warum bringen wir dann keine Story darüber?«, fragte ich. »Korruption in den Ämtern, unkorrektes Verhalten bei der Polizei – sind das nicht die The men, bei denen uns Journalisten das Wasser im Mund zusammenlaufen sollte?« Art stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Grunzen lag, und setzte sich aufrechter hin. »Ja, ja, gewiss. Aber diese Zei tung ist dafür definitiv nicht der richtige Ort. Das muss in Hartford passieren. Oder in Waterbury, viel leicht sogar in New Haven. Wir sind eine Gemeinde zeitung. Wir schreiben über Hochzeiten und Foot ballspiele. Volksfeste. Geschäftseröffnungen, Ge schäftsaufgaben. Außerdem kommen die meisten unserer Leser aus der Großstadt zu uns heraus, weil
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sie dieses ganze Zeug über korrupte Polizisten nicht mehr hören können.« Er trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum. Sein Gesichtsaus druck wirkte gequält, unser Gespräch schien ihm ein wenig peinlich zu sein. »Wenn wir hier eine solche Story bringen würden, hätte das übrigens auch zur Folge, dass du alle nur erdenklichen Strafzettel we gen zu schnellen Fahrens und Falschparkens be kommen würdest, und zusätzlich noch ein paar für Verstöße, die sie eigens für dich erfinden würden. Das Problem ist allerdings, dass meine Freunde in Hartford auch keine Lust haben werden, darüber zu berichten, denn wer interessiert sich dort schon für Lincoln? Möchtest du wirklich mal so was recher chieren?« Er musterte mich über den Schreibtisch hinweg – ich konnte nicht sagen, ob er ein Ja oder ein Nein von mir hören wollte. Ich nickte. Warum nicht: Schließlich hatte ich für die nächsten sechzig Jahre noch keine konkreten Pläne. »Falls du tatsächlich Enthüllungsjournalist wer den möchtest, suche ich dir einen Job in einer größe ren Stadt. Hartford, Stamford, vielleicht auch New Haven. Möglicherweise könnte ich sogar beim Record in Boston etwas für dich auftun, aber man soll es ja nicht gleich übertreiben. Sag mir Bescheid, falls du dich dazu entschließt. Mittlerweile bist du ja schon sechzehn Monate bei uns, und ich finde es großartig, dich hier zu haben. Trotzdem kannst du nicht ewig bleiben, sonst wirst du eines Tages ein zweiter Austell, oder aber du kletterst mit einer Knarre auf den Kirchturm und fängst an, unsere Leser abzuknal len. Das kann ich auf keinen Fall zulassen. Geh und
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sieh dir die Welt an. Mach dir einen Namen. Du hast das Zeug dazu.« Er drückte seine Zigarette aus. »So, das war die erste Lektion.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und nun lass uns dein Programm für heute besprechen. Ist dir noch jemand eingefallen, den du wegen deines toten Professors anrufen könntest? Es muss doch irgendwo jemanden geben, der ihn gekannt hat, oder?« Ich nickte. »Ich könnte nach Wickenden hinaus fahren und mich mal umhören, ob im Institut für Geschichte jemand etwas über ihn weiß.« »Höchst lobenswert, aber auch sehr zeitaufwän dig. Wird dir das nicht zu viel? Woran arbeitest du denn im Moment sonst noch?« »Kein Problem. Irgendwie interessiert mich das Ganze sowieso. Eigentlich wollte ich an dem Artikel über Verrill’s weiterschreiben. In der Gärtnerei soll doch eine zusätzliche Abteilung für Obst und Honig eröffnet werden. Aber das kann warten.« »Was soll das heißen, das kann warten?« Art riss mit gespielter Entrüstung die Augen auf. »Das Thema ist hier in Lincoln noch kein Dauerbrenner, sondern eine sensationelle Neuigkeit! Nun aber mal im Ernst: Wenn du wegen dieser Sache auf Wander schaft gehst, bekommen wir dann noch genug zu sammen, um diese Woche eine Zeitung zu füllen?« »Ich denke schon. Das über Verrill’s mache ich auf jeden Fall fertig. Dann wäre da noch der Artikel über die Bodenordnung, den wir letzte Woche nicht gebracht haben, und die Weihnachtsliste. Und ver giss nicht die Weihnachtsfotos vom letzten Jahr, die können wir auch noch bringen. Jede Menge aufre
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gendes Material. Außerdem bin ich heute Nachmit tag wieder da.« Art klatschte mit der Handfläche auf die Tisch platte. »Wunderbar. Zieh hinaus in die Welt und ver such dein Glück, mein Sohn. Und möge das Schick sal dir gewogen sein und so weiter.« Die Fahrt von Lincoln nach Wickenden dauerte normalerweise knapp zwei Stunden, vorausgesetzt, es war nicht zu viel Verkehr. Nachdem ich den Job in Lincoln angenommen hatte, war ich die Strecke an fangs sehr oft gefahren, weil ich noch jedes Wochen ende mit Mia verbracht hatte. Mia Park war in Wi ckenden zwei Jahrgänge unter mir gewesen, dafür aber Lichtjahre voraus, was Persönlichkeit, Intelli genz und Beharrlichkeit betraf. Wir hatten diejenige Sorte nervös-verspannte Beziehung geführt, die im Grunde immer eine Zitterpartie bleibt, weil keiner von beiden bereit ist, sich als Erster zu entspannen. Wir hatten uns erst kennen gelernt, als ich schon fast mit dem Studium fertig war, und es mit etwas Mühe von meiner Seite und sehr viel Mühe von ihrer Seite geschafft, bis zum Ende des nächsten Herbstsemes ters zusammenzubleiben. (Dass wir immer noch in akademischen Semestern dachten, war an sich schon ein gefährliches Zeichen.) Danach trennten wir uns, wie zu erwarten gewesen war, in aller Freundschaft, blieben aber in Kontakt, auch wenn wir immer selte ner voneinander hörten. Inzwischen war sie ebenfalls mit dem Studium fertig, und ich ging davon aus, dass ich nun gar nichts mehr von ihr hören, vermutlich aber bald einmal etwas über sie lesen würde. Ich hät te gern gewusst, wie es ihr inzwischen ging, kam aber
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zu dem Schluss, dass es sich dieses Mal nicht lohnte, sie zu besuchen, weil ich ja nachmittags wieder in Lincoln sein wollte. Wahrscheinlich hätte ich es an ders gesehen, wenn die Chance auf einen NostalgieFick bestanden hätte, aber nachmittägliche Schäfer stündchen gehören zu den Dingen, die man aufgibt, sobald man einen Job mit normalen Arbeitszeiten annimmt. (Ich hatte zu meinem wachsenden Bedau ern feststellen müssen, dass Sex ganz allgemein zu den Dingen gehört, die man aufgibt, wenn man in eine Kleinstadt in Neuengland zieht, wo man um einige Jahre jünger ist als die Nachkommenschaft des Durchschnittsbürgers.) Ich fuhr in östlicher Richtung durch die alten In dustriestädte Connecticuts, die inzwischen nur noch trist, pleite und abgewrackt wirkten. Ab dem Zeit punkt, als ich auf die Interstate einbog, hätte ich den Weg nach Wickenden auch blind gefunden. Ich war insgesamt bestimmt sechzig oder siebzig Mal zwi schen dort und New York hin- und hergefahren. Die Strecke und die Ausblicke waren mir genauso ver traut wie das Innere meiner Wohnung: der Straßen belag, der sich plötzlich rauer anfühlt, sobald man nach Rhode Island hinüberfährt; der Wald zu beiden Seiten des Highway, der einem im Ocean State so fehl am Platz erscheint; die anonymen 1970er Betonbüroblöcke und -Busbahnhöfe in Staunton und Eastwick. Wenn man sich dann Wickenden nähert, fühlt man sich plötzlich fünfzig Jahre zurückversetzt. Entlang der Highways drängen sich pastellfarbene, mehrstöckige Schindelhäuser, die mit ihren vielen Baikonen den Eindruck erwecken, als würden sie
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jeden Moment nach vorn auf die Straße kippen. Dann kommt das ehemalige Industriegebiet aus ro tem Backstein, einst verlassen, nun aber aufgepeppt mit Kunstgalerien und Cafés, wo man seinen geogra phisch korrekten Kaffee für fünf Dollar fünfzig in einer großen Keramiktasse bekommt, getöpfert von einer Freundin des Café-Besitzers. Dann die Innen stadt, zum Bersten voll gepfercht mit klapprigen al ten Gebäuden, dazwischen hin und wieder ein neues aus Stahl und Glas, das genauso penetrant vor sich hin strahlt wie ein selbstzufriedener reicher Onkel bei einem Familientreffen. Schrullige Straßen, die mit einem Parkplatz beginnen und neben einem Gebäude als Sackgasse enden: der Dachboden von Amerikas Großmutter. Ich empfand für all das jene besitzergreifende Art von Liebe, die man nur für un verzeihliche (oder nur halb verzeihliche) Lieben empfindet: Jeder konnte nach New York oder San Francisco oder Los Angeles ziehen, seine Vergan genheit hinter sich lassen und in den Chor der Alt eingesessenen einstimmen, aber dieser Ort hier hatte im Grunde nur seine Eigenartigkeit und seinen klapprigen Charme zu bieten und verdarb damit alle, die davon bezaubert waren, für jeden anderen Ort der Welt. Ich fuhr an der Firwell Street von der Interstate ab, also gleich unterhalb des Hügels, auf dem die Uni versitätsgebäude von Wickenden lagen. Der Cam pus, von dem aus man auf die Ostseite der Stadt hin unterblickte, erstreckte sich über eine Fläche von mehreren Quadratkilometern und bildete sowohl
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geographisch als auch kulturell eine in sich geschlos sene kleine Welt, sodass sich die ängstlicheren unter den Studenten niemals in die große, böse (in Wirk lichkeit mittelgroße und freundliche) Stadt hinun terwagen mussten, die älteren Semester aber trotz dem die Möglichkeit hatten, dorthin zu entfliehen, wenn ihnen die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Ich fuhr den Hügel hinauf, vorbei am Gerichtsge bäude und dem Universitätsclub der Stadt, und als dann die eigentlichen Unigebäude begannen, suchte ich mir einen Parkplatz. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung bis zum Institut für Geschichte. Als ich ausstieg, kam gerade ein magerer, abgeris sen wirkender Mann in einem übergroßen blauen Parka die Straße herunter. Während er auf mich zu schlenderte, schien er mit einer unbestimmbaren Zahl imaginärer Freunde zu sprechen. Dabei reckte er einen Finger in die Luft und ließ ihn dann nach Art eines Orchesterdirigenten in meine Richtung heruntersausen. »Bruder, Mann, diese Ponys sind doch scheiße! Die verdammten Luder spucken ei nen erwachsenen Mann aus!« Wahrscheinlich starrte ich ihn recht neugierig an, denn als er mich erreichte, musterte er mich von oben bis unten und fauchte: »Wer zum Teufel spricht eigentlich mit dir? Schei-ße!« Er nahm seine schmuddelige Kappe ab, auf der MENDES BROS. GARAGE SERVICE stand, und kratzte über seinen kahlen Kopf. »Am besten, du steigst gleich wieder in den be schissenen Scheißhaufen, den du einen Wagen nennst, und fährst zurück nach St. Lou.« Mit diesen
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Worten setzte er sich wieder in Bewegung, blieb aber nach wenigen Schritten erneut stehen, streckte mir seine Handflächen entgegen und fügte hinzu: »Und sag Miss Ethel, dass sie sich keine Sorgen mehr zu machen braucht. Sag ihr, dass ich ihr auf den Fersen bin, kleiner Mann.« Während ich die Treppe zum Institut hinaufstieg, überlegte ich immer noch, was er damit wohl ge meint haben mochte. Es kam mir vor, als wäre es nicht erst ein paar Jahre, sondern schon ein ganzes Leben her, seit ich hier als leidlich guter, aber trotz dem unmotivierter Student herumschlurft war: einer, der zwar aus reiner Gewohnheit gute Essays schrieb und ein weiterführendes Studium als eine Möglich keit betrachtete, berufliche Entscheidungen noch ein wenig hinauszuschieben, sich andererseits aber nie wirklich dazu durchringen konnte, genug Inte resse für Themen wie das Sockenstopfen im kolonia len Amerika oder Gewehrläufe im zaristischen Russ land aufzubringen. Was mir fehlte, war weniger die Wissbegier an sich, sondern eine zielgerichtete Wissbe gier: Ich hätte beispielsweise gern gewusst, wie frü her in Vermont der Zwieback hergestellt wurde oder inwiefern die Erfindungen des obersten Waffen schmieds von Katharina der Großen bereits die Grundlagen für die spätere Kalaschnikow lieferten, aber ich wollte mit diesem Wissen im Grunde nichts anderes anfangen, als es eingehend zu betrachten, in meinem Kopf hin und her zu wenden und es mir dreidimensional vorzustellen. Ich wollte auf keinen Fall Jahrzehnte damit zubringen, mich durch Archive zu wühlen und über Sekundärwerken zu brüten, um
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meine Erkenntnisse anschließend des Langen und Breiten zu erörtern. Trotzdem mochte ich das Institut. Mir gefiel die ganze Atmosphäre, die Art, wie die Treppen in der Mitte durchhingen, der charakteristische Geruch nach Büchern, Pfeifentabak, altem Kaffee und Staub. Ich mochte auch das ständige Gemurmel in diesen Räumen: die alten Themen, die ruhigen Stimmen. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich im Rahmen meiner Sonntagsschule mal ein Kloster in der Nähe von Oneonta besichtigen dürfen. Hier im Institut herrschte eine ähnliche Atmosphäre klösterlichen Ernstes. Allerdings hatte es im Kloster wesentlich mehr gemütliche Ecken gegeben – Kamine, weiche Sofas, gut isolierte Räume, eine warme Küche – als hier im Institut für Geschichte, das in ein QueenAnne-Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert ge pfercht war und schon seit Jahrzehnten keine frische Wandfarbe mehr gesehen hatte und dessen Wände im Winter, wenn ein kalter Wind ging (aber auch schon jetzt, Anfang Dezember), bloß eine reine Formsache waren. Im Hauptbüro erzählte gerade eine Sekretärin ei ner anderen von ihrem Ehemann, Sohn oder Hund – »… und er rennt einfach über den frisch geputzten Boden, und ich sage zu ihm: ›Angelo, du machst hier auf der Stelle sauber, und du verlässt das Haus erst wieder, wenn du fertig bist‹, woraufhin er zu mir sagt …«-, als ich an die offen stehende Tür klopfte. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Ich hoffe es. Mein Name ist Paul, und ich arbeite in Lincoln, Connecticut, als Reporter für den Lincoln
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Carrier. Ich hätte gern gewusst, ob es hier im Institut eine Biographie oder sonstiges biographisches Mate rial über Professor Pühapäev gibt.« Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick über die Postfächer schweifen. »Pühapäev ist heute noch nicht hier gewesen. Wie es aussieht, war er schon ein paar Tage nicht mehr da. Sie können ihn selbst fra gen, wenn er kommt, oder Sie hinterlassen ihm eine Nachricht, und ich lege sie ihm ins Fach.« Ich blickte mich mit einem Anflug von Panik um. Konnte es wirklich sein, dass im Institut niemand Bescheid wusste? Andererseits war das gar nicht so verwunderlich: Schließlich lebte er allein, noch dazu zwei Fahrstunden entfernt, hatte hier wahrscheinlich wenig enge Freunde und ließ sich nur hin und wie der blicken. Also genau der Typ Mensch, der unbe merkt verschwinden konnte. Genau der Typ Mensch, für den am Ende seines Lebens unser schlimmster Albtraum wahr wurde: der Albtraum, der zusammen mit jener unbesiegbaren Mischung aus Liebe und Schrecken dafür sorgte, dass Ehepaare und Familien zusammenblieben. Genau der Typ Mensch, der mutterseelenallein starb, ohne dass je mand es bemerkte oder ihn vermisste. »Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Professor Pühapäev ist vorgestern Nacht gestorben. Er lebte in meiner Stadt. Ich bräuchte bloß ein paar Informationen über ihn, damit ich einen Nachruf schreiben kann.« Die Sekretärin wurde blass und senkte den Kopf. Die anderen hörten zu tippen auf. Es war wie in ei nem Western, wenn der Fremde die Bar betritt und
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alle erstarren. Die Sekretärin bekreuzigte sich. »Ge storben? Wie denn das? Was ist passiert?« »Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Er hat allein gelebt und wurde einfach tot aufgefun den. Ich bin nur hergekommen, um ein paar Hinter grundinformationen über ihn zu sammeln, damit ich einen Nachruf schreiben kann. Wissen Sie zufällig, wie alt er war?« »Ziemlich alt, glaube ich. Genaueres kann ich Ih nen auch nicht sagen. Er war schon hier, als ich her kam, aber ich arbeite erst seit ein paar Jahren hier.« Ich setzte meine »Harmloser Schwachkopf« Miene auf, die sich wahrscheinlich nicht allzu sehr von meinem normalen Gesichtsausdruck unter schied. »Haben Sie vielleicht irgendwelche Unterla gen oder Formulare, aus denen ich ersehen könnte, wo er herstammte, wann er geboren war, irgendetwas in diese Richtung?« Sie seufzte und schnalzte dann teilnahmsvoll mit der Zunge. »Ich weiß nicht, ob …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Es kommt mir irgendwie selt sam vor, so etwas einfach an Sie herauszugeben, be vor seine Familie oder sonst jemand da war. Wissen Sie, was ich meine?« Ich nickte, wobei ich mich er neut um einen möglichst harmlosen Gesichtsaus druck bemühte. Meiner Meinung nach lohnte es sich nicht, zu diesem Zeitpunkt schon eine Diskussion mit ihr anzufangen. »Aber Sie könnten mit Professor Crowley sprechen.« Sie lehnte sich zurück, um einen weiteren Blick auf die Fächer zu werfen. »Er war heute schon da. Ich nehme an, er ist noch im Institut, bin mir aber nicht sicher. Am besten, Sie schauen in
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seinem Büro vorbei. Ich glaube, er und Professor Pü hapäev waren befreundet. Auf jeden Fall liegen – lagen – ihre Büros nebeneinander. Dritter Stock, rechte Seite, den Gang ganz hinter.« Sie nickte und fügte dann mit einem leichten Lächeln hinzu: »Sa gen Sie seinen Angehörigen, dass es uns Leid tut und dass wir uns ihren Gebeten anschließen.« »Das mache ich. Darüber werden sie sich be stimmt freuen.« Eine bessere Antwort fiel mir nicht ein. Ich klopfte im dritten Stock an die letzte Tür auf der rechten Gangseite. Drinnen räusperte sich jemand und bellte dann: »Ja?« Ich öffnete die Tür und streckte den Kopf hinein. Ein käsiges Gesicht funkelte mich böse an. »Sprech stunde ist morgen, von eins bis drei. Kommen Sie dann wieder oder lassen Sie sich einen Termin ge ben.« »Sir, ich bin kein Student, sondern Journalist, und …« Als der Mann das hörte, sprang er von seinem Schreibtisch auf wie ein zutraulicher Hund und kam zu mir herüber. »Harn Crowley. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Bitte entschuldigen Sie die etwas ruppige Begrüßung, aber ich hielt Sie für einen Stu denten. Was kann ich für Sie tun?« Auf so viel Entgegenkommen war ich nicht ge fasst gewesen. Ich hatte mal ein Seminar bei ihm belegt (Macht und Medien unter Chruschtschow und Kennedy), aber es war ein großes Seminar gewesen, und ich hatte nie persönlich mit ihm gesprochen. Er
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galt als desinteressierter Diskussionsleiter, tyranni scher Betreuer, launenhafter Dozent und Trunken bold. Ende der Achtziger hatte er ein Buch veröf fentlicht, das – hauptsächlich aufgrund beharrlicher Eigenwerbung und selektiver Zitate – für sich in An spruch nahm, den Sturz der Sowjetunion »vorherzu sagen«. Anfang der Neunziger genoss er eine kurze Phase der Berühmtheit – Abendessen mit Senatoren, TV-Gesprächsrunden am Sonntagvormittag, Artikel in Foreign Affairs und auf den Sonderberichtseiten der New York Times und des Wall Street Journal – und verbrachte den Rest des Jahrzehnts damit, dieser guten Phase nachzutrauern. Ich rechnete damit, dass er mich gleich wieder hinauswerfen würde, sobald er den wahren Grund meines Besuchs erfuhr. »Sir, ich schreibe einen Nachruf auf Jaan Pühapä ev, der gestern gestorben ist. Im Sekretariat hat man mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht ein bisschen was über ihn erzählen.« Er blähte die Wangen wie ein Ochsenfrosch, wat schelte zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich schwer auf seinen Stuhl plumpsen. »Mist. Es tut mir Leid, das zu hören. Ich dachte, Sie wären wegen meines neuen Buchs hier. Auf dessen Erscheinen bisher nicht die leiseste beschissene Reaktion kam.« Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und reichte mir das oberste Buch von einem Stapel, der aus etwa zwanzig Exemplaren des gleichen Bandes bestand. Wohin mit dem Bären? von Hamilton S. Crowley. Der Umschlag zeigte einen braunen, auf einer Weltkugel balancie renden Bären mit Hammer und Sichel auf der einen
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Seite und einer amerikanischen Flagge auf der ande ren. »Scheußlich, nicht wahr?«, meinte er und verzog dabei angewidert das Gesicht. »Irgend so ein Vollidi ot von einem Graphiker, der für diesen drittklassigen Buchverlag arbeitet, war wohl der Meinung, das sei toll. Ich finde es zum Kotzen, wenn sie meine Um schläge so verhunzen. Und den Titel habe ich auch nicht ausgesucht. Was für gottverdammte Arschlö cher!« Ich fragte mich, ob Crowley vielleicht den PonyMann von der Straße kannte. Ich stellte mir vor, wie die beiden ihre Bruderschaft mit einem steten Strom von Schimpfwörtern besiegelten. »Wie lautete denn Ihr Titel?« »Marktreformen und kontrollierte Rohstoffgewinnung im postsowjetischen Russland. Auch zum Kotzen, oder?« Er verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen und entblößte dabei die schlimmsten Zähne Neu englands: eine dentale erdbebengeschädigte Elends siedlung. »Also, was ist mit Johnny?« Aus seiner eben noch so frustrierten Miene sprach nun fast so etwas wie Interesse. »Wie bitte?« »Pühapäev, Jaan. Als er hier am Institut anfing, nannte ich ihn eine Weile Johnny. Ich glaube, er fand das lustig, aber so genau konnte man das bei ihm nie sagen.« »Wie meinen Sie das?« »Er war ein Typ, der seine Gefühle nicht wirklich zeigte. Sehr sowjetisch – und sehr estnisch. Bei den Esten gibt es da ein Sprichwort, müssen Sie wissen:
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›Möge dein Gesicht sein wie Eis.‹ Das von Jaan war
so. Verdammt schwer zu sagen, was er sich dachte.«
»Hat er dieses Semester Vorlesungen gehalten?«
»Ich denke schon. Er hat immer dasselbe Pro gramm durchgezogen, und das seit weiß Gott wie vielen Jahren.« Crowley griff nach einem Vorle sungsverzeichnis und blätterte es durch. »Erstes Se mester: Baltische Geschichte, 1200-1600. Zweites Semester: Baltische Geschichte, 1601-1991. Ich glau be, er hat das alles im Flugzeug geschrieben, als er 1991 anreiste, und seitdem nichts mehr daran geän dert. Meines Wissens kamen manchmal sogar ein paar Studenten in seine Vorlesungen, aber nie viele. Ich weiß nicht, ob er jemals eine Doktorarbeit be treut hat, und ich glaube, er hat auch nur hin und wieder etwas publiziert. In irgendwelchen obskuren baltischen Zeitschriften.« »War er in der Verwaltung tätig? Das andere klingt nach verdammt wenig Arbeit.« »Nun ja, er war eben ein verdammt seltsamer Typ.« Crowley legte die Hände auf die Schreibtisch platte und bekräftigte seine Worte mit einem energi schen Nicken. »Früher habe ich meine Studenten in seine Vorlesungen geschickt, aber vor ein paar Jahren habe ich dann aufgehört, ihn zu empfehlen. Es hatte einfach keinen Sinn. Ein Mädchen hat mir mal eine seltsame Geschichte über ihn erzählt. Angeblich stellte ihm eines Tages ein Student eine Frage, auf die er nicht vorbereitet war. Daraufhin umklammerte er mit beiden Händen das Rednerpult und starrte lange Zeit an die Decke. Dann ging er. Verließ ein fach während der Vorlesung den Hörsaal. Um zwei
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Uhr morgens stand er dann plötzlich vor der Tür des Studenten, um seine Frage zu beantworten. Er trug immer noch den Tweedanzug, den er zur Vorlesung getragen hatte.« »Wie lautete die Frage?« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ist das wichtig?« Ihm war anzusehen, dass seine anfängliche Begeisterung darüber, mit einem Vertreter der Pres se sprechen zu können, allmählich nachließ. Crowley zog sein Hemd aus der Hose und kratzte sich eine Weile unter der Achsel. Wahrscheinlich wollte er mir auf diese Weise zu verstehen geben, wie journalis tisch bedeutungslos ich in seinen Augen war. »Wissen Sie, wo oder wann er geboren wurde?«
»Sein Name ist estnisch, und ich bin ziemlich si cher, dass er selbst es auch war. Ich spreche die Spra che nicht – ein völlig unverständliches Kauder welsch, vierzehn Fälle, unaussprechbare Vokale und so weiter. Aber ich weiß, dass er neben Estnisch auch Lettisch, Litauisch, Russisch und Deutsch sprach, hin und wieder sogar ein bisschen Englisch. Und zur Frage: wann? Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Er kam auf einer Welle der Euphorie hier an. Jede Uni war scharf drauf, ehemalige Sowjetdozenten einzu stellen. Die Anforderungen waren damals nicht sehr hoch, wenn Sie wissen, was ich meine. Das soll nicht heißen, dass Johnny unqualifiziert war, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand recht viel mehr von ihm wissen wollte, als dass er ein estnischer Universi tätsprofessor war, kein Parteimitglied und eine Art schräger Vogel.« »Liegt dem Institut ein Lebenslauf von ihm vor?«
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»Möglich. Ich bezweifle allerdings, dass es ihm recht wäre, wenn Sie einen Blick darauf werfen wür den. Die gute alte sowjetische Paranoia saß bei ihm sehr tief. Sie können es ja mal unten im Sekretariat versuchen.« »Das habe ich schon. Dort hat man mich zu Ihnen geschickt. Können Sie mir bitte irgendetwas über ihn erzählen, damit ich etwas habe, worüber ich schrei ben kann?« Er bedachte mich mit einem säuerlichen Blick und schob ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. »Hören Sie, Mr ….« »Tomm.« »Mr. Tomm?« »Ja.T-O-M-M, Tomm.« »Was ist denn das für ein seltsamer Name?« »Eine lange Geschichte. Ich glaube nicht, dass Sie die wirklich hören wollen.« »Da haben Sie Recht. Wie auch immer, Mr. Tomm, Johnny und ich waren Kollegen, und wir haben uns recht gut verstanden, aber mehr auch nicht. Uns verband keine enge Freundschaft. Als er neu war in diesem Land, haben meine Frau und ich ihn ein paarmal zum Grillen eingeladen – an Feierta gen wie dem vierten Juli, ein bisschen Fahnenschwenken und dieser ganze Scheiß. Und hin und wieder bin ich mit ihm einen trinken gegangen, aber das ist auch schon ein paar Jahre her. So, und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss mich wieder dem Mist widmen, mit dem ich gerade beschäftigt war, als Sie aufgetaucht sind.« Ich erhob mich, fragte ihn im Gehen aber noch, ob
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sie damals, als sie noch hin und wieder zusammen einen tranken, so etwas wie eine Stammkneipe ge habt hätten. »Lustig, dass Sie das fragen, daran kann ich mich nämlich noch ganz genau erinnern. Es war eine klei ne Kneipe an der Straße. Sie hieß Lone Wolf und lag ein Stück hinter Westerly, gleich jenseits der Grenze, auf seinem Heimweg in seine Stadt. Ich glaube, der Ort hieß Clougham. Gott weiß, welcher Teufel mich geritten hat, dort hinauszufahren. Er hat nur dort getrunken, und ausschließlich diesen scheußlichen, selbst gebrauten Brandy. Ein paar Gläser von dem Zeug, und sie mussten dich vom Boden kratzen. Ich weiß noch, wie meine Frau bei meiner Rückkehr …« Er fuhr mit der Hand durch die Luft und grinste kurz, ehe sein teigiges Gesicht wieder seinen alten resignierten Ausdruck annahm. »Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls waren wir im Lone Wolf. Viel Glück beim Graben, Mr. Tomm. Und wenn Sie beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu ziehen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.« Ich wünschte Crowley stillschweigend so viele gu te Rezensionen und Interviews, wie er vertragen konnte, und beschloss, nach Lincoln zurückzufahren, auch wenn ich im Grunde nicht schlauer war als vor her. Als ich im zweiten Stock den Treppenabsatz er reicht hatte, sprach mich eine vertraute, sehr kulti viert klingende Stimme mit einem ebenfalls sehr vertrauten, unverwechselbaren Akzent von hinten an. »Wissen Sie, dass ich mal einen Studenten hatte, der Ihnen erstaunlich ähnlich sah? Allerdings handel
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te es sich bei diesem Studenten um einen freundli chen, fast schon schüchternen jungen Mann mit gu ten Manieren, der es nie versäumt hätte, einem alten Freund zumindest einen kurzen Höflichkeitsbesuch abzustatten, wenn er sich in nächster Nähe dieses Freundes aufgehalten hätte.« Professor Jadid stand in der Tür zu seinem Büro. Er hatte einen Stapel Blätter in der Hand und einen Karoblazer über dem Arm hängen. Seine Augenbrau en waren zum Gruß hochgezogen, und er sah mich mit jenem halben Lächeln an, das genauso typisch für ihn war wie sein altmodischer Schnurrbart und seine Lesebrille mit den halbmondförmigen Gläsern. Er war der erste Professor gewesen, der mir in mei nem Leben begegnet war – der mir zufällig zugeteil te Betreuer, bei dem ich nur im ersten Studienjahr ein Seminar belegt hatte, den ich aber zu Beginn jedes neuen Semesters zurate gezogen hatte –, und vor meinem geistigen Auge tauchte immer als Erstes sein Bild auf, wenn ich das Wort »Professor« hörte. Ich streckte ihm die Hand hin – allerdings erst, nachdem ich mich mit einem raschen Blick verge wissert hatte, dass mein Hemd ordentlich in der Ho se steckte (was der Fall war) und ich keine Turn schuhe trug (was ebenfalls der Fall war) –, und er schüttelte sie herzlich. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann sich ein junger Kerl mit tinten verschmierten Händen das letzte Mal so weit die Treppe hochgewagt hat. Für gewöhnlich empfangen meine Kollegen ihre Bewunderer unten in der Ein gangshalle, ehe sie der einen oder anderen erlauch ten Fachzeitschrift gestatten, die Rechnung für ein
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ausgedehntes feuchtfröhliches Mahl zu übernehmen. Was führt Sie denn heute her?« »Hallo, Herr Professor.« Beinahe hätte ich mich vorgebeugt, um ihn zu umarmen, aber das hätte er bestimmt als einen Verstoß gegen die Etikette be trachtet. »Ich habe mich schon die ganze Zeit ge fragt, ob Sie wohl noch hier sind.« »Ob ich noch hier bin? Wo sollte ich denn sonst sein? Schön, Sie zu sehen. Aber nun sagen Sie schon, was führt Sie hierher?« »Meine Arbeit. Ich bin tatsächlich Reporter ge worden, ob Sie es glauben oder nicht. Professor Pü hapäev ist vorgestern Nacht gestorben. Er hat in Lincoln gewohnt, und ich versuche im Moment ge rade, die wichtigsten biographischen Informationen über ihn in Erfahrung zu bringen, damit ich einen Nachruf schreiben kann. Bisher ohne Erfolg.« Das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb, und er senkte den Blick, während er mit einer Schuhspitze gegen den Türpfosten klopfte. »Es tut mir sehr Leid, das zu hören. Wirklich eine sehr traurige Nachricht. Ich nehme an, er … Nein, wie traurig, wie traurig.« Er versuchte sich wieder zu beruhigen und straffte sich. »Wissen Sie viel über ihn? Wo und wann er gebo ren wurde, diese Dinge?« »Nein, viel weiß ich auch nicht. Ich weiß, dass sein Name estnisch war und dass er gelegentlich Ar tikel aus allen drei baltischen Sprachen für mich übersetzte. Ich kann Ihnen nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er tatsächlich ein gebürtiger Este war. Üb rigens bedeutete sein Name – Jaan Pühapäev – auf
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Estnisch ›Johann Sonntag‹. Sehr ungewöhnlich und höchstwahrscheinlich frei erfunden. Ich habe immer vermutet, dass er in Wirklichkeit einen jüdischen Namen und Hintergrund hatte und sich während der Sowjetzeit anders nannte, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, aus religiösen Gründen verfolgt zu wer den, oder diese Gefahr zumindest zu verringern. Al lerdings handelt es sich bei dieser Vermutung um genau das: eine Vermutung, ohne faktischen Hinter grund. Ich weiß, dass er ein ziemlich guter Linguist war und in diesem Institut als Fachmann auf seinem Gebiet galt, wahrscheinlich weil es außerhalb von Deutschland, Russland und den baltischen Ländern selbst so wenig baltische Historiker gibt. Ich weiß außerdem, dass er ein ausgesprochen schlechter Leh rer war.« Professor Jadid hielt einen Moment inne. Wieder klopfte er gedankenverloren mit der Schuhspitze gegen den Türpfosten. Seine beiden Schuhe waren im Bereich der Spitzen besonders stark abge wetzt. Mir war diese Angewohnheit vorher nie aufge fallen, aber vielleicht war es auch das erste Mal, dass wir im Stehen miteinander sprachen. »Außerdem weiß ich, dass ich ihn schrecklich vermissen werde, nicht weil wir uns besonders nahe standen, sondern weil er von einer geheimnisvollen, düsteren Aura umgeben war, die für mich immer ein sehr wirksames Gegengift darstellte – und bitte ver stehen Sie das jetzt nicht als Beleidigung Ihrer Gene ration –, ein Gegengift gegen die frisbeewerfende Fröhlichkeit, die hier bei uns vorherrscht. Wenn ich mir meine Studenten so ansehe, stelle ich immer wieder fest, dass die meisten felsenfest davon über
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zeugt sind, dass ihnen niemals etwas Schlimmes zu stoßen wird. Kriege, Seuchen, Inhaftierungen, Miss handlungen – das sind für sie alles nur Inhalte von Petitionen, die man auf dem Weg vom Postamt zur Turnhalle unterschreibt. Ich selbst aber bin ebenfalls Einwanderer, und als solcher kann ich Ihnen sagen, dass es größere Anstrengung erfordert, als man viel leicht meinen könnte, sich eine solche Haltung wie Jaan zu bewahren: Im Allgemeinen werden wir ent weder amerikanischer als die Amerikaner, oder aber wir entwickeln eine harte Schale der Verachtung für alles an unserem neuen Land. Jaan war stets er selbst, und ich meine das in einem höchst lobenden Sinn.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Der Profes sor, sensibel und taktvoll wie immer, blickte auf die seine und zog die Tür hinter sich zu. »Am Mitt wochnachmittag gebe ich dieses Semester ein Semi nar, und ich fürchte, heute werde ich etwas zu spät kommen. Müssen Sie gleich wieder weg, oder könn te ich Sie dazu überreden, neunzig Minuten über Ihren alten Campus zu spazieren und dann bei Fitz gerald’s ein nachmittägliches Bierchen mit mir zu trinken?« Diese Einladung allein war die Reise wert – ich hatte das Gefühl, soeben eine Art Prüfung bestanden zu haben, auch wenn ich tatsächlich gleich aufbre chen musste. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg nach unten. »Tut mir Leid, aber ich muss heute Nachmittag wieder in meinem Büro sein, und die Fahrt dauert zwei Stunden.« Er presste die Lippen zusammen, schloss die Au
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gen, zuckte mit den Schultern und legte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite: eine Groucho-Marx-Pantomime der Resignation. »Nun ja. Ein alter Mann ist eben etwas Lächerliches. Falls Sie überhaupt planen wiederzukommen, wäre es mir eine Freude, Sie beim nächsten Mal auf ein Bier ein laden zu dürfen. Und für den Fall, dass Sie keinen weiteren Besuch planen, lade ich Sie zusätzlich auch noch zum Mittagessen ein und liefere Ihnen damit vielleicht doch einen Anreiz, wiederzukommen. Ich finde es immer so schön, Neues aus der Welt drau ßen zu erfahren.« »Ich komme sehr gern. Vielleicht gegen Ende der Woche, wenn ich mit diesem Nachruf fertig bin? An sonsten richte ich mich ganz nach Ihnen. Wann störe ich Sie denn am wenigsten?« »Warum kommen Sie nicht einfach am Samstag? Da müssen wir beide nicht arbeiten, hoffe ich. Ich werde uns im Blue Point einen Fenstertisch auf der Westseite reservieren, dann können wir unser Mit tagessen so beschließen, wie kultivierte Leute es im Winter tun: indem wir mit einem Glas Brandy in der Hand den Sonnenuntergang genießen.« Ich war sofort einverstanden, und er streckte mir noch einmal die Hand hin: »Dann bis Samstag. Und halten Sie mich über Jaan auf dem Laufenden. Ich bin schon gespannt, was Sie in Erfahrung bringen werden, und auf welche Weise.« Wir traten in den böigen Wickendener Wind hinaus: Ich hatte ganz vergessen, dass die Ostseite der Stadt ihre eigenen Stürme erzeugte. Während der Professor mit der ei nen Hand seine Unterlagen festhielt, winkte er mir
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mit der anderen kurz zu und eilte dann – mit gesenk tem Kopf und langen, schnellen Schritten – auf die Unterrichtsgebäude zu. Nach ein paar Metern aber drehte er abrupt um und kehrte zu mir zurück. »Wissen Sie, Mr. Tomm, ich plaudere ja nur un gern aus der Schule, aber Jaan war ein ausgesprochen seltsamer Mann. Extrem verschlossen, und zwar auf eine fast schon obsessive, paranoide Weise. Deswe gen möchte ich Ihnen etwas erzählen, was Sie sonst wahrscheinlich nicht herausbekommen würden, aber Sie müssen mir etwas versprechen.« »Natürlich.« »Gut. Als Erstes müssen Sie mir versprechen, re spektvoll mit dem umzugehen, was ich Ihnen sagen werde. Falls es Ihnen hilft, einen vollständigeren Nachruf zu schreiben, dann verwenden Sie es, aber Sie müssen mir versprechen, es nicht bloß zu erwäh nen, weil es für ein bisschen Pfeffer sorgt. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?« »Ja, Sie haben mein Wort.« »Gut. Jaans Verhältnis zu den hiesigen Behörden war zeitweise problematischer, als es bei einem Pro fessor mit einem Lehrstuhl für Geschichte der Fall sein sollte. Ich glaube, er ist sogar mal verhaftet wor den, auch wenn er meines Wissens nie im Gefängnis war.« »Wirklich? Weswegen denn?« Als ich mein Notizbuch aufschlug, verzog Jadid für einen kurzen Moment das Gesicht, als wäre die Vorstellung, ich könnte unangemessenen Gebrauch von seiner Information machen, zu schrecklich, um länger darüber nachzudenken. »Nun, wie gesagt, er
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war ein sehr paranoider, auf seine Privatsphäre be dachter Mann, gleichzeitig aber auch von sehr auf brausendem Temperament. Anscheinend trug er ständig eine kleine Handfeuerwaffe mit sich herum.« Er stieß ein verlegenes, freudloses kleines Lachen aus. Ich zog die Augenbrauen hoch: ein bewaffneter Professor? Jadid fuhr fort: »Wir stellten das zu unserer großen Überraschung fest, als er diese Waffe durch sein Bü rofenster auf eine streunende Katze abfeuerte, die gerade über den Hof schlich. Er hatte wohl einen Schatten gesehen, den er fälschlicherweise für einen herumschnüffelnden Gauner hielt.« »Wissen Sie noch, wann das war?« »Oh, ich glaube, es ist schon ein paar Jahre her. Da haben Sie wahrscheinlich noch hier studiert.« »Wirklich? Ich kann mich gar nicht erinnern, et was darüber gehört zu haben.« »Und das ist auch gut so. Sowohl das Institut als auch die Universitätsleitung unternahmen beträchtli che Anstrengungen, das Ganze geheim zu halten.« »Warum?« »Warum?«, wiederholte er mit sanftem Spott. »Ein Professor an einer Universität dieses Bundes staates, der mit einer Waffe herumfuchtelt? Das hät te einen unglaublichen Skandal gegeben.« »Warum hat man ihn nicht entlassen?« »Er war Inhaber eines Lehrstuhls. Wir hätten sei ne Entlassung begründen und eine offizielle Unter suchung einleiten müssen, und das wollten wir nicht. Wir machten ihm klar, dass er unter keinen Umstän
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den noch einmal bewaffnet im Institut erscheinen durfte. Er erklärte sich widerwillig einverstanden, obwohl er natürlich – das brauche ich wohl kaum zu sagen – nicht gefilzt wurde, wenn er zur Tür herein kam.« »Und ist so etwas noch einmal passiert?« »Ein paar Jahre später hat es in der Tat einen zweiten, ähnlichen Vorfall gegeben. Aber wenn Ih nen daran liegt, die genauen Details zu erfahren, könnten Sie vielleicht meinen Neffen Joseph anru fen, der bei der Wickendener Polizei arbeitet.« »Sie haben einen Polizisten zum Neffen?«, fragte ich ungläubig. Er lachte. »Ja, in der Tat. Er ist sogar mein Lieb lingsneffe, und das, obwohl ich insgesamt acht davon habe, und zusätzlich auch noch zwei Nichten. Glau ben Sie wirklich, dass alle männlichen Jadid-Kinder gleich nach der Geburt Sportsakkos mit Flicken auf den Ellbogen überreicht bekommen? Nein, ich bin der Einzige und … Jedenfalls komme ich jetzt wirk lich zu spät. Unsere Familienverhältnisse können wir nächstes Mal beim Mittagessen besprechen. Aber bit te setzen Sie sich mit Joseph in Verbindung, wenn Sie die Sache interessiert. Seine Art ist nicht jedermanns Geschmack, müssen Sie wissen, aber er ist ziemlich intelligent, und wenn Sie erwähnen, dass ich Ihnen geraten habe, ihn anzurufen, sollte er eigentlich in der Lage und auch willens sein, Ihnen zu helfen.« »Danke. Nur noch eine letzte Frage, aus reiner Neugier. Wissen Sie zufällig, ob es einen konkreten Grund gab, warum Professor Pühapäev so paranoid war?«
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»Ein hartnäckiges Erbe der Sowjetunion, Mr. Tomm: Misstrauen gegenüber allem und jedem. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass ein Mensch, der an einer krankhaften Paranoia leidet, gleichzeitig auch konkrete, greifbare Gründe haben kann, para noid zu sein. In Jaans Fall möchte ich mich da nicht festlegen. Er war ein schwer durchschaubarer Typ, der durchaus seine dunklen Seiten hatte. Auf jeden Fall freue ich mich schon darauf, mich am Wochen ende mit Ihnen über ihn zu unterhalten.«
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Der Turm
D Wenn wir den Turm als den Ort bezeichnen, in dem die Umwandlung vonstatten geht, ist das keine be grenzende, sondern eine nach außen verweisende Feststellung: Sie bezieht sich auf das Gefäß selbst, aber auch auf das äußere Gefäß, das ersteres um schließt, das Labor, das Gebäude rund um das Labor, die Stadt rund um das Gebäude, die Grafschaft rund um die Stadt und so fort. Ein erfahrener und zur Selbstbeobachtung fähiger Metaphoriker könnte das Teleskop nach innen statt nach außen richten und sich selbst als das extremste Gefäß der Umwandlung bezeichnen, weil er Dinge, die er sieht und hört, in Gedanken umwandelt und so fort. Wir überlassen diese Herangehensweise am besten den Damen und den Romanautoren. D CLARKE CHUMBLEY D Zu wenig, zu spät: Die tragischen Wanderungen eines viktorianischen Alchemisten
Wenn der genaueste Zeitmesser eine Uhr ist, dann ist der empfindlichste mit Sicherheit ein Dieb. Omar Iblis war der beste und, zumindest im Jahre 1154 n. Chr., als diese Erzählung einsetzt, am wenigsten be kannte Dieb in Sizilien. Er gab sich die größte Mü
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he, namenlos zu bleiben, indem er sich möglichst unauffällig kleidete, sein Haar und seinen Bart weder zu modisch noch zu altmodisch trug und stets darauf achtete, anderen weder zu nahe zu kommen noch sich zu weit von ihnen zu entfernen, niemals zu schnell oder zu langsam zu gehen und vor allem nie die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was er am meisten begehrte. Er brachte sich selbst bei, mehr auf die Randbereiche seines Gesichtsfeldes als auf die Mitte zu achten. Nachts trainierte er sein Ge dächtnis: Er sammelte hinter seinem Haus eine Hand voll Steine und eine Hand voll getrocknete Bohnen, streckte die Arme dann gerade vor dem Körper aus, ließ sowohl die Bohnen als auch die Steine fallen und betrachtete sie kurz. Anschließend bereitete er das Abendessen zu, und nach dem Essen zeichnete er aus dem Gedächtnis das Muster nach, das die Steine und Bohnen auf dem Boden gebildet hatten. Ehe er zu Bett ging, trainierte er seinen Kör per, indem er stundenlang nichts anderes bewegte als einen einzigen Muskel in der Mitte seiner Hand und dabei versuchte, seinen Herzschlag zu kontrol lieren und immer dann zu atmen, wenn draußen der Gesang der Heuschrecken anschwoll. Anfangs hatte er sich darauf beschränkt, nachts Früchte aus den Obstgärten zu stehlen, war dann dazu übergegangen, Tiere aus ihren Ställen zu ent wenden, und hatte sich anschließend über die billi gen Waren der Händler zu ihren Gewinnen vorge arbeitet. Mit der Zeit entwickelte er sich zu einem begnadeten Einbrecher, weil er immer genau sagen konnte – anhand der Kleidung der Leute, der Vor
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freude auf ihren Gesichtern und der Menge des Gepäcks, das sie mit sich führten –, wann die Be wohner zu einer längeren Reise aufbrachen. Erst dann verschaffte er sich Zutritt zu ihrem Haus, nahm in Ruhe in Augenschein, was sich darin be fand, und entwendete, was er wollte, vorausgesetzt, er sah eine Möglichkeit, die Sachen hinauszuschaf fen, ohne dabei das geringste Aufsehen zu erregen. Allerdings raubte er niemals Kirchen, Synagogen oder Moscheen aus, und er bestahl auch keine Priester, Rabbis oder Imams. Obwohl er selbst an keinem Gottesdienst teilnahm, vermied er es lieber, Gott oder seine Vertreter auf Erden über Gebühr zu erzürnen. König Roger II. beschützte alle Diener Gottes mit derselben Wachsamkeit, und seine Männer übten auf grausame und mannigfaltige Wei se Vergeltung. Eines frühen Nachmittags begegnete Omar einem jungen Novizen, der eine frische Tonsur hatte und sich in seinem langen Gewand noch nicht recht wohl zu fühlen schien. Er fragte ihn, was für ein Tag sei. »Heute ist das Fest des heiligen Theodor von Syke on«, antwortete der Junge und hielt ihm zum Beweis den eisernen Reif an seinem Arm hin. »Ich verstehe. Und nun sagt mir noch, falls Ihr es wisst, wem das Haus dort oben auf dem Hügel ge hört, das von so schönen Gärten umgeben ist.« »Unser Abt begehrt dieses Haus. Aber gewohnt hat dort ein höchst seltsamer Geselle, der in keinem Gotteshaus betete und die ganze Nacht hindurch seltsam riechende Feuer entzündete. Manche sagen, er habe Hexenkräfte besessen, aber er stand immer
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unter dem Schutz des Königs. Seinen Namen kann ich Euch nicht sagen.« »Ihr sprecht in der Vergangenheit von ihm. Ist er tot?« »Nein, aber gestern in See gestochen. Der Abt sagt, Seine Heiligkeit König Roger wolle einen zweiten Palast aus dem Haus machen, weit weg von der Betriebsamkeit Palermos. Seine Wachen aber werden frühestens morgen hier eintreffen. Bis dahin steht das Haus leer, und Seine Heiligkeit König Roger hat verfügt, dass niemand es betreten darf.« »Tatsächlich? Ich danke Euch für die liebenswür dige Auskunft, mein Freund.« »Geht mit Gottes Segen, Freund.« Als der Mönch sich zum Gehen wandte, stolperte er über sein langes Gewand, überschlug sich zweimal, richtete sich dann wieder auf und setzte rasch seinen Weg den Hügel hinunter fort. Omar wog das Für und Wider ab: Einerseits war da ein verlassenes, prachtvoll aussehendes Haus, bis her das Eigentum eines Freundes von Roger, nun von Roger selbst, und als solches zweifellos gut aus gestattet. Andererseits war es vielleicht nur ein Ge rücht, dass es gerade leer stand, und wenn er im Haus eines Freundes des Königs (oder noch schlim mer, des Königs selbst) beim Stehlen ertappt wurde, dann bedeutete das – bestenfalls – seinen Tod. Er kam zu dem Schluss, dass es trotzdem nicht schaden konnte, wenigstens mal einen Blick auf das Haus zu werfen. Falls man ihn auf dem Grundstück erwi schen sollte, konnte er immer noch sagen, er sei ein
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herumziehender Feldarbeiter auf der Suche nach Arbeit. Dabei konnte gar nichts passieren. Er blieb seitlich vom Weg unter den Bäumen, aber doch nicht zu weit vom Weg entfernt, und ach tete auf einen angemessenen Gang: zielstrebig, aber nicht zu schnell, locker, aber nicht übertrieben unbe schwert. Nachdem er das Gebäude einmal umkreist hatte, näherte er sich ihm durch die Haine aus Oran gen-, Zitronen- und Mandelbäumen. Schließlich ging er unter einem Fenster in die Knie und lauschte. Eine Wespe landete auf seiner Lippe und kroch quer über sein Gesicht auf sein Ohr zu. Eine zweite lande te auf seiner Nase, eine dritte auf seinem linken Au genlid, eine vierte auf seinem rechten. Obwohl seine Oberschenkel und Knie vom langen Kauern zu schmerzen begannen und die Fühler der Wespen ihn so sehr kitzelten, dass er am liebsten heftig geniest hätte, hielt er sich weiter ganz still. Die Wespen, von denen jede so groß war wie der kleine Finger eines erwachsenen Mannes, krochen dahin wie eine vorrü ckende Armee, bis sie an einem bestimmten Punkt anhielten, als würden sie auf neue Anweisungen war ten. Dann flogen sie in der gleichen Reihenfolge, in der sie gelandet waren, wieder weg, und Omar schlich weiter zur Vorderseite des Hauses, glitt durch den Haupteingang hinein und zog die Tür hinter sich zu. Der Boden im Eingangsbereich bestand aus Mar mor. In der Mitte verlief eine weiße Linie, die den Raum in zwei gleiche Teile zerschnitt: Zu beiden Seiten erstreckte sich ein schwarzweißes Schach brettmuster, aus den Ecken des Raumes stiegen zwei
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Treppen empor, die dann zu einer einzelnen Stiege verschmolzen, und auf beiden Seiten des Raumes gab es jeweils zwei Türen, und zwischen den Türen ein Regal, auf dem zwei völlig gleich aussehende blaue Glasvasen standen, jede mit einer weißen, schon leicht verblühten Rose. Omar war noch nie in einem so vornehmen Haus gewesen. Nachdem er über die Linie auf die linke Seite hinübergegangen war, öffnete er die Tür, die ihm am nächsten war: Dahinter befand sich eine weiße Wand. Hinter der zweiten Tür auf derselben Seite befand sich eben falls eine Wand, dieses Mal allerdings bemalt mit einer Art rotem Untier mit einem gegabelten Schwanz und einem Maul voller scharfer Zähne, aus dem Flammen hervorschlugen. Omar ging auf die andere Seite des Raumes hinüber und öffnete die Tür auf der rechten Seite, die am weitesten vom Eingang entfernt war. Durch diese Tür gelangte man auf einen dunklen Gang, der aber gleich zu Beginn eine scharfe Kurve machte. Omar folgte dem Weg, ließ jedoch die Tür hinter sich offen. Wie jeder sizili anische Dieb hatte er stets eine Hand voll getrockne te Kichererbsen bei sich, die er als Wegmarkierung oder provisorische Mahlzeit verwenden konnte. Die se Erbsen ließ er nun eine nach der anderen auf dem Weg fallen, den er zurücklegte. Der Pfad verlief in Kurven, aber Omar war ihm noch nicht mal eine Mi nute gefolgt, als er eine weitere Tür erreichte. Er öffnete sie und stellte fest, dass sie zurück in den Eingangsbereich führte: Es handelte sich um die Tür, die er zuvor noch nicht ausprobiert hatte. Ver wirrt und enttäuscht blickte er sich um, seine Hoff
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nungen auf eine reiche Beute begannen zu schwin den. Schließlich stieg er eine der Treppen hinauf, die weiter oben zu einer Leiter zusammenliefen. Die Leiter endete vor einer Art Falltür. Omar schob sie auf und kroch hindurch. Er gelangte in einen langen, niedrigen, dunklen Raum mit steinernen Wänden und drei Öfen, die in drei Schornsteine mündeten, fast wie in einer Bäcke rei. An einer der Wände waren mehr Bücher aufge reiht, als er jemals an einem einzigen Ort gesehen hatte. Nicht einmal sein Großvater Maulvi Azzam besaß so viele Bücher. An den anderen Wänden standen Regale mit Gefäßen verschiedenster Größe, Farbe und Form. Omar ging an den Regalen entlang und griff erst nach einer breiten Steinschale, dann nach einem großen Kupferkrug. Plötzlich hörte er unten eine Tür ächzen. Als er durch die Falltür späh te, sah er zwei Männer, die jeweils ein großes und ein kleines Schwert trugen und das königliche Wap pen auf ihren Schilden führten. Omar wich schnell und leise von der Tür zurück und begann im Raum nach etwas zu suchen, irgendetwas Wertvollem, was er mitnehmen konnte. Die Hoffnung auf große Reichtümer hatte er bereits aufgegeben, jetzt dachte er nur noch an Flucht, weshalb er lautlos zu dem Gott betete, den er nie besuchte, und ihm versprach, ein ruhiges, frommes Leben als Schafhirte zu führen, wenn nur wenn nur wenn nur … , und an ein einzel nes kleines Andenken, um es später seinen Freun den und Kindern zeigen und ihnen erzählen zu kön nen, dass er es dem König unter der Nase wegge stohlen hatte.
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In einer Ecke lag ein unförmiger Jutesack. Als Omar sich hinunterbeugte, um ihn aufzuheben, be merkte er eine kleine Holzkiste, die in die Nische hinter einem der Öfen geschoben worden war. Er hob sie hoch und schüttelte sie: Drinnen klapperte etwas. Die Kiste war verschlossen und nicht allzu schwer. Er überlegte, ob er sie in den Jutesack ste cken sollte, aber sie passte schlecht hinein und wür de schwierig zu tragen sein, wenn es schnell gehen musste. Deshalb griff er stattdessen nach einem schweren Steingefäß und ließ es mit aller Kraft auf das Schloss der Kiste heruntersausen, das mit weni ger Lärm entzweibrach, als er befürchtet hatte. Rasch leerte er den Inhalt der Kiste in den Sack und verteilte ihn darin so gleichmäßig, dass er sich den Sack gut um den Bauch binden konnte. Dann spähte er erneut durch die Falltür. Die zwei Wachen hatten auf den beiden Treppen Platz genommen und saßen dort so reglos, dass er nicht sagen konnte, ob sie schliefen oder nicht. Sie saßen jeweils auf der dritten Stufe, beide in der genau gleichen Haltung, den Kopf auf die Hände gebettet, als wären sie irgendwie ein lebender Teil der räumlichen Symmetrie gewor den. Omar überlegte, ob er einfach in dem oberen Raum ausharren sollte, aber er hatte abgesehen von den Kichererbsen, die ihm als Wegmarkierung ge dient hatten, nichts zu essen, und der Tag neigte sich seinem Ende zu. Er wusste, dass die beiden Männer, falls sie das Haus im Namen des Königs bewachten, irgendwann nach oben kommen muss ten, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er schob vorsichtig die Falltür auf und stieg die
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Leiter hinunter, so leise er konnte. Dort, wo sich die Leiter in zwei Treppen teilte, legte er eine kurze Pause ein – die Wachen hatten ihn noch nicht gehört –, dann griff er nach der untersten Leitersprosse, schwang sich so weit wie möglich nach vorn und ließ los. Er landete in der Mitte des Raumes, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die beiden Wachen sprangen genau gleichzeitig auf, aber Omar rannte vor ihnen zur Tür hinaus und den Weg hinunter, so schnell er konnte. »Du bist gesehen worden!«, rief ihm eine der Wachen hinterher. »Du bist von den Männern des Königs gesehen worden, und du wirst dafür büßen!« In dieser Nacht schlief er in einem Dickicht, und als er aufwachte, musste er feststellen, dass das, was er im Traum für den Mund eines Mädchens mit bern steinfarbener Haut gehalten hatte, in Wirklichkeit die warme und feuchte Schnauze eines neugierigen Igels war. Nachdem er den ganzen Tag lang schnel len Schrittes dahinmarschiert war, ohne sich eine Pause für eine Mahlzeit zu gönnen, erreichte er in der Abenddämmerung Palermo. Er kannte die Sei tenstraßen und Dächer dieser Stadt besser als jeder andere Mensch auf der Welt, sodass er seinen Weg unbemerkt fortsetzen konnte, bis er schließlich eine ärmliche Hütte unten am Wasser erreichte, wo sich der Geruch von Seetang und verrottendem Fisch mit dem Duft nach über Rosmarinzweigen gebratenem Fisch und Apfeltabak vermischte, der aus dem Fens ter wehte. Omar hatte noch kaum den Kopf zur Tür hineingestreckt, als ihn bereits eine donnernde
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Stimme fragte, was er im Schilde führe und wie er heiße und ob er lieber ertränkt, gepfählt, verbrannt oder erschlagen werden wolle. »Erschrecke diejenigen, die in behaglicher Ruhe leben, Onkel. Ich habe in den letzten zwei Tagen schon genug Angst ausgestanden.« Das Lachen, das daraufhin ertönte, war so laut, dass es wahrscheinlich jedes Segel zum Flattern ge bracht hätte. »Mein Neffe mit den flinken Händen! Komm herein und setz dich zu mir, Omar, komm herein und setz dich. Möchtest du etwas essen und einem alten Mann Gesellschaft leisten?« Omar trat durch die Tür und sah seinen Onkel Faisal im Kerzenlicht sitzen. Faisal schien zusammen mit der Stadt zu wachsen. Dabei wirkte er jedoch eher kräftig und imposant als korpulent. Seine kasta nienfarbene Haut, eine gewisse Steifheit in der Kör perhaltung und sein Widerwille gegen jede unnötige Bewegung ließen ihn aussehen, als wäre er aus Stein. Eine Narbe, die die Form des arabischen Buchsta bens faa’ hatte, zog sich ausgehend von einer Stelle knapp über seiner rechten Augenbraue bis zu seiner Glatze hinauf, und ein Bart von der Größe eines Ad lernests reichte von seiner Nase bis zu seinem Bauch. Seine Augen wirkten milchig und trüb. Omar hatte sein Handwerk von Faisal gelernt, be vor der ältere Mann vom Verwalter eines eher unbe deutenden Herzogs auf frischer Tat ertappt und zur Strafe mit einem glühenden Schwert geblendet wor den war. Inzwischen beschränkte sich Faisal darauf, einen Großteil der Verbrechen, die in Palermo be gangen wurden, hier vom Hafen aus zu dirigieren.
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Obwohl Omar weder in der Hütte noch in ihrer nä heren Umgebung jemanden entdecken konnte, wusste er, dass sein Onkel sich mindestens so gut bewachen ließ wie der König. Der große Mann schnippte auf eine überraschend mädchenhafte Art mit den Fingern, woraufhin ein hoch gewachsener, dünner Mann hereinkam, der neben einer Waffe auch einen Teller mit Datteln, Mandeln, Brot und Käse trug, den er vor Omar abstellte, ohne ihn dabei anzusehen. Omar aß laut und mit richtigem Heiß hunger, ohne seinem Onkel auch nur einen einzigen Bissen anzubieten. Der ältere Mann hielt seine zer störten Augen auf seinen Neffen gerichtet, als könn te er doch noch sehen. »Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist, Junge?« »Ich bin gesehen worden. Ich bin von den Wa chen des Königs gesehen worden, nachdem ich im Haus eines Freundes des Königs etwas gestohlen hatte, und deswegen muss ich diese Insel sofort ver lassen. Wohin ich gehe, was ich dann mache und auf welche Weise ich von hier verschwinde, ist völlig ohne Bedeutung, aber wenn sie mich finden …« Bei dem Gedanken an das, was mit ihm passieren könn te, entfuhr ihm ein Wimmern. »Kein Urteil wird jemals so wirkungsvoll sein wie körperlicher Schmerz«, erklärte sein Onkel nach denklich. »Was hast du gestohlen, und wo bist du gesehen worden?« »Ich habe nicht viel genommen, nichts von Be deutung«, begann Omar mit sich beinahe überschla gender Stimme. Sein Onkel machte eine beruhigen
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de Handbewegung. »Nur diese Kleinigkeiten hier«, fuhr Omar fort, während er den Sack aufband. »Die Sachen stammen aus einem Haus auf einem Hügel, zwei schnelle Tagesmärsche von hier entfernt.« Sein Onkel griff in den Sack und befühlte die Sa chen. Er zog einen Gegenstand nach dem anderen heraus – eine goldene Flöte, eine bemalte Münze, eine Schnur mit mehreren Knoten, an deren Ende ein flaches Kupferstück befestigt war – und legte jedes Teil anschließend zurück in den Sack. Dann verschloss er ihn wieder und gab ihn seinem Neffen mit einem Seufzen zurück. »War dieses Haus von Gärten und Obstbäumen umgeben?« »Ja.« »Sah eine Seite des Eingangsbereichs genau so aus wie die andere? Und hast du diese Dinge aus einem Raum im ersten Stock entwendet?« »Ja, Onkel, aber woher weißt du …« Die Faust, die sein Onkel auf den Tisch nieder sausen ließ, hatte die Größe eines Ferkels. »Narr! Schwachkopf! Fluch meines Blutes! Wenn du diese Dinge doch nur zurückgeben könntest … Aber das kannst du nicht.« Wieder seufzte er, und gleichzeitig strich er mit einer Hand über seinen kahlen Kopf, zeichnete mit einem Finger die Narbe nach. »Mein Bruder, der dein Vater war, ist tot. Meine Ehefrauen sind unfruchtbar und hassen mich. Meine anderen Kinder kenne ich nicht. Du bist das einzig lebende Familienmitglied, das mir geblieben ist. Ich werde dich auf einem Schiff unterbringen und dafür sorgen, dass du sicher von hier wegkommst. Entweder du beginnst ein neues Leben, oder du begehst deine
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Dummheiten anderswo, aber ich will hier nicht von deinem Tod erfahren.« Omar ließ den Kopf in die Hände sinken. »Mit welchem Schiff werde ich fahren? Und in wessen Haus war ich?« Faisal klatschte zweimal in die Hände, woraufhin der dünne Mann von vorhin erneut den Raum betrat. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann zog sich der dünne Mann wieder zurück. »Zu deiner ers ten Frage: Du wirst mit einem Kaufmann aus Genua reisen, der bei Tagesanbruch nach Sudak segelt. Weißt du, wo Sudak liegt?« Omar schüttelte den Kopf. »Ignorant. Ich studiere jede neue Landkarte, und das, obwohl ich sie nicht mal sehen kann. Die Welt wird immer größer, Neffe, und vielleicht ist sie in zwischen sogar schon groß genug, um einen unvor sichtigen Dummkopf wie dich zu verstecken. Und was deine zweite Frage betrifft: Du hast al-Idrisi be stohlen, des Königs Geographen, der darüber hinaus aber noch vieles andere ist. Dass du es geschafft hast, aus seinem Haus zu entkommen, ohne von den Wa chen durchbohrt zu werden, überrascht mich nicht. Aber dass du es gleichzeitig geschafft hast, zu ent kommen, ohne dass dir dabei etwas unendlich viel Schrecklicheres zugestoßen ist … nun ja, wir werden sehen, ob du das tatsächlich geschafft hast oder nicht. Der Kaufmann aus Genua schuldet mir einen Gefal len, weil ich ihn bei Assaf Qidri und seinen Töchtern eingeführt habe. Aber er ist kein ehrlicher Mann, und ich fürchte, du wirst dich von einem Teil deiner Schätze trennen müssen.«
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Draußen vor dem Fenster ertönte ein rhythmi sches, leises Pfeifen. Faisal erhob sich äußerst müh sam, legte eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich. »Und nun geh. Folge Asif leise zu dem Schiff, und blick dich ja nicht nach diesem Haus um. Viel Glück. Gott wird tun, was er für richtig hält. Möge ich nie wieder von dir hören!« Auf dem Schiff machte Omar jede Arbeit, die der Kaufmann Silvio ihm auftrug – er kochte, schrubbte die Kombüse, schlug die Segel an –, und nach einem Monat sichteten sie Land. Der Kaufmann rief Omar zu sich in seine Kabine. »Das dort in der Ferne ist Sudak. Dein neues Zuhause. Möchtest du dort arbei ten oder weiterstehlen?« »Arbeiten. Ich fürchte, mir ist das Gespür fürs Stehlen abhanden gekommen.« »Gut. Ich habe keine weniger intelligente Antwort von dir erwartet, auch wenn sie vielleicht nicht der Wahrheit entspricht. Wie auch immer, ich habe mir diesen Sack aus deiner Kabine geholt. Das ist es, was dich auf Sizilien so in Schwierigkeiten gebracht hat, nicht wahr?« Omar nickte. »Ich werde dich nun von dieser Bürde befreien.« Als Omar zu protestieren be gann, legte Silvio die Hand an sein Schwert. »Ich bin allerdings nicht völlig herzlos. Du darfst dir einen die ser Gegenstände – ich habe in dem Sack insgesamt vierzehn gezählt – als Andenken an dein bisheriges Leben aussuchen.« Er hielt Omar den geöffneten Sack hin, woraufhin dieser den Arm ausstreckte, ohne hineinzusehen, und das, was er herauszog, rasch in der Innentasche seines Umhangs verschwinden ließ.
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»Gut. Damit hast du Respekt bewiesen vor dem Zufall, oder dem Schicksal, oder dem Willen Gottes, oder dem Glück oder wie auch immer du es nennen willst. Nun möchte ich dich bitten, dieses Schiff so fort nach dem Anlegen zu verlassen. Du bist ein ge sunder junger Mann und wirst in der Nähe der Küste leicht Arbeit finden. Ins Landesinnere solltest du dich nur hineinwagen, wenn du lebensmüde bist. Die Goldene Horde und die Polovtsy kämpfen um die Herrschaft über diese Insel, und sobald eine von beiden Gruppen stark genug wird, um die andere auszulöschen, werden auch wir Genueser dieses Land verlassen müssen. Vorerst aber tust du dir selbst einen Gefallen, wenn du unter uns zivilisierten Leuten bleibst, solange es dir möglich ist. Und nun hol deine restlichen Sachen und geh mit dem Rest der Mannschaft an Land. Wenn du mich jemals wie der belästigst – oder auch nur andeutest, dass wir uns kennen und miteinander gesprochen haben –, werde ich dir wie einer Taube den Garaus machen.« Omar ging schnell nach vorn an den Bug. Als das Schiff das Ufer erreichte, sprang er regelrecht von Bord. Als neuer Mensch, der außer seinem Namen nichts besaß als einen behauenen Stein von zweifel haftem Wert, konnte er zum ersten Mal seit seiner Abreise aus Sizilien tief und frei durchatmen und wankte mit krummen Seemannsbeinen den im Dämmerlicht daliegenden Holzsteg hinauf. Trotz seiner anfänglichen Befürchtungen und Be denken stellte Omar fest, dass ihm Sudak durchaus
lag. Die Stadt war zwar nicht so fortschrittlich und
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kosmopolitisch wie Palermo, aber wie in den meisten Seehäfen gab es dort jede Menge Intrigen und schrä ge Vögel, ganz zu schweigen von all den Freuden, die ein Mann sich für Geld kaufen konnte. Er ver brachte mehrere Jahre in Sudak, ohne jemals wieder als Dieb tätig zu werden. Seine Sprachkenntnisse in Arabisch, Latein und der Volkssprache Siziliens machten ihn zu einem besonders wertvollen Vermitt ler. Was er damit verdiente, reichte nicht nur für Kleidung und Essen, sondern darüber hinaus auch für eine Braut und ein kleines Stück Land in den Bergen. Als er sich schließlich aus Sudak zurückzog, schwor er, nie wieder einen Blick aufs Meer zu wer fen. Stattdessen pflanzte er auf seinem Land Wein und Orangen und machte sich in der Gegend einen gewissen Namen als Weinbauer. Gerüchten zufolge bescherten seine Tropfen de nen, die sie tranken, ein langes Leben, und Omar selbst überlebte nicht nur seine Frau, sondern alle sieben seiner Kinder. Als er schließlich doch starb, hatte er ein Alter erreicht, das manche als unnatür lich hoch bezeichneten: Auf dem Totenbett erzählte er seinem ältesten Enkelsohn, einem Abt, der zu dem Zeitpunkt selbst schon fortgeschrittenen Alters war und als sehr streng galt, er habe über ein Jahr hundert in Sudak gelebt. Am Tage seines Todes nahm er noch einmal seine ganze Kraft zusammen, um sich aus dem Bett an eine karge Stelle zwischen seinem Haus und den Weinbergen zu schleppen. Dort hob er ein kleines Loch aus und begrub mit allen dazu nötigen Zeremonien und Ritualen den einen Gegenstand, der ihn aus Sizilien bis an diesen
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Ort begleitet hatte. Ehe er ihn vergrub, hüllte er ihn in jungfräuliche weiße Baumwolle, als würde er bei dieser Gelegenheit auch seine eigene Jugend zu Grabe tragen. Als sein Diener ihn im Morgengrauen zum Gebet wecken wollte, fand er seinen Herrn kalt und bleich vor, mit Erde unter seinen langen Fin gernägeln. Was den Kapitän aus Genua betraf, Silvio Freschi, so wurde er nicht nur als der tapferste und uner schrockenste Seemann aus einem Land tapferer und unerschrockener Seeleute berühmt, sondern darüber hinaus auch als der reichste Kaufmann in einem Land reicher Kaufleute. Er gründete genuesische Handelsniederlassungen in Qingdao, Kwangju und Fukuoka. Angeblich nahm er sich in Axum eine Frau und verbrachte dort lange Monate im Gespräch mit dem Mönch, der die Bundeslade bewachte. Die we nigen Male, die er nach Genua zurückkehrte, boten viel Anlass zum Feiern und Staunen, denn er kehrte immer mit einer Schiffsladung voller Gewürze, Nüs se, Obst, Saatgut, Musikinstrumente und Bücher zurück. Er segelte stets mit der gleichen Mannschaft, und wenn ein Mitglied starb oder davonlief oder in einer schönen Stadt zurückblieb, wurde der Betref fende nie ersetzt. Silvio sagte, er werde sich erst zur Ruhe setzen, wenn seine Mannschaft endgültig zu klein geworden sei. Als die Zeit gekommen war, legte er mit seinen zwölf verbliebenen Mannschaftsmitgliedern in Ge nua an, und sie versenkten gemeinsam ihr Schiff. Sie benutzten dazu Schwarzpulver, das sie in Qingdao gegen eine Kiste mit zerstampften Rosenblättern aus
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Muskat eingetauscht hatten. Silvio lud die Männer sogar in sein Haus ein, um ein letztes Mal gemein sam mit ihnen zu Abend zu speisen. Hinterher über reichte er jedem von ihnen ein Dreizehntel seines Vermögens. Mit einer Geste, die in Genua bald weit verbreitet war, setzte er seiner Seemannslaufbahn ein feierliches Ende, indem er einen leeren Sack verbrannte und auf diese Weise zum Ausdruck brachte, dass seine Tage als Händler und Reisender vorüber waren. Der Sack, den er verbrannte, war aus lockerem sizilianischen Hanf gewebt. Die Mann schaft konnte sich noch genau an den schreckhaften kleinen Dieb erinnern, der mit diesem Sack um den Bauch an Bord gekommen war.
GEGENSTAND 2 Ein aus einem Elefantenzahn ge schnitzter Turm, 40 Zentimeter hoch, 20 Zentimeter breit, Durchmesser ebenfalls 20 Zentimeter. Innen hohl und völlig geschwärzt, als hätte er sich lange Zeit über einem Feuer befunden. An der Außenseite
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oberhalb der Turmfenster ebenfalls Brandspuren, wie man sie auch bei einer zerstörten Burg feststellen würde. Zinnoberrote und aquamarinblaue Verzierun gen rund um die Basis, die Zinnen und die Minarette des Turms. Entwurf nach einem Haschischtraum von Ali Rasul Ali (1034-1134 n. Chr.), seines Zei chens Architekt und Schachspieler von Lahore. Ali schnitzte ein komplettes Spiel Schachfiguren, alle aus Elfenbein und viel größer als üblich. Gegen En de seines Lebens wurde er sehr kurzsichtig, wobei seine Liebe zum Schachspiel aber nie nachließ, so dass er mit den größeren Figuren spielte, um seine Augen zu schonen und gleichzeitig bei Kräften zu bleiben. Die Arbeit eines Alchemisten findet in einem Turm statt, was jedoch überhaupt nichts darüber aussagt, wie ein solcher Turm aussieht oder aussehen kann: Genauso gut könnte man sagen, die Arbeit eines Alchemisten finde im Inneren einer grünen Erbse statt, vorausgesetzt, man könnte eine finden, die groß und hohl genug wäre. Der Turm sollte Ausmaße haben, die es ihm ermöglichen, all die Ge rätschaften und Stoffe aufzunehmen, die zum al chemistischen Prozess gehören. Aus diesem Grund gibt es Türme in den unterschiedlichsten Größen. (Der vorliegende gehört zu den kleinsten. Das Do mesday Book erwähnt »eine Veste gewaltigen Ruh mes, von Ruß geschwärtzt die Spitzen der Thürme, eingehüllt in Eitergeschwülste und pestilenzischem Dampffe, gleichwohl niemand bekennt, dort zu le ben, und niemand weiß, ob andere dies thun«.) Es muss sich auch nicht notwendigerweise um Türme
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im engeren Sinn handeln. Der äußerste und letzte Turm ist, natürlich, die Welt. HERSTELLUNGSDATUM Spätes elftes Jahrhundert n. Chr. HERSTELLER Ali Rasul Ali. HERKUNFTSORT Lahore. LETZTER BEKANNTER BESITZER Yussef Hadras ibn Azzam Abd Salih Jafar Khalid Idris. 1154 aus seiner Bibliothek gestohlen von Omar Iblis, der in Sizilien als Dieb auf die Welt kam und bei Feodosia als Weinbauer starb. Omar trug den Turm stets bei sich, bis er in einem unnatürlich hohen Alter schließlich ernsthaft krank wurde und ihn an einer abgeschiede nen Stelle zwischen seinen Weinstöcken und seinem vornehmen Haus vergrub. Dort blieb das Stück un gestört, bis es 1943 durch eine Serie von Explosio nen, für die angeblich separatistische Tartaren ver antwortlich waren, ans Tageslicht befördert wurde. In Wirklichkeit wurden die Bomben auf Stalins Ge heiß hin von dem KGB-Agenten Juri Starpow gelegt, um damit einen Vorwand für die Deportation und spätere Liquidierung der auf der Krim lebenden Ta taren zu liefern. Ein litauischer Major der Sowjetar mee fand den Turm zwischen blutgetränkten Wein ranken und brachte ihn zurück nach Svencionys, wo er hinter Stapeln billiger Porzellanteller und abge schlagener Glastassen in einem Küchenschrank stand und vielleicht sogar in Vergessenheit geraten war, bis
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er 1974 bei einem Einbruch gestohlen wurde. GESCHÄTZTER WERT Ausgehend von Verkäufen antiker Schachfiguren und kunsthandwerklicher Ge genstände aus der Prä-Mogul-Zeit, zwischen 24.000 Dollar und 70.000 Dollar. Weitere Figuren dieses Schachspiels existieren noch, sind aber über die gan ze Welt verstreut. Der zweite weiße Turm steht in einem Antiquitätengeschäft in Pécs, wo der unwis sende Besitzer 400 Forint dafür verlangt, die beiden schwarzen Türme – bemalt mit einer Mischung aus Ziegenblut, Erde und verbrannten Kardamomkap seln – wurden bei einer Auktion in Pondicherry für jeweils 65.000 Dollar verkauft. Die beiden weißen Springer und ein schwarzer Läufer befinden sich im Besitz des Iren Sean Lallan of Roscommon, der schon als Kind Schachgroßmeister war, mittlerweile um einiges älter und – dank cleverer Investitionen in Donegals Wollindustrie – auch reicher ist und verbreiten hat lassen, dass er für den zweiten schwar zen Läufer acht Hektar Land eintauschen würde. Eine Fälschung der weißen Königin wurde bei einer Auktion in Toronto für 54.000 Dollar an einen kiefer regulierenden Schwerenöter verkauft.
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Und wie alle Dinge den Betrachtungen eines einzigen entsprangen, so entstanden alle Dinge aus diesem einen durch einen einzigen Akt der Zubereitung.
Professor Jadid eilte davon, und ich bereute bereits, dass ich das Angebot auf ein Bier nicht angenommen hatte. Vielleicht hätte mir mehr daran gelegen sein sollen, rechtzeitig in die Redaktion zurückzukom men, aber meine Neugier war geweckt: Waffen und Verschwörungen – selbst akademische Verschwörun gen wie diese – bildeten eine willkommene Ab wechslung zu meinen üblichen Artikeln über Ver sammlungen der Schulbehörde oder Streitigkeiten um Baulandausweisungen. Außerdem ließen der wolkenlos blaue Himmel und der unverwechselbare Herbstgeruch der Stadt – nach Rauch und Seetang, gelegentlich auch nach brackigem Hafenwasser – die Aussicht auf neunzig Minuten der Muße durchaus verlockend erscheinen. Noch verlockender war die Vorstellung, mit dem Professor über alte Zeiten zu plaudern. Er war ausge sprochen zuvorkommend und höflich, hatte eine klassische Bildung und war auf eine ehrwürdige, alt modische, an die Zeit vor 1914 erinnernde Art euro päisch, was ihm auf dem Campus eine unverdient
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große Zahl von Feinden eingebracht hatte, die ihn als Dinosaurier betrachteten. Einer der Gründe, wa rum ich ihn so gern mochte, war die Tatsache, dass er sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen ließ: Ich hatte mehrfach erlebt, dass Studentinnen oder Studenten sich weigerten, durch eine Tür zu gehen, die er ihnen aufhielt, aber ich hatte es kein einziges Mal erlebt, dass er es versäumte, jemandem die Tür aufzuhalten. Dass wir uns aus den Augen verloren hatten, lag hauptsächlich an meiner Faulheit. Ich hatte es verschlafen, einen Brief von ihm zu beant worten, und war auch nie auf die Idee gekommen, zum Telefon zu greifen, sodass wir schon fast ein Jahr nichts mehr voneinander gehört hatten. Ich weiß nicht, was mir mehr gefehlt hatte: er per sönlich oder das Gefühl, einen wohlmeinenden Rat geber zu haben. Mit dem Abschluss meines Studi ums war mir dieses Gefühl abhanden gekommen, und ich hatte begriffen, dass ich in Zukunft auf mich allein gestellt war und Entscheidungen zu treffen hatte, die wirklich wichtig waren. Nun merkte ich, dass mir die Stadt ebenfalls gefehlt hatte, ihre ge mütliche, skurrile Atmosphäre, vor allem aber das Leben, das – zumindest verglichen mit Lincoln – auf ihren Straßen herrschte. Während ich jetzt den Blick die Roderick Street entlangschweifen ließ, wo sich die Studenten hauptsächlich herumtrieben, fielen mir plötzlich Hunderte von Geschichten ein, die ich mit dem Ort verband, und ich sah die Geister aus diesen Geschichten deutlicher vor mir als die Leute, die hier gerade real herumwanderten. Auf diese Wei se brachte ich ein paar Minuten zu, aber dann ver
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flüchtigte sich der nostalgische Enthusiasmus, mit dem ich beschlossen hatte, doch auf den Professor zu warten, als hätte mir jemand die Luft ausgelassen. Wohin ich auch gehen würde, ich würde einen Rat tenschwanz an Erinnerungen hinter mir herziehen, der viel mit der Vergangenheit, wenig mit der Ge genwart und gar nichts mit der Zukunft zu tun hatte. Ich beschloss, mich wieder in meinen Wagen zu set zen und in mein wirkliches Leben zurückzufahren. Nachdem ich bereits eine gute Stunde Connecti cut hinter mich gebracht hatte, fiel mein Blick auf das Schild, das die Abzweigung nach Clougham an kündigte, und ich musste an die Bar denken, die Crowley erwähnt hatte. Es war noch nicht mal zwei Uhr. Wenn ich rasch auf ein Bier anhielt, würde ich immer noch rechtzeitig ins Büro zurückkommen. Außerdem hatte Pühapäev vielleicht Saufkumpane gehabt. Vielleicht war er der Typ gewesen, der sich seinem Barmann anvertraute. Und vielleicht war ich der Typ, der schamlos nach einem Vorwand suchte, während der Arbeitszeit ein Bier zu trinken. Clougham war einer jener kleinen, nur aus einer einzigen Straße bestehenden Orte, von denen es im westlichen Connecticut so viele gab, auch wenn die Zahl derer, die noch nicht zu Vororten der New Yor ker Upper East Side geworden waren, immer weiter abnahm. Es gab dort eine Tankstelle mit zwei Zapf säulen, einen Gemischtwarenladen und eine Kombi nation aus Postamt und Spirituosengeschäft. In mei ner Anfangszeit in Lincoln hatte ich meine Wochen enden damit verbracht, das Umland zu erforschen, und war bei der Gelegenheit auch auf Clougham ge
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stoßen. Seit ein paar Monaten aber hatte ich meine Erkundungsfahrten eingestellt und stattdessen ange fangen, freiberuflich für ein paar mittelgroße Zeitun gen und Zeitschriften zu arbeiten. (Die Themen be schränkten sich hauptsächlich auf Regionales, Histo risches und Gartentechnisches.) Art hatte ein paar Aufträge an mich weitergereicht, die besagte Zeitun gen eigentlich ihm selbst hatten zukommen lassen, und dabei angemerkt, dass ich sie wahrscheinlich nötiger brauchte als er. Und er hatte hinzugefügt, dass er mir meine eigene Zeitschrift kaufen würde, falls ich einen zweiten Journalisten fände, der gut bezahlte Freelance-Aufträge aus reiner Gutmütigkeit an einen Kollegen weitergab. Als ich an dem Spirituosenladen vorbeifuhr, starr te ich neugierig zu zwei Pärchen hinüber, die – Gott bewahre! – ein wenig jünger zu sein schienen als ich. Sie saßen auf den Ladeflächen von zwei nebenein ander geparkten Pick-ups und tranken Bier. Einer der Typen hatte wohl bemerkt, dass ich abbremste, denn er stand plötzlich auf und schleuderte eine Bierdose in meine Richtung. Ich ging davon aus, dass sie leer war, bis sie dann mit einer solchen Wucht gegen die Fahrertür knallte, dass ich vor Schreck ein wenig ausscherte. Während ich noch weiter abbrems te, um im Seitenspiegel den Schaden zu begutach ten, zog der Typ, der die Dose geworfen hatte, eine Eisenstange von der Ladefläche seines Pick-ups und begann damit auf meinen Wagen zuzusteuern. Ich hatte eine Delle in der Tür, aber keine vergleichbare Waffe im Wagen, weshalb ich einfach Gas gab und weiterfuhr. Dabei umklammerte ich das Lenkrad so
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fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten und mei ne Hände zu zittern begannen. Obwohl ich die Fens ter geschlossen hatte, hörte ich sie draußen grölen vor Lachen, und im Rückspiegel sah ich, wie die beiden Typen sich abklatschten. Ein paar Straßen von dem Spirituosenladen ent fernt kam nach einer scharfen Kurve ein zweistöcki ges, rötlich braun gestrichenes Haus in Sicht, an des sen Dachrinnen trotz der Tatsache, dass es mitten am Tag war, weihnachtliche Lichterketten brannten. Der Vorgarten war zu einem Parkplatz umfunktio niert, und neben der Einfahrt war ein Holzpfosten mit einem Schild in den Boden getrieben worden: THE LONE WOLF. Ich parkte zwischen einem marineblauen Crown Vic und einem rostigen Datsun. Abgesehen von der Schlitz-Werbung im Fenster und dem zum Parkplatz umfunktionierten Vorgarten sah das Haus aus wie jedes andere an der Straße. Von der Seite aus konnte man einen Blick auf den Garten hinter dem Haus werfen, wo neben ein paar Müllcontainern ein großer Grill und eine traurig anmutende, zerbrochene Schaukel zu sehen waren. Ich betrat die Bar durch einen Eingang, der ur sprünglich wohl einmal als ganz normale Haustür gedacht gewesen war, und einen Moment lang hatte ich tatsächlich das Gefühl, in eine Privatwohnung marschiert zu sein: die Bar und sämtliche Wände wa ren mit jenem billigen Holzimitat vertäfelt, das sonst hauptsächlich in Kellern und Freizeiträumen ver wendet wurde. Keine zwei Stühle oder Tische pass ten zusammen, und das gesamte Mobiliar sah aus wie
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von der Heilsarmee gespendet. In der Ecke stand ein Schwarz-Weiß-Fernseher, in dem irgendeine Seifen oper lief. Hinter der Bar blickte ein stiernackiger Barmann mit pechschwarzem Haar und Pancho Villa-Schnurrbart kurz hoch, als ich hereinkam. Drei andere Typen, die allesamt einen ziemlich griesgrä migen und schläfrigen Eindruck machten, hoben ebenfalls den Kopf. Jeder von ihnen saß für sich, und ich hatte nicht das Gefühl, dass sie ein Gespräch un terbrochen hatten, als sie aufblickten. Diese Bar schien mir ein recht derber, wenig einladender Ort zu sein. Obwohl ich Lokalkolorit durchaus zu schät zen weiß, halte ich mich von solchen Kneipen nor malerweise lieber fern. Sobald ich drinnen war, spür te ich, wie ich an den Händen, die nach der Sache mit der Bierdose ohnehin noch ein bisschen zitter ten, zu schwitzen begann. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Barmann. Ich konnte seinen Akzent nicht zuordnen, aber ame rikanisch war er definitiv nicht. Ich zog die Tür hinter mir zu und nickte. »Haben Sie geöffnet?« »Vielleicht. Mitglied?« »Wie meinen Sie das? Ein Mitglied wovon?« »Wir sind ein Privatclub, keine öffentliche Bar. Nur Mitglieder bekommen hier etwas zu trinken. Haben Sie einen Mitgliedsausweis?« »Ich fürchte, nein. Könnten Sie vielleicht eine Ausnahme machen und mir trotzdem ein Bier ver kaufen? Ich würde es auch niemandem verraten.« Er stützte sich mit den Unterarmen auf die Theke und beugte sich vor. »Wir machen keine Ausnah
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men, mein Freund. Sie müssen Mitglied sein. Aber Sie könnten unter Umständen eine kurzfristige Mit gliedschaft beantragen. Nur für diesen einen Nach mittag.« »Gern. Und wie mache ich das?« »Das geht nur mit persönlicher Einladung«, ant wortete er grinsend. Offenbar hatte er von Anfang an gewusst, wie dieses Gespräch enden würde. »Tut mir Leid.« Ein magerer Typ, der eine Kolani-Jacke und eine silberfarbene Oma-Brille trug und nicht weit von mir entfernt am Ende der Bar saß, meldete sich zu Wort. »Himmel noch mal, Eddie, gib dem Jungen ein Bier. Ich lade ihn ein. Nun komm schon!« Dann wandte er sich an mich und deutete auf den freien Platz neben ihm. »Setzen Sie sich. Das ist die einzige Kneipe im Umkreis von drei Städten, und überhaupt die einzig passable, die es in diesem Teil des Landes noch gibt. Nun setzen Sie sich doch endlich!« Er hatte eine durchdringende Stimme und eine für die Gegend typische Sprechweise. So weit landeinwärts war der New-England-Chowder schon ein bisschen verwäs sert, die Endungen wurden halb verschluckt, die Vo kale klangen sehr rund. Der Barmann zuckte die Achseln, als wäre es ihm egal, wirkte aber trotzdem etwas aufgebracht dar über, dass es ihm nicht vergönnt war, jemanden raus zuwerfen. Ich habe nie verstanden, warum es man chen Kneipenbesitzern eine solche Freude bereitet, Gäste nicht zu bedienen. »Dann setzen Sie sich mei netwegen. Wenn er Sie einlädt, können Sie bleiben. Was für eine Sorte Bier wollen Sie?«
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»Bud?« »Haben wir nicht.« »Rolling Rock?« »Haben wir auch nicht.« »Was haben Sie denn?« »Busch, Schlitz, Genesee, Heineken.« »Dann nehme ich ein Genesee.« »Kann sein, dass uns das ausgegangen ist. Ich seh mal nach.« Er streckte den Kopf in die Kühlung un ter der Theke. »Keins mehr da. Oder doch, da sind noch welche. Dose oder Flasche?« »Flasche, bitte.« »Wir haben nur Dosen.« »Na gut, dann nehme ich eben eine Dose. Glas brauche ich keines.« Er schob mir die Dose über die Theke und reich te mir ein ziemlich schmutziges Glas, in dem ein ab gebranntes Zündholz lag. Ein Mann mit einem weißen Kinnbart, der am anderen Ende der Theke saß, nahm Blickkontakt mit dem Barmann auf und reckte einmal kurz das Kinn hoch, wie es eigentlich nur Leute tun, die es gewohnt sind, dass man ihnen gehorcht. Er sah aus wie eine Art Bergziege, die vorübergehend mensch liche Gestalt angenommen hatte. Der Barmann griff nach einer Flasche ohne Etikett, schenkte seinem Gast daraus ein klares, dickflüssig wirkendes Ge tränk ein und ging erst wieder, nachdem der ältere Mann mit einem Nicken sein Einverständnis gege ben hatte. Der magere Typ, der mich eingeladen hatte, dreh te sich zu mir rum, aber ich konnte den Ausdruck in
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seinen Augen nicht sehen, weil sich auf seinen Bril lengläsern das Licht reflektierte. Es sah aus, als wür den zwei schimmernde Vierteldollarstücke vor sei nem Gesicht hängen. »Nate’s Body?«, fragte er. »Bitte?« »Sind Sie wegen Nate’s Body hier?« »Wie meinen Sie das? Wer ist Nate?« Er lachte. »Demnach nicht. Nate’s Body Shop and Repair. Das ist eine Autowerkstatt direkt hinter die ser Kneipe. Man bekommt dort gute Arbeit zu zivi len Preisen. Wenn die Leute auf ihre Autos warten, schickt Nate sie oft zu uns rüber.« »Ich dachte, man muss Mitglied sein.« Er trank den Rest seines Biers aus und deutete dann auf den Barmann. »Dieser Kerl lässt sich kei nen Cent entgehen. Zuerst stellt er sich vielleicht ein bisschen an, aber am Ende darf sich doch jeder set zen. Stimmt’s, Ed?« Der Barmann brummte irgendwas vor sich hin und schnalzte dann auf eine ganz seltsame Art mit der Zunge gegen seine Schneidezähne, die haupt sächlich aus Gold bestanden. Er schenkte dem mage ren Kerl mit den Münzenaugen noch ein Bier (Schlitz, Dose) ein. »Mich würde trotzdem interes sieren«, fuhr Letzterer fort, »warum ein gut ausse hender junger Kerl wie Sie einen so schönen Mitt wochnachmittag mit ein paar Säufern in Clougham verbringt.« Ein fetter Typ, der auf einem Sofa lüm melte, hob sein Glas – »Hey, der redet von uns!« –, und alle lachten. Sofort entspannte ich mich ein we nig, was mir das Vorstellen sehr erleichterte. »Ein Freund hat mir die Bar empfohlen. Er hat
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gesagt, das sei seine Stammkneipe, und wenn ich je in die Gegend käme, müsse ich hier unbedingt ein Bierchen trinken. Und da ich gerade nichts Dringen des vorhatte, dachte ich mir, ich schau mal herein.« Der Barmann hörte auf, seine Gläser zu polieren, und sah mich an. »Dann hat Ihnen Ihr Freund ja be stimmt auch erzählt, dass man hier Mitglied sein muss. Wer aus Ihrem Bekanntenkreis geht denn in eine Bar wie diese?« »Ein alter Professor von mir«, log ich. Sie fanden mich sowieso schon suspekt. Da konnte ich mich ruhig noch ein bisschen suspekter machen, indem ich zugab, dass ich studiert hatte. »Er heißt Jaan.« »Hey, den kenne ich«, sagte der fette Typ auf dem Sofa. Als er sich mir zuwandte, sah ich, dass er eine Kappe mit der Aufschrift CHARLIE REED’S FEED & SEED trug. »Alter Knacker, bisschen schlampig, langer Bart. Ja, der kommt ein paarrnal die Woche her. Sagt nicht viel.« Der Barmann widmete sich inzwischen wieder seinen Gläsern, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Angesichts des Zustands meines Glases fand ich es sehr erstaunlich, dass er so eifrig vor sich hin polierte. »Ist das der, der so komisch redet? Mit einer schwarzen Brille? Und immer derselben Kirchenkra watte?«, fragte der Mann, der neben mir saß. Feed & Seed nickte. »Ja, den kenne ich auch. Ein ganz stiller Typ. Ich wusste gar nicht, dass er Professor ist. Wir haben hier ein paar richtig noble Gäste, was?« Feed & Seed lachte. Der Barmann polierte weiter seine Gläser. »Was spricht er denn so?«
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»Gar nichts mehr, um ehrlich zu sein. Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber er ist tot.« Der Barmann blickte kaum hoch, und der bärtige Mann hinter ihm starrte mich mit strengen Adlerau gen an, ohne mit der Wimper zu zucken. Der mage re Typ drehte sich zu mir um. »Er ist vor ein paar Tagen gestorben«, fuhr ich fort. »Ich bin Reporter bei der Zeitung in Lincoln, wo er gelebt hat, und ich versuche, ein paar ganz einfache Informationen über ihn zu sammeln, damit ich einen Nachruf schreiben kann. Ich habe schon in seinem Büro und bei ihm zu Hause vorbeigeschaut, und als ich hörte, dass das hier seine Stammkneipe war, habe ich mir gedacht, dass vielleicht jemand von Ihnen etwas über ihn weiß. Es geht mir wirklich nur um ein paar grundle gende Informationen.« Dazu schüttelte ich den Kopf und hob als präventives Zeichen der Kapitula tion beide Hände hoch: die »Ich bin harmlos« Haltung. »Ach, Mist«, sagte der magere Typ. »Wie schade. Er war allerdings wirklich sehr still. Ich weiß nicht allzu viel über ihn. Hey, Eddie, wie wär’s, wenn du uns einen ausschenkst, damit wir auf Jaan trinken können?« Mit einem erneuten Achselzucken stellte Eddie fünf Schnapsgläser auf die Theke, füllte sie aus der Flasche ohne Etikett und stieß dann einen kurzen, scharfen Pfiff aus, woraufhin Feed & Seed aufstand, um sich seinen Schnaps zu holen. Ich hob mein Glas, um es mir unter die Nase zu halten, aber das Zeug roch schon aus fünfzehn Zen timetern Entfernung so scharf, dass ich gleich wieder
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auf Abstand ging. »Was ist denn das? Das riecht ja wie ein Farbverdünner.« Eddie lachte. »Ganz meine Meinung. Ich trinke sonst nie was davon. Jaan hat das Zeug zu Hause ge braut – aus Obst, Sie wissen schon, und irgendwel chen Wurzeln und Zucker, man muss es erst eine Weile stehen lassen, bevor man es trinken kann –, und dann hat er es mitgebracht. Es ist eine Art Bran dy.« »Er hat seinen eigenen Schnaps gebraut und dann in die Kneipe mitgenommen? Hat er trotzdem für seine Drinks bezahlt?« »Ja, wir hatten da eine Abmachung: Ich habe ihm die Flaschen abgekauft, und er hat ganz normal seine Zeche bezahlt, sodass wir am Ende wieder quitt wa ren.« Ein seltsames Arrangement, aber die ganze Knei pe hatte etwas ausgesprochen Seltsames. Es wirkte alles ein wenig chaotisch und improvisiert, und zugleich sehr intim, als befände man sich in einem privaten Wohnzimmer. Das Ganze hatte einen zeit lich begrenzten, gleichzeitig aber auch zeitlosen Cha rakter. Wenn ich morgen wiederkäme, wäre das Lo ne Wolf vielleicht nicht mehr da, es würde mich aber auch nicht überraschen, wenn dort in dreißig Jahren immer noch dieselben Leute sitzen und in der glei chen Haltung die gleichen Dinge tun würden. Ich starrte skeptisch auf mein Glas, während Eddie mir grinsend zunickte. Zwei von seinen oberen Schnei dezähnen bestanden aus Gold. Ich atmete einmal tief durch und kippte den Brandy dann auf ex. Es fühlte sich an, als würde er ein Loch in meine Kehle bren
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nen und in meiner Speiseröhre eine Flammenspur hinterlassen. Ich fiel fast vom Stuhl. Eddie und die anderen drei lachten. Mein magerer Nachbar schob sein Glas zu Eddie hinüber. »Nicht böse sein, Albie, aber du weißt ja, dass ich dieses Zeug nicht trinke. Keine harten Sachen vor Sonnenuntergang, das ist meine Devise, und daran halte ich mich auch. Bis Sonnenuntergang gibt’s bei mir nur Bier.« Der Bar mann zuckte erneut die Achseln und schüttete den Brandy zurück in die Flasche. »Haben Sie den Barmann eben Albie genannt?« Ich beugte mich zu dem Mageren hinüber, damit der Barmann meine Frage nicht hörte. »Ja, so heißt er, und so nennen wir ihn auch.« »Ich dachte, er heißt Eddie.« »Ja. Albanian Eddie. So nennt ihn jeder. Manch mal Eddie, manchmal Albie, und wenn wir unseren formellen Tag haben, auch mal Albanian. Aber das läuft alles auf dasselbe hinaus.« Die Stimme des Mageren, der schon eine Menge Bier intus zu haben schien, war im Lauf unseres Ge sprächs immer lauter geworden, sodass mittlerweile der Barmann vor uns stand und mir die Hand hin streckte. Sein goldzahniges Grinsen wirkte auf mich bedrohlicher, als wenn er mich böse angestarrt hätte. Ich schüttelte ihm die Hand. »Eddie«, stellte er sich vor. »Das hier ist meine Kneipe. Falls Sie vorhaben, sie in Ihrer Zeitung zu erwähnen, dann gebe ich Ih nen jetzt einen guten Rat: Lassen Sie es bleiben. Das hier ist eine ruhige Kneipe. Meine Kneipe.« Während er mit mir sprach, drückte er meine Hand immer fester, und sein Grinsen wurde immer breiter.
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»Wir wollen hier keinen Stress. Da, wo ich herkom me, haben wir einen Namen für Leute, die zu viele Fragen stellen: Leichen.« Als ich versuchte, ihm meine Hand zu entziehen, packte er – immer noch grinsend – mit seiner freien Hand mein Handgelenk und beugte sich so weit vor, dass ich seinen Knob lauchatem, seinen Schweiß und seine Spülhände riechen konnte. »Wir trinken auf Jaan. Es tut uns Leid, dass er gestorben ist, aber die Leute sterben nun mal. Wir trinken auf ihn, und dann verschwin den Sie. Und lassen Sie sich nie wieder hier bli cken.« Mein magerer Nachbar hatte den Kopf eingezo gen. Als Eddie mir endlich meine Hand zurückgab, war sie weiß wie ein gerupftes Hühnchen. Ich mas sierte sie, bis sie langsam wieder Farbe bekam. Im mer noch grinsend, drehte Eddie sich um und stellte die Flasche zurück ins Regal. Der Magere legte mir einen Arm um die Schulter und sagte in vertrauli chem Ton: »Unser Albanian ist manchmal ein biss chen hitzköpfig. Kommen Sie, ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.« Für mich bedeutet »ein bisschen hitzköpfig«, dass man einem Bücherregal einen Tritt verpasst, nach dem man sich daran die Zehe angestoßen hat, oder dass man den Fernseher anschreit, wenn ein Quar terback der Jets im letzten Spielviertel Mist baut. Es bedeutet, dass man mal jemanden anschnauzt, ob wohl man das eigentlich nicht sollte. Mir fast die Hand abzureißen und mich bei der Gelegenheit mit einer Leiche zu vergleichen, fiel meiner Meinung nach in eine wesentlich schlimmere Kategorie als
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»ein bisschen hitzköpfig«. Trotzdem hatte ich nicht vor, ausgerechnet dem Menschen zu widersprechen, dem als Einzigem hier daran gelegen zu sein schien, dass ich unversehrt aus dieser Kneipe herauskam. »Hören Sie, Jaan war einfach ein Trinker«, erklär te mein Begleiter, während wir über den Parkplatz gingen. »Diese Kneipe ist nur was für Trinker. Hier kommt keiner zum Reden her. Wir wollen hier alle nur trinken und dabei unsere Ruhe haben. Deswe gen hat auch keiner mit ihm darüber gesprochen, wo er herstammte oder was seine Kinder machten oder womit sein Daddy ihn geschlagen hat und all diesen Scheiß. Das hat hier niemanden interessiert. Wir set zen uns hin, schütten uns zu und gehen wieder. Ed die sorgt dafür, dass es ruhig und billig ist. Er selbst will es auch nicht anders haben.« »Dann haben Sie und Jaan sich nie unterhalten?«
Er seufzte und spuckte dann auf den Boden. »Klar haben wir hin und wieder mal ein paar Worte ge wechselt, na, wie geht’s denn und so was, aber das war’s dann auch schon. Ich weiß nichts über ihn, und er weiß nichts über mich. Ich komme schon hierher, seit es die Kneipe gibt, und bei ihm war es auch so.« »Seit wann gibt es die Kneipe denn?« Er holte tief Luft, als wollte er mir wie Eddie eine Standpauke halten, sodass ich mich beeilte, ihn zu beruhigen: »Ich werde nichts darüber schreiben. Ich bin bloß neugierig. Wann hat das Lone Wolf aufgemacht?« Er zog eine schwarze Mütze aus der Innentasche seiner Jacke. Irgendetwas an ihm – sein leicht ge dankenverlorener Gesichtsausdruck, sein schwer zu schätzendes Alter, seine Ausgezehrtheit, die auf ei
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nen ausschweifenden Lebenswandel hindeutete – ließen ihn wie eine Gestalt aus der Vergangenheit Neuenglands wirken, einen eigenbrötlerischen See mann von der Pequod. »Lassen Sie mich mal überle gen. Als ich das erste Mal herkam, wohnte mein Sohn noch zu Hause, war aber schon fast erwachsen. Er ist jetzt bei der Armee und lebt in Deutschland. Er wird demnächst Captain, wenn ich das richtig ver standen habe. Aber gesehen habe ich ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr, seit …« Er hielt inne und blickte zu Boden. Genauso plötzlich, wie ein Otter aus dem Wasser auftaucht, richtete er seine Auf merksamkeit wieder auf mich. »Das würde heißen, dass diese Kneipe 1991 aufgemacht hat. Ja, es muss Anfang 91 gewesen sein, weil ich noch weiß, dass ich hier gesehen habe, wie Scott Norwood damals dieses Feldtor versiebte, während Eddie und ich den Boden fliesten. Er hatte vorher noch nie ein Footballspiel gesehen. Ja, Anfang 1991.« Er nickte, schlug mit der Handfläche auf mein Autodach, winkte mir zum Ab schied kurz zu und kehrte dann in die Kneipe zu rück. Eddie hielt ihm die Tür auf und verpasste ihm beim Hineingehen einen Klaps auf den Nacken, eine Geste, die irgendwo zwischen bedrohlich und liebe voll lag. Mich bedachte er ein letztes Mal mit seinem Totenkopfgrinsen, reckte dabei für einen Moment den Daumen hoch und fuhr sich dann mit dem aus gestreckten Daumen quer über den Hals. Wider besseres Wissen – und wahrscheinlich auch
wider das Gesetz – fuhr ich nach Lincoln zurück,
ohne zu warten, bis die Wirkung des Brandys und
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des Biers nachgelassen hatte. Irgendetwas an Cloug ham machte mich nervös: Es war, als hätte die Stadt selbst etwas dagegen, dass ich mich dort aufhielt, und deswegen alle ihre Bürger dazu aufgestachelt, dafür zu sorgen, dass ich so schnell wie möglich wie der verschwand. Alle bis auf den mageren Typen aus der Bar, dessen Namen ich nicht kannte, dem ich aber wahrscheinlich zu verdanken hatte, dass ich dort mit heiler Haut davongekommen war. Als ich im Büro eintraf, fand ich Art und Austell genauso vor, wie ich sie verlassen hatte: Der eine starrte aus dem Fenster, der andere saß hinter seiner angelehnten Bürotür am Schreibtisch und hatte seine Kopfhörer auf. Nur das Licht hatte sich inzwischen verändert: Die weiche Nachmittagssonne ließ Austell jungenhafter wirken und Art mit seiner langen, bärti gen, in Gold getauchten Gestalt wie eine Fleisch gewordene byzantinische Ikone aussehen. Nachdem ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, winkte ich Austell nur schnell zu und ging dann ge radewegs in Arts Büro, bevor der Kolumnist mich aufhalten konnte. Trotzdem folgte er mir, blieb aber vor Arts Tür stehen. Art schaltete seine Musik aus. »Na, mein Junge, was hast du herausgefunden?« »Gar nichts. Ich bin keinen Schritt weitergekom men. Niemand weiß, wo oder wann er geboren wur de, auch wenn sein Name aus Estland stammt. Einer seiner Kollegen ist der Meinung, dass es sich um ei nen falschen Namen handelt, weiß aber nicht, wie sein richtiger lautet.« »Sprach er Estnisch?« »Ja.«
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Art blies eine Rauchlinie in einen Sonnenstrahl hinein, wo sie immer langsamer wurde, als würde sie nachdenken, bis sie sich schließlich ganz auflöste. »Estland, hm? Tallinn. Da war ich 89, und dann noch mal 93. Eine von diesen kleinen europäischen Städ ten, die von Berufs wegen hübsch sind. An jeder Ecke ein Postkartenhändler, und die übliche kitschi ge Kopfsteinpflaster-Altstadt, aufgepeppt mit Re staurants und Souvenirläden. Von Berufs wegen hübsch«, wiederholte er mit einem theatralischen Schaudern. »Entschuldige den Exkurs. Das heißt also, du hast den ganzen Tag in Wickenden ver bracht und stehst trotzdem immer noch da, wo du heute Morgen angefangen hast.« »Nicht ganz. Einer der Professoren, mit denen ich gesprochen habe, erzählte mir, er habe früher in Clougham mit ihm in dessen Stammkneipe zu sammen getrunken, dem Lone Wolf« – ich wartete auf Arts Reaktion, weil ich wissen wollte, ob er die Bar kannte, aber er zog nur fragend die Augen brauen hoch und schüttelte den Kopf –, »und des wegen habe ich dort einen Zwischenstopp einge legt, um in Erfahrung zu bringen, ob vielleicht sein Barmann oder seine Saufkumpane etwas über ihn wussten.« »Und?« »Sie konnten mir auch nichts sagen. Allerdings fand ich diese Kneipe ziemlich seltsam. Ich hatte dort überhaupt kein gutes Gefühl.« Hinter mir meldete sich Austell zu Wort. »Cloug ham, ach ja, das überrascht mich gar nicht. Da drü ben waren sie schon immer ein bisschen komisch.
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Wisst ihr, während des Krieges von 1812, und später dann während des russisch-japanischen Krieges …« »Hör mal, Austell«, schnitt Art ihm das Wort ab, »was würdest du davon halten, wenn ich heute Abend den Drink einfordere, den du mir schuldest? Lass mich nur noch schnell hören, was dieser Junge hier zu sagen hat, und schon bin ich zur Stelle, ja?« Austells Miene hellte sich auf. »Unser furchtloser Führer plant, seinen Sherry vor meinem Kamin einzu nehmen? Da fühle ich mich aber geehrt. Am besten, ich rufe gleich Laura an.« Und wie ein gutmütiger Hund, dem man einen Stock hingeworfen hatte, trot tete er aus Arts Büro. Art schüttelte genervt, aber doch liebevoll den Kopf und forderte mich dann mit einer Handbewe gung auf weiterzusprechen. »Irgendwie hatte ich bei dieser Kneipe ein komi sches Gefühl. Der Barmann, Albanian Eddie …« »Albanian Eddie?« Art lachte. »Was hast du ge macht – dich in eine Damon-Runyon-Geschichte verirrt? Hat schon je ein Mensch von einem Albaner namens Eddie gehört?« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Was ist passiert?« »Eddie wollte einfach nicht über das Thema spre chen. Er hat mir in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass er mich nicht Wiedersehen will.« »Bist du in Ordnung?« »Ja, ja. Ich glaube, allein möchte ich da nicht mehr hinfahren, aber mich würde trotzdem interessieren, warum der Typ so feindselig war. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass er bereits von Pühapäevs Tod wusste. Als ich sagte, dass er gestorben sei, blickte er
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nicht mal auf, sondern polierte weiter seine Gläser, und das, obwohl mir ein anderer Typ – ein extrem magerer Saufkumpan von Pühapäev – erzählte, dass der Professor dort schon etwa ein Jahrzehnt lang Stammgast war.« »Und?« »Und? Derselbe Gast, dieselbe Bar, derselbe Barmann, über zehn Jahre lang, und dann blickt er nicht mal hoch, wenn ich ihm sage, dass der Mann tot ist? Schließlich ist das eine richtige Kleinstadtkneipe, da herrscht nicht viel Betrieb. Jedenfalls er schien mir sein Verhalten irgendwie eigenartig.« »Ja, vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist er aber auch bloß seltsam.« »Vielleicht. Trotzdem wirkte er auf mich unge wöhnlich feindselig. Möglich, dass er einfach nur ein schräger Vogel ist, aber ich hatte eher das Gefühl, dass er etwas zu verbergen hat. Er hat sogar gedroht, mich umzubringen, wenn ich seine Bar erwähne.« »Tja, das ist wahrscheinlich auch eine Art, das Ge schäft anzukurbeln. Hör zu, wenn an der Sache etwas faul ist, dann finde heraus, was es ist«, sagte Art. »Wirklich, klemm dich dahinter, und sag mir Be scheid, wenn ich dir helfen kann. Trotzdem sage ich dir jetzt als alter Hase, dass genauso gut auch gar nichts dahinterstecken kann.« »Durchaus möglich. Oh, da fällt mir noch was ein: Mein alter Professor hat mir erzählt, Pühapäev sei mit dem Gesetz in Konflikt geraten.« »Wie? Probleme mit dem Finanzamt oder so was?« »Nein, eher mit der Polizei. Angeblich hat er eine
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Waffe mit sich herumgetragen und spätabends mal
von seinem Fenster aus auf eine Katze geschossen.«
»Er hat auf eine Katze geschossen?« Art musste lachen. »Ein schießwütiger Geschichtsprofessor? Das wird ja immer seltsamer. Hast du dir das von der Wi ckendener Polizei bestätigen lassen?« »Nein, noch nicht. Das wollte ich jetzt dann tele fonisch machen. Ein Neffe meines Professors ist dort Polizist.« Art fuhr sich über den Kopf. »Siehst du, genau deswegen müssen wir dich bei einer richtigen Zeitung unterbringen. Ich merke, dass du langsam unruhig wirst, unruhig und neugierig, und das sind bei einem Reporter die beiden wichtigsten Voraussetzungen. Hör zu, was hältst du davon, wenn wir eine Nacht darüber schlafen? Lass uns morgen noch mal bespre chen, ob du da weitergraben willst oder ob es sinnvol ler ist, wenn du wieder dein übliches Zeug machst.« Ich nickte, und er griff nach seinem Mantel. »Ach ja, ich habe noch was zu erwähnen vergessen«, sagte ich. »Der fette Bulle …« »Bert.« »Bert, richtig. Bert hat gesagt, dass mitten in der Nacht jemand wegen Pühapäev angerufen habe. Je mand hat seinen Tod bei der Polizei gemeldet. Hast du irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?« Er war gerade dabei, seinen Mantel anzuziehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Gute Fra ge. Ich habe keinen blassen Schimmer.« Er zog sei nen Mantel wieder aus. »Gib mir eine Minute, ich ruf schnell den Panda an.« Er schaltete den Lautsprecher an, wählte die
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Nummer und wartete, bis sich jene tiefe, leicht ab gehackt sprechende Stimme meldete. »Panda, ist dein Wartezimmer gerade voller Leute, oder hast du eine Sekunde für mich Zeit?« »Die ganze Welt ist mein Wartezimmer voller Leute, mein Freund. Für dich habe ich jederzeit mehrere hundert Sekunden Zeit.« »Ich sitze hier gerade mit Paul Tomm, meinem Starreporter.« »Mr.Tomm, der Shakespeare-Experte. Geht es ihm gut?« »Zumindest beklagt er sich nicht. Und wie geht es dir?« »Ich beklage mich auch nicht. Was kann ich heute Nachmittag für die beiden Herren tun?« Art gab mir ein Zeichen, zu schweigen. »Panda, wir würden gern wissen, wer Jaan Pühapäevs Tod bei der Polizei gemeldet hat.« »Du weißt, dass es sich dabei um eine polizeiliche Information handelt, die ich nicht herausgeben darf. Ich muss dich stattdessen an die dafür zuständige Stelle verweisen.« Art verzog seufzend das Gesicht. »Ich weiß, ich weiß, aber kannst du es mir trotzdem sagen? Ich ver spreche dir, dass wir es nicht drucken werden, und dein Name wird auch nirgendwo auftauchen. Aber wir kommen in diesem Fall einfach nicht weiter, und mein Starreporter wird langsam unruhig.« »Wieder mal werde ich für dich Dinge tun, die ich für niemanden sonst tue, und sei es nur deswegen, weil du der einzige Mensch diesseits von Brighton Beach bist, der mich am Schachbrett zumindest an
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satzweise fordert.« Wir hörten ihn übers Telefon ir gendwelche Unterlagen durchblättern. »Ah, da ha ben wir es ja. Telefonanruf um 3 Uhr 23, Nummer 860-555-7217. Name ist keiner angegeben. Ein ano nymer Anruf. Bedaure.« »So ein Mist. Trotzdem danke, alter Freund. Wir sehen uns bald mal wieder, oder?« »Nicht bald genug, wenn du mich fragst. Du musst mit Donna zu mir und Ananya zum Abendes sen kommen. Dann können wir nach dem Essen Schach spielen, während die Damen etwas trinken und kichern oder auf dem Sofa vor sich hin dösen. Und bevor wir dieses Gespräch jetzt abbrechen, möchte ich noch kurz etwas zu dem Thema sagen, an dem dein Starreporter arbeitet. Die Leiche bleibt jetzt erst einmal bei mir, bis sich Angehörige melden. Bisher kann ich nur sagen, dass er eine ungewöhnlich glatte Haut hat, zumindest für einen Mann mit ei nem so alten Gesicht. Auch das Körperinnere ist, soweit ich das jetzt schon beurteilen kann, in einem überraschend guten Zustand: Seine Organe sind noch tipptopp. Diese Leiche hat irgendetwas Beson deres, was ich noch näher untersuchen muss. Etwas, was ich nicht … Nein, belassen wir es dabei. Warten wir darauf, was das Skalpell sagt. Bald, bald. Ich nehme an, ich werde morgen früh wieder von dir oder dem Shakespeare-Experten hören?« »Ja, er wird dich anrufen«, antwortete Art. »Nicht wahr, mein Junge?« »Klar, auf jeden Fall.« Ich nickte. »Hast du das gehört? Er hat ›klar, auf jeden Fall‹ gesagt. Das sind fünf Silben für ja.«
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»Fünf Silben seines Lebens, die er nie zurückbe kommen wird. Sagen Sie beim nächsten Mal einfach Ja, junger Shakespeare-Experte, und sparen Sie sich die übrigen vier auf, um Ihrer Liebsten ›Ich liebe dich‹ ins Ohr zu flüstern. Königin nach Turm vier, Arthur. Ich höre morgen wieder von den Herren.« Mit diesen Worten legte er auf. Art reichte mir das Telefon und lehnte sich zu rück. Ich sah ihn fragend an. »Ich dachte, wir rufen ihn erst morgen wieder an.« »Doch nicht den Panda, Junge. Die Nummer, die er uns genannt hat.« So viel zum Thema Starreporter. Ich wählte die Nummer. Nachdem es zwölf Mal geläutet hatte, hörte ich zu zählen auf, und dann dauerte es immer noch eine ganze Weile, bis jemand ranging. Zuerst hörte ich nur ein zischendes Geräusch, als würde jemand das Telefon aus einem Autofenster halten. Dann klopfte etwas oder jemand dreimal auf die Sprechmuschel, und nach einer kurzen Pause war erneut ein dreimaliges Klopfen zu hören. »Hallo? Hallo?«, rief ich in das Telefon. »Nur das nicht. Nur das nicht. Nur das nicht. Nur das nicht. Nur das nicht …« Eine tiefe Stimme sprach in monotonem Ton weiter. Während ich zu Art hinübersah, der gerade seine Zigarette in den Aschenbecher schnippte, hielt ich das Telefon für einen Moment von meinem Ohr weg, und als ich dann wieder horchte, hatten die Worte gewechselt: »Ich werde sie finden. Ich werde sie finden. Ich wer de sie finden.« Ich klopfte leise auf Arts Schreibtisch,
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um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und reichte ihm das Telefon. Er presste es ans Ohr und sah mich dann fragend an. »Was hältst du davon?«, flüsterte ich. »Hier bei uns nennen wir das ein Freizeichen«, sagte er und gab mir das Telefon zurück. Tatsächlich war mittlerweile ein lautes Freizeichen zu hören. »Was ist passiert, ist die Verbindung unterbrochen worden oder so was?« »Nein«, antwortete ich verwirrt. »Nein, am ande ren Ende war ein Typ, der dauernd ›Nur das nicht‹ sagte.« »Aha.« Art klang skeptisch. »Warum versuchst du es nicht noch einmal? Aber drück nicht bloß auf die Wahlwiederholung.« Arts Skepsis ließ mich fast schon selbst an dem zweifeln, was ich gehört hatte. Trotzdem tippte ich erneut die Nummer, und dieses Mal musste ich nicht so lange warten, bis jemand abhob. »Ja.« Eine genervt klingende Männerstimme.
»Ja, ähm, sind Sie gerade ans Telefon gegangen?«, fragte ich. »Nein, Sie Schwachkopf, ich rede durch eine Blechdose mit Ihnen. Was glauben Sie denn?« »Nein, ich meine nicht jetzt, sondern vorhin. Wer hat vorhin von diesem Apparat aus telefoniert?« »Was meinen Sie mit vorhin? Gerade eben?« »Ja.« »Niemand. Vor mir hat hier niemand telefoniert. Ich hab mir vor Schreck fast in die Hosen gemacht, als das Telefon plötzlich zu läuten anfing. Was zum Teufel wollen Sie überhaupt?«
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»Ich rufe vom Lincoln Carrier an. Ich würde gern mit jemandem über Jaan Pühapäev sprechen.« »Pü was? Wovon zum Teufel reden Sie?« Allmäh lich klang die Stimme nicht mehr bloß genervt, son dern richtig wütend. Außerdem klang sie, als hätte der Mann einen Schnurrbart. Ich hörte lautes Hupen: Offenbar befand sich das Telefon im Freien. »Vorgestern Nacht hat jemand von Ihrem Apparat aus einen Todesfall gemeldet. Ich versuche jetzt …« »Was meinen Sie mit meinem Apparat? Wen wollen Sie eigentlich sprechen?« Flanellhemd, Pick-up, Neuengland-Akzent, allerdings eher aus dem Lan desinneren, großer Jerry-Remy-Fan. »Das weiß ich nicht, genau darum geht es mir doch. Das Display zeigte Ihre Telefonnummer an und …« »Das hier ist ein öffentliches Telefon, mein Freund.« »Ein öffentliches Telefon?« »Sie wissen schon, eins von denen, wo man zehn Cent reinwirft, bloß dass es inzwischen schon fünf unddreißig Cent sind, weil sie die Preise immer wei ter rauftreiben. Es ist das Telefon vor Arliss’s.« Ich zog mein Notizbuch heraus, und Art zog die Augenbrauen hoch. »Wo ist denn das?«, fragte ich den Mann. »Trawbridge Road. Am Rand von Lincoln, noch nicht ganz Höhe Stevens Bridge.« »Sie meinen den kleinen Gemischtwarenladen am Rand von Lincoln Common? Ich wusste gar nicht, dass der einen Namen hat.« Er schnaubte, seufzte und knurrte gleichzeitig. »Tja, er hat einen, und so lautet er.«
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»Hmm.« Wäre ich ein richtiger Reporter gewesen, dann wäre mir jetzt die genau richtige Frage einge fallen. Stattdessen machte ich nur: »Hmm.« In mei nem Kopf machte es ebenfalls: »Hmm.« »Dann handelt es sich bei der Sache wohl um ei nen Mordfall, oder? Und der Anrufer war der Mörder, richtig?« Ich saß plötzlich kerzengerade, als hätte mir hin ten jemand Eiswürfel ins Hemd gesteckt. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Hier draußen ist doch sonst nichts, Chef. Der kleine Laden schließt um acht, und egal, wohin man von hier aus weiterfährt, es gibt erst mal gute fünfzehn Kilometer lang nichts als Wiesen und Teiche. Bis zur Stadt ist es knapp ein Kilometer, aber warum sollte jemand so weit herauswandern, nur um zu telefonie ren? Die Einzigen, die dieses Telefon benutzen, sind Arliss und die Leute, die hier durchfahren. Früher hat es immer geheißen, Trawbridge sei die schnellste Möglichkeit, um aus Hanoi rauszukommen.« »Warum denn das? Wohin führt die Straße?« »Sie ist ein Teil der Route 87, die in Bridgeport am Longisland-Sund beginnt und grob gesprochen in nördlicher Richtung verläuft. Sie führt durch Massa chusetts und Vermont, durch die Wildnis des ländli chen Neuengland, wo man keine Menschenseele trifft. Irgendwann endet sie dann außerhalb von Drummondville, am St.-Lorenz-Strom.« Ich warf einen Blick auf die Neuengland-Karte an Arts Wand. Einen St.-Lorenz-Strom konnte ich nir gendwo entdecken. »Wo ist denn der St.-LorenzStrom?«
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»Wo?« Er stieß ein verächtliches Lachen aus. »Sie gehen nicht viel zum Fischen, was? In dem Fluss gibt es guten Lachs. Er liegt oben in Kanada. Nächs te Geographiestunde morgen um dieselbe Zeit. Blödmann!« Ich hörte ihn und eine Frau lachen, dann war die Leitung tot. Ich hatte das Gefühl, dass er ziemlich entnervt war, als er auflegte, aber wahr scheinlich kommt einem das immer so vor, wenn jemand einfach auflegt. »Einer von den weniger charmanten Bewohnern des ländlichen Connecticut«, informierte ich Art. »Das Telefon, von dem aus Pühapäevs Tod gemel det wurde, befindet sich außerhalb von Arliss’s, das ist …« »Arliss’s General Store. Ich weiß, wo das ist. Aber warum hast du den St. Lorenz erwähnt?« »Anscheinend endet dort die Route 87. Oben in Kanada, in der Nähe eines Ortes namens Drum mondville.« Art kratzte in seinem Bart herum und starrte dabei eine ganze Weile an die Decke, ohne ein Wort zu sa gen. »Seltsam. Vielleicht liegt ja irgendein Fehler vor. Die Handschrift des Panda ist manchmal schwer zu entziffern. Oder du hast dich verwählt.« Während er mich nachdenklich ansah, rutschte ich verlegen auf meinem Stuhl hin und her. »Bevor du es noch einmal unter der Nummer versuchst, solltest du den Neffen deines Professors anrufen. Vielleicht kann er dir ja mehr über Mr. Estland, den Revolverhelden, erzählen.« Ich nickte, schwang meinen Stuhl herum und wählte. Es ging bereits jemand ran, bevor es zu läu ten begann.
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»Gomes am Apparat.« »Ähm, bin ich jetzt nicht … Ich dachte, ich hätte die Nummer der Polizei von Wickenden gewählt.« »Haben Sie ja auch«, antwortete der Mann. »Sie sprechen mit Detective Gomes. Was kann ich für Sie tun?« »Ich hätte gern Joseph Jadid gesprochen.« »Moment, bitte.« Gomes knallte das Telefon auf den Schreibtisch. »Leitung zwei, Chef. Da möchte dich jemand sprechen«, hörte ich ihn im Hintergrund sagen. Eine tiefere, schläfrig klingende Stimme meldete sich. »Detective Jadid am Apparat.« »Hier spricht Paul Tomm. Ich bin Reporter beim Lincoln Carrier, und …« »Mit Journalisten rede ich nicht. Warten Sie einen Moment, dann verbinde ich Sie mit unserer Presse stelle.« »Nein, Moment, warten Sie. Ihr Onkel hat gesagt, ich soll mich mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Ja? Welcher Onkel denn?« »Anton.« »Er hat zu einem Reporter gesagt, dass er mich anrufen soll? Woher kennen Sie ihn?« »Ich habe bei ihm studiert. Er hat mir heute Mor gen Ihre Nummer gegeben.« Jadid räusperte sich und sagte dann seufzend: »Na schön. Aber eines sage ich Ihnen: Nennen Sie in Ih rem Artikel ja nicht meinen Namen. Wenn Sie mich zitieren müssen, dann bitte anonym. Das hier ist eine ziemlich kleine Stadt, und ich hatte erst kürzlich Stress mit der Presse.«
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»Das ist kein Problem.« »Da haben Sie Recht, das ist kein Problem. Also, was brauchen Sie?« »Ich arbeite an einem Artikel über einen Typen namens Pühapäev. Er hat in Lincoln gewohnt und in Wickenden gearbeitet. Genauer gesagt war er ein Kollege Ihres Onkels. Jedenfalls ist er vor zwei Ta gen gestorben, und wenn ich das richtig verstanden habe, ist er in Wickenden irgendwann mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Ich wollte nur wissen, was da im Einzelnen vorgefallen ist.« »Mal sehen.« Ich hörte das Klacken einer Compu tertastatur. »Püha … wie war noch mal der Rest?« »P-Ä-E-V.« »So, nun kann’s losgehen. Aber bevor ich irgend etwas an Sie herausgebe, was ich eigentlich gar nicht an Sie herausgeben darf, möchte ich Ihnen sagen, dass ich das nur für Onkel Abe tue. Wenn er Sie gut genug kennt, um Ihnen meine Nummer zu geben, dann gehe ich ebenfalls davon aus, dass Sie in Ord nung sind. Ruinieren Sie also nicht den Ruf von uns allen dreien, indem Sie irgendwas Blödes schreiben, ja? Falls Sie etwas von dem, was ich Ihnen jetzt sa gen werde, in Ihrem Artikel verwenden wollen, dann möchte ich es vorher sehen, verstanden?« »Natürlich.« »Gut. Dann mal los. Jaan Pühapäev. Wohnsitz in Connecticut, Führerschein in Connecticut ausge stellt. Zwei Verhaftungen, mehrere Anzeigen. Wir haben zwei Anzeigen, weil er heimlich eine Waffe trug. Zwei wegen Ruhestörung. Zwei weitere wegen Gebrauchs seiner Schusswaffe. Und eine wegen Er
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regung öffentlichen Ärgernisses durch Trunkenheit. Letztere handelte er sich bei seiner zweiten Fest nahme ein, nachdem er wieder mit seiner Knarre herumgeballert hatte. In den meisten Fällen kam er wieder mit einem blauen Auge davon, zweimal wur de er zu einer Geldstrafe verurteilt.« »Wann waren die beiden Festnahmen?« »Die waren … Moment. Dieser verdammte Com puter«, schimpfte er und schlug dabei entweder auf seinen Schreibtisch oder das störrische Gerät. »Da haben wir es ja: Das erste Mal am 12. Januar 1995, das zweite Mal am 24. August 1998. Danach war nichts mehr. Das bedeutet vermutlich, dass der gute Professor als geläuterter Mensch gestorben ist.« Sei nem Tonfall war zu entnehmen, dass er zweifellos vom Gegenteil überzeugt war. »Schon möglich. Auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« »Für einen Freund von Onkel Abe ist mir keine Mühe zu viel. Aber wie gesagt, rufen Sie mich an, wenn Sie etwas davon verwenden wollen. Wenn po lizeiinterne Informationen in einer Wickendener Zeitung auftauchen, werden sich die Leute fragen, wie diese Informationen dorthin gekommen sind.« »Ich rufe Sie an. Allerdings sitzt unsere Zeitung gar nicht in Wickenden. Wir sind in Lincoln, Con necticut.« »Lincoln, Connecticut«, wiederholte er wie ein Papagei. »Wo zum Teufel ist denn das?« »Ungefähr zwei Stunden westlich von Wickenden. Nicht weit von den Grenzen zu New York und Massachusetts entfernt.«
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»Ach so, na dann können Sie natürlich gern meinen Namen, mein Foto und meine Sozialversicherungs nummer abdrucken, wenn Sie wollen.« Er lachte. »Ih nen ist hoffentlich klar, dass das jetzt nur Spaß war.« »Ich habe es mir fast gedacht.« »Dann ist es ja gut. Wie auch immer, ich wünsche Ihnen noch viel Spaß da draußen auf dem Land. Pas sen Sie auf sich auf.« Viele von den Freunden, mit denen ich in Brook lyn aufgewachsen war, sahen das genauso: Gleich nach der Stadtgrenze begann die Wildnis. Hatte man dann auch noch die Vororte hinter sich gelassen, be stand kaum noch ein Unterschied zur Dritten Welt. Mein eigener Bruder war dafür ein Paradebeispiel. Er hatte sozusagen Asphalt im Blut. Nachdem ich Art über die wichtigsten Punkte des Gesprächs in formiert hatte, lehnte er sich zurück und suchte er neut Rat in seinem Bart und an der Zimmerdecke. »Fassen wir mal zusammen: Wir haben einen To ten«, sagte er schließlich und reckte seinen rechten Daumen hoch, »aber keiner weiß, wie er gestorben ist.« Sein Zeigefinger ging hoch. »Niemand weiß, wer seinen Tod gemeldet hat.« Der Mittelfinger. »Es sieht nicht nach einem schief gelaufenen Ein bruch aus.« Der Ringfinger. »Die Polizei vor Ort hat kein Interesse an dem Fall. Die Polizei des Bundes staates und das FBI haben keinen Grund, sich ein zumischen. Aber wir wissen« – mittlerweile hielt er alle fünf Finger seiner rechten Hand hoch –, »dass er ein Professor war, der kaum Vorlesungen hielt und gern mit einer Waffe herumlief. Und dass er keine Freunde hatte, keine Familie, kein gar nichts.«
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»Ja, das wär’s so in etwa. Allerdings sollten wir die komische Sache mit dem öffentlichen Telefon nicht vergessen.« »Stimmt«, sagte Art langsam. »Aber lass uns das erst mal auf Eis legen, die anderen Punkte erschei nen mir wichtiger. Hast du jetzt noch irgendwelche Telefonate zu führen?« Ich schüttelte den Kopf. »Gut. Es ist fast halb acht, und Austell erwartet mich auf einen Drink. Bestimmt setzt er mir wieder diesen Azeton-Sherry vor. O mein Gott … Wie auch immer, ich hätte gern, dass du diese ganze Sache morgen früh als Erstes mit einer Freundin von mir be sprichst. Einverstanden?« »Klar. Um wen handelt es sich denn?«. »Lass dich überraschen. Und schau nicht so skep tisch. Sonst bleibt dein Gesicht eines Tages so, und du kriegst nie wieder einen Job, es sei denn als Re porter.«
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Ferahids goldene Flöte
D Unser Gold ist ein vollkommener Körper, der nach nichts verlangt und Gott nachahmt; unser Schwefel ist ein unvollkommener und tätiger Körper, der nach seiner Frau verlangt und sich wie ein Mann gebärdet. Alles Irdische geht aus dieser Hochzeit hervor. D HAMID SHORBAT IBN ALI IBN SALIM FERAHID D Über die Ziele der Musik und des Sonnenlichts
Auf dem Bahnsteig hatte Juri mit sämtlichen Mit gliedern seiner Familie einen Abschiedstrunk einge nommen, außerdem zwei zusätzliche mit seinem Va ter, der behauptete, seine Augen würden vom Wod ka und vom Wind tränen, obwohl sie doch an der Wand unter dem Bahnhofsvordach standen. Auf dem Weg zum Zug hatte seine Mutter ihn mit liebevollen Küssen bombardiert, immer wieder an seinem Hemd herumgezupft, seinen Schal neu gebunden und sei nen Mantel noch enger um seinen Körper gezogen. Als er schließlich in den Zug stieg, fühlte er sich in seiner Kleidung wie mumifiziert. Sobald das stampfende Geräusch des Zuges einen gleichmäßigen Rhythmus bekam, glitt Juri, der vom Alkohol einen schweren Kopf hatte, in einen unruhi gen Schlaf hinüber. Als er wieder aufwachte, war das
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vertraute, chaotische Moskau – die niedrigen Fabrik gebäude, die entweder halb fertig oder halb in sich zusammengefallen waren, die großen Wohnblöcke mit den paar willkürlich verteilten Birken davor, die Drähte und Straßen, die ins Herz der Stadt führten – durch endlose Kiefernwälder abgelöst worden, hin und wieder unterbrochen durch Dörfer, die meist nur aus ein paar Feldwegen und zwölf bis fünfzehn klei nen Datschas bestanden. Mit ihren erleuchteten Fenstern wirkten diese Dörfer aus der Ferne wie Grüppchen von Rauchern, die gemütlich beieinander saßen und plauderten. Jedes Mal wenn Juri aus dem Fenster blickte, dachte er: »So weit war ich noch nie von zu Hause weg«, und nachdem er anschließend eine Weile ge lesen oder geschrieben hatte, blickte er erneut hoch und dachte: »Und jetzt bin ich noch weiter von zu Hause weg.« Jedes Mal wenn er auf die vorüberzie hende Landschaft hinaussah, verspürte er eine leicht nostalgische Sehnsucht nach dem alten Juri, der all das noch nicht gekannt hatte, was der gegenwärtige Juri in den letzten vierzig Minuten gesehen hatte. In unregelmäßigen Abständen streifte er sein jeweils altes Ich ab, und als er dann vier Tage später in No wosibirsk umstieg, hatte er das Gefühl, ein wesent lich welterfahrenerer Mann zu sein als der Junge aus Moskau, der fast hundert Stunden zuvor von zu Hau se aufgebrochen war. Seine Reise dauerte weitere drei Tage. Die Wälder,
die auf eine fast mythische Weise endlos wirkten,
sodass die russischen Städte im Vergleich dazu nur
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flüchtige, zaghafte Vorstöße in eine weite und unbe zwingbare Wildnis zu sein schienen, wurden irgend wann von Bergen abgelöst. Mit der Zeit wurden die se Berge dann flacher und gingen in Steppe über: weiße Flecken und Wölbungen über einer gleich förmigen, beständigen Erde. Der Horizont wirkte weit entfernt und unwirklich, fast als würde er nur als Gedanke existieren. Während eines Halts vor Aktogai sah Juri einen schwarzen Skorpion in den Zug huschen, aber die Prowodnitsa, ein riesiger Elch von einer Frau, fegte ihn sofort mit einem Besen zurück auf die Gleise. Sie erzählte Juri, ein Usbeke habe ihr mal weiszumachen versucht, Skorpione brächten Glück, woraufhin ihr sofort klar gewesen sei, dass man sich vor ihnen hü ten musste. Sie habe die ihr unterstellten Mädchen angewiesen, an den Türen mit Besen Wache zu hal ten, weil die Biester gern in den Zug krochen. Falls er jemals das Pech haben sollte, von einem Skorpion gestochen zu werden, dann sei das einzige Heilmit tel, ein Stück Musselinstoff drei Minuten lang in ei ne Mischung aus Wodka und Johanniskraut zu legen und ihn dann dreiunddreißig Minuten lang auf die Wunde zu pressen, damit das Kraut das Gift aus dem Körper in den Lappen ziehen konnte. Dann müsse man das Stück Stoff sorgfältig verbrennen und die Asche verstreuen. Juri hatte nur gehorsam genickt, aber nichts dazu gesagt. Überhaupt hatte er während der ganzen Rei se mit niemandem gesprochen. Als er schließlich in Leninabad eintraf und den Unteroffizier mit erwar tungsvoller Miene vor dem Eingang des Bahnhofs
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stehen sah, hatte er plötzlich richtig Angst davor, in die Welt der menschlichen Interaktion zurückzukeh ren. »Ingenieur Kulin?«, fragte der Unteroffizier. Juri nickte. »Dürfte ich Ihre Papiere sehen? Pass und propusk, bitte.« Propusk: das kleine, ungemein wich tige Blatt Papier, dessen offizieller Stempel und Un terschrift alles, was darauf geschrieben stand, zur un umstößlichen Wahrheit heiligten. Wenn auf dem propusk stand, dass sein Inhaber drei Meter groß und mit purpurroten Schuppen bedeckt sei, und das Pa pier einen offiziellen Stempel des Volksbeauftragten für Größenangaben und Schuppenbeurkundung trug, der Inhaber jedoch aussah, als wäre er eins achtzig groß und im Besitz einer ganz normalen menschlichen Haut, dann stimmte einfach mit dem optischen Erscheinungsbild irgendetwas nicht: schon rein epistemologisch ließ ein propusk weder Fragen noch Widerspruch zu. Juris propusk zufolge war er kein studierter Lingu ist, sondern ein Ingenieur, der mit der Aufgabe be traut worden war, »die ersten Planungsphasen hin sichtlich der Realisierungsmöglichkeiten eines ge planten Museums sozialistischer Kultur in Tadschi kistan zu überwachen«. Zu den vielen Varianten sei ner Persönlichkeit, die Juri während seiner Fahrt nach Leninabad abgestreift hatte, gehörte definitiv die eines aufstrebenden Linguisten, und stattdessen stand hier nun dieser Ingenieur. Als Juri dem Unter offizier die Papiere aushändigte, bemühte er sich, dabei möglichst locker zu wirken, gleichzeitig aber auch eine gewisse Autorität auszustrahlen.
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Der Unteroffizier hatte den stämmigen Körperbau eines kräftigen Bauernjungen, eine helle, leicht rötli che Haut und einen etwas düsteren Gesichtsaus druck, der hin und wieder in vorsichtige Freundlich keit umschlug, als wäre er ständig auf der Hut, ja keinen Witz zu verpassen. Er und Juri, der ebenfalls ein hellhäutiger Typ war und Militärkleidung trug, bildeten einen starken Kontrast zu den mageren, dunkelhäutigen Männern mit den kantigen Ge sichtszügen und den langen Bärten, von denen sie auf dem Bahnsteig umringt waren. Dem Unteroffi zier schien es peinlich zu sein, einen so gebildeten Mann kontrollieren zu müssen, auch wenn dieser jünger war als er selbst. Mit einem zackigen militäri schen Gruß reichte er Juri seine Dokumente zurück und führte ihn dann zu einem bereitstehenden Wa gen, als dessen Fahrer er in die ihm angenehmere Position der Unterwürfigkeit zurückkehren konnte. »Man hat Ihnen in Leninabad ein Privatquartier in den Offiziersunterkünften zugewiesen«, sagte der Unteroffizier stolz zu Juri. »Und mein Name ist Krawtschuk. Ich werde für die Dauer Ihres Aufent halts Ihr Chauffeur sein.« Der Wagen, ein klappriger und schlammbespritz ter Shiguli, rumpelte mühsam die holperige, nur spo radisch geteerte Straße entlang, die vom Bahnhof zu dem Außenposten führte. Bis sie an der Kaserne an kamen – einem tristen, grauen Labyrinth aus Ge bäuden, die sowohl ihrer Umgebung als auch ihren Bewohnern jegliche Farbe zu entziehen schienen –, fühlte Juri sich, als wäre er nicht hergefahren, son dern hergerollt worden. In der Offizierskantine be
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kam er ein wenig einfallsreiches Menü aus Frikadel len (deren Hauptbestandteil natürlich Tage altes Brot war), öligem Krautsalat, öligem Rote-Bete-Salat, öligem Karottensalat und fettigen Kartoffeln, abge rundet mit einer großzügigen Ladung leicht ranziger saurer Sahne und Dill. Die Männer um ihn herum aßen entweder in lauten, ausgelassenen Gruppen oder in schweigender, selbstgenügsamer Einsamkeit mit verbissener, steinerner Miene. »Sie müssen unser Gast sein, der Ingenieur.« Vor Juri stand ein schlanker, gepflegter Mann mittleren Alters, der ihn mit wachen Augen musterte. An sei ner Armeeuniform hingen jede Menge Orden und Abzeichen. Sein Haar war etwas länger geschnitten als beim Militär normalerweise üblich, und seine Haltung wirkte ebenfalls etwas lockerer. Juri erhob sich. »Ingenieur Kulin, mein Herr. Aber gestatten Sie mir eine Frage: Woher wissen Sie, dass ich Zivilist bin, obwohl ich doch Militärkleidung trage?« »Tja«, antwortete der Mann, während er sich zu Juri hinunterbeugte und auf seinen Teller deutete: »Ihre Essgewohnheiten verraten Sie. Sie haben Ihr Fleisch mit Messer und Gabel geschnitten und das Essen anschließend mit der Gabel zum Mund ge führt. Ihre Salate essen Sie ebenfalls mit der Gabel. Ihr Löffel dagegen ist unbenutzt, er liegt noch genau dort, wo ihn der Küchengehilfe hingelegt hat. Diese Männer hier, diese Soldaten« – er machte mit der rechten Hand eine ausladende Bewegung, und Juri ließ den Blick durch den Raum schweifen –, »benut zen fast alle die Rückseite ihrer Gabel, um damit so viel Essen wie möglich auf ihren Löffel zu schieben
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und es sich dann in den Mund zu stopfen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, auf einen Rekruten mit guten Tischmanieren zu treffen, aber es ist sehr wohl aus geschlossen, dass er diese Manieren während seiner militärischen Ausbildung beibehält. Sie haben doch auch gedient, oder?« »Ja, in der Republik Tadschikistan.« »Und, haben Ihre Manieren gelitten?« Juri ver zichtete auf eine Antwort, senkte aber beschämt den Blick, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. »Na, sehen Sie«, sagte der Mann mit einem leicht gepress ten Lächeln. »Aber zu Hause bei Ihrer Mutter hätten Sie sich nicht so benommen, oder?« »Nein, mein Herr.« »Tja. Aber eigentlich wollte ich Ihnen nicht auf die Nerven gehen, sondern Sie willkommen heißen. Ich bin Oberst Woskresenjow. Ich wohne in einer separaten Unterkunft, keine hundert Meter von der Ihren entfernt. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie während Ihres Aufenthalts hier bei uns irgend welche Probleme haben.« »Vielen Dank, mein Herr, das werde ich.« »Spielen Sie Schach, Kulin?« »Nein, leider nicht.« »Ah. Wie schade. Nun ja, lassen Sie sich Ihr Essen schmecken. Einen guten Abend.« In seinem Zimmer legte Juri alles bereit, was er für den nächsten Tag brauchte: Papier, Stifte, zwei Wörterbücher: Tadschikisch-Russisch und Usbe kisch-Russisch – obwohl er beide Sprachen fließend beherrschte, war er angewiesen worden, die Bücher mit sich zu führen und möglichst auffällig zu benut
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zen –, außerdem eine Fotografie, deren Anblick er nicht ertragen konnte und die er hoffentlich nicht brauchen würde, sowie einen gepolsterten Samtbeu tel, der in ein Geheimfach seines Koffers passte. Er sah sich noch einmal den Namen und die Adresse des Mannes an, mit dem er sich treffen sollte, ebenso die Bedingungen des Austauschs. Zwei Musikin strumente für ein Menschenleben einzutauschen erschien ihm seltsam und grausam, aber er war schließlich kein Mann des Militärs. Daran hatte man ihn in diesem Zusammenhang mehrfach erinnert. Wenn alles gut ging, würde er in zwei Tagen wieder im Zug sitzen in einer Woche wieder an seinem Schreibtisch und nächsten Juni, wenn er mit seiner Abschlussarbeit fertig war, in einer hohen Position im Kultusministerium. Nach einem üppigen Frühstück, bestehend aus po chierten Eiern, Schwarzbrot, gesalzener Kascha und Tee, stiegen Kulin und Krawtschuk wieder in den Wagen und fuhren in Richtung Norden. »Na, Genos se Ingenieur …« »Bitte, Krawtschuk, wenn wir unter uns sind, dann sagen Sie doch einfach Juri. Ich bin kein Mann des Militärs.« »Aber Sie haben gedient?« »Ja. In Duschanbe, auch wenn ich während mei ner drei Jahre dort kein einziges Mal im FerganaGebiet war.« »Wenn Sie meinen, Gen … Juri. Ich bin bloß ein muschik aus Kharkiw«, fuhr er fort, während er in ein herzhaftes, aber selbstironisches Lachen ausbrach,
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das seine ganze Brust zum Beben brachte. »Geben Sie mir flaches Land und schwarze Erde, dann bin ich zufrieden. Wie ich höre, haben Sie gestern den Oberst kennen gelernt.« »Ja. Er war sehr freundlich.« »Freundlich«, wiederholte Krawtschuk ungläubig. »Wenn man ihn in der richtigen Stimmung erwischt. Er ist ein seltsamer Kerl. Aber er ist Balte, müssen Sie wissen, und deswegen ein bisschen …« Er mach te mit der flachen Hand eine Wackelbewegung. Ein bisschen unausgeglichen? Ein bisschen verrückt? Ein bisschen homosexuell? Juri räusperte sich. »Wie lange sind Sie schon hier?« »Den wievielten haben wir heute – den fünfund zwanzigsten September 1979? Dann sind es jetzt elf Monate, zwei Wochen und drei Tage. Aber so genau wollten Sie es wahrscheinlich gar nicht wissen, oder?« Er lachte einen Moment herzlich, dann rülps te er. »Ein Freund von mir arbeitet als Sekretär für einen General, und der meint, dass sie uns bald nach Afghanistan verlegen werden. Eine Einladung unse rer sozialistischen Brüder, sagt der General.« Juri verzog das Gesicht: Hier wie ein Eroberer he rumzufahren war eine Sache, aber im Rahmen seiner Studien hatte er Berichte über den Einsatz der briti schen Armee am Khyberpass gelesen, und er vermu tete, dass Afghanistan eine völlig andere Sache sein würde. »Darf ich Sie fragen, warum man Sie hergeschickt hat, Juri? Ich meine, warum brauchen wir ausgerech net hier ein Museum?«
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»Ehrlich gesagt habe ich nicht nachgefragt. Mein Vorgesetzter hat mich beauftragt, über die örtlichen Gegebenheiten zu berichten. Die Partei möchte die kulturellen Fortschritte dokumentieren, die die Sow jetrevolution für das Fergana-Becken gebracht hat. Ich werde prüfen, inwieweit die Örtlichkeiten hier für ein solches Museum geeignet sind, und dann nach Hause zurückkehren.« »Nach Moskau, stimmt’s?« Juri nickte. »Euch Moskauer erkennt man immer!«, rief Krawtschuk grinsend und verpasste dem Lenkrand einen Klaps. »Aber ich wollte nicht neugierig sein. Zeigen Sie mir doch bitte die Adresse noch mal. Ah ja, wir sind schon fast da: Wir müssen nur noch hier über die Brücke. Es ist das Dorf dort oben rechts.« Die Brücke über den Fluss Syrdarja markierte das Ende von Leninabad und praktisch auch das Ende der Sowjetunion. Von Oktober bis Mai war die schmale, ungeteerte Straße zwischen hier und Taschkent, das etwa drei Fahrstunden weiter nörd lich lag, wegen des Schnees kaum passierbar, und von Mai bis September sorgten Banditen dafür, dass sie überhaupt nicht benutzt werden konnte, außer vielleicht von einem ganzen Bataillon. Im Süden lag das Pamir-Gebirge, im Osten das Fergana-Becken, die Heimat gewalttätiger Splittergruppen unter schiedlichster Art, und dahinter lag China. Lenina bads abruptes Ende: Auf der einen Seite wurde der Fluss von trister Sowietarchitektur flankiert, auf der anderen ragte eine Berglandschaft auf, deren Gipfel aus dem Schnee hervorlugten wie zerzauste Vögel. Sie erstreckte sich bis zu den Tienschan-Bergen, die
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in der Ferne zu sehen waren. Hätte man diesen Aus blick samt der Stadt fotografiert, hätte das Ergebnis wie eine Montage gewirkt: als hätte man das Bild einer Stadt auf das Foto eines Tals geklebt. Krawtschuk deutete auf ein paar Hütten, die sich an einem nahe gelegenen Hang um einen gewunde nen braunen Nebenfluss des Syrdarja scharten. »Die meisten von den Leuten leben immer noch in diesen kleinen Dörfern …« »Kischlaks.« »Was?« Juri schlug sein Wörterbuch auf, um seinen Fehler wieder gutzumachen. »Laut diesem Buch ist Kischlaks das tadschikische Wort für ›Dörfer‹.« Krawtschuk nickte. »Wie auch immer man sie nennt, sie sind auf jeden Fall hübscher als Lenina bad.« Die Straße endete knapp unterhalb des Dorfes, und Krawtschuk stellte den Motor ab. Sie stiegen aus und begannen gemeinsam hinaufzugehen, aber nach ein paar Schritten bat Juri Krawtschuk, doch lieber beim Wagen zu warten. »Nur zur Sicherheit. Man weiß ja nie. Wahrscheinlich ist es keine so gute Idee, einen Wagen hier in der Gegend einfach so stehen zu lassen.« Krawtschuk schien über Juris Entscheidung nicht unglücklich zu sein. »Rufen Sie nach mir, wenn Sie Hilfe brauchen, Ingenieur. Dann bin ich sofort zur Stelle.« Juri nickte, winkte ihm zu und begann dann den Hang hinaufzusteigen. Als er das erste Haus erreich te, kamen drei Kinder herausgelaufen und riefen:
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»Ein Russe! Ein Russe! Kommt und seht euch den Fremden an!« Bis er die Mitte des Dorfes erreicht hatte, hatte das Geschrei aufgehört, und er war von einer ganzen Schar von Kindern umringt, die ihn alle schweigend und mit großen dunklen Augen ansahen. »Assalom u aleykum«, begann er, als ihn plötzlich eine raue, Russisch sprechende Stimme unterbrach. »Warum reden Sie nicht in Ihrer Muttersprache mit uns? Wir verstehen sie. Ein paar von uns können das sogar mit Striemen, Narben und Brandmalen beweisen.« Die Stimme, deren ironischer Unterton fast schon eine Spur drohend klang, gehörte zu ei nem großen Mann mit einem zerfurchten Gesicht und stechenden grünen Augen. Er trug ein bunt ge streiftes Gewand, das er um den Bauch mit einer Schärpe zusammengebunden hatte, und stand völlig reglos da. Er machte keine Anstalten Juri wegzuja gen, hieß ihn aber auch nicht willkommen. »Danke«, sagte Juri verlegen. Er wartete auf eine Reaktion des Mannes, aber der stand weiter still und wachsam da, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich würde gern mit Porat Badhmadullajew sprechen. Wenn ich richtig informiert bin, lebt er in diesem Dorf.« »Das stimmt. Allerdings heißt er inzwischen Hadsch Porat. Er hat die Reise letztes Jahr mit sei nem Sohn gemacht. Sehr schwierig, sehr illegal. Aber wenn Sie derjenige sind, für den ich Sie halte, dann wissen Sie das ja bereits.« »Ich bin nicht vom KGB, falls Sie das meinen. Ich bin Ingenieur und hergekommen, um einen geeigne ten Ort für ein Museum zu finden, das der Kultur
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Tadschikistans gewidmet sein soll. Ihrer Kultur.« Juri versuchte zu lächeln, merkte aber selbst, dass er dadurch nicht herzlich und entwaffnend wirkte, son dern schwach und unsicher. Sein Gegenüber neigte den Kopf schräg nach vorn. Juri wusste nicht, was diese Geste zu bedeuten hatte. »Könnten Sie mich bitte zu ihm bringen?« Der Mann deutete auf das oberste Haus am Hang und wandte sich dann wortlos um. Im Gehen klatschte er zweimal in die Hände, woraufhin die Kinder sich zerstreuten. Juri spürte, dass er aus den Häusern beobachtet wurde, aber es kam niemand heraus, um ihn zu begrüßen, zu bedrohen oder auch nur anzustarren. Als er das letzte Haus erreicht hatte, gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, ehe er an die Holztür klopfte. Eine Stimme bat ihn einzutreten. Er schob die Tür auf und fand sich in einer kleinen, aus einem einzigen Raum bestehenden Hütte wieder, in deren Mitte in einem Steinofen ein kleines Feuer brannte. Um das Feuer saßen vier Männer: Sie hatten alle lange weiße Kinnbärte und trugen weiße Turbane und Gewänder. Alle vier hatten ein schmales Gesicht mit tief liegenden, wässrigen Augen. Sie sahen aus, als säßen sie dort schon seit Jahrhunderten, als wären sie zeitlose Gestalten, im Feuer erprobt, aber immer noch Beobachter und Hüter von Geheimnissen. »Su chen Sie Hadsch Porat?«, fragte einer von ihnen auf Tadschikisch. Als Juri nickte, standen drei von ihnen auf und gingen wortlos hinaus. Der eine, der zurückblieb, betrachtete ihn ernst. »Ich bin Porat. Bitte nehmen
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Sie Platz und trinken Sie eine Schale Tee.« Der Mann goss dünnen Tee aus einer ramponierten Aluminiumkanne in eine schmutzige Keramikschale und reichte sie Juri mit beiden Händen. »Sie wissen, wer ich bin und warum ich hier bin?«, fragte Juri. »Natürlich. Sie wollen sich hier umsehen, weil hier ein Museum der Kultur Tadschikistans gebaut werden soll. Eine ungewöhnliche Ortswahl, würde ich sagen. Außerhalb der Stadt, an einem lawinenge fährdeten Hang. Völlig ungeeignet für ein Museum.« Juri war plötzlich sehr unbehaglich zumute. Er hatte nicht damit gerechnet, Porat die ganze Situati on erklären zu müssen. Der Mann, von dem er mit dieser Mission betraut worden war, hatte ihm gesagt, Porat sei bereits informiert und mit dem Austausch einverstanden. Juri sei lediglich der Kurier, ausge wählt aufgrund seiner Intelligenz, seines Ehrgeizes und der Tatsache, dass ihn hier niemand kannte. Und weil er die Sprachen der Region fließend be herrschte. Verlegen räusperte er sich und wollte ge rade etwas sagen, als Porat ihm mit einer Bewegung seiner langen, schmalen Hand Einhalt gebot. »Sie brauchen es mir nicht zu erklären. Ich kenne den wahren Grund Ihres Besuches. Mir wurde ge sagt, dass Sie ein Foto von Akbarkhan dabeihaben. Darf ich es bitte sehen?« »Hadsch Porat, ich weiß nicht, ob …« Porat hob seinen Stock und ließ ihn mit beiden Händen auf Juris Teeschale niedersausen. Das tönerne Gefäß zerbrach mit einem Knall, der sich anhörte wie ein Schuss.
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»Ich kann mir vorstellen, wie er aussieht. Was ihr ihm angetan habt. Ich bin vorbereitet. Lassen Sie mich das Bild sehen.« Juri zog das Foto zwischen zwei Seiten seines Ta dschikisch-Wörterbuchs heraus und reichte es Porat. Es zeigte einen jungen Mann in einem Kranken hausbett. Eine Hand stützte seinen Kopf. Rund um seine zugeschwollenen Augen wies seine Haut schwarze und scheußlich violette Blutergüsse auf. Seine Nase war so viele Male und auf so verschiede ne Arten gebrochen, dass sie fast flach aussah. Seine aufgeplatzten und geschwollenen Lippen waren leicht geöffnet und gaben den Blick auf einen bluti gen Mund voller abgebrochener Zähne frei. Er sah aus, als wäre er in Wein getaucht und sein Kopf auf geblasen worden. Die Blutergüsse setzten sich bis zu seinen Schultern fort, wo das Foto endete. Porat ver suchte ein Schluchzen zu unterdrücken und stieß stattdessen ein lautes Keuchen aus, das ihm den Atem raubte, sodass er sich für einen Moment zu sammenkrümmte. Juri hielt sich ganz still. »Was wirft man ihm vor?«, fragte Porat, nachdem er sich wieder aufgerichtet und seinen Turban zu rechtgerückt hatte. »Ich weiß es nicht, Hadsch. Aber ich kann Ihnen versprechen …« »Ein Versprechen aus dem Mund eines Stellver treters der Sowjetregierung ist weniger wert als der Atem, der nötig ist, um es auszusprechen. Aber was bleibt mir für eine Wahl?« Juri gab ihm keine Ant wort. »Sehen Sie?« Porat trat in eine Ecke des Raumes, wo eine auf
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wändig verzierte Kupfertruhe stand. »Ich bin sicher, dass Sie für Ihre Arbeit hier gut bezahlt werden. Ein junger Mann wie Sie kann alles haben, Autos, einen interessanten Beruf, Mädchen. Ein schönes Haus für Ihre Mutter. Aber was auch immer Sie dafür be kommen, es wird weniger wert sein als das, was Sie zurückbringen. Trotzdem würde ich das, was Sie zu rückbringen, tausend Mal hergeben, um Akbarkhan zu retten, meinen Sohn. Meinen einzigen Sohn. Ak barkhan ist der letzte männliche Nachfahre des sa manidischen Wissenschaftlers und Musikers Ferahid. Ich kann diese Abstammungslinie über mehr als tau send Jahre zurückverfolgen, von einem Vater zum nächsten. Können Sie mir sagen, wie weit Ihre Fami lie zurückreicht? Wer sind Sie?« Porat musterte ihn eindringlich. Juris Vater arbeitete in einer Fabrik, die Dreh bänke herstellte, seine Mutter war Sekretärin in ei nem Moskauer Parteibüro. Seine Großeltern waren Bauern. Mit ihnen endete sein Stammbaum. Deswe gen zog Juri es vor zu schweigen. »Es spielt wahrscheinlich auch keine Rolle«, fuhr Porat fort, während er die Kupfertruhe aufschloss und ein sorgfältig umhülltes Päckchen herausholte. »Ich und mein Vater, und davor schon dessen Vater und alle unsere Vorväter haben Jahrhunderte ge braucht, um diese Flöten zu finden. Nun gehören sie Ihnen. Der größte Schatz unserer Familie als Preis für deren Fortbestand. Eine schmerzliche, aber letzt endlich sehr leichte Wahl.« Juri öffnete das Päckchen und fand darin zwei Flöten, eine goldene und eine silberne. Er drehte sie
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um und wollte gerade die Inschrift in Augenschein nehmen, als Porat mit seinem Stock gegen den Ofen schlug. »Packen Sie sie weg und hören Sie mir zu: Sie sind hier kein Gast. Ich erwarte, dass Sie noch heute Abend informieren, wen auch immer Sie in formieren müssen, und die sofortige Freilassung meines Sohnes veranlassen. Verflucht seien Sie, wenn Sie es nicht tun. Ich möchte, dass er nach Hau se kommt. Und nun gehen Sie«, sagte er und wandte Juri den Rücken zu, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte. Auf dem Rückweg zu Krawtschuk und dem Wa gen kam Juri kein einziger Mensch unter. Niemand ließ sich blicken, aber aus allen Häusern drangen unaufhörlich Schnalzlaute zu ihm heraus: Genau so hatte auch seine Mutter mit der Zunge geschnalzt, wenn er als Kind etwas Unrechtes getan hatte. Was hier auch tatsächlich der Fall war. Dass er bei der ganzen Sache nur eine kleine, eher unbedeutende Rolle gespielt hatte, tröstete ihn wenig, wenn über haupt. Er hatte sich sein Leben lang gewünscht, das Fergana-Becken zu sehen, und nun, da sich dieser Traum erfüllt hatte, waren ihm die ersten Tadschi ken, die er getroffen hatte, voller Hass begegnet. Entweder war Porats Sohn ein Krimineller und er, Juri, überbrachte nun eine Art Bestechungsgeld, mit dem er freigekauft werden sollte. Oder der Sohn war entführt worden, um die Familie zur Herausgabe der beiden seltsamen Flöten zu zwingen, die er nun in seiner Tasche trug. Er fragte sich, was an diesen Flö ten so Besonderes war, dass jemand, der genug Macht besaß, um einen Mann aus dem Gefängnis zu
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befreien und einem unpolitischen Linguisten eine glorreiche Zukunft zu garantieren, sie um jeden Preis haben wollte. Juri wusste aus Erfahrung, dass es oft mehr schadete als nützte, wenn man sich zu viele Gedanken machte, und deswegen verbannte er die Fragen, die sich ihm aufdrängten, sofort wieder aus seinem Kopf. Als er wieder beim Wagen ankam, saß Krawtschuk mit einem Buch und einem Bier auf der Motorhaube. Er trank den letzten Schluck und schleuderte die Flasche dann weg, so weit er konnte. Mit einem be friedigenden Plopp landete sie im Syrdarja. »Gab es irgendwelche Probleme?« »Nein. Was haben Sie gelesen?« Krawtschuk hielt den Band hoch und warf einen Blick auf den Buchrücken. »Eine Geschichte Usbekis tans, vom Sowjetkommitee zur Frage der kaukasi schen und zentralasiatischen Bruderschaft.« Juri kannte das Buch: ein klischeebefrachtetes, schwerfälliges und typisch sowjetisches Machwerk, in dem die Völker Zentralasiens durch die ruhmrei chen Errungenschaften des Marxismus-Leninismus aus einem Sumpf von Aberglauben und Barbarei ge rettet wurden. »Interessant?«, fragte Juri ohne wirkli ches Interesse. »Sehr. Ich war gerade bei der Grube voll Ungezie fer.« Muzaffar Khan, ein usbekischer Herrscher, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gelebt hatte, war dafür berüchtigt gewesen, dass er seine Gegner in ein tiefes Loch warf, in dem Nagetiere, Skorpione und Würmer herumkrochen. Hin und wieder ließ
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Muzaffar seinen königlichen Imker auch ein Hornis sennest in die Grube werfen. Die Sowjethistoriker liebten solche Geschichten. Sie verwandten darauf mehr Zeit als auf das Buchara von Rudaki, Avicenna und Firdausi (und anscheinend auch Ferahid: Juri nahm sich vor, sich über ihn zu informieren, wenn er wieder zu Hause war). »Dabei gibt es wirklich we sentlich sauberere Methoden, um einen Streit zu klären oder einen Gegenspieler loszuwerden«, er klärte Krawtschuk grinsend. Juri nickte bloß geistesabwesend. Er ließ sich auf den Beifahrersitz sinken und schloss die Augen. Deswegen bekam er auch nicht mit, wie Krawtschuk unter seinen Sitz griff und einen grauen Metallge genstand hervorholte. Falls Juri ein Klicken hörte, dachte er wahrscheinlich, dass Krawtschuk seinen Sitz anders einstellte. Erst als er etwas Kaltes an sei ner Schläfe spürte, öffnete er die Augen, sah aber nur noch einen weißen Blitz.
GEGENSTAND 3 Eine Flöte, zylindrisch geformt, 28,3
Zentimeter lang und 2,1 Zentimeter breit, mit sechs
Fingeröffnungen auf der einen Seite und einer für
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den Daumen auf der gegenüberliegenden Seite. Gleich unter dem Mundstück ist eine Sonne persi schen Stils und eine Inschrift in persischer Sprache eingraviert: »Gold und doch nicht unser Gold.« Die Flöte besteht tatsächlich aus Gold, beziehungsweise aus einem hohlen goldenen Zylinder, der mit Schwe felpulver gefüllt und an beiden Enden sowie den Rändern der Fingeröffnungen versiegelt ist. Der Schwefel dämpft den Klang der Flöte. Nur wenige Musiker brachten mehr als ein heiseres Kräch zen oder gelegentlich ein Pfeifen auf ihr zustande. Die Tatsache, dass Ferahid bei dieser Flöte Schwefel ver wendet hatte, wurde im Grunde erst dadurch bekannt, dass nur so wenige fähige Musiker in der Lage waren, ihr einen Ton zu entlocken. So berichtet der samanidi sche Historiker Ghazi Jaffar Sharaf: Ismail, der hocherfreut darüber war, dass er von seinem Musiker Ferahid eine prächtige goldene Flöte geschenkt bekommen hatte, versuchte eine ganze Weile ohne Erfolg, das Instrument zu spielen. Vor Enttäuschung warf er schließlich mit der Flöte nach seinem Musiker, woraufhin sie von einer Säule des Palastes abprallte und ein wenig gelbliches Pulver herausfiel. Ein Teil davon landete im Feuer und stank. Ferahid verteidigte es als »ein geheimes und wundersames Mittel für alle erdenklichen Umwand lungen und Arzneien«. Er schmolz daraufhin mehrere sei ner eigenen Schätze ein, um die Flöte zu reparieren, und gab sie dann abermals Ismail, der Sommerblüte Bucharas, der sich darüber äußerst glücklich zeigte. Dann rief Ferahid den Oud-Spieler und die Meister von Doura und Doira herbei und spielte unter größter Anstrengung eine Melodie,
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die er selbst komponiert hatte, und der Klang, den Ismails goldene Flöte hervorbrachte, unterschied sich von dem Klang einer gewöhnlichen wie die süßeste Sommertraube von einem Klumpen Wüstensand. Wie so viele Gegenstände im Arbeitszimmer eines Alchemisten soll auch die Flöte eher an etwas erin nern, als eine Melodie hervorbringen: Sie steht für Prinzipien und verkörpert eine dreifache Metapher: 1. Gold ist natürlich ein wertvolles Metall, und lange Zeit wurden Alchemisten (zu Recht oder nicht) mit der Umwandlung von wertlo sen Metallen in wertvolle in Verbindung ge bracht. Als solches stellt das Gold das Endsta dium des alchemistischen Prozesses dar, näm lich die am grundlegendsten veränderte und dadurch unveränderliche Substanz. 2. Die Sonne steht sowohl für das Gold als auch für das Feuer der Umwandlung. Sie ist der al chemistische Vater, die aktive, heiße, durch dringende Kraft in dem Prozess. 3. Schwefel, womit Ferahid die Flöte füllte, steht für dieselben männlichen Prinzipien wie die Sonne. In Kabeljauws Theorie der Metal le ist der Schwefel »die Urform aller Metalle, und obwohl er stinkt wie der Teufel, müssen wir trotzdem Umgang damit pflegen, denn durch ein wenig Kenntnis der dämonischen Prinzipien können wir vielleicht über das ak tive Verhängnis – das heißt die Versuchung – und das passive Verhängnis der Unwissenheit triumphieren«.
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HERSTELLUNGSDATUM 1000 n. Chr.
HERSTELLER Hamid Shorbat ibn Ali ibn Salim Fe rahid. Ferahid war Musiker und Astronom am Hof der Samaniden in Buchara. Er war außerdem ein Lehrer von Abu Ali ibn Sina (Avicenna) und besaß die größte Bibliothek in Buchara. Er arbeitete sein Leben lang an einem einzigen Werk, das nie fertig gestellt und nie gefunden wurde. Sein berühmter Schüler berichtete, dass Ferahid »das menschliche Wissen von Gott weiter ausgedehnt hat als irgendje mand vor ihm, aber keinen Ruhm für seine Arbeit will, weil ihm der Gedanke, seine Entdeckungen könnten für dunkle, der göttlichen Weisheit wider sprechende Zwecke verwendet werden, sehr zusetzt, so sehr, dass ich um seine Gesundheit und seinen Geisteszustand bange. Er will auf keinen Fall sein Haus verlassen, aber ich habe die Wunder gesehen, von denen er spricht, und könnte ihre Größe vor der Welt bezeugen.« Als Ferahid starb, berichtete Avicenna, sein Leh rer »ging vergangene Nacht unter höchst grotesken und schrecklichen Umständen an den Busen Gottes. Jede Spur seines mächtigen Werks ist verschwunden, und ich fürchte tatsächlich, dass man sich seiner le diglich als Handwerker erinnern wird.« HERKUNFTSORT Obwohl Ferahid dem Hof der Sa maniden in Buchara diente, lebte und arbeitete er in Khojand, wo diese Flöte wahrscheinlich hergestellt wurde.
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LETZTER BEKANNTER BESITZER Porat Badhmadul lajew, Bewohner der tadschikisch-usbekischen Grenzstadt Bilanjan, die an der Mündung des Ferga na-Beckens gegenüber von Leninabad (dem frühe ren und zukünftigen Khojand) auf der anderen Seite des Flusses liegt. Porat war der neunundneunzigste männliche Nachfahre von Ferahid, und er vollendete das Werk, das von Ferahids Enkeln begonnen wor den war: Er fand die Flöten seines Vorfahren und brachte sie in seinen Besitz. Während des Niedergangs der SamanidenDynastie im frühen zwölften Jahrhundert wurden die Flöten als Tribut nach Bagdad geschickt, wo al-Idrisi sie gewann, als er sich bei einem Geschicklichkeits spiel mit dem Kalifen maß. Er nahm sie mit an seine neue Wirkungsstätte als Hofgeograph des siziliani schen Königs Roger II., aber nachdem er 1154 bei dem Versuch verschwand, eine Landkarte von Euro pa zu erstellen, gab es über die Existenz der Flöten nur noch Gerüchte. Im vierzehnten Jahrhundert be richtete einer von Porats Vorfahren, sie in Venedig gesehen zu haben. Zwei Jahrhunderte später wurde ein anderer seiner Vorfahren in Trivandrum gehängt, nachdem er versucht hatte, einem reichen Landbe sitzer eine goldene Flöte zu stehlen. Porat verriet nie, wie er an die Flöten gekommen war. Juri Kulin, ein vielversprechender junger Lingu ist, der sich auf die zentralasiatischen Sprachen spe zialisiert hatte, wurde nach Bilanjan geschickt, an geblich, um Porats Geschichte für ein lange geplan tes, aber nie gebautes Museum tadschikischer Kultur aufzuzeichnen. Wie ein Großteil des Fergana
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Beckens wurde auch Bilanjan zu der Zeit zuneh mend unruhig, gepackt von dem im späten zwanzigs ten Jahrhundert einsetzenden islamischen Glaubens fanatismus. Laut dem Bericht des sowjetischen Mili tärs – der natürlich der offizielle Bericht ist – sollen Porats Brüder Juri Kulin erschossen und seine ver stümmelte Leiche anschließend den Hang bis zum Flussufer des Syrdarja hinuntergerollt haben, wo er vor den Füßen von Kulins Begleiter landete, Unter offizier Alexei Krawtschuk, der die Behörden über seinen Tod – und den Zustand seiner Leiche, der Ohren, Hände und Kopf abgeschnitten worden wa ren – informierte und in diesem Zusammenhang be richtete, Porats Brüder hätten in ihrem Dorf trium phierend in die Luft geschossen. Drei Stunden spä ter wurde Bilanjan bombardiert und dem Erdboden gleichgemacht. Noch später an diesem Tag beging Akbarkhan Badhmadullajew, der im LefortovoGefängnis festgehalten wurde, weil er unter dem Verdacht stand, ein Terrorist zu sein, Berichten zu folge »Selbstmord, indem er wiederholt in die Gitter stäbe seiner Zelle rannte«. Drei Tage später ver schwand Unteroffizier Krawtschuk, und niemand hat seitdem je wieder etwas von ihm gehört. GESCHÄTZTER WERT Allein das Gold der Flöte wäre eine fünfstellige Summe wert. In Anbetracht ihres Alters und ihrer aufregenden Geschichte könnten es ohne weiteres sieben Stellen werden. Was würden Sie für Aladins Wunderlampe bezah len?
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Die Sonne ist sein Vater, der Mond seine Mutter.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster der Redaktion sah, schimmerte der Lake Massapaug still und tief wie ein Opal in der Spätherbstsonne. Keine Boote, Schwimmer oder Fischer störten das Bild. Im Büro klingelte kein Telefon, und weder Art noch ich sagten etwas. Es war kurz nach neun, sodass Austell noch nicht eingetroffen war, und Nancy hatte Ur laub. Eine leichte Brise kräuselte die Randbereiche des Sees und ließ die nahezu kahlen Äste über dem Dach der Redaktion hin und her schaben. Wir saßen in Arts Büro, er mit einer Zigarette und einer Tasse Kaffee, ich mit einer Zeitung. Der Morgen hatte noch nicht so richtig begonnen, sich zu einem Tag zu formen. Ich hatte den Vorabend damit verbracht, mir auf einem öffentlichen Sportsender eine dieser schreck lichen Footballsendungen anzusehen, die während der Woche liefen. Um diese Zeit des Jahres entwi ckeln die meisten Jets-Fans eine Art Sodbrennen, das im Grunde nie wieder richtig vergeht. Mein Bru der Victor beschreibt die Strategie der Mannschaft als »erst beschissen spielen, und dann um des nack ten Überlebens willen nicht locker lassen«: Nach dem sie im September und Oktober vier Spiele ver loren haben, die sie hätten gewinnen sollen, gewin
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nen sie dann im November und Dezember drei Spie le, die sie hätten verlieren sollen, humpeln in die Play-offs und werden in der ersten Runde übel nie dergemacht. Es ist immer dasselbe. Letztes Jahr bin ich extra nach Hause gefahren, um mir mit Vic, seiner Frau Anna und meinem Nef fen Chris eines dieser Spiele anzusehen. Das war in der schlimmsten Phase meiner Trennung von Mia gewesen, was dazu führte, dass ich zu viel trank, mich gegenüber Vic und Anna abfällig über Mia äu ßerte und dann kurz vor dem Anstoß auf der Couch das Bewusstsein verlor. Anna war eine von diesen nervösen Müttern, die sich schon zu einem sehr frü hen Zeitpunkt über das Harvard-Studium ihrer Sprösslinge Gedanken machten. Wenn ein eigensin niger Onkel vor Liebeskummer soff und fluchte und dann seinem Neffen auch noch fast mit seinem zur Seite kippenden, bierschweren Kopf den Schädel einschlug, dann fand sie das alles andere als beein druckend. Nun ja. Was die Play-offs betraf, hoffte ich dieses Jahr auf eine Einladung von Art – er und seine ausgeglichene Familie waren im Großen und Ganzen viel unkomplizierter als meine entropische, nervöse – , im Grunde würde ich mich aber auch mit einer Ein ladung von meiner Couch zufrieden geben. Schnelle und energische Schritte auf der Holz treppe, die zu unseren Redaktionsräumen hinauf führte, rissen mich und Art aus unseren Träumerei en. Wir starrten beide auf die Tür, die einen Mo ment später mit Schwung aufflog. »Weißt du eigentlich, dass ich das hier für dich vorbereite, damit du es während des Tages zu dir
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nimmst? Du kannst nicht mehr nur von Tabak und Koffein leben. Nicht in deinem Alter und mit dei nem Herzen.« Donna Rolen steuerte theatralischen Schrittes auf den Schreibtisch ihres Mannes zu und streckte ihm eine Tupperdose mit einem Sandwich und einem Apfel hin. Er verzog ebenso theatralisch das Gesicht, nahm die Dose entgegen, hob den De ckel ab und steckte die Nase hinein. Donna schnaubte und wandte sich dann an mich. »Hallo, mein Lieber. Triezt er dich zu sehr? Ist das ein Schinkensandwich? Isst du jetzt schon dein Mit tagessen?« Ich muss an dieser Stelle beschämt zugeben, dass ich tatsächlich um neun Uhr morgens ein Schinken sandwich aß. »Nein, ja, und nein. Der Schinken ist mein Frühstück – ich habe eine holländische Mutter. Für die Mittagspause habe ich mir heute nichts mit gebracht. Ich muss auf meine mädchenhafte Figur achten.« Sie lachte laut genug, um die Schindeln auf dem Dach zum Wackeln zu bringen, und viel lauter, als mein schwacher Witz es verdiente. »Du wirst bald nur noch Haut und Knochen sein! Wie kannst du einen vernünftigen Gedanken fassen, wenn du nichts isst? Auf diese Weise wird nie was Ordentli ches aus dir werden!« Sie entriss ihrem Mann die Tupperdose und stellte sie vor mich hin. »Er isst es ja sowieso nicht! Er tut nur so, um mich bei Laune zu halten. Nimm du es. Es ist Truthahn. Magst du Truthahn?« Ich nickte. »Dann lass es dir schmecken. Und lass dich nicht von ihm schikanieren.« Sie deu tete auf ihren Gatten, der sein Einsichtiger
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Ehemann-Gesicht machte und auf seinem Stuhl ein Stück nach unten rutschte. »Wenn er dir irgendeinen Quatsch aufs Auge drückt, dann weißt du ja, was du zu tun hast, oder?« »Gegenquatschen? Meinen geheimen Anti Quatsch-Ring einsetzen?« Donna sah mich an, als wäre mir gerade ein zwei ter Kopf gewachsen – ich befürchtete schon, ihre von der Sittenstrenge Neuenglands geprägten Gefühle verletzt zu haben –, aber dann lachte sie noch viel lauter als vorher. »Du musst unbedingt RAUS HIER! Such dir ein paar junge Leute, stell was an! Wirklich, Art ist glücklich, dich hier zu haben, nicht wahr, Schatz?« – obwohl sie nicht einmal zu ihm hinübersah, um sich ihre Worte von ihm bestätigen zu lassen, registrierte ich sein Nicken, gefolgt von einem leichten Verdre hen der Augen –, »aber in deinem Alter sollte man doch eigentlich die ganze Nacht unterwegs sein. Wir werden auch ohne dich recht gut klarkommen, musst du wissen.« Das wusste ich in der Tat. Art und Donna kamen mit so ziemlich allem klar. Sie hatten in mehr Län dern gelebt, als der Großteil der Leute jemals im Urlaub besuchten, und ihr »nörgelnde Ehefrau/unter dem Pantoffel stehender Ehemann«-Spiel war tat sächlich nur ein Spiel: eine behagliche, leichte Ko mödie, hinter der sich eine tiefe und erprobte Liebe verbarg. Meine eigenen Eltern hatten sich schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr im selben Raum aufgehalten, während diese beiden hier in vierzig Jahren kaum mal eine Nacht voneinander getrennt
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gewesen waren. Donnas Familie lebte seit fast zwei hundert Jahren in Lincoln, und sosehr sie auch über den eigenbrötlerischen Puritanismus und die stoi sche Frostigkeit der Neuengländer witzelte, bekoch te sie mich doch einen ganzen Monat lang jeden Abend, als ich hierher umzog, und wenn ich sie traf, ging ich nie mit leeren Händen, selbst wenn das manchmal bedeutete, dass sie ihrem Mann sein Mit tagessen entriss und es stattdessen mir gab. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte sie Art. Er schüt telte den Kopf. »Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte ich. »Ja, Junge, du bist gefeuert. Mein einziger arbei tender Reporter« – er sah mich an und verdrehte die Augen, während er mit Donna sprach –, »und da glaubt er, ich hätte vor, ihn rauszuwerfen, damit Austell aus der Zeitung Carrier & Stream machen kann. Nein, es besteht kein Grund, besorgt zu sein. Donna und ich haben gestern über deinen Nachruf gesprochen, und …« »Ich bin diesem Professor nie begegnet«, unter brach ihn Donna, »obwohl ich inzwischen wirklich fast jeden in dieser Stadt kenne. Na ja, abgesehen von den Wochenendlern«, fügte sie hinzu, wobei sie Letzteres aussprach wie andere Leute das Wort »Ka kerlaken«. »Aber ich glaube, ich habe von ihm ge hört.« Ich griff nach meinem Notizbuch. »Wie denn das? Über wen?« »Unsere neue Musiklehrerin.« Donna arbeitete als Bibliothekarin an der Talcott Academy, der örtli chen College-Vorbereitungsschule. »Sie hat das Erd
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geschoss von Mary DeSouzas Haus in der Orchard Street gemietet. Hat dein Professor in der Orchard gewohnt?« Ich warf einen Blick auf meine Notizen und nick te. »Dann muss er es sein. Sie erzählt immer von dem seltsamen alten Mann, der ihr gegenüber wohne, und dass er keine Freunde habe und aus dem Ausland stamme und so viele faszinierende Sachen wisse, und wie traurig das doch sei und so weiter und so fort. Sie kocht hin und wieder für ihn und spielt mit ihm Schach. Na ja, ich sollte vielleicht besser sagen, sie hat für ihn gekocht und mit ihm Schach gespielt.« »Wie heißt sie?« »Hannah Rowe. Sie hat erst dieses Schuljahr an gefangen, aber es sind schon alle unsere kleinen Jungs in sie verliebt.« »Ist sie so hübsch?« Ich bemühte mich um einen möglichst neutralen Ton, aber da ich in letzter Zeit so wenig Übung in Sachen Liebe gehabt hatte, klang meine Frage wohl doch dringlicher als beabsichtigt. »Na also«, sagte Donna mit einem breiten Grin sen, »demnach ist er also doch ein menschliches We sen.« Sie lachte, und ich wurde rot. »Hannah ist recht gut aussehend. Wenn auch ein bisschen zu groß für meinen Geschmack.« Donna legte eine kurze Pause ein, ehe sie in leiserem Ton fortfuhr: »Bei den ande ren Lehrkräften ist sie allerdings nicht gerade be liebt. Obwohl ich selbst mit ihr nie irgendwelche Probleme hatte.« »Warum? Mögen die Leute sie nicht?« »Nun ja, doch, aber … vielleicht sollte ich lieber
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meinen Mund halten. Dass eine hübsche junge Frau bei diesen ganzen alten Gruftis für ziemlichen Auf ruhr sorgt, ist schließlich ganz normal.« Ich nickte unverbindlich. Ich hatte noch nie er lebt, dass Donna auch nur ansatzweise Kritik an je mandem übte, den sie kannte, und sie schien sich dabei sehr unbehaglich zu fühlen. »Dann magst du sie also?«, fragte ich. »O ja, doch, natürlich, aber so gut kenne ich sie nun auch wieder nicht. Sie ist ausgesprochen freund lich und sehr gewissenhaft, was die Pausenaufsichten und diese Dinge betrifft.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich weiß nicht, ob wir sie jemals zum Essen einladen werden oder so was in der Art. Aber sie ist wirklich recht nett.« »Verstehe. Glaubst du, sie wird mit mir reden?«
»Na, ich denke schon. Jedenfalls hoffe ich das. Mit deinem Charme hast du da sicher keine Proble me.« Sie tätschelte mein Knie. »Was das betrifft, bin ich mir nicht so sicher, aber trotzdem danke. Weißt du zufällig ihre Privatnum mer?« »Ihre Privatnummer? Wir haben es ganz schön ei lig, was?« Sie zwinkerte mir zu. »Ich selbst habe sie nicht, aber du kannst sie wahrscheinlich über die Auskunft rausbekommen. Oder ruf doch einfach in der Schule an. Da erreichst du sie bestimmt. Und ich sollte allmählich auch wieder dorthin zurück. Ich ha be zu Joanie gesagt, ich sei nur fünf Minuten weg.« Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah dann aus dem Fenster: Wie die meisten alteingesessenen Lin colner ließ sie immer den Motor laufen, wenn sie nur
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kurz etwas zu erledigen hatte. (Ein Verhalten, an das ich mich immer noch nicht so recht gewöhnt hatte.) »Also«, rief sie an Art gewandt, »du wirst heute etwas essen, ja? Paul bekommt das Sandwich, das ich für dich gemacht habe, und du kannst schnell nach Hau se sausen und dir was aus dem Kühlschrank holen.« »Vielleicht möchtest du mir auch noch sagen, was genau ich essen soll? Und nachdem du schon mal da bist, könntest du mich eigentlich auch gleich daran erinnern, dass ich nicht immer so lange vor dem of fenen Kühlschrank stehen darf.« Art spielte mittler weile den gelangweilten Schuljungen, indem er pro vozierend das Kinn auf die Hand stützte. Donna fuchtelte einen Moment mit der Faust vor seiner Nase herum, dann küsste sie ihn auf die Stirn. »Er hat Glück, dass ich ihn liebe, weil ich ihn sonst nämlich umbringen müsste. Arbeitet nicht zu hart, Jungs«, fügte sie hinzu und verabschiedete sich mit einem betont koketten Winken, bevor sie die Tür hinter sich zuzog und die Außentreppe hinunterging. Sobald sie weg war, stellte ich Arts Mittagessen zurück auf seinen Tisch, aber er schob es mir wieder hin. »Iss es ruhig. Wirklich. Ich werde mir zu Hause etwas holen.« Während ich achselzuckend nach der Dose griff, überlegte ich, wann ich von meinem ei genen Vater das letzte Mal ein selbst gemachtes Sandwich bekommen hatte. Soweit ich mich erin nern konnte: nie. Er und ich standen uns nicht so nahe. Ich ging davon aus, dass Vic – Musterknabe Vic, der gleich nach dem College Jura studiert hatte, stolzer Ehemann, Vater und Hausbesitzer war, aus gezeichnet Golf spielte und mit seiner einschmei
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chelnden Art bei allen ankam – engen Kontakt mit ihm pflegte und so gut bei ihm dastand, dass es für uns beide reichte. Jedes Mal wenn mein Vater mich fragte, was ich denn so triebe, schlich sich ein leicht resignierter Ton in seine Stimme. Beim letztjährigen Thanksgiving-Fest hatte er mir gesagt, dass »eine Menge sehr erfolgreicher Leute mal so klein angefangen haben wie du«. Das war der Zeitpunkt gewesen, als ich zu Anna sagte, dass ich zum Abendessen schätzungs weise drei Bier brauchen würde. Als er mich dann auch noch wissen ließ, wie sehr er es bedauere, dass ich es mir »mit dieser gescheiten Orientalin verdor ben« hätte, erhöhte ich meine Schätzung auf sechs. Mittlerweile hatte er seine Taktik geändert und rea gierte nicht mehr mit aggressiven Ermahnungen, sondern mit einem langen, märtyrerhaften Seufzen, wenn ich ihm sagte, dass mir meine Arbeit Spaß ma che. Zurzeit konnte ich mich einfach nicht zu dem längst fälligen Anruf bei ihm durchringen, denn be stimmt würde er bei der Gelegenheit darauf beste hen, dass ich nach Indianapolis kam und Weihnach ten mit ihm, seiner nervösen, wasserstoffblondierten Frau und meinen schwachköpfigen Stiefbrüdern verbrachte. Lieber hätte ich Lauge geschluckt, wobei ich allerdings aufpassen müsste, dass ich die richtige Marke erwischte, damit Dad sich meinetwegen nicht wieder zu schämen brauchte. »Ist dir eigentlich bewusst, dass du für diesen Ar tikel so richtig professionell recherchierst?«, fragte Art. »Das ist nicht dieses übliche Gemeindezeug, das du sonst für mich machst.«
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Da ich nicht wusste, worauf er hinauswollte, nick te ich bloß unverbindlich. »So etwas gehört eigentlich nicht in den Carrier. Wir sollten versuchen, den Artikel anderswo unter zubringen.« »Wo denn?« »Deswegen habe ich dich gebeten, heute früher zu kommen«, fuhr er fort und griff dabei nach dem Telefon. »Wen rufen wir an?« »Leenie«, antwortete Art, während er wählte. »Ei leen Coughlin. Sie ist stellvertretende Chefredakteu rin bei dem großen Blatt in Boston, und sie und ich …« Er brach mitten im Satz ab. »Lee-NIE«, begrüß te er sie, wobei seine Stimme bei der zweiten Silbe deutlich höher wurde und sein Lächeln ziemlich breit. »Ja, ich bin es tatsächlich. Wie geht es dir? Warte mal einen Moment – ich werde dich auf die Frei sprechanlage schalten.« Aus Arts Telefon drang eine kehlige Frauenstim me mit starkem Bostoner Akzent: »… diese beschis sene Technik und würde lieber wie ein normaler Mensch mit dir reden.« »Leenie, erinnerst du dich, als ich dir kürzlich bei den Metzgers von dem Jungen erzählt habe, der als Reporter für mich arbeitet? Paul Tomm?« »Ja.« »Er sitzt gerade hier bei mir im Büro, und er arbei tet im Moment an etwas, was meiner Meinung nach besser bei euch als bei mir passen würde.« »Ja? Wenn dieser Junge das Artie-Rolen
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Gütesiegel trägt, dann bin ich ganz Ohr. Lasst hö ren.« Art deutete auf mich und nickte: Du bist dran. Ich erzählte ihr die Geschichte so knapp ich konnte, wo bei ich die interessanteren Punkte hervorhob (myste riöser paranoider Professor aus dem Ausland, der gern eine Waffe mit sich herumtrug und hin und wieder auch abfeuerte, keine auf Anhieb erkennbare Todesursache, anonymer Anruf eines besorgten Bür gers, Raubüberfall nicht ausgeschlossen, Opfer poli zeilich aktenkundig) und die banalste Möglichkeit (seltsamer alter Kauz stirbt einsam eines natürlichen Todes) unter den Tisch fallen ließ. »Tja«, sagte Leenie, nachdem ich fertig war. »Klingt, als könnte mehr dahinter stecken. Genauso gut könnte aber auch gar nichts dahinter stecken. Auf jeden Fall klingt es interessant. Hat Artie da die Finger im Spiel oder gibt er Ihnen nur Tipps?« »Nur ein paar weise Ratschläge, Süße!«, rief Art. »Der Kleine kann sich schon selber anziehen, und aufs Töpfchen geht er jetzt auch schon allein!« »Tun Sie mir einen Gefallen, Paul?«, bat sie la chend. »Schnappen Sie sich den Hörer, damit ich mich wie ein normaler Mensch mit Ihnen unterhal ten kann. Ich finde diese Freisprechanlagen ganz schrecklich. Danke, das ist schon besser. Also, es sieht folgendermaßen aus: Art lobt Sie in den höchs ten Tönen, und ich halte große Stücke auf ihn. Er glaubt, dass Sie glauben, einer Sache auf der Spur zu sein, und Sie selbst glauben das ja offensichtlich auch. Falls dem tatsächlich so ist, hat er Recht, dann ist es nichts für den Carrier. Also falls etwas dabei
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herauskommt, rufen Sie mich an, dann reden wir darüber. Aber auch wenn nichts dabei herauskommt, bringen wir hin und wieder Artikel über regionale Themen. Wenn Ihnen irgendetwas unterkommt, was die Tinte wert ist, dürfen Sie sich ebenfalls gern bei mir melden. So, und jetzt seien Sie so nett und ge ben Sie mir noch mal kurz Art. Viel Glück, und wir bleiben in Kontakt.« Ich reichte Art den Hörer. Er verabschiedete sich mit dem höflichen, aber wohl nicht ernst gemeinten Versprechen, sich bald einmal mit Leenie zu treffen, und legte auf. »Hat sie gesagt, dass sie Platz für dich schaffen würde?« Ich nickte. »Falls bei der Sache etwas heraus kommt. Sie hat außerdem von Artikeln über regiona le Themen gesprochen.« »Diese Chance solltest du unbedingt wahrneh men. Ihr derzeitiger Korrespondent in dieser Gegend ist als faul und unzuverlässig verschrien.« »Wer ist denn das?« »Ich«, antwortete er mit einem verlegenen Grin sen. »Ich schreibe alle paar Monate mal einen Artikel, obwohl man eigentlich ohne weiteres jeden Monat einen abliefern könnte. Die Bezahlung ist in Ord nung, die Artikel machen nicht allzu viel Arbeit, und du hättest schon mal einen Fuß in der Tür, falls du irgendwann nach Boston willst. Und glaub mir, ir gendwann wirst du wollen. Vielleicht könnte sie dir helfen, eine Stufe der Leiter zu überspringen, dann müsstest du nicht vorher nach – ich weiß auch nicht – New Haven oder Springfield, etwas in dieser Größen ordnung. Aber jetzt musst du erst mal hier weitergra
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ben.« Er neigte den Kopf und deutete auf das Tele fon. »Wie wär’s, wenn du die Musiklehrerin anrufst?«
Genauso wie Läufer von Laufschuhfirmen ge sponsert werden sollten Reporter eigentlich von den Telefonherstellern gesponsert werden: Niemand benutzt die Dinger so häufig wie wir, außer vielleicht Leute vom Telefonmarketing. Ich wählte die Num mer der Schule. Die Stimme, die sich meldete, klang nach einer verhärmten alten Grammatiklehrerin. »Talcott Academy, Mrs. Turley am Apparat. Womit kann ich Ihnen helfen?« »Ich würde gern mit Hannah Rowe sprechen.«
»Miss Rowe ist heute krank. Kann ich ihr eine Nachricht hinterlassen?« »Eigentlich müsste ich dringend mit ihr persön lich sprechen. Haben Sie vielleicht eine Nummer, unter der ich sie erreichen kann?« »Mit wem spreche ich, bitte?« »Ich bin ihr Cousin Bert«, antwortete ich. Art brach in lautloses Gelächter aus. »Ich rufe an, weil ich heute Abend durch Lincoln fahre und kurz bei ihr vorbeischauen wollte. Das Problem ist, dass ich ihre Nummer zu Hause in Philly vergessen habe und meine Frau nicht erreichen kann. Sehen Sie irgend eine Möglichkeit, mir da weiterzuhelfen?« »Oh. Nun ja, wir geben normalerweise keine … Aber ich nehme an … nachdem Sie zur Familie ge hören, kann ich eine Ausnahme machen. Hier ist die Nummer: 555-0791. Sagen Sie ihr von mir gute Bes serung.« »Vielen Dank, Mrs. Turley. Werd ich machen.«
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Ich glaubte damals nicht an Schicksal, Vorbestim mung oder irgendeines von den anderen »Zeichen göttlichen Handelns hier auf Erden«, die Hannah sah. Bevor ich Hannah kennen lernte, fand ich es bloß amüsant, wenn Leute an so etwas glaubten, ich sah darin lediglich einen harmlosen Versuch, einer grundsätzlich auf Zufall beruhenden Welt so etwas wie eine narrative Ordnung aufzudrücken. Mittler weile verachte ich derartige Versuche zutiefst: Sie sind gefährlich, wenn nicht sogar in manchen Fällen ein Ausdruck von Wahnvorstellungen, und ich weiß, dass die Leute nur aus Eitelkeit daran glauben. Al lerdings kann ich Hannah nicht verachten, ohne die selbe schlechte – oder sogar noch schlechtere – Mei nung von mir selbst zu haben, weil ich sie, wenn auch nur für so kurze Zeit, derart faszinierend fand. Ich komme auch nicht umhin, dieses erste Tele fonat immer noch als etwas Besonderes zu betrach ten. Ich habe es in einem Tagebuch aufgezeichnet, das ich an jenem Abend begann, aber ich kann mich auch so noch klar und deutlich an ihre Worte erin nern, als hätten sie sich für immer in mein Gedächt nis gebrannt. Ich erzähle diese Geschichte nicht, um ihr damit ein Denkmal zu setzen, sondern um meine Gefühle für sie wie in eine Decke in Worte zu hüllen und auf diese Weise zu überwinden. Ich werde die Erinnerungen an sie zerstören, indem ich sie bewah re. Also: Nachdem ich die Nummer gewählt hatte, die Mrs. Turley mir gegeben hatte, klingelte es dreimal. »Hallo?« »Spreche ich mit Hannah Rowe?«
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»Ja.« »Mein Name ist Paul Tomm, und ich arbeite als Reporter für den Lincoln Carrier.« Ihre Stimme klang plötzlich viel wärmer. Sie hatte ein Lächeln, das man richtig hören konnte. Noch immer trifft es mich wie ein Schlag in den Magen, wenn ich daran denke. »Oh, ich bin ein großer Fan des Carrier. Ich kenne Ihren Namen. Sie haben den Artikel über den Wiederaufbau der Old Mill ge schrieben.« »Das ist richtig. Sie verstehen es, einem Reporter zu schmeicheln.« »Das hat mit Schmeichelei nichts zu tun. Mr. Relaford, das ist unser Kunstlehrer, und ich ha ben mit unseren Schülern einen Ausflug in die Müh le gemacht, nachdem wir den Artikel gelesen hatten. Während sie zeichneten, habe ich in dem großen steinernen Raum für sie gespielt. Das war wie in ei ner Kirche zu spielen. Was für eine erstaunliche Akustik. Deswegen: vielen Dank, Paul Tomm.« Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, machte mich schon damals verlegen und dankbar. Das pas siert, wenn sich ein gesunder junger Mann monate lang in einer Kleinstadt vergräbt, ohne Kontakt mit weiblichen Wesen zu haben. Allerdings glaube ich, dass ich grundsätzlich dazu neige, Liebesgeschichten in meinem Kopf zu beginnen und nicht in der realen Welt. »Danke. Wie gesagt, wir sind hier alle Egomanen. Es gibt uns ein gutes Gefühl, unseren Namen ge druckt zu sehen. Im Grunde geht es uns nur um An erkennung. Sie haben mir also die Woche gerettet.«
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Ihr Lachen klang amüsiert und ein wenig hicksend, als hätte sie jemand gekitzelt. »Der Grund meines Anrufs ist, dass ich einen Ar tikel über Jaan Pühapäev schreibe. Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie seine Nachbarin?« »Ja.« »Haben Sie ihn in letzter Zeit ab und zu mal ge sehen?« »Lassen Sie mich überlegen. Heute nicht, gestern auch nicht, und am Dienstagabend habe ich einen Ausflug meiner Kirchen-Jugendgruppe beaufsichtigt. Normalerweise schaue ich einmal am Wochenende und einmal unter der Woche bei ihm vorbei, aber in den letzten Tagen bin ich einfach nicht dazu ge kommen.« »Das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen haben, war also am …« »Lassen Sie mich überlegen. Letzten Donnerstag oder Freitag, glaube ich. Sie schreiben also einen Artikel über ihn? Das ist eine gute Idee, er ist so ein faszinierender Mann.« Ich schwieg einen Moment. Nicht aus Respekt vor dem Verstorbenen, wie ich beschämt zugeben muss, sondern weil ich unser nettes Gespräch nicht ruinieren wollte, indem ich ein so trauriges Thema anschnitt. Aber dann musste ich daran denken, wie es wohl wäre, diese Frau, die ich noch nie gesehen hatte und mit der ich gerade erst ein paar Minuten sprach, in den Arm zu nehmen und zu trösten. »Es tut mir wirklich Leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber er ist vor ein paar Tagen gestorben.« Sie sagte eine Weile gar nichts. Dann hörte ich sie
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leise stöhnen. »Es tut mir so Leid«, sagte ich zu ihr und meinte es auch so. »Geht es wieder?« Sie schniefte. »Oh, mir geht es gut. Ich finde nur den Gedanken so schrecklich, dass er ganz allein ge storben ist. Obwohl ich sicher bin, dass er jetzt an einem besseren Ort ist.« Zu ihrer letzten Bemerkung sagte ich lieber nichts. »Meinen Sie, wir könnten uns treffen und ein bisschen über ihn reden? Ich versuche einen Artikel über ihn zu schreiben, und Sie scheinen die einzige Person in ganz Connecticut oder Rhode Island zu sein, die ihn wirklich gekannt hat.« »Einen Artikel? Sie meinen, einen Nachruf?« »Ja.« Genau genommen schon. Unter anderem. Oder in erster Linie. Sie seufzte. »Klar. Ich bin krankgemeldet, deswe gen möchte ich ungern in ein Café oder eine Kneipe gehen. Warum kommen Sie nicht einfach heute Nachmittag bei mir vorbei? Dann können wir mit einander Tee trinken.« »Gern. Sie wohnen gegenüber von Jaan?« »Jetzt wohl nicht mehr, schätze ich.« Sie stieß ein kleines freudloses Lachen aus. »Das Haus, in dem ich wohne, steht nur ein wenig versetzt, ein paar Me ter die Straße hinunter. Es hat keine Nummer, aber es ist gelblichbraun und dreistöckig, mit weißen Fensterläden. Ich wohne im Erdgeschoss.« »Danke für Ihre Hilfe.« Sie schwieg einen Moment und setzte dann zweimal zum Sprechen an, ehe sie die Worte heraus bekam. »Ich habe ihn sehr gern gehabt, müssen Sie wissen. Ich habe ihn gern gehabt, und ich möchte,
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dass die Leute sich an ihn erinnern. Selbstverständ lich mache ich das für ihn. Kommen Sie gegen vier, wenn Ihnen das passt.« »Das passt mir gut. Dann bis vier.« Wir verab schiedeten uns, und ich legte auf. Vielleicht lag es daran, dass ich seit Mia mit keiner Frau mehr geschlafen, ja noch nicht mal mit einer geflirtet hatte. Vielleicht war es der gescheiterte Akademiker in mir, der im Herbst immer ein Ver sprechen sah. Vielleicht war ich einfach nur einsam gewesen. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich das Ge fühl, als wäre ich gerade wachgerüttelt worden, und als ich den Hörer losließ, merkte ich, dass meine Hand zitterte. »Gut. Also um vier. Was machst du als Nächs tes?«, fragte Art. »Nach Hause fahren und mich fertig machen?«
Lachend lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. »Nun aber mal langsam. Die se Verabredung ist kein Rendezvous. Du arbeitest immer noch an der Story, sind wir uns da einig?« »Ja, natürlich. Entschuldige. Ich schätze, als Nächstes rufe ich …« »Genau. Du rufst den Panda an und fragst, ob es heute schon irgendwas Neues gibt.« Ich rief im Büro des Coroner an. Wider Erwarten meldete sich eine Frau, deren Stimme nasal und ge dämpft klang. »New Kendal County, Gerichtsmedi zin.« »Dr. Sarath … Schata …« Ich warf einen Blick auf die Visitenkarte, die Art mir gegeben hatte, und las den Namen langsam vor – »Sunathipala, bitte.«
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»Sind Sie ein Angehöriger?« »Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht recht – Sie meinen, ob ich ein Angehöriger eines der Verstorbe nen bin, die bei Ihnen untersucht werden?« »Nein, ich möchte wissen, ob Sie ein Angehöriger von Dr. Sunathipala sind.« »Das bin ich nicht, und …« »Mit wem spreche ich bitte?« »Paul Tomm. Ich bin Reporter. Und ein Freund von ihm«, schwindelte ich. »Dann bedaure ich, Ihnen mitteilen zu müssen«, erklärte sie in förmlichem Ton, »dass Dr. Sunathipala gestern Nacht ums Leben gekom men ist. Er wurde auf dem Heimweg von einem Wa gen überfahren.« »Er ist tot? Was ist …? Aber ich habe doch erst gestern mit ihm gesprochen. Das kann doch nicht …« Art starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund an. Er hatte gerade nach der Zigarettenschachtel in seiner Brusttasche greifen wollen und war mitten in der Bewegung erstarrt. Jetzt schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts. Aus seiner Miene sprachen Schock, Angst, Fassungslo sigkeit. »Ich weiß. Wir sind alle entsetzt. Er war so ein netter Mensch. Wir halten hier in der Arbeit einen Gedenkgottesdienst für ihn ab. Was die Familie ma chen wird, weiß ich noch nicht.« Ihre Stimme klang immer gepresster, als versuchte sie ein Schluchzen zu unterdrücken, was ihr aber nicht so ganz gelang. Was sollte ich darauf sagen? Ich wollte nur so
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schnell wie möglich auflegen. »Es tut mir wirklich
Leid.« »Danke.« Ich dankte ihr ebenfalls noch einmal, legte auf und erzählte es Art. Er saß eine ganze Weile reglos da, den rechten Daumen und Zeigefinger an seinen Nasenrücken gepresst, sodass ich schon dachte, er wäre eingeschlafen. Dann begann er sich langsam aus seiner Erstarrung zu lösen und ließ sich nach vorn auf seinen Schreibtisch sinken. Ich stand leise auf und wollte ihm gerade eine Hand auf die Schulter legen, als er sich wieder aufrichtete. »Ich bin nur … Weißt du, da arbeitet man in so vielen Kriegsgebieten, dass man irgendwann mehr Tote als Lebende kennt«, sagte Art leise. »Aber leichter wird es dadurch trotzdem nie.« Er griff in seine Tasche und zog ein Blatt Papier heraus, das wohl schon ziemlich alt war, weil es ganz weich und zerfleddert aussah. »Das hat mir vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren ein Bischof aus Hebron gegeben. Ich lebte damals in Beirut und be richtete über den Bürgerkrieg. Ich weiß noch genau …« Er machte eine abwehrende Handbewegung und schüttelte schnell den Kopf, als würde er einen Ge danken gleich wieder beiseite schieben. »Ein an dermal. Jedenfalls hatte sich dieser Bischof auf ei nem Hügel einen kleinen Schuppen gebaut. Die Siedlerbewegung kam unter Begin gerade erst so richtig in Schwung, und der Bischof wollte auf diese Weise gegen die Idee protestieren, dass Gott einer bestimmten Gruppe von Leuten Land versprochen habe und anderen nicht. Deswegen verließ er seine
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Kirche und zog in diese winzige Hütte, wo er – aus gestattet mit Wasser, aber ohne Nahrung – vierzig Tage und Nächte bleiben wollte, aber nach ungefähr drei Wochen tauchte irgendein Arzt auf, der aus Brooklyn gekommen war, um sich in Gottes Hände zu begeben. Er schoss dem Bischof in die Seite, um ihn anschließend in das Krankenhaus der Siedlung zu bringen und eigenhändig zu operieren – und ihm dadurch das Leben zu retten. Er hatte nicht vorge habt, den Geistlichen zu töten, er wollte ihn bloß nicht auf diesem Hügel haben. Ein paar von uns zo gen damals los, um den Bischof zu interviewen. Ich werde das nie vergessen: Er hat gesagt, jedes Mal wenn sein Glaube auf die Probe gestellt werde – was wahrscheinlich ziemlich oft der Fall war –, suche er nicht Trost in den Evangelien oder der Offenbarung oder irgendwelchen Verheißungen eines Platzes im Himmel, sondern bei diesem ganz bestimmten Vers aus dem Buch Kohelet.« Und an dieser Stelle las Art von seinem Zettel vor: ›»Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.‹« Art sah mich an. »Er sagte zu mir, das erinnere ihn daran, dass der Glaube sogar bei Priestern komme und gehe – ›nicht einmal wir können ununterbro chen glauben‹, sagte er – und dass Taten mehr zähl ten als der reine Glaube. Ich weiß noch, dass er mich von seinem Krankenlager aus ansah – ein praktizie render Katholik ist immer in der Lage, einen abtrün nigen zu erkennen – und zu mir sagte: ›Sie sind we gen einer Kugel gekommen, aber wegen einer Messe
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wären Sie nicht gekommen.‹ Und er hatte Recht. Was das alles mit dem Panda zu tun hat, weiß ich auch nicht so genau. Aber dieses Stück Papier, das er in seiner Hütte dabeihatte – sieh her, auf dieser Seite steht es auf Arabisch, und hier ist es extra für mich übersetzt –, lese ich immer, wenn ein Mensch, den ich kenne, stirbt. Und glaub mir, mein Junge, das wird öfter der Fall sein, als du dir vorstellen kannst. Natürlich nur, wenn man Glück hat und selbst nicht derjenige ist.« Mit einem müden Augenzwinkern stand er auf, zog seinen unförmigen grünen Mantel an und klopfte auf seine Taschen, wie er es immer tat. »Ich werde jetzt nach Hause gehen und ein biss chen weinen. Dann werde ich zu Ananya fahren. Wir beide sehen uns morgen früh.«
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Ferahids silberne Flöte
D Hermes, Thot und Merkur: geschwind zu Fuß, ge schwind im Geiste und geliebt trotz ihres Wankel muts. Der gelehrte Galen benannte die Ahnherrin meiner Kunst nach dem lateinischen Mitglied dieses Triumvirats. Wie die Götter ist das Metall selbst, was seine Neigungen und Eigenschaften betrifft, bere chenbar, unberechenbar aber in seinem Verhalten in gewissen Konstellationen. Darin gleicht es den Frau en, dem Wasser und der Musik, die das Leben er schaffen, es erhalten und ihm Würze verleihen. D HAMID SHORBAT IBN ALI IBN SALIM FERAHID D Über die Ziele der Musik und des Sonnenlichts
GEGENSTAND 4 Eine Flöte, zylindrisch geformt, 28,3
Zentimeter lang und 2,1 Zentimeter breit, mit sechs
Fingeröffnungen auf der einen Seite und einer für
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den Daumen auf der gegenüberliegenden Seite. Gleich unter dem Mundstück sind ein Mond persi schen Stils und eine Inschrift in Farsi eingraviert: »Silber und doch nicht unser Silber.« Die Flöte be steht aus einem hohlen silbernen Zylinder, der mit Quecksilber gefüllt und an beiden Enden sowie den Rändern der Fingeröffnungen versiegelt ist. Dieses Instrument ist das bekanntere des Paares. Sein persischer Spitzname bedeutet übersetzt: »Glei tender Vermittler des Wahnsinns.« Mit »gleitend« ist gemeint, dass diese Flöte keine stabilen Töne her vorbringt: Da das Quecksilber auf die Temperatur und den Druck der Finger des Spielenden reagiert und entsprechend durch die Flöte schwappt, verteilt es das Gewicht der Flöte immer wieder neu und ver ändert auf diese Weise die Höhe und die Klangfarbe des erzeugten Tons. Ghazi Jaffar Sharaf beschreibt, wie Ferahid die Flöte Ismail überreichte: »Ferahid schenkte Ismail, der Frucht des edelsten Baumes der Samaniden, eine zweite, aus Silber gefertigte Flöte, auf deren Mund stück ein Mond und eine gelehrte Inschrift eingra viert waren. ›Man kann mit dieser Flöte mehr Töne hervorbringen als mit drei anderen unterschiedlicher Größe‹, erklärte er seinem Herrn. ›Aber sie erfordert eine Beständigkeit des Geistes, die sich in der Be ständigkeit der Finger des Spielenden widerspiegeln muss.‹ Mit diesen Worten deckte er sämtliche Öffnungen ab und blies in das Mundstück, und tatsächlich er klang ein bebender Ton, der sich nicht festlegen wollte. Mit einer Verbeugung überreichte er das In
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strument Ismail, der es mit der wohlwollenden und sanften Gutmütigkeit betrachtete, aufgrund derer man sich zu Recht an ihn erinnert. ›Musiker‹, sagte er, ›versprichst du mir deine einzige Tochter, wenn es mir gelingt, dieser Flöte einen einzelnen klaren Ton zu entlocken?‹ Ohne zu zögern, stimmte Fera hid zu. ›Musiker‹, fragte Ismail noch einmal, ›ver sprichst du mir deine einzige Tochter, auch wenn es mir nicht gelingt, einen einzelnen klaren Ton her vorzubringen, und ich sie trotzdem von dir erbitte?‹ Wieder stimmte der Musiker zu, ohne zu zögern. ›Musiker‹, fragte Ismail ein weiteres Mal, ›hast du überhaupt eine einzige Tochter?‹ Ferahid antworte te, dass Gott ihm nur einen Sohn geschenkt habe. Ismail, die Zierde von Buchara, das Haupt der gan zen Welt, legte die Flöte auf den Tisch, der seinem Thron am nächsten stand, und lächelte.« Wie ihr goldener Zwilling steht auch die silberne Flöte für drei Metaphern: 1. Silber, das etwas weniger wertvoll ist als Gold, symbolisiert die nahende Vollendung des al chemistischen Prozesses. Es steht mehr für die Bemühung als für den Triumph. 2. Wenn die Sonne der Vater ist, dann ist der Mond die Mutter und steht als solcher für die kühlen, empfangenden, reinen, weiblichen Prinzipien des Prozesses. 3. Quecksilber, das oft als »argent vive« be zeichnet wird, ist ein Symbol für die Um wandlung oder für die Alchemie selbst. Auf grund seiner Beweglichkeit und der Tatsache,
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dass es keine feste Form aufweist, ist Queck silber die Verkörperung der reinen und unbe rechenbaren Möglichkeit, und es zu zähmen erfordert eine Hand, die ihre Sicherheit eher dem Wissen als der Kraft verdankt. Die meisten Alchemisten waren sich durchaus der Ironie der Tatsache bewusst, dass Merkur unter an derem auch der Gott des Handels und des Reich tums war. HERSTELLUNGSDATUM Siehe »Ferahids goldene Flöte«. HERSTELLER Siehe »Ferahids goldene Flöte«. HERKUNFTSORT Siehe »Ferahids goldene Flöte«. LETZTER BEKANNTER BESITZER Siehe »Ferahids goldene Flöte«. GESCHÄTZTER WERT Siehe »Ferahids goldene Flö te«.
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Der Wind hat’s in seinem Bauche
getragen, die Erde ist seine Amme.
Nachdem Art gefahren war, verließ ich ebenfalls das Büro: Ich war nicht in der Stimmung, um mit Austell über den Tod zu diskutieren. Ich nahm die Route, die Art mir gleich in meinen ersten Tagen in Lincoln gezeigt hatte und die speziell für »ziellose Spazier gänge« geeignet war: zur Hintertür hinaus, den Hü gel hinunter und in den Wald hinein, dann das Flüsschen entlang, bis der Weg schließlich unterhalb der Tankstelle, die den Beginn von Lincoln Com mon markierte, auf die andere Seite hinüberführte. Als ich ziemlich genau die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht hatte, fing es zu regnen an. Es handel te sich nicht um ein leichtes Nieseln, bei dem man so tun konnte, als wäre es nur Nebel, aber auch nicht um ein richtiges Gewitter, dessen Ende man unter einem Baum abwarten konnte, sondern um jenen gleichmäßigen, kalten, spätherbstlichen Neueng land-Regen, der die ganze Welt kalt und dunkel werden lässt. Ich legte einen Zwischenstopp in mei ner Wohnung ein, die gleich gegenüber der Tank stelle lag, zog mich um, schlüpfte in eine wasserdich te Jacke und schnappte mir einen Schirm. Bei meiner Rückkehr war das Büro (zum Glück) leer. Auf meinem Schreibtisch lag ein an »Paul« ad ressierter Umschlag. Als ich ihn öffnete, fand ich dar
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in ein Dokument mit dem Kendal-County-Siegel und einer gelben Haftnotiz: »PT – Wirf einen Blick drauf, falls es dich interessiert. Falls nicht, tu dem Panda einen Gefallen und wirf trotzdem einen Blick drauf. Bitte leg es mir zurück auf den Schreibtisch, wenn du fertig bist. Viel Glück mit der Musiklehre rin. Und denk dran: Das Leben ist zum Leben da. Bis morgen. AR.« Unter dem Siegel folgte der Polizeibericht über den Tod von Vivepananda Sunathipala. Das Datum und die Uhrzeit neben der Unterschrift besagten, dass er am Vorabend um 22 Uhr 3 zu den Akten ge nommen worden war. An dem Eingangsstempel in der oberen rechten Ecke konnte ich sehen, dass der Bericht heute Vormittag um 11 Uhr 47 an Art gefaxt worden war. Ich fragte mich, wen er wohl bei der Polizei von New Kendal kannte. Dem Bericht zufol ge war der Panda von einem Wagen jüngeren Bau jahrs überfahren worden. Es war entweder ein Zweioder ein Viertürer gewesen und die Lackfarbe schwarz, grau, dunkelblau oder violett. Im Wagen hatten ein oder mehrere Insassen gesessen, die männlichen oder weiblichen Geschlechts gewesen waren. Fünf Zeugen hatten fünf verschiedene Wa gen mit fünf verschiedenen Fahrern gesehen. Zwei Rettungssanitäter hatten einen toten Coroner auf der Straße gesehen. Alle waren sich einig, dass der Wa gen nicht angehalten hatte – ja nicht einmal langsa mer geworden war –, nachdem er ihn überfahren hat te. Der zweite ungeklärte Todesfall in zwei Tagen. Das waren zwei mehr als in meinen ganzen letzten
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dreiundzwanzig Jahren. Ich brachte Pühapäev und den Panda lediglich aufgrund der Umstände mitein ander in Verbindung, und dann fragte ich mich plötz lich, ob zwischen den beiden Todesfällen vielleicht tatsächlich ein Zusammenhang bestand. Auf jeden Fall war es seltsam, dass der einzige Mann in Con necticut, der die Chance hatte, einen genaueren Blick auf den Toten zu werfen, nun selbst getötet worden war. Aber würde das außer mir sonst auch noch jemand seltsam finden, oder würden alle ande ren darin zwei voneinander völlig unabhängige To desfälle sehen, zwischen denen nur meine Arbeit eine – noch dazu sehr schwache – Verbindung her stellte? Ein Lieutenant Haynes Johnson hatte den Bericht unterschrieben, und ich rief ihn an, um zu hören, ob er noch etwas hinzuzufügen hatte. Als ich ihm sagte, dass ich von einer Zeitung sei, verband er mich mit einem anderen Beamten, der für solche Anfragen zuständig war und mich darüber aufklärte, dass »In formationen bezüglich laufender Ermittlungen, egal, ob für besagte Ermittlungen relevant oder irrelevant, erst dann an die Öffentlichkeit herausgegeben wer den dürfen, wenn die Behörden zu dem eindeutigen Schluss gekommen sind, dass die Veröffentlichung besagter Informationen der Ergreifung des Täters oder der Täter dienlich sein könnte«. Eine wahrhaft astronomische Anzahl von Silben für einen ver gleichsweise knappen Inhalt. Ich dankte ihm, been dete das Gespräch und legte den Bericht mit einer kurzen Nachricht auf Arts Schreibtisch zurück (»AR: Befehl ausgeführt – vielen Dank. Ich hoffe, dir,
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Donna und der Familie des Panda geht es so gut, wie es unter den gegebenen Umständen möglich ist. PT«) und begab mich dann hinaus in den Regen, um die Musiklehrerin zu interviewen. Als ich nach links in die Orchard Street einbog und dabei nur knapp die Äste verfehlte, die zu beiden Seiten der Straße herunterhingen, kam mir Allen Olafsson mit seinem Streifenwagen entgegen. Er spähte durch seine und meine nasse Windschutz scheibe neugierig zu mir herein. Als wir fast Stoß stange an Stoßstange waren, nickte er leicht und be dachte mich mit einem halben Lächeln des Erken nens. Dann blendete er kurz auf, schaltete das blau rote Licht auf seinem Dach ein, fuhr an den Straßen rand und ließ sein Fenster herunter. Ich hielt neben ihm an und öffnete ebenfalls mein Fenster. »Nun sehen wir uns schon zum zweiten Mal in dieser Gegend«, rief er mit ausdruckloser Stimme zu mir herüber. »Was machen Sie hier?« Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, was ihn das angehe, verzichtete dann aber darauf, weil es wie gesagt immer ratsam war, sich mit Kleinstadtbul len gut zu stellen. »Ich habe hier ein Interview zu führen.« »Ein Interview? Wer ist denn hier wichtig genug für ein Interview?« »Eine Lehrerin, die im Haus von Mrs. DeSouza wohnt.« »Mary DeSouza, hm? Eine seltsame alte Schach tel. Hat das Interview zufällig etwas mit unserem verstorbenen Freund zu tun?«
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»Ja, ich brauche ein paar Informationen für seinen Nachruf«, antwortete ich. Es bestand kein Grund, den Coroner und den Polizeibericht oder die Re cherchen für eine Bostoner Zeitung zu erwähnen. Das hätte unser Gespräch bloß unnötig verkompli ziert. »Haben Sie in dem Haus noch irgendetwas Interessantes gefunden?«, fragte ich. »Nein«, antwortete er, während er seine Mütze abnahm und mit einer Hand über sein sich lichten des strohblondes Haar strich. »Ich bin heute gar nicht reingegangen. Ich fahre bloß hin und wieder vorbei, um sicherzustellen, dass nichts abhanden kommt und sich kein Unbefugter Zutritt verschafft. Ob das etwas bringt, weiß ich nicht.« Er lächelte et was verlegen. »Unter uns gesagt, Bert hält es für Zeitverschwendung. Aber ich habe dann einfach ein besseres Gefühl. Außerdem komme ich auf diese Weise mal aus dem Büro raus.« Ich nickte wortlos, weil ich hoffte, dass er mein Schweigen richtig interpretieren und das Gespräch beenden würde. Was er auch tat. »Ich will Sie nicht länger aufhalten«, erklärte er. »Aber falls Sie etwas Interessantes über den Typen erfahren, dann sagen Sie mir Bescheid, ja? Ich werde es meinerseits ge nauso machen. Als Reporter brauchen Sie ja schließ lich eine Quelle bei der Polizei.« Obwohl ich den Verdacht hatte, dass er sich über mich lustig machte, pflichtete ich ihm bei. Er streck te mir durchs Fenster die Hand hin, und ich schüttel te sie. Dann fuhr er weiter. Noch immer rotierte das aufblitzende Licht lautlos auf seinem Dach.
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Nur ein paar Wagenlängen weiter endete die Straße in einer Sackgasse. Wie beim letzten Mal brannte in den beiden ersten, einander gegenüberliegenden Häusern mit den graublauen Fensterläden kein Licht, obwohl aus beiden Schornsteinen Rauch auf stieg. Pühapäevs Schaukel war immer noch kaputt, und der Regen hatte seinen Vorgarten in eine schlammige, von Kratern durchsetzte Mondland schaft verwandelt. Ich parkte vor dem dreistöckigen Schindelhaus (dem einzigen Haus in der Straße, das wirklich bewohnt wirkte) und trat an die Haustür. Unter dem Klingelknopf war ein Schild angebracht, auf dem zwei Namen standen: DESOUZA, mit ei nem Pfeil nach oben zur Klingel, und ROWE, mit einem Pfeil nach rechts. Ich folgte dem Pfeil und musste erst einmal über eine große Regenpfütze steigen. Als ich auf die Seitentür zusteuerte, rutschte ich auf etwas aus, was auf dem Weg lag, und kickte es dabei mit einem peinlich lauten Knall gegen die Tür. Es handelte sich um einen großen Schrauben schlüssel. Während ich ihn aufhob, ging die Tür auf. Sie war kleiner, als ich es nach Donna Rolens Be schreibung erwartet hatte – zwei oder drei Zentime ter größer als ich, aber da sie sehr schlank war, wirkte sie noch größer –, und sie hatte langes, hellbraunes Haar, graue Augen und klare, markante Gesichtszü ge. Es war ein in seiner Natürlichkeit perfektes Ge sicht, das umso tiefgründiger wirkte, je länger man es betrachtete. Ich fand es von Anfang an unergründ lich: Gefühle und Gedanken flossen darüber hinweg wie Wasser und versickerten genauso schnell unter der Oberfläche. Das alles wusste ich zu diesem Zeit
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punkt natürlich noch nicht, aber sie haute mich
trotzdem schon bei unserer ersten Begegnung um. »Hannah Rowe?« »Paul Tomm?«, antwortete sie im gleichen Ton. Ich war nicht sicher, ob sie mich aufzog oder nur auf eine musikalische Art reagierte. Sie blickte auf den Schraubenschlüssel, den ich in der Hand hielt, als wollte ich ihn ihr wie eine Blume überreichen. Sie lächelte breit, und ich wurde rot. »Ich kenne den Witz über Danaer, die mit Geschenken vor der Tür stehen, aber mir hat nie jemand verraten, wie man sich verhalten soll, wenn Reporter mit Schrauben schlüsseln kommen. Sie sind doch Paul, oder?« Ich nickte, und sie bat mich herein, nahm mir al lerdings vorher noch den Schraubenschlüssel aus der Hand und warf ihn achtlos zurück auf den Weg. »Sie sind ein bisschen zu früh dran«, bemerkte sie, mach te aber eine wegwerfende Handbewegung, als ich zu einer Entschuldigung ansetzen wollte. »Das war nur eine Feststellung. Kein Grund, sich zu entschuldi gen. Möchten Sie Tee?« Ich antwortete, dass ich sehr gern eine Tasse mit ihr trinken würde. Sie deutete auf den runden Holz tisch in der Ecke, der von zwei grünen Sesseln flan kiert wurde, und forderte mich auf, dort Platz zu nehmen. Ich ging zu den Sesseln hinüber und stieß bei dem Versuch, meine Jacke auszuziehen, den Tisch um. Eine kuriose Ansammlung von Krims krams – ein paar Sachen aus Keramik, eine Spielkar te, mehrere Gegenstände, die wie kindliche Kunst produkte aussahen, landeten mit Getöse auf dem Boden. Hannah lachte. Wieder wurde ich rot. »Paul
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Tomm, wir werden Sie an einen besonders ungefähr lichen Ort setzen müssen. Wahrscheinlich hätte ich alle scharfen Ecken und Kanten vorher mit Schaum gummi sichern sollen.« Ich spürte, wie ich vor Verle genheit heiße Ohren bekam. Am liebsten wäre ich hinausgelaufen, um den ganzen Begrüßungsteil noch einmal von vorn anzufangen. Stattdessen blieb ich wie angewurzelt neben dem umgestürzten Tisch stehen – in der einen Hand meine tröpfelnde Jacke, in der anderen mein Reporter-Notizbuch – und bete te, der Boden möge sich unter mir auftun. »Ich habe doch nur Spaß gemacht. Sie brauchen nicht rot zu werden.« Sie nahm mir die Jacke ab und hängte sie über die Heizung. »Nehmen Sie Platz und entspannen Sie sich. Nein, Sie brauchen die Sachen nicht aufzusammeln. Stellen Sie nur den Tisch wie der auf und lassen Sie den Rest liegen. Kommen Sie, setzen Sie sich hierher«, sagte sie und legte mir ihre Hände auf die Schultern, um mich zu dem Sessel zu führen. Unwillkürlich fasste ich an meine Schulter und berührte ihre Hand – ob zum Dank oder als Ent schuldigung, weiß ich nicht –, woraufhin sie die Fin ger ein wenig anhob und freundlich die meinen drückte, während ich mich setzte. »So. Nun rühren Sie sich nicht mehr von der Stelle. Ich lege uns ein bisschen Musik auf und hole den Tee. Was möchten Sie hören?« »Ich kenne mich mit Musik nicht besonders aus. Deswegen habe ich auch keine ausgeprägten Vorlie ben. Ich überlasse die Wahl ganz Ihnen.« Lächelnd ging sie zu der Stereoanlage in der Ecke und drückte auf einen Knopf. Der Klang eines ein
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zelnen Cellos erfüllte den Raum, traurig und kla gend. Die Töne ergaben eigentlich gar keine richtige Melodie, aber durch die Stimmlage und den un gleichmäßigen Rhythmus klang es sehr ausdrucks stark, fast wie menschliche Sprache. Ich hatte so et was noch nie gehört, die Musik schien direkt in mein Gehirn zu dringen und meinen ganzen Kopf auszu füllen. Gebannt verfolgte ich eine Phrase nach der anderen. »Was ist das?«, rief ich in die Küche hinüber. »Marais. Ein Viola-da-Gamba-Duo. Es heißt Les Voix Humaines. In diesem Fall ist es für ein einzel nes Cello arrangiert. Es soll sich wie eine menschli che Stimme anhören. Meiner Meinung nach klingt es wie ein Gedicht oder ein Gebet.« Sie stellte ein Tab lett mit einer Teekanne, zwei Tassen, einer Schale mit Zuckerwürfeln und einem Teller mit Keksen auf dem nun leeren Tisch ab. »Sehen Sie, Sie haben un freiwillig sogar etwas Gutes bewirkt. Wo hätte ich das Tablett hinstellen sollen, wenn Sie nicht Platz dafür geschaffen hätten?« Sie ließ sich neben mir nieder und bedachte mich mit ihrem entwaffnenden Lächeln. Ich erwiderte ihren Blick länger, als es die Höflichkeit erforderte. Dann legte ich mein Notiz buch auf den Tisch und zog zwei Stifte aus der Brusttasche meines Hemds. Ich beneidete Art immer um seine Fähigkeit, ein Gespräch mit entspannendem Smalltalk zu begin nen, der dann irgendwann nahtlos in zweckdienliche Fragen überging. Er hatte mir wiederholt erklärt, wie wichtig es sei, dass sich die Gesprächspartner wohl fühlten. Natürlich war Hannah viel entspannter als
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ich. Mein Magen tanzte den Pretty Girl Shimmy, und ich begann zu schwitzen. Mir fiel nichts anderes ein als das, weswegen ich gekommen war. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu Jaan stellen?« Schlagartig verschwand das Lächeln, alle Wärme wich aus ihrem hageren Gesicht und ein gequälter Ausdruck trat in ihre Augen. In dem sanften Licht sah sie mit ihrer blassen Haut und ihrem langen Haar aus, als wäre sie einer Geistergeschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen. »Es tut mir so Leid. Dass er ganz allein war, als er gestorben ist. Ich hoffe, er wusste, wo er hinging.« »Wer weiß das schon?« »Ich.« Sie wandte sich mir zu. In dem Moment war sie so schön – das Licht der Lampe fiel auf ihr Gesicht, und der Ausdruck in ihren Augen ging mir durch und durch –, dass ich am liebsten aufgesprun gen und davongelaufen wäre. Wer glaubt, Schönheit sei eher anziehend als beängstigend, ist entweder ein Ignorant oder außergewöhnlich mutig. »Ich weiß es«, sagte sie noch einmal leise. »Glauben Sie, er hat es auch gewusst?« Sie presste die Hände, die sie auf dem Schoß lie gen hatte, fest zusammen. »Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich. Er war einfach … Wissen Sie, dass er schon sehr alt war? Sehr alt. Ich hoffe, er hat sich darüber Gedanken gemacht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir. Ich räusperte mich. »Wissen Sie, wie alt er genau war?« Sie sah mich jetzt direkt an, und der gequälte Ausdruck verschwand aus ihren Augen. Ihr im Licht
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schimmerndes Haar bildete einen harten, feurigen Rahmen für ihr Gesicht, dessen Ernst und Tiefgrün digkeit an das gemeißelte Antlitz eines steinernen Engels erinnerte. »Genau? Nein. Seinen Erzählun gen zufolge hatte er zwischen den beiden Kriegen in einem unabhängigen Estland gelebt. Ich nehme an, das würde bedeuten, dass er um die achtzig gewesen sein muss. Aber bitte«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass ich mir Notizen machte, »nageln Sie mich nicht darauf fest. Ist es überhaupt nötig, dass Sie meinen Namen in dem Artikel erwähnen?« Ich antwortete, nein, wenn ihr das nicht recht sei, dann würde ich ihn nicht nennen. Ich fragte sie, wie sie Pühapäev kennen gelernt habe. »Das erste Mal bin ich ihm begegnet, als ich vor zwei Jahren hier eingezogen bin. Ich habe an seine Tür geklopft, um mich vorzustellen, und er rief zu mir heraus, ich solle wieder gehen.« Sie musste la chen, und ihre Miene hellte sich auf. »Also mar schierte ich die Treppe wieder hinunter. Ich nehme an, er beobachtete mich durch den Spion, denn plötzlich hörte ich, wie die Tür aufgesperrt wurde, und er rief mir mit seinem starken Akzent hinterher: ›Warum sagen Sie denn nicht gleich, dass Sie ein hübsches Mädchen sind?‹ Dann bat er mich zu sich herein, wir unterhielten uns eine Weile, und das war’s, wie man so schön sagt.« »Wissen Sie, wo er geboren war, ob er Familie hat te, an was er arbeitete, all diese Dinge?« Ich befolgte Arts Rat, mich dumm zu stellen. Besser, man bekam zu viele Antworten als zu wenige. Sie hatte den Kopf gesenkt und zupfte kleine
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Knötchen von der Wolldecke, die über ihren Sessel geworfen war. »Dass er Este war, habe ich Ihnen ja eben schon gesagt. Er hat viel über Tallinn gespro chen, aber auch über das Land und die Inseln. Er hatte ein Buch mit lauter Fotos von einer der Inseln – ich glaube, sie hieß Saaremaa –, das er mir gern zeigte. Ich glaube, er hatte noch ein paar Verwandte, aber wer sie waren oder wo sie wohnten, weiß ich nicht. Allerdings ist er letzten Sommer mal für drei Wochen in Estland gewesen.« Sie ging zu ihren Bü cherregalen hinüber und griff nach einer granatfar benen Flasche. »Er hat mir das hier mitgebracht.« VANA TALLINN stand auf dem Etikett. Ich öffne te die Flasche und hielt meine Nase darüber. Das Getränk roch nach Karamell und Lakritze und sah aus wie Sirup oder wie Sherry, der eine Weile einge kocht worden war. Hannah goss einen Schuss davon in meinen Tee. Es schmeckte süß, und obwohl es nicht brannte, erfüllte es meine Brust mit Wärme. »Was wissen Sie über seine Arbeit? Mir ist be kannt, dass er Professor war, aber …« »Ich glaube, er war schon mehr oder weniger pen sioniert. Soviel ich weiß, hat er nicht mehr viele Vor lesungen gehalten. Und dass er nicht hier in Lincoln gearbeitet hat, weiß ich sicher.« »Er hat am College von Wickenden gelehrt.« »Dann haben Sie also doch ein bisschen Ihre Hausaufgaben gemacht. Sehr gut. Er hat viel ge schrieben, mit seinen Aufzeichnungen ganze Notiz bücher gefüllt, aber ich glaube nicht, dass viel davon veröffentlicht worden ist. Hin und wieder hat er ir gendeine obskure Zeitschrift aus dem Regal gezogen
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und mir darin seinen Namen gezeigt. Vielleicht war es aber auch immer wieder dieselbe Zeitschrift, ich habe nicht so genau darauf geachtet. Ich glaube al lerdings nicht, dass ich von ihm verfasste Bücher ge sehen habe. Wenn Sie Genaueres über seine Arbeit wissen wollen, sollten Sie vielleicht besser nach Wi ckenden fahren und dort nachfragen.« »Das habe ich schon getan. Ich habe dort stu diert«, erklärte ich nicht sehr geistreich. Eigentlich ging es mir bloß darum, ihr etwas über mich zu er zählen. Ich wollte sehen, ob sie darauf eingehen würde. »Wirklich? Das wollte ich eigentlich auch. Hat aber nicht geklappt.« Sie klopfte sich an den Kopf. »Zu wenig Hirn.« »Sagen Sie mir einfach, wer Ihnen die Zulassung verwehrt hat, dann erschieße ich den Kerl.« Sie lachte. »Was halten Sie übrigens davon?« Sie deutete auf die Lautsprecher. »Es gefällt mir«, antwortete ich ziemlich dämlich, weil mir nichts Schlaueres einfiel. Es klang wie Mu sik. Schöne Musik. »Welches Instrument spielen Sie?« »Klavier, ein bisschen Geige, ein bisschen Cello, sonst nichts.« Sie schüttelte einen Moment den Kopf und stützte ihn dann auf die Hände. »Das ist für eine Musiklehrerin richtiggehend eine Schande. Ich bin eine Hochstaplerin, fürchte ich.« Sie lächelte verle gen. »Nein, das sind Sie nicht. Sie sind eine Enthusias tin.« »Sie sind aber süß!« Fast hätte ich ihr geantwor
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tet: »Ja, ja, sehr!« Zum Glück fragte sie mich gleich im Anschluss, ob ich ebenfalls ein Instrument spiel te. »Nein. Ich habe ehrlich gesagt ziemlich wenig Ahnung von Musik. Ich habe taube Ohren, zwei lin ke Hände und Klumpfüße.« Sie lachte. »Was fehlt Ihnen denn sonst noch al les? Herz, Hirn und ein paar Innereien? Vielleicht sollte ich Ihnen einen Crashkurs geben.« Ich sah sie von unten herauf an wie ein tollpat schiger, übertrieben zutraulicher Hund. »Gern. Sie brauchen mir bloß zu sagen, wann.« Lächelnd neigte sie den Kopf, legte eine Hand an ihren Oberarm und fragte mich dann mit einem Ni cken, das meinem aufgeschlagenen Notizbuch galt: »Möchten Sie sonst noch etwas wissen?« »Was können Sie mir denn noch erzählen?« »Nur, dass ich ihn gern gehabt habe. Sehr gern so gar«, wiederholte sie, als hätte ich das infrage ge stellt. Das hatte sie am Telefon auch schon gesagt. An dieser Stelle erreichte ich einen romantischen Tiefpunkt und war plötzlich eifersüchtig auf den toten Esten. »Ich bin für ihn einkaufen gegangen, wenn er et was brauchte, und habe hin und wieder für ihn ge kocht. Und mich mit ihm unterhalten. Nein, eigent lich saß ich nur da und hörte ihm zu. Mehr war es im Grunde nicht. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihm mehr Fragen gestellt, aber … Ich bin sicher, dort, wo er jetzt ist, gibt es ein Feuer, einen bequemen Sessel und einen endlosen Vorrat an Büchern, Tabak und hübschen Mädchen, die ihm zuhören.«
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Sie zuckte die Achseln und zog traurig die Augen brauen hoch. Wir starrten uns schweigend an, ohne den Blick abzuwenden. Die Bücher, die Couch und das Cello in der Ecke begannen in der Dunkelheit zu schimmern. Meine Haut kribbelte unter meiner Kleidung, und ich spürte, wie die Adern an meinem Hals pochten. Sie stellte ihre Teetasse zu nahe an den Rand des Tisches, sodass sie hinunterfiel und zerbrach. Wir sprangen beide erschrocken auf. »Na, so was!«, sagte sie aufgeregt. »Anscheinend haben Sie mich angesteckt.« Ich betrachtete die Bescherung auf dem Boden. Die Porzellanscherben waren zwischen all den ande ren Dingen gelandet, die dort bereits herumlagen. Erst jetzt fiel mir so richtig auf, dass es sich dabei zum Teil um religiöse Artefakte handelte. »Was sind das überhaupt für Sachen?«, fragte ich. »Oh, das ist mein Gottestisch«, antwortete sie lä chelnd, sodass ich nicht sagen konnte, ob sie es ernst meinte oder nicht. »Ich glaube an alles, jede Religi on. Alle Religionen, die es gibt.« Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern soll te, nickte ich nur. »Sind Sie auch gläubig?«, fragte sie. »Nein, ich bin in dieser Hinsicht eine totale Pro menadenmischung«, antwortete ich grinsend. Sie starrte mich entsetzt an. »Sagen Sie doch so was nicht. Es ist egal, was Sie sind, Hauptsache, Sie glauben an etwas. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als an gar nichts zu glauben. Was sind Sie nun wirklich?« »Protestantisch, katholisch, griechisch-orthodox,
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jüdisch. Ich habe eine holländisch-irische Mutter und einen griechischjüdischen Vater. Zwei Großel ternpaare mit vier verschiedenen Konfessionen, und nun haben sie zwölf Enkelkinder, die gar keiner an gehören.« »Das ist ja wundervoll. Überlegen Sie doch mal, wie viele Alternativen Sie haben. In welchem Glau ben wurden Sie erzogen?« »Ich glaube, das hing davon ab, wo wir welche Fe rien verbrachten. Eine lange Geschichte.« Ich warf einen Blick auf die Uhr und nahm das ganze biss chen Mut zusammen, das ich besaß. »Eine lange und stellenweise auch recht interessante Geschichte, die sich am besten bei einem Abendessen erzählen lässt. Was meinen Sie?« »Habe ich das jetzt richtig verstanden? Der Star reporter lädt die arme Musiklehrerin zum Essen ein?« »Es wäre mir eine Ehre. Mögen Sie das Long wood Inn?« »Für einen Kleinstadt-Schreiberling haben Sie ja einen recht noblen Geschmack. Wie wär’s mit etwas ein bisschen weiter außerhalb? Dann müsste ich mir keine Gedanken darüber machen, ob uns irgendwel che Kollegen sehen und morgen im Lehrerzimmer Tratschgeschichten erzählen und all diesen Mist. Waren Sie schon mal im Trout?« »Nein. Nie davon gehört.« »Wahrscheinlich, weil es in Pelton liegt, ungefähr fünfundvierzig Minuten Fahrt nördlich von hier. Di rekt am Fluss und fast schon in Massachusetts. Ha ben Sie einen Wagen?«
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»Habe ich. Wann haben Sie Zeit?« »Morgen?« Ich nickte. »Gut«, sagte sie. »Ich hatte schon wochenlang keine Freitagabendverabredung mehr. Leider muss ich ziemlich lange arbeiten. Wür de es Ihnen etwas ausmachen, mich direkt von der Schule abzuholen? Treffen wir uns doch am Hinter ausgang von Talcott, wo der Hügel zwischen Com mon und Station schon leicht abfällt. Von dort aus können wir dann gleich losstarten. Gegen sieben?« »Perfekt«, antwortete ich, während sie mich zur Tür begleitete. Ich streckte ihr die Hand hin. Sie betrachtete sie einen Moment liebevoll, dann blickte sie auf und sagte: »Sie sind wirklich süß.« Mit diesen Worten legte sie mir die Hände auf die Schultern, küsste mich knapp unter dem Auge ganz leicht auf den Wangenknochen, winkte zum Abschied und schloss die Tür hinter mir. Während ich um das Haus herum zur Vorderseite zurückging, nahm ich aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung auf der Veranda wahr. Genau in dem Moment, als ich den Kopf zur Seite wandte, um zu sehen, was es war, flog eine Katze an meinem Gesicht vorbei, streifte mich genau an der Stelle, wo Hannah mich geküsst hatte, und verschwand dann raschelnd im Gebüsch. Ich machte einen Satz nach hinten, und bestimmt stieß ich auch einen erschro ckenen Schrei aus oder fluchte zumindest in peinli cher Lautstärke. Die Haustür ging auf, und eine ha gere alte Frau in einem unförmigen gesteppten Hausmantel trat heraus. Sie trug Hausschuhe, die nicht zusammenpassten, und hatte sich eine grobe blaue Decke wie einen Turban um den Kopf ge
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schlungen. Als sie mich sah, zuckte sie erschrocken zusammen. »Du meine Güte, ich wollte eigentlich nicht, dass mich jemand so sieht! Mein Haus ist ein bisschen zugig, müssen Sie wissen«, fügte sie hinzu und beugte sich dabei vor, als wollte sie mir ein Ge heimnis verraten, »und das Heizen ist so teuer. Aber warum schleichen Sie um mein Haus, junger Mann?« Verblüfft starrte ich sie an. Ihr Aufzug war so selt sam, dass ich mir das Lachen nur mit Mühe verknei fen konnte. »Ich war bei Hannah«, erklärte ich. »Oh, der Freund, sind Sie ihr Freund? Das hätte ich mir denken können. Wissen Sie, ich bin eine altmodische Frau, und ich finde es wirklich nicht richtig, dass ihr jungen Leute heutzutage ständig miteinander ins Bett hüpfen müsst.« Ich war nicht sicher, ob ich beleidigt oder stolz sein sollte, weil sie mir auf diesem Gebiet eine sol che Leistungsfähigkeit unterstellte. »Ma’am, ich bin Reporter«, stammelte ich, »und ich habe mit ihr über Ihren verstorbenen Nachbarn gesprochen. Wir haben die ganze Zeit gesessen – auf separaten Stühlen, ver steht sich – oder gestanden.« »Was Sie sicher sehr bedauern, nicht wahr?« Sie musterte mich über den Rand ihrer Brille. »Sie sehen nicht so aus, als wären Sie hier aus der Gegend.« »Bin ich auch nicht«, antwortete ich knapp und steuerte dann weiter auf meinen Wagen zu. »Rennen Sie nicht einfach davon, wenn ich mit Ihnen spreche junger Mann! Habe ich Sie da eben richtig verstanden? Sie wollen etwas über den alten Mann schreiben, der gegenüber gewohnt hat?«
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»Ja.« »Nun, ich bin Mrs. DeSouza, und Sie dürfen mich gern zitieren, wenn Sie wollen.« »Natürlich. Wie gut kannten Sie ihn?«, fragte ich, während ich demonstrativ mein Notizbuch aufschlug und einen Stift zückte. »Ich lebe schon seit zweiundsiebzig Jahren in die sem Haus. Das zählt ja wohl auch etwas.« Sie wickel te ihren Mantel noch enger um sich und zog ihren schweren Turban zurecht, der irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten war, sodass sie selbst wohl ebenfalls Probleme hatte, die Balance zu halten. »Wir haben nie miteinander Tee getrunken, falls Sie das meinen, und er hat sich auch nicht die Mühe gemacht, sich bei mir vorzustellen, als er hier einge zogen ist«, schnaubte sie. »Als ich dann irgendwann zu ihm hinüber bin, um ihm deswegen die Leviten zu lesen, hat er mich nicht einmal hereingebeten. Können Sie sich das vorstellen? Er hat seine Tür bloß einen Spalt weit aufgemacht und nicht einmal den Kopf herausgestreckt.« »Wie kam es, dass Sie ihn später dann doch noch kennen gelernt haben?« »Später? Sie meinen, nachdem er auf diese Weise mit mir gesprochen hatte? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein. Dieser schmutzige Sohn eines See manns hätte von mir nicht einmal ein Streichholz bekommen, nicht einmal im schlimmsten Schnee sturm!« Nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Meine verzweifelten Versuche, ein Lachen zu unter drücken, ließen mich nur umso lauter losprusten. Als
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Mrs. DeSouza sich aufrichtete, um mir einen bösen Blick zuzuwerfen, kam der riesige blaue Bovist auf ihrem Kopf endgültig ins Rutschen und hätte sie mit seinem zur Seite kippenden Gewicht beinahe zu Fall gebracht. »Ich gebrauche solche Worte nicht leicht fertig, junger Mann. Kein Mensch achtet heutzutage noch auf Etikette. Er hätte sich bei mir vorstellen müssen.« »Natürlich. Ich weiß. Also, wenn Sie sonst nichts mehr haben …« »Haben? Wie meinen Sie das?« »Für meinen Artikel. Etwas über Jaan Pühapäev.«
»Die einzige Person, die etwas von ihm ›hatte‹, wie Sie es ausdrücken, war Ihre kleine musikalische Freundin. Soweit ich es mitbekommen habe, war sie die Einzige, für die er jemals die Tür aufge macht hat. Und ich kann mir auch genau vorstellen, warum«, fügte sie mit einem anzüglichen Blick hin zu. »Ich bin mir sicher, dass nichts dergleichen pas siert ist.« »Nein, natürlich nicht. Doch nicht mit einem so alten Mann! Wahrscheinlich hat der schon seit der Zeit von Harry Hopkins keinen Mast mehr hochbe kommen. Ich wollte damit nur sagen, dass Miss Ro we durchaus ihre Reize hat. Und auch ihre Tricks. Es ist nur verständlich, dass ein alter, allein lebender Mann sich da geschmeichelt fühlte, selbst wenn er ansonsten nicht einmal bereit war, einem anderen Menschen auch nur die Hand zu schütteln.« »Hochinteressant. Vielen Dank, Mrs. DeSouza. Dieses Gespräch hat mir wirklich weitergeholfen.«
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»Sprechen Sie nicht so herablassend mit mir! Und ich möchte nicht, dass Sie in diesem Haus die ganze Nacht ein und aus schleichen, haben Sie mich ver standen?« »Natürlich.« Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, stieg ich wieder in meinen Wagen. Die Katze lugte unter der Hecke hervor und spähte skeptisch zur Veranda hinüber.
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Der Äthiopier
D Nach vielen Sommern stirbt der Schwan, und nach vielen Zeitaltern stirbt der Mythos. Mein Kollege Lönnrot glaubt, dass Mythen nicht sterben, sondern abgelöst werden. Das scheint mir zwar nicht grund sätzlich falsch zu sein, aber auf einer begrenzenden und phantasielosen Sichtweise zu beruhen. Ist der Frühling erst einmal angebrochen, dann lösen Blätter die Blüten ab, aber genauso wahr ist es, dass im Spätherbst die Blätter, die »nicht sind«, jene ablösen, die waren. In diesen kurzen Phasen der Leere wür den wir wundersame Dinge sehen, wenn wir nur ein Auge dafür hätten. D OLAV GRYNZSTEIN D Meneliks Kammer
19. November 1979 Axum, Revolutionäre Volksrepublik Äthiopien An: Genosse Oberst Virju Saarju, Armee der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Sonderverbindungsoffi zier zur Vereinigung der Forscher und Professoren für Äthiopische Ethnographie, Estnische Abteilung Von: Hauptmann Felix Armando Correa, Revolutionäre Kubanische Volksarmee
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Genosse Oberst: Ich sende brüderliche Grüße im Namen der fortschrei tenden Volksrevolution und des sozialistischen Kampfes gegen Menschewismus, Rückständigkeit, Bourgeoisismus, konterrevolutionäres Denken, Formalismus und Aberglau be. Außerdem schicke ich auch herzliche Grüße an Ihre Frau, Natascha Georgowna, und an Ihre Söhne Grigorij und Fjodor und hoffe, dass Sie und Ihre geschätzte Familie sich zum Zeitpunkt des Eintreffens dieses Schreibens ebenso guter Gesundheit erfreuen werden wie bei unserem letzten persönlichen Treffen in Santiago de Cuba. Unsere Einheiten kämpfen weiterhin tapfer gegen die na tionalistischen Rebellen, auch wenn wir, was die Kenntnis des Terrains betrifft, deutlich im Nachteil sind. Mit zahlrei chen Absperrungen an strategischen Zugangspunkten ent lang der Straßen und Pässe haben unsere revolutionären Kräfte die wichtigsten Städte Äthiopiens unter Kontrolle. Das gilt jedoch nur bis Einbruch der Dunkelheit, und unse re Kontrolle reicht auch nicht viel weiter als bis an die Stadtgrenzen. Ich hoffe, wir sind so gut befreundet, dass ich mich nicht schämen muss, wenn ich Ihnen gestehe, wie er leichtert ich war, Asmara zu verlassen. Meine dortige Stellung ist von Cesar Reyes übernommen worden, der meinem Bataillon – ich nehme an, auf Ihre Anweisungen hin – mitgeteilt hat, ich sei mit einem kleinen Regiment vorausgeeilt, um das Hochland zu erkunden. Das hat zu den albernsten Geschichten über meinen Mut und Einsatz Anlass gegeben. Als ich aufbrach, überreichte mir einer meiner Unteroffiziere, ein rauer und kräftiger Mann namens Juan Colón, heimlich ein kleines Mahagonikreuz, von dem er sagte, es habe seinem Urgroßvater Ernesto ge hört.
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Ihr Einverständnis voraussetzend, werde ich nun ganz offen sprechen und das Phrasendreschen denjenigen unter unseren geschätzten Genossen überlassen, die mit einem militärischeren Naturell ausgestattet sind als wir. Vielleicht werden Sie es auch so halten und mich bei unserem nächsten Treffen wissen lassen, ob Juan Colón ebenfalls einer der Unsrigen ist oder ob er einfach zu den zahlreichen Männern in unseren beiden Ländern gehört, die diese Mission wahr scheinlich unterstützen würden, bisher aber nichts davon wissen. Wie auch immer, auf jeden Fall fasste ich seine Segenswünsche als gutes Omen auf- ob nun von Ihnen oder einem anderen Auftraggeber gesandt – und reiste ohne Zwi schenfälle mit einem Militärflugzeug von Asmara nach Axum. Ich bin nun seit sechs Wochen in Axum mit dieser Angele genheit beschäftigt. Ich bewohne eine kleine Villa im äthiopi schen Stil – Lehmziegel, niedrige, kleine Räume, schmale Tische – mit einem Übersetzer (einem gebürtigen Bewohner Axums mit dem Namen Gebredan) und einem Koch, der auch putzt und alle anfallenden Botengänge erledigt. Ich fühle mich in meiner Unterkunft sehr wohl, auch wenn mei ne Aufnahme ansonsten alles andere als angenehm war: Die Leute hier hassen mich. Sie hassen Mengistu, sie hassen mich, und sie würden auch Sie hassen, wenn Sie jemals einen Fuß in dieses Land setzen würden. Gebredan sagt mir immer wieder, dass ich mein Leben unnötig aufs Spiel setze, indem ich in der Öffentlichkeit meine Uniform trage. Jedes Mal wenn ein Dorfbewohner eine Ziege oder ein Huhn schlachtet, ruft er entweder »Rus se!« oder »Kubaner!«, wenn die Messerspitze in das Tier eindringt. Trotz derartiger Vorfälle ist es mir durch Hart
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näckigkeit, Bescheidenheit, guten Willen und meinen Glau ben gelungen, das Vertrauen meines Übersetzers zu gewin nen. Das hat meine Arbeit hier weitaus leichter gemacht – und weitaus klarer. Damit meine ich, dass ich mittlerweile begriffen habe, was für eine zwiespältige Antwort ich Ihnen geben muss. Sind Sie mit dem österreichischen Physiker Schrödinger und seiner Katze vertraut? Wie diese Katze befindet sich auch das, was wir suchen, in einer Superposition, einem Zustand der Überlagerung: Es ist zugleich hier und nicht hier. Gebredan dazu zu bringen, etwas anderes zu tun, als sozialistische Sprüche zu klopfen, hat mich eine nicht unbe trächtliche Menge an Geld, Erniedrigung, Rum und Zigar ren gekostet. Letzteres hielt er anfangs fälschlicherweise für ein geräuchertes Fleischprodukt, was zur Folge hatte, dass ich gezwungen war, einen Großteil des Tages in meinem Arbeitszimmer zu verbringen. Aber nachdem dieses Miss verständnis einmal aus der Welt war, wurde er recht redse lig. Er ist ein religiöser Mensch, ein Christ, und nachdem ich ihm das Glaubensbekenntnis auf Spanisch und er es mir auf Amharisch beigebracht hatte, kamen wir bestens mitein ander aus. Die Königin von Saba war, wie er mir erklärte, Äthiopie rin (der Palast, der ihr zugeschrieben wird, liegt nicht weit von der Landebahn entfernt, auf der ich angekommen bin), und während eines Besuchs in Jerusalem wurde sie von Kö nig Salomon schwanger. Von ihm bekam sie einen Sohn, Me nelik, der im Alter von zwölf Jahren nach Jerusalem reiste und dort mit viel Prunk und Ehren empfangen wurde: Sein Vater und dessen Höflinge erkannten den Jungen. Nachdem Menelik ein paar Jahre lang geblieben war, wurden Salo
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mons Ratgeber neidisch auf den Jungen und zwangen ihn, das Land zu verlassen. Dabei nahm er aus dem heiligsten der Heiligtümer von Jerusalem die Bundeslade mit. Irgendwie schaffte er es, seinen Diebstahl vor seinen Be gleitern geheim zu halten, bis sie, wie Gebredan es aus drückte – »weit außerhalb der Reichweite von Salomons langem Arm« waren. Menelik und seine Gefährten kamen zu dem Schluss, dass ein derart dreister und schlecht ge planter Diebstahl niemals Erfolg gehabt hätte, wäre es nicht Gottes Wille gewesen. Deswegen trugen Menelik und seine Anhänger die Lade mit Gottes Billigung und Segen bis nach Axum, wo sie einen erhabenen Tempel erbauten, um sie darin zu verbergen. Mein Übersetzer versichert mir, dass sie sich dort noch immer befindet. Aber das wissen Sie natürlich, sonst hätten Sie mich nicht hergesandt und dafür all die Risiken und Mühen auf sich genommen, die eine solche Entsendung mit sich bringt. Sie möchten wissen, ob die Legende wahr ist. Ich sage Ih nen, dass wir es nie mit Sicherheit wissen werden. Ich weiß jedoch, dass diese ganze Stadt hier nur existiert, um einen einzigen Pfad in einem einzigen Gebäude zu schützen, der in den einzigen Raum führt, in dem sich die Bundeslade möglicherweise befindet. Eine Mischung aus Glauben, Schrecken, Stolz und Furcht schützt diese Bundeslade. Das soll keine Verunglimpfung des Tempels oder derjenigen sein, denen die Legende Angst einjagt: Ob Gott selbst Kräfte be sitzt, die über das Einflößen solcher Gefühle hinausgehen, bleibt eine offene Frage. Nur ein einziger Mönch, der Hüter der Bundeslade, darf sie sehen. Auf seinem Totenbett wählt er seinen Nach folger. Von Gebredan weiß ich, dass der Mann, der dieses Amt innehat, es auch schon zur Zeit von Gebredans Groß
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vater ausübte, insgesamt schon mindestens siebzig Jahre. Da der Hüter aus den Rängen der älteren Mönche, nicht der Novizen, ausgewählt wird, muss er also auf die hun dert Jahre zugehen oder sie bereits überschritten haben. Als ich laut überlegte, was ein Hundertjähriger ausrichten könnte, wenn ein Angreifer oder ein ganzes Bataillon von Angreifern käme, bewaffnet und fest entschlossen, die Lade zu rauben, lachte Gebredan nur und erklärte, der Hüter schütze nicht die Lade vor Fremden, sondern er schütze Fremde vor der Lade. Der auserwählte Mönch sei nicht der stärkste oder kampferprobteste, sondern der feinsinnigste und klügste, der am meisten Überzeugungskraft besitze: der Mönch, der am ehesten dazu in der Lage sei, neugierige Außenstehende dazu zu bringen, zu ihrer eigenen Sicherheit von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen. Sollte das scheitern, dann gibt es in Axum laut Gebre dan genug Männer, die bereit wären zu töten, um die Bun deslade zu schützen. Auch fehlt es der Kirche, in der sich die Lade angeblich befindet, nicht an Fallen, Seitenwegen, La byrinthen und verborgenen Nischen, die einen Eindringling entweder an der Flucht hindern oder aber Dorfbewohnern Gelegenheit bieten würden, sich zu verstecken und ihrerseits dafür zu sorgen, dass die Kirche zum Grab eines Eindring lings würde. Über besagte Fallen will er mir nichts verra ten. Er hat lediglich gesagt, dass man, um die einfachste von ihnen passieren zu können, gute Kenntnisse in Hebrä isch, Aramäisch, Amharisch und Tigrinja braucht. Die Kirche selbst ist in den Hang eines Berges geschlagen. Es gibt nur einen einzigen Eingang, und um ihn zu erreichen, muss man einen mehrere Kilometer langen, schmalen Pfad entlanggehen, der auf der einen Seite vom Berg und auf der anderen von einem steilen Abgrund begrenzt wird.
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Vor zwei Tagen habe ich Gebredan noch einmal gebeten, mir das Innere der Kirche zu zeigen, aber er hat erneut abge lehnt. Seitdem benimmt er sich seltsam und weigert sich, sich weiter als ein paar Schritte vom Haus zu entfernen. Er will unbedingt, dass ich für »Außenarbeiten« einen anderen Mann einstelle, und sperrt sich den Großteil des Tages in seinem Zimmer ein. Ich kann nur vermuten, dass er mir zu viel ver raten hat. Ob es die Überlieferung ist, die ihm solche Angst einjagt, oder etwas viel Schlimmeres, kann ich nicht sagen. Soweit es mich betrifft, ist meine Mission hier beendet. Entweder die Bundeslade ist in dieser Kirche, oder sie ist nicht dort, für uns läuft es letztlich auf dasselbe hinaus. Die meisten Dorfbewohner – alle bis auf einen, um genau zu sein – haben die Lade nie zu Gesicht bekommen, aber sie glauben daran, dass sie da ist, und verhalten sich dement sprechend. Allein das macht die ganze Frage zu einer rein hypothetischen. Natürlich wäre es möglich, mit einem schwer bewaffneten Bataillon nach Axum zu kommen und sich den Weg in die Kirche freizuschießen. Die offiziell atheistische Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken dazu zu überreden, wertvolles Material von der Front abzuziehen, um an ein religiöses Artefakt von fraglicher Authentizität zu gelangen, das womöglich nicht einmal existiert, ist jedoch ein Unterfangen, für das aller Wahr scheinlichkeit nach nicht einmal Ihre Überzeugungskraft ausreichen dürfte. Außerdem halte ich es aus Gründen, die über die materiellen Erfordernisse des Kampfes gegen die Befreiungsfront der Tigrinja hinausgehen – aus Gründen, die offizielle Vertreter der Sowjetunion als »Rückfall in den Aberglauben« bezeichnen würden, die Sie und ich aber un ter einem anderen Namen kennen –, für besser, Axum sei nen Frieden zu lassen.
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Ich habe schon jetzt das Gefühl, diesen Ort durch meine Gegenwart zu entweihen, obwohl ich unter anderen Um ständen sehr gern hierher zurückkehren würde. Ich werde Anfang nächster Woche wieder in Asmara ein treffen und von dort aus hoffentlich rechtzeitig zum Ge burtstag unseres Herrn wieder in Santiago sein (auch wenn ich gehört habe, dass Ihr Kulturattaché, dieser fette Hans wurst Gennadij, darauf besteht, Weihnachten als »die Win terfeier der Ergreifung der Produktionsmittel durch die Arbeiter und des ständigen Wachstums der kollektiven In dustrie unter der wohlwollenden eisernen Hand des Sozia lismus« zu bezeichnen). Mit herzlichen Grüßen, Ihr Genosse und Freund Hauptmann Felix Armando Correa de Todos los Santos
GEGENSTAND 5 Ein geschnitzter hölzerner Tripty chon mit einer quadratischen, pro Seite etwa 8 Zen timeter messenden Haupttafel, versteckt hinter zwei rechteckigen Tafeln. Eine Schnitzerei auf der Au ßenseite der beiden Seitenflügel stellt eine hölzerne
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Truhe dar, gekrönt von zwei geflügelten Figuren – Cherubim –, die einander anblicken. Bei einer ge nauen Untersuchung der Schnitzerei lassen sich auf den Cherubim Spuren von Goldfarbe feststellen. Öffnet man die Klappen, wird ein Bild sichtbar, das einen schlanken, bärtigen, dunkelhäutigen Mann ohne Kopfbedeckung zeigt, der ganz im Vordergrund steht und mit seitlich ausgestreckten Armen nach links und rechts deutet (das heißt auf die Innensei ten der beiden Klappen). Zu seiner Linken ist eine farbige Abbildung derselben Truhe zu sehen, die auch in die Außenseite eingeschnitzt ist, diesmal mit zwei schmalen gelben, das himmlische Feuer darstel lenden Kegeln, die, jeweils von den beiden Cheru bim ausgehend, nach links und rechts außen ragen. Zur Rechten des Mannes laufen die Kegel unterhalb von drei hohen Obelisken zusammen, als wären die se irgendwie durch das Feuer emporgehoben wor den. Der starre Blick, die großen Augen und die fest aufeinander gepressten Lippen lassen die Gestalt im Vordergrund besorgt und trotzig wirken. Von vielen europäischen Alchemisten wurde die Gestalt eines schwarzen Mannes (von denen, die sich für welterfahren hielten, die eines Äthiopiers) be nutzt, um das Anfangsstadium des alchemistischen Prozesses darzustellen, in dem die umzuwandelnde Substanz erst einmal zerfallen und schwarz werden muss, ehe sie wiedergeboren werden kann. Alche misten am Horn von Afrika jedoch, die ihr Handwerk von arabischen Wissenschaftlern erlernten, welche Handelsflotten durch das Rote Meer geleiteten, be nutzten Selbstbildnisse, mit denen sie nicht den Ver
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fall darstellen wollten, sondern die Macht und Mög lichkeit einer Substanz, die aus einer niedrigeren Form befreit wurde: gegenwärtige Freiheit im Ver gleich zu vergangener Knechtschaft, und nicht so sehr gegenwärtige Formlosigkeit im Vergleich zu zukünftiger Vollkommenheit. HERSTELLUNGSDATUM Der in den Vordergrund gestellte Mann mit seinem überproportional großen, dünnen Kopf und den zusammengepressten Lippen, aber auch die Machart des Triptychons (eine Holz schnitzarbeit mit nur einem, sich über die Außensei te beider Seitenflügel ziehenden Bild, das eine auf der Innenseite der Klappen dargestellte Szene vor wegnimmt) ist charakteristisch für die TereyuSchule der äthiopischen Ikonographie, was das Her stellungsdatum auf das späte elfte oder frühe zwölfte Jahrhundert festlegen würde. HERSTELLER Der Hersteller ist nicht genau bekannt, kam aber mit Sicherheit aus den Reihen der TereyuMönche, die von Gdansk bis Konstantinopel und darüber hinaus als Künstler zu Ruhm gelangt waren, zugleich aber auch für die von ihnen neu eingeführ ten strategischen Neuerungen im Kampf gegen die Söhne von Imam Ali Rashid, als sie die Festung des träumenden Schäfers sieben Jahre und sieben Mona te gegen die einfallenden Araber verteidigten. HERKUNFTSORT Höchstwahrscheinlich zwischen den heutigen Städten Massawa und Zula in Eritrea. Die Region zwischen diesen beiden Städten war vom
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achten bis zum achtzehnten Jahrhundert ein reger Ort des Handels: Nahezu jede Ware, die Äthiopien in Richtung Europa oder Asien verließ, ging durch diese Region. LETZTER BEKANNTER BESITZER Das Zentrum für afrikanische Ethnographie und Kultur an der Univer sität von Havanna, Kuba. Die Ikone befand sich in einer von vier mit »orientalischen Kuriositäten« voll gestopften Kisten, die von Felix Armando Correa, einem ehemaligen Hauptmann der kubanischen Ar mee und späteren Experten für afrikanisches Chris tentum nach Santiago de Cuba gebracht wurden. Nachdem Correa unter zweifelhaften Umständen aus der Armee entlassen worden war, widmete er sich ab 1980 acht Jahre lang der Aufgabe, auf den Spuren des Wandermönchs Cosmas Indicopleustes aus dem sechsten Jahrhundert zu reisen. Nach seiner Rück kehr im Jahr 1988 zog er sich auf die Tabakfarm sei ner Familie zurück, wo er die ihm verbleibenden Jahre fastend, studierend und betend verbrachte. Im August 1989 mussten nach einem Hurrikan nicht nur sämtliche Räume des Museums frisch gestri chen, sondern auch alle Stromleitungen neu verlegt werden. Um die Arbeiten möglichst schnell abschlie ßen zu können, wurde eine Gruppe russisch usbekischer Elektriker, die eigentlich zur »ArbeiterErholung« nach Kuba geschickt worden waren, zur Mithilfe zwangsverpflichtet. Einen Tag nachdem der Strom wieder angeschaltet worden war – und zwei Ta ge nachdem die Elektriker wieder nach Chirchik abge reist waren –, wurde das Fehlen der Ikone bemerkt.
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Auf den Tag genau ein Jahr nach dem Verschwin den der Tereyu-Figur wurde Correa von seinem En kelsohn tot aufgefunden. Er hatte eine Waffe in der Hand, und sein Gehirn war über die Wand verteilt. GESCHÄTZTER WERT Optimisten würden seinen Wert auf etwa 70.000 Dollar schätzen, realistische Händler auf 55.000 Dollar und gewiefte Käufer auf nicht weniger als 45.000 Dollar. Tereyu-Ikonen, so selten und alt sie auch sein mögen, bringen in der Regel zwischen 15.000 und 45.000 Dollar (je nach Zustand) für eine einzelne Steintafel, und 30.000 bis 70.000 Dollar für einen geschnitzten Holzdiptychon oder -triptychon in gutem Zustand.
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Dies ist der Vater aller Vollkommenheit in der ganzen Welt.
Als ich am Freitagmorgen um einiges später, als ich eigentlich sollte, im Büro eintraf, fand ich dort nur Austell vor. Er hatte einen Füllfederhalter in der Hand, jede Menge Papier auf seinem Schreibtisch liegen und vor sich auf dem Boden Radierungen und Fotos von Pilzen ausgebreitet. »Ah, guten Morgen, Paul. Obwohl es eigentlich ein ziemlich trauriger Morgen ist, nicht wahr?« Er deutete auf Arts dunkles Büro. »Er nimmt an einer Totenwache für diesen Doktor teil, dessen Namen …« »Für den Panda«, unterbrach ich ihn. »Ja, genau. Den Panda. Ein wundervoller Name. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Oder doch, ich glaube, ich bin ihm mal an einem von diesen netten, unkonventionellen Abenden begegnet, die Art und Donna manchmal veranstalten. Er war ein dunkel häutiger Gentleman, nicht wahr?« Ich zuckte nur die Achseln – ich hatte ihn nie per sönlich kennen gelernt. »Doch, ich glaube schon«, fuhr Austell gedanken verloren fort. »Hmmm. Trotzdem ein sehr netter Kerl. Wie ich höre, ist er ganz überraschend gestorben?« »Er wurde überfahren. Der Wagen hat nicht mal angehalten.«
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Austell nahm seine Brille ab und musterte mich, als würde er mich gerade zum ersten Mal sehen. »Wirklich? Wirklich? Wie schrecklich. Aber, das ist ja … Ist jemand zur Polizei gegangen?« Er betonte das Wort »Polizei«, als wäre es etwas völlig Exotisches: gewalttätige Männer in billigen Blazern, die mit gezückter Waffe Türen einrannten. Ich fragte mich, ob er überhaupt jemals einem Poli zisten begegnet war (die Olafssons mal ausgenom men). »Ja, die Polizei wurde sofort an den Unfallort gerufen. Bis jetzt gibt es noch keine Verdächtigen. Die Zeugen waren sich nicht einig, weder was den Fahrzeugtyp noch was den Fahrer betraf.« »Du hast selbst mit der Polizei gesprochen?« »Ja, habe ich. Was aber nicht heißen soll, dass viel dabei herausgekommen ist.« »Schade. Und wie läuft es mit dem Rest deiner Arbeit?«, fragte er in fast väterlichem Ton. »Danke, ich kann mich nicht beklagen.« »Dann ist es ja gut. Wie ich höre, erweitert Verill’s um eine Gemüseabteilung. Das wird hier in der Ge gend für große Aufregung sorgen, das kann ich dir sagen. Und, hast du mal wieder einen Ausflug nach Clougham gemacht?« »Nein, und da ist auch keiner mehr geplant. Wie es aussieht, werde ich die nächsten Tage entweder hier oder in Wickenden sein.« »Es freut mich, das zu hören. Wie gesagt, Cloug ham war immer schon ein ziemlich seltsamer Ort. Ich selbst würde da nicht hinfahren, wenn ich es irgend wie vermeiden könnte.« Ich nickte freundlich und wandte mich meinem
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eigenen Schreibtisch zu. Den Rest des Vormittags arbeiteten wir schweigend. Hin und wieder sagte Austell mal einen Satz laut vor sich hin, ansonsten hörte man nur das Geräusch meiner Tastatur. Ich war damit beschäftigt, das Gespräch abzutippen, das ich am Vorabend mit Hannah geführt hatte. Dabei muss te ich immer wieder an sie denken, und als ich an fing, erst die Stunden zu zählen und mir dann in Mi nuten auszurechnen, wie lange es noch dauerte, bis ich sie abholen würde, fiel mir das Arbeiten immer schwerer. Austell war inzwischen dazu übergegan gen, leise vor sich hin zu summen. Er klang wie eine bekiffte Hornisse. Das und der Gedanke, dass ich an diesem Abend tatsächlich ein echtes, richtiges Ren dezvous mit einer echten, real existierenden Frau haben würde, machten mich so nervös, dass ich ir gendwann nicht mehr still sitzen konnte. Kurz vor Mittag erklärte ich Austell, dass ich mit den Leuten von Verrill’s über ihre neue Abteilung reden wolle, und eilte aus dem Büro, bevor er mich bitten konnte, ihm etwas mitzubringen. Um 18 Uhr 40 war die Sonne bereits untergegangen, die Luft war schneidend kalt und roch nach Rauch, und ich war so oft in meiner Wohnung auf und ab getigert, dass ich wahrscheinlich eine Marathonstre cke zurückgelegt hatte. Es war mir nicht gelungen, den Nachmittag auf produktive Weise zu verbringen, weshalb ich mich auf den altehrwürdigen Zeitver treib besonnen hatte, einen Tennisball gegen die Wand zu donnern, bis meine Vermieterin zurück klopfte. Dann hatte ich den Fernseher angeschaltet.
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In einer Kleinstadt schienen die Nachrichten der Lokalsender bewusst darauf ausgerichtet zu sein, die Behauptung zu widerlegen, dass Journalismus über eine sich verändernde Welt berichten sollte. Nach dem ich zwei Monate in Lincoln gelebt hatte, wur den die Abendnachrichten für mich zu einer Übung in Kombinatorik: Brand, Stadtrat in Schwierigkeiten, Highschool-Footballteam gewinnt, Wetter; High school-Footballspieler in Schwierigkeiten, Stadtrat erwägt neue Möglichkeit, die kommunalen Kassen zu füllen, Brand, Wetter; Schneesturm, das Neueste über das Highschool-Hockeyteam, Richter wegen Begrabschens seiner Sekretärin gefeuert, Brand, Wetter. An diesem Abend war der Aufmacher ein Bericht über die Eröffnung eines schicken neuen Lebensmittelgeschäfts zwei Städte weiter, was be deutete, dass die Wochenendler nicht mehr gezwun gen waren, Quinoa, Frisee und Kaffee-Schoko Guaven-Bier von zu Hause mitzubringen. Als sie anschließend einen Bericht über die HighschoolBasketballmannschaft brachten, die es auf Landes ebene bis ins Viertelfinale geschafft hatte, schaltete ich aus. Ich schlüpfte zum ersten Mal seit meiner Studienabschlussfeier in ein Sportsakko (das vom langen Hängen im Schrank anscheinend ein wenig kleiner geworden war, vor allem um den Bauch her um), bändigte mein nicht zu bändigendes Haar zu einer halbwegs ordentlichen Frisur und brach auf. Auf dem Weg zum Auto warf ich lässig meinen Schlüssel hoch, um ihn mit der anderen Hand wieder aufzufangen, was aber nicht so recht klappte, sodass ich ihn am Ende aus einer Pfütze fischen musste.
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Talcotts lange, hufeisenförmige Zufahrt war von ih ren eigenen Herbstmonden beleuchtet, runden gelben Lampen zu beiden Seiten der Straße, und erstreckte sich von der Einfahrt bis zum imposanten Hauptein gang und dann vorbei an den mit Flutlicht ausgestatte ten Sportplätzen und den Schlafsälen in den verschie denen Baustilen – alterwürdiger NeuenglandRustikalstil, efeubewachsene rote Ziegelbauten, 1970er-Hartford-Wohnprojekte – bis zu dem schlich ten, aus Glas und Stahl bestehenden Hintereingang. Hannah stand drinnen schon bereit und kam sofort heraus, als ich winkte und aufblendete. (Warum mach te ich das? Das tat ich sonst nie, es gehörte nicht zu meinen Gesten – der Abend begann mit Vorwürfen, die ich im Stillen gegen mich selbst erhob.) In dem warmen Licht der Lampe wirkte sie mit ihrem grünen Wollcape, dem honigfarbenen Haar und den langen silbernen Ohrringen völlig zeitlos, wie verzaubert, als wäre sie eine Art Gazelle ohne feste Konturen. »Sie sind sehr pünktlich«, stellte sie beim Einsteigen fest. »Da bin ich aber froh, ich bin näm lich genau vor fünf Minuten mit dem Durchsehen der Schularbeiten fertig geworden.« »Zu welchem Thema haben Sie Ihre Schüler denn geprüft?« »Oh, das Übliche. Musik. Ich habe versucht, den älteren Schülern das Kontrapunktieren beizubringen. Ich habe ihnen die erste Französische Suite vorge spielt, und dann ›When I’m Sixty-four‹, wegen des Klarinettenteils am Schluss, Sie wissen bestimmt, was ich meine, oder?« Ich wusste es nicht. »Klar.«
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»Nachdem ich jetzt ihre Arbeiten gesehen habe, bin ich nicht mehr sicher, ob sie es begriffen haben.« Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr sich durchs Haar, zupfte die einzelnen Strähnen aus einander. »Na ja. Wissen Sie übrigens, wo wir hin müssen?« »Nein. Ich besitze keinerlei Orientierungssinn. Ich verfahre mich sogar auf Parkplätzen.« Sie kicher te. Erster Punkt für die Gastgebermannschaft. »Sie müssen mich also lotsen.« »In Ordnung, wir müssen auf die 87, das ist oben …« Plötzlich legte sie mir aufgeregt die Hand auf den Arm. »Oh, halten Sie an, halten Sie an, gleich hier vor St. Stephens.« Rechts von uns ragte eine große Steinkirche auf. Davor waren zwei Männer in Soutanen und Parkas damit beschäftigt, Holzpfähle mit Plakaten in den Boden zu treiben. Die beiden Männer hätten kaum unterschiedlicher sein können: Der eine war ein fet ter, rot gesichtiger, fröhlich aussehender Weißer, der andere ein schlanker, sehr gepflegt wirkender, ernst dreinblickender Schwarzer. Der schwarze Priester hielt den Pfosten, während der weiße ihn in den Bo den trieb und dabei vor Anstrengung keuchte. Als ich anhielt, unterbrachen sie beide ihre Arbeit und blick ten auf: zwei Priester im Licht meiner Scheinwerfer. Der fette Weiße erkannte Hannah, ließ achtlos den Hammer fallen und kam zum Wagen herüber. »Ja, wen haben wir denn da! Hallo, Hannah. Was für eine nette Überraschung. Wo geht’s denn heute Abend hin? Luke, Sehen Sie mal, wer hier ist!«, rief er dem anderen Priester zu. »Miss Rowe.«
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Der zweite Mann kam herüber und begrüßte Hannah mit einem höflichen Lächeln und einem Nicken. Sie erwiderte die Begrüßung auf dieselbe Weise, unterhielt sich aber weiter mit dem anderen Mann. »Wir gehen essen. Das ist Paul, ein Freund von mir«, stellte sie mich vor. »Das ist Reverend Hamp den.« Er zog seinen Handschuh aus und platzierte seine wabbelige Hand wie einen toten Karpfen in der meinen, ohne dabei auch nur den geringsten Druck auszuüben. Dann zog er rasch seinen Hand schuh wieder an. »Und das ist Reverend Makgabo.« Der zweite Priester schüttelte mir fest die Hand und sagte sogar: »Nett, Sie kennen zu lernen.« Ich konn te seinen Akzent nicht recht einordnen. »Wo wollt ihr beiden denn diesen wunderschönen Abend verbringen?«, fragte Hampden. »Im Trout.« »Ah, fein, fein. Eine wunderbare Wahl. Sagen Sie, Paul, kommen Sie aus unserer Ecke des Waldes?« »Ursprünglich nicht, aber ich lebe jetzt schon eine ganze Weile in Lincoln.« »Wirklich? Großartig. Was machen Sie? Wo gehen Sie in die Kirche?« »Ich bin kein großer Kirchgänger, aber ich arbeite für den Carrier.« »Ein Reporter. Ich schätze, das erklärt alles«. Er zwinkerte Hannah betont theatralisch zu. »Mitglie der der hart arbeitenden Presse haben heutzutage nicht mehr viel Zeit, in die Kirche zu gehen. Nein, nicht einmal Art und Donna lassen sich an Weih nachten blicken. Natürlich ist Art Katholik, und
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deswegen …« Er brach mitten im Satz ab und hielt seine behandschuhten Hände hoch, als würde ich auf ihn losgehen. »Das war jetzt nicht beleidigend ge meint, bitte nicht böse sein, falls Sie ebenfalls Katho lik sind oder einer anderen Konfession angehören, aber unsere Hannah hier ist eine von den wenigen jungen Leuten aus der Gegend, die noch aktiv in unserer Kirche mitwirken. Nicht wahr, Luke?« Mak gabo nickte, auch wenn Hampden sich nicht mal die Mühe machte, zu ihm hinzusehen. »Erst kürzlich hat sie wieder die Jugendgruppe betreut, stimmt’s?« Hannah nickte. »Apropos«, fuhr Hampden fort, wobei er sich mit einer Hand an den Kopf fasste und mit der anderen über den Bauch strich, der sich unter seiner Soutane und seinem Mantel wölbte. »Vielleicht könntest du einen Moment mit hineinkommen, Hannah, dann könnten wir rasch besprechen, wann du das nächste Mal Zeit hast. Paul, Sie dürfen uns natürlich gern be gleiten. Luke, wären Sie so nett, die Plakate fertig zu machen?« Er wandte sich an mich und hielt wieder die Hände hoch. »Ich kann mit diesen dämlichen Handschuhen einfach nicht arbeiten. Man hat darin überhaupt kein Gefühl. Hannah?« Sie stieg aus, er legte einen Arm um sie, und sie gingen auf die Kirche zu. Hannah blickte sich nach mir um, hielt einen Fin ger hoch und formte mit den Lippen: »Eine Minute.« Ich schaltete den Motor ab und stieg aus. »Kann ich Ihnen dabei zur Hand gehen?«, fragte ich Mak gabo. Die Plakate warben für einen Kuchenverkauf und eine Versteigerung, die Geld für das Pfarrhaus einbringen sollten.
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»Ja, das wäre sehr nett. Man muss zu zweit sein, um sie gerade hineinzubekommen. Noch dazu ist der Boden nach diesem ganzen Regen ziemlich rutschig. Am besten, Sie halten die Pfosten, und ich schwinge den Hammer. Nein, nein, nicht so weit oben. Ich möchte Ihnen nicht die Finger plätten.« »Darf ich fragen, woher Sie kommen?« »Aus Uganda. Ich bin im Rahmen eines zweijähri gen Austauschprogramms in die Vereinigten Staaten gekommen. Ein Priester aus New Haven, Reverend Jonas, nimmt währenddessen meinen Platz in Gulu ein.« »Warum Lincoln und nicht New Haven?« »Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Ich bin einfach da hingegangen, wo man mich hinge schickt hat. Zwar arbeite ich drei Abende die Woche in New Haven, aber da fungiere ich eher als ehren amtlicher Mitarbeiter, weniger als Pfarrer. Dabei ha be ich das Gefühl, dass seelsorgerische Betreuung dort mehr Not täte als hier. Verzeihen Sie mir, falls Sie diese Bemerkung irgendwie beleidigend finden.« »Ganz und gar nicht. Was machen Sie denn in New Haven?« »Ich arbeite in einer Kantine, einer Suppenküche, wie die Leute hier wohl dazu sagen. Sie wird von der Kirche betrieben. Ich koche, putze und höre zu.« Er schlug den ersten Pfosten tief in die Erde und griff nach dem nächsten. »Und Sie arbeiten hier als Re porter? Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?« »Ich denke schon.« »Das ist aber nicht gut, wenn Sie erst darüber nachdenken müssen. Als gebildeter Mann haben Sie
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doch die Möglichkeit, sich einen Beruf auszusuchen, von dem Sie sicher wissen, dass er Ihnen Spaß macht. Ihre Freundin Hannah scheint ihre Arbeit sehr zu mögen«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Dabei funkelten seine Augen spitz bübisch. »Und Sie scheinen Hannah sehr zu mögen. Sie haben sie vorhin nicht aus den Augen gelassen.« Ich wurde rot und wusste nicht, was ich sagen sollte. Reverend Makgabo lachte. »Aha, wusste ich es doch. Schließlich bin ich verheiratet, und ich sehe meine Frau genauso an. Auch Priester sind Menschen.« Sein herzliches Lachen wirkte auf mich so anste ckend, dass ich einfach mitlachen musste. »Ja, sie ist ganz in Ordnung«, räumte ich ein, wor aufhin Reverend Makgabo noch mehr lachen musste. »Ganz in Ordnung. Allerdings. Ja, das ist sie aller dings.« Wieder sah er mich mit einem halben Lä cheln von der Seite an. Er hatte etwas Quirliges, Ko boldhaftes, sehr Gewinnendes an sich. »Sie würden einen hervorragenden Hakler abgeben, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.« »Bitte?« Wieder lachte er mit blitzenden Augen. »Ich spre che von Rugby. Spielen Sie?« »Ich habe es noch nie ausprobiert.« »Na, dann müssen Sie unbedingt mal mit uns spielen. Wir sind eine Gruppe von ungefähr zwanzig Leuten, und wir spielen am Wochenende, sooft wir Zeit haben. Abgesehen von mir hat keiner von uns vorher jemals gespielt. Um ein paar Leute zusam menzubekommen, habe ich in Lincoln und New Haven Zettel ausgehängt, und nun bringe ich meine
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Brüder in beiden Orten dazu, sich ein paar Stunden lang wie die Heiden zu rangeln. Sie glauben gar nicht, welche Probleme man auf einem Rugbyfeld lösen kann. Statt zu grübeln oder zu streiten oder Rachepläne zu schmieden, rammt man einfach je manden und wird so alle seine Frustrationen mit ei nem Schlag los.« »Spielt Reverend Hampden auch mit?« »Oh. Dieses spezielle Gebet wurde noch nicht er hört«, antwortete er. Schon wieder blitzte ihm der Schalk aus den Augen. »Aber wenn man von der Sonne spricht …« Hampden kam wie ein betrunkenes Walross die Auffahrt heruntergewatschelt. Während er mit der einen Hand, die noch immer in einem Handschuh steckte, durch die Luft ruderte, um die Balance bes ser halten zu können, führte er Hannah mit der ande ren den Weg hinunter. Die Hand an Hannahs Rü cken trug keinen Handschuh, und der Gesichtsaus druck, mit dem er sie ansah, während sie redete, lag irgendwo zwischen extrem interessiert und verdäch tig lüstern. Die Häufigkeit, mit der sein Blick zu ih rem Ausschnitt hinunterwanderte, wenn sie gerade nicht zu ihm hinsah, rückte ihn allerdings weiter in Richtung lüstern. Als sie uns erreicht hatten, klopfte er mir auf die Schulter. »Hören Sie mal, Paul, nun habe ich Ihrer Freundin Hannah hier alle möglichen Fragen über Sie gestellt, aber sie konnte mir keine einzige beantworten.« Ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte, und hoffte, dass Hannah mir zu Hilfe kommen würde, was sie aber nicht tat.
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»Auf jeden Fall machen Sie einen recht anständi gen Eindruck. Was meinen Sie, Luke? Sie haben ihn doch bestimmt ordentlich in die Mangel genommen, oder?«, fragte er mit einem demonstrativen Zwin kern in Hannahs Richtung. »O ja. Er scheint mir durchaus ehrenwert zu sein.« »Na, dann hätten wir das ja geklärt. Paul, es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Fahren Sie vor sichtig. Du siehst wie immer sehr hübsch aus, Han nah.« Er küsste sie auf die Wange und nahm sie dann auch noch völlig unnötigerweise in den Arm. Bei dem Anblick gruselte mir fast ein wenig. »Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.« »Das hoffe ich auch.« »Wunderbar. Paul, Sie sind auch jederzeit herzlich willkommen. Vielleicht interessiert es Sie ja, was wir hier so alles machen.« Mehrere tausend Antworten wuselten wie Kaul quappen durch meinen Kopf. Da ich keine nette Antwort zustande brachte, beschränkte ich mich auf einen wortlosen Händedruck. Reverend Makgabo lud mich ein, mich am nächs ten Morgen am Sportplatz von Talcott einzufinden, falls ich Lust hätte zu spielen. Hannah stupste mich mit einem Finger in den Rücken, sagte, dass es Zeit für unser Abendessen sei, und schob mich zurück zum Wagen. Das Trout lag ein kleines Stück südlich der Grenze nach Massachusetts neben einem Bach, der an einem breiten Streifen Wiese entlang verlief, begrenzt von kleinen Kiefernwäldchen und ein paar Hügeln, die
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vor dem blauen Nachthimmel nur andeutungsweise zu sehen waren. »Was da durch diese Bäume führt, ist der Appala chian Trail«, erklärte uns der bärtige Wirt, während er uns zu unserem Tisch führte. »Das wissen nicht viele Leute. Beim Stichwort Appalachian denken die Leute immer gleich an Tennessee. Aber wenn ihr nach dem Essen dem Weg folgt, der am hinteren Ende des Parkplatzes beginnt, und beim ersten Wäldchen links abbiegt, dann landet ihr irgendwann in Tennessee, wenn ihr nur lange genug geht. So, wenn ihr wisst, was ihr bestellen wollt, dann kommt zu mir an die Theke. Die Speisekarte seht ihr auf der Tafel da drüben über der Bar. Den Lachs würde ich nicht nehmen, wenn ich ihr wäre«, fügte er mit ei nem Zwinkern hinzu. Hannah bestellte sich ein Glas von dem Bier, das sie dort selbst brauten, und einen Auflauf aus Hackfleisch und Kartoffelbrei. Ich ent schied mich für einen Cheeseburger mit Pommes und ein Budweiser. Der Wirt und Hannah sahen mich beide an, als hätte ich nach einem sautierten Säugling verlangt. »Bist du sicher, dass du ein Bud weiser willst?«, fragte Hannah, die einfach zum Du überging. Ihrem Ton nach zu urteilen, war zumin dest sie sicher, dass ich keines wollte. »Sie brauen hier ihr eigenes Bier.« »Wirklich?« Der Wirt nickte. Er hatte die Augen geschlossen und grinste selig. Bei so viel Selbstzufriedenheit durfte ich wohl mit einem perfekten Glas Bier rech nen. »Dann nehme ich … ein Glas von dem, was man hier eben so trinkt.« Er schnaubte ein wenig,
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bedachte mich mit einer Grimasse, die wohl ein Ausdruck seiner großen Toleranz gegenüber Igno ranten sein sollte, und zog ab. Ich zuckte die Ach seln. »Ich weiß, ich bin ein Banause. Wenn es das Zeug in Dosen gäbe, dann hätte ich eine Dose be stellt.« Sie tat, als wäre sie pikiert. »Ich hoffe bloß, dass mich niemand sieht, wenn ich mit einem Hinter wäldler wie dir unterwegs bin«, scherzte sie und strich dabei mit ihrer Hand über meine. Ich fragte sie nach ihrer Meinung über Father Hampden. »Oh, er ist ein niedlicher alter Mann. Er liebt seine Arbeit, und er ist genau so, wie man sich einen typischen Neuengland-Priester vorstellt, fin dest du nicht? Was hattest du denn für einen Ein druck von ihm?« Ich zog unverbindlich die Augenbrauen hoch. »Ich fand Reverend Makgabo sehr sympathisch.« »Er ist ziemlich still. Allerdings kenne ich ihn nicht besonders gut. Aber Father Hampden, er wirkt so authentisch. Bei ihm hat man das Gefühl, dass er da, wo er ist, auch wirklich hingehört.« Ich hielt es für besser, meine Meinung für mich zu behalten. »Darf ich dir eine Frage stellen?«, sagte sie. Ich nickte. »Was für ein Name ist eigentlich Tomm? Ich meine, als du mich das erste Mal angerufen hast, musste ich an Billy Bob oder Becky Sue oder so was denken.« Ich nickte lachend. Das hatte ich schon öfter gehört, und jeder fragte nach meinem Namen. »Ich möchte aber wirklich nicht neugierig sein«, füg
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te sie hinzu. Dabei neigte sie den Kopf zur Seite und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Das war unfair, dachte ich. Ich hätte sogar ein Staatsgeheimnis aus geplaudert, um diese Geste noch einmal sehen zu dürfen. »Mein Großvater, der Vater meines Vaters, ist aus Polen nach Brooklyn gekommen. Eigentlich sollte er nach Liverpool, denn da warteten bereits seine Brü der auf ihn, und er war auch der Meinung, dass sein Schiff dorthin fuhr. Er konnte weder lesen noch schreiben und ist wohl einfach davon ausgegangen, dass er nur auf das erstbeste Schiff mit einer eng lischsprachigen Besatzung zu springen brauchte. Deswegen hatte er auf dem Weg nach Westen auch beschlossen, seinen Namen zu anglisieren. Jedenfalls wendet er sich irgendwann an einen der Schiffsoffi ziere …« »Den Ersten Offizier?« »Den Bootsmann? Den Kielholer? Was weiß ich. Das einzige Schiff, auf dem ich in meinem ganzen Leben jemals gewesen bin, ist die Staten-IslandFähre. Er fragt also diesen Kerl: ›Was ist für Sie ein ganz typischer englischer Name?‹ Und der andere sagt: ›Tom.‹ Also wurde das sein Name. Wie das zu sätzliche m hineingeraten ist, weiß ich nicht, aber ob du es glaubst oder nicht, das ist die Geschichte mei nes Nachnamens. Und was ist mit dir? Rowe? Bist du ein Mayflower-Baby?« Sie musste so lachen, dass sie aus Versehen ein wenig Bier zurück in ihr Glas spuckte. »Tja. Mein Vater sieht das gern so, aber meine Mutter ist ein typisches, ganz normales Mädchen aus dem Mittle
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ren Westen. Eine skandinavisch-schottisch-irische Mischung. Wahrscheinlich ist auch noch ein Schuss von irgendwas anderem dabei. Alles in allem also die Art ethnischer Hintergrund, der nicht so recht als ethnischer Hintergrund zählt.« »Enge Familienbande?« »Zu meiner Mutter habe ich ein sehr enges Ver hältnis. Sie lebt allein, ein kleines Stück außerhalb von Chicago. Schaumburg, falls dir das was sagt.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber das war’s dann auch schon. Meinen Vater sehe ich nur hin und wieder, so selten wie möglich. Als ich sechs war, ist er mit einer anderen abgehauen, die er bald darauf auch wieder hat sitzen lassen. Seitdem hat es noch eine Menge andere gegeben. Jedenfalls lebt er inzwischen unten in Florida, in einem dämlichen kleinen Bungalow auf einem Golfplatz, wo er 7&7 trinken und seiner Ei telkeit frönen kann. Er mag die Kälte nicht, deswe gen besucht er mich auch nie hier oben. Ein weiterer Grund, warum ich gern in Lincoln lebe.« Während sie erzählte, war unser Essen eingetrof fen, und sie stürzte sich auf ihren Shepherd’s Pie, als hätte sie schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Ich musterte sie wohl eine Spur zu aufmerksam, denn plötzlich blickte sie auf und begann verlegen an ih rem Kinn herumzuwischen und ihre Bluse nach Fle cken abzusuchen. »Keine Sorge, da ist nichts. Ich finde es bloß schön, wenn Mädchen anständig essen.« »Oh, danke. Ich glaube, das trifft auf mich zu. Ich kann sogar schon richtig gut mit Messer und Gabel umgehen.«
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»So habe ich es nicht gemeint … Es tut mir Leid, ich wollte damit nur …« Lachend winkte sie ab. »Ich weiß. Und was ist mit dir? Du bist eine Promenadenmischung aus Brook lyn. Was noch?« »Mein Dad lebt wieder in Indianapolis, wo er auf gewachsen ist. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf war. Mom lebt immer noch in Brooklyn. Sogar noch in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, einem großen dreistöckigen Kasten. Sie redet immer davon, die oberen Stockwerke zu vermieten, aber ich glaube, eigentlich möchte sie, dass mein Bruder und seine Familie dort einziehen.« »Wow! Ein Drei-Generationen-Haus in den Ver einigten Staaten. Noch dazu in New York.« »Na ja, ich schätze, wir kommen nicht besonders viel herum.« »Keine Reisen?« »Nein, bei uns in der Familie ist niemand beson ders reiselustig. Als ich noch ein Junge war, sind meine Eltern mal mit uns nach London geflogen, und meine Mutter besucht hin und wieder ihre Ver wandten in Holland und Irland. Mein Dad sagt, dass er die Taucherkrankheit bekommt, sobald er sich irgendwo östlich von Cleveland oder westlich von Omaha aufhält.« »So, und jetzt kommt die große Frage.« Sie klopf te mit den Fingern einen kleinen Trommelwirbel auf der Tischplatte. »Wie alt bist du?« »Rate mal.« »Keine Ahnung. Siebenundzwanzig? Achtund zwanzig?«
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Ich ließ mich auf die rote Kunstlederbank zurück fallen. »Das tut weh. Das tut wirklich weh. Ich bin gerade erst dreiundzwanzig geworden.« Sie schlug die Hand vor den Mund und starrte mich ungläubig an. In ihren weit aufgerissenen Au gen spiegelten sich die Kerzen der Nachbartische. »Mein Gott, ein Kleinkind! Nicht zu fassen. Ich hat te ja schon öfter mal ein Rendezvous mit einem jün geren Mann, aber so jung war noch keiner. Du stehst ja quasi noch unter Welpenschutz!« Ich wurde rot. Hatte sie eben angedeutet, dass wir ein Rendezvous hatten? »Warum? Darf ich fragen …« »Ich? Jenseits von gut und böse. Einunddreißig.«
Ich sagte erst mal gar nichts, was rückblickend schlimmer war, als wenn ich eine blöde Bemerkung gemacht hätte. Ich konnte mich noch ziemlich gut an den Tag erinnern, als meine Mutter ihren achtund zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Mit einund dreißig war man schon richtig erwachsen. »Ich hatte noch nie ein Rendezvous mit einer so … Na ja, das lag wahrscheinlich daran, dass ich am College war und einfach keine …« Das Loch wurde immer tiefer, und ich lief knallrot an. »Du brauchst wirklich nicht dauernd rot zu wer den. Besorg mir einfach eine Gehhilfe, wenn wir nachher aufbrechen, und misch mir ein paar Herztropfen in mein Bier, dann schaffe ich das schon. Keine Sorge.« Normalerweise kann ich mich nicht so locker un terhalten, vor allem nicht mit Frauen – insbesondere Frauen, die ich attraktiv finde. Aber unser Gespräch
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floss einfach so dahin, und je lockerer es wurde, des to mehr stand für mich gefühlsmäßig auf dem Spiel.
Die Welt wurde größer und freundlicher, während wir an diesem Tisch saßen. Ich gestand ihr, dass ich noch immer nicht so recht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Sie sagte, ihr gehe es genauso. Bevor sie nach Lin coln gezogen sei, habe sie in Boston gelebt, wo sie Englisch unterrichtete, in ein paar Chören sang und »das typische, leicht ausschweifende Leben einer einigermaßen attraktiven Single-Frau in einer großen Universitätsstadt« führte. Irgendwann habe sie dann das Gefühl gehabt, mal für eine Weile aus der Stadt entfliehen zu müssen. Als sie von dem Job in Talcott hörte, sei sie nach Lincoln gezogen, fühle sich aber, was ihr Leben betreffe, »eher zufrieden als glück lich«. Sie fragte sich, ob das ein Problem sei oder einfach ein Zustand, an den sie sich gewöhnen sollte. Ich zuckte die Achseln und antwortete, das wisse ich auch nicht. »Natürlich weißt du das nicht. Du bist ja kaum alt genug, um an der Bar ein Bier für mich zu bestellen. Apropos.« Sie hielt ihr leeres Glas hoch. »Das Glei che noch mal, bitte. Und eines verspreche ich dir: Wenn du mit einem Budweiser oder irgendwas in einer Dose zurückkommst, stehe ich auf und gehe.« Nachdem wir zwei weitere Stunden geredet und ebenso viele Biere getrunken hatten, fragte sie mich irgendwann nach der Uhrzeit. Ich stand auf, um ei nen Blick auf die Uhr hinter der Theke zu werfen und sah bei der Gelegenheit einen Mann allein an der Bar sitzen, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er
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hatte ein freundliches Seefahrergesicht, blaue Augen und einen weißen Bart. Von seiner Kleidung her hät te er ein alter Professor sein können, sie war in Braun- und Beigetönen gehalten und wirkte ein we nig unförmig und farblos. Ich wusste nicht, woher ich ihn kannte, war aber sicher, dass ich ihn schon ein mal gesehen hatte. Nachdem ich mich wieder niedergelassen hatte, machte ich Hannah auf ihn aufmerksam. Ich nahm an, dass er aus Lincoln kam, sodass sie ihn vielleicht kannte. Als sie sich nach ihm umsah, starrte er direkt zu unserem Tisch herüber. Hannah drehte sich so schnell wieder um, dass sie es nicht ganz schaffte, den Schrecken und die Angst auf ihrem Gesicht vor mir zu verbergen. »Ich weiß nicht, wer das ist. Ich glaube nicht, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Aber ich denke, wir sollten jetzt gehen«, sagte sie. Ihr Lächeln dabei wirkte ziemlich gezwungen. »Ich bin inzwischen wirklich müde«, fügte sie hinzu und legte ihre Hand auf meine. »Was ist los? Wer ist dieser Mann?« »Ich habe es dir doch gesagt. Ich weiß es nicht. Bitte, können wir jetzt gehen? Bitte.« »Dein Glas ist doch noch halb voll. Bist du sicher, dass du nicht …« Doch sie holte bereits Geld aus ihrer Tasche, um zu bezahlen. Ich gab auf. »Nein, nein, du bist einge laden. Lass uns von hier verschwinden. Aber wenn du dir irgendwelche Sorgen machst, solltest du viel leicht mit der Polizei sprechen, oder vielleicht …« Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und einen mög lichst erschöpften, vom Bier benebelten Eindruck zu
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machen, aber ihr Gesichtsausdruck erinnerte mehr an eine schlecht sitzende Maske. »Der Mann sieht nur ein bisschen so aus wie mein Vater auf unseren alten Fotos«, erklärte sie. Falls das stimmte, musste ihr Vater bei ihrer Geburt schon auf die sechzig zu gegangen sein, was ungewöhnlich war, wenn auch nicht völlig unmöglich. Trotzdem konnte ich mir diesen alten Seemannstypen nicht auf einem Golf platz in Florida vorstellen. Obwohl sie so sorglos lächelte und sich beim Ver lassen des Lokals um einen besonders unbeschwer ten Gang bemühte, sah ich, wie ihre Hände zitterten, als sie ihr Cape zuknöpfte.
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Xinjiangs Elfenbein (Erde)
D Erde: Ein Barbarendichter bemerkte einmal unge wohnt treffend, dass wir von ihr abstammen und zu ihr zurückkehren werden. Sie ist, wie schon die Alten erkannten, das erste und wichtigste der Elemente, sowohl was ihre Beschaffenheit als auch ihr Ansehen betrifft, und in erster Linie bekannt für ihre Kälte und Trockenheit, in Wirklichkeit aber auch ein Auf enthaltsort und eine Brutstätte für die anderen drei Elemente. Tsun Li Bai war der Überzeugung, dass ein wahrer Wissenschaftler jeden Tag einen Esslöffel von seiner Heimaterde zu sich nehmen und sie sogar auf Reisen mit sich führen sollte. Auf sein trauriges Schicksal brauchen wir hier nicht näher einzugehen … D YUN FEIYAN D Das Drachenrad
[Der folgende Auszug stammt aus einer Erklärung von Jakob Harve, einem estnischen Dichter, der im August 1974 zum Volksfeind erklärt und im Arbeits lager von Jamal interniert wurde. Er schrieb diese Erklärung, nachdem ihm drei Jahre später die Flucht aus Jamal gelungen war. Die erste Seite oder auch mehrere Seiten fehlen.]
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… weil ich dachte, sie wären alle kollektiviert und zu pflichtbewussten Homines sovietici gemacht wor den. Ich fragte ihn, ob dem womöglich doch nicht so sei. »Größtenteils schon«, antwortete er in verdächtig gutem Russisch. (Das allein hätte mich warnen müs sen – was war ich doch für ein Narr!) »Aber ein paar Gruppen unseres Volkes streifen noch frei herum, wie wir es immer getan haben und immer tun wer den.« Er blickte auf meine Füße hinunter: Ich trug meine dünnen, schlecht verarbeiteten, im Gefängnis hergestellten Stiefel, bei denen bereits die Sohle abging. Meine Füße waren schon seit Stunden völlig taub – die Spitzen meiner Zehen begannen sich schwarz zu färben –, aber ich war so darauf konzent riert gewesen, mich möglichst weit von der Hölle zu entfernen, aus der ich entkommen war, dass ich das kaum bemerkt hatte. Er lachte herzlich, und nachdem er mit seinem Messer zwei Streifen vom unteren Rand seines Man tels gerissen hatte, reichte er sie mir und sagte, ich solle sie mir um die Stiefel wickeln. Anschließend zog er seinen schweren, unförmigen Pelzmantel aus und wickelte ihn mir fest um die Schultern. Ich sagte ihm, dass ich vor ihm noch nie einen Jakuten kennen gelernt hätte. Er antwortete, die einzigen Russen, die er und seine Leute je zu Gesicht bekämen, seien entlaufene Sträflinge. Er zog zwei Streifen Dörr fleisch – ich fragte ihn nicht, von welchem Tier sie stammten – aus den Tiefen seiner Kleidung und reichte sie mir. Mein Mund war so trocken und das Fleisch so hart gefroren, dass ich nicht viel mehr da
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mit anfangen konnte, als ein Stück davon wie ein hartes Bonbon auf meiner Zunge herumzurollen. Der Jakute klopfte mir auf die Schulter und deu tete auf eine Jurte am Horizont. Er fragte mich, ob ich noch Kraft genug hätte, weiterzugehen. Natürlich sagte ich Ja, aber während wir auf sein Lager zumar schierten, gewannen meine erfrorenen Füße und die Tatsache, dass ich schon so lange nichts Richtiges mehr gegessen hatte, die Oberhand: Ich stolperte und fiel nach vorn, wobei mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass der Schnee meinen Sturz hof fentlich ein wenig abfangen würde. Stattdessen ver passte er mir, wie so weit im Norden üblich, einen eisigen Kinnhaken. Als ich aufwachte, wurde mein Gesicht gerade mit einem warmen, feuchten Lappen abgerieben, der seltsam süßlich stank. Ich schlug die Augen auf und musste feststellen, dass es sich in Wirklichkeit um die Zunge eines Rentiers handelte, das mir den Fie berschweiß von der Stirn und den Wangen leckte. Vor Schreck setzte ich mich so ruckartig auf, dass ich dabei den Tisch neben meiner Pritsche umstieß, wobei Tee, Brot und Fleischstreifen auf dem Boden landeten und mein vierbeiniger Freund erschrocken die Flucht ergriff. Ich hörte Gelächter der unter schiedlichsten Art und Tonhöhe: flötenhelles Mäd chengekicher, das gleichmütige, hustende Lachen eines alten Mannes, das schallende Gelächter eines jüngeren, fetten Mannes, außerdem allgemeines Ge kicher unbestimmbaren Geschlechts und Alters und ein paar ganz normale Lacher durchschnittlicher
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Stimmlage, die das Ganze abrundeten. Ich war im mer noch benommen, und so dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich mich in einem überfüllten, engen, heißen Zelt befand. Es stank nach Schweiß, Blähungen, Tabak, Alkohol und Talg. Nichtsdesto trotz war ich das erste Mal seit 947 Tagen nicht in meiner Zelle erwacht, und dafür sprach ich Gott zum ersten Mal seit fast drei Jahren laut meinen Dank aus. Auf einem Bärenfell neben meiner Pritsche saß mein Retter. Er trug keine Kopfbedeckung und rauchte eine lange, grob geschnitzte Holzpfeife. »Bulun?«, fragte er. Ich nickte. »Wie lange?« »Fast drei Jahre.« Er stieß ein Grunzen aus und zog die Augenbrau en hoch. Eine rundliche Frau mit einem flachen Ge sicht, von der ich annahm, dass sie seine Ehefrau war, blickte von den mit Pelz besetzten Stiefeln auf, die sie gerade ausbesserte, und schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Nicht schlecht«, sagte der Mann. »Der Letzte, der hier durchkam, hatte fünfzehn Jah re hinter sich. Er starb, bevor wir mein Zelt erreich ten, aber er war wohl schon lange Zeit vorher nur noch eine wandelnde Leiche gewesen.« Er sammelte auf, was ich hinuntergestoßen hatte, und reichte es mir. »Brot. Meine Frau hat es gebacken.« Er nickte der rundlichen Frau zu, die mich traurig anlächelte. »Und Rentierfleisch. Sehr gesund.« »Der Tee auch«, rief eine alte Frau mit rauer Stimme von der anderen Seite des Zeltes herüber.
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Sie saß neben einem ebenfalls sehr alten Mann. Beide wirkten so betagt und wettergegerbt und un ergründlich, dass sie beinahe aussahen, als wären sie aus Holz geschnitzt. »Trink den Tee«, sagte sie und betonte dabei das Wort »Tee«, als wäre ich ein Aus länder (was ich für sie wahrscheinlich auch war). »Im Winter braucht man was Warmes. Das ist gut für die Knochen. Und auch für den Verstand.« Sie unterstrich ihre Worte, indem sie sich an den Kopf tippte. »Tee, Mutter. Bring unserem Gast Tee«, sagte mein Retter. »Nun iss, damit dir warm wird. Rauchst du?« Ich schüttelte den Kopf. »Mir ist noch nie ein Gefangener untergekom men, der nicht geraucht hat.« »Wenn ich an Zigaretten gekommen bin, habe ich sie lieber gesammelt, um sie gegen etwas anderes einzutauschen.« »Sehr klug. Bist du Russe?« »Este.« Er sagte etwas zu den alten Leuten, die beide mit unergründlicher Miene nickten, noch dazu genau im selben Moment, was fast ein wenig unheimlich wirk te. »Meine Eltern«, erklärte er. »Und diese Kleinen da gehören auch zu mir.« Er deutete auf drei Mäd chen, die mich aus einer Ecke des Zeltes misstrau isch beäugten. »Das vierte ist unterwegs«, fügte er zwinkernd hinzu. »Der schnarchende Fettsack da drüben ist der Bruder meiner Frau, ein richtiger Taugenichts. Aber Familie ist nun mal Familie. War tet zu Hause auch jemand auf dich?«
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»Eine Frau. Ja, ich habe eine Frau.« Im Gefängnis hatte ich gelernt, jeden Gedanken an sie zu unterdrü cken. Nun, da meine Rückkehr in den Bereich des Möglichen gerückt war, begann ihr eingefrorenes Bild in meinem Kopf plötzlich aufzutauen, erst langsam und dann immer schneller. Der Gedanke an ihre Hände, ihre Stimme, ihren Geruch weckte in mir solch überwältigende Erinnerungen, dass ich vor den Augen dieser fremden Familie zu zittern und zu heu len anfing. Erneut versuchte ich, ihr Bild aus meinem Kopf zu verdrängen, weil ich es nicht ertragen hätte, noch länger an sie zu denken. »Bitte, wer seid ihr? Und warum habt ihr mir geholfen?«, fragte ich, nach dem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. »Mein Name ist Nei. Wir sind Sacha, du weißt schon, Jakuten. Die letzten freien Jakuten in dieser Region. Warum ich dir geholfen habe? Weil es meine Pflicht ist, deswegen.« Es ist erschreckend, wie schnell ein Gefängnis panzer aus Eis zu schmelzen beginnt, wenn man das erste Mal wieder menschlicher Wärme ausgesetzt ist. Noch schlimmer ist es, wenn diese Wärme nur ge spielt ist, ein trügerisches Aufblitzen statt eines wirk lichen Feuers. »Es ist schon Jahre her, mein Freund, dass ich einen Menschen auf diese Weise über Pflicht habe reden hören. Einen Menschen, für den Pflicht nicht bedeutet, auf denen unter ihm herum zutrampeln und vor denen über ihm zu buckeln.« Ich streckte die Arme aus und hätte ihn wahrschein lich umarmt, wäre nicht in dem Moment ein vertrau tes Paar Stiefel am Zelteingang aufgetaucht, gefolgt von einem noch vertrauteren Gesicht.
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»Eine schöne Rede, Dichter.« Er grinste höh nisch. »Aber Nei sprach von seiner sozialistischen Pflicht mir gegenüber, und nicht von irgendwelchen rückständigen, kindischen Hirngespinsten, die ihn dazu verpflichten würden, Feinden des Staates zu helfen.« Obwohl ich gehofft hatte, das Gesicht von Kommandant Tsensky nie wieder sehen zu müssen, wusste ich, dass ich es nie vergessen würde, und nun stand er trotz all meiner Bemühungen – der ganzen Geheimhaltung und Bestechung, dem ganzen Gra ben und Hoffen und Warten – hier wieder vor mir, derselbe [DURCHGESTRICHENER TEXTAB SCHNITT] seinen Einfallsreichtum. »Du hast dich tapferer geschlagen als die meisten. Immerhin bist du an zwei Reihen Wachen vorbeige kommen und hast lange genug überlebt, um Nei zu erreichen. Ich bin wirklich beeindruckt. Sag, wo hast du deinen Militärdienst abgeleistet?« Er setzte sich auf einen freien Stuhl gleich neben dem Feuer. Selt sam, dass dort ein Stuhl frei war, es sei denn, er war speziell für ihn reserviert (was meiner Meinung nach der Fall war). »In Murmansk.« »Das erklärt einiges. Du glaubst, an die Kälte ge wöhnt zu sein, nicht wahr?« Ich gab ihm keine Antwort. »Ich sag dir mal was: Kein Mensch gewöhnt sich je an diese Kälte. Wärst du Nei nicht in die Arme gelaufen, dann wärst ein paar Stunden später tot ge wesen. Du glaubst, Bulun ist ein Gefängnis? Bulun ist eine Oase, ein Paradies der Wärme und Gemüt lichkeit, verglichen mit dem Rest dieser gottverges
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senen Gegend. Dieses Ödland ist das eigentliche Gefängnis. Weißt du, wie lange ich schon hier drau ßen lebe? Achtzehn Jahre. Und weißt du, warum? Weil sie mich dafür bezahlen. Tja. Ich habe ein gro ßes Haus am Ufer der Lena, wo ich fischen kann. Ich darf ins Ausland reisen, und wenn ich, meine Eltern oder meine Kinder einmal krank sind, können wir uns im Krankenhaus behandeln lassen. Ich habe Au tos und Chauffeure und lebe besser als neunzig Pro zent der Parteifunktionäre, die eigentlich im Rang höher stehen als ich. Aber dafür muss ich in diesem Elend hier leben. Neun Monate Kälte, dass einem die Knochen splittern, und drei Monate Stechmü cken. Genosse Dichter, wie viele Male warst du an der frischen Luft, während du in Bulun mein Gast warst? Nein, nein, sag es mir nicht, ich weiß es be reits: Du warst so oft draußen, wie wir dich rausgelas sen haben. Wie riechen deine Hände?« Sie rochen natürlich nach Fisch und werden wahr scheinlich bis ans Ende meines Lebens so riechen. Ich schnüffelte, bemüht, keine Miene zu verziehen, aber offenbar hatte ich doch die Nase gerümpft, denn Tsensky lachte. »Das habe ich mir gedacht. Wir möchten nicht, dass einer von euch diesen Geruch jemals ganz los wird. Und wir vergrößern die Produktion, musst du wissen. Man schickt immer mehr von euch zu uns heraus: mehr jüdische Schriftsteller, mehr schwule Schauspieler, mehr langhaarige Sänger.« Nei und seine Frau starrten traurig auf den Boden. Als Tsensky sie ansah, weiteten sich ihre Augen, ob wohl sie den Kopf immer noch gesenkt hielten, und
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bei beiden ließ sich ein kleines unehrliches Lächeln wie ein Insekt zwischen Nase und Kinn nieder. Er bat Nei, mir von dem Tee nachzuschenken und ei nen weiteren Teller mit Essen zu bringen. Tsensky roch an dem Fleisch, stieß angeekelt die Luft aus, und reichte es mir. »Wahrscheinlich würde man sich irgendwann daran gewöhnen. Ich habe mich nie dar an gewöhnt. Rohes Rentierfleisch, gefroren und dünn aufgeschnitten. Primitiv. Ich persönlich bevor zuge den Kaviar, der jeden Monat bei mir eintrifft, zusammen mit je einer Kiste Wodka und Krimsekt. Nur vom Feinsten. Aber jetzt lass es dir schmecken. Versuch, dich aufzuwärmen. Dann würde ich dir gern etwas zeigen, wenn ich darf.« Mir war der Appetit vergangen, aber ich wollte Tsensky nicht merken lassen, welchen Schlag mir sein Erscheinen versetzt hatte, deswegen aß ich den Teller trotzdem leer. Nachdem auch das letzte Stück Fleisch und Brot verschwunden waren, reichte ich den Teller Neis Frau und bedankte mich mit einem Nicken. Sie strahlte mich einen Moment an, dann warf sie einen Blick zu Tsensky hinüber und eilte mit gesenktem Kopf zurück an Neis Seite. »Komm einen Moment mit nach draußen«, sagte Tsensky. »Ich will, dass du dir etwas ansiehst.« Ich versuchte mich von meiner Pritsche zu hieven, schaffte es aber nicht. Die Kombination aus Kälte und Tsenskys schrecklichem Ruf machten den unte ren Teil meines Körpers völlig bewegungsunfähig. »Dichter«, sagte er und beugte dabei sein pocken narbiges Gesicht, das die Farbe von rohem Hühnerfett hatte, zu mir herunter, »hast du Angst vor mir?«
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Ich gab ihm keine Antwort, zwang mich aber auf zustehen und wickelte mich in Neis Mantel. Wir tra ten in die Nacht hinaus, die so klar und kalt war, dass man das Gefühl hatte, im Inneren einer Glasscheibe zu stehen. Am Himmel standen mehr Sterne, als ich es jemals für möglich gehalten hatte. Ich hörte ein leises Klirren und Knacken, das sehr weit entfernt klang. Tsensky deutete hinter uns, wo in der Ferne ein ganz schwacher Lichtschein auszumachen war. »Bulun. Gar nicht so weit weg. Vielleicht vier Kilo meter. Aber siehst du dieses Lager hier? Seine Form?« Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass wir uns in einem Lager befanden. Erst jetzt bemerkte ich in regelmäßigen Abständen Tarnzelte wie die unseren. Sie schienen eine lange Reihe zu bilden, die sich in beide Richtungen bis in die Ferne erstreckte. »Es ist eine Linie«, sagte ich. »Nein. Komm herüber und schau noch mal.« Wir traten auf die andere Seite des Zeltes. »Ein Kreis. Die Zelte …« »Ein Ring. Bulun und mein Haus liegen genau in der Mitte. Verstehst du jetzt? Die Jakuten können weiter herumziehen. Sie dürfen ihre Herden und ihre Verstecke und ihre Sprache behalten. Sie müs sen nicht nach Magnitogorsk, und sie müssen auch nicht nach Workuta oder Woronesch ins Kohleberg werk. Ihre Kinder werden nicht in staatliche Interna te geschickt. Als einzige Gegenleistung verlangen wir ein bisschen Wachsamkeit und Spionage.« Mir lief eine Träne aus dem Auge und fiel, bereits gefroren, auf den Boden, wo sie mit einem leisen
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Klirren aufkam. Tsensky beugte sich rasch hinunter und hob sie auf. Ich fühlte ihre Spur noch auf meiner Wange, aber die Träne selbst ruhte wie eine Perle in Tsenskys Handschuh. »Das Flüstern der Sterne«, sagte er. »Das was?« »Ein Dichter wie du sollte das zu schätzen wissen. Sie nennen es ›das Flüstern der Sterne‹. Du musst nur ganz still sein und lauschen, dann kannst du es hören«, sagte er. Das Einzige, was ich hörte, war das leise Klirren von vorhin, und ich reckte den Hals, um zu sehen, wo es herkam. Tsensky lachte. »Nein, hier. Schau.« Er bildete mit den Lippen ein großes O und atmete langsam aus. Während er das tat, sah ich die Wolke seines Atems in Form von lauter kleinen, ge frorenen Tröpfchen zu Boden fallen. Das war das Geräusch, das ich gehört hatte: das Fallen unseres Atems. »Es ist ein Jakut-Ausdruck. Er bezeichnet eine Wetterphase, in der es so kalt ist, dass der Atem sich nicht mehr in der Luft auflösen kann, sondern gefroren zu Boden fällt. Die Jakuten sagen, dass man sich während des Flüsterns der Sterne im Freien keine Geheimnisse erzählen sollte, weil dann die Worte selbst einfrieren und jeder, der im Frühling, wenn es taut, an der betreffenden Stelle vorbei kommt, sie hören kann. Die Frühlingsluft ist hier erfüllt von alten Tratschgeschichten, ungehörten Befehlen, Stimmen von Kindern, die inzwischen schon erwachsen geworden sind, und Bruchstücken weit zurückliegender Gespräche. Deine Stimme, Genosse Dichter, und unser Gespräch werden viel länger hier bleiben als du selbst.«
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In dem Moment war ich sicher, dass er mich gleich umbringen würde. Stattdessen klopfte er mir auf die Schulter, führte mich zurück zum Zelt und streckte seinen Kopf hinein. »Nei, du fetter, fauler Jakute. Bring mir die Dose.« »Welche Dose, Kommandant?« Neis breites, ein faches Gesicht, das so voller Anteilnahme gewesen war, als er mich im Schnee entdeckte, war zu einer starren Maske aus Unterwürfigkeit und Entsetzen geworden. »Die aus geschnitztem Elfenbein, in der du dei nen Schnupftabak aufbewahrst. Ich habe dir doch schon bei meinem letzten Besuch gesagt, wie gut sie mir gefällt. Du warst damals so unhöflich, sie mir nicht anzubieten.« »Aber, Kommandant, diese Dose gehörte …« Ein lauter Knall, begleitet von einem Funkenre gen, ließ sowohl mich als auch Nei erschrocken zu sammenfahren. Ich kippte vor Schreck sogar nach hinten um, und als ich hochblickte, sah ich, dass Tsensky eine Waffe in der Hand hielt, aus der Rauch quoll. Sie war auf eine große Lärche gerichtet, auf die er wohl gerade geschossen hatte, denn der Baum qualmte heftig. Mit einem resignierenden Ächzen brach die Hälfte des Stammes ab, und gleichzeitig kippte der Rest des Baumes – Wurzeln, Äste und so weiter – zur anderen Seite weg. Tsensky drehte sich lachend zu mir um. »Bei diesem Wetter explodieren sie einfach. Wenn man im Winter versucht, sie zu Brennholz klein zu hacken, sprüht der Stamm Fun ken, und die Axt splittert einem in der Hand. Mit einem so durchschlagenden Erfolg habe ich aller
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dings nicht gerechnet. Der hatte wohl eher flache Wurzeln.« Noch immer lachend, schob er die Waffe zurück ins Halfter und wandte sich wieder an Nei. »Ich glaube, du wolltest mir gerade erzählen, warum ich die Dose nicht haben kann, die ich will.« Nei eilte zurück in sein Zelt, und ich konnte sehen, dass seine Frau und die Kinder sich in der hintersten Ecke weinend aneinander schmiegten. Kurz darauf kam er mit einer kleinen Elfenbeindose wieder her aus, die er Tsensky reichte. »Die Jakuten, musst du wissen, trieben Handel mit Kaufleuten aus Nowgorod, ehe sie der Goldenen Horde unterlagen. Die Kaufleute aus Nowgorod wiederum erhielten Waren aus der ganzen Welt. Un ter anderem diese hübsche Dose, nehme ich an. Und da kein Mensch, der Kontakt zum Rest der Welt hat, jemals in dieses gottverlassene kleine Scheißland am Ende der Welt kommt, bleiben kleine Kostbarkeiten wie diese oft sehr lange im Besitz einer Familie. Sieh dir diese feine Arbeit an. Kein Jakute könnte so et was schnitzen, meinst du nicht auch? Wie auch im mer, du solltest dich geehrt fühlen, Genosse Dichter, denn diese Dose wird deine Worte für mich bewah ren, wenn du nicht mehr da bist. Ich werde dir jetzt die Wahrheit sagen«, erklärte er und fasste in seine Tasche, aus der er einen Flachmann und einen Sta pel Blätter zog. Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche und reichte sie dann mir. Ich rechnete mit Wodka, schluckte stattdessen aber flüssiges Feu er. »Jakut samogon. Ich weiß nicht, was drin ist, aber es hält warm.« Er trank noch einmal und verstaute die Flasche dann wieder in seiner Tasche. »Hier« –
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er schwenkte theatralisch die Blätter – »habe ich die Gedichte, wegen derer du verurteilt wurdest. Weißt du zufällig, was dir zur Last gelegt wird?« Ich antwortete ihm, dass man mir das nie gesagt habe. »Bourgeoiser Formalismus. Dass du deine Positi on an der Universität ausgenutzt hast, um die zu künftigen Führer der Sowjetunion zu verderben.« Ich begann zu protestieren, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. »O bitte, nicht. Das gehört doch alles der Vergangenheit an. Nein, die Wahrheit ist, dass mir diese Gedichte recht gut gefallen. Sie handeln von Natur und Liebe, und sie folgen so schönen kleinen Mustern, du weißt schon, ich meine die Art, wie die Worte wiederkeh ren …« »Sestinen.« »Bitte?« »Man nennt diese Gedichte Sestinen. Zumindest einen Teil davon. Ich habe aber auch Villanellen ge schrieben. Beides sind italienische Formen, die mit Wortspielen arbeiten und sich deswegen recht gut ins Russische übertragen lassen. Wenn Sie die erste Zeile nehmen und sie dann …« »Bitte keine Vorlesung. Dafür ist es jetzt zu kalt. Mit geht es darum, dass das keine gefährlichen Ge dichte sind. Manche Gefangene – Drogenhändler, Deserteure, Juden – hätte ich auf der Stelle erschos sen, aber bei dir ist das etwas anderes. Du hast in diesem Land vielleicht sogar eine Zukunft. Natürlich kann ich dich nicht einfach entwischen lassen. Ich würde dadurch meinen Posten verlieren. Aber wenn
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ich deine Entlassungspapiere unterzeichne und das Entlassungsdatum ein wenig zurückdatiere, wer soll te das dann infrage stellen, hm?« Er zwinkerte mir zu, was ich noch viel beängstigender fand als seinen Schuss vorhin. »Du warst ja immer recht gehorsam, aber trotzdem hast du bei deiner Flucht weitaus mehr Einfallsreich tum und Rückgrat bewiesen, als ich von einem Dich ter, und insbesondere von einem estnischen Dichter, erwartet hätte. Ich möchte dich nur um zwei Gefallen bitten, ehe ich dich hier in Ruhe die Nacht verbringen lasse. Zum einen möchte ich, dass du aufschreibst, wie du entkommen bist. Hast du Wachen bestochen? Ich möchte wissen, wen. Haben dir andere Gefangene geholfen? Ich möchte wissen, wer. Gibt es in der Ge fängnisanlage irgendeine Schwachstelle, irgendein Schlupfloch? Ich möchte wissen, wo. Ich möchte von dir keine Spitzfindigkeiten hören, kein Gefasel von Ehre, kein ›Ich werde niemanden hinhängen‹ – nichts dergleichen. Ich möchte einfach einen vollständigen, wahrheitsgetreuen und detaillierten Bericht, und im Gegenzug darfst du die Früchte deiner Mühen genie ßen. Einverstanden? Gut. Und nun zu deiner zweiten Aufgabe. Mal sehen … Ah ja, hier herüber.« Er wink te mich zu dem umgefallenen Baum, der in einer Mi schung aus Eis, Schnee, Holzstücken und schwarzer sibirischer Erde lag. Er nahm eine Prise von dem leicht rosafarbenen Schnupftabak aus der Dose, schüttete den Rest aus und führte mich dann in die Mitte der mit Erde be deckten Stelle. »Atme.« Mein Atem fiel in Form von winzigen Hagelkörnchen auf die bereits gefrorene
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Erde. »Perfekt. So, welches Gedicht möchtest du
jetzt vortragen?« »Wie bitte?« »Welches Gedicht? Ist eines davon dein Lieb lingsgedicht? Hier, vielleicht kannst du dich nicht mehr erinnern. Vielleicht hast du mittlerweile nur noch Fisch im Kopf. Hier, bitte, wirf einen Blick dar auf.« Er setzte sich auf den Baumstumpf zu meinen Füßen und zündete sich eine Zigarette an. »Dieses hier«, sagte ich. Es hieß »Klagelied der Obstverkäuferin«. Es war mir in Kurgja eingefallen, während des ersten Sommers meiner Ehe, als ich gerade mit meiner Frau schlief und unten auf dem Platz eine Obstverkäuferin mit lauter Stimme ihre Ware anpries. Er gab mir ein Zeichen zu beginnen. Während ich das Gedicht vortrug, ließ er sich auf alle viere nieder, kratzte mit einem Messer die Erde zusammen, auf die mein Atem gefallen war und füllte sie in die Do se. Als ich fertig war, schloss er die Dose und ver beugte sich. »So. Nun brauche ich nur noch bei warmem Wetter diese Dose zu öffnen, wenn ich mich an den berühmten Dichter erinnern möchte, der einmal meiner Obhut anvertraut war. Und du bekommst jetzt Papier und zwei Stifte. Verlier sie nicht. Schreib alles auf, und vergiss nichts, auch nicht das Gespräch, das wir gerade führen. In zwei Tagen komme ich wieder, um zu sehen, wie weit du bist. Sobald ich ganz und gar zufrieden bin (und ich bin sicher, das werde ich sein), werde ich deine Entlas sungspapiere unterzeichnen und dich nach Hause schicken. Du wirkst überrascht. Das solltest du nicht.
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Wir sind nicht alle Unmenschen. Nein, Nei und ich haben nur einen Weg gefunden, uns das System zu nutze zu machen. Er bekommt, was er will, ich be komme, was ich will, und die Einzigen, die ins Gras beißen, sind Kriminelle und Feinde des Staates, die sowieso erwischt worden wären. Und sogar der schlimmste Gefangene darf vorher ein paar Stunden Freiheit kosten. Ein paar Stunden, in denen er luft getrocknetes Rentierfleisch mampfen und die Ge sellschaft dieser rundgesichtigen, nach Rentierfett stinkenden Frauen genießen darf. Besser als gar nichts, oder? Besser als Fischgedärm und das Geschnarche von Verbrechern. Das lohnt sich auf jeden Fall, meinst du nicht auch? Schlaf gut, Genos se Dichter.«
GEGENSTAND 6 Eine rechteckige Dose aus Elfen bein, die an den Seiten von Silber und Jade durchzo gen ist. Oben befindet sich eine Jade-Inschrift in Arabisch: »Im Namen Gottes, des Mitleidvollen, des Gnädigen.« Auf der Innenseite des Deckels ist in chinesischer Sprache das Wort »Erde« eingraviert. Die Dose ist 12 Zentimeter lang, 3 Zentimeter hoch und 4 Zentimeter breit.
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Die Erde ist natürlich eines der vier aristoteli schen Elemente (die anderen sind Feuer, Luft und Wasser) und besitzt die Eigenschaften der Kälte und Trockenheit (Feuer ist heiß und trocken, Luft heiß und feucht, Wasser kalt und feucht). Da jedes Ele ment eine Eigenschaft mit einem anderen teilt, kann jedes durch Erhitzen oder Abkühlen, Trocknen oder Hinzufügen von Wasser in ein anderes umgewandelt werden: Dieser Gedanke bildet das Fundament, auf dem die Alchemie ruht. Idris ben Khalid al-Jubir nennt die Erde »das grundlegendste der vier Elemente, das allgegenwär tigste und in Wahrheit auch das am wenigsten nützli che. Wie das Wasser und die Luft ist auch die Erde einfach da, aber im Gegensatz zu den anderen bei den Elementen kann sie in ihrer Gestalt nicht verän dert werden. Sie ist das Buch aller Materie: Sie ist, wie sie ist, und so wie sie ist, ist sie nur der Grund stoff für das, was sein wird oder was sein sollte. Die stoffliche Welt – die irdische Erde – ist still, uneh renhaft und unvollkommen: Genau so, wie eine Stimme einen Mund und Atemluft braucht, die ihr Gestalt verleihen, so braucht auch die greifbare Welt eine lenkende Hand, um sie zu vervollkommnen.« HERSTELLUNGSDATUM Die Äderung, ein grundsätz lich durchaus anspruchsvolles Merkmal, wirkt in die sem Fall relativ grob, und anhand der Abnutzungs spuren an den Ecken der Dose kann sie auf das neunte oder zehnte Jahrhundert datiert werden. HERSTELLER Unbekannt.
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HERKUNFTSORT Die Materialien – Elfenbein, Silber und Jade – sind alle chrakteristisch für China, aber die arabische Inschrift und die Maserung weisen auf islamischen Einfluss hin. Die Stil- und Materialmi schung legt nahe, dass die Dose aus Xinjiang stammt, das eine Blütezeit chinesisch-islamischer Kunst er lebte, als die Araber an den Hof von Uyghur kamen. Der Islam wurde zu einer höfischen Mode, aber als dann arabische Armeen in immer größerer Zahl ein trafen, wurde schnell mehr als eine Mode daraus. LETZTER BEKANNTER BESITZER Pawel Wadimo witsch Tsensky, Chefingenieur der Fischkonserven fabrik von Bulun und Kommandant des dortigen La gers für Arbeit und höhere Bildung. Beides wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ge schlossen. Tsensky verkaufte die Dose und ihren Inhalt zusammen mit einem Brief und dem (mittler weile verschollenen) letzten Willen des estnischen Dichters Jakob Harve für eine Summe unbekannter Höhe an einen Käufer unbekannten Namens. Zum Zeitpunkt des Verkaufs, im August 1992, war Tsenskys Rolle bei der Liquidierung tausender re gimekritischer Schriftsteller gerade publik geworden. Zwei Monate zuvor war bekannt geworden, dass es Tsensky gewesen war, der den KGB auf die Idee gebracht hatte, in Sibirien lebende Nomadengrup pen als informelle Wachtruppen einzusetzen und ihnen im Gegenzug den Anschein von Freiheit zu gewähren. Als Folge dieser Enthüllung musste er sein prunkvolles Haus am Fluss Lena verlassen. Im Zusammenhang mit dem Skandal, der ihn zwang,
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seine Besitztümer zu verkaufen, wurde ihm unter anderem vorgeworfen, er habe Wachen bestochen, um bekannten regimekritischen Schriftstellern die Flucht zu erleichtern, und habe ihnen dann in dem Jakuten-Lager aufgelauert, von dem das Gefängnis umgeben war. Nachdem ihm die Schriftsteller ins Netz gegangen waren, habe er ihnen die Freiheit versprochen, wenn sie als Gegenleistung detailliert schilderten, wer ihnen bei der Flucht geholfen hatte. Diese schriftlichen Schilderungen benutzte er, um damit so gut wie jede unter ihm arbeitende Wache zu erpressen. Die entflohenen Gefangenen wurden ohne Ausnahme getötet. Entweder er erschoss sie eigenhändig oder bezahlte ihre Jakuten-Gastgeber dafür, sie im Schlaf zu töten. Zunächst erhob nur ein einziger enttäuschter Wachmann Anschuldigungen gegen ihn, später aber wurden die Vorwürfe dann von jeder noch lebenden Wache bestätigt, die je un ter ihm Dienst getan hatte. In Tsenskys Besitz befand sich ein ganzes Sorti ment an Memorabilien, die an die Schriftsteller erin nerten, die er getötet hatte oder hatte töten lassen. Nachdem seine Schwierigkeiten bekannt geworden waren, verkaufte er alle diese Stücke binnen kürzes ter Zeit. Sein Frau, Ljudmila Jakowlewna Tsenskaya, vermutete, dass er das Geld verwendete, um sich damit seine Schwierigkeiten mit den Behör den vom Hals zu schaffen und Russland zu verlassen. Kurz vor Beginn seines Prozesses verschwand er spurlos, und niemand hat seitdem je wieder etwas von ihm gehört. Ljudmila Jakowlewna wies darauf hin, dass ihr Gatte selbst ein sehr produktiver Dich
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ter und Essayist gewesen sei. Er kannte die meisten der Werke, aufgrund derer die Insassen des von ihm geleiteten Gefängnisses inhaftiert worden waren, und konnte einen Großteil davon auswendig zitieren. Seine eigenen Arbeiten jedoch wurden von jeder nennenswerten literarischen Zeitschrift der ehemali gen Sowjetunion abgelehnt. GESCHÄTZTER WERT In Anbetracht des Alters der Dose, ihrer handwerklichen Qualität und der Silberund Jade-Äderung könnte sie wahrscheinlich einen Preis im unteren sechsstelligen Bereich erzielen. Es handelt sich um eine Art Museumsstück, was einer seits die Nachfrage erhöht, andererseits jedoch kauf kräftige, aber auf Diskretion bedachte Käufer ab schreckt, die nicht den Wunsch verspüren, in Gesell schaft von Tweed tragenden Beamten kleine Gebote abzugeben. Bei einer angemessenen Verkaufsstrate gie mit entsprechend selektiver Werbung und Beto nung der richtigen Details (der Inschrift, und nicht so sehr der Aderung und der wertvollen Metalle und Mineralien), könnte der Preis durchaus auf 500.000 Dollar steigen.
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Seine Kraft bleibt vollkommen.
Der Abend endete, sei’s drum, ohne Kuss in meinem Wagen. Hannah, deren Unbehagen hinter ihrer Mas ke der Gelassenheit immer noch spürbar war, sagte, dass wir uns morgen sehen würden, vergaß aber hin zuzufügen, wo, wann und wie. Während der Heim fahrt hatte ich noch ein paarmal versucht, sie nach dem bärtigen Mann aus dem Restaurant zu fragen, aber sie war bei ihrer Behauptung geblieben, er habe bloß ihrem Vater ähnlich gesehen. Als ihre Stimme dann allmählich lauter und ein wenig gereizt zu klin gen begann, gab ich auf. Offensichtlich verheimlich te sie etwas, aber noch viel offensichtlicher war sie die attraktivste Frau, die jemals in meinem Wagen gesessen hatte. Deswegen wollte ich nicht weiter auf einem Punkt herumreiten, der mir zu dem Zeitpunkt – fälschlicherweise, wie sich später herausstellen soll te – nicht so wichtig erschien. Als sie ausstieg, dankte sie mir für das Essen und den schönen Abend und strich mir zum Abschied leicht über Wange und Hals, wobei ihre Finger, die sich glatt und zart anfühlten, für einen Moment an der Innenseite meines Hemdkragens verharrten. Ich beugte mich zu ihr hinüber, um sie zu küssen, aber unglücklicherweise hatte ich vergessen, die Hand bremse zu ziehen, sodass der Wagen zu rollen be gann. Sehr weltmännisch, einen Abend mit einem
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Autounfall zu beenden, ich weiß. Als ich die Bremse zog, wären wir beinahe beide mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geknallt. Aus Angst um ihre Sicherheit (zumindest redete ich mir das ein) schloss Hannah die Tür, winkte und eilte dann auf ihr Haus zu. Als sie es erreicht hatte, winkte sie noch einmal, und ich fuhr los. Am nächsten Morgen war wieder schönes Wetter, und alles blitzte wie frisch geschrubbt. Die Konturen der Gebäude und der Baumkronen wirkten fast ein wenig zu scharf, um echt zu sein, der Himmel so leuchtend blau, als wäre er gemalt. Filigrane kleine Frostwedel schlängelten sich aus entgegengesetzten Ecken über eine meiner Fensterscheiben, begrüßten einander und verschmolzen dann zu einem Fleck aus weißen Kristallen: eine Samstagmorgen-Gabe, die gegen Mittag bereits wieder geschmolzen sein wür de. Ich schlüpfte in eine Hose und ein blaues Hemd mit Button-down-Kragen – das einzige halbwegs ge bügelte Hemd in meinem Schrank-, band mir eine Krawatte um und verließ meine minimalistische Be hausung, um mich mit Professor Jadid zum Mittages sen zu treffen. Bevor ich nach Wickenden aufbrach, wollte ich aber noch schnell am Sportplatz vom Talcott vorbei schauen. Reverend Makgabo war mir unglaublich sympathisch gewesen, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum: Im Grunde hatten wir nicht mehr als ein paar höfliche Floskeln ausgetauscht, trotzdem hatte ich seine ruhige, beherrschte Art als wohltuenden Gegensatz zu Hampdens übertrieben herzlichem Getue empfunden. Noch entscheidender
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aber war, dass ich wissen wollte, ob er mir vielleicht mehr über Hannah erzählen konnte. Ich nehme an, ich suchte nach irgendeiner journalistischen Recht fertigung, indem ich mir einredete, jede potenzielle Informationsquelle überprüfen zu müssen, aber in Wirklichkeit ging es mir nur um sie. Faszinierend und attraktiv, wie sie war, schien sie trotzdem etwas Verschlossenes, Unergründliches an sich zu haben, und das nicht nur wegen ihrer Reaktion auf den Mann an der Bar. Ich hegte zwar keine große Hoff nung, von einem Priester Klatschgeschichten zu er fahren, aber einen Versuch war es zumindest wert. Als ich den Sportplatz erreichte, war Reverend Makgabo, der ein grün-weiß gestreiftes Rugbyhemd und Shorts trug, gerade von etwa zwanzig auf dem Boden sitzenden Jungs umringt, die gebannt zuhör ten, während er mit einem Rugby-Ball gestikulierte: »… und ich erwarte von euch ein gewisses Niveau. Wenn ihr in dieser Mannschaft mitspielen wollt, dann möchte ich nichts von schlechten Noten, Schu leschwänzen, Schlägereien oder Schulverweisen hö ren. Es heißt, dass Fußball eigentlich ein Spiel für Gentlemen ist, das von Hooligans gespielt wird, Rugby dagegen ein Spiel für Hooligans, das von Gentlemen gespielt wird. Genau das erwarte ich von euch. So, und jetzt müsst ihr euch erst einmal auf wärmen. Lauft vier Mal um diesen Platz und dann kommt wieder zu mir.« Während die Jungen loslie fen, manche gleich in viel zu schnellem SprintTempo, andere in großen, langen Sätzen, blickte Makgabo auf, entdeckte mich und winkte mich zu sich herüber.
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»Ein höchst ungewöhnliches Rugby-Outfit«, stell te er fest. »Ich habe es seit der Grundschule nicht mehr gesehen. Beim Tackling war das immer sehr praktisch, man konnte sich so schön an der Krawatte packen.« Er warf mir den Rugbyball aus einer hinterhälti gen Drehbewegung heraus zu. »Ich kann heute leider nicht spielen. Ich wollte nur schnell hallo sagen. Außerdem bin ich am Über legen, ob ich vielleicht einen Artikel über das Lin coln Rugby Team schreiben sollte.« Ich warf den Ball zurück. Makgabo lachte. »Nein, nein. Lincoln Rugby Club, das klingt viel schöner und professioneller. So ein Artikel wäre natürlich wunderbar.« »Gut. Ich habe mein Notizbuch jetzt nicht dabei, aber …« »Kein Problem. Ich habe jetzt sowieso nicht viel Zeit zum Reden. Aber wir spielen hier jeden Sams tag, falls Sie wirklich interessiert sind. Wir versuchen, um elf anzufangen, damit die Jungs es bis halb vier zurück zum Bahnhof schaffen.« »Wo kommen Ihre Spieler denn her?« »Hauptsächlich aus New Haven. Ich kenne sie von meiner sozialen Arbeit dort. Viele von ihnen sind vorher noch nie aus der Stadt rausgekommen. Und ich nehme an, viele Bewohner dieser feinen kleinen Stadt haben noch nie so viele schwarze Jungs auf einem Haufen gesehen.« Er lachte, und ich stimmte ein. Wie immer, wenn jemand eine scherzhafte Be merkung zum Thema Hautfarbe machte, empfand ich eine Mischung aus Unbehagen, Schuldgefühl
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und dem Wunsch, mich durch besonders vorbildli ches Verhalten beliebt zu machen. »Und Reverend Hampden lässt sich nie hier bli cken?« »O nein. Obwohl ich wünschte, er täte es«, ant wortete er lachend. »Warum? Ich meine Ihren Wunsch, nicht seine Abwesenheit.« »Von meinem ersten Trainer habe ich gelernt, dass sich Frustrationen und Meinungsverschieden heiten am besten auf dem Spielfeld abbauen lassen. Auf diese Weise können sie nicht lange in einem gären oder zu Verbitterung führen: Du stößt einen anderen um und hilfst ihm wieder auf. Der andere stößt dich um und hilft dir wieder auf.« »Die humanisierende Macht der Gewalt. Soll ich das Thema unter diesem Gesichtspunkt beleuch ten?« »Nein, bloß nicht! Die humanisierende Macht des Sports, das schon eher. Jedenfalls ist das hier eine viel zu kleine und, sagen wir mal, unwichtige Gruppe für Reverend Hampden.« »Beneiden Sie ihn um seine Pfarrei?« »Nein, nein. Ich arbeite ganz gern so. Man kann auch auf einem Spielfeld als Priester tätig sein.« »Das werde ich ganz bestimmt in meinem Artikel schreiben.« »Ja, das hoffe ich. Treffen Sie sich mit Ihrer Freundin?« »Welche meinen Sie?« »Welche ich meine?« Er lachte. »Sie wissen ganz genau, welche ich meine.«
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»Hannah?« Er nickte. »Nein, ich treffe mich in Wi ckenden mit einem alten Freund zum Mittagessen.« »Ah. Und ich dachte schon, da will jemand heira ten. Wer läuft sonst schon so früh am Samstag im Schuljungen-Outfit herum? Bitte rufen Sie mich an oder kommen Sie in der Kirche vorbei, wenn Sie wirklich einen Artikel über uns schreiben wollen. Ich würde mich freuen.« Als ich durch die schwere Mahagonitür und dann durch die mit einer Glasfront versehene, doppelte Saloon-Schwingtür des Blue Point trat, saß Professor Jadid bereits rauchend an einem Fenstertisch und plauderte freundlich mit einem Paar mittleren Alters. Jadid wirkte reglos und aufmerksam wie eine Katze. Im Rauch seiner Zigarette, der durch die hereinfal lenden Sonnenstrahlen nach oben stieg, tanzte glit zernder Staub. Der Mann und die Frau, die neben seinem Tisch standen, sprachen beide ohne jede Gestik. Sie sahen aus wie ein Paar, dessen Ge schmack sich im Lauf der Zeit so weit angeglichen hatte, dass sie sich nicht nur ähnlich kleideten, son dern auch die gleiche Körper- und Kopfhaltung hat ten, was in ihrem Fall aber völlig selbstverständlich und ungekünstelt wirkte. Jadid entdeckte mich, grinste, erhob sich halb und winkte mich zu sich her über. »Sie sind sehr pünktlich, Mr.Tomm. Ich freue mich, Sie zu sehen. Ich möchte Ihnen Mr. und Mrs. O’Sullivan vorstellen, die Besitzer dieses Lokals und liebe alte Freunde von mir.« Als ich näher an den Tisch trat, sah ich, dass der Mann weicher und freundlicher wirkte als die Frau,
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die einen Zug vager und permanenter Missbilligung um den Mund hatte. Er stellte sich als Jerry vor. »Demnach haben Sie also auch die Jadid-Akademie für schönes Leben absolviert?« Ich verstand den Witz nicht und sah zu seiner Frau, die seine Bemer kung auch nicht lustig zu finden schien. »Dieser Mann hier ist einer unserer besten Gäste«, erklärte Jerry, während er Professor Jadid wie einem alten Kumpel auf die Schulter klopfte. »Und außerdem wahrscheinlich der beste Koch in Wickenden«, fügte er grinsend hinzu. Wieder wartete er vergeblich auf eine Würdigung seines Witzes. Der Professor lächel te nur und wiegte den Kopf leicht hin und her, was wohl eine Geste freundlicher Duldung war. »Dürfen wir den Herren schon etwas zu trinken bringen? Die Speisekarte kommt gleich.« Der Professor sah mich an. Ich bestellte mir ein Bier und Jadid ein Glas Fumé Blanc. Ich hatte keine Ahnung, ob das Bier, Wein oder Likör war. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie kochen«, sagte ich, während ich mich dem Professor gegenüber auf der Sitzbank niederließ. »In der Tat. Eine notwendige und zivilisierende Kunst. Meine Frau hat viele, viele Tugenden, aber kulinarisches Können gehört nicht dazu. Außerdem waren die Männer in meiner Familie immer schon gute Hobbyköche. Und von Beruf meistens Rabbis. Ich nehme an, zumindest eines von beiden zu sein, ist für einen Einwanderer nicht schlecht.« Jerry brachte ein bernsteinfarbenes Bier (»Harpoon’s Christmas«) für mich und Weißwein (»Sakonnet’s finest«) für den Professor.
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»Rabbis?« Ich sah ihm zu, wie er seine Serviette in seinen gestärkten Hemdkragen steckte, und folgte seinem Beispiel. »Ja, auch wenn die Leute, zumindest in den meis ten Ländern, bei meinem Namen häufig eine andere Herkunft vermuten. Ich übe meinen Glauben mitt lerweile so gut wie nicht mehr aus. Ich bleibe einzig und allein aus Diskriminierungsgründen Jude, wie mein älterer Sohn immer zu scherzen pflegt. Man könnte mich wahrscheinlich als ein Opfer des Zwei ten Weltkriegs bezeichnen, wenn auch in einem eher umgekehrten Sinne als üblich.« »Wie meinen Sie das?« Er seufzte. »Wissen Sie, ich selbst finde über haupt nichts Eigenartiges an meiner Art zu sprechen, aber aus irgendeinem Grund ist die erste Frage, die mir praktisch jeder meiner ehemaligen Studenten stellt, sobald wir auf einer freundschaftlichen Ebene miteinander reden und nicht mehr als Professor und Student, wo denn mein Akzent herkomme.« Ich lachte, und er nickte langsam und mit ge schlossenen Augen wie eine schläfrige Katze. »Nun ja«, fuhr er fort, »worauf würden Sie denn tippen? Keine Angst, Sie beleidigen mich nicht, wenn Sie etwas Falsches sagen. Ich glaube sowieso nicht, dass Sie es erraten können, es sei denn, ich unterschätze Sie. Aber darf ich vorher noch unser Essen bestellen? Gibt es etwas, was Sie nicht essen? Nein? Gut.« Er hob die Hand, woraufhin Jerrys Frau mit einem Notizbuch in der Hand und einem halb herzigen Lächeln auf den Lippen zu uns herüber kam. Professor Jadid bestellte ein halbes Dutzend
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Wellfleets und ein halbes Dutzend Malpeques, au ßerdem Waterzooi für sich, eine Schüssel Cioppino für mich und eine halbe Flasche von dem Fumé. »Maura ist für den Weinkeller und die Finanzen des Restaurants zuständig«, flüsterte er mir zu, als sie wieder ging. »Ich weiß, sie wirkt mürrisch, aber in Wirklichkeit ist sie nur ein bisschen schüchtern und kann mit Zahlen besser umgehen als mit Menschen. Trotzdem hat sie einen sehr feinen Geschmack und sucht wunderbare Weine aus. So, nun raten Sie doch mal.« »Tja, eigentlich würde ich auf deutsch tippen, aber Sie sehen nicht deutsch aus. Außerdem wäre ein deutscher Jude Ihres Alters wahrscheinlich ein direk tes Opfer des Krieges geworden, und nicht eines im umgekehrten Sinn, was auch immer das heißen mag.« »Gut. Das klingt plausibel, und Sie haben Recht.« »Es könnte sich auch um einen österreichischen oder Schweizer Akzent handeln, aber dagegen spre chen dieselben Argumente, würde ich sagen. Viel leicht ungarisch?« Er war ein etwas dunklerer Typ als ich, mit grünlichen Augen und grauem Haar. In Hollywood hätte er ein Dutzend verschiedene Nati onalitäten spielen können. »Spanisch? Türkisch? Ich schätze halb ungarisch, halb türkisch, aber mit ir gendeiner zusätzlichen Beimischung.« »Ein intelligenter Rateversuch. Ich habe von Ih nen auch nichts anderes erwartet, Mr. Tomm. Aber …« »Professor, darf ich Sie bitten, mich Paul zu nen nen?«
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»Natürlich. Paul. Tatsache ist, dass ich in Täbris geboren und aufgewachsen bin.« Mit meinen Geographiekenntnissen stand es nicht zum Besten, alles, was östlich von Cape Cod und südlich von Baltimore lag, bereitete mir schon Schwierigkeiten. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Unwissen heit, aber wo bitte liegt Täbris?« »Im Iran, obwohl wir uns normalerweise lieber als Perser bezeichnen, wenn Sie nichts dagegen haben. Als die persischen Juden zwangskonvertiert wurden, nannte man sie Jadid al-Islam, neue Muslime. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen hat einer meiner Vorfahren diese Bezeichnung als unseren Familien namen übernommen. Persien – und damit meine ich nicht den Iran – ist gleichbedeutend mit der Tole ranz und Gelehrsamkeit, die einmal bezeichnend war für diesen Teil der Welt, und es hoffentlich irgend wann auch wieder sein wird.« Er hob sein Glas und trank auf seine eigene Äußerung. Ich beeilte mich, es ihm nachzutun, was aber leider zur Folge hatte, dass ein wenig von meinem Bier auf den Tisch schwapp te. »Wie haben Sie das dann vorhin gemeint, als Sie sagten, Sie wären ein Kriegsopfer, aber in einem um gekehrten Sinn?« »Wir wurden nach 1948 mehr oder weniger aus dem Land vertrieben. Das war in jenen Ländern nichts Ungewöhnliches, müssen Sie wissen. Eine der grausameren Ironien der Geschichte. Israel sollte den Juden einen sicheren Hafen auf der Welt bieten, was grundsätzlich ja ein nobles Bestreben war, vor allem
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in Anbetracht dessen, was sich so kurze Zeit davor ereignet hatte. Eine Folge davon war jedoch, dass im ganzen Nahen und Mittleren Osten Juden aus den Städten vertrieben wurden – manchmal sogar aus Häusern, in denen sie schon seit Jahrhunderten ge wohnt hatten. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, war fast zwei Jahrhunderte zuvor von meinem Ur-Ur-Urgroßvater erbaut worden. Wir mussten es ziemlich überstürzt verlassen. Ich weiß nicht mal, wer jetzt dort wohnt.« »Und dann sind Sie nach Israel gegangen?« »Nein, nein. Mein Vater zog es kurz in Erwägung, aber nachdem meine Familie in Persien jahrhunder telang unter Christen, Muslimen, Zoroastern – ei gentlich allem, was es so gab – gelebt hatte, wäre er wahrscheinlich in einer rein jüdischen Atmosphäre gar nicht mehr zurechtgekommen. Jedenfalls nahm 1950 ein Freund von ihm, ein Holländer, den er aus der Zeit vor dem Krieg kannte und der die Lager überlebt hatte, Kontakt mit ihm auf und lud ihn ein, in Leiden Rabbi der dort noch übrigen SephardimGemeinde zu werden. So kam es, dass wir stattdes sen dort landeten, was wahrscheinlich auch meinen ein wenig deutsch klingenden Akzent erklärt, ob wohl ich mit diesem Vergleich keinesfalls Ihr hollän disches Blut zum Kochen bringen möchte. Dazu noch eine kühne Frau aus Belfast, Mrs. McClenahan, die mich und meine Brüder nach dem Tod unserer Mutter aufgezogen hat, und schon haben Sie meine Sprechweise, die, wie man mir gesagt hat, geradezu einzigartig ist.« In diesem Moment erschien Maura mit zwei
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dampfenden Schüsseln, einem Dutzend Austern auf einem Glasteller und zwei kleinen Töpfchen, in de nen sich, wie sie uns erklärte, Cocktailsaucen befan den: eine Porter-Mignonette und eine Sojasauce mit Ingwer und Limettensaft. Normalerweise ergreife ich bei rohen Meeresfrüchten sofort die Flucht, ich hatte während all meiner Jahre im Nordosten noch keine einzige Auster gekostet. Aber da ich nicht wollte, dass Professor Jadid mich für ein Landei hielt, nahm ich jetzt eine und schluckte sie hinunter. Wäh rend sie wie ein gekühlter und in die falsche Rich tung reisender Schleimklumpen meine Speiseröhre hinunterrutschte, fragte ich mich, wie irgendjemand den Wunsch verspüren konnte, diese Dinger zu es sen, und ob ich die Auster wohl davon abhalten konnte, gleich wieder zurück nach oben zu schnel len, wenn sie in meinem Magen aufschlug. Maura stellte den weißen Eintopf vor dem Professor ab und den roten vor mir. »Sie wissen sicher, warum er diese zwei Gerichte bestellt hat, oder?«, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. »Es sind beides seine Ge richte.« Ich sah den Professor fragend an. Maura lachte. »Anton kommt manchmal montags, wenn das Re staurant geschlossen ist, und wütet in unserer Küche. Die Rezepte für diese beiden Gerichte stammen von ihm. Ich glaube, er hat … wie viele sind es inzwi schen? Vier oder fünf Gerichte, die fester Bestandteil der Speisekarte sind?« »Fünf«, antwortete er und grinste dabei wie ein kleiner Junge, der gerade einen Buchstabierwettbe werb gewonnen hatte. »Cioppino, Waterzooi, Hai
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Tagine … was noch, was noch? Gegrillter Fisch mit Chermoula und der Jadid-Martini. Gin mit einem Schuss Grappa und Zitronenschale on the Rocks.« »Stimmt, Anton, aber hat schon jemals einer außer dir den Jadid-Martini bestellt?«, fragte sie. »Wenn die Leute einen schlechten Geschmack haben, ist das ja wohl nicht meine Schuld, meine Liebe. Ich kann der Öffentlichkeit lediglich meine genialen Erfindungen vorstellen. Aufzwingen kann ich sie ihnen nicht.« Sie ging mit einem Lächeln, das ihr Gesicht schlagartig zehn Jahre jünger machte. »So, und nun erzählen Sie mir von Ihrer Story«, sagte der Professor, während er sich einen Tropfen Sauce vom Mundwinkel tupfte. Dieser Mann hätte wahrscheinlich einen Weg gefunden, sogar während einer Höhlenerforschung elegant zu wirken. »Erzäh len Sie mir, was in der ›realen Welt‹ passiert, von der wir Professoren heutzutage so viel hören. Ich bin schon ganz gespannt, was Sie über Jaan in Erfahrung gebracht haben.« »Nun ja, leider noch nicht allzu viel. Ich weiß noch immer nicht, wie er gestorben ist. Der Ge richtsmediziner, der die Autopsie durchführte, ist vor zwei Tagen überfahren worden.« »Mein Gott. Was ist passiert? Geht es ihm eini germaßen?« »Nein. Er ist tot. Der Fahrer hat nicht mal an gehalten.« »Wie schrecklich.« »Ja. Er hatte die Untersuchung noch nicht ganz abgeschlossen, mir aber bereits erzählt, an der Lei che sei irgendetwas seltsam gewesen. Der einzige
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Mensch, der Jaan überhaupt ein wenig zu kennen
schien, ist Hannah, die …« »Wer ist Hannah?« »Entschuldigen Sie. Sie ist Musiklehrerin und war seine Nachbarin.« »Die Sie außerdem gut genug kennen, um in ei nem Gespräch nur ihren Vornamen zu nennen.« »Ähm, ja … Sie haben wahrscheinlich Recht. Sie ist irgendwie ganz außergewöhnlich.« »Außergewöhnlich genug, um Sie zum Erröten und Stammeln zu bringen. Sprechen Sie weiter.« »Ihr Neffe hat bestätigt, was Sie mir bereits er zählt hatten. Dass Jaan zweimal festgenommen wur de, beide Male, weil er eine Waffe abgefeuert hatte.« »Da fällt mir gerade ein, Ihre Story hat Josephs In teresse geweckt. Er ist diesen Herbst ein bisschen in Schwierigkeiten geraten und durfte die letzten paar Wochen nur am Schreibtisch sitzen. Ihr kleines Prob lem hat ihm endlich wieder den so dringend nötigen Auftrieb verschafft.« »Was waren das denn für Schwierigkeiten?« Professor Jadid verdrehte seufzend die Augen. »Joseph war schon immer ein wenig grob, fürchte ich. Das hat er von seinem Vater, meinem älteren Bruder Daniel, der sich früher genauso sehr für die Boxringe und die übleren Viertel von Leiden begeis tern konnte wie ich mich für die Bibliotheken. Je denfalls hat Joseph einen scharfen Verstand und ist auch sehr fleißig und im Grunde seines Herzens ein anständiger Kerl, aber störrisch wie ein Esel und ein bisschen zu schnell bereit, Gewalt anzuwenden. Im Oktober fuhr jemand auf einem Parkplatz seinen
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Wagen an, während er darin saß und auf jemanden wartete. Joseph geriet mit dem Fahrer in Streit. Die Situation eskalierte, die beiden begannen sich her umzuschubsen, und leider endete das Ganze damit, dass Joseph dem anderen Fahrer die Nase brach und zwei Zähne ausschlug. Der Mann war zufällig ein Freund des Bürgermeisters. Und deswegen ist Jo seph zu seinem großen Leidwesen seit fünf Wochen ein ›Schreibtischhengst‹, wie er es nennt. Ich glaube, ihm fällt allmählich so richtig die Decke auf den Kopf. Auf jeden Fall hat er mich gefragt, ob Sie eventuell am Montag bei ihm vorbeischauen könn ten.« »Sie meinen, hier auf dem Polizeirevier? Klar.«
»Wunderbar. Ich werde es ihm heute Abend aus richten. Wie gesagt, Joseph kann ziemlich schwierig sein. Aber er hat Ihnen schon einmal geholfen, und anscheinend hat er vor, es wieder zu tun. Demnach mag er Sie.« »Darf ich Sie etwas fragen? Etwas, was mir wäh rend meines Gesprächs mit Joe aufgefallen ist?« »Natürlich.« »Warum nennt er Sie Onkel Abe?« »Nun, ich heiße eigentlich Avram. Als ich mich damals an der Universität von Leiden einschrieb, habe ich Anton daraus gemacht. Meine Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel nannten mich immer Avi, meine Freunde und Kollegen hier in Wickenden nennen mich Anton, und meine Frau, meine jünge ren Verwandten und meine engsten Freunde kennen mich als Abe. Das Ganze ist ziemlich albern, wenn Sie mich fragen, aber zu meiner Verteidigung kann
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ich nur sagen, dass ich es damals für eine ziemlich moderne Geste hielt, meinen Namen zu ändern.« »Ich bin beeindruckt. Zu mir sagen alle immer nur Paul. Aber darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?« »Ich glaube, das haben Sie gerade schon getan, aber Sie meinen wahrscheinlich noch eine weitere. Nur zu.« »Sie haben mir gesagt, Professor Pühapäev sei damals nicht entlassen worden, weil er einen Lehr stuhl innehatte. Aber wie war das möglich? Ich mei ne, Professoren werden oft schon wegen irgendeines blöden Kommentars suspendiert oder wegen des geringsten Verdachts von sexueller Belästigung. Hier aber haben wir es mit einem Typen zu tun, der aus dem Fenster Ihres Instituts schoss, kaum noch Vorle sungen hielt und im Grunde auch niemanden be treute. Ich weiß, Sie haben mir erzählt, dass das Gan ze vor der Presse geheim gehalten wurde, aber zu mindest die Polizei wusste davon. Man hätte das doch bestimmt still und leise regeln können, oder nicht?« Der Professor fuhr sich mit seiner Serviette über den Mund und schenkte den Rest des Weins in un sere Gläser. »Sagen Sie, gibt es für Journalisten wirk lich so etwas wie ›streng vertraulich‹?« »Doch, das gibt es durchaus.« »Sehr gut. Dann ist dieser Teil unseres Gesprächs jetzt streng vertraulich.« Ich nickte. »Der erste Vorfall ereignete sich 1995. Wie gesagt, er schoss damals auf eine Katze und erschreckte den
Nachtwächter des Instituts fast zu Tode. Die Leitung
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des Instituts hatte zu der Zeit Professor Crowley in ne. Hamilton war in Jaans Anfangszeit hier ein großer Fürsprecher von ihm gewesen. Andere Mitglieder des Instituts hatten ihre Zweifel, was Jaans Eignung als Professor an einer Universität dieses Kalibers betraf, aber Hamilton unterstützte Jaans Bemühungen um einen Lehrstuhl, die ja am Ende auch von Erfolg ge krönt waren. Als Jaan das erste Mal aus dem Fenster schoss, tat Hamilton alles in seiner Macht Stehende, damit die Zeitungen nicht über die Geschichte be richteten und so wenige Leute wie möglich davon erfuhren. Ich weiß nicht, wie er die Polizei davon ab gehalten hat, ihre Informationen an die Presse wei terzugeben, aber es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn damals Geld den Besitzer gewechselt hätte. Wir sind hier schließlich in Wickenden. Ich glaube, dass insgesamt nur vier Professoren, mich eingeschlossen, von der Sache wussten. Damals neig te sich Hamiltons ruhmvolle Zeit bereits ihrem Ende entgegen, aber er war hier immer noch ein Star, der der Universität eine Menge Studenten und Aufmerk samkeit einbrachte. Damals ließ er uns wissen, dass er Wickenden verlassen würde, falls wir etwas gegen Jaan – den er als seinen Protégé betrachtete – unter nahmen. Ich weiß nicht, was für einen Ruf Hamilton bei den Studenten hat, aber ich nehme an, er ist für sein starkes Ego bekannt. Jedenfalls wurde nichts unternommen: Jaan versprach, auf dem Campus nicht mehr mit einer Waffe herumzulaufen, und wir ver sprachen, kein Wort mehr über die Sache zu verlie ren. Drei Jahre später, gegen Ende des Sommers, kurz bevor die Studenten zurückkehrten, passierte es
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zum zweiten Mal: Wieder sah Jaan mitten in der Nacht einen Schatten, den er irrtümlicherweise für einen Einbrecher hielt. Wie es der Teufel so will, ging der Schuss diesmal in die Motorhaube von Pro fessor Crowleys Mercedes. Während er am Steuer saß. Er kam mit dem Schrecken davon, wollte aber unbedingt, dass Jaan auf der Stelle entlassen und ein gesperrt wurde – am liebsten hätte er ihn foltern und dann vierteilen lassen. Damals war ich Leiter des In stituts. Ob es nun die richtige Entscheidung war oder nicht, auf jeden Fall tat ich genau dasselbe wie Ha milton beim ersten Vorfall. Hätten wir Jaan auf ir gendeine Weise bestraft, dann hätte das meiner Mei nung nach zwangsläufig dazu geführt, dass die Öf fentlichkeit auch von seiner früheren Verfehlung und unserer – mir fällt kein schöneres Wort dafür ein – Verschwörung erfahren hätte. Ich wollte einen Skan dal vermeiden. Also wurden dieselben Versprechen gegeben, dieselben Entschuldigungen ausgespro chen, denselben Reportern Informationen vorenthal ten, dieselben Zeitungsherausgeber – die fast alle Wickenden-Absolventen waren – beschwatzt und unter Druck gesetzt. Mit demselben Ergebnis wie beim ersten Mal. Dann geschah allerdings etwas recht Seltsames. Ich hatte zu Jaan gesagt, er würde – Publi city hin oder her – im Gefängnis landen, falls mir noch ein einziges Mal zu Ohren käme, dass er mit einer Waffe herumläuft. Gleich am nächsten Tag er hielt ich einen Brief von Vernum Sickle.« »Der Name kommt mit bekannt vor.« »Ja, der bleibt einem im Gedächtnis haften, nicht wahr? Ein fast schon Dickensscher Name, könnte
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man sagen, wenn man der Typ wäre, der solche tö richten Dinge sagt. Jedenfalls ist Sickle der vielleicht beste, mit Sicherheit aber der teuerste Strafverteidiger Neuenglands. Wenn ich richtig informiert bin, vertritt er vor allem Familien aus dem Bereich des organisier ten Verbrechens, hin und wieder zur Abwechslung auch mal einen bekannten Politiker. In seinem Brief forderte Mr. Sickle mich auf, seinen Mandanten, Pro fessor Jaan Pühapäev, nicht länger zu bedrohen, weil er ansonsten mich, das Institut und die Universität wegen Verleumdung anzeigen würde, und falls ich tatsächlich allein aufgrund von Gerüchten irgendwel che Maßnahmen ergreifen würde, wie ich angedroht hatte … nun, dann würde etwas Schreckliches passie ren und so weiter, und so fort. Er wies außerdem dar auf hin, dass wir zwar eine private Universität seien, aber trotzdem staatliche und städtische Zuschüsse erhielten und somit an den vierten Zusatzartikel der Verfassung gebunden seien und deshalb nicht das Recht hätten, Jaan oder sein Büro zu durchsuchen. Ich weiß nicht, ob diese Argumentation korrekt war oder nicht, auf jeden Fall wirkte sie einschüchternd. Eine Menge juristisches Säbelrasseln. Aber es funktionier te: Jaan blieb und schoss meines Wissens nie wieder mit seiner Waffe durch die Gegend, auch wenn ich meinen letzten Sou darauf verwetten würde, dass er trotzdem immer noch eine mit sich herumtrug. Dass Sickle seine Finger im Spiel hatte, fand ich damals ziemlich faszinierend, bewies es doch, dass Jaan nicht annähernd so weltfremd war, wie es den Anschein hatte. Natürlich kann Jaan den Namen auch einfach in der Zeitung gelesen haben, dieser Sickle bringt es
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ja irgendwie fertig, ständig erwähnt zu werden, aber der Brief kam so kurz nach dem Vorfall, dass ich ver mute, die beiden kannten sich schon vorher. Wie ge sagt, alles streng vertraulich.« »Dabei würde ich diese Informationen wirklich gern verwenden, Professor. Es geht hier längst nicht mehr nur um einen Nachruf. Die Geschichte hat mich genauso gepackt wie Ihren Neffen. Irgendet was ist da faul. Ich könnte Ihren Namen ja herauslas sen und einfach schreiben, dass die Informationen von ›einem Kollegen‹ oder ›einer zuverlässigen Quelle an der Universität‹ stammen.« Professor Jadid sah aus dem Fenster. Das Restau rant lag am Rand der Innenstadt, und im winterli chen Spätnachmittagslicht sahen die Gebäude aus wie Spielzeughäuser aus Zimt-Toast, weich und süß. Der Fluss reflektierte das Licht und wirkte warm und golden, obwohl das Wasser in Wirklichkeit wahr scheinlich eiskalt war und einem die Haut wegfraß, wenn man die Hand hineinhielt. »Lassen Sie mich über Ihren Vorschlag nachdenken. Es wäre bedauer lich, wenn der Ruf meines Instituts geschädigt wür de. Eines muss man Ihnen jedenfalls lassen: In An betracht der Größe Ihrer Leserschaft geben Sie sich bei Ihren Recherchen wirklich sehr viel Mühe. Das spricht für Sie.« »Mit der Größe meiner Leserschaft hat das nichts zu tun.« Der Ton meiner Antwort war vielleicht ein wenig schärfer und defensiver ausgefallen, als es an gemessen gewesen wäre. »Außerdem hat eine Zei tung in Boston Interesse bekundet. Womöglich ver hilft mir diese Story sogar zu einem Job in Boston.«
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»Das sind ja wundervolle Neuigkeiten. Eine Stel le bei einer angesehenen Zeitung in einer größeren Stadt, und das in Ihrem Alter? Bemerkenswert. Da sind nicht nur die herzlichsten Glückwünsche fällig, sondern auch zwei Gläser Brandy«, erklärte er und winkte Maura. »Die Bemerkung steht mir vielleicht nicht zu, aber Sie sind mir immer als ein Typ Mensch aufgefallen, der einerseits ehrgeizig ist und andererseits Angst vor diesem Ehrgeiz hat. Habe ich Sie da richtig eingeschätzt?« »Ich weiß nicht so recht. Angst? Eigentlich nicht. Ich habe gern Erfolg.« »Das bestreite ich auch gar nicht. Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass Ehrgeiz zwar in Rücksichts losigkeit umschlagen kann, wenn man ihm freien Lauf lässt, dass andererseits aber ein gewisses Maß an Ehrgeiz unerlässlich ist, vor allem in Verbindung mit einem so sicheren Gefühl für Schicklichkeit und Anstand, wie Sie es ganz offensichtlich besitzen. Sie können weiterhin ein guter Mensch bleiben, Paul, und gleichzeitig ein erfolgreicher Reporter werden. Das eine schließt das andere nicht aus. Vielleicht bräuchten Sie zu diesem Thema ein bisschen Nach hilfe von Miss Park.« »Mia. Wie geht es ihr?« »Sie ist eine der klügsten Studentinnen, die ich jemals unterrichten durfte. Und eine der streitsüch tigsten. Ich muss sagen – und das soll jetzt keine Be leidigung sein –, dass ich Schwierigkeiten habe, mir Sie beide als Paar vorzustellen.« Ich lachte. »Da sind Sie nicht der Einzige. Seit wir nur noch Freunde sind und kein Paar mehr, verste
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hen wir uns viel besser. Obwohl ich sie nun schon fast ein Jahr nicht mehr gesehen habe.« »Das kommt vor. Ich möchte nicht zu neugierig erscheinen, indem ich Sie über diese Musiklehrerin ausfrage, aber dass Sie ihretwegen so rot werden, erscheint mir recht vielversprechend. Viel Glück!« »Danke.« »So, und jetzt sollten wir einen letzten Toast aus sprechen, bevor wir uns in diesen Winternachmittag hinauswagen. Worauf wollen wir trinken? Vielleicht auf dubiose, möglicherweise kriminelle Professoren mit erschreckend wenig Geschick im Umgang mit Waffen, deren Tun sich aber ganz wunderbar auf die Karriere junger Reporter auswirkt? Nein, das ist wohl ein bisschen zu lang. Wie wär’s mit einem Toast, der auf Reporter und Professoren gleichermaßen zutrifft: Auf die Entdeckung!« Darauf tranken wir. Während ich durch die vertrauten, von violettem Dämmerlicht weichgezeichneten Straßen nach Hau se fuhr, schwirrten mir tausend Fragen durch den Kopf: Wieso und woher hatte Pühapäev Sickle ge kannt? Stimmte, was Professor Jadid mir über Crow leys Vertuschungsaktion erzählt hatte? Und wenn ja, würde ich dafür jemals eine offizielle Bestätigung bekommen? Was hatte Joe Jadid herausgefunden, und warum interessierte er sich für die Recherchen eines popeligen Provinzreporters? Eine Frage aber beschäftigte mich mehr als alle an deren: Hatte Hannah an diesem Abend schon was vor?
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Die weinende Königin
D Auff die Absezung des Königs folget sein Todt, wo rauff die Königin den gebrochen und leblos Leib ihres Herren mit höchst tugendhafften und ehrerbie tigen Thränen badet, und – Sehet! – durch jene Christi Thränen wardt der König neu geboren, so dasz er befreiet ist von allem irdischen Leide und von dem Unrat und der Rastlosigkeit des Lebens, und er verwandelt wirdt in etwas, was seinesgleichen nicht hat. D JOHN FOXWELL D Von seltnen und wundersamen Dingen
Der klapprige silberfarbene Bus tuckerte langsam die Pragas iela entlang und ließ eine Spur aus braunem Matsch und schwarzem Rauch hinter sich zurück. Seine Hupe klang erbärmlich, eher wie das Geschrei einer Gans, die irgendwo im Auspuff zu stecken schien. Der Fahrer betätigte sie ununterbrochen und produzierte damit ein an Morsezeichen erinnerndes Sperrfeuer aus langen und kurzen Tönen. Die Wir kung war eher komisch als beeindruckend. Vor ihrer Abfahrt vom Hotel Latvija – einem vom Staat betriebenen tristen Betonmonstrum, das eine ungeheure Anziehungskraft auf Kakerlaken und Na
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getiere, aber so gut wie keine auf menschliche Wesen ausübte – hatte der Fahrer notdürftig die Scheibenwi scher des Busses »repariert«, die unter dem grauen Autobahn-Matsch in den Rillen der Windschutzschei be über Nacht angefroren waren. Mit seinem Schuh und einem abgebrochenen Flaschenhals als Hammer und Meißel hatte er den ganzen Dreck weggehackt und die Scheibenwischer befreit, war dabei aber wohl ein wenig zu schwungvoll vorgegangen: Sie bewegten sich jetzt gute fünfzehn Zentimeter vor der Scheibe hin und her und schlugen immer wieder aneinander, als wollten sie boshaft seinen Erfolg beklatschen, während er blind und nur seiner Intuition folgend auf den Parkplatz des Busbahnhofs einbog. Jeder seiner Fahrgäste bedankte sich beim Aus steigen für die Fahrt. Kein sowjetischer Fahrgast hät te das jemals getan. Diese Leute hier aber waren Briten, und sie bildeten beim Aussteigen eine or dentliche Begräbnisprozession aus beigefarbenen Regenmänteln, grauen Capes, schlammbraunen und kotzgrünen Schals, abgetragenen Galoschen und klapprigen Schirmen. Sowohl der Fremdenführer als auch der Busfahrer waren sich einig, dass sie noch nie unter so angenehmen Bedingungen gearbeitet hat ten: keine betrunkenen Fabrikarbeiter aus Krasno jarsk, keine tyrannischen Babuschkas aus Leningrad, keine herablassenden, die Provinz besuchenden »Genossen« aus Moskau. Diese Touristen waren freundliche, folgsame Mitglieder einer Reisegruppe aus Islington und Jericho, die ihre Winterferien (niemand von ihnen sprach von »Weihnachten«) im sozialistischen Paradies Lettland verbrachten.
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Als der Bus anhielt, klebte der Fremdenführer mit seiner schweißnassen Hand ein paar Haarsträhnen über seinen fleckigen Schädel. Dann räusperte er sich laut und spuckte beim Aussteigen einen ekligen Klumpen auf den Boden des Busses. »Wenn Sie mir bitte folgen würden!«, rief er, während er seinen ro ten Schirm über der Gruppe emporreckte. »Wir ge hen jetzt zum wunderbaren Markt von Riga, wo alle möglichen Produkte aus dem ganzen Arbeiterstaat der Sowjetunion zu finden sind. Bitte in diese Rich tung. Hier herüber, bitte!« Als der Fremdenführer sich umdrehte, nahm ihn einer der Briten am Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als Einziger seiner Gruppe verfügte der Mann sowohl über eine Haarbürste als auch über gute Rus sischkenntnisse. Außerdem schien er ungefähr zwan zig Jahre jünger zu sein als der jüngste seiner Lands leute. Einen Moment lang huschte ein besorgter Ausdruck über das eben noch so gelangweilte Ge sicht des Führers, und er blickte sich unwillkürlich um, aber niemand schien gehört zu haben, was der junge Mann ihn gefragt hatte. »Bitte«, sagte der Brite und legte beruhigend eine Hand auf den Oberarm des Mannes. »Ich verspreche Ihnen, dass ich heute Abend – spätestens um zehn – wieder im Hotel bin. Falls nicht, dann informieren Sie bitte die Polizei. Sagen Sie ihnen, ich hätte mich heimlich aus mei nem Zimmer geschlichen. Erzählen Sie ihnen, was Sie wollen. Aber ich würde einfach gern eine Weile auf eigene Faust die Stadt erkunden. Ich verspreche Ihnen, dass es sich für Sie lohnen wird«, fügte er hin zu und hielt dem Mann die Hand hin. Zwischen sei
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nem dritten und vierten Finger steckte ein schmal zusammengefalteter Zwanzigpfundschein. »Heute Abend bekommen Sie noch so einen.« Der Fremdenführer schüttelte ihm die Hand, kas sierte den Geldschein und nickte rasch. »Wenn ich vom KGB wäre, würde ich jetzt dieses Geld nehmen, Ihnen dann folgen und Sie festnehmen. Und falls Sie vom KGB sind … nun ja, darüber möchte ich gar nicht nachdenken. Schleichen Sie sich auf dem Markt davon. Aber tun Sie nichts Illegales, hören Sie?« Er stieß dem jungen Mann mit einem Finger in die Seite. Wenn er seine Muttersprache benutzte, benahm er sich plötzlich wieder wie ein typischer kleiner Beamter. »Falls Sie mir auf irgendeine Weise Scherereien machen, verspreche ich Ihnen, dass Ihr Aufenthalt im Arbeiterparadies mehr Arbeit und we niger Paradies sein wird, als Sie sich vorstellen kön nen. Ich werde Sie heute Abend um halb elf auf Ih rem Zimmer aufsuchen und rechne fest damit, dass Sie mich dort mit einem weiteren kleinen Geschenk erwarten werden.« Die beiden Männer gaben sich erneut die Hand. Der Engländer blieb ein Stück zu rück und begann mit einem pensionierten Lehrer aus St. John’s Wood zu plaudern. Als ihre Gruppe um die Ecke bog, sahen sie vor sich fünf silberfarbene Flugzeughallen, aus denen Unmengen von Menschen, Waren, Farben und Ge rüchen quollen. »Verehrte Gäste, willkommen auf dem Markt von Riga!« Der Fremdenführer akzentu ierte seine Worte mit kleinen ruckartigen Bewegun gen seines roten Schirms. »Hier finden Sie Anden ken und Geschenke, die Sie aus der Sowjetunion mit
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nach Hause nehmen können. Bitte denken Sie dar an, Ihre Einkäufe dem Zollbeamten im Hotel zur Prüfung vorzulegen. Treffpunkt wieder hier um halb zwei, anschließend Rückfahrt ins Hotel zum Mittag essen.« Der junge Engländer wartete, bis der pensionierte Lehrer auf ein paar geschnitzte georgische Weinhör ner zusteuerte, dann zog er ein Stück Papier aus der Tasche. Den Anweisungen auf dem Zettel folgend, ging er an ein paar suspekt aussehenden usbekischen Kürbishändlern vorbei, wäre dabei beinahe in eine Gruppe kirgisischer Männer in langen schwarz weißen telpeks gerannt, die aus kleinen Schalen Tee tranken und sich unterhielten, blieb kurz vor einem Stand mit dagestanischen Dolchen stehen (alle un echt, alle stumpf) und entdeckte zwischen zwei Ständen an der hinteren Wand eine kleine Holztür. Er ging ein Stück weiter, blieb wieder stehen, um bei einem alten Verkäufer ein wenig Akazienhonig zu kosten, ging dann erneut ein paar Schritte weiter, machte hinter dem Honigstand kehrt und ver schwand durch die Tür. In einem fast dunklen Raum saßen zwei Männer an einem Tisch. Einer war dunkelhäutig und hatte gro be, leicht asiatisch wirkende Züge, einen drohenden Gesichtsausdruck und einen breiten Schnurrbart, dessen Enden bis zu seinen Mundwinkeln hinunter hingen. Als die Tür aufging, wurde sein Blick noch finsterer, und seine rechte Hand wanderte unter den Tisch. Dabei ließ er den Engländer keine Sekunde aus den Augen. Neben ihm saß ein schlanker kleiner
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Mann mit sandfarbenem Haar und unauffälligen Ge sichtszügen, der etwas Vogelartiges an sich hatte. Er begrüßte den Besucher mit einem nachdenklichen Lächeln. »Sie sind Woskresenjow?«, fragte der Engländer.
Der Vogelmann nickte. »Sie sehen aus wie Ihr Va ter«, sagte er auf Englisch. Er hatte nur einen leich ten Akzent. »Jetzt nicht mehr.« »Wie geschmacklos, Mr. Hewley, und völlig un passend für einen jungen Mann, der so viel Glück hat wie Sie.« Hewley lachte. »Sie meinen, weil ich so hohe Schulden habe, dass es den Hartgesottensten um den Schlaf bringen würde? Weil demnächst meine Woh nung beschlagnahmt wird? Weil ich keine …« Woskresenjow brachte ihn mit einer Handbewe gung zum Schweigen und schloss gleichzeitig beschwichtigend die Augen. »Mr. Hewley, ich spre che von Ihrer zukünftigen Situation, nicht von Ihrer gegenwärtigen. Wenn mir nicht bewusst gewesen wäre, dass der plötzliche und sehr bedauerliche Tod Ihres Vaters Sie in eine höchst missliche Lage ge bracht hat, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, Sie heute hierher einzuladen. Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf einen leeren Stuhl, den der dunkelhäuti ge Mann rüde in Hewleys Richtung stieß. »Und wer ist dieser Charlie Chan hier?« »Sie haben Glück, dass Timur kein Englisch ver steht. Er ist Kasache, nicht Chinese, und er reagiert höchst beleidigt und ziemlich gewalttätig, wenn man ihn für etwas anderes hält als einen Kasachen. Timur
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ist ein Freund. Er kümmert sich um alles, was meine leibliche Sicherheit betrifft.« »Dann ist er also der Mann fürs Grobe, was?« Hewley stand auf, ging zu Timur hinüber und täuschte wie ein Boxer ein paarmal an, während er gleichzeitig den Kopf bewegte, als müsste er den Schlägen eines imaginären Gegners ausweichen, ach tete dabei aber darauf, außerhalb von Timurs Reich weite zu bleiben. »Was ist er, ein ausgebildeter Kil ler? Kann er Karate und das ganze Zeug?« »Nein, Mr. Hewley, ich glaube, Karate ist japa nisch. Würden Sie sich bitte wieder setzen? Danke. Haben Sie mitgebracht, worum wir Sie gebeten ha ben?« »Nicht so eilig. Lassen Sie mich erst mal das Ihre sehen. Obwohl ich schätze, dass mir Ihr verdammter Mao-Tse-Hirohito-Kasachen-Schläger jederzeit die Arme ausreißen kann, wenn ihm danach ist.« Woskresenjow zuckte die Achseln. »Niemand hier will Sie ausrauben, Mr. Hewley, und erst recht nicht verletzen. Was würde denn Sergej Kirilowitsch sa gen, wenn Sie ihm heute Abend die Tür aufmachen und sein Zwanzigpfundschein an einem blutigen Armstumpf klebt?« »Woher wissen Sie …« Woskresenjow tat seine Frage mit einer Handbe wegung ab und holte eine Aktentasche unter dem Tisch hervor. Nachdem er sie geöffnet hatte, hielt er sie Hewley hin. »Hunderttausend Pfund. Zählen Sie, wenn Sie wollen. Aber noch wichtiger als das Geld sind diese Schriftstücke« – er zog mehrere Umschlä ge aus seiner Tasche und legte sie auf das Geld –,
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»die dafür sorgen werden, dass Sie weder in meinem Land noch in dem Ihren Probleme mit neugierigen Zollbeamten bekommen. Sie sollten sie gut aufbe wahren, auch wenn Sie wieder in England sind. Und selbst wenn die Schriftstücke nicht ausreichen soll ten, verspreche ich Ihnen als ein Freund Ihres Va ters, dafür zu sorgen, dass Sie sicher nach London zurückkommen. Mit Ihrem ganzen Geld und sämtli chen Gliedmaßen. So, würden Sie jetzt bitte …« Woskresenjows Augen leuchteten auf, und seine Ge sichtszüge schienen noch eine Spur spitzer zu wer den, als er sich über den Tisch zu Hewley vorbeugte. Hewley griff in die Innentasche seines Mantels und holte eine lackierte Schachtel heraus, die unge fähr die Größe einer Zigarettenpackung hatte. Dann zog er ein Paar weiße Stoffhandschuhe an, öffnete die Schachtel und nahm vorsichtig ein Kartenspiel heraus. Woskresenjow klatschte in die Hände. »Ah! Es ist das erste Mal, dass ich diese Karten zu Gesicht bekomme. Das erste Mal, dass sie England verlassen haben, glaube ich. Und ihrem außergewöhnlich gu ten Zustand nach zu urteilen eines der wenigen Ma le, dass sie seit dem achtzehnten Jahrhundert ange fasst worden sind. Dürfte ich Sie bitten, die vier Kö niginnen aufgedeckt hier auf den Tisch zu legen?« Hewley breitete ein kastanienfarbenes Ledertuch auf den Tisch aus. Dann blätterte er die Karten durch und legte die Königinnen in der Reihenfolge, in der sie ihm unterkamen, auf das Tuch. »Danke. Das ist alles, was ich sehen wollte. Bitte seien Sie nun noch so freundlich und legen Sie die Karten zu rück in die Schachtel und die Schachtel zwischen uns
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auf den Tisch. Ich verspreche Ihnen noch einmal, dass weder die Karten noch Sie Schaden nehmen werden.« »Und was kommt jetzt? Auf die Plätze, fertig, los? Ich gebe Ihnen die Karten, und Sie reichen mir die Mappe?« »Gewiss, wenn Sie das so wollen. Wie gesagt, ich habe nicht vor, Sie auszurauben, und dank Timurs Anwesenheit und der für Sie fremden Umgebung sind Sie auch nicht in der Lage, mich auszurauben, deswegen können wir die Waren austauschen, wie Sie es wünschen.« Hewley trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah die beiden Männer direkt an. »Es wäre mir sonst bestimmt gelungen. Sie auszu rauben. An jedem anderen Ort.« Woskresenjow lachte. »Ich weiß. Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt. Schließlich stammen Sie ja auch vom Besten ab.« »Ich hab’s«, sagte Hewley. Er hatte aufgehört, mit den Fingern zu trommeln und begann nun stattdes sen, die Handflächen in schnellem Rhythmus auf den Tisch zu schlagen. »Wie wär’s, wenn wir eine Runde Poker spielen? Diese Königinnen können ja nicht ewig Jungfrauen bleiben.« »Ich möchte nicht, dass diese Karten öfter als un bedingt nötig berührt werden. Die Königinnen sollen unbefleckt bleiben. Aber da Sie streng genommen mein Gast sind, kann ich Ihnen einen so kleinen Wunsch wohl nicht abschlagen. Um welchen Einsatz wollen Sie spielen?« Hewley zog seine Geldbörse heraus, hielt dann
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aber mitten in der Bewegung inne, als wäre ihm ein plötzlicher Gedanke gekommen. »Warum spielen wir nicht um das, was wir hier liegen haben? Ein Blatt, und der Gewinner bekommt alles.« »Sie sind wirklich ein sehr leichtsinniger junger Mann«, lachte Woskresenjow. »Ich biete Ihnen im Rahmen eines fairen Austauschs eine Summe an, mit der Sie Ihre Schulden zu einem großen Teil, wenn nicht sogar ganz, bezahlen können, und Sie wollen immer noch mehr. Was wollen Sie mit diesem Kar tenspiel? Für Sie hat es doch sowieso keinen Wert.« »Ich bin ja auch nicht derjenige, der es kauft, Vä terchen.« Hewley zwinkerte ihm zu. »Wenn Sie in einem Hinterzimmer hunderttausend dafür zahlen und derart auf Geheimhaltung achten, nehme ich an, dass ich ein bisschen mehr dafür bekommen könnte, wenn ich eine richtige Auktion abhalten würde. Sie wissen schon, mit einem Sachverständigen von Sotheby’s, der die Karten prüft, einer öffentlichen Ankündigung und so weiter.« »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, Mr. Hewley. Wenn Sie in die Fußstapfen Ihres Va ters treten wollen, dann muss man sich auf Ihr Wort verlassen können. Auf das seine konnte man sich immer verlassen.« »Ja, und wohin hat ihn das gebracht? Wir konnten ihn nicht mal aufbahren lassen. Als sie ihn aus dem Severn zogen, war er aufgedunsen und grau wie ein alter Fisch, und er schuppte sich auch wie einer. So möchte ich mal nicht enden.« Hewley schauderte einen Moment, dann richtete er sich auf und schlug mit der Hand auf den Tisch.
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»Aber heute habe ich einen guten Tag. Einen Glückstag, wenn Sie wissen, was ich meine. Ein Po kerspiel, und der Gewinner bekommt die hundert tausend Pfund und dieses Kartenspiel im Wert von – ich weiß auch nicht – sagen wir … zweimal so viel?« Woskresenjow zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen. Ich muss Sie nur bitten, falls Sie gewinnen, auf die Auktion zu verzichten und mir gleich hier in diesem Raum Ihren Preis zu nennen. Ich habe mich wirklich in diese Königinnen verliebt.« »Darf ich fragen, wie ein Russe wie Sie an so viel Kies kommt? Ist es nicht eigentlich so gedacht, dass Sie alle gleich sein sollen? Sie wissen schon.« »Ja, gleich. Aber manche sind eben gleicher als andere. Sie dürfen mir nicht böse sein, wenn ich mir die Bemerkung erlaube, aber Ihr Vater verdankte sein langes Leben und seinen Erfolg unter anderem der Tatsache, dass er nicht im Mindesten neugierig war. Es ist nicht gut, wenn man zu viele Fragen stellt.« Er wandte sich auf Russisch an den Kasachen: »Hat Teswadse hier noch seinen Stand?« Der Kasa che nickte. »Verkauft er noch die gleiche Ware?« Wieder nickte der andere Mann. »Gut. Dann geh und kauf ein Spiel.« Er reichte Timur ein paar Scheine. Als der Kasache sich zum Gehen wandte, hielt er ihn am Arm zurück. »Und bring einen Geber mit. So wie üblich.« Während Timur ging, erklärte Woskresenjow: »Teswadse verkauft georgische Spielkarten. Er be hauptet, sie wären handgemalt, aber falls dem tat sächlich so ist, hat der Mann, der sie malt, die ruhigs ten Hände, die mir jemals untergekommen sind. Er
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verkauft sie an Balten, Russen und Touristen, die zu viel Angst haben, um sich in die Gegend unterhalb des Kaukasus zu wagen. Die Farben sehen ein biss chen anders aus als die, die Sie gewöhnt sind, aber das dürfte kein Problem sein. Und was den Geber betrifft … mal sehen, wen Timur findet. Möchten Sie etwas trinken, während wir warten?« Woskresen jow holte eine Keramikflasche unter dem Tisch her vor. »Was ist das?« »Rigas Meinais Balzam. Eine lokale Spezialität. Manche können damit gar nichts anfangen, aber ich muss sagen, dass ich nicht mehr von Krankheiten geplagt werde, seit ich das Zeug trinke. Besonders gut hilft es gegen die Sorte Wehwehchen, die das englische Klima mit sich bringt.« Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche und reichte sie dann seinem Gegenüber. Hewley schnupperte an der Flasche und zog so fort den Kopf zurück. »Bäh. Was ist denn da drin?« »Das weiß niemand so ganz genau. Wermut, Ysop, Orangenschale, Eichenrinde, irgendwelche Blüten. Es ist ein Geheimrezept.« Hewley nahm einen großen Schluck, rang nach Luft, ließ sich nach hinten in seinen Stuhl fallen, richtete sich wieder auf und fuhr sich mit den Fin gern durchs Haar. Woskresenjow lachte. In dem Moment ging die Tür auf. Timur zwängte sich her ein, gefolgt von einem schlanken Mädchen von etwa zwölf oder dreizehn Jahren, das einen schmutzigen braunen Kittel trug und die Augen verbunden hatte. Er warf ein Kartenspiel auf den Tisch und sagte auf
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Russisch: »Sie ist mir bei dem Stand über den Weg gelaufen, wo die Frauen den Tee verkaufen.« Das Mädchen zitterte, und unter dem Tuch, mit dem ihr die Augen verbunden waren, lief eine Träne heraus. Sie fiel auf Timurs Hand, die über dem Schlüsselbein des Mädchens lag. »Komm herüber, Mädchen.« Das Mädchen richte te sich auf, schniefte laut und ging dann so schnur stracks und sicher auf Woskresenjow zu, als könnte sie sehen. »Weißt du, wie man Karten ausgibt?« Sie nickte. »Ich stelle dich vor die Wahl. In dreißig Mi nuten kannst du mit mehr Geld nach Hause gehen, als dein Vater in fünf Jahren verdient, oder du triffst in dreißig Minuten den ersten deiner Männer, dem tausende folgen werden. Was ist dir lieber?« Das Mädchen streckte plötzlich den Arm aus und kratzte Woskresenjow übers Gesicht. »Russisches Schwein! Kasachische Ratte! Ich erkenne eure Stimmen …«Woskresenjow verpasste ihr einen sol chen Schlag mit dem Handrücken, dass sie auf dem Boden landete. Sie atmete scharf ein, gab ansonsten aber keinen Laut von sich. Timur packte sie mit ei ner Hand an beiden Handgelenken und riss sie wie der hoch. »Wir möchten nur, dass du ein ganz normales Kar tenspiel ausgibst«, erklärte Woskresenjow in sanftem Ton. Dabei streichelte er ihr übers Haar, und sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Gib fair und ehrlich aus. Wenn du das tust, werden wir dich gut bezahlen und nach Hause schicken. Verstanden? Wenn du dich aber aufführst, schreist oder noch einmal einen von uns angreifst, dann wird der Rest
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deines Leben sehr kurz und schmerzhaft ausfallen. Sag, liebst du deine Eltern?« Das Mädchen verzog keine Miene. »Nun ja, wie auch immer. Du be kommst das Geld. Gib es ihnen oder behalte es, ganz, wie du willst. Wenn du einverstanden bist, wird mein Partner dich jetzt loslassen. Wenn er dich loslässt und du etwas anderes tust als das, was wir vereinbart haben, werden wir kein zweites solches Gespräch führen. Klar?« Das Mädchen nickte. Timur ließ sie los, und Woskresenjow reichte ihr das Kartenspiel. »Bitte misch diese Karten und teil sie dann aus. Nein, warte!« Woskresenjow nahm ihr die Karten wieder aus der Hand, legte vier davon auf den Tisch und wandte sich an Hewley. »Die Farben sind wie gesagt ein wenig anders. Schwerter, Sterne, Kelche und Lanzen, in dieser Reihenfolge. So, sind wir so weit? Ein Blatt. Welches Spiel?« »Ich selbst bevorzuge Hold’em«, antwortete Hew ley, der nach dem Vorfall mit dem Mädchen längst nicht mehr so guten Mutes war und deswegen mit lauterer Stimme sprach als zuvor. »Texas Hold’em.« »Einverstanden. Nichts Aufregendes.« Woskre senjow wandte sich an das Mädchen. »Nun gib bitte aus. Jeder von uns bekommt zwei verdeckte Karten – leg sie einfach verdeckt auf den Tisch, eine nach der anderen, so, wie du sie in der Hand hast. Gut. Jetzt lege eine zur Seite, rechts von dir, und dann drei auf gedeckt – das heißt umgedreht – vor dir auf den Tisch. Nun noch einmal eine zur Seite und eine wei tere aufgedeckt auf den Tisch. Nun noch einmal dasselbe. Gut. Jetzt tritt vom Tisch zurück. Mr. Hewley, ist das für Sie so in Ordnung?«
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Hewley nickte. Er schluckte nervös. »Gut. So, Mädchen, hier hast du mehr Geld, als du in deinem Leben bisher gesehen hast. Timur wird dich hinausführen und dir das Tuch abnehmen, und du wirst sofort vergessen, was hier passiert ist. Denk dir wegen deiner Nase eine glaubwürdige Er klärung aus, und nimm bitte meine Entschuldigung an. Nun geh, geh schnell, und sieh dich ja nicht nach der Tür um.« Woskresenjow betrachtete die Karten, die auf dem Tisch lagen – eine Schwertzehn, eine Kelch acht, ein Sternbube, ein Sternass, eine Kelchzehn –, und warf dann einen Blick auf seine beiden Karten. Hewley tat das Gleiche. »Ohne Wetten macht dieses Spiel gar nicht so viel Spaß«, murmelte Woskresen jow. »Mr. Hewley«, sagte er dann mit klarer, lauter Stimme, »sind Sie bereit zum Aufdecken?« »Ich bin bereit.«
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GEGENSTAND 7 Eine Spielkarte, etwa 2,4 Zentime ter länger und 1,2 Zentimeter schmaler als die übli che englische oder amerikanische Spielkarte. Eine Seite – die Rückseite – ist dunkelrot und mit einer goldenen Zierleiste versehen. Innerhalb der Zierleis te steht in aufwändig gestalteten, ineinander ver schlungenen Buchstaben, beginnend in der linken oberen Ecke und im Uhrzeigersinn dem Kartenrand folgend: »Sutcliffe Sanderson & Trout, Spezialisten für alle Arten von Ätzungen, mit besonderer Meister schaft in der Herstellung von Spielkarten und klei nen Zierschriften, auf Geheiß Seiner Majestät, des Herzogs Mulebollocks of Fiddle-Dee-Dee, gedruckt mit der Erlaubnis von niemandem außer uns selbst, London oder anderswo.« Die andere Seite zeigt eine Pikdame, die sich durch die starre geometrische Form und die unspezi fische höfische Vornehmheit auszeichnet, wie sie für englische Spielkarten des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch ist. Nach den sie umgebenden Details und der fei nen Linienführung zu urteilen, basiert sie auf einem Kupferstich, der im Stil eines Holzschnitts gefertigt ist. Den Hintergrund der Karte bildet ein Mosaik aus ineinander verschlungenen Rauten, das Yazdeh Sa miizdanji und seine Anhänger in Täbris auf ihren nichtgegenständlichen Karten verwendeten. (Vorbild zu diesem Muster war eine außergewöhnliche, aber sehr berühmte, vom Hof des sizilianischen Königs Roger II. stammende Serie von Lithographien.) In der einen Hand hält die Königin einen grünen Des tillierkolben, in der anderen einen kleinen Sarg mit
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der lateinischen Aufschrift »Der König ist tot, es lebe der König«. Auf halber Höhe ihrer linken Wange sitzt eine einzelne Träne, die durch einen feinen Strich mit ihrem Auge verbunden ist. Den wenigen Menschen, die überhaupt von der Existenz dieser Karte wissen, ist sie als »Die weinende Königin von Hoxton« bekannt. Der König ist der Grundstoff, der verwandelt wer den soll. Der Prozess beginnt, wenn Wasser abge sondert wird. Die Träne der Königin steht sowohl für die reinigenden Eigenschaften des Wassers (und, in einem übertragenen Sinn, der Alchemie) als auch für die Traurigkeit des Königs, der aus dem einen Le ben, der einen Form in etwas anderes überwechselt. HERSTELLUNGSDATUM Spätes achtzehntes oder frühes neunzehntes Jahrhundert. HERSTELLER Keine Firma namens Sutcliffe Sanderson & Trout wurde je in einer Londoner Zunft oder sonst irgendwo in England registriert. Jan Pieters zoon van Soudcleft, ein flämischer Graf mit einer Vorliebe für Whist, Bridge, spanischen Wein, arkane wissenschaftliche Projekte und extrem junge Mäd chen, lebte von 1792 bis 1820 etwas östlich von Lon don. 1820 starb er an Unterkühlung, nachdem er, bis auf seine Perücke völlig nackt, zu einem Neujahrs spaziergang über sein Heideland aufgebrochen war. Als sein einziger Sohn die Ländereien seines Vaters verkaufte und seinen Namen zu Sutcliffe anglisierte, waren unter den versteigerten Gegenständen auch eine Briefkopierpresse sowie Gravierwerkzeug. Bei
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des war nur selten, wenn überhaupt, benutzt worden. Graf van Soudcleft besaß außerdem eine große Sammlung islamischer Holzschnittkunst, die sein Sohn größtenteils nicht verkaufte, sondern fluchend verbrannte. Spielkartenhistoriker haben die Vermu tung geäußert, dass dieses Kartenspiel – das einzige, das Sutcliffe Sanderson & Trout zugeschrieben wird und auch das einzige Beispiel für eine islamisch englische Mischform eines auf einem Holzschnitt basierenden Stichs – der verbrannten Sammlung von Drucken nachempfunden war. Die Identität von Sanderson und Trout ist bis heute völlig ungeklärt. HERKUNFTSORT Nach der Sprache auf der Rücksei te, der Form und Größe sowie der exemplarisch dar gestellten höfischen Figuren auf der Vorderseite zu urteilen (alle französischen, spanischen, deutschen und holländischen Karten aus dieser Zeit stellten historische Persönlichkeiten dar), scheint es sich um englische Karten zu handeln. LETZTER BEKANNTER BESITZER Hugh Hewley, britischer Antiquar, Antiquitätenhändler und zwang hafter Taschendieb. Nachdem er beim Fliegenfi schen in Wales durch einen Unfall ums Leben ge kommen war, ging sein gesamter Besitz – seine Schulden ebenso wie seine Antiquitäten – an seinen Sohn Antony über, der in Cambridge studiert hatte und in London freiberuflich als RussischDolmetscher arbeitete, dessen Haupteinnahmen aber vom Pokertisch stammten. Kurz nach Hughs Tod reiste Antony aus bisher ungeklärten Gründen
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nach Lettland. Nach seiner Rückkehr beglich er mü helos die exorbitanten Schulden seines Vaters und verkaufte das Geschäft und alles, was sich darin be fand, an die Southall Icemen, eine Londoner Gang, die Mitte der Siebzigerjahre von Azim Mehmood und Stony Rosen angeführt wurde. Seltsamerweise konnten die Karten nirgendwo im Laden gefunden werden, obwohl Hugh sie seinen eigenen Angaben zufolge in einem Safe im hinteren Teil des Ladens aufbewahrte und mehrfach geäußert hatte, er werde sie auf keinen Fall verkaufen, egal, welchen Preis man ihm dafür bieten würde. Eine Weile kursierte das Gerücht, er habe die Karten bei sich gehabt, als er ertrank, und sie seien auf dem Grund des Severn verrottet. Antony starb zwei Wochen nach dem Verkauf des Ladens, angeblich an einer Überdosis Heroin. Er hinterließ keine Nachkommen. GESCHÄTZTER WERT Einzelne Kartenspiele können ohne weiteres über 100.000 Dollar einbringen. Hier gilt es zu bedenken, dass es sich bei den Käufern meist um Spieler handelt, die oft große Geldsummen zur Verfügung haben, die sie wohlweislich weder zur Bank tragen noch in ihrer Steuererklärung angeben, und dass sie mit einem solchen Kartenspiel im Grunde mindestens vierzig verschiedene Gemälde erstehen. 1889 beschloss Prinz Albert, während seines jähr lichen Sommerurlaubs in Balmoral seinen Bart abzu nehmen und dann neu wachsen zu lassen. Er ließ sich zweiundfünfzig Tage lang jeden Tag vom kö
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niglichen Hofmaler porträtieren und anschließend zur Erinnerung daran ein Kartenspiel drucken. 1972 kauften Vertreter von Frankie »Chicken Man« Testa das Kartenspiel bei einer Privatauktion für 120.000 Dollar. Das Spiel wurde als »Alberts Koteletten« be kannt, was nicht nur eine Anspielung auf die Ge sichtsbehaarung des Prinzen war, sondern – in leicht abgewandelter Form – auch der Name des Restau rants in Philadelphia, in dem der Chicken Man seine Koteletts aß. 1993 benutzte Wei Xiang, der an der Universität von Kalifornien in Berkeley ein Studium der Robo tertechnik absolviert hatte, einen mechanischen Arm mit einer daran befestigten Airbrushpistole, um zweiundfünfzig mikrochipgroße Spielkarten herzu stellen, von denen jede eine andere Gestalt aus der Geschichte der Computerwissenschaft darstellte. Einer seiner Professoren bot ihm an, ihm das Spiel für 15.000 Dollar abzukaufen, aber Wei, der eine be sonders voll gestopfte Wohnung hatte, verlor die Kar ten, kurz nachdem er sie mit nach Hause genommen hatte. Man kann nur spekulieren, was die Karten ein bringen würden, falls sie jemals wieder auftauchen sollten.
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Auf Erden geworfen, scheidet es die Erde vom Feuer, das Zarte vom Groben.
Auf dem Rückweg vom Blue Point überlegte ich die ganze Zeit, ob ich nach Hause fahren sollte. Nach dem der Professor und ich uns verabschiedet hatten, hatte ich meinen mittäglichen Brandynebel loszu werden versucht, indem ich einen kurzen Spazier gang durch den neuen Park entlang des Flusses ge macht hatte – die gepflasterten Wege und ge schwungenen Fußbrücken waren wohl das, was ir gendein Bürokrat sich unter »europäisch« vorstellte. Anschließend hatte ich mir noch einen Vier-DollarKaffee in dem orange gestrichenen Café geleistet, das Mama Fatima’s abgelöst hatte. Offenbar war Mama Fatima selbst vor knapp einem Jahr gestorben, ihr Mann war nach Loulé zurückgekehrt, und ihre Söhne hatten ihr Lokal verkauft. Wo früher Hafenar beiter ihr einfaches Mittagessen eingenommen hat ten, gab es nun Focaccia, Sprossen und Mochaccino für die Bohémiens, die sich die hohen Mieten in den ehemaligen Lagerhäusern leisten konnten. Die wirk lichen Bohémiens waren natürlich längst aus dem Viertel verschwunden, dessen Flair sie maßgeblich bestimmt hatten. Sie waren nach Olneyton hinausge 297
zogen, während nun die Programmierer, Anwälte und Ärzte, die ihre Verspanntheit mit gut sichtbaren Designer-Labels zur Schau trugen, sich in der aufgesetz ten Lässigkeit und dem Flair des Viertels sonnten. Trotzdem war der Kaffee besser als der von Mama Fatima. Zum Glück verlief die Heimfahrt ohne irgendwel che Zwischenfälle, sodass ich gegen sechs auf mei nen Parkplatz hinter dem Halteverbotsschild und zwischen dem Müllcontainer und dem verbeulten weißen Celica einbog. Der dunkle Abendhimmel war wolkenlos, und es roch wunderbar herbstlich nach vermoderndem Laub und Holzrauch. Hier im Zentrum waren genauso viele Fußgänger unterwegs wie an jedem Samstagabend: gar keine. Im Colonial, einem gleich gegenüberliegenden Gasthaus mit Ne on-Bierreklame im Fenster und einer Neon-Muskete und einem Neon-Dreispitz über der Tür schien eini ges los zu sein, aber das war auch schon das einzige Anzeichen von Leben. Als ich die letzte Treppe zu meiner Wohnung hi naufstieg, sah ich, dass an meiner Tür eine Nachricht hing, und rollte mit den Augen. Mrs. Tawell, meine Vermieterin, hatte die nervtötende Angewohnheit, mir jedes Mal einen Zettel mit energischen Vorhal tungen an die Tür zu kleben, wenn ich einen Ver stoß gegen eine ihrer zahlreichen ungeschriebenen Regeln begangen hatte. Sie und ihr Mann wohnten unter mir. Ihnen gehörten nicht nur die zehn Woh nungen in dem Gebäude, sondern auch die übrigen, gewerblich genutzten Häuser auf dem Grundstück. Sie waren ziemlich penibel und wohl etwas nervös,
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weil sie die Wohnung an einen allein stehenden jun gen Mann aus der großen Stadt vermietet hatten. Die Woche zuvor hatte Mrs. Tawell mir eine getipp te Nachricht an die Tür gehängt, in der sie mich dar auf hinwies, dass meine Angewohnheit, einen Ten nisball gegen die Wand zu werfen, »die Verstrebun gen lockern und letztendlich zum Einsturz des ge samten Gebäudes führen könnte«. Ich wusste, dass das eine nervtötende Angewohnheit von mir war. Aber dort, wo ich herkam, hätten die Nachbarn ein fach nur zurückgeklopft. Sie und Mr. Tawell waren schon dabei beobachtet worden, wie sie am Wochen ende einen Nachmittag damit verbrachten, die Müllbeutel ihrer Mieter durchzusehen und sich ge genseitig auf die Alkoholflaschen aufmerksam zu machen. Als ich die Tür erreichte, sah ich, dass die Nach richt mit einem rostigen, locker in die Tür gedrück ten Nagel befestigt war. Es handelte sich um einen Umschlag im üblichen Postkartenformat. Auf der Vorderseite war ein dicker, oben zweigezackter Stab zu sehen, um den sich zwei Schlangen wanden. Es war die Art Symbol, wie man es auf den Rezepten mancher Ärzte sah, wirkte aber eher gezeichnet als aufgedruckt, gestempelt oder fotokopiert. Unter dem Stab klebte ein Schnipsel Zeitungstext: mein Name, eine Verfasserangabe aus dem Carrier. Ich öffnete den Umschlag: Er enthielt keinen Brief, aber als ich hineinfasste, hatte ich plötzlich einen menschlichen Eckzahn in der Hand. Er sah aus, als sei er ganz frisch gezogen worden: Die In nenseite des Umschlags war blutverschmiert, und
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das Blut, das sich noch an dem Zahn und der Wurzel befand, war rot, nicht braun. Der typische Geruch eines fauligen Zahns stieg mir aus dem Umschlag entgegen. Mir war plötzlich so übel, dass es mich würgte. Mit zitternden Händen schloss ich meine Tür auf und ging rasch hinein. Das erste Mal, seit ich in Lincoln wohnte, schob ich hinter mir den Riegel zu. Mein Anrufbeantworter blinkte, und als ich ihn abhörte, ertönte Hannahs Stimme: »Hallo, Paul Tomm. Ich bin’s, Hannah. Wollte nur hören, ob du schon von deinem Mittagessen mit dem Professor zurück bist. Hast du Lust, mit einer HighschoolLehrerin zu Abend zu essen? Ruf mich doch an, wenn du zurück bist. Danke.« Ich griff nach dem Telefon, um sie gleich zurückzurufen, überlegte mir dann aber, dass es zu meiner eigenen Sicherheit viel leicht ganz ratsam wäre, jemanden über den Um schlag zu informieren. Die Olafssons kamen nicht infrage, die würden nichts unternehmen. Art hätte es bestimmt interessiert, aber er hätte wahrscheinlich darauf bestanden, dass ich auf der Stelle bei ihm und Donna einzog, oder seinerseits die Polizei angerufen. Ich wollte eigentlich keine so große Sache daraus machen. Einen Moment lang war ich versucht, mei ne Mutter anzurufen, aber wahrscheinlich hätte sie aus lauter Sorge eine Selbstverbrennung inszeniert. Dagegen schien mir Joe Jadid die genau richtige Per son dafür zu sein, auch wenn Lincoln eigentlich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. Zumin dest war sein Interesse an dem Fall bereits geweckt, und er war mir gegenüber ziemlich offen und freund
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lich gewesen, obwohl er mich noch gar nicht richtig kannte. Ich bezweifelte, dass er am Samstagabend in seinem Büro sein würde, aber einen Versuch war es zumindest wert, zumal ich mich dann schon besser fühlen würde. Falls er nicht da war, würde ich Art anrufen. Er ging gleich beim ersten Klingeln ran. »Mord kommission, Jadid.« »Hallo, hier ist Paul Tomm …« »Live aus der Wildnis: Paul Tomm. Wie kommen Sie auf die Idee, mich am Samstagabend im Büro anzurufen?« »Wie kommen Sie auf die Idee, am Samstagabend im Büro zu sitzen?« »Sie glauben, böse Jungs haben am Wochenende frei? Das gehört alles zu meinem Rehabilitationspro gramm: Ich arbeite von Samstag bis Mittwoch, ent weder die Nachtschicht oder von vier bis zwölf. Sie kommen am Montag vorbei, oder? Ich bin auf ein paar Dinge gestoßen, die Sie vielleicht verwenden können.« »Ja, ich komme, aber mir ist gerade etwas Seltsa mes passiert, und ich dachte mir, Sie sollten Be scheid wissen. Ich weiß aber nicht … es ist hier in Lincoln passiert, und Sie sitzen ja drüben in …« »Worum geht’s? Was ist los?« »Als ich nach Hause kam, hing eine seltsame Nachricht an meiner Wohnungstür.« »Was stand drin?« »Nichts. Auf der Vorderseite war ein Bild, eines von diesen Ärztesymbolen, Sie wissen schon, der Stab mit den zwei Schlangen?«
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»Ja. Man nennt ihn Äskulapstab.« »Wie heißt das Ding? Woher wissen Sie das?« »Äskulapstab. Einer der vielen Vorteile, wenn man mit Onkel Abe aufwächst. Der Mann weiß alles, was es zu wissen gibt, solange es nichts Praktisches ist. Sie hatten also ein Bild von einem Äskulapstab an der Tür hängen. Und das war’s?« »Nein. In dem Umschlag war ein Zahn.« »Bitte?« »Ein Zahn. Sieht aus wie ein menschlicher Eck zahn. Ich glaube, an der Wurzel ist noch frisches Blut. Sonst nichts. Kein Brief, keine Nachricht, kein gar nichts. Bloß ein blutiger Zahn.« »Abgebrochen oder gezogen?« »Gezogen, würde ich sagen. Die Wurzel und das alles hängt noch dran.« »Haben Sie die Polizei angerufen?« »Das mache ich doch gerade, oder nicht?« »Nein, ich meine, Ihre Polizei. Die Trottel, die auf den Rest von euren Trotteln da oben aufpassen.« »Nein, hab ich nicht. Und wenn Sie die Typen kennen würden, würden Sie sie auch nicht anrufen.« Jadid holte tief Luft. Ich hörte ihn auf seinem Stuhl hin und her rutschen und mit seinem Stift auf dem Schreibtisch herumtrommeln. »Hören Sie, tun Sie mir einen Gefallen, ja? Das ist so eine Sache, die mich richtig in Schwierigkeiten bringen könnte.« Er sprach mit gedämpfter Stimme weiter, es klang fast, als hätte er die Hand über den Hörer gelegt. »Die Gerichte sind gar nicht begeistert von Cops, die sich einbilden, überall Cops zu sein. Aber was soll’s, mich haben sie ja sowieso schon auf dem Kieker. Hören
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Sie, stecken Sie den Zahn zurück in den Umschlag und bringen Sie ihn mit, wenn Sie am Montag kom men. Wir werden ihn ins Labor schicken. Vielleicht finden wir ja heraus, woher und von wem er stammt. Möchten Sie, dass ich jemanden vorbeischicke, der ein Auge auf Sie hat? Ganz inoffiziell natürlich. Es wäre nicht mal ein Polizist. Aber mit ihm in der Nähe wären Sie sicher.« Ich fand die Idee gar nicht so schlecht, aber dann fiel mir Hannahs Anruf wieder ein, und obwohl mich die Sache nervös machte, wollte ich mir nicht meine Pläne für den Abend verderben lassen. Ich wusste ja nicht mal, ob ich wirklich in Gefahr war oder ob es sich nur um eine Art Scherz handelte. Vielleicht hat te ich in irgendeinem meiner Artikel einen hiesigen Zahnarzt beleidigt. Einen Zahnarzt, der wusste, wie man ein Haustürschloss aufbekam, und der außer dem wusste, wo ich wohnte. Ob nun selbstsüchtig oder nicht, weise oder nicht, auf jeden Fall lehnte ich Josephs Angebot dankend ab und fügte hinzu, dass wir uns dann am Montag sehen würden. »Na gut, harter Junge. Bleiben Sie heute Abend zu Hause?« »Na ja, ich weiß noch nicht. Eigentlich wollte ich gerade aufbrechen.« »Oh, was für eine gute Idee«, flötete er mit hoher Stimme. »Bitte?« »Sind Sie vielleicht einer von diesen intellektuel len Schürzenjägern à la Woody Allen?«, fragte er la chend. Ich gab ihm keine Antwort.
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»Nun seien Sie nicht so, ich hab doch nur Spaß gemacht. Bestimmt ist sie wundervoll. Aber Sie soll ten trotzdem ein bisschen vorsichtig sein, ja? Wo möglich haben Sie es da mit ein paar harten Typen zu tun. Und Sie sind ein College-Junge und ein Freund von Abe. Ich möchte Sie bloß warnen. Sie tragen nicht zufällig eine Waffe bei sich, oder?« »Soll das ein Witz sein? Ich bin ein friedliebender Mensch. Als ich das letzte Mal jemandem eine ge knallt habe, war ich zwölf.« »Das war ganz und gar nicht als Witz gedacht. Pas sen Sie einfach auf, ja? Mehr kann ich Ihnen im Moment auch nicht sagen. Ich meine, vielleicht be steht ja überhaupt kein Grund zur Sorge. Vielleicht ist an der Sache gar nichts dran. Alles, was ich he rausgefunden habe, war vielleicht nur Zufall, bedingt durch die äußeren Umstände oder so. Trotzdem: Seien Sie wachsam und beobachten Sie Ihre Umge bung, wie wir immer zu den Leuten sagen. Halten Sie die Augen offen, und wandern Sie nur draußen herum, wenn es unbedingt sein muss. Haben Sie ein anständiges Schloss?« »Einen Doppelriegel von Yale und – lassen Sie mich nachsehen – ein Türschloss von Schlage.« »Das ist gut. Ein Yale-Schloss hält was aus. Dass es jemand bis zu Ihrer Wohnungstür geschafft hat, heißt noch lange nicht, dass er es auch nach drinnen schafft. Legen Sie auf jeden Fall diesen Doppelrie gel vor, verstanden? Und denken Sie dran: Wenn jemand Ihnen eine Nachricht schickt und die nächs te – wie soll ich sagen? – ganz intim und persönlich übermitteln möchte, dann hat der Betreffende – oder
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die Betreffenden – darin wahrscheinlich Erfahrung, Sie haben aber keine. Also tun Sie nichts Unüberleg tes.« »Lieber Himmel, Officer …« »Eigentlich bin ich Detective, aber sagen Sie doch einfach Joe.« »Lieber Himmel, Joe. Bevor ich Sie angerufen habe, war ich ein bisschen nervös, aber jetzt mache ich mir fast in die Hosen vor Angst. Was bezwecken Sie damit?« Joe stieß ein kurzes, ein wenig bitteres Lachen aus. »Ich bezwecke gar nichts. Wahrscheinlich be steht gar kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ge fährlicher sind erfahrungsgemäß diejenigen, die kei ne Nachrichten schicken. Seien Sie einfach vorsich tig und halten Sie die Augen offen, dann dürfte ei gentlich nichts passieren. Sollten Sie heute Abend noch mal Probleme haben, und sei es auch nur ein Hauch einer Ahnung, dass es Probleme geben könn te, dann rufen Sie mich zu Hause an. Haben Sie mich verstanden? Die Nummer ist 555-7077. Dann komme ich mit der Kavallerie. Ansonsten bis Mon tag. Meine Schicht beginnt um vier, aber Sie können gern schon am frühen Nachmittag kommen, ich bin auf jeden Fall da. Bleiben Sie gesund.« Er legte auf. Ich schenkte mir drei Finger breit Beam Black ein, warf zwei Eiswürfel hinein und rief Hannah an. »Hallo?« »Hallo, Hannah, hier ist Paul.« »Ich weiß«, sagte sie, mit Betonung auf der zwei ten Silbe. Die Freude in ihrer Stimme und die Tat
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sache, dass sie mich gleich erkannt hatte, sorgten zusammen mit dem Whiskey dafür, dass mir ganz warm ums Herz wurde. »Es ist schon spät. Ich wuss te nicht, wann du zurückkommen würdest, deswegen habe ich leider schon gegessen. Es ist aber noch Suppe da, wenn es dir nichts ausmacht, allein zu es sen. Ich meine, allein mit Gesellschaft. Komm doch einfach vorbei, ja?« Es lag irgendwo zwischen einer Frage und einem sanften Befehl. »Gern.« Ich suchte mir einen Parkplatz, den man von Han nahs Haus aus nicht sehen konnte, und schloss die Wagentür, so leise ich konnte: Ich wollte kein weite res Gespräch mit Mrs. DeSouza führen müssen, vor allem nicht, wenn ich wie jetzt nach Einbruch der Dunkelheit kam. Als ich an Hannahs Tür klopfte, hörte ich sie wenige Augenblicke später zur Tür lau fen (jawohl, laufen!). »Du bist aber pünktlich!« Sie hatte ihr Haar mit einer Spange zurückgebunden, und sobald ich drin nen war, beugte sie sich vor und küsste mich. Selbst diejenigen unter uns, die in Liebesdingen richtig erfolgreich sind, sehen dank Fernsehen und Kino mehr Küsse, als sie selbst erleben, und deswegen ist jener erste Kuss, bei dem man das Gesicht eines Menschen aus Fleisch und Blut so nahe vor sich sieht, doch jedes Mal wieder eine Überraschung. Hannah hatte zwischen dem unteren Lid und dem Wangenknochen eine C-förmige Narbe, die aussah wie ein kleiner, unter der Haut schlafender Shrimp. In ihren grauen Augen schimmerten grüne und
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braune Punkte, und in den Augenwinkeln hatte sie schöne kleine Lachfalten. »Ich wollte das gern geklärt haben«, sagte sie, während sie den Kopf schräg legte und mich von un ten herauf ansah. Ich streckte die Arme nach ihr aus, um sie gleich noch mal zu küssen, aber sie stemmte eine Hand gegen meine Brust. »Immer mit der Ru he. Zieh wenigstens vorher deinen Mantel aus.« Während ich ihrer Aufforderung nachkam, ging sie in die Küche hinüber. »Bist du hungrig?«, rief sie. »Ich bin nicht beleidigt, wenn du Nein sagst.« »Ich habe tatsächlich keinen Hunger.« Es stimm te. Das Mittagessen hatte lange vorgehalten, und das bisschen Appetit, das ich vielleicht gehabt hätte, war mir durch meine flattrigen Nerven abhanden ge kommen. »Möchtest du etwas zu trinken?« »Gern. Was hast du?« »Nur Whiskey, fürchte ich.« Sie tauchte mit einer Flasche Jameson in der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer auf. »Ich weiß: irischer Whiskey, des Trinkers liebster Tropfen. Und meiner. Magst du welchen?« Ich nickte, und ein paar Augenblicke später kam sie mit zwei Gläsern mit Eiswürfeln und der Flasche unter dem Arm zurück. Nachdem sie sich neben mir auf der Couch niedergelassen hatte, betätigte sie die Fernbedienung der Stereoanlage. Anschwellende Bassstimmen erfüllten den Raum wie dichter Dampf, gefolgt von einer ungewöhnlich tiefen Frau enstimme, die in die Lücken drang, die der Chor für sie ließ. »Lobe den Herrn, o meine Seele«, sagte
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Hannah. »Rachmaninoffs russische Ostervesper. Das erste Lied überspringe ich immer. Das ist das zweite. Es stammt aus einem Gottesdienst, der ›Das große Abend- und Morgenlob‹ heißt. Er beginnt mit einer Abendandacht und endet mit einer Morgenandacht. Dabei ziehen sie singend und Weihrauch schwen kend rund um die ganze Kirche. Man muss die ganze Nacht stehen und singen.« »Hast du das schon mal gemacht?« »Schon dreimal. Ein paar Blocks von meiner Wohnung in Boston entfernt gab es eine russisch orthodoxe Kirche. Man steht da und wird einfach von der Musik und dem Gottesdienst überwältigt. Ich fühlte mich, als wäre ich völlig von der Gegenwart Gottes durchdrungen. Weißt du, was ich meine?« »Es klingt sehr schön«, antwortete ich auswei chend. »Das war es auch. Als wir hinterher aus der Kirche in den Morgen hinaustraten, war es, als hätten wir selbst das Licht geschaffen. Als wäre der Tag nur für uns angebrochen. Einfach … Ich kann es nicht be schreiben. Man muss es selbst erlebt haben. Gehst du irgendwann mal mit mir zu so einem Gottes dienst?« »Klar. Wann und wo?« »Ich weiß nicht. Später. Irgendwo anders.« »Ich werde da sein.« Lachend schenkte Hannah uns von dem Whiskey nach. »Wie läuft es denn mit deinem Artikel?« »Eigenartig. Ich war doch heute mit meinem alten Professor beim Mittagessen, dem, der Jaan von der Universität her kannte. Von ihm weiß ich, dass Jaan
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während seiner Zeit in Wickenden zweimal festge nommen worden ist. Beide Male wegen Schusswaf fengebrauchs.« Sie schluckte ihren Whiskey hinunter und nickte langsam, ehe sie ausrief: »Wow! Das ist ja unglaub lich. Ich meine, ich wusste, dass er Waffen sammelte – er hatte in seiner Wohnung einen Schrank mit ein paar alten Gewehren stehen, aber ich hatte keine Ahnung, dass er sie tatsächlich benutzte. Er nannte sie immer seine ›tödlichen Skulpturen‹. Ich dachte, sie wären nur zum Anschauen gedacht.« Wie gestern Abend im Trout hatte ich das Gefühl, dass irgendet was an ihrer Antwort nicht stimmte, das Timing, die zu lange Pause, bevor sie ihrer Überraschung Aus druck verlieh, aber ich hielt den Mund. »Bei der Waffe, die er benutzte, handelte es sich nicht um ein Gewehr, sondern um eine Handfeuer waffe.« Ihr Blick wirkte kein bisschen erstaunt. Wie der nickte sie. »Bist du denn gar nicht überrascht?« »Doch, natürlich«, antwortete sie in leicht defen sivem Ton. »Wieso glaubst du, dass ich nicht über rascht bin?« »Nein, nein, das glaube ich ja gar nicht. Ich mei ne, nein, wirklich nicht. Ich sollte nicht immer … Ich bin nur …« »Ein Reporter, ich weiß. Hast du eigentlich nie frei?« »Doch. Ab jetzt.« Sie lehnte sich an mich. Ihr Kopf passte perfekt in die Mulde zwischen meiner Schulter und meiner Brust. »Was hat dein Professor denn noch gesagt?«
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»Nicht viel.« Ich beschloss, ihr noch nichts von der Polizei zu erzählen. Nach dem Ton zu urteilen, in dem sie vorhin von Pühapäev gesprochen hatte, betrachtete sie ihn irgendwie als ihr eigenes Projekt, als eine Ma nifestation ihres großzügigen, menschenfreundlichen Naturells, und deswegen wollte ich ihr keine weiteren Einzelheiten über seine Probleme mit dem Gesetz erzählen. »Allerdings habe ich, als ich heute nach Hau se kam, etwas Seltsames vorgefunden.« »Was denn?« »Einen Briefumschlag. Er hing an meiner Tür.« Ihr Körper versteifte sich ein wenig, nur ganz leicht, aber doch spürbar. »Auf dem Umschlag war eine Zeichnung von einem Äskulapstab. Ich habe heute ein neues Wort gelernt. Ein Äskulapstab ist …« »Ich weiß, was das ist«, unterbrach sie mich und machte Anstalten aufzustehen, ließ sich dann aber wieder zurücksinken und legte meinen Arm um ihre Brust. »Was stand denn in dem Brief?« »Gar nichts. Auf den Umschlag war mein Name aufgeklebt, und er enthielt einen Zahn. Einen menschlichen Zahn.« Sie setzte sich auf und starrte mich an. »Soll das ein Witz sein?« »Nein, das ist mein voller Ernst. Er sah aus wie frisch gezogen.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Hast du schon jemandem davon erzählt?«, fragte sie dann. »Du meinst, außer dir?« »Ja, du Klugscheißer.« Sie kniff mich scherzhaft ins Ohr. »Ich meine, der Polizei oder deinem Chef oder sonst jemandem Offiziellen.«
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»Art habe ich es noch nicht gesagt, aber das sollte ich wohl tun. Und die Polizei hier vor Ort … na ja, du hast die Typen ja bestimmt schon mal gesehen. Was, glaubst du, würden die unternehmen?« Ich wollte Joe nicht erwähnen. Ich konnte nicht genau sagen, warum, aber rückblickend war es intuitiv die richtige Entscheidung. »Was sollte ich deiner Meinung nach tun?« »Ganz ehrlich? Ich an deiner Stelle würde es ein fach auf sich beruhen lassen. Schreib den Nachruf, den du ursprünglich schreiben wolltest. Dafür hast du doch inzwischen genügend Material zusammen, oder? Und was den Rest betrifft, na ja, manche Leu te sind einfach rätselhaft, genau wie manche Dinge einem immer ein Rätsel bleiben. Ich kannte Jaan besser als sonst jemand hier in der Stadt, wahrschein lich sogar besser als irgendeiner seiner Kollegen, und trotzdem wusste ich nichts über seine Verhaftungen oder seine Kindheit oder sonst etwas Ähnliches. Wenn du seltsame Nachrichten bekommst …« »Das stachelt mich eher an weiterzumachen. So schnell lasse ich mir keine Angst einjagen.« »Mein harter Mann«, scherzte sie und knuffte mich in den Bauch. »Schreib doch einfach den Nach ruf, und lass die Sache dann eine Weile ruhen. Dann siehst du ja, ob dir noch einmal jemand etwas an die Tür hängt. Wenn ja, dann weißt du, dass es etwas damit zu tun hat, und du kannst wieder zu graben anfangen.« Das war gar keine so schlechte Idee, und aus ihrem Mund klang sie besonders überzeugend. Trotzdem hätte ich es als Kapitulation empfunden. »Eine Zeitung aus Boston ist an der Story interes
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siert«, erklärte ich. »Ich kann jetzt nicht einfach auf geben.« »Ah. Ich hätte dich gar nicht als Karrieretypen eingeschätzt.« »Das bin ich auch nicht«, gab ich ein wenig belei digt zurück. »Ich will damit nur sagen, dass ich an einer Story arbeite und sie nicht einfach fallen lassen möchte, nur weil es irgendwo irgend – jemandem nicht passt, dass ich daran arbeite. Außerdem, woher weiß ich, dass die Nachricht nicht von einem Zahn arzt kam, dem ich mit einem von meinen Artikeln irgendwie auf den Schlips getreten bin?« »Stimmt, das kannst du nicht wissen. Möglich wär’s. Aber sei trotzdem vorsichtig, ja? Ich möchte noch ganz viel Zeit mit dir verbringen. Ich sehe bloß keinen Grund, für den Lincoln Carrier etwas zu ris kieren. Oder für einen anderen Job in Boston, den du wahrscheinlich sowieso bekommst. Du bist schließ lich erst dreiundzwanzig und klug und talentiert. Es werden sich andere Chancen ergeben.« Rückblickend ist es leicht, dieses Gespräch zu durchschauen, vor allem wenn man es schwarz auf weiß vor sich liegen hat. Damals aber fühlte ich mich geschmeichelt, weil ich mich geschmeichelt fühlen wollte. »Vielleicht«, räumte ich ein. »Vielleicht hast du Recht.« Das war in den Jahren, bevor meine Eltern sich scheiden ließen, der Lieblingssatz meiner Mutter gewesen. Ich selbst benutzte ihn auch ständig. Ei gentlich bedeutete er: »Ich bin anderer Meinung, ha be jetzt aber keine Lust, darüber zu diskutieren.« Als ich mein drittes Glas Whiskey bereits halb ge leert hatte – inzwischen hatten wir gemeinsam die
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ganze Flasche vernichtet –, fiel mir auf, dass es im Raum sehr kalt geworden war. Ich stand auf und ging zum Heizkörper hinüber: Er war eiskalt, und unter den Fenstern zog es kräftig herein. In der Pause zwi schen den Musikstücken hörte ich das alte Haus äch zen und sich wieder beruhigen, hörte, wie der Wind draußen heulend um die Mauern pfiff. Bei dem Ge räusch fröstelte mich noch mehr. Ich zog mir die Är mel meines Pullovers bis über die Finger und hielt den Stoff in den geballten Fäusten fest. »Wenn du das machst, siehst du aus wie ein klei ner Junge.« Ich blickte auf meine Ärmel, ließ sie los und streckte die Arme wieder aus. »Nein, nein, ich wollte nicht … ich weiß, dass es kalt ist. Die Tempe ratur fällt schlagartig ab, wenn Mrs. DeSouza die Heizung abschaltet. Zum Glück habe ich eine Lö sung für dieses Problem.« Sie holte aus ihrem Schrank eine große, offensichtlich handgestrickte Wolldecke, die aus lauter bunten, mit einem blauen Rand eingefassten Quadraten bestand. Die Farben und das Muster ließen sie warm und gemütlich aus sehen, wie das Brett irgendeines Kinderspiels. »Die hat meine Großmutter gestrickt«, erklärte sie, wäh rend sie die Decke auseinander zog. »Komm her.« Wir legten uns auf die Couch und hielten uns un ter der Decke fest umschlungen. Sie roch nach Whiskey, Rosenparfum und Hannah. Ich küsste ih ren Hals, und sie nahm meine Hände. »Du zitterst ja«, sagte sie. »Mir ist kalt.« »Ist das der einzige Grund?« Natürlich war es nicht der einzige Grund.
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Als ich um 3 Uhr 36 mit einem richtigen WhiskeyBrummschädel aufwachte, dauerte es erst einmal ein paar Sekunden, bis ich wieder wusste, wo ich war. Hannah schlief neben mir, das Haar wie einen Heili genschein über das Kissen ausgebreitet. Ich ging ins Bad hinüber und kippte im Stehen drei Gläser Was ser hinunter, dann eilte ich auf Zehenspitzen über den kalten Boden zurück ins Bett. Als ich wieder unter die Decke schlüpfte, schlang Hannah den Arm um meine Brust und schmiegte ihre Knie gegen meine Kniekehlen. Wir passten zusammen. Der Sonntag war wundervoll, wenn auch eigent lich ganz unspektakulär. Jeder Mensch hat ein Recht auf einen – oder vielleicht auch zwei – solche Tage im Leben: einen Tag, an dem man noch nicht in der Mitte, sondern am Anfang einer Liebe steht. Viel leicht kann man es so ausdrücken. Einen Tag, an dem man sich fühlt wie nach einem Schneesturm oder einem überstandenen Fieber, wenn man alles plötzlich mit einer Klarheit sieht, die fast nicht zu ertragen ist. Dabei machten wir eigentlich nur ganz banale Dinge: Wir standen spät auf, ich bereitete uns Toast mit Ei, wir gingen wieder ins Bett. Wir fuhren bis an die New Yorker Grenze und spazierten ein langes Stück an einem Fluss entlang. Wir hielten an einem großen und leeren Gasthaus an der Straße, das mit dem einprägsamen Slogan: »Flyin’ Darts and Chi cken Parts« für sich warb. Wir aßen dort Chicken Wings und spielten anschließend bis halb elf Darts. Hannah machte jedes Mal so eine wundervolle Be wegung mit der Schulter, bevor sie einen Dart warf, als wollte sie den Träger eines ärmellosen Tops ab
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streifen. Irgendwann hörte sie auch auf, die Hand vor den Mund zu halten, wenn sie lachte, und ich hörte auf, den Blick zu senken, wenn ich einen Witz mach te. Am Ende des Abends gingen wir schon ein wenig lockerer miteinander um, auch wenn sich Hannahs Miene verdüsterte, als wir wieder nach Lincoln hin einfuhren. Als Grund gab sie DeSouzasphobie an und bestand darauf, dass ich in der angrenzenden Straße parkte und wir den langen Weg ums Haus herumgingen, damit wir nicht vorn an der Orchard Street an Mrs. DeSouzas Fenster vorbeimussten. Ich dachte mir nichts dabei. Ich befand mich in einem Zustand verminderter Denkfähigkeit. Obwohl es mir vorkam, als wären wir die ganze Nacht wach geblieben, riss mich irgendwann Han nahs Wecker aus dem Schlaf. Hannah stöhnte. »Al kohol am Sonntagabend! Warum hab ich mich bloß von dir dazu überreden lassen? Zur Strafe holst du mir jetzt drei Kopfschmerztabletten aus dem Bad und ein großes Glas Orangensaft aus der Küche.« Während ich mir die Augen rieb, verpasste sie mir einen spielerischen Tritt gegen die Wanden. Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, war sie be reits ins Bad hinübergegangen. Sie trug ihren Bade mantel und drehte gerade die Dusche auf. »Ich muss in einer Stunde in der Schule sein. Wie sehen denn deine Pläne für heute aus?« »Ich habe um zwei eine Besprechung, aber an sonsten steht nichts Wichtiges an. Warum fragst du?« »Reine Neugier.« Sie kam zu mir herüber und lehnte sich an mich, während ich den Gürtel ihres
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Bademantels löste. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit
mehr.« »Bist du heute Abend zu Hause?« »Ja, bin ich. Wer möchte das wissen?« »Ich bring was zum Essen mit. Etwas Besonde res.« »Da bin ich ja schon gespannt. Wann?« »Sieben? Halb acht?« »Egal. Komm einfach vorbei. Ich freu mich schon drauf.« Sie schob meine Hand weg und band ihren Bademantel wieder zu. »Aber jetzt musst du mich allein lassen, damit ich wieder eine saubere Lehrerin werden kann, ja? Wir sehen uns heute Abend.« Ich zog meinen Mantel an und gab ihr an der Tür einen langen Abschiedskuss. Sie strich mir mit der Hand übers Gesicht. Ihre Finger hinterließen ein Kribbeln auf meiner Haut, das auch noch anhielt, nachdem sie die Hand weggezogen hatte. Sie schenkte mir ein letztes Lächeln, neigte noch einmal den Kopf, verabschiedete sich mit einem kleinen Winken und schloss die Tür hinter mir ab. Ich fühlte mich großartig, so großartig, dass ich meinen Autoschlüssel hoch in die Luft warf, zweimal klatschte, wie ich es beim Baseballtraining immer gemacht hatte, und dann Stellung bezog, um ihn auf zufangen, was mir aber böse misslang. Als ich mich hinunterbeugte, um ihn aufzuheben, fiel mir eine kleine weiße Kreidezeichnung am unteren Rand von Hannahs Türrahmen auf: ein Stab, um den sich zwei Schlangen wanden.
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Das Sheng (Luft)
D »Hörst du den Sturm nahen?«
»Er naht rasch und heftig, und ich weiß nicht, wo her.«
»Ich auch nicht. Schließ die Fensterläden: Dann
bleibt es warm.«
D ARDAL GOGARTY D Lebe ich schon zu lange, zu lange?
Abulfaz Achundow – dessen Fähigkeit, die kurzen Vokale breiter und länger zu sprechen, das r zu ver schleifen und das v und w in seinem Kopf und in seinem Mund auseinander zu halten, ihm vorüber gehend den Namen Chester »Chet« Muncie einge bracht hatte – band seine blau-rote Kmart-Krawatte erst einmal zu einem richtigen Windsor-Knoten, ehe er sich – gezwungenermaßen – zu einem schlampi gen Halb-Windsor entschloss, den er absichtlich drei Zentimeter nach unten und dann ein Stück nach links zog. Seit seiner Ankunft hatte er noch keinen Mann gesehen, der einen anderen Knoten trug. Abulfaz’ linkischer Halb-Windsor war der Knoten eines Mannes, der es zwar akzeptiert, aber nie ge nießt, eine Krawatte zu tragen; der es für ein Zeichen von Dandytum oder Verweichlichung hält, wenn
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man zu viel Mühe auf sein Äußeres verwendet; und der glaubt, wortlos seine Verachtung dafür zum Aus druck bringen zu können, indem er seinem Knoten ganz demonstrativ nur ein Minimum an Aufmerk samkeit widmet. In Wirklichkeit – wie Abulfaz ein räumen musste, während er beim Anblick seines Spiegelbildes das Gesicht verzog und an seinen im mer adrett gekleideten Vater dachte – zeigte das nur, dass er ein schlampiger Mensch war. Die Vorstel lung, dass ein Mann eine Sache schlecht machte oder nicht zu Ende brachte, um auf diese Weise dagegen zu protestieren, war hauptsächlich unter Jugendli chen, amerikanischen Büroangestellten und russi schem Militärpersonal verbreitet. Er nahm den Knoten zwischen Daumen und Zei gefinger und drückte ihn zusammen, während er gleichzeitig in die entgegengesetzte Richtung zog, bis der Knoten rechteckig wurde und noch weiter von seinem Kragen wegrutschte: ein Mann am Ende eines langen, von Neonlicht erhellten Tages. Er schmierte ein wenig Kugelschreiberfarbe auf die Kuppe seines rechten Mittelfingers und verpasste sich zwei kleine Papierschnitte am linken kleinen Finger und Ringfinger. Nachdem er seinen sandfar benen (gefärbten) Schnurrbart glatt gestrichen und das goldfarbene Gestell seiner Pilotenbrille zurecht gerückt hatte, schlüpfte er in seine verknitterte An zugjacke, schaltete das Licht in seinem Motelzimmer aus und trat in den diesigen Sommerabend hinaus. Er war in einem anonymen, sterilen Motel mit dem wunderbar aussagekräftigen Namen U. S. 30 abgestiegen, ganz in der Nähe einer Einkaufsstraße
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mit allen möglichen Läden, unter anderem auch ei nem Lebensmittelgeschäft, in dem er aber natürlich nie einkaufte. Wo er herkam, wurden Hotels nach Kriegshelden, politischen Führern und mythischen, literarischhistorischen Gestalten benannt, denen man nachsagte, eine bestimmte nationale Eigenschaft zu verkörpern. Die Hotels in der sowjetischen Provinz priesen meist mit unbeabsichtigter Ironie potemkin sche Ideale: Bakus Freundschaft-aller-Völker-Hotel beispielsweise hatte das ruppigste Personal in ganz Aserbaidschan. Eriwans Revolutionärer-Frieden durch-Industrialisierung-der-MassenArbeitergästehaus zeichnete sich durch kaputte Toi letten, das Fehlen von Telefonen und regelmäßige Messerstechereien an der Bar aus. Dass ein Hotelbe sitzer seinem Etablissement einfach und ohne er sichtlichen Grund eine Zahl als Namen gab, emp fand Abulfaz gleichzeitig als absurd, erheiternd und beruhigend. Das U. S. 30 lag am Highway 30 in LaGrange Park. Er hatte sein Hotel in dieser Stadt mehr oder weniger willkürlich ausgewählt, obwohl es drei wich tige Vorteile hatte. Erstens wohnten dort sehr wenig Leute. Bei seiner Ankunft war der Parkplatz leer ge wesen, und abgesehen von einer Familie fetter, ge radezu amöbenhaft aussehender Amerikaner, die morgens in ihren Kleinbus mit Ohio-Kennzeichen wabbelten und abends wieder herauswabbelten, war niemand außer ihm länger als zwei Nächte geblie ben. Zweitens konnte Abulfaz hier direkt vor seinem Zimmer parken und nach Belieben ein und aus ge hen, ohne mit jemandem reden zu müssen – anders
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als in den Hotels bei ihm zu Hause, wo man erst einmal bei drei oder vier fetten, goldbezahnten alten Frauen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls und der Übellaunigkeit seine Papiere vorlegen und in angemessen formellem Ton um den Zimmerschlüs sel bitten musste. Drittens hatte er einen Auftrag in Skokie, das gute fünfundvierzig Fahrminuten von LaGrange Park entfernt war. Die Fahrerei war ziem lich lästig, aber auf diese Weise sah er weder in dem einen noch in dem anderen Ort regelmäßig die glei chen Leute. Sowohl die Pendler aus LaGrange als auch die aus Skokie fuhren nach Chicago und nicht in die jeweils andere Stadt, sodass Abulfaz (der in den letzten zwei Jahrzehnten Fjodor, Istwan, Cinar, Chester, Paul, Sudat, Jean-Pierre, José, João, Wim, Klaus, Yahya, Bradley, Niall, Hamid, Shmuel und – ganz kurz und nur am Telefon – Katja geheißen hat te) während der achtundzwanzig Tage, die nötig wa ren, um seinen Auftrag auszuführen, bequem und unentdeckt leben und arbeiten konnte und somit, zumindest nach seinen eigenen, zeitlich begrenzten Maßstäben, recht zufrieden war. TAG EINS: Er bog um 12 Uhr 12 in den Parkplatz des Restaurants ein, also in der ersten Hälfte der Stunde, in der im Mittleren Westen üblicherweise Mittag gemacht wurde. Es handelte sich um ein un auffälliges, typisch chinesisch-amerikanisches Lokal: im Fenster ein rosa-grünes Neonschild mit dem Na men des Restaurants (Pine and Bamboo), eine kleine rot-goldene Markise über dem Eingang und zu bei den Seiten des Foyers, das die Außentür mit dem
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Lokal verband, billig aussehende goldene Löwen, die entweder gerade brüllten oder gähnten. Besucht wurde das Lokal hauptsächlich von Büroangestellten aus der Gegend und Grüppchen von Vorstadtmüt tern, die ein bisschen Exotik wollten. Beim Anblick des Eintopfes mit Aal und Lotoswurzeln, den ein Koch ganz allein am Ende der Bar aß, lief Abulfaz das Wasser im Mund zusammen. Trotzdem ließ er sich nur eine Tasse Eiersuppe und Hühner-Lo-Mein an seinen Tisch bringen. TAG ZWEI BIS VIER: Genau wie der erste Tag, wobei er allerdings am dritten Tag wegen eines Un falls in der Dempster Street erst um 12 Uhr 18 ein traf. Er bestellte das gleiche Essen, begrüßte den etwas heruntergekommen und zwielichtig aussehen den Wirt mit dem gleichen zurückhaltenden, aus druckslosen Nicken und las jeden Tag am selben Tisch die Sun-Times, wobei er auch noch jedes Mal auf demselben Stuhl saß. TAG FÜNF UND SECHS: Samstag und Sonntag. Er aß nicht im Restaurant, stellte aber am Sonntag von seinem Beobachtungsposten auf der gegenüber liegenden Straßenseite fest, dass He-li Yaofan grauer, dünner und gebeugter wirkte als auf dem SchwarzWeiß-Foto, das Abulfaz bekommen hatte. Laut der Visitenkarte des Restaurants, die er in seinem Hand schuhfach liegen hatte, hieß der Besitzer Harry Yao fan. Abulfaz lächelte und musste an Chester denken. TAG SIEBEN BIS ELF: Er begann den Zeitpunkt
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seiner Ankunft ein wenig nach hinten zu verschie ben, sodass er bis Donnerstag schließlich so weit war, dass er zwischen 12 Uhr 45 und 13 Uhr eintraf. Be reits am Montag bat er seine Kellnerin, ihn bei der Auswahl seines Essens zu beraten. Am ersten Tag zuckte sie nur die Achseln. Am zweiten lächelte sie bereits scheu, hielt den Blick aber immer noch auf ihren Notizblock gesenkt und sagte, sie wisse es auch nicht. Am dritten Tag riet sie ihm von der Eiersuppe ab (»Nicht frisch. Aus Pulver gemacht.«) Am vierten fragte sie ihn, was er denn besonders gern esse, und nickte nur, als er antwortete: »Nun ja, ei gentlich alles, was gut schmeckt.« Am fünften Tag ersetzte sie das Huhn in seinem Lo-Mein durch Tin tenfisch und Venusmuscheln. TAG ZWÖLF UND DREIZEHN: Am Samstag abend erledigte Abulfaz einen kurzen, lukrativen und extrem unerfreulichen Auftrag in Waukeshaw, Wisconsin. Am Sonntag folgte er der Menschenmen ge ins Clark and Addison und sah sich an, wie die Cubs trotz zweier Homeruns von Jody Davis und Scott Sandersons hervorragender Leistung im achten Inning gegen die Phillies verloren. TAG VIERZEHN: Als er um 13 Uhr 7 das Lokal betrat, nickte ihm der Wirt lächelnd zu und fragte: »Wie war Ihr Wochenende, Sir?« Chet antwortete: »Danke, sehr schön, nett, dass Sie fragen. Ich habe mir ein Cubs-Spiel angeschaut und hatte außerdem Verwandtenbesuch von zu Hau se, aus Mankato.«
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Der Wirt nickte wieder lächelnd, sagte aber nichts darauf. Als die Kellnerin herbeieilte, streckte er den Arm aus wie ein Zauberer, der seine Assistentin vor stellt. TAG FÜNFZEHN: »Schmeckt Ihnen unser Essen,
Sir?«, fragte der Wirt. »Ja, sehr gut.« »Sie kommen oft her, nicht wahr? Chinesisches Essen ist sehr gesund!« »Das sagt meine Frau auch immer. Aber Sie müs sen mir helfen: Ich versuche nämlich gerade, ein bisschen … nun ja, Sie wissen schon, ein bisschen experimentierfreudiger zu werden. Etwas mehr Ab wechslung in meinem Speiseplan könnte nicht scha den, denke ich mir. Ihr Leute hier kennt euch doch aus. Was würdet ihr mir denn empfehlen? Irgendwie esse ich hier immer das Gleiche.« »Mögen Sie scharfes Essen, Sir?« »Sehr gern sogar.« »Dann habe ich heute etwas Besonderes für Sie, Sir. Es wäre aber ein bisschen teurer als das normale Mittagessen. Nicht viel teurer, nur ein bisschen. Wä re das für Sie in Ordnung, Sir?« »Na ja, wenn es nur ein bisschen ist, klar, kein Problem.« TAG SECHZEHN: »Hey, Kumpel, kann ich Sie mal was fragen?« Der Wirt antwortete: »Natürlich, Sir. Bitte fragen Sie.« »Macht ihr auch Catering? Meine Firma … Ich bin übrigens im Verpackungsgeschäft tätig, Schach
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teln und Klebeband, ich habe eine kleine Firma drü ben in Dearborn, mit einem Büro hier in Skokie. Je denfalls haben wir demnächst ein paar Leute von außerhalb zu Gast, hohe Tiere aus Omaha, von de nen wir möglicherweise einen großen Auftrag be kommen, und nachdem das Essen hier so gut ist, wollte ich mal fragen, ob Sie vielleicht ein besonde res Mittagessen für etwa achtzehn bis zwanzig Leute machen könnten.« »Ja, Sir, natürlich können wir das. Wann wäre das denn?« »Oh, übernächste Woche, glaube ich. Der Termin steht noch nicht ganz fest.« »Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn er fest steht. Oder sollen wir jetzt schon über das Essen sprechen?« »Ich schätze, das hat noch ein bisschen Zeit. Ich wollte bloß schon mal sicherstellen, dass Sie so was überhaupt machen.« »Ja, das ist kein Problem.« »Soll ich es mit Ihnen oder mit dem Besitzer be sprechen?« »Wie Sie möchten.« »Schön. Wie heißt denn der Besitzer? Und wie heißen Sie eigentlich?« »Ich bin Wang, und den Besitzer nennen alle Har ry.« »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Wang. Ich bin Chet.« »Freut mich auch, Mr. Chet. Heute mache ich Ih nen eine Shanghai-Suppe mit Schweinefleisch und eingelegtem Senfgemüse. Das steht nicht auf der
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Karte, es ist nur für Chinesen, aber Sie werden es bestimmt mögen, da bin ich sicher.« TAG SIEBZEHN: An diesem Tag blieb er weg, weil er sehen wollte, ob man seine Abwesenheit registrie ren würde. Selbstverständlich verließ er sein Zimmer in angemessener Kleidung (weiß gestreiftes Hemd, blau-grün gestreifte Krawatte, hellblaue SansabeltHose, Dexter-Schuhe mit gebogener Kappe) und zur richtigen Zeit. Er vertrieb sich die Stunden auf die übliche Weise: indem er herumfuhr, Leute beobach tete und versuchte, ein Gespür für die kurzen, auf Floskeln beruhenden Gespräche zu entwickeln, die so grundlegend waren für die amerikanische Form der Kommunikation. In der Vorwoche hatte er an den Redewendungen »Daran sieht man mal wieder« und »Was Sie nicht sagen« gearbeitet, diese Woche standen »Mal sehen, ob das klappt« und »Da kann ich auch nichts machen« auf dem Programm. Nach zwei Floskeln der Resignation nun eine, aus der Zu friedenheit mit der Gegenwart und eine gewisse Vor sicht hinsichtlich möglicher Verbesserungen sprach, und eine, die man benutzte, um ein Gespräch weg von seinem Gegenüber und hin zu sich selbst zu lenken. Abulfaz schwor sich, von Letzterer die Fin ger zu lassen. TAG ACHTZEHN: »Wir haben Sie gestern ver misst, Mr. Chet«, sagte Wang. »O Mann, ich musste die ganze Mittagspause durcharbeiten, bin einfach nicht von meinem Schreibtisch weggekommen.«
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»Wir liefern auch direkt ins Haus. Haben Sie die Speisekarte? Dann können Sie uns anrufen, und wir bringen Ihnen das Essen.« »Ja? Das wäre großartig.« »Nein, großartig für uns! Großartig für uns, Gäste zu haben, die so oft zu uns kommen. Möchten Sie heute etwas Besonderes essen?« »Natürlich. Was immer Sie mir bringen, das wis sen Sie ja. Übrigens, sooft ich hier esse, fällt mir auf, was für gute Musik Sie auf Ihrer Anlage laufen ha ben.« »O ja, sehr gute Musik. Chinesische Musik. Ande re Lieder, andere Instrumente.« TAG NEUNZEHN: Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sah Abulfaz, wie Harry Yaofan und eine Frau, die wahrscheinlich seine Ehefrau war – und die pockennarbige Haut und kugelrunde Form einer Lychee hatte –, um 18 Uhr 8 das Restaurant betraten. Als sie sich etwa sieben Minuten später an einem Tisch niederließen, waren sie die einzigen Gäste, und soweit Abulfaz es durchs Fenster sehen konnte, aßen sie, ohne ein Wort miteinander zu spre chen. Wang brachte ihnen unaufgefordert eine Abfol ge von Gerichten, die er mit der Anmut eines Tän zers in die Mitte des Tisches stellte. Harry und seine Frau aßen kleine Portionen von jedem Gericht und tranken dazu Tee aus Porzellantassen mit Deckel. Achtundzwanzig Minuten nach ihrem Eintreffen betraten zwei Männer das Restaurant, sprachen an der Theke mit Wang, ließen sich dann im Eingangs bereich nieder, tranken je ein Bier, bekamen eine
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Tüte mit den bestellten Speisen in die Hand ge drückt und verließen das Lokal elf Minuten nach ihrem Eintreffen. Um 19 Uhr 15 hängte Wang ein »Geschlossen«-Schild ins Fenster. Harry und seine Frau gingen zweiunddreißig Minuten später. Wang, der noch den Tisch abräumte, folgte ihnen kurz dar auf und schloss die Tür ab. Eine Stunde und sieben undfünfzig Minuten später ging in der Küche das Licht aus, und weitere zwei Minuten später startete hinter dem Restaurant ein roter Datsun mit Rostfle cken und herabhängendem Auspuff. TAG ZWANZIG: Abulfaz legte großen Wert darauf, seinen Tank zu füllen, indem er an elf verschiede nen Tankstellen zwischen LaGrange Park und Sko kie jeweils fünf Liter tankte. Jedes Mal plauderte er – beziehungsweise Chester – mit dem Tankwart, den er einen Blick auf den Motor werfen und den Ölstand überprüfen ließ. Er wollte seiner Aussprache viel Übung gönnen, ihr möglichst viel Zeit lassen, sich zu dehnen, um sicherzustellen, dass sein r voll und rund genug klang und seine Vokale so breit und lang und nasal blieben, wie es für den Mittleren Westen typisch war. Er selbst konnte keine Fehler feststellen, und die Männer, mit denen er sprach, offensichtlich auch nicht. Sieben von ihnen waren allerdings Ausländer und die anderen vier so jung, unreif und uninteressiert, dass sie es wahrscheinlich auch nicht bemerkt hätten, wenn er grüne Haut und Fühler an der Stirn gehabt hätte. Wie an jedem po tenziell letzten Tag eines Auftrags musste er ständig seinen Darm entleeren – an jeder Tankstelle, um
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genau zu sein –, bis er schließlich einen pakistani schen Kassierer um etwas bat, was »diese durchge gangenen Pferde zügeln« würde, und sich dabei grin send den Bauch rieb. Um 17 Uhr 59 bog er auf den Parkplatz neben dem Pine and Bamboo ein, öffnete eine Dose Old Style-Bier und ließ einen großen Schluck davon in seinem Mund hin und her schwappen, ehe er es in einen Becher spuckte. Dann rieb er sich den Hals mit ein wenig Bier ein und tröpfelte einen Fleck auf sein St.-Paul-Saints-T-Shirt. Als er schließlich zu frieden war, roch er wie ein Mann, der den Nachmit tag mit Trinken verbracht hatte, und kurz nachdem er Yaofan und seine Frau ins Restaurant hatte gehen sehen, bog er neben Yaofans Wagen ein, zwickte sich in die Wangen und die Nase, bis seine Haut richtig rot war, rieb sich die Augen, bis sein Blick leicht trü be wirkte, und ging dann hinein, um zu Abend zu essen und ein Gespräch zu führen. Wang sah ihn fragend an, als er durch die Tür kam. Dann hellte seine Miene sich auf. »Mr. Chet. Am Sonntag hier bei uns! Sie sind heute so sportlich gekleidet – ich habe Sie auf den ersten Blick gar nicht erkannt.« Chet grinste ein bisschen zu breit, lachte ein biss chen zu laut und stieß dann einen langen, tiefen Rülpser aus, der Wang kichern und Yaofans Frau erschrocken hochfahren ließ. »Ja, ich hab mir gerade hier in der Nähe mit ein paar Kumpels einen hinter die Binde gekippt, und da dachte ich mir, ich schau mal vorbei, ob ihr offen habt. Irgendwie bin ich jetzt ziemlich hungrig.«
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Wang blickte sich über die Schulter nach Yaofan um, der fast unmerklich nickte, während er Chet eindringlich musterte. Wang griff mit einem erleich terten Lächeln nach einer Speisekarte, winkte Chet schwungvoll zu und führte ihn dann zu seinem übli chen Ecktisch, sodass ihn nur ein leerer Tisch von den Yaofans trennte, den einzigen anderen Gästen im Raum. Er rückte seine Brille zurecht – die in Wirklichkeit völlig unnötig war –, überflog die Spei sekarte, klappte sie wieder zu und blickte auf, wobei er so dämlich dreinschaute, wie er nur konnte. »Sir«, sagte Wang, der hilfsbereit neben seinem Ellbogen auftauchte. »Was möchten Sie denn heute Abend essen?« »Was essen denn die da drüben?«, fragte er laut.
Yaofan blickte über die Schulter zu Chet hinüber und antwortete mit ruhiger, aalglatter Stimme: »Ge schmorte Schweineinnereien mit getrockneten Shrimps und fermentierten schwarzen Bohnen. Ich bezweifle, dass Ihnen das schmecken würde.« Seine Stimme klang so geschliffen, dunkel und hart wie ein Gewehrlauf, und er hatte die melodische englische Aussprache eines gebildeten Hongkong-Chinesen. Wang, der mit seiner ahnungslosen, salbungsvol len Art perfekt die Rolle des lästigen, aber liebens werten Kumpels erfüllte, mischte sich ein: »Nein, nein, Mr. Chet hat einen chinesischen Magen, ein Guolin-Gesicht, aber einen chinesischen Magen.« Er lachte, bis Yaofan ihn böse anfunkelte, woraufhin er schlagartig verstummte, als hätte ihm jemand einen Magenschwinger verpasst. Yaofan sah wieder zu Chet hinüber, zuckte die Achseln und begann dann
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auf Chinesisch mit seiner Frau zu sprechen. Chet wandte sich an Wang, deutete auf Yaofans Teller und reckte den Daumen hoch. Wang erwiderte die Geste grinsend. »Ich komme hier fast jeden Tag her«, erklärte Chet, der jetzt Yaofans Hinterkopf betrachtete. »Von meinem Büro aus ist es nicht weit, und das Essen ist gut. Und die Kellnerinnen sind hübsch.« Er hatte gehofft, mit der letzten Bemerkung eine Reaktion hervorzurufen, wartete aber vergeblich. »Sind das Ihre Töchter?« Nun fuhr Yaofan auf seinem Stuhl herum. Sein Gesicht wirkte so ruhig und ausdruckslos wie eine Holzschnitzerei. »Nein, das sind nicht meine Töch ter.« »Oh, na ja, ich dachte bloß, dass Sie Ihnen ir gendwie ähnlich sehen. Was ich an diesem Lokal noch mag, ist die Musik. Wissen Sie, ich kenne mich mit Musik nicht besonders gut aus – na ja, ein biss chen schon, weil ich in der Marschkapelle zu Hause in Walleye Creek Akkordeon und Mundharmonika gespielt habe, und ab und zu spiele ich immer noch, wenn meine Nichten Geburtstag haben oder so –, aber wie gesagt, verglichen mit jemandem, der sich wirklich auskennt, bin ich ein ziemlicher Laie. Aber das, was hier gespielt wird, gefällt mir wirklich. Ha ben Sie irgendwas davon zu verkaufen?« »Nein, ich fürchte nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, mein Essen wird kalt.« »Ja, natürlich, kein Problem, ich wollte Sie nicht vom Essen abhalten. Mir ist da bloß etwas eingefal len, was ich kürzlich gelesen habe. Ein Kumpel von
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mir, bei dem ich meine ersten Akkordeonstunden hatte – er spielt immer noch sehr viel, müssen Sie wissen –, also dieser Kumpel hat in St. Paul so eine kreolische Zydeco-Band, und sie haben gerade ziem lich viel Erfolg, zumindest in den Twin Citys. Jeden falls ist er der Typ, der viel liest, und kürzlich schickt er mir diesen Artikel, in dem steht, dass das Akkor deon und die Mundharmonika eigentlich von einem chinesischen Instrument namens Sheng abstammen. Ich glaube, ich habe mir den Namen richtig gemerkt: Sheng. Mein Kumpel nannte es auch eine Mundor gel. Was lustig ist, denn meine Gammy – so habe ich meine Großmutter immer genannt, die stammte aus Dänemark- sagte zur Mundharmonika auch immer Mundorgel. Irgendwie lustig. Wissen Sie da zufällig was drüber? Vielleicht, ob es stimmt oder nicht, da mit ich meinem Freund etwas erzählen und viel leicht ein, zwei Barwetten gewinnen kann?« Yaofan atmete hörbar aus, drehte sich aber immer noch nicht um. Wang erschien mit Chets Essen – dem gleichen Gericht, das Yaofan gerade aß. Als er sah, dass Chet süffisant vor sich hin grinste, während Yaofan demonstrativ schwieg und dem geschwätzi gen Amerikaner seinen kerzengeraden Rücken zu kehrte, musste er daran denken, wie er früher immer dafür gesorgt hatte, dass seine Schwestern in einer Ecke ihrer Hütte in Lengshuitan blieben, während seine Eltern stritten. Er konnte sich noch genau an die dicke Luft und die spannungsgeladenen, von Eiseskälte erfüllten Pausen erinnern, in denen seine Eltern sich böse angeschwiegen hatten, und plötzlich hatte er es so eilig, den Raum wieder zu verlassen,
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dass er Chet sein Essen aus Versehen fast in den Schoß gekippt hätte. Als Yaofan das Geklapper auf Chets Tisch hörte, drehte er sich um. »Was genau wollten Sie wissen?« »Ob Akkordeons von Shengs abstammen«, ant wortete Chet, der sich bemühte, jeden Anflug von Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten und so ruhig wie möglich zu bleiben. »Ah. Nein, tut mir Leid, das weiß ich nicht.« »Das ist aber schade. Ich habe mir nämlich ge dacht, nachdem mein Kumpel bald fünfundvierzig wird, könnte ich ihm vielleicht ein Sheng kaufen. Ich habe weder Frau noch Kinder, und er ist mein ältes ter Freund, deswegen würde ich dafür durchaus ein bisschen was springen lassen.« Yaofan musterte Chet einen Moment lang kühl und senkte dann lächelnd die Augen, um sich wieder sei nem vernachlässigten Essen oder seiner noch mehr vernachlässigten Frau zuzuwenden, aber Chet ließ nicht locker: »Dann können Sie mir also nichts sagen?« »Was sagen?« »Wo ich ein Sheng bekommen könnte. Wie ge sagt, der Preis wäre wirklich kein Problem.« »Mr ….« »Muncie. Aber die meisten nennen mich nur Chet.« »Chet. Bedauerlicherweise habe ich keine Ah nung, wo Sie ein chinesisches Instrument herbe kommen könnten. Auf diesem Planeten leben etwas mehr als eine Milliarde Chinesen, wahrscheinlich allein schon in dieser Stadt mehrere zehntausend. Leider kennen wir uns nicht alle.«
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»Tja, das mag schon sein, aber ich war mir trotz dem sicher, dass Sie wissen, wo ich eines herbe kommen kann. Wenn ich es mir recht überlege, war ich sogar sicher, dass Sie eines hier in Ihrem Restau rant haben.« Yaofan ließ seine Gabel fallen. Als seine Frau sich bückte, um sie aufzuheben, zischte er sie in einem Ton an, der nicht lauter war als das Rascheln von Seide, die über Glas gleitet. Sie erhob sich, warf Chet einen bösen Blick zu, schnalzte missbilligend mit der Zunge und eilte dann mit unsicheren Schritten in die Küche hinaus. Yaofan, der sich ebenfalls erhoben hatte, wischte sich die Mundwinkel ab und ließ sich dann gegenüber von Chet nieder. »Was sich in mei nem Besitz befindet oder nicht, geht Sie gar nichts an. Ich mag keine Schnüffler. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keine Instrumente besitze, weder chinesische noch andere, und auch nicht weiß, wo Sie welche bekommen können. Wenn Sie mit dem Essen fertig sind – was Sie, wie ich sehe, bereits sind –, dann wäre es wirklich am besten für Sie, Sie wür den gehen.« Chet nahm seine Brille ab und beugte sich vor. Ohne Brille wirkte sein Gesicht plötzlich sehr hart – wahrscheinlich erschienen seine Züge dadurch kan tiger, jedenfalls wurde er viel mehr zu Abulfaz, als er es noch vor fünf Sekunden gewesen war –, und der Schnurrbart, der an einem rundlichen, sportlich ge kleideten Amerikaner mittleren Alters eher ein we nig schlampig ausgesehen hatte, wirkte an diesem Mann, der plötzlich in Chets Körper gefahren war, seltsam wild, fast animalisch. »Wir sind in der Lage,
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Ihnen als Gegenleistung für das Sheng, das sich in Ihrem Besitz befindet, jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen. Wir wissen, dass es sich hier im Restau rant befindet, weil wir Ihre Wohnung bereits durch sucht haben. Wir wissen, dass wir auf diese Weise mit Ihnen umgehen können, weil wir darüber infor miert sind, auf welch beispielhafte und geniale Art Sie in Macao mit Ihren Gegnern, den Ghost Snakes, fertig geworden sind und nun aus einer Entfernung von tausenden von Kilometern deren Geschäfte kon trollieren. Wir werden auch nicht davor zurückschre cken, Ihre Frau zu vergewaltigen und zu verprügeln, die Häuser Ihrer Brüder und Schwestern in Brand zu stecken und dafür zu sorgen, dass Ihre Nichten und Neffen nie wieder ohne Hilfe gehen oder sprechen können. Wir halten nichts von unnötiger Gewalt und ziehen Großzügigkeit der Folter vor, aber ob wir uns für das eine oder für das andere entscheiden werden, hängt ganz von Ihnen ab.« Yaofan war bleich geworden und hatte zu schwit zen begonnen. »Sie sagen ›wir‹, aber ich sehe nur Sie.« Abulfaz zog drei Nudeln aus seiner Schüssel und ordnete sie auf einem Teller zu einem Muster an: einer geraden Linie, die mehrfach von zwei Schlan genlinien durchkreuzt wurde. Yaofan wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ah. Ich dachte immer, ihr wärt nur ein Mythos. Sie wissen schon. Geisterge schichten. Monstermärchen.« Abulfaz schüttelte lächelnd den Kopf, sagte aber nichts. »Was auf dieser Welt – oder außerhalb von ihr – hätten Sie denn am liebsten, Mr. Yaofan?«
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»Wissen Sie, mein Neffe …« »Welcher? Der Augenarzt in Phoenix, der Börsen makler in Winnipeg, der Restaurantbesitzer in Bourg en-Bresse, der Student in Hongkong oder einer von den fünf Landarbeitern in Ihrer alten Heimat?« »Ah. Sie waren in dem Restaurant in Frankreich? Es heißt auch Pine and Bamboo. David hat früher hier gearbeitet.« »Das wissen wir.« »Ah.« Yaofan rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und wischte sich über seine schweißnassen, pulsierenden Schläfen. »Ich bin ein alter Mann, Chet, und wünsche mir nicht mehr viel.« »Wir können jedem Menschen jeden beliebigen Wunsch erfüllen, wie Sie zweifellos wissen.« »Ich war noch nicht fertig. Ich wünsche mir nicht mehr viel, aber meine Frau hat einen sehr absonder lichen Wunsch. Ich würde niemals jemandem außer Ihnen davon erzählen.« Abulfaz hob den Kopf und zog fragend die Au genbrauen hoch. »Sie ist auch schon alt, müssen Sie wissen, genau wie ich. Wir sind bereits dreiundvierzig Jahre mitein ander verheiratet. Seit unserem siebzehnten Lebens jahr. Wir haben Lengshuitan zusammen verlassen und haben seitdem einen weiten Weg hinter uns. Aber es gibt zwei Dinge, die wir nie getan haben. Wir haben nie eine Nacht voneinander getrennt ver bracht.« Yaofan hielt inne und blickte auf den roten Teppich hinunter. »Das zweite … der Grund, warum wir Lengshuitan verlassen haben … es gilt wirklich als eine große Schande …«
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»Wir wissen Bescheid.« »Ah.« Yaofan blickte erleichtert hoch. »Demnach liegt auch das in Ihrer Macht?« »So ist es.« »Was für eine Garantie hätte ich?« »Unser Versprechen. Sonst nichts.« »Ah. Dann folgen Sie mir jetzt bitte in die Küche, wo wir besser reden können.«
GEGENSTAND 8 Ein Sheng, auch »chinesische Mundorgel« genannt. Für gewöhnlich besteht ein Sheng aus 13 bis 17 Pfeifen von unterschiedlicher Länge, die auf einer kürbis- oder trommelförmigen Basis befestigt sind (auch wenn Fong Yu-T’sai, ein exzentrischer Edelmann aus Guangzhou, einen Plan für ein Sheng aus 75.346 baumgroßen Pfeifen ent warf, die rund um seine Heimatstadt aufgestellt wer den sollten). Jede Pfeife hat ein freies Rohrblatt, und der Ton wird erzeugt, indem man durch ein einzel nes Mundstück bläst und gleichzeitig kreisförmige Löcher abdeckt, die in jede Pfeife geschnitten sind (im Fall von Fongs stadtgroßem Instrument hätte der
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Wind selbst den Klang erzeugt, und bedauernswerte Stadtbewohner hätten die Löcher gefüllt). Das Sheng, von dem hier die Rede ist, hat 16 Bambuspfeifen, die um einen hohlen vergoldeten Kürbis angeordnet sind. 13,5 Zentimeter oberhalb des Kürbisses ist ein schmales Goldband um die Pfeifen geschlungen. Das Sheng misst von seinem untersten bis zu seinem obersten Punkt 36 Zentime ter und hat an seiner Basis einen Durchmesser von 12 Zentimetern. Wieder stellen wir eine Verwandtschaft zwischen Alchemie und Musik fest, und es überrascht nicht, dass es dabei um Luft geht, das leichteste und äthe rischste der Elemente. Die Beherrschung der Luft soll für Einheit und Affinität zwischen sich bekrie genden und unvereinbaren Substanzen sorgen, ge nau wie Musik einen aufgebrachten Menschen beru higt. Alchemisten besaßen oft Blasinstrumente, um sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass die Beherrschung der Luft mehr Genauigkeit als Kraft erfordert. HERSTELLUNGSDATUM Frühe Song-Dynastie, was in etwa dem Zeitraum vom zehnten bis einschließ lich zwölften Jahrhundert n. Chr. entspricht. HERSTELLER Auf der Unterseite des Kürbisses ist in eleganter, winziger Kalligraphie der Name Ping Yu tsun eingraviert. Ob das bedeutet, dass Ping das In strument gebaut hat oder es ihm zu Ehren gebaut wurde, ist nicht bekannt. Ping war Physiker und Hofhistoriker des Herrschers Menchou, bekannt für
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seine exzentrische – um nicht zu sagen barbarische – Angewohnheit, Gäste aus dem Ausland zu empfan gen, was zur Zeit der frühen Song-Dynastie etwas noch nie Dagewesenes war. Eine Schriftrolle aus die ser Zeit, die 1978 bei Aushubarbeiten im Rahmen eines Dammbaus entdeckt wurde, nennt Ping als einen »Ehrwürdigen, zweimal Ehrwürdigen und noch einmal höchst Ehrwürdigen, … der unserem Herrn die Gabe eines langen Lebens beschert hat«. Dieselbe Schriftrolle zeigt eine Gestalt, bei der es sich angeblich um Ping selbst handelt und die sich in fünf Schritten in einen Drachen verwandelt. HERKUNFTSORT Menchous Hof lag zwischen dem heutigen Xian und Lanzhou. Das Holz und der Stil des Sheng ist allerdings nicht typisch für eine be stimmte Region in China. LETZTER BEKANNTER BESITZER Yaofan He-li (Har ry Yaofan), einst in Macao ein Mann mit großem Ein fluss, derzeit in Skokie, Illinois, Restaurantbesitzer und stolzer Vater eines kleinen Sohnes. Yaofan über ließ das Sheng einem Mann, den sein Cousin, Yaofan Wang, nur als »Mr. Chet« kannte. Etwa neun Mona te nach Chets letztem Besuch verkündete Harry sei nem Personal, er und Mrs. Yaofan seien Eltern eines kleinen Jungen geworden. Da beide zu der Zeit be reits Anfang sechzig waren und ihre jüngste Tochter zweiunddreißig, wurde diese Behauptung von allen, die sie hörten, mit Verwunderung und Misstrauen aufgenommen. Das Personal berichtete, Mrs. Yaofan habe während der Monate, nachdem »Mr. Chet«
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aufgehört hatte, das Lokal zu besuchen, dort regel mäßig jeden Sonntag zu Abend gegessen und dabei keineswegs so ausgesehen, als wäre sie schwanger, wobei in Anbetracht ihres Alters wohl niemand diese Möglichkeit auch nur in Betracht gezogen hatte. Es existieren jedoch keine Unterlagen über eine Adop tion, und alle daraufhin befragten Verwandten bestreiten, den Yaofans ein Baby überlassen zu ha ben. Auch wurde in der Zeit, als die Yaofans die Ge burt ihres Kindes bekannt gaben, in der Umgebung von Chicago keine Entführung eines Säuglings ge meldet. Mrs. Yaofan bezeichnete die Geburt als »ein Wunder«, während Harry immer von einem »Ge schenk« oder einem »Erfolg« sprach. GESCHÄTZTER WERT Ein männlicher Säugling.
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Sanft mit großem Verstande steigt es von der Erde auf in den Himmel.
Als ich den Äskulapstab am unteren Rand von Han nahs Türrahmen sah, spürte ich im Nacken das glei che Kribbeln wie am Vorabend vor meiner Woh nungstür. Mit dem Unterschied, dass mein Adrena linpegel diesmal weniger vor Aufregung, sondern mehr aus Sorge um Hannah in die Höhe schnellte. Ich klopfte an ihre Tür. Keine Reaktion. Ich öffnete ihren Briefschlitz und lauschte: Drinnen war das Rauschen der Dusche und lautes Singen zu hören. Kein Wunder, dass sie mein Klopfen nicht mitbe kam. Hinter mir raschelte etwas, aber ich achtete nicht darauf, bis mich eine faltige Hand am Hemd kragen packte und ich scharfe Fingernägel über mei nen Nacken kratzen spürte. »Ich nehme an, hier handelt es sich um meinen neuen Mieter«, sagte Mrs. DeSouza, nachdem ich mich aufgerichtet und umgedreht hatte. Sie trug Hausschuhe und ihren Hausmantel und lächelte mich mit hochgezogenen Augenbrauen süffisant an. Aus ihrer Miene sprach eine Mischung aus Verachtung, Genugtuung und schadenfrohem Entzücken. »Ich habe Hannahs Tür heute früher gehört als sonst. Normalerweise verlässt sie das Haus nicht vor acht Uhr fünfzehn. Deswegen habe ich mich gefragt, ob da vielleicht jemand heim lich aus dem Haus schleicht. Und siehe da, was wir
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hier haben: nicht nur einen Verehrer, sondern auch noch einen Spanner.« »Ich bin sicher, Mrs. Rowe ist froh, dass jemand so gut auf ihre Tochter aufpasst.« »Ich wollte Sie bloß an unser kleines Gespräch von neulich erinnern. Wissen Sie, ich bin der Über zeugung, dass …« »Lassen Sie es gut sein, Mrs. DeSouza. Hannah ist über dreißig, und sie ist nicht Ihre Tochter.« Zuerst wurde ihr Gesicht ganz rot und schien da bei anzuschwellen, als hätte sie eine Ohrfeige be kommen. Dann fiel es wieder in sich zusammen, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Einen Moment lang scharrte ich verlegen mit der Schuhspitze, dann murmelte ich eine schnelle und fast ehrlich gemeinte Entschuldigung und flüchtete zu meinem Wagen. Als ich mich über die Schulter umblickte, stand Mrs. DeSouza immer noch ge beugt und schluchzend da, eine Hand vor dem Ge sicht. Es war noch nicht mal acht Uhr morgens, und ich hatte schon eine alte Dame zum Weinen gebracht. Bevor ich nach Wickenden aufbrach, legte ich einen Zwischenstopp in meiner Wohnung ein, wo ich duschte, mir frische Sachen anzog und den Zahn ein steckte. Keine Nachrichten auf meinem Anrufbe antworter, keine Post in meinem Briefkasten, keine festgenagelten Zettel an der Tür. Ich war zwei Tage weg gewesen, und niemand hatte mich zu erreichen versucht. Das war an sich nicht ungewöhnlich, aber zum ersten Mal seit meinem Umzug hierher kam es
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mir nicht so vor, als hätte mein Leben ohne mich stattgefunden. Ganz im Gegenteil, ich hatte das Ge fühl, dass mein Leben in Bewegung gekommen war und der Rest einfach noch hinterherhinkte. Parkplätze sind im Zentrum von Wickenden eine Rarität, und ich war sowieso früh dran, deswegen ließ ich den Wagen bereits in der Sheldon Street stehen, vor einem hellblauen Schindelhaus, über dem eine große portugiesische Flagge wehte. Durch eine vio lette, offen stehende Tür sah man in einen schmalen Raum mit einem karierten Linoleumboden, einer Theke mit ein paar Barhockern, einem Billardtisch, ein paar Sofas und einem Fernseher, in dem ein Hunderennen lief. Über der Bar hing eine blaue Bud-Light-Uhr. Daneben war eine Plastiktafel ange bracht – wie die, auf denen in den Restaurants am Straßenrand immer die Tagesgerichte angeschrieben sind –, auf der stand: SANNICH, NO HAMS FRA TUE. Obwohl ich früher nur zwei Häuserblocks von hier entfernt gewohnt hatte, war mir diese kleine Kneipe noch nie aufgefallen. Irgendwie gefiel sie mir. Ich streckte den Kopf zur Tür hinein. »Mitgliedsausweis!«, sagte ein fetter Mann hinter der Bar. Er trug ein gelb-grün kariertes Flanellhemd über einer weiten Jeans und schenkte gerade zwei mageren, schläfrig wirkenden Typen Schnäpse und Bier aus. »Entschuldigung?« »Mitgliedsausweis. Das hier ein Privatclub. Nur Mitglieder.« Es war noch gar nicht lange her, dass ich diese Worte das letzte Mal gehört hatte. Kurz darauf hatte ein Albaner mit Goldzähnen gedroht, mich um
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zubringen. Seit wann waren schäbige Kneipen in der Provinz Neuenglands eigentlich so exklusiv? »Mir ist dieses Lokal hier noch nie aufgefallen. Dabei habe ich nur ein paar Blocks von hier ge wohnt, und …« »Das hier keine Kneipe für Studenten. Sie haben hier nichts zu suchen. Club für portugiesische Män ner. Sind Sie portugiesischer Mann?« »Nein, bin ich nicht.« »Dann weg mit Ihnen. Gibt genug andere Knei pen für Sie. Das hier meine Kneipe.« Ich nickte knapp, und er tat dasselbe. Dann kam einer von den mageren Typen herüber und schloss die Tür. Zu Fuß brauchte ich dreißig Minuten durch die Innenstadt, sodass ich das Polizeirevier gegen zwei erreichte. Als ich mich dem Gebäude näherte, schleppten zwei rundliche Streifenpolizisten gerade einen Mann in Handschellen die Treppe hoch. Der Mann hatte schwere Schlagseite nach rechts und nu schelte ununterbrochen etwas vor sich hin, während sich die beiden Polizisten seelenruhig über ihre Ehe frauen unterhielten. Die drei sahen aus wie ein Pro zentzeichen, das sich langsam die Treppe hochbe wegte. Ich fragte den Beamten am Eingang nach Joe Ja did. »Seine Schicht beginnt erst um vier. Möchten Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?« »Er hat gesagt, ich könnte auch schon eher kom men. Kann es sein, dass er vielleicht doch schon da ist?«
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Laut schnaubend stand er auf und lehnte sich über seinen Schreibtisch zu mir herüber. Ich trat ei nen Schritt zurück, aber mir stieg trotzdem ein schwacher Whiskeygeruch in die Nase. Er deutete auf eine Glastür am Ende des Ganges. »Sehen Sie die Tür da? Verhörraum eins. Dort liest Jadid gern seine Zeitung, wenn sonst keiner den Raum braucht. Wenn er da nicht ist, fragen Sie ein Stockwerk höher nach Detective Gomes. Der wird Ihnen weiterhel fen.« »Danke.« Er nickte und ließ sich keuchend zu rück auf seinen Stuhl sinken. Es dauerte einen Mo ment, bis sich sein wabbelnder Bauch wieder wie ein Sack auf seine Oberschenkel gesenkt hatte. Zögernd klopfte ich an die Tür des Verhörraums. Eine tiefe Stimme antwortete, und ich trat ein. Am Ende eines langen Metalltischs saß ein bulliger Mann mit olivenfarbener Haut, kurzem schwarzem Haar und rabenschwarzen Augen. Er trug einen wei ten grauen Anzug, der aussah, als hätte er darin ge schlafen, und las gerade den Auslandsteil der New York Times. »Joseph Jadid?« »Der bin ich.« »Ich bin Paul Tomm.« Er legte die Zeitung weg, stand auf und kam zu mir herüber. Er war fast dreißig Zentimeter größer als ich und wahrscheinlich auch siebzig Pfund schwe rer. Er hatte die Körpermasse eines etwas abgehalf terten, aber immer noch kraftvollen Footballspielers. Wenn man ihn mit einem wütenden Bären in eine Telefonzelle gesperrt hätte, wäre er wahrscheinlich
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mit einem Pelzmantel wieder herausgekommen. Seine Lippen umspielte das gleiche ironische Lä cheln, das ich schon von seinem Onkel kannte, und beide Männer hatten den gleichen bräunlichen Hautton, der mich an schwachen Tee erinnerte, aber wo Professor Jadid elegant und katzenhaft wirkte, quoll Joe aus seinen Klamotten, und seine fleischi gen, etwas groben Gesichtszüge erinnerten eher an einen Straßenkämpfer. Er faltete die Zeitung zu ei nem Rechteck zusammen, das bequem in seine gro ße Pranke passte, und klopfte mir mit der anderen auf die Schulter. Ich verlor fast das Gleichgewicht. »Ich bin Joe. Schön, Sie endlich persönlich ken nen zu lernen. Und gut, dass Sie es so früh geschafft haben: Ich bin schon am Verhungern. Haben Sie schon gegessen, oder sollen wir uns irgendwo eine Kleinigkeit gönnen?« »Ich habe auch noch nichts gegessen.« »Gut. Unsere Kantine hier würden Sie nicht über leben, und das Silver Shack hat noch nicht auf, aber gleich um die Ecke gibt es einen recht passablen Sandwich-Laden. Was halten Sie davon?« »Klingt gut.« »Ich spreche aber von Fleisch. Wenn Sie mir jetzt erzählen, dass Sie einer von diesen CollegeVegetariern sind, dann vergesse ich alles, was ich bis jetzt für Sie herausgefunden habe, und jage Ihren Arsch wieder den Hügel hinauf.« »Nein, ich esse so ziemlich alles.« »Ja? So sehen Sie gar nicht aus. Ich esse wirklich alles, besonders in letzter Zeit, seit ich hier nur noch am Schreibtisch sitze und gar nicht mehr raus auf die
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Straße komme.« Er legte seine großen Hände auf seinen Bauch und ließ ihn hin und her wackeln. »Schätze, ich hab ein bisschen zugesetzt. Sie haben Glück, dass ich im Moment so viel Zeit habe, und Unmengen von überschüssiger Energie.« Das sah ich. Irgendein Teil von ihm war immer in Bewegung. Während wir die Patchett Street überquerten und dann die Bishop hinaufgingen, ballte er die Fäuste und öffnete sie wieder, fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf und fuchtelte beim Sprechen mit den Armen durch die Luft. »Wissen Sie, was an dieser Sitzerei auch noch schlimm ist? Diese Aktenberge. Glauben Sie mir, da würde man als erwachsener Mann am liebsten in Tränen ausbrechen. Ich muss immer wieder aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen – wenn ich zu lange sitze, habe ich das Gefühl, als würde ich mit dem Hintern auf einer von diesen gottverdammten heißen Gusseisenplatten sitzen.« »Puh!« »Onkel Abe mag Sie. Das ist gut. Er ist mein Lieblingsonkel.« »Er hat dasselbe über Sie gesagt. Natürlich nicht Lieblingsonkel, sondern Lieblingsneffe.« »Ja, wir hatten immer schon ein ziemlich enges Verhältnis. Aber bei uns hält überhaupt die ganze Großfamilie recht dicke zusammen. Die drei Brüder hier in Wickenden – Abe, mein Vater Daniel und Onkel Sammy. Zwei Schwestern drüben in Boston, Amira und Claudia. Und natürlich jede Menge Cou sins und Cousinen, und jetzt fängt meine Generation auch noch an, Kinder zu kriegen. Ich kann die vielen Namen schon gar nicht mehr auseinander halten.
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Jedenfalls sind bei uns die Familienbande sowieso eng, aber aus irgendeinem Grund haben Onkel Abe und ich uns immer besonders gut verstanden.« »Haben Sie selber auch Kinder?« »Ich? Nein. Junggeselle. Das ist ein schlechter Job für feste Sachen, es sei denn, man ist mit einer Kol legin oder einer alten Jugendliebe zusammen. Viele von uns Bullen steigen aus, wenn sie heiraten. Man che arbeiten dann für private Sicherheitsdienste oder fangen selbst irgendein Geschäft an. Mein früherer Partner betreibt inzwischen zusammen mit den Brü dern seiner Frau eine Kneipe in Olneyton. Ich hab zu ihm gesagt, dass ich nur mit den Füßen voraus aufhöre, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Sie mögen Ihre Arbeit?« »Ich liebe sie. Natürlich gibt es ein paar Sachen, die mir nicht gefallen, aber im Großen und Ganzen wüsste ich nicht, was ich lieber täte.« Nachdem wir ein paar Minuten lang den Hügel hinaufgekeucht waren, erreichten wir einen schäbigen kleinen Schnellimbiss mit einer Speisekarte, auf der alles angeboten wurde, was die Arterien verstopft, und das auch noch in fünf Sprachen. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann nehmen Sie nichts Exo tisches«, sagte Joe, während er mir die Tür aufhielt. »Lieber den Hackfleisch-Jumbo oder das DeliSandwich. Fällt Ihnen auf, dass sie dieses Gericht hier ›Fleisch-Lo-Mein‹ nennen, ohne die Fleischsor te anzugeben? Das ist kein Zufall.« Ich befolgte seinen Rat. Das Sandwich war per fekt: überhaupt nicht fettig, mit frischem italieni schen Weißbrot, einer würzigen Tomatensauce, die
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tatsächlich nach Tomaten schmeckte, und nicht nach heißem Ketchup, und geschmolzenem Mozzarella, der wirklich nach Käse schmeckte, und nicht nach irgendeiner klebrigen Pampe. Abgerundet mit Li monade und süßsauren Pickles war es der Inbegriff des Wickendener Mittagssnacks. Wir aßen im Stehen an der Theke, mit einem wunderbaren Panoramablick auf einen Parkplatz. »So, was hat es nun mit dieser Nachricht auf sich?«, fragte er und sprühte dabei kleine Tomaten spritzer auf meinen Pullover. »Hier, bitte.« Ich zog den Umschlag mit dem Zahn aus der Tasche und reichte ihn ihm. »Was ma chen Sie jetzt damit?« »Wir geben den Zahn zur Untersuchung ins Labor und lassen ein paar DNS-Tests durchführen, viel leicht kommt ja was dabei raus. Es ist nur ein Ver such, aber …« Er öffnete den Umschlag, roch daran und zog rasch den Kopf zurück. »Lieber Himmel. Da kann einem ja glatt der Appetit vergehen. Zumindest wissen wir jetzt, dass der Zahn von jemandem stammt, der keine Zahnbürste benutzt.« Er stopfte den Umschlag in die Brusttasche seines blauen Hemds. »Ist seit unserem letzten Telefonat noch irgendwas passiert?« »Ja, vielleicht.« Joe zog fragend die Augenbrauen hoch – bezie hungsweise eine Augenbraue, um genau zu sein, wo durch sich über seiner krummen Boxernase ein klei nes Grübchen bildete. »Ich treffe mich doch mit diesem Mädchen …«
»Ja, das habe ich schon mitbekommen. Dann soll
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ten Sie jetzt aber ein bisschen Fleisch essen. Und abends noch ein paar Schalentiere mit Grünzeug, dann gehen Sie ab wie eine Dampflok. Entschuldi gung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Erzäh len Sie weiter …« »Ja. Sie wissen, was das auf dem Umschlag für ein Symbol ist?« »Der Äskulapstab.« »Genau. Der Äskulapstab. Ich habe heute Morgen einen an ihrem Türrahmen entdeckt.« »Wie meinen Sie das? Auch so eine Nachricht wie die Ihre?« »Nein, eine kleine Kreidezeichnung. Eigentlich gar nicht an der Tür selbst, sondern knapp daneben, in der Einbuchtung, wo die Tür auf den Rahmen trifft.« »Hmmm. Wer ist denn dieses Mädchen?« »Ihr Name ist Hannah Rowe. Sie scheint die ein zige Person in Lincoln zu sein, die Jaan gekannt hat. Sie arbeitet als Musiklehrerin am dortigen Internat.« »Was halten Sie von ihr?« Die Million-Dollar-Frage. Was hielt ich von ihr? »Ich mag sie. Deswegen mache ich mir ja solche Sor gen.« »Inwiefern?« Achselzuckend knüllte ich das Wachspapier zu sammen, das ich mit meinem Sandwich bekommen hatte. »Das weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht wird sie bedroht. Das gleiche Symbol wie auf mei nem Umschlag, und beides am selben Wochenende. Das macht mich nervös.« Joe schniefte nachdenklich und fuhr mit einer fet
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tigen Hand über sein ohnehin schon fettiges Haar. »Man kann es wahrscheinlich auch anders sehen. Wie gut kennen Sie das Mädchen eigentlich?« »Ich weiß nicht. Nicht besonders gut. Wir waren erst ein paar Mal zusammen aus, aber ich mag sie. Ich habe ein gutes Gefühl, wenn ich mit ihr zusam men bin.« Er betrachtete mich mit einem mitleidigen Blick, wobei er erneut die Augenbraue hochzog und gleich zeitig die Lippen fest aufeinander presste, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. »Verstehe. Demnach ziehen Sie also überhaupt nicht in Betracht, dass die Nachricht von ihr stammen könnte? Oder von je mandem, den sie kennt? Oder dass der Äskulapstab an ihrer Tür etwas ganz anderes bedeuten könnte als der auf Ihrem Umschlag? Sie halten es nicht für mög lich, dass sie diejenige ist, die Ihnen diese Nachricht hat zukommen lassen?« »Hannah? Sie glauben, sie zieht in ihrer Freizeit Zähne? Auf keinen Fall. Wo sollte sie denn so einen Zahn herbekommen? Als ich sie das letzte Mal sah, war ihr Gebiss noch komplett, und Zahnärztin ist sie auch nicht.« »Ja, ich weiß. Trotzdem … ich würde die Mög lichkeit nicht ausschließen. Tun Sie mir auf jeden Fall den Gefallen und passen Sie auf, was Sie dem Mädchen erzählen, ja? Das ist die jüdische Mutter in mir.« Er stupste mich in die Rippen, um die Si tuation ein wenig zu entkrampfen. Ich musste ge gen meinen Willen lächeln. Was bleibt einem an deres übrig, wenn so ein Brocken von Kerl sich als jüdische Mutter bezeichnet? »Ich weiß, dass Sie
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sie mögen, aber wie gesagt, Sie könnten es hier mit ein paar wirklich üblen Jungs zu tun haben. Gomes und ich werden Ihnen nachher zeigen, was wir ha ben, aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Meiner Meinung nach war dieser Profes sor auf keinen Fall nur ein konfuser, lieber alter Mann. Hier läuft noch irgendwas anderes, und wenn Sie beide erst ein paarmal miteinander aus waren, dann würde ich sagen, Sie kennen sie wirk lich noch nicht so gut. Ich schätze, sie ist ziemlich hübsch, oder?« »Stimmt.« »Und wahrscheinlich ist sie auch noch süß und klug und steht auf sensible junge Typen wie Sie, oder?« Ich nickte, sagte aber nichts. Ich hatte schon wie der heiße Ohren. Er trank seine Limonade aus, knüllte den Wachs papierbecher zusammen und versenkte ihn mit ei nem gezielten Wurf im großen Mülleimer in der Ecke. »Passen Sie einfach auf sich auf. Ich möchte nicht, dass einem Freund von Abe was zustößt, wäh rend ich auf ihn aufpasse.« Der Mann, dem Jadid ohne Vorwarnung einen hin terhältig angeschnittenen Sandwichball zuwarf, sah sehr gepflegt aus: schmal geschnittener dunkler An zug, im Gegensatz zu dem von Joe mit perfekter Bü gelfalte, kahl rasierter Schädel, runde Metallbrille, mahagonifarbene Haut. Er saß an dem Schreibtisch neben dem von Joe. »Und was hast du mir da mitge bracht?«, fragte er, während er über den Rand seiner
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Brille spähte. Ich war nicht ganz sicher, ob er damit das Sandwich meinte oder mich. »Ein Brötchen mit Truthahn, Senf, keine Mayo. Eins von diesen Mager-Dingern, die du immer willst. Ich habe ihnen gesagt, dass sie zusätzlich noch ein bisschen Tofu und Knuspermüsli drauftun sollen. Und dazu gibt’s Weizenkeime und Grassaft.« Der Mann griff lächelnd nach der Wasserflasche auf seinem Schreibtisch. »Mach dich ruhig über mich lustig, Dicker, aber wenn wir fünfzig sind, werde ich dich im Krankenhaus besuchen, wenn ich von der Sommerliga zurückkomme.« Joe zog von einem leeren Schreibtisch einen Stuhl herüber. »Sie dürfen ihm nicht böse sein.« Er forder te mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu neh men. »Er hat heute seine Spirulina-Algen noch nicht bekommen.« Der gut gekleidete Mann zeigte ihm grinsend den Mittelfinger. »Ich bin Sal Gomes«, stellte er sich vor. Mir fiel auf, dass er seinen Nachnamen als eine Silbe aussprach. Er kam zu mir herüber und gab mir die Hand. »Joey ist normalerweise mein Partner, wenn er nicht gerade eine Auszeit nehmen muss, weil er mit einem Freund des Bürgermeisters Mike Tyson ge spielt hat. Ich habe ihm bei Ihrem toten Esten ein bisschen unter die Arme gegriffen.« »Paul Tomm. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Nichts zu danken. Wenn Jadid Blut geleckt hat, kann er schrecklich nerven. Da würde ich alles tun, um ihn wieder loszuwerden.« »Paulie hat an unserer Lieblingsuni studiert«, er klärte Joe mit einem Blick auf mich.
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Gomes lachte ein wenig verlegen und winkte ab.
»Sie mögen die Uni nicht?«, fragte ich. »Solange sich die Studenten wie normale Men schen benehmen, habe ich kein Problem mit ihnen.« Er sah mich an. »Wo haben Sie denn gewohnt, als Sie hier studiert haben?« »St. Clair Point. Gano Street.« »Oh, jetzt kriegen wir vielleicht doch ein Problem. Haben Sie viele Partys geschmissen?« »Keine einzige.« »Gut. Haben Sie den Müll rausgetragen?« »Klar. Zweimal die Woche.« »Und haben Sie diese seltsamen metallischen Ob jekte benutzt, die manche Studenten Mülltonnen nennen, oder haben Sie besagten Müll lieber doch einfach auf die Straße geworfen?« »In die Tonnen.« »Nicht schlecht. Aus dem Jungen könnte was werden. Wer war Ihr Vermieter?« »Steve Terzidian.« »Oh, ich kenne Steve«, meinte Gomes mit einem ironischen Lächeln. »Er ist mir ein paarmal unterge kommen, als er in der Gegend die Häuser alter Leu te aufkaufte und in Mietwohnungen umwandelte, zum Teil für Studenten, zum Teil für – sagen wir mal weniger noble – Zwecke. Aus Ihrem Haus ist nie etwas gestohlen worden, oder?« »Nein, nie.« »Und Ihre Nachbarn oder andere Leute, die Sie dort kannten, hatten die Probleme mit Dieben?« »Doch, bei meiner Freundin ist sogar mehrfach eingebrochen worden. Ihr wurde ein Fernseher und
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eine Stereoanlage gestohlen. Und einem andern Ty pen, den ich kenne, haben sie direkt vor dem Haus das Auto weggeklaut.« »Waren das auch Mieter von Steve?« »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.« »Ich glaube es auch nicht. Schon seltsam, dass Steve immer so viel Glück hat, was das Thema Dieb stähle betrifft. Wie viel Miete hat er denn von Ihnen kassiert? Ich frage das aus reiner Neugier.« »Wir haben zu dritt neunhundert Dollar im Monat bezahlt.« Er schnaubte. »Nicht schlecht. Dann waren Sie wohl wirklich keiner von den bösen Jungs.« Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, hielt es aber für das beste, ihm einfach zuzustimmen. »Stimmt.« »Stimmt, das stimmt. Hören Sie, ich habe nichts gegen Sie, und gegen Ihre Freunde wahrscheinlich auch nicht, aber ich bin in St. Clair Point geboren und aufgewachsen. Viele Studenten nehmen einfach keine Rücksicht auf die anderen Leute im Viertel, und außerdem treiben sie die Preise in die Höhe. Nehmen Sie es nicht persönlich.« »Ich bin nicht so schnell beleidigt. Außerdem ha be ich mich in dem Viertel sehr wohl gefühlt. Ich hab wirklich gern dort gewohnt.« »Wie sollte man sich dort auch nicht wohl fühlen? Die schönen rosa- und lilafarbenen Häuser, das Was ser ganz in der Nähe, der Park, die Sportanlagen, die Football-Felder. Da wohnen inzwischen die unter schiedlichsten Leute. Ich habe mir gerade mein ers tes eigenes Haus gekauft, fast am Wasser, in dersel
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ben Straße, in der auch meine Eltern und Onkel wohnen.« »Er nennt es die Gomes Homes. Nicht zu ver wechseln mit den Gomez Homezz drüben in Coastal Falls«, stichelte Joe. »Nein, du sagst immer Gomes Homes, Dicker. Auf jeden Fall tut es mir wirklich Leid, wenn ich Ihnen irgendwie auf den Schlips getreten bin, Paul. Das war wirklich nicht meine Absicht.« »Wie gesagt, kein Problem.« »Gut. Dann«, sagte Gomes und tupfte sich den Mund manierlich mit einer Serviette ab, »sollten wir jetzt vielleicht über den toten Professor sprechen.« »Wir beide haben Ihnen ein bisschen Kleinarbeit abgenommen.« Joe zog einen braunen Ordner aus seinem Schreibtisch. »Wie gesagt, ich habe im Mo ment jede Menge Zeit, und Onkel Abes Empfehlung zählt bei mir viel. Da können Sie sich übrigens etwas drauf einbilden. Lassen Sie sich von seinen guten Manieren nicht täuschen: Es gibt gar nicht so viele Leute, die er wirklich mag. Aber von mir wissen Sie das nicht. Und unser Gomes hier … tja, er hat sich zurückversetzt – so hat es doch dieses falsche Medi um ausgedrückt, das wir damals an der Tavey Street festgenommen haben, oder? –, jedenfalls hat er sich für Sie in ein früheres Leben zurückversetzt.« »Das war ganz schön schmerzhaft«, stimmte Go mes ein. »All die verdrängten Erinnerungen und der ganze Scheiß. In meinem ›früheren Leben‹ war ich ein hochrangiger Beamter der Bundesregierung der Vereinigten Staaten und stand im Dienste des FBI.
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Ich habe wegen Ihres Professors mit ein paar ehema ligen Kollegen telefoniert. Was dabei herausgekom men ist, erzähle ich Ihnen, wenn Joey fertig ist.« Joe öffnete erst seinen Ordner und dann eine Do se Traubenlimonade, die er in zwei großen Schlu cken leerte. Die Dose zerquetschte er mit seiner Pranke, um sie anschließend in hohem Bogen in ei nen etwa fünf Meter entfernten Abfalleimer zu wer fen. Er öffnete eine zweite Dose und trank sie zur Hälfte aus. »Nachdem ich die Akte dieses Typen gesehen hatte«, begann er nach einem lauten Rülp ser, »fragte ich mich natürlich, wieso ihm die Uni seinen Lehrstuhl gelassen hatte, nachdem er zwei mal wegen Schusswaffengebrauchs festgenommen worden war.« »Ihr Onkel hat mir davon erzählt.« »Ja, ich habe auch mit ihm darüber geredet. Wahr scheinlich hat er mir dieselbe Geschichte erzählt wie Ihnen.« Er zog einen Reporter-Spiralblock (dieselbe Sorte, die ich benutzte, was mich gleich richtig auf baute) aus der obersten Schublade seines Schreibti sches und blätterte ihn durch. »Mal sehen. Beim ers ten Mal sorgte dieser Crowley dafür, dass er bleiben konnte, beim zweiten Mal war es Abes Entschei dung, nicht wahr?« »Richtig.« »Nein, nicht richtig. Oder zumindest nicht ganz richtig. Abe hat uns nur erzählt, warum das Institut für Geschichte ihn behielt. Ich wollte aber wissen, warum die Uni ihn behielt.« »Aber Ihr Onkel hat gesagt, nur ein paar Ge schichtsprofessoren hätten von der Sache gewusst.«
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»Ich weiß, dass er das gesagt hat, und ich weiß auch, dass er das tatsächlich glaubt, aber in diesem Fall irrt er sich.« Gomes meldete sich von seinem Platz aus zu Wort. »Das ist hier nicht nur eine kleine, sondern auch eine kegelförmige Stadt, mit dem spitzen Teil nach oben, und das, wovon wir gerade reden – ein Verbrechen, in das ein Professor der mächtigsten Institution von Wickenden verwickelt ist – hat sich direkt an der Spitze des Kegels abgespielt. Nach meiner Erfahrung ist es völlig unmöglich, dass so etwas passiert, ohne dass jemand von der Universität davon erfährt. Vielleicht erzählt es der Nachtwächter seiner Frau, die es ihrer Schwester, der Lehrerin, weitererzählt, die es gegenüber einer anderen Lehre rin erwähnt, die mit einem Reporter verheiratet ist, der es seinem Chef erzählt, der es einem alten Freund erzählt, der es einem Nachbarn erzählt und so weiter, wie bei dem Spiel, das ›stille Post‹ heißt.« »Und am Ende ist aus dem schießwütigen Profes sor wahrscheinlich schon ein Serienkiller geworden«, bemerkte Joe. »Ja, eine Neuigkeit wie diese würde bestimmt stark verzerrt ankommen, vor allem, wenn sie von einer Gruppe von Leuten stammt, die wahrschein lich absolute Waffengegner sind und selbst kaum jemals mit Gewaltverbrechen zu tun hatten.« Gomes hatte seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran gezogen, an dem wir saßen. Ich fühlte mich in der Gesellschaft der beiden sehr wohl: sicher, aber auch aufgeregt. Sie schienen sehr vertraut miteinander zu sein – der eine sprach die Sätze des jeweils anderen
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zu Ende, brachte dessen Gedanken noch genauer auf den Punkt, verhalf ihm zu noch besseren Ergebnis sen. Etwas, was meiner Erfahrung nach sehr selten vorkam. Gomes fuhr fort: »Ein Mann trägt eine Waf fe, und die Wickendener Clique erklärt ihn zu einer Art Neandertaler.« »Stimmt«, pflichtete ihm Joe bei. »Deswegen ha be ich als Erstes Onkel Abe angerufen und ihn gebe ten, seine Beziehungen spielen zu lassen und in den Gehaltslisten der Uni nachzusehen, was Pühapäev sie kostete. Wissen Sie, was er im Jahr verdient hat?« Joe lehnte sich über den Tisch, sah mich mit seinen schwarzen Augen eindringlich an und hielt dabei die Hände wie ein Zauberer, der eine Taube umklam merte. »Einen Dollar.« Er öffnete die Hände. »Einen Dollar?« »Ja. Das ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie viel leicht meinen. Es gibt Professoren, die aus reichen Familien kommen oder eine Ärztin oder Anwältin zur Frau haben, sodass sie auf das Geld nicht ange wiesen sind. Trotzdem muss ihnen die Uni aus steu erlichen Gründen ein Gehalt zahlen. Sie nehmen also den symbolischen Dollar und lassen den Rest zurückfließen. In Pühapäevs Fall war das aber noch nicht alles. Zusätzlich zu seinem Gehalt spendete er der Uni jedes Jahr zwischen fünf- und zehntausend Dollar.« »Woher wissen Sie das?« Joe hielt ein Exemplar des jährlichen Wickende ner Finanzberichts hoch. Den Umschlag zierte das übliche Foto: ein paar Studenten unterschiedlichster Herkunft (die noch nie ein Mensch zu Gesicht be
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kommen hat) sitzen unter einem Baum auf der Wie se und strahlen über das ganze Gesicht, umgeben von Büchern und guter Laune, durchdrungen von ihrem Glück. »Sein Name ist hier aufgelistet. Unter ›Förderer‹, was bedeutet, dass er zwischen fünf- und zehntausend gespendet hat. Wir haben jede Menge von diesen Berichten, Jahre zurück, und er ist immer wieder aufgelistet, jedes Jahr unter derselben Rub rik, und das seit 1992.« »Aber was beweist das?« »Hör dir diesen Knaben an«, sagte Gomes. »So wie er redet, würde er wunderbar in einen Gerichts saal passen. Er hätte Anwalt werden sollen. Das könnten Sie immer noch, junger Mann, ist Ihnen das klar?« »Haben Sie mit meinem Vater gesprochen?« Gomes schüttelte lachend den Kopf. »Das alles beweist noch gar nichts. Aber wie Joey schon gesagt hat, wir müssen davon ausgehen, dass zumindest ein Gerücht über seine Verhaftung bei irgendjemandem in der Universitätsleitung gelandet ist. Und wir müs sen davon ausgehen, dass in diesem Fall die Leitung das Institut auf Anhieb überstimmt hätte, denn wel che Uni möchte schon einen Professor mit einem nervösen Finger am Abzug? Crowley hatte wahr scheinlich einen gewissen Einfluss, aber so viel nun auch wieder nicht. Ein einzelner Mann? Keine Chance. Noch dazu schreibt er ziemlich mittelmäßig, wenn ihr mich fragt. Jedenfalls liefert uns das alles genügend Material für eine Arbeitshypothese hin sichtlich der Frage, warum die Uni unseren Pühapä ev behalten wollte. Er schenkte ihnen … wie viel?
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Einschließlich seines Gehalts so fünfzig, sechzig, vielleicht sogar siebzig Riesen im Jahr? Eine Menge Geld. Sie brauchten nur dafür sorgen, dass die Sache nicht bekannt wurde, was Crowley und Joeys Onkel ja recht gut gelungen ist. So, und jetzt zum nächsten Punkt. Ich habe wie immer die Leckerbissen auf Lager.« »Spiel dich nicht so auf, Gomesy.« Joe sah mich an. »Dieser Typ wandert ein paar Jahre in der Wüste herum, jagt ein paar Zigarettendiebe, und schon hält er sich für Eliot Ness. Dann kommt er zurück zu uns richtigen Cops, und nun dürfen wir uns dauernd die Geschichten über seine ruhmvollen Tage anhören.« »Erwähn die Wüste nicht, Mann. Ich bekomme al lein schon bei dem Gedanken eine Gänsehaut. Las sen Sie sich eins gesagt sein, junger Mann: Sollten Sie jemals den Drang verspüren, zur Polizei zu gehen, dann befolgen Sie meinen Rat und halten Sie sich vom FBI fern, es sei denn, Sie haben eine Menge Geduld und eine Menge Glück. Bei mir endete das Ganze mit einem Auftrag in Bisbee und Douglas.« »Wo?« »Genau. Auf der Jagd nach Zigarettenschmugg lern, die zwischen Bisbee, Arizona, und Douglas, New Mexico, ihr Unwesen trieben. Dabei kann ich heißes Wetter nicht ausstehen. Dort unten ist die Sonne so heftig, dass man am Tag sechs Liter Wasser trinkt und trotzdem nicht pinkeln muss. Und wenn man ein Bier trinkt, hat man fünf Minuten später den schlimmsten Kater. Was ist denn das für ein Leben? Trotzdem habe ich noch ein paar Freunde beim FBI, und die haben mir die Infos besorgt.«
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»Infos worüber?« »Tja, wie sich herausgestellt hat, war ihr Freund ein wichtiger Zeuge bei einem Juwelendiebstahl im Jahre 1995.« Gomes bewegte die Maus seines Com puters, woraufhin der Bildschirm zum Leben er wachte. »Beim FBI glauben sie immer noch, dass er der Hehler war, aber sie bekamen nicht genug Be weise zusammen, um ihn deswegen zu belangen. Schreiben Sie das alles auf?« »Immer.« »Gut. Wo waren wir … ach ja. Im Januar 1995 be herbergte das Wickendener Museum der schönen Künste eine Wanderausstellung iranischer Juwelen. Sehr noble Sachen, zum Teil aus der Sammlung des Schahs, aber auch andere Stücke, die irgendwie aus dem Land geschafft worden waren.« »Ich habe mir die Ausstellung damals angesehen«, erklärte Joe. »Onkel Abe hat mitgeholfen, sie nach Wickenden zu holen.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »All die vornehmen Wickendener Perser – und damit meine ich vor allem meine Onkels und Cou sins – ließen ein bisschen Geld springen, damit das Museum die Ausstellung finanzieren konnte. Außer dem befindet sich der Großteil dieser Sachen sowie so in den Privatsammlungen von Exilanten, sodass die hier ansässigen Exilperser alle ein bisschen Über redungsarbeit leisten mussten, damit die Leute ihre Besitztümer zur Verfügung stellten. Darüber hinaus hatte Abe ein paar Jahre zuvor schriftlich den Vor schlag eingereicht, die Ausstellung nach Wickenden zu holen. Es waren sehr schöne Sachen darunter.«
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»Das auf jeden Fall, auch wenn es kurz vor der Eröffnung so aussah, als könnte sie gar nicht stattfin den«, fuhr Gomes fort. »Die Ausstellung kam näm lich aus Manchester – dem in England, nicht in New Hampshire. Die Juwelen trafen mit dem Flugzeug in Logan ein, und einer von den Leuten, die damit be auftragt worden waren, sie von Logan nach Wickenden zu bringen, versuchte sich ein paar von den Stei nen unter den Nagel zu reißen.« »Was ist passiert? Wie haben sie ihn erwischt?«, fragte ich. »Wie sie ihn erwischt haben? Das würde ich auch gern wissen. Darüber steht hier nichts. Oder warten Sie, doch, hier haben wir es: Aufgrund eines vertrau lichen Hinweises eines Informanten aus Boston ge lang den Ermittlern die Festnahme von Josef Chlo pikow, einem Angestellten einer bekannten Kurier firma, die für den sicheren Transport der Ausstel lungsstücke vom Privatmaschinen-Terminal in Lo gan bis zum Museum in Wickenden verantwortlich war. Die Ermittler folgten Chlopikow von seiner Wohnung in Dorchester bis zum Terminal, wo er dabei beobachtet wurde, wie er Kiste Nummer sie benundzwanzig öffnete, Päckchen Nummer einund neunzig herausnahm und in der Tasche seines Over alls verschwinden ließ. Unmittelbar danach nahmen die Ermittler Williams, Szalai und Tadaki den Ver dächtigen fest und überstellten ihn in die Bundes haftanstalt in Springfield, Mass. Jetzt wird es interes sant. Wie es aussieht, hat Chlopikow versucht, die Schuld auf jemand anderen abzuwälzen. Ratet mal, was er behauptet hat!« Gomes sah erst mich an. Als
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ich die Achseln zuckte, wandte er sich an Jadid, der mit der Hand eine kleine kreisende »Weiter!« Bewegung machte. »Geduld ist eine Tugend, Dicker. Jedenfalls sagte Mr. Chlopikow aus, er habe den Diebstahl im Auf trag eines gewissen Jaan Pühapäev ausgeführt, einem Professor für Geschichte und Osteuropa-Studien an der Universität von Wickenden. Chlopikow behaup tete, der Professor habe ihm eine Million Dollar in Form von Inhaberschuldverschreibungen verspro chen. Der Professor habe ihm gesagt, diese Steine besäßen eine Art Zauberkraft, deren Geheimnis aber nur er kenne. Sehr praktisch. Für normal denkende, gebildete Herren wie uns klingt das natürlich nach komplettem Schwachsinn, aber hier heißt es, Chlo pikow sei völlig verängstigt gewesen. Er sei erst wie der zur Vernunft gekommen, als man ihm damit drohte, nicht nur ihn selbst, sondern auch seine El tern, seine Schwester und seine Nichten abzuschie ben. Wie auch immer, jedenfalls besuchten Williams und Szalai Professor Pühapäev an seinem Wohnort in Lincoln, Connecticut, wo der konfuse Herr Professor natürlich behauptete, noch nie von einer Wanderaus stellung iranischer Juwelen, einem Mann namens Josef Chlopikow und irgendeinem geplanten Juwe lendiebstahl gehört zu haben. Washington teilte ihm mit, dass er damit rechnen müsse, zu einem Verhör durch das FBI in Boston vorgeladen zu werden. Drei Tage später bekommt das FBI einen Brief von ei nem Anwalt, der behauptet, Pühapäev sei das un schuldige Opfer einer Verleumdung geworden, in Wirklichkeit habe die russische Mafia den Diebstahl
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geplant und Pühapäev als Sündenbock ausgewählt. Sein Mandant sei Einwanderer, stand in dem Brief, ein weitabgewandter Professor ohne Familie oder enge Freunde und als solcher eine gute Zielscheibe für solch raffinierte Kriminelle …« »Dieser Anwalt«, unterbrach ich ihn. »Hieß der zufällig Vermini Sickle?« »Ja, Sickie Sickle«, bestätigte Gomes. »Wenn ihr mich fragt, verweist das auf zwei Dinge, wenn Sickle jemanden verteidigt: dass der Betreffende schuldig ist und dass er reich ist. Jedenfalls hat Sickle mit schwerwiegenden und kostspieligen Verleumdungs klagen gedroht, sollten Informationen über die Sache jemals an die Presse durchsickern. Wahrscheinlich bekomme ich in den nächsten Tagen eine Vorla dung. Die Ermittler überprüften Pühapäevs Telefon rechnungen und durchsuchten sowohl sein Haus als auch seine Wohnung – Sickle gab seinen Segen zu einer Nacht-und-Nebel-Aktion am Wochenende –, fanden aber nichts, was Pühapäev mit Chlopikow in Verbindung gebracht hätte. Es blieb also nur die Aussage Chlopikows. Keine Beweise, kein Prozess. Ende der Geschichte.« »Ich möchte mit diesem Dieb reden«, erklärte Joe.
»Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass du der
Typ für Séancen bist.« »Tot?« »Dem Jungen wurde zwei Tage nach seiner Ver urteilung bei einer Gefängnisschlägerei die Kehle durchgeschnitten. Der oder die Täter konnten nicht ermittelt werden.« Joe kratzte sich seufzend am Kopf. »Demnach
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hatte unser Mann also weder ein normales Einkom men noch Verwandte oder Freunde, mal abgesehen von dieser Musiklehrerin, auf die Paulie ein Auge geworfen hat, dafür aber Verbindungen zu russischen Juwelendieben, die wahrscheinlich mit der Mafia zu tun hatten.« »Wieso mit der Mafia?«, fragte ich. »Ich wette, der Dieb gehörte zu den niederen Chargen der russischen Mafia. Die ist in Boston ziemlich präsent.« »Ich hätte da noch eine Frage«, erklärte ich. »Der Diebstahl passierte im Januar 1995. Das war auch das Jahr, in dem Pühapäev das erste Mal festgenommen wurde, weil er aus seinem Fenster geschossen hatte. Glauben Sie, das war Zufall?« »Bei polizeilichen Ermittlungen gibt es so etwas wie Zufall nicht, mein Sohn«, antwortete Gomes. »Es sei denn, man ist Strafverteidiger.« »Hat dieser Professor eigentlich je sein Haus ver lassen? Ich meine, außer um zur Arbeit zu fahren?«, fragte Joe. »Hin und wieder war er in einer Kneipe in Cloug ham«, antwortete ich. »Clougham zwischen hier und Hartford?« »Genau. Die Kneipe heißt Lone Wolf.« »Sie waren schon mal dort?« »Ja. Eine ganz normale, schäbige kleine Kneipe. Überhaupt nichts Besonderes. Der Wirt schien mich
nicht sehr zu mögen.« »Wie meinen Sie das?« Ich erzählte ihm von Albanian Eddie und seiner herzlichen Art.
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»Der Typ heißt Albanian Eddie? Was meinst du, Sally, wollen wir da mal hinfahren?« »Nach Connecticut? Du machst wohl Witze, Schreibtischhengst. Das ist nicht unser Zuständig keitsbereich, und du hast auch so schon genug Ärger am Hals«, antwortete Gomes. »Ein Professor der Wickendener Universität ist möglicherweise ermordet worden. Das ist doch wohl Grund genug zum Ermitteln. Wir brauchen ja nie manden festzunehmen. Ich möchte mir die Kneipe nur mal ansehen. Du weißt schon. Ich muss meinen Hintern endlich mal wieder hier rausschieben. Kein Mensch wird mich vermissen, wenn ich nicht ganz pünktlich zu Schichtbeginn auf der Matte stehe.« »Du darfst doch zurzeit gar nicht ermitteln, Mann. Und falls du es doch tust, darf ich dir nicht dabei hel fen.« »Kommst du nun mit oder nicht?« »Aber nur, damit der Dicke nicht wieder in Schwierigkeiten gerät, Dicker.«
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Regenbogenstaub und Pfauenschwanz
D Pfauenschwanz und Regenbogen: Weisere Männer als ich betrachteten beides als Symbole für die be vorstehende Wiedergeburt sowie für die Unbestän digkeit, die dem Neuen innewohnt, nachdem es zwar das Tote ersetzt hat, aber selbst noch nicht weiß, was es ist. Dennoch muss ich anmerken, dass Regenbogen häufig das optische Spektrum nur un vollständig abbilden und sich schnell wieder auflö sen, also keineswegs das bogenförmige Band sind, als das sie immer dargestellt werden. Und Pfauen sind im Übrigen ausgesprochen übel launige Vögel. D BOUDEWIJN TEN HUYTEN D Der Bogen von St. Innozenz oder: Flamels Torheit
18. November 1986 Aubrey College Oxford An [NAME AUSGESTRICHEN], Kommandant: Sow jetmarine, Baltische Flotte, Haapsalu, Estland Ich hoffe, Sie verzeihen das lange Schweigen zwischen dem Eingang Ihrer Anweisungen und diesem Brief, in dem ich Ihnen nun stolz verkünden kann, dass ich endlich, wenn auch nur teilweise, Erfolg hatte. Was Sie von mir verlang ten, war nicht einfach. Es erforderte Geduld, Entschlossen
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heit und sehr umfangreiche Nachforschungen und Reisen. Wie Sie wissen, werde ich äußerst nervös und fühle mich körperlich ausgesprochen unwohl, wenn ich in südöstlicher Richtung weiter als nach London oder in nordwestlicher weiter als nach Wales reisen muss. Deshalb fürchtete ich mich, vielleicht über ein vernünftiges Maß hinaus, vor der Reise, die mich kürzlich nach Gyumri und in die umliegen de Region führte. Nichtsdestotrotz war die Chance, die Heimaterde zu sehen, der meine Kinder ursprünglich ent stammen, ein großer Anreiz, diese Ängste zu überwinden (auch wenn ich nicht weiß, was aus mir geworden wäre, hätte ich mich nicht an meine tägliche Dosis Benzedrin, Beerenburg und Seconal sowie eine allzeit bereitliegende Pfeife mit meinem eigenen rauchbaren Kraut gehalten). General Petrossian war ein höflicher und sachkundiger Gastgeber. Wenn ich richtig informiert bin, habe ich das, zumindest teilweise, Ihnen zu verdanken. Ohne jemanden beleidigen zu wollen, fühle ich mich ge nötigt, Ihnen mitzuteilen, dass ein Großteil meiner Schwie rigkeiten aus der mangelnden Redegewandtheit und dem unnötigen Konkurrenzgehabe Ihres Partners (der somit auch meiner ist, nehme ich an, und sei es noch so unwillig) Woskresenjow resultierten. Sein Bestreben, seine Aufgabe zu erfüllen und unser Zentrum nach Westen zu verlegen, zwang mich dazu, Ihnen zu schreiben, bevor ich meinen Auftrag ganz zu Ende führen konnte: Ich muss meine Be denken zum frühestmöglichen Zeitpunkt kundtun, und ersu che Sie dringendst, Folgendes zu Protokoll zu nehmen: Die Entscheidung, es ihm anzuvertrauen und ihm zu gestatten, es dorthin zu verlegen, wohin er es verlegen möchte, ist in meinen Augen ein Fehler, wie wir ihn schon seit Jahrhun derten nicht mehr erlebt haben.
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Nun, Sie wissen, dass ich Ihr Urteil niemals infrage stel len würde und auch nicht das geringste Interesse daran ha be, Ihre Aufgaben zu übernehmen: Ich empfinde es bereits als Herausforderung, wenn ich irgendetwas organisieren muss, was über die Grenzen meines Gewächshauses hinausgeht, ganz zu schweigen von einem Unterfangen wie dem unseren. Ich muss daher einfach davon ausgehen, dass Sie gute Gründe hatten, Woskresenjow damit zu betrauen, die Bib liothekssammlung wieder zusammenzustellen, gestehe aber, dass er auf mich wenig vertrauenerweckend wirkt, insbeson dere im Hinblick auf den speziellen Gegenstand- oder die Gegenstände –, an denen ich gearbeitet habe. Ich dachte, wir wären aufgrund von Textstudien, Erinnerungen und Schlussfolgerungen übereingekommen, dass der Regenbogen rein metaphorisch gemeint war – als eine Metapher für eine Metapher der Dissimulation –, weshalb ich auf dieser Basis zehn lebendige Metaphern für Sie gezüchtet habe. Woskresen jow scheint meine Arbeit als eine Art provisorische Überbrü ckungsmaßnahme zu betrachten. Er glaubt, dass ein realer Regenbogen oder Pfauenschwanz, welcher Art auch immer, zu finden sind und auch gefunden werden. Er sagte mir, seiner Meinung nach handle es sich dabei um eine Art Schmuckstück, höchstwahrscheinlich einen Anhänger oder eine Brosche. Wo? Wann? Wie? Wer hat es? Welche ver trauenswürdigen Quellen schreiben etwas darüber? Auf diese Fragen gibt er mir natürlich keine Antwort. Trotzdem beharrt er darauf dass Sie meine Arbeit nur wollen, weil sie verderblich ist und daher ohne große Probleme eines schönen Wintermorgens ersetzt werden kann, wenn er mit seiner Kostbarkeit zur Tür hereinschneit. Zum Glück kenne ich Sie besser. Wenn ich so vermessen sein darf, Ihnen einen Rat zu geben: Behalten Sie den Mann genau im Auge. Er hat so
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etwas Unfertiges an sich, und wenn er sich auf einen Stuhl setzt, sitzt er immer viel zu weit vorn. Würde ich nach weltlichem Ruhm hungern, dann würde der Inhalt dieses Päckchens ihn mir sichern. Sie erhalten zehn einzigartige Schönheiten (rot, orange, gelb, grün, blau, indigo, violett, schwarz, weiß und durchscheinend), die mit Techniken, die ich selbst entwickelt habe, gekreuzt und be fruchtet wurden. Einige sind sehr empfindlich, sodass ich jedes Jahr Ersatz werde schicken müssen. Andere dürften uns überleben – oder hoffentlich zumindest Woskresenjow –, nachdem sie ein einziges Mal erfolgreich gepflanzt sind. Alle Blumen stammen von einem Tulpengarten ab, den die Petrossianschen Patriarchen seit fast fünfzehnhundert Jah ren pflegen. Demselben Garten, wie ich hinzufügen möchte, aus dem die Petrossians – damals persische Söldner- Blu men an den Hof von König Roger II. schickten, um ihm auf diese Weise Tribut zu zollen. Ein durchschnittlicher Mensch wird darin nur schöne Blumen sehen: Sie aber werden eine fortlaufende, lebendige und strahlende Linie aus Blütenblättern vor sich erkennen. Ich freue mich darauf, eine Bezahlung in der Höhe, in der Art und zu dem Zeitpunkt zu erhalten, wie wir es be sprochen haben. Sollten Sie je Gelegenheit finden, die Ostsee und Nordsee zu überqueren, dann biegen Sie am Ärmelka nal nach Süden ab und folgen Sie dem Nebel, der aus der Themse quillt, durch die Meadows und dann die Kopfstein pflasterstraßen bis zum Bear, von dort über die High Street und die Calx Street entlang bis zur Porter’s Lodge, und Sie werden von mir aufs Herzlichste willkommen geheißen, und ich werde Ihnen in meinem Gewächshaus Dinge zeigen, die nicht einmal Sie sich im Traum vorstellen können. DD
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GEGENSTAND 9A Ein Pergaminbeutel mit zehn ge trockneten Tulpenblütenblättern, jedes in einer an deren Farbe. GEGENSTAND 9B Der Pfauenschwanz, eine Brosche, die Valvukas, ein früher lietuvischer Kriegsherr, für seine Frau hatte anfertigen lassen. Sie schenkte sie ihrem Liebhaber, den sie nie beim Namen nannte, sondern in ihrem Tagebuch immer als den »dunklen Mann der Rätsel und Weisungen« bezeichnete. Zehn Stücke baltischen Bernsteins, zwischen 3 und 6 Zentimeter lang, von denen jedes eine andere Farbe hat (Blut, erkaltende Lava, Spätsommernachmittag, Karelia, Lippen eines Toten, Januarmittag, Wein, alles, nichts, Gott) und jedes einen einzelnen Flie genflügel enthält, in Tränenform auf einem silber nen Untergrund befestigt. Die Alchemie ersetzt und beschleunigt die Natur, Landbau und Viehzucht folgen ihr nur. Es überrascht daher nicht, dass relativ wenige Alchemisten Bestia
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rien oder Ziergärten hatten. Viele waren Herbalisten, genauso viele hielten sich Tiere als Nahrung, aber für gewöhnlich war ihre Neugier hinsichtlich Flora und Fauna eher begrenzt. Nichtsdestotrotz waren eine Pfauenfeder (deren Farbenpracht in Sagen und Märchen größer ist als an einem wirklichen Pfau) oder ein bunter Blumenstrauß immer willkommene Geschenke. Sie verweisen als Metaphern auf die Phase des Prozesses, in der die ursprüngliche Sub stanz bereits aufgebrochen und von ihrer vorherigen Gestalt gereinigt ist, aber noch nicht begonnen hat, ihre neue Form zu bilden. Sie kann dann eine Viel zahl von Farben und Formen annehmen, je nach ih rem Wesen und dem Können des Alchemisten und dessen Begabung zum effektvollen Auftritt. HERSTELLUNGSDATUM (9A): Die Tulpen blühten im Mai 1983. HERSTELLUNGSDATUM (9B): Valvukas heiratete am Tag der Sommersonnwende im Juni des Jahres 1152. Während des Tauwetters im Frühling 1155 ertränkte er seine Frau in einem Sumpf. HERSTELLER (9A): Darius Dimbledon, Universitäts professor für Botanik und leitender Tutor am Aubrey College, Oxford. HERSTELLER (9B): Al-Idrisi, Geograph von Bagdad und Palermo, nach seinem Schiffbruch Lehrer von Valvukas.
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HERKUNFTSORT (9A): Oxford, England. HERKUNFTSORT (9B): Die estnische Küste. LETZTER BEKANNTER BESITZER (9A): Professor Dimbledon schickte die Blumen zusammen mit dem oben zitierten Brief an einen sowjetischen Marine kommandanten, der für seine Exzentrik und Bildung bekannt war. Von dort wurden sie an Iwan Woskre senjow weitergeleitet, der seine Suche nach dem Pfauenschwanz trotz Dimbledons Spott fortsetzte. LETZTER BEKANNTER BESITZER (9B): Als Dimble don (unerwartet und auf eine sehr unerfreuliche Weise) starb, wurde die Brosche in seinem Nacht kästchen gefunden. Es handelte sich dabei um eines von zwei Schmuckstücken, die er nicht hätte behal ten sollen. Glücklicherweise wurde weder das eine noch das andere von der Polizei gefunden. GESCHÄTZTER WERT (9A): Zu vernachlässigen. Et wa 7 Cent für den Beutel, weniger für seinen Inhalt. GESCHÄTZTER WERT (9B): Die wenigen, die von der Existenz der Brosche wissen – nicht so wenige, wie Dimbledon in seinem Brief behauptete, aber auch nicht schrecklich viele – würden ohne weiteres 250.000 Dollar dafür bezahlen. Bernstein von solcher Klarheit und Vielfalt in der Farbe, von einem so be rühmten Handwerker zu einem einzigen Stück ver arbeitet, kann einen Preis von schwindelerregender Höhe erzielen.
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Und steigt wieder herab zu der Erde, um die Macht der höheren und niederen Wesen zu empfangen.
Während Jadid und Gomes in ihre Mäntel schlüpften und die Treppe des Polizeireviers hinuntergingen, zankten sie sich wie ein altes Ehepaar. Gomes zog Joe wegen seiner Kleidung auf und nannte seinen Stil »neo-obdachlos«. Dafür riss Joe Gomes den Au toschlüssel aus der Hand und erklärte mir, dass sein Kollege fahre, als würde er ständig überlegen, ob er sich selbst einen Strafzettel wegen zu schnellen Fah rens ausstellen sollte. Joe riet mir noch einmal, vor sichtig zu sein. Gomes wies ihn darauf hin, dass ich selbst auf mich aufpassen könne, riet mir anschlie ßend aber ebenfalls zur Vorsicht. Ich dankte ihnen noch einmal für ihre Hilfe, worauf mir Gomes ach selzuckend antwortete: »Im Fernsehen sieht man immer nur die Highlights. Im wirklichen Leben sind interessante Fälle ziemlich dünn gesät. Wenn doch mal einer des Weges kommt, dann sprinten wir sofort los, um ja nichts zu verpassen.« Ich marschierte in die Allen Avenue hinüber, um für Hannah und mich etwas zu essen zu kaufen. Ich hatte mir vorgenommen, sie mit meinen Kochküns ten zu beeindrucken, obwohl diese sich eigentlich darauf beschränkten, Wasser zu kochen und Sauce
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über Pasta zu schütten. Am College hatte ich, als ich eines Abends sehr betrunken und hungrig war, ein Toast-Sandwich erfunden – ein getoastetes Stück Brot zwischen zwei ungetoasteten, abgerundet mit Butter und Ketchup. Zum Glück hält die Allen Ave nue für ehrgeizige Schussel wie mich alles Nötige bereit. Die Meinungen darüber gehen auseinander, wann und ob die Gegend rund um die Allen Avenue in Wickendener Viertel Carroll Hill aus einer echten italienisch-amerikanischen Enklave in eine bloße Ansammlung von italienischen Lebensmittelläden, Weinläden und Klugschwätzer-Restaurants abge kippt ist, die hauptsächlich Touristen und die Be wohner anderer Stadtteile bedienen. Würde man aufs Geratewohl jemand Alteingesessenen – jeman den aus der immer kleiner werdenden Schar von Leuten, die bereits in der zweiten oder dritten Gene ration in Carroll Hill wohnen – zu diesem Thema befragen, dann würde man mit ebenso großer Wahr scheinlichkeit klagende Worte zu hören bekommen wie Stimmen, die das Viertel verteidigen. Fragt man irgendeinen anderen Bewohner Wickendens, wird er wahrscheinlich antworten, dass die Gegend früher, in seiner Kindheit, wirklich etwas Besonderes gewesen sei, dass sich jetzt aber nur noch Fans von roter Sau ce und Lackaffen dort herumtrieben. Ich selbst zählte mich eher zu den Fans der roten Sauce, was auch der Grund war, warum ich kurz dar auf in Ciavetti’s Pork Store stand und frische Arrabbiata-Sauce, italienische Wurst, Ravioli mit einer Füllung aus frischem, gesalzenem Mozzarella, zwei
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Hand voll Basilikum und zwei Flaschen Montepulci ano kaufte. »Kaufen Sie für ein Mädchen ein?«, fragte die alte Dame hinter der Theke mit glänzenden Augen und dem leisen Lächeln einer verblühten Schönheit. »Ja«, antwortete ich stolz. »Das sieht man. Sie gehen so schwungvoll, und Sie haben dieses Leuchten in den Augen. Kochen Sie das für sie, ganz einfach, ohne großen Aufwand, und sie wird Sie für immer lieben.« »Paul?«, rief eine vertraute Stimme aus einem Fenster über meinem Wagen. »Was machst du denn hier?« Ich blickte hoch und sah Mia an einem Erkerfens ter stehen, das aus dem Dach des himmelblauen Hauses herausragte. Sie hatte ihr Haar mit einem Gummiband zurückgebunden und einen Bleistift hineingeschoben, wie sie es immer tat, wenn sie ar beitete. Sie trug ein Wickenden-Sweatshirt und ihre Brille, die sie nur zu Hause aufsetzte. »Hallo!«, ant wortete ich. »Seit wann wohnst du denn hier unten?« »Seit das Haus, in dem ich vorher gewohnt habe, verkauft worden ist. Der neue Besitzer hat die Front gestrichen und dann die Miete verdoppelt, deswegen sind wir alle ausgezogen. Warte eine Sekunde, ich komme schnell runter.« »Ich habe gar nicht viel …« Aber sie hatte das Fenster schon geschlossen. Ich versuchte, möglichst cool zu wirken, indem ich mich lässig gegen meinen Wagen lehnte, sah aber im Seitenspiegel, dass es mir lediglich gelungen war, schläfrig auszusehen oder so, als bräuchte ich eine Brille.
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Die Haustür ging auf, und Mia trat mit einer schnellen, fließenden Bewegung heraus, genauso wie sie sich immer bewegte. Sie blickte an ihrem Jog ginganzug hinunter und zuckte die Achseln. »Ar beitsklamotten. Ich sitze schon seit fünf Stunden da oben und schreibe vor mich hin. Witzig, dass ich beim ersten Blick aus dem Fenster ausgerechnet Paul Tomm vor meinem Haus in sein Auto steigen sehe. Das ist entweder ein ganz großer Zufall, oder du verfolgst mich.« Sie sprach mit der übergenauen Aussprache und perfekten Intonation eines Einwan dererkindes und musterte mich mit jenem prüfen den, halb koketten, halb provokanten Blick, an den ich mich noch so gut erinnern konnte. »Bild dir bloß nichts ein.« Lachend streckte ich die Arme aus, um sie zu begrüßen. »Du siehst groß artig aus.« »Paul, ich lese seit sechs Uhr morgens deutsche Zeitungen. Ich trage einen viel zu großen Joggingan zug und eine Brille, und ich bin sieben Pfund schwe rer als bei unserem letzten Treffen. Ich bin seit Wo chen kaum noch aus dem Haus gekommen. Ich sehe fürchterlich aus. Aber du dafür recht gut. Was treibst du denn so?« »Ich bin bloß in der Stadt, weil ich an einem Arti kel arbeite. Ob du es glaubst oder nicht.« »Natürlich glaube ich es. Worum geht’s denn da bei?« »Professor Pühapäev. Er ist gestorben.« »Stimmt. Er hat ja da gewohnt, wo du arbeitest. Hier kursiert das Gerücht, er sei ermordet worden.« »Wirklich? Wie denn das?«
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»Tja, wie entsteht ein Gerücht? Ich habe es von einem Typen in meinem Lübeck-Seminar gehört, der es von jemand anderem gehört hat, der es von wieder jemand anderem gehört hat, blablabla.« Sie zog den Stift aus ihrem Haar und schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht so recht, ob es eine kokette Geste war oder ob ihre Kopfhaut einfach frische Luft brauchte. »Es könnte sogar stimmen.« »Wirklich?« Sie ließ sich auf der Haustreppe nie der und zog an meinem Ärmel, bis ich mich neben sie setzte. »Es macht mich nervös, wenn du stehst. Du meinst, er ist wirklich umgebracht worden?« »Naja, wir sind nicht sicher.« Sofort schimpfte ich innerlich mit mir selbst, weil ich dieses angeberische »wir« benutzt hatte. »Ich habe gerade mit der hiesi gen Polizei über ihn gesprochen. Weißt du, wer der Polizist ist, der mir hauptsächlich hilft? Rate mal!« »Ich weiß es nicht, Paulie.« »Na los, rate. Rate, rate, rate!« Ich begleitete jede Aufforderung, indem ich ihr in den Arm stupste. Ir gendwie war es richtig nett, sie wiederzusehen. »Ich weiß nicht. Inspektor Lestrade?« »Nein.« »Auguste Dupin?« »Wieder falsch. Obwohl mir der Name bekannt vorkommt. Ich bin fast sicher, dass ich weiß, wer Au guste Dupin ist.« »Das solltest du auch, aber sagst du mir jetzt bitte, wen du meinst?« »Du gibst mir das Gefühl, als würde ich immer nur die Hälfte mitbekommen, weißt du das eigent
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lich? Was irgendwie charmant ist, wenn auch auf eine masochistische Weise.« Sie schüttelte den Kopf, sah demonstrativ mit ernster Miene in eine andere Richtung, konnte sich aber ein Lächeln kaum verkneifen. »Dann eben nicht, es interessiert mich sowieso nicht.« »Joe Jadid. Der Neffe des großen Meisters.« Sie schlug lachend eine Hand vor den Mund. »Ich fasse es nicht! Obwohl, warte, ich fasse es doch. Eigent lich ist er ja ein Faschist. Das passt genau ins Bild.« »Er ist kein Faschist.« »Doch, ist er, und du bist auch einer. Faschist!« Sie streckte mir die Zunge raus. Ich zuckte die Achseln und hob kapitulierend die Hände. Diskussionen mit Mia – selbst wenn sie auf einer so kindischen Ebene begannen – entwickelten sich meist sehr schnell und auf unberechenbare Wei se zu Streitgesprächen der heftigeren Art. Erst disku tierten wir noch darüber, ob wir lieber vor oder nach dem Film zu Abend essen sollten, und dann machte sie mich plötzlich für die steigenden Häftlingszahlen im Land verantwortlich. Da war es besser, offenkun dig zu kapitulieren und sich seinen Teil zu denken. »Wie läuft’s denn mit deiner Abschlussarbeit?« »Sehr gut. Langsam, aber sehr gut. In den nächs ten fünf Monaten wird sich mein ganzes Leben in dem Zimmer da oben abspielen. Ich fahre nicht mal über Weihnachten nach Hause.« »Was passiert danach?« »Nach Weihnachten?« »Nein, wenn du mit der Diplomarbeit fertig bist. Die gefürchtete Frage: Wie geht’s weiter?«
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»Mal sehen. Ich habe mich um ein paar noble englische Stipendien beworben, und wenn ich eines bekomme, düse ich ab nach England. Ansonsten wird es wohl auf Jura hinauslaufen.« »Und dann die Weltherrschaft?« »Und dann die Weltherrschaft. Ich werde einen Propagandaminister brauchen. Interesse?« »Schon möglich.« »Und wie sehen deine weiteren Pläne aus?« »Vielleicht bekomme ich nach dieser Story einen Job in Boston. Beim Reader.« »Wow! Gut gemacht. Ich bin beeindruckt, aber nicht überrascht. Diese Art Job erscheint mir genau richtig für jemanden wie dich.« »Was soll das heißen, jemanden wie mich?« »Ich weiß auch nicht … Du bist wissbegierig, aber ohne starke Persönlichkeit. Politisch gemäßigt. Privat gemäßigt. Durch und durch gemäßigt. Manchmal bist du mir vorgekommen wie ein Schwamm. Du hast nur dagesessen und mir zugehört, ohne etwas zurückzugeben. Ich schätze, diese Eigenschaft macht dich zu einem guten Reporter. Zu einem beschisse nen Freund, aber zu einem guten Reporter.« Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir dieses The ma schon oft genug diskutiert hatten. Nun ja. Sie lächelte mich von der Seite an, um zu sehen, ob ich beleidigt war. Ich war es nicht. »Vielen Dank. Gibt es inzwischen eigentlich je mand anderen? Einen, der nicht so viel Ähnlichkeit mit einem Schwamm hat?« »Ja, meinen Computer.« Sie starrte mich an. Ich machte mich auf irgendeine Attacke gefasst, aber sie
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überlegte es sich anders. »Dafür habe ich im Mo ment wirklich keine Zeit, mit der Diplomarbeit und alldem. Außerdem, wer weiß, wo ich in sechs Mona ten sein werde? Und was ist mit dir?« »Naja, irgendwie schon.« »Irgendwie schon? Wer ist sie?« »Sie unterrichtet Musik. Ihr Name ist Hannah.« Mia nickte. Ihr Lächeln wirkte ein wenig verknif fen. Ich hoffte, sie würde weniger über Hannah wis sen wollen, als ich über sie erzählen wollte. »Ist das da in der Tüte für sie?« Sie streckte die Hand aus und spähte hinein. »Riecht gut.« »Aus der Allen Avenue. Ich koche heute für uns.«
»Du kannst doch gar nicht kochen. Ich weiß, dass du nicht kochen kannst.« Sie zog die Pasta heraus und musterte mich prüfend. »Hast du kochen ge lernt?« »Ja, vielleicht. Hör zu, ich muss los. Es ist ein ganz schönes Stück zu fahren, und ich möchte hier nicht im Berufsverkehr stecken bleiben.« »O ja, das sind zwei harte Häuserblocks, nicht wahr? Du solltest dich mal hören! Ein New Yorker, der sich über den Berufsverkehr in Wickenden be klagt. Aber es war nett, dich zu treffen.« Nachdem sie die Pasta zurück in die Tüte geschoben hatte, stand sie auf und klopfte ein paar Farbflocken und kleine Zweige von der Hinterseite ihrer Jogginghose. »Bist du in nächster Zeit öfter in der Stadt?« »Ich weiß noch nicht. Warum?« »Wenn du in der Gegend bist, dann schau doch vorbei.« »Gern.« Das war zu siebzig Prozent ein leeres
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Versprechen, wenn auch in bester Absicht geäußert. Falls das irgendetwas zählt. Nein, wahrscheinlich eher nicht. »Ich werde die nächsten fünf Monate dort oben an meinem Schreibtisch sitzen, gleich neben dem Fens ter. Du kannst Kieselsteine raufwerfen oder so was in der Art.« Sie lehnte sich vor und küsste mich auf die Wange. »War schön, dich wiederzusehen, Paul. Das mit dem ›beschissenen Freund‹ tut mir Leid.« »Es braucht dir nicht Leid zu tun. Ich versuche ja, mich zu bessern.« »Ich weiß. Das hast du immer versucht. Eine charmante Eigenschaft von dir. Aber werd jetzt bloß nicht gleich größenwahnsinnig.« »Ich hab mich auch gefreut, dich zu sehen, Mee. Viel Glück mit den Deutschen.« Sie verabschiedete sich mit der Parodie eines Hitlergrußes und ver schwand dann kichernd im Haus. Es war genau das richtige Gespräch mit einer Ex gewesen: Prickelnd genug, um hin und wieder einen kleinen Rest von nervösem Flattern zu erzeugen, aber zugleich unver bindlich genug, um nicht zu Problemen Anlass zu geben. Lange genug, damit einiges offen blieb, aber nicht so lange, dass einer von uns beiden auf dumme Ideen kommen konnte. Insgesamt recht ungezwun gen, vielleicht ein wenig oberflächlich und unauf richtig, aber gegen Ende herzlich und ernst. Aber doch nicht so ernst, dass einer von uns die Messer wetzen musste. Ich hatte mit Sticheleien gerechnet, sie hatte mir den Gefallen getan und ein bisschen gestichelt, und nun, da ich mich auf den Heimweg machte, hatte ich fast das Gefühl, sie zu vermissen.
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Als ich an meinen Wagen trat, sah ich, dass mir jemand ein Tuch in den Farben der portugiesischen Flagge an die Antenne geklebt hatte. Ich schrieb »Danke« auf die rote Hälfte und schob es durch den Briefschlitz des Clubs der portugiesischen Männer. Dieses Mal parkte ich direkt vor Hannahs Haus, weil ich davon ausging, dass Mrs. DeSouza im Mo ment genauso wenig mit mir reden wollte wie ich mit ihr. Der Gedanke an sie verursachte mir schon wie der ein schlechtes Gewissen, obwohl ich mir sagte, dass es nichts brachte, sich über Dinge, die nicht mehr zu ändern waren, den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem fühlte ich mich weiter so schuldig, wie es nur eine jüdisch-katholischkalvinistische Promena denmischung kann. Dabei schuldete sie mir genauso eine Entschuldigung wie ich ihr, sagte ich mir, wäh rend ich – schon wieder halb schleichend – zu Han nahs Eingang eilte. Durchs Fenster sah ich Hannah vor dem Klavier sitzen. Seltsamerweise war ihr Blick nicht auf das In strument, sondern auf die Couch gerichtet, und sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und den Kopf leicht geneigt, als würde sie jemandem zuhören, der sehr leise sprach. Ihr grundsätzlich recht gelassener, zufriedener Gesichtsausdruck hatte sich zu einem aufmerksamen, fast schon seligen Lächeln gesteigert – ihre grauen Augen, die gerade besonders leuchteten, waren von Lachfältchen umgeben, ihr Mund leicht geöffnet –, als wollte sie ihrem Gegenüber zeigen, wie sehr sie genoss und glaubte, was er oder sie ihr erzähl te. Für drei reicht das Essen nicht, dachte ich höchst unchristlich, während ich an ihre Tür klopfte.
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Sie öffnete sie zögernd und begrüßte mich mit ei nem gequälten Lächeln. Ich lehnte mich vor, um sie zu küssen, aber sie stemmte die Hand gegen meine Brust, drehte mit fest zusammengepressten Lippen den Kopf zur Seite und brummte dabei ablehnend. Während ich verwirrt einen Schritt zurückwich, machte sie die Tür ganz auf und bat mich herein. Auf ihrer Couch saß, mit einer Tasse Tee auf dem Schoß, ein bärtiger alter Mann mit markanten Ge sichtszügen: der Mann aus dem Trout. Er sah mir mit freundlicher, offener Miene entgegen. »Paul, das ist Jaans Bruder, Tonu.« Er erhob sich wackelig, um mich zu begrüßen, und keuchte dabei vor Anstrengung, drückte meine Hand dann aber mit erstaunlich viel Kraft. Seine Hand fühlte sich an, als bestünde sie nur aus Schwielen und knubbeligen Knochen. Mit seinen wachsamen hellblauen Augen, der ausgeprägten Adlernase und dem struppigen Bart, der fast wie eine Erweiterung seines zotteligen weißen Haars wirkte, sah er aus wie eine Mischung aus einem Löwen und einem Vogel. »Sie sind Paul?«, fragte er mit dröhnender Stimme und starkem Akzent. Ein Geruch nach Alter und Pfeifenrauch schlug mir entgegen. »Mein Name ist Tonu Pühapäev. Ihre Freundin und ich haben gera de eine Art Gedenkstunde – eine kleine Totenwa che, könnte man sagen – für meinen armen jüngeren Bruder abgehalten.« »Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich wusste gar nicht, dass Jaan noch Verwandte hatte.« »O doch. O doch. Natürlich nicht viele, und in zwischen nur noch mich. Zwei alte Männer.« Mit
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einem abwesenden Lächeln klopfte er auf die Ta schen seiner weiten Kordhose und holte eine kurze braune Pfeife, ein Päckchen Shipman-Tabak und eine Schachtel Streichhölzer heraus. »Sie haben meinen Bruder auch gekannt?« Mir fiel auf, dass sein Bart rund um seinen Mund leicht gelblich wirkte. Erst nach drei Versuchen gelang es ihm, ein Zünd holz zum Brennen zu bringen. Nachdem er seine Pfeife angezündet hatte, nahm er genauso vorsichtig und zögernd wieder Platz, wie er zuvor aufgestanden war. Neben ihm lehnte ein knorriger MahagoniGehstock mit einem runden Silberknauf und einer breiten schwarzen Gummispitze. »Nein, leider habe ich ihn nie kennen gelernt. Was ich sehr bedaure.« »Paul ist der Reporter, von dem ich Ihnen erzählt habe«, erklärte Hannah. »Er schreibt für unser Lo kalblatt einen Nachruf auf Jaan.« Ich fragte mich mal wieder, ob es moralisch vertretbar war, andere Men schen hinters Licht zu führen, indem man ihnen nur die halbe Wahrheit erzählte: Hannah wusste doch – oder etwa nicht? –, dass es längst nicht mehr nur um einen Nachruf ging. Vielleicht hätte ich sie korrigiert (vielleicht aber auch nicht), wenn Tonu nicht gleich den Faden aufgenommen hätte. »Ach ja, das haben Sie mir erzählt. Mein Ge dächtnis, müssen Sie wissen … es ist nicht mehr so gut. Das ist ein wunderbarer Brauch, und es freut mich sehr, dass Sie das machen. Wann druckt die Zeitung denn Ihren Nachruf?« »Noch lange nicht, hoffe ich.« Mein Witz schlug ein wie ein Furz in der Kirche: Wahrscheinlich war es
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tatsächlich nicht besonders witzig, einen alten Esten wegen seines zweideutigen Pronomengebrauchs auf zuziehen. Hannah machte ein missbilligendes Ge sicht, während Tonu mich nur verwirrt und erwar tungsvoll ansah. »Tut mir Leid, das war nur ein Scherz. Es steht noch nicht fest, wann wir den Arti kel bringen werden.« Ich dachte mir, nachdem er schon mal da war, warum nicht? »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen über Ihren Bruder stelle?« »Nein, natürlich nicht, aber Sie müssen wissen, dass mir da oben schon vieles verloren gegangen ist.« Er tippte an die Schläfe und lächelte entschuldigend. »Außerdem lebte Jaanja schon so lange in Amerika, dass ich einiges vielleicht gar nicht weiß. Aber bitte, fragen Sie nur.« »Danke.« Ich ließ mich auf meinem üblichen Stuhl neben dem Tisch nieder, den ich bei meinem ersten Besuch umgestoßen hatte, holte mein Notiz buch heraus und lächelte dabei so harmlos wie mög lich. »Könnten Sie mir vielleicht als Erstes Jaans Ge burtsdatum nennen?« »Wissen Sie, auf dem Bauernhof, wo wir beide zur Welt gekommen sind, gab es damals noch nicht diese Kalender wie heute. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich sechs Jahre älter bin als Jaan, und ich glaube, dass er im Winter auf die Welt gekommen ist, aber wann genau? Das weiß kein Mensch.« »Aber als Estland ein Teil der Sowjetunion war, brauchte da nicht jeder irgendwelche offiziellen Do kumente? Und um hierher zu kommen, brauchte er ja auch einen Pass, oder?«
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»Ja, Sie haben Recht, natürlich brauchten wir die sen ganzen Müll, natürlich, aber für diese Papiere haben wir damals einfach etwas erfunden. Irgendet was, was sich gut anhörte. Zu Hause habe ich noch einen alten Pass von Jaan. Vielleicht auch zwei. Es gibt ein russisches Sprichwort: ›Ohne ein kleines Stück Papier, was bist du da? Mit einem kleinen Stück Papier bist du ein Mann.‹« Er lachte, setzte sich ein wenig anders hin und zog an seiner Pfeife, bis seine blauen Augen orange leuchteten, als wür den sie von innen heraus glühen. »Was haben Sie denn als Ihr Geburtsdatum ange geben?« »Ich? Ha! Was für ein kluger Reporter. Ich habe mich für den siebten November 1917 entschieden.«
»Warum ausgerechnet für dieses Datum?« »Ha! Das war vielleicht weniger klug. Es war ein sehr patriotischer Sowjettag, und ich wollte damit zeigen, dass ich ein patriotischer Sowjetmensch war. Natürlich war kein Este wirklich ein sowjetischer Patriot, aber wie gesagt, man musste es nur zeigen, nicht wirklich sein. Wissen Sie über die große sozia listische Oktoberrevolution Bescheid? In Wirklich keit fand sie im November statt! Ha! Lenins neuer Kalender – er führte ihn gleich nach der Revolution ein: dreißig Tage pro Monat, zwölf Monate im Jahr, zusätzlich fünf Extra-Tage als nationale Feiertage, außerhalb des Kalenders: sehr rational, sehr antireli giös, antibourgeois, antikonterrevolutionär. Und nach diesem neuen Kalender, den Lenin für unser neues sozialistisches Arbeiterparadies machte, war die Ok toberrevolution am siebten November.«
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»Aber reden die Leute nicht immer noch vom Ro ten Oktober?« »Ja, ja!« Er beugte sich aufgeregt vor und ver streute dabei Tabakasche über seinen blauen Pullo ver. »Natürlich. Typisch sowjetisch. Sie ersetzten die Siebentagewoche durch eine Fünftagewoche – Wo chenenden waren natürlich nur etwas für kapitalisti sche Faulpelze – und machten jeweils einen von die sen fünf Tagen zu einem Tag der Ruhe für ein Fünf tel der Bevölkerung. An alle Bürger wurden farbige Papierstreifen ausgegeben – sehen Sie, schon wieder ein Beispiel für die russische Vorliebe für Papierstü cke –, sodass ein Ehepaar an unterschiedlichen Ta gen frei hatte, wenn der Mann, sagen wir mal, Instal lateur war und die Frau Lehrerin. Alles, um für eine fortlaufende Produktion zu sorgen und es den Leu ten unmöglich zu machen, die alten Feiertage zu feiern, die selbstverständlich religiöse Feiertage wa ren. Aber natürlich sorgte das nur für Chaos! Nie mand wusste mehr, wann er arbeiten sollte und wann nicht. Alle hatten das Gefühl, dass alle anderen frei hatten, während sie als Einzige arbeiten mussten. Die Familien konnten nichts mehr gemeinsam un ternehmen. Deswegen versuchten sie es mit einer Sechstagewoche, aber es funktionierte immer noch nicht. Während des Krieges kehrten sie dann zur normalen Woche zurück. Angeblich, um die Moral zu stärken. Als Geschenk des großen Führers an sein Volk. Lächerlich. Albern.« Seine Schimpfkanonade schien vorüber zu sein, er wurde sichtlich ruhiger und paffte wieder genüsslich seine Pfeife. Dabei ließ er in regelmäßigen Abständen kleine Rauchwolken
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aufsteigen – wie eine Fabrik, die gerade den Betrieb einstellte. »So viel zu meinem Geburtstag. Dann können Sie bei Jaan 1923 schreiben, oder?« »Das wird leider nicht gehen, fürchte ich. Ich bräuchte ein offizielles Datum. Sonst muss ich schreiben, dass sein Geburtsdatum nicht bekannt ist.« »Ja. Ganz, wie Sie meinen«, antwortete er achsel zuckend und wiegte dabei den Kopf hin und her. »Was möchten Sie denn sonst noch wissen?« »Wo wurde er geboren?« »Ah, das kann ich Ihnen genau sagen. Er ist auf dem Bauernhof meiner Familie auf die Welt ge kommen, in der Nähe der estnischen Stadt Paide. Wissen Sie, wie man das schreibt?« »Das schlage ich nach.« Ich hatte keine Ahnung, wo das war, ging aber davon aus, dass es nichts scha den konnte, ein bisschen journalistische Integrität zu heucheln. »Sind Sie sein einziger noch lebender Verwandter?« »Ja. Er hatte nur noch mich. Sonst niemanden.« Er musste lachen und kratzte sich am Kopf. »Er war nie verheiratet, und ich auch nicht. Es gab nur uns beide.« Hannah hatte sich noch immer nicht hingesetzt, sondern stand noch genauso erwartungsvoll da wie zu Anfang – sie verfolgte unser Gespräch, als würde sie hoffen, dass es bald endete, lachte, wenn Tonu lach te und schenkte ihm Tee nach, wenn er ausgetrun ken hatte. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, schien sie sich in ihrer Haut ganz und gar nicht wohl
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zu fühlen. Ihr angespannter, wachsamer Ge sichtsausdruck ließ sie sorgenvoll und nervös wirken. »Können Sie mir vielleicht noch sagen«, wandte ich mich wieder an Tonu, »wovon Ihr Bruder gelebt hat?« »Paul, das ist eine sehr unhöfliche Frage. Er war doch Professor!«, wies Hannah mich in scharfem Ton zurecht. »Nein, nein, schon in Ordnung«, beschwichtigte Tonu sie. »Er ist schließlich Reporter, da muss er unhöfliche Fragen stellen.« Dabei sah er mich an und zog spöttisch die Augenbrauen hoch, als wollte er auf diese Weise unterstreichen, dass er bei unse rem Gespräch die Oberhand behielt. Er legte seinen Gehstock quer über seinen Schoß und rollte den Knauf über seinen Oberschenkel. »Der Bauernhof unserer Familie war kollektiviert worden, aber da es sich um eine so kleine Stadt handelte, waren alle Arbeiter Cousins, alte Freunde, Enkel und Urenkel von Leuten, die schon seit Jahrhunderten auf diesem Hof arbeiteten, eine Generation auf die nächste. Als die Russen dann gingen, gehörte der Bauernhof wie der der Familie. Und da ich der älteste Sohn bin, wurde es mein Bauernhof. Es lief alles sehr gut, und heute bin ich einer der größten Milchbauern in den baltischen Staaten. Ich führe ein einfaches Leben: Ich mache meine Arbeit, gehe spazieren und lese. Jaanja war immer gern unterwegs, und es war immer sein Wunsch gewesen, in Amerika zu lehren. Als es dann schließlich möglich wurde, habe ich ihm gege ben, was er brauchte.« »Er hatte Glück, einen so fürsorglichen Bruder zu
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haben. Demnach haben Sie nicht nur seinen Le bensunterhalt bestritten, sondern es ihm zusätzlich ermöglicht, der Universität jedes Jahr eine größere Summe zu spenden?« Bei dieser Frage sog Tonu hörbar die Luft ein. »Ja. Für mich war das kein Problem. Jaanja wollte unbedingt etwas für diese wundervolle Universität tun.« »Sie ist wirklich wundervoll. Ich habe dort stu diert.« »Ah, ja, sehen Sie? Es ist eine Universität, die aus ihren Studenten so gute Zeitungsreporter macht. Nun wissen Sie, warum er unbedingt das Geld spen den wollte.« Ich zögerte einen Moment, ehe ich meine nächste Frage stellte. Aus Hannahs Miene sprach nun nicht mehr Unbehagen, sondern Argwohn, und als ich zu ihr hochsah, gab sie mir mit ihrem Blick und einem leichten Nicken unauffällig, aber eindeutig zu ver stehen, dass ich meine Befragung beenden sollte. Oder mein Interview. Was auch immer ich da gerade führte. Aber ich hatte sowieso nur noch diese eine Frage. »Haben Sie zusätzlich zum Lebensunterhalt Ihres Bruders auch einmal einen Anwalt für ihn be zahlt?« Für einen kurzen Augenblick ließ er die Maske des liebenswürdigen, komischen alten Kauzes fallen und musterte mich voller Abscheu. In dem Moment fiel mir wieder ein, wo ich ihn das erste Mal gesehen hatte: im Lone Wolf. Er war der alte Typ, der allein am Ende der Bar gesessen und als Einziger der Männer überhaupt nichts gesagt hatte. Nun wusste
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er, dass ich wusste, dass mit seinem Bruder irgend etwas nicht gestimmt hatte: dass er mehr gewesen war, als er zu sein vorgab. Die durchdringende Schär fe, die in seinem Blick lag, sagte mir, dass er wusste, dass ich es wusste. Einen Moment später hatte er sich wieder im Griff. Er verzog den Mund zu einem leeren Grinsen, kratzte sich geistesabwesend am Oberschenkel und tat recht erstaunt: »Einen Anwalt? Was Jaanja mit seinem Geld gemacht hat, weiß ich nicht. Aber warum fragen Sie mich das?« »Nun ja, jemand aus dem Institut für Geschichte hat mir erzählt, er sei mit dem Gesetz in Konflikt geraten.« »Paul!« Hannahs Ton klang so scharf, dass ich er schrocken zusammenfuhr. »Tonu ist den weiten Weg von Estland hergekommen, um die Leiche sei nes Bruders nach Hause zu holen, und nicht, um von irgendwelchen Problemen zu hören, die er vielleicht hatte. Spielt das alles jetzt wirklich noch eine Rolle?« »Es ist mein Job, in solchen Dingen neugierig zu sein. Und ja, es spielt möglicherweise sogar eine gro ße Rolle, weil …« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, unterbrach mich Tonu, der sich mithilfe seines Stocks langsam erhob. »Ich glaube, ich habe Ihnen alles gesagt, was Sie wissen müssen. Für einen alten Mann wie mich wird es nun langsam Zeit, mich in mein behagliches kleines Zimmer zurückzuziehen.« Hannah reichte ihm seinen Mantel und seinen Hut. »Kommen Sie zurecht? Wo werden Sie zu Abend essen?« »Ich glaube, ganz in der Nähe meiner Pension ist
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ein kleines Gasthaus. Ich werde amerikanische Hamburger essen und auf einer von euren Musikbo xen Elvis Presley hören und dann in meinem großen amerikanischen Bett schlafen.« »Ich glaube nicht, dass Sie im Lone Wolf etwas zu essen bekommen werden«, sagte ich aufs Gerate wohl. Er war gerade dabei, in seinen Mantel zu schlüp fen, hielt mitten in der Bewegung einen Moment inne und stieß dann ungeduldig die Luft aus, ehe er mir antwortete: »Nein, dort, wo Sie mich das erste Mal gesehen haben, gibt es nichts zu essen.« Er musterte mich eindringlich. »Aber da es Sie so zu interessieren scheint, kann ich Ihnen gern sagen, warum ich dort war, auch wenn Sie mich nicht da nach gefragt haben: Jaanja hatte in seinen Briefen davon erzählt, und ich wollte ein Gefühl für das amerikanische Leben meines Bruders bekommen, deswegen bin ich auf einen Nachmittagsbrandy hin gefahren. Trotzdem verstehe ich nicht, was das im Nachruf meines Bruders zu suchen hat. Falls Sie tatsächlich vorhaben, etwas Derartiges zu veröffent lichen, würde ich Sie bitten, es bald zu tun. Ich möchte Sie außerdem bitten, dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen und nichts Schlechtes über ihn zu schreiben.« Er küsste Hannah auf beide Wangen und wünsch te ihr anschließend mit einer höflichen Verbeugung eine gute Nacht. Für mich hatte er nur noch ein un freundliches Brummen übrig, dann wankte er zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg zur Vorder seite des Hauses.
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Ich wappnete mich, dass Hannah mir gleich fürch terlich den Kopf waschen würde, weil ich ihren Gast mit meinen pietätlosen Fragen beleidigt hatte – und darüber hinaus wahrscheinlich noch alles mögliche andere getan oder unterlassen hatte, wovon ich noch gar nichts ahnte. Stattdessen schloss sie nur die Tür hinter ihm und lehnte sich dann mit geschlossenen Augen gegen den Türrahmen. Ich hatte fast den Eindruck, dass sie weinte. Ich spürte, wie ihre Mauer der Zurückhal tung und Beherrschtheit bröckelte und einstürzte, und als sie den Kopf hob, sah ich, wie krampfhaft sie sich bemühte, diese Mauer so schnell wie möglich neu zu errichten. Nach einer Weile drehte sie sich zu mir um und brachte sogar schon wieder ein Lächeln zustande, aber es wirkte noch sehr unsicher und brü chig. »Oh, Paul. Was für ein Schlamassel.« »Wie meinst du das?« »Ach … ich weiß auch nicht. Du hast doch be stimmt Hamlet gelesen, oder?« »Klar.« »Ich habe am College mal die Ophelia gespielt. Damals habe ich ein ganzes Jahr lang praktisch in diesem Stück gelebt. Kannst du dich an die einzel nen Textstellen erinnern?« »Ich fürchte, nein. Welche meinst du?« »Die Rede des Schauspielers, der den König spielt?« Sie nahm meine Hand, verschränkte ihre Finger mit den meinen, ließ sie wieder los. Ich nick te unsicher. Sie wirkte ernst, um Jahre gealtert, müde und sorgenvoll: Ihre sonst so leuchtenden Augen flackerten fiebrig, und ihr Gesicht erschien mir plötz
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lich sehr bleich und eingefallen, als wäre sie krank.
»Kannst du dich an das Ende der Rede erinnern?« »Nein, tut mir Leid.« »›Will und Geschick sind stets in Streit befangen. Was wir ersinnen, ist des Zufalls Spiel, nur der Ge dank ist unser, nicht sein Ziel.‹« »Ich weiß nicht … Was ist los, Hannah? Möchtest du dich setzen? Ich habe Wein und etwas zu essen dabei, falls du Hunger hast. Was ist mit dir?« »Woher wissen wir, wann wir richtig gehandelt haben und wann nur unsere Absicht, nicht aber das Ergebnis unseres Handelns richtig war?« Sie ballte einen Moment die Fäuste, dann schlug sie die Hän de vors Gesicht. Als sie nach einer Weile den Kopf hob, war sie plötzlich wieder ganz die alte Hannah. Sie schlug vor, zu mir zu fahren, damit ich in meiner gewohnten Umgebung für sie kochen konnte. »Gern«, stimmte ich zu. »Aber nur, wenn du dich wirklich wieder besser fühlst.« »Es geht mir gut. Wirklich. Ich glaube, ich habe nur Hunger. Außerdem hat mir das Gespräch mit Tonu bewusst gemacht, dass Jaan wirklich nicht mehr da ist und dass er mir fehlt.« »Und sonst ist nichts? Hannah, ich mache mir Sorgen um dich. Heute Morgen habe ich …« Sie beugte sich vor und küsste mich. Dann ließ sie eine Hand über meine Wange und meinen Hals glei ten. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mir in die Augen. »Merk dir das: Du brauchst dir um mich niemals Sorgen zu machen.« Sie nötigte mich zu ei
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nem Nicken, indem sie meinen Kopf auf und ab be wegte. Dann ließ sie mich los und hakte sich bei mir unter. »Sollen wir aufbrechen? Ich kenne deine Wohnung noch gar nicht, und ich habe Hunger. Ich habe gar nicht gewusst, dass du kochen kannst.« »Ich bin mir da selbst auch nicht so sicher. ›Nur die Zutaten sind mein, nicht ihr Ziel.‹ Ich fürchte, der Rest ist des Zufalls Spiel.«
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Die Käfige des Kaghan (Feuer)
D Das innere Feuer ist die göttliche Liebe. Das musste ich feststellen, nachdem ich mir die Hand an einer Erscheinungsform des äußeren Feuers verbrannt hatte, als ich versuchte, meine Pfeife anzuzünden, während ich mit dem Kopf nach unten von einem Dachbalken hing. D C. MORTMAIND Nicht allein der Drache
»Von dem arabischen Wort ashk, das ›Liebe‹ bedeu tet. Das hier ist die Stadt der Liebe.« Der Führer grinste und neigte leicht den Kopf, als er sich zu dem Mann umwandte, der ihn angestellt hatte und der gerade auf den steinernen Balkon hinunterblickte statt hinaus auf die Stadt. Ein granatengroßer Skor pion führte zu Füßen der Männer einen Schattentanz auf. Der Führer neckte ihn erst ein wenig mit seinem Stock, indem er ihm fünf schnelle, aber leich te Hiebe verpasste, ehe er ihn mit einem gekonnten Schlag aus dem Handgelenk durch die Luft segeln ließ. »Ich habe mal Hockey gespielt. Als ich noch zur Schule ging. Auf dem Spielfeld der Offiziere.« Der Führer schwang seinen Stock mit einer ausla denden Bewegung, um auf das Panorama hinzuwei
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sen, und wandte dabei immer wieder den Kopf, um zu sehen, ob sein Arbeitgeber zufrieden war. Ein unterwürfiges, aufgesetztes Lächeln umspielte seine Lippen. Er zog an einem Faden, der von seinem Är mel hing, rollte ihn auf, machte ein kleines Knäuel daraus, rollte weiter, zog wieder an und machte den Faden auf diese Weise immer länger und den Armel immer kürzer. Die Kopet-Dag-Berge wirkten in der Ferne wie zusammengeschobene, knittrige violette Folie. Die Stadt selbst schien ständig mit einer Schicht Staub bedeckt zu sein, ihre Konturen wur den nie richtig scharf, und die Einzelheiten verscho ben sich mit jedem Windstoß. Die Straßen und Häu ser folgten einem exakten Raster. Alle Spuren von Phantasie oder Einfallsreichtum vonseiten der Stadt planer waren in echter Sowjetmanier eliminiert wor den. »Eine neue Stadt. Alles neu. Das wahre Asch gabat wurde vor fast vierzig Jahren von einem Erd beben zerstört.« »Das habe ich gelesen. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, früher davon gehört zu haben.« »Nein. In jenen Jahren haben wir nicht … Man hätte nie …« »In sozialistischen Ländern passierten keine Erd beben«, sagte der Mann mit einem leisen wissenden Lächeln. »Natürlich nicht. Der eiserne Adler führte uns in eine glorreiche Zukunft, und wir waren dabei, den idealen Staat aufzubauen. Wir arbeiteten in Einklang mit der Natur, beherrschten sie immer besser. Wie konnte es da sein, dass sich die Natur gegen uns kehrte? Verstehen Sie? Erinnern Sie sich?«
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»Ja.« »Und darf ich fragen, wo Sie damals waren?« »Noch gar nicht auf der Welt. Aber ich lehre am Institut für marxistisch-leninistische dialektische und historische Konzepte in Rostow-na-Donu und habe sehr viel über diese Jahre gelesen. Schwierige Zei ten, vor allem in diesen Republiken.« Mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit blickte der Führer sich um, erst über die rechte, dann über die linke Schulter, ehe er sich etwas verle gen wieder dem Mann zuwandte. Dann ließ er die Zunge leise und nervös durch die Lücke schnalzen, wo eigentlich die beiden oberen Schneidezähne hät ten sein sollen. Die Leute sprachen noch immer nicht offen über solche Dinge. Die neue Offenheit, die angeblich in den offiziellen Kreisen in Moskau und Leningrad herrschte, war noch nicht weit genug nach Süden geweht, um diese trostlose Hauptstadt einer immer wieder vergessenen Region zu errei chen. »Soll ich Sie als ›Professor‹ anreden oder einfach als ›Genosse‹? Oder lieber anders?« »Wie Sie möchten. Mit ›Professor Ostrow‹ bin ich völlig zufrieden.« In Wirklichkeit war er überhaupt nicht zufrieden: Er arbeitete das erste Mal als Russe, und obwohl er die Sprache fließend beherrschte, wi dersetzte sich sein kaukasischer Akzent all seinen Bemühungen und flatterte ihm immer wieder in sei ne Worte. Er hoffte, dass man das hier für einen süd lichen Akzent halten würde – daher seine Behaup tung, aus Rostow-na-Donu zu stammen. Natürlich belegte er diese Behauptungen – und
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alle anderen, die Professor Ostrow aufstellte – mit den nötigen unterschriebenen, versiegelten, verzier ten, geprägten und abgestempelten Papieren. Die Sowjetunion hatte die Religion beseitigen wollen und im Zuge dessen ihre alten Ikonen – die hohläu gigen, melancholischen, beweihräucherten Gestalten an den Wänden ihrer Kirchen – durch neue ersetzt: kleine Blätter Papier und Stempel. Als er sich im Hotel Turisi anmeldete, präsentierte er der dezhurna ja einen abgestempelten Brief des Fachinstituts von Rostow-na-Donu, das ihn als Geschichtsforscher auswies, der nach Aschgabat gekommen war, um sich die Arbeiten des heroischen Turkmenenvolkes anzu sehen, die auf dem Basar von Tolkuchka ausgestellt wurden. Sie betrachtete ihn mit dem gelangweilten Überlegenheitsgefühl einer Provinzfunktionärin, die ihre kleine, begrenzte Macht ausübte. Wie eine Schildkröte auf der Suche nach ihrem Panzer schlurf te sie den Gang entlang und zeigte ihm sein Zimmer, erklärte ihm, wann er heißes Wasser bekommen würde, und ermahnte ihn, stets seinen Schlüssel bei ihr abzugeben, wenn er das Hotel verließ. Das Fachinstitut der Volksführung von Aschgabat wollte dem hochrangigen russischen Gelehrten, der zu Besuch in der Stadt weilte, eine Höflichkeit erwei sen, indem es ihm einen Führer zur Verfügung stell te. Ostrow lehnte die ersten vier ab, bis sie ihm den Mann schickten, dessentwegen er hierher gekommen war; Murat, der gerade mit den Backenzähnen Pista zien knackte und die Schalen vom Balkon spuckte. Murat wusste nicht, dass der Mann, der ihn als Füh
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rer angestellt hatte, nur seinetwegen nach Aschgabat gekommen war. Das erleichterte die Sache unge mein. Ostrow sah, wie er auf die Fußgänger zielte. Um sich in Ostrow zu verwandeln, hatte Abulfaz nicht nur seinen Bart, sondern auch seinen Kopf ra siert und trug einen schlecht sitzenden blauen Blazer mit einer Lenin-Anstecknadel am Revers, ein billi ges weißes Hemd und eine fleckige, am Rand bereits ausgefranste rote Krawatte. Er zog häufig die Augen brauen hoch und gleichzeitig die Mundwinkel nach unten, was ihm einen wachsamen, aber auch äußerst kritischen Ausdruck verlieh: den Gesichtsausdruck eines Professors. Als er den Blick auf Murat richtete, steckte der Führer seine Pistazien ein und trat vom Rand des Balkons zurück. »Sollen wir aufbrechen?«, fragte Abulfaz. »Ganz wie Sie wollen, Genosse Professor. Wo möchten Sie denn hin?« »Nun, wie Sie wissen, bin ich hergekommen, um die traditionelle turkmenische Handwerkskunst zu untersuchen und wissenschaftlich festzuhalten, ins besondere die Teppiche, deswegen …« »Ja, das hat man mir gesagt. Sollen wir nach Tol kuchka fahren? Dann muss ich vorher allerdings erst noch unseren Transport organisieren.« »Natürlich. Ich erwarte Sie in einer Stunde vor meinem Hotel. Ich nehme an, für einen privaten Transport muss ich extra bezahlen. Am liebsten wür de ich mit dem Wagen fahren, und am allerliebsten mit einem, der nicht noch heute zusammenbricht.« »Ja, Genosse Professor. In einer Stunde.«
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Sechzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden spä ter zwängten sich Abulfaz/Ostrow und Murat auf den Rücksitz eines violetten Lada. Murats Cousin, ein riesiger Mann mit einem Bart, der so dick wucherte und sich derart in alle Richtungen ausbreitete, dass er wie eine Kugel auf seiner unteren Gesichtshälfte zu sitzen schien, legte eine Fahrweise an den Tag, die genau seiner Überzeugung entsprach, nach der das Los eines Menschen einzig durch das Schicksal bestimmt wurde. Menschlicher Wille, Industriekle ber, geklaut aus einem sowjetischen Luftwaffen stützpunkt, und ein paar Gummibänder hielten die entropischen Tendenzen des Gefährts in Grenzen. Abulfaz, der schon an schlimmeren Orten mit schlimmeren Chauffeuren gefahren war, hatte keine Angst, aber Ostrow hätte welche gehabt, und deshalb spannte er die Muskeln an und produzierte sichtbare Tropfen auf seinem kahlen Kopf und Halbmonde unter den Achseln. Murat und sein Cousin unterhiel ten sich angeregt in einem Mischmasch aus Turk menisch und Russisch. Dabei drehte sich der Fahrer immer wieder zu seinem Cousin um und gestikulier te mit beiden Händen, während er das Lenkrad zwi schen die Knie klemmte. Als sie um eine Kurve bogen – selbstverständlich so schnell, wie der Wagen ging –, wären sie beinahe in einen schmutzigen grauen Lastwagen geknallt, dessen Ladefläche ein einziges Feuerwerk aus Far ben war: kräftige Farbtöne der unterschiedlichsten Schattierungen, zusammengestellt zu Mustern, wie man sie auf der Innenseite seiner Augenlider sieht, wenn man sich mit zusammengekniffenen Augen der
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Mittagssonne zuwendet. Der Cousin drückte flu chend auf die Hupe. Teppiche, hunderte von ihnen, zusammengestellt aus Märchen und vergessenen Liedern und dann auf einen klapprigen alten Last wagen geladen, hier in dieser staubigen und verges senen Ecke eines bröckelnden Landes. Abulfaz rieb sich die Augen. Murat lachte. »Schön, Genosse Professor, nicht wahr? Turkme nische Teppiche, die schönsten auf der Welt. Des wegen sind Sie doch hier, oder?« »Schön«, pflichtete Abulfaz ihm bei. Im Licht des Wüstennachmittags kam schimmernd der Markt in Sicht, aber sobald sie erst einmal dort waren, verlor Tolkuchka schnell jeglichen Anspruch, ein Wüstenbasar zu sein, und wurde einfach ein sow jetischer Markt: Wagenteile, einzelne, von Hand ge drehte Zigaretten, unförmige beigefarbene Kleidung. Die Wiederholung des ewig Gleichen und ein Übermaß an völlig nutzlosen Waren erweckten eine Illusion von Fülle. Murat wurde sofort zum Führer, Beschützer, Feilscher und Übersetzer für Abulfaz, dem es einzig und allein darum ging, dass Murat sich ganz in seinem Element fühlte und folglich in seiner Aufmerksam keit nachließ. Deswegen ließ Abulfaz sich am Ellbo gen nehmen und lebende Hühner anbieten, Gold zähne von Toten, bestickte Kappen, Haarbürsten, jüngere Töchter, illegale Kurzwellenradios, Ha schischziegel, Ballen schmieriger Stoffe und Ballen schimmernder Stoffe und Lasttiere mit traurigen Augen. Dabei achtete er die ganze Zeit auf einen
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Gesichtsausdruck intellektueller und ethnischer
Überlegenheit. »Wie bezahlen die Leute hier?«, fragte er Murat.
»Ganz unterschiedlich, Genosse Professor. Zum Teil mit ausländischem Bargeld, vor allem die Tou risten. Hauptsächlich aber werden Waren getauscht. Sie fragen, weil …?« »Weil ich gedacht hätte, die meisten Qualitätswa ren würden nach Moskau geschickt. Zum Beispiel dieser Stapel Teppiche da oder die kastanienbraune Seide dort drüben.« »Ja. Vieles davon wird auch verschickt, aber die Leute sparen sich etwas auf, etwas für sich selbst, sodass jeder ein paar überschüssige Waren hat, die er hier verkaufen oder eintauschen kann. Und Sie dür fen auch nicht vergessen, dass die Leute von überall hierher kommen. Wirklich von überall. Heute sieht alles groß aus, aber morgen werden tausende andere kommen, wenn die vielen tausend, die jetzt hier sind, alles verkauft haben, was sie verkaufen woll ten.« »Von überall her?« »Nun ja, natürlich nicht von überall auf der Welt, aber doch von überall aus dieser Region, aus ganz Zentralasien.« »Was ist mit den Russen aus Zentralasien?« »Ah. Ah, ja.« Murat kicherte und rieb dann mit den Fingern der einen Hand nervös über die der an deren. »Keine Russen. Außer Ihnen. Sie sind heute der Russe des Tages«, fügte er mit einem gezwun genen Lachen hinzu. »Aha.« Abulfaz blickte sich um, wobei er darauf
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achtete, seine Neugier durch eine Maske des Unbe hagens zu kaschieren. »Und was würde passieren, wenn Sie sich von mir trennen würden? Wenn Sie mich hier mitten auf dem Markt stehen lassen wür den, so, wie ich angezogen bin und wie ich aussehe?« »Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Ich werde Sie nicht allein lassen.« »Ich weiß. Aber was wäre, wenn? Ich frage das nur aus Interesse.« »Ach so. Na, dann drehen Sie sich doch mal um. Aber ganz langsam.« Abulfaz drehte sich um. Hinter ihm schlug gerade ein Mann mit breitem Brustkorb, einem dicken Schnurrbart und einer fehlenden Augenbraue mit einem Auspufftopf auf einen anderen Mann ein. Ei ne Frau, deren Kopftuch die Farbe von Sand bei Mondlicht hatte, stand mit ausdrucksloser Miene vor mehreren Reihen von Jutesäcken, die mit Gewürzen gefüllt waren und in der Nachmittagssonne langsam vor sich hin rösteten. Als Abulfaz der Geruch von Gewürznelken in die Nase stieg, musste er an die fleckigen Finger seiner Großmutter denken. Dann drehte der Wind, und er roch Sumach und Thymian – za’atar – und dachte an seinen halb arabischen Bä ckeronkel und das heiße, würzige Brot, das er mit den Fingern auseinander riss. Ihm fiel wieder ein, dass Geschichtenerzählerinnen und Gewürzverkäu ferinnen eine unnatürliche Macht über das Gedächt nis hatten und daher gemieden werden sollten. In dem Moment spürte er eine warme Flüssigkeit auf seine Hand platschen. Er hörte einen hässlichen Schrei und sah Blut aus dem Hals eines gerade ge
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schlachteten Lamms quellen. Ein paar Schnitte, ein paar ruckartige Bewegungen, und schon zog der Metzger die Haut wie einen Handschuh ab. Murat stupste Abulfaz in den Rücken und nickte fast un merklich zu einer Gruppe von drei Männern hinüber – alle groß, schlank und fast majestätisch, mit langen Nasen, grünen Augen und ledriger Haut –, die schweigend zwischen dem Metzger und der Gewürz verkäuferin standen, den Blick auf Abulfaz gerichtet. »Sehen Sie? Ihre Freunde. Ihre neuen Freunde.« Murat kicherte. »Wir sind in der Sowjetunion und deswegen natürlich alle Brüder im Sozialismus, aber Sie, Genosse Professor – Sie sind der ältere Bruder. Der Liebling der Eltern.« »Und?« »Vielleicht brauchen wir jüngeren Brüder hier ein bisschen Platz für uns allein. Wir können die Russen nicht draußen halten, nicht ganz, aber wir können dafür sorgen, dass sie, wenn sie hierher wollen, ent weder in Begleitung von einem von uns oder aber mit einem ganzen Bataillon von Soldaten kommen müssen, und selbst dann könnte es schlecht für sie ausgehen.« »Diese Männer sind bewaffnet?« »Bewaffnet? Wir sind im Land der Turkmenen! Jeder hier ist bewaffnet. Sehen Sie«, sagte Murat und zog sein Gewand auseinander, unter dem eine Wal ther zum Vorschein kam. »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir gehen, wohin Sie wol len, und es wird Ihnen nichts passieren.« Während Murat sein Gewand wieder zuband, schlenderte Abulfaz zu den drei Männern hinüber und begann
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mit ihnen zu sprechen. Murat riss vor Überraschung den Mund auf, aber dann sah er, dass sich alle die Hand gaben, einander vorsichtig anlächelten und nickten. Abulfaz fasste kurz unter seine Jacke und gab anschließend noch einmal allen dreien die Hand. Dann legte er die Hand ans Herz und verbeugte sich leicht. Als er sich umdrehte, erlebte Murat ihn einen Moment als einen anderen Menschen – vielleicht lag es daran, dass er den Kopf plötzlich höher trug oder seine Miene härter wirkte, aber bis er zu Murat zu rückkam, war Ostrow wieder Ostrow. »Was haben Sie getan?«, fragte sein Führer un wirsch. Abulfaz konnte nicht sagen, ob Murat wü tend oder erschrocken war. »Haben Sie sie provo ziert? Ich habe Sie doch zu Ihrer eigenen Sicherheit gebeten, sich langsam nach ihnen umzudrehen. Sie sollten ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Was haben Sie gemacht?« »Ahmot, Ilham und Mundir sind jetzt meine Be schützer.« »Mein Cousin und ich sind Ihre Beschützer!«, fauchte Murat. »Und Sie haben uns beleidigt, unsere Ehre beleidigt!« »Das war nicht meine Absicht, aber ich brauche Sicherheit. Nur für den Fall, dass ihr beide be schließt, mich meinem Schicksal zu überlassen.« »Aber warum? Ich habe Ihnen doch meine Waffe gezeigt. Und sehen Sie denn nicht, dass mein Cousin nur zehn Schritte von Ihnen entfernt steht und von dort auf Sie aufpasst? Warum auch noch diese drei?« »Murat, ich möchte, dass Sie mich zu Ihrer Cousi ne bringen.«
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»Was? Sie sprechen von meinem Cousin, oder? Er steht doch gleich da drüben, Sie können …« »Nein, ich spreche von Ihrer Cousine. Ich möchte, dass Sie mich zur Legendenverkäuferin bringen.« Nachdem sie an der vierten Gewürzverkäuferin vorbeigekommen waren – lauter Frauen mittleren Alters, und alle hatten denselben leeren, leicht ver ständnislosen Gesichtsausdruck, alle trugen das gleiche, wüstenfarbene Tuch zweieinhalb Mal um den Kopf geschlungen –, hatte Abulfaz langsam das Gefühl, dass der Markt ein Labyrinth aus Spiegeln war. Womöglich gab es nur ein einziges Lamm und einen einzigen Metzger, nur einen einzigen Falken verkäufer mit einem Glasauge, und Murat führte ihn in konzentrischen Kreisen weg aus dem betrieb samen Zentrum des Marktes. Zum Glück folgten ihnen die drei Beschützer. Er brauchte nur seine Brille auf den Boden zu werfen, und schon würden sie Murat die Kehle durchschneiden und ihn, Abul faz, wegbringen. Dann wäre er in Sicherheit, und sie selbst reich. Abulfaz’ ganze Karriere war ein Bei spiel dafür, welche Wunder sich mit rudimentären Kenntnissen der jeweils gesprochenen Sprache, ein bisschen Charme und einem unerschöpflichen Vor rat an schwarz-grünen Benjamin-Franklin-Porträts bewirken ließen. Murat sog den Speichel durch die Zähne, wandte den Kopf und spuckte aus. Er ließ Abulfaz’ Arm los, um sich mit dem Armel den Mund abzuwischen, aber sobald sie nicht mehr im Gleichschritt mitein ander gingen, schubste Ahmot ihn grob nach vorn
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und gab ihm ein Zeichen, wieder Abulfaz’ Arm zu nehmen. »In welcher Sprache haben Sie mit ihnen gere det?«, fragte Murat seinen Schützling. »Tadschikisch. Ich spreche es relativ schlecht, aber anscheinend hat es gereicht.« »Verstehen Sie etwas, wenn mein Cousin und ich in Turkmenisch miteinander sprechen?« »Nicht so viel, wie ich sollte. Vielleicht könnten Sie mir ein paar Stunden geben, wenn wir bei Ihrer Cousine waren.« »Vielleicht, für den entsprechenden Preis. Wenn Sie diese Männer in Ihre Beschützer verwandeln können, dann können Sie womöglich noch ganz andere wundersame Dinge vollbringen, als nur eine weitere Sprache zu lernen. Wie viele sprechen Sie?« »Mehr, als Sie glauben würden.« »Das überrascht mich nicht. Die meisten Männer hier können zwei Sprachen – Turkmenisch und ihre Stammesversion von Turkmenisch. Die gebildeten, wie ich, sprechen zusätzlich Russisch. Die Usbeken, die herkommen, können oft vier oder fünf. Jeder in diesem Land weiß mehr als die Turkmenen. Jeder bekommt mehr, jeder verdient mehr, jeder … immer und immer wieder, bis in alle Ewigkeit.« »Soll ich Ihnen einen Witz über Sprachen erzäh len?«, fragte Abulfaz. »Einen Witz. Ja, gern.« »Wie nennt man einen Russen, der vier Sprachen spricht?« »Ich weiß nicht.«
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»Einen Zionisten. Und einen Russen, der drei Sprachen spricht?« »Ich weiß es nicht.« »Einen Spion. Und zwei? … Nein? Einen Natio nalisten. Und nur eine? … Einen Internationalisten.«
»Das erscheint mir nicht sehr witzig.« Murat zog ein Gesicht. »Ich hätte gedacht, jemand aus den internationa len Provinzen von Mutter Russland würde diese Art Humor zu schätzen wissen.« »Versuchen Sie mich in Schwierigkeiten zu brin gen, indem Sie mich dazu anstacheln, schlecht über die Sowjetunion zu sprechen? Ich sage Ihnen jetzt ganz direkt, dass ich das Mutterland liebe und wirk lich glaube, dass wir den Weg in eine schöne Zu kunft schmieden, vereint unter dem roten Banner des Sozialismus.« »Ja, natürlich. Und ich glaube, dass Großväterchen Frost und die Schneefee jeden Winter aus dem Wald kommen und Geschenke an die ganzen braven klei nen Mädchen und Jungen verteilen.« Murat fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und starrte den Mann an, den er führte. Er war kleiner als Murat und auch runder. Sein Gesicht besaß keine charakteristischen Züge oder besonde ren Merkmale, die es abstoßend oder anziehend ge macht hätten, sodass es irgendwie unfertig wirkte. Er spottete (zweifellos sehr furchtlos) über die sowjeti schen Prinzipien, trug aber andererseits sowjetische Papiere mit sich, die ihn dazu berechtigten, sich ei nen Markt anzusehen, der ihn nicht übermäßig zu interessieren schien. Er kam aus einer Provinzstadt
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im südlichen Russland, freundete sich aber in null Komma nichts mit drei Tadschiken an, die ihn nor malerweise schon bei der kleinsten Provokation um gebracht hätten. Und er wusste von etwas, was seit Jahrhunderten nicht nur im Besitz von Murats Volk, sondern fast ausschließlich im Besitz seiner eigenen Familie gewesen war. Vor einem ansonsten leeren Stand küsste Murat eine alte Frau, die sechzehn kleine Käfige um den Hals trug, von denen jeder einen großen, lebhaften schwarzen Käfer mit langen Fühlern enthielt. »Sie bringen Glück«, erklärte Murat. »Man lässt diese khoren an der Schwelle seines Hauses frei. Wenn der Käfer nach draußen läuft, dann ist dein Haus sieben Ernten und sieben Winter lang gesegnet. Läuft er nach drinnen, dann folgt man ihm, während er die im Haus lauernden Geister aufsammelt, und wenn er einmal durch das ganze Haus gelaufen ist, dann setzt man ihn ins Feuer. Meine Tante ist die Einzige in unserer Sippe, die sie in der Wüste fangen darf.« Ein Junge mit bösartigen Gesichtszügen und zusammen gekniffenen Augen versuchte gerade, einem Huhn, das in einen Käfig gesperrt war, bei lebendigem Leib die Federn auszureißen, woraufhin ihm die Frau mit einer knappen Kopfbewegung Einhalt Gebot. Nach dem er die Halskette von ihr entgegengenommen hatte, führte sie die Männer in eine kleine provisori sche Jurte hinter ihrem Stand. Die Frau lud sie ein, auf einem Teppich mit ei nem aufwändigen Muster aus ineinander greifenden zinnoberroten, moosgrünen und goldbraunen Drei
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ecken Platz zu nehmen. Sie setzte sich ihnen gegen über, holte einen runden Teppich mit Fransen aus einer hinter ihr stehenden Truhe und breitete ihn vor sich auf dem Boden aus. Dann blickte sie die Männer erwartungsvoll an. »Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte Abulfaz auf Russisch. »Ich wusste, dass uns heute ein Fremder besu chen würde«, antwortete sie. Ihre Stimme hatte den beruhigenden Klang einer hölzernen Flöte. Sie schien sich ihrer selten bedient zu haben, denn sie wirkte jünger als alles andere an ihr. »Mehr geht mich nichts an, aber es ist schon viele Generationen her, dass jemand aus meiner Familie mit einem Fremden Handel getrieben hat. Ich wusste nicht, dass einer von euch über uns Bescheid wusste, ging aber davon aus, dass ihr von meiner Unwissenheit wusstet, und nahm meinerseits an, dass ihr von mei nem Mangel an Wissen ausgingt. Wie Sie sehen, handelt es sich dabei um eine Kette, und wie die meisten Aneinanderreihungen von Informationen ist sie sowohl endlos als auch belanglos. Trotzdem ist es auch ein gutes Zeichen, dass dies der Gegenstand unserer ersten Unterhaltung war, und das veranlasst mich dazu, Ihnen diese Kette hier anzubieten.« Sie holte aus ihrer Truhe einen dicken schwarzen Gürtel, der sich in ständiger Bewegung zu befinden schien: drei Schlangen, jeweils durch einen groben, doppelseitigen Angelhaken an Maul und Schwanz miteinander verbunden. »Der Reif von Munatir, dem Schlangenkönig von Seldschuk, einem Vorfahren von mir. Er hilft einem dabei, seinem Feind viele ver
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schiedene Gesichter zu präsentieren. Aber vielleicht hat ein Fremder wie Sie keinen Bedarf dafür.« »Den habe ich in der Tat nicht«, antwortete Abul faz und wich vor den ihm angebotenen Schlangen zurück. Sie legte die drei sich windenden Schlangen zu rück in ihre Truhe und wandte sich dann wieder Abulfaz zu. Sie hatte die Hände geziert auf dem Schoß gefaltet, was ihr ein ehrwürdiges, zugleich aber auch irritierend mädchenhaftes Aussehen ver lieh. »Weswegen sind Sie gekommen?« Ihr Tonfall lag irgendwo zwischen leichtem Spott und echtem Interesse. »Wegen der Käfige des Kaghan.« Kichernd schlug sie die Hand vor den Mund. Die Jahre fielen von ihr ab wie tote Blätter im Wind. »Das ist in der Tat eine Ehre. Selbst die meisten unserer eigenen Leute haben diese Käfige verges sen. Ich sollte Sie vielleicht fragen, woher Sie von ihnen wissen, fürchte aber, Sie könnten es mir erzäh len. Dabei bin ich ja nur ein armes Marktweib. Was geben Sie mir dafür?« »Haben Sie sie?« Seufzend steckte sie den Arm bis zur Schulter er neut in ihre Truhe und wühlte mit abgewandtem Blick darin herum, als wäre sie blind. Schließlich zog sie die Augenbrauen hoch, und ihr Arm kam mit ei nem Tontopf wieder zum Vorschein. Der Topf war so breit wie die Handfläche eines Mannes und dop pelt so hoch. Sein dicker Deckel hatte in der Mitte einen groben Griff. Das Gefäß sah aus, als hätte es ein Kind gemacht und dann zum Trocknen in die
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Sonne gestellt. Es war weder glasiert noch wies es irgendwelche Verzierungen auf. Abulfaz fragte sich, wie viele Leute diesen Topf wohl schon neben der Straße gesehen hatten und achtlos daran vorbeige gangen waren. Er fragte sich auch, wie oft der Stamm wohl schon ausgeraubt worden war, ohne dass der Topf gestohlen worden war, weil er so schlicht, ja fast hässlich aussah. Und er fragte sich, wie anders die Welt wohl gewesen wäre, wenn die Räuber von seinem Wert gewusst hätten. »Zeigen Sie es mir«, sagte Abulfaz zu der Frau. Sie hielt sich den Topf vor das Gesicht, als wollte sie ihn genau in Augenschein nehmen, und streckte ihn anschließend Abulfaz entgegen, damit er dasselbe tun konnte. Er nickte. Sie hob den Deckel, zündete ein Streichholz an und ließ es hineinfallen. Die tö nernen Wände des Topfes begannen zu leuchten wie eine Laterne. Das Licht wurde von Abulfaz’ Brillen gläsern reflektiert und strahlte auf die Wangen der Frau, die plötzlich aussah, als würde sie leuchtende Tränen weinen. Er streckte eine Hand aus, aber die Frau wich mit dem Licht zurück. »Deswegen sind Sie gekommen?«, fragte sie. Abulfaz nickte. Mit einem wissenden Lächeln hob sie den Deckel des Topfes an und blies das Licht aus. »Das Licht einer kleinen Sonne. Ein einzelner Funke genügt und brennt, bis man ihn wieder löscht. Man kann diese Lampe überallhin tragen, durch je des Wetter.« »Wie funktioniert sie?«, fragte Abulfaz, in dessen Augen etwas brannte, was fast an Lust grenzte. »Hier enden die Geschichten. Ich weiß es nicht,
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und ich bezweifle, dass es jemanden gibt, der es weiß. Vielleicht wusste es meine Vorfahrin, sie war die Wesirin und Ärztin des letzten Kaghan, aber sonst weiß es niemand. Aber was spielt das für eine Rolle?« Abulfaz nickte zuvorkommend. »Wo ist die Schwester?« »Die Schwester?« »Cousine, ich habe nach den Käfigen des Kaghan gefragt, nicht nach dem Käfig. Es gibt zwei. Ich möchte sie beide kaufen.« »Ah.« Sie faltete wieder die Hände im Schoß und senkte den Kopf, ehe sie weitersprach. »An dieser Stelle muss ich gestehen, dass Sie schon der zweite Fremde innerhalb eines Monats sind, der mich be sucht. Ein anderer war vor Ihnen da – Murat hat ihn ebenfalls herbegleitet, zusammen mit seinem Cou sin. Diese drei Löwen in Männergestalt waren aller dings nicht dabei. Und er konnte nur ganz wenig Russisch. Auch er wusste von den Käfigen, dachte aber, es wäre nur ein einzelner Käfig. Deswegen hat er auch nur einen gekauft. Den Mondkäfig.« »Und Sie haben ihn einzeln verkauft? Sie haben die beiden Schwestern getrennt?« »Nun, ja. Ich hatte eine Schuld zu begleichen, ei ne sehr große Schuld, die mir von der Urgroßmutter meiner Urgroßmutter hinterlassen worden war. Er hat sie als Gegenleistung für den Käfig beglichen.« Zum ersten Mal seit Jahren war Abulfaz überrascht. »Wer war er? Wohin hat der den Käfig gebracht?« »Der Mann hat mir seinen Namen nicht genannt. Er hat gesagt, er sei Engländer und züchte Pflanzen.
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Einige dieser Pflanzen seien etwas ganz Besonderes und würden nur bei Mondlicht wachsen, und die englischen Sommertage, sagte er, seien so lang.«
GEGENSTAND 10 Ein runder Tontopf mit einem Durchmesser von 10 Zentimetern und einer Höhe von 20 Zentimetern. Weder glasiert noch bemalt, aus grobem Ton gefertigt, mit den Fingerabdrücken des Herstellers auf der Außenseite. Als einer der zwei »Käfige des Kaghan« spendet er gelbes Licht und wird Sonnenkäfig genannt. Seine Schwester, aus schwarzem Ton gemacht, leuchtet kühl und silbrig und wird Mondkäfig genannt. HERSTELLUNGSDATUM Die Machart des Käfigs lässt so gut wie keine Rückschlüsse auf die Zeit seiner Herstellung zu: Der Töpfer stammte entweder aus einer sehr frühen Zeit oder war einfach ungeschickt. Er wusste entweder noch nichts von Glasuren oder entschied sich dafür, keine zu verwenden. Verzie rungen kannte er entweder nicht oder hielt sie im 416
Fall seines Werks für unpassend. Er wusste entweder noch nichts von der Möglichkeit, Ton in einem Ofen zu brennen, oder entschied sich ganz bewusst dafür, ihn in der Sonne trocknen zu lassen. Die Fähigkeit des Topfes, Licht in sich zu sam meln, abzugeben, zu intensivieren und zu bewahren, ist natürlich völlig einzigartig. HERSTELLER Legenden zufolge wurden die Käfige am Hof der Kaghan von Khazar hergestellt. Der Titel »Kaghan« kommt entweder vom hebräischen Wort cohen, das Priester bedeutet, oder vom tatarischen khan, was »Herrscher« bedeutet. Für welche Etymo logie man sich entscheidet, hängt davon ab, ob man die Khazar dem Judentum oder dem Islam zuordnet (oder aber dem Christentum, was historisch die wahrscheinlichste, linguistisch aber die am wenigsten interessante Variante ist). Der Staat der Khazar ver schwand etwa im zehnten Jahrhundert – auch die Berichte über die genauen Umstände seines Endes und die Geschichten über seine Bewohner variieren nach dem abrahamischen Glauben –, aber laut alIdrisi lag sein Zentrum zwischen den Flüssen Wolga und Don, nahe der heutigen russischen Stadt Rostow-na-Donu. Vertreter aller drei Konfessionen erwähnen die Käfige in ihren Schriften über die Khazar. Solomon Benjamin ben Benjamin, ein andalusischer Rabbi, Komponist, Theologe und Farbtheoretiker, berichte te dass »der Kaghan, den ihr Yusuf nennen würdet und ich Joseph, mich fragte, ob es auf der Erde eine Art Licht geben könnte, das dauerhafter sei als das
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der Sonne oder des Mondes, die ja jeden Abend und Morgen erloschen, und das beständiger sei als das Feuer, welches wüten und sterben könne wie ein alter Mann, dessen einzige Tochter einen Ungläubi gen geheiratet hat. Ich antwortete ihm, dass die Son ne durchaus von Dauer sei und die Nacht nur eine Blindheit der Erde, aber er führte das Gespräch nicht fort, sondern holte zwei irdene Gefäße hervor, eines hell und eines dunkel, und beide viel gröber, als es eigentlich einem Kalifen geziemte. In beide ließ er ein brennendes Stück Schilfgras fallen, woraufhin das hellere Gefäß zunächst leuchtete wie die Wange eines verliebten jungen Mädchens, anschließend zu erstrahlen begann wie das Auge eines Mannes, der die Lösung für ein ärgerliches Problem gefunden hat, nach einer Weile dann aber ein sanftes, gleichmäßi ges Licht spendete, als wäre es eine kleine Sonne, die gerade lernt zu scheinen. Das andere leuchtete kühl wie ein stolze Frau, die einen leidenschaftli chen, aber armen Gelehrten zum Verehrer hat, silbrig wie ein nächtlicher See oder wie die Tochter des Mondes.« Ein nur als Sa’ad bekannter Geistlicher wurde mit einem Gefolge von 1000 Soldaten, 250 Frauen und 250 Knaben aus Tripolis zum Kaghan gesandt. Trau rigerweise starb der wohlgeborenste und vielverspre chendste seiner Soldaten am Hof des Kaghan, »denn als er diese Lampen sah, die die Himmelskörper nachahmten, erfasste meinen geliebten Ibrahim eine starke Erregung, weil es doch verboten war, göttliche Schöpfungen nachzuahmen, und er wollte die Ton gefäße mit der flachen Seite seines Schwertes zer
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schlagen. Kaum hatte er einen Satz nach vorn getan und die Hand zum Schwert bewegt, als auch schon zwanzig Pfeile heranschwirrten, abgeschossen von unsichtbaren Bogenschützen, die sich in den zahllo sen Nischen des Saales verbargen, und ihn dort, wo er stand, niederstreckten. Ich erklärte dem Kaghan, warum Ibrahim auf diese Weise starb, und der un gläubige König war höchst beeindruckt von einem Glauben, der seine Anhänger von der Angst vor dem Tod befreit. Sein Wesir behauptete, dass die Ange hörigen unseres Glaubens dem menschlichen Be dürfnis, in Furcht zu leben, gerecht würden, indem sie die Angst vor dem Tod durch die Angst vor der Sünde ersetzen, wobei der Tod allerdings nur ein einziges Mal eintrete, der Mensch aber aufgrund sei ner Sterblichkeit und Niedertracht mit jedem ein zelnen Atemzug sündige.« Auch die Bischöfe Dulcinius und Sandromes be suchten den Kaghan. Sie kamen irgendwann im neunten Jahrhundert n. Chr., als die Khazar in einen großen Krieg mit den arabischen Armeen verstrickt waren, die von unterhalb des Kaukasus heraufdräng ten. Dulcinius, der in Tyrus als Märtyrer starb und der Schutzheilige der Eigensinnigen und Wortkargen wurde – der Schutzheilige derer also, die mit gesenk tem Blick gehen, sowie derer, die Manuskripte redi gieren –, berichtete dem Kaiser Tiberius in rätselhaf ten Worten, dass »der Kaghan das Licht der Sonne und das Licht des Mondes in der Hand halten kann, aber das Licht Christi, unseres Herrn, noch nicht im Herzen hat, weshalb ich ihm dieses Licht bringen will, damit er dreifach gesegnet ist auf Erden«.
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Der eigentliche Hersteller ist nicht bekannt. HERKUNFTSORT Der Staat der Khazar lag in den Regionen des Kaukasus und der Wolga. Seine ge nauen Ausmaße sind unbekannt. Mit Sicherheit ge hörten dazu Teile von Russland, vielleicht auch Tei le des heutigen Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Nagorno-Karabach und der Osttürkei. LETZTER BEKANNTER BESITZER Nachdem sich das Judentum, das Christentum oder der Islam – oder einfach die Geschichte – die Khazar nahezu vollstän dig einverleibt hatte, gab es keine weiteren schriftli chen Aufzeichnungen über den Verbleib der Käfige. Die Leute sprachen noch von ihnen, aber die Ge schichten über ihre Größe und ihre Macht wurden immer übertriebener und vager. Am Hof von Seld schuk wurde der Sonnenkäfig zum Namen für ein Sternbild und der Mondkäfig zum Namen für Wol kenfetzen, die den Herbstmond von drei Seiten um schließen. Nach der Zerstreuung der Seldschuken lebten die Käfige nur noch in vagen Erinnerungen fort, in Erzählungen, die man sich zuraunte, Ge schichten von Geschichten über etwas ursprünglich Gemeintes, was nun irgendwo in der Wüste vergra ben lag, verschluckt in den endlosen Weiten der Steppe. Jede Sippe von Weizenbauern, die sich an die Eroberungen ihrer Vorfahren erinnern konnte, jede Sippe von Schäfern und Nomaden, die irgend wann einmal über ihre Nachbarn geherrscht hatte, hielten sich für die ursprünglichen Besitzer der Käfi ge und betrachteten ihr Verschwinden als eine Me
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tonymie für ihr verlorenes Ansehen. Nachdem die Briten und die Russen Zentralasien auseinander ge rissen hatten, und vor allem, nachdem die Russen diese Krieger und Suchenden in den mutmaßlichen historischen Feuern zu Homines sovietici geschmiedet hatten (metaphorische Feuer scheinen grundsätzlich besser zu wirken, wenn richtige Feuer zum Erhitzen der Schürhaken in der Nähe sind), wurden die Käfi ge für die zentralasiatische Geschichtsforschung zu einer Art Ungeheuer von Loch Ness, eine Spukge schichte, die oft im Zusammenhang mit den PittRivers und dem Adler und dem Kind genannt wurde. Auch wenn sie für den Rest der Welt verloren wa ren, gingen die Käfige in Wirklichkeit in den Besitz einer einzigen Sippschaft über, deren Name in kei ner Sprache aussprechbar ist, deren Stammbaum sich aber in direkter Linie bis zu Oghuz Khan zurückver folgen lässt, dem türkischen Eroberer, dessen Reich sich vom Arabischen Meer bis zum Fluss Irtysch er streckte und der nach der Legende seine Schlachten mithilfe eines einzelnen grauen Wolfs plante. Die Frauen dieser Sippschaft blieben auch in späteren Zeiten so etwas wie Ärzte, »Beutelschneider«, wie Robert Burton sie fast genannt hätte: Psychiater und Quacksalber mit einem großen Fundus an alten mythischen Geschichten und grandios klingenden Heilmitteln von geringer oder gar keiner Wirkung, abgesehen von der heilenden Kraft der Suggestion. Die letzte dieser Legendenverkäuferinnen besaß sowjetische Papiere, die sie als Yomtuz Muramasowa auswiesen. Sie und ihre Neffen Murat und Mahmut wurden
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im August 1985 zusammen mit drei nicht identifi zierten Tadschiken in einer Jurte am Rand des Ba sars von Tolkuchka ermordet aufgefunden. GESCHÄTZTER WERT Unschätzbar. Yomtuz hat sie womöglich gegen einen nahezu schrottreifen Lada eingetauscht. Sie hätte genauso gut den Kreml selbst dafür verlangen können. Um einen Preis festsetzen zu können, braucht man vergleichbare Waren. Diese existieren nicht.
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Auf diese Weise wird dir die Ehre der ganzen Welt gehören, und alle Finsternis wird von dir weichen.
Auf der Fahrt von Hannahs Wohnung zu meiner un ternahm ich ein paar fruchtlose Versuche, ein Ge spräch zu beginnen. Hannah antwortete einsilbig und starrte ansonsten aus dem Fenster. Ich bemühte mich, einen fröhlichen Eindruck zu machen, obwohl ich mich in Wirklichkeit mit einem ziemlich mulmi gen Gefühl fragte, ob mir womöglich wieder jemand ein Körperteil an die Tür genagelt hatte. Am liebsten wäre ich bei Hannah geblieben, aber mir war keine höfliche Art eingefallen, ihr das begreiflich zu ma chen. Nun überlegte ich, ob ich Hannah von dem Symbol an ihrem Türrahmen erzählen sollte, aber ihr war im Moment anscheinend nicht nach Reden zu mute. Dann musste ich notfalls eben improvisieren. Ich ging davon aus, dass mir schon irgendeine plau sible Erklärung einfallen würde, falls es etwas zu er klären gab, und falls uns tatsächlich etwas oder je mand bedrohen sollte … nun ja, dann würde ich wohl versuchen, nicht wie ein Waschlappen davon zulaufen. Ich musste an die vielen RatgeberKolumnen denken, die sich an die Leute unter drei ßig richteten und einen als neuester Auswuchs der Popkultur überall verfolgten. Die Kolumnisten er
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klärten einem, wie man gegenüber seinen Schwie gereltern am besten auftrat, wie man religiöse Diffe renzen mit dem Ehepartner überwand und wie man sich verhielt, wenn man seine paranoide Freundin dabei ertappte, wie sie E-Mails las, die sie nichts an gingen. Bis jetzt aber hatte meines Wissen noch niemand darüber geschrieben, was zu tun ist, wenn man einen menschlichen Zahn und ein okkultes Symbol an seiner Tür findet und sich fragen muss, ob die eigene Freundin womöglich auf der Seite des jenigen steht, der den Zahn gezogen hat. »Welche ist deine?«, fragte Hannah, als wir hinter dem Haus parkten. Ich deutete zum dritten Stock hinauf, wo hinter den (immer) zugezogenen Vorhängen ein warmes Licht brannte. »Energieverschwender«, stellte Han nah mit einem schwachen Lächeln fest. Sie wirkte eher müde als wütend. »Das ist meine Küche. Ich schätze, da habe ich heute Morgen nicht aufgepasst. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich gestern nicht viel Schlaf erwischt habe.« Dieses Mal wirkte ihr Lächeln herzlicher, und sie küsste mich auf den Mundwinkel, während sie mir über das Gesicht strich. Wir stiegen aus, und ob wohl ich protestierte, bestand sie darauf, die Tüte mit meinen Einkäufen zu tragen. Auf der anderen Straßenseite wankten gerade zwei Typen mit dicken Bäuchen und Schnurrbärten Arm in Arm aus dem Colonial. Sie trugen beide Ja cken mit dem Aufdruck der örtlichen Highschool und schienen extrem wackelig auf den Beinen zu sein. Auch an ihrem Lachen merkte man, dass sie
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nicht mehr ganz nüchtern waren. Plötzlich wirbelte einer von den beiden herum, als hätte jemand auf ihn geschossen, und übergab sich auf die Ladefläche eines roten Pick-ups. Durch die Heckscheibe konnte man sehen, dass auf der Ablage ein Jagdgewehr lag. »Mist, der Typ hat eine Knarre! Nichts wie weg hier!«, stieß er lallend hervor und kletterte in das Auto seines Kumpels. »Am schönsten ist es doch daheim«, stellte ich fest. »Waren diese Typen nicht ein bisschen zu alt für solche Jacken?« »Entweder das, oder sie sind im achtundsechzigs ten Semester.« Ich hielt Hannah die Haustür auf, und wir gingen nach oben. Auf dem letzten Trep penabsatz vor meiner Wohnung fiel mir ein schmaler Lichtstreifen auf. Das Licht kam aus meiner Woh nung, deren Tür einen Spalt offen stand. Mein Ma gen machte einen Satz, und mir brach der Schweiß aus. »Mist.« »Was ist?« »Lass mich vorausgehen«, sagte ich mit zitternder Stimme. Es gelang mir nicht mal, mich selbst von meiner Tapferkeit zu überzeugen, geschweige denn Hannah, die mich mit großen Augen anstarrte, ohne ein Wort zu sagen. »Manchmal vergesse ich, das Licht auszumachen, aber ich vergesse nie, die Tür abzuschließen. Wartest du hier?« Sie nickte und stellte sich so hin, dass sie einen guten Blick auf die Tür hatte. Ich schob sie vorsichtig auf und rief dann: »Hallo?
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Hallo?«, als ich hineinging. Die Tür ließ ich bewusst offen. In meiner Küche begann eine tiefe Stimme zu singen. Das Lied kam mir bekannt vor, es klang nach einem lateinischen Kirchenlied. Was mich aber nicht besonders beruhigte. Ich griff nach dem einzigen auch nur ansatzweise waffentauglichen Gegenstand in meiner Wohnung: einem Mini-Baseballschläger, wie man sie bei Stadi on-Werbeaktionen geschenkt bekam, mit den Unter schriften der Mets von 1985. In der Hoffnung, Hubie Brooks nicht mit Blut besudeln zu müssen, ging ich langsam in Richtung Küche, den Schläger in meiner schweißnassen, erhobenen Hand. Auf einem meiner wackeligen Küchenstühle stand Sal Gomes und schmetterte mit lauter Stimme das lateinische Lied. Im Licht meiner Küchenglüh birne sah sein Kopf aus wie eine Discokugel. Neben ihm auf dem Stuhl saß Joe Jadid, den es vor Lachen nur so beutelte. Auf dem Tisch standen zwei offene Flaschen Heineken. »Wie seid ihr …?«, stammelte ich. Joe schlug Gomes auf die Wade, deutete auf den Schläger in meiner Hand und prustete von neuem los. Dabei warf er vor lauter Lachen den Kopf mit so viel Schwung in den Nacken, dass er aus dem Gleichgewicht geriet und mit seinem Stuhl nach hin ten umkippte. Mit einem lauten Krachen, das wie ein Pistolenschuss klang, ging einer von meinen zwei Küchenstühlen zu Bruch. Joe selbst passierte nichts, er kippte sich bloß ein wenig Bier über sein zerknit tertes Hemd, das ohnehin schon Senfflecken zierten.
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Gomes unterbrach seinen Gesang, um seinem Part ner aufzuhelfen. »Das war seine Idee«, erklärte Go mes, der Mühe hatte, Joe hochzuziehen, den es im mer noch vor Lachen schüttelte. »Wir bezahlen für den Stuhl.« »Lieber Himmel, Paulie, mit dem Ding würdest du wirklich jeden halb verhungerten, tattrigen, kurz sichtigen, zwergenwüchsigen Einbrecher zu Tode erschrecken. Lass mal sehen«, sagte Joe, der inzwi schen auf dem Boden kniete und die Hände auf stützte, als müsste er einen steilen Berg erklimmen. In seinen Pranken wirkte der Schläger wie ein Magic Marker. »Dieses Mets-Team hat mir das Herz gebro chen. Mookie Wilson. Ron Darling. Ray fucking Knight.« Er erwachte wieder aus seiner BaseballTräumerei, warf den Schläger auf den Boden und sah mich an. »Ach übrigens, erinnerst du dich an das, was ich dir über dein Türschloss gesagt habe?« »Ja.« »Ich hatte Unrecht. Es ist totaler Schrott. Ich brauchte ungefähr zehn Sekunden, um es zu kna cken.« »Dazu musst du erst mal wissen«, mischte sich Gomes ein, der gerade mit meinem unappetitlichen Küchenschwamm das Bier vom Tisch wischte, »dass es unser Dicker beim Türenknacken wirklich mit den besten ihres Fachs aufnehmen kann. Ich weiß, man sieht es seinen Baguette-Fingern nicht an, aber es stimmt.« Joe blickte achselzuckend auf seine Finger hinun ter. »Ich musste es nicht mal kaputtmachen. Eigent lich müsste es noch wunderbar funktionieren. Aber
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du solltest unbedingt in ein besseres investieren, und zwar gleich morgen.« Erst jetzt fiel mir auf, dass sie beide einfach dazu übergegangen waren, mich zu duzen. Ich beschloss, ihrem Beispiel zu folgen. »Woher habt ihr Jungs überhaupt meine Adres se?« »Von euren ehrenwerten Ordnungshütern, Mutt und Jeff«, antwortete Gomes, während er mit ange widerter Miene meinen Schwamm zurück ins Spül becken warf. »Bert und Allen.« »Oder so. Der mit dem riesigen Walrossschnauzer ist ein besonders charmantes Kerlchen. Ein typischer Kleinstadtbulle. Das ist eine ganz eigene Rasse. Als ich noch ein Junge war, hatten wir in St. Clair Point ein paar ähnliche Kaliber. Dieses spezielle Exemplar scheint keine besondere Vorliebe für den dunkleren Teil der Nation zu haben.« »Der hat für niemanden eine besondere Vorliebe. Wie hat er reagiert – euch einfach meine Adresse gegeben?« »Na ja, wir mussten schon ein bisschen improvi sieren.« Er sah zu Joe hinüber, der gerade damit be schäftigt war, mit seiner Krawatte das Bier von sei nem Hemd zu wischen. Jedes Mal wenn er sein Ge wicht verlagerte, ächzte der mir noch verbliebene Küchenstuhl bedenklich. Nach ein paar Sekunden merkte Joe, dass niemand etwas sagte, und blickte hoch. »Ja, er hat uns deine Adresse sofort gegeben, kein Problem«, sagte er mit einem breiten Grinsen.
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»Nachdem wir ihm von der Anzeige erzählt hatten, die in Wickenden gegen dich eingegangen ist, wäre er am liebsten gleich selbst mitgekommen.« »Was? Was denn für eine Anzeige? Was habe ich angestellt?« »Entblößung vor Minderjährigen«, antwortete Joe, bevor er erneut in lautes Lachen ausbrach. »Was?! Was? Ich würde doch nie im Leben … nein, das habt ihr ihm nicht erzählt. Sag mir auf der Stelle, dass das bloß ein Witz war und ihr Olafsson nicht noch mehr gegen mich in die Hand gegeben habt, als er sowieso schon hatte.« Diesmal war es Gomes, der sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Erst platzte es wie ein Niesen aus seiner Nase, dann wurde daraus eine melodische Ab folge immer tieferer Töne. »Nein, natürlich haben wir das nicht. Obwohl Joe wollte. Wir haben ihm bloß ge sagt, dass wir in Wickenden gerade in einem Fall er mitteln, zu dem wir dich befragen wollten. Allerdings wäre er selbst auch gleich bereit gewesen, schwere Geschütze aufzufahren. Ich glaube, er hätte liebend gern deine Tür eingetreten und dich zum Verhör ge schleppt. Hör zu, wenn du dich dann besser fühlst, schicken wir ihm einen Brief und erklären ihm …« Plötzlich richtete er sich auf. Sein Lachen schlug in ein waches, freundliches Grinsen um. Er zog zum Gruß die Augenbrauen hoch. Joe stand auf und wischte sich am Hosenboden seine Bierhände ab. »Ist alles in Ordnung?«, hörte ich Hannah hinter mir fragen. Ich drehte mich um: Ihre grauen Augen waren weit aufgerissen, ihre Lippen fest aufeinander gepresst, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen,
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was ihrem Gesicht einen leicht irritierten, aber auch interessierten Ausdruck verlieh. Es war wirklich ein wundervolles Gesicht: sanft geschwungen, mit hohen Wangenknochen. Trotz seiner lebendigen Mimik strahlte es Ruhe aus. »Es tut mir sehr Leid, Paul. Wir hatten ja keine Ahnung, dass du Besuch hast«, erklärte Gomes. »Da wartet so eine hübsche Dame auf deiner Treppe, und dir fällt nichts Besseres ein, als hier hereinzustürmen und die ganzen Küchenmöbel zu Kleinholz zu schlagen«, sagte Joe. »Alles in Ordnung«, sagte ich zu Hannah. »Das sind zwei Freunde von mir, die sich aufs Schlösserknacken verlegt haben: Joe Jadid und Sal Gomes. Das ist Hannah Rowe.« »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Miss Rowe. Übrigens möchte ich bei der Gelegen heit richtigstellen, dass der Dicke da drüben den Kü chenstuhl zerstört hat, und nicht Paul«, sagte Gomes. »Kein Problem«, antwortete Hannah zögernd. Dann wandte sie sich in knappem Ton an mich: »Wo soll ich die Sachen hinlegen, Paul? Soll ich rasch los sausen und ein bisschen mehr zu essen einkaufen, nachdem wir nun zu viert sind?« Ihre Frage hatte die beabsichtigte Wirkung. Sofort stand Gomes auf und sagte: »Danke, aber wir müs sen los. Es war wirklich sehr unhöflich von uns, hier einfach so einzubrechen.« Er küsste Hannahs Hand, und sie reagierte mit einem spöttischen Knicks. Joe beschränkte sich auf einen verlegenen Hand schlag, bei dem ihre zarte Hand völlig in seiner ver schwand.
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»Das war das ›Libera me‹ aus dem Requiem von Fauré, nicht wahr?«, fragte sie. »Das war es in der Tat«, antwortete Gomes, der sich noch einmal umdrehte und verbeugte. »Einer der bleibenden Vorzüge einer katholischen Erzie hung.« »Ich schätze dieses Lied sehr.« ›»Erlöse mich, Herr, vom ewigen Tod.‹ Ich schät ze es ebenfalls.« Gomes verabschiedete sich mit einem Winken, das sowohl Hannah als auch mir galt. Joe klopfte mir auf die Schulter und bat mich, noch einen Moment mit hinunterzukommen. Ich bat Hannah, hinter mir abzuschließen. Sie nickte, aber dabei glitt ein miss trauischer Blick über ihr Gesicht. »Ihr Jungs habt also beschlossen, dass es sich doch nicht mehr lohnt, nach Wickenden zurückzufahren, nachdem ihr ein bisschen außerhalb eures Zustän digkeitsbereichs herumgeschnüffelt habt? Stattdes sen wolltet ihr lieber das Schloss eines Reporters aufbrechen und ihm bei der Gelegenheit die Chance auf einen vergnüglichen Abend mit einer schönen Frau ruinieren?«, fragte ich. »Sie ist wirklich ganz reizend«, sagte Gomes. »Das hast du gut gemacht. Aber verstößt ein Reporter nicht gegen irgendein journalistisches Berufsethos, wenn er sich mit einer Quelle einlässt?« »Ja«, griff Joe das Thema auf, »bei uns im Revier haben sie kürzlich auch so ein Merkblatt verteilt. Keinen Sex mehr mit den Freundinnen von Ver dächtigen. Von jetzt an nur noch Blowjobs.« »Hör dir das an«, sagte Gomes, der wie ich lachen
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musste. »Dabei bin ich ein braver Familienvater, und du wahrscheinlich noch zu jung für diese Art Gere de.« Joe legte mir einen Bärenarm um die Schulter und beugte sich vor. »Paulie, du musst mir verraten, ob sie …« »Hey, lass den Jungen in Ruhe«, unterbrach ihn Gomes. Vielleicht hatte er trotz der Dunkelheit ge merkt, dass ich rot geworden war. Joes Gesichtsaus druck wechselte zwischen beschämt und teuflisch grinsend hin und her. Ich musste gegen meinen Wil len ebenfalls grinsen. »Wir waren in der Kneipe dei nes Toten, deswegen sind wir hier. Dem Lone Wolf. Wir haben uns gedacht, nachdem wir schon mal zu einer Fahrt aufs Land aufgebrochen sind, können wir auch gleich hier vorbeischauen.« »Ein seltsamer Schuppen«, meinte Joe. »Es gibt ja in jeder Stadt ein, zwei Kneipen, wo man den ganzen Tag trinken kann, aber eine so dermaßen triste ist mir selten untergekommen. Das fleckige Linoleum, die Heilsarmeesofas, der kleine Schwarz-WeißFernseher hinter der Theke, auf dem sie sowieso keine anständigen Sender reinbekommen … Eine richtige Depressivenkneipe.« Wir erreichten ihren Wagen: einen unauffälligen blauen Crown Vic, der in Wirklichkeit auch nicht stärker aufgefallen wäre, wenn jemand »Bullen« auf die Motorhaube gesprüht hätte. »Ja, und dieser Albanian Eddie ist wirklich ein Ausbund an Charme«, fuhr Joe fort. »Auch wenn ich nicht glaube, dass er Albaner ist.« »Nicht? Woher willst du das wissen?«
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»Na ja, mein Onkel Abe kann ja weiß Gott wie viele Sprachen. Ich glaube, er spricht zehn oder zwölf fließend und ungefähr zehn weitere so, dass er sich einigermaßen verständlich machen kann. Jedenfalls hat er mir und all meinen Cousins und Cousinen, als wir Kinder waren, zwei Sätze in jeder europäischen Sprache beigebracht. Na ja, natürlich nicht in jeder einzelnen, aber er hat gesagt: ›In jeder Sprache, die sich zu lernen lohnt, sogar Albanisch.‹ Das war sein erklärtes Ziel – ›sogar Albanisch‹.« »Wie lauteten die beiden Sätze?« »›Das ist ein schönes Land‹ und ›Er zahlt‹.« »Und deswegen …« »Und deswegen bleibt einem so was im Gedächt nis hängen, und deswegen sage ich, um das Ganze ein bisschen aufzulockern, zu diesem angeblich al banischen Eddie auf Albanisch: ›Das ist ein schönes Land.‹ Er hatte keinen blassen Schimmer, wovon ich überhaupt redete.« »Vielleicht lag es an deiner Aussprache«, gab ich zu bedenken. »Ja, ja, es ist immer alles meine Schuld, nicht wahr?« Joe rülpste herzhaft. »Vielleicht habe ich es beim ersten Mal ja wirklich nicht ganz richtig ausge sprochen, aber ich versuchte es vier oder fünf Mal, bis er schließlich meinte, wir sollten etwas zu trinken bestellen oder verschwinden. Wir bestellten also je der einen Schnaps und ein Bier, und dann fragte ich ihn, ob er Eddie heiße. Er sah mich ganz erstaunt an und fragte, woher wir das wüssten, woraufhin ich sagte, wir seien Freunde von Jaan Pühapäev. Da reg te er sich richtig auf, sagte, Jaan habe immer zu viel
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geredet, aber nun sei er tot, und das tue ihm Leid, aber warum wollten auf einmal alle über Jaan reden, und das alles spiele jetzt doch sowieso keine Rolle mehr, und diesen ganzen Mist.« »Und dann?« »Dann zeigen ihm Gomes und ich unsere Dienstmarken, ganz schnell, damit er nicht sieht, dass sie aus Wickenden sind, und er dreht völlig durch. Sagt, er bezahle die Bullen jeden Monat. Kannst du dir das vorstellen? Nennt mich ein geld gieriges amerikanisches Schwein und sagt, ich solle aus seiner Kneipe verschwinden, sonst werde er meinen Chef anrufen. Ich antworte ihm, nur zu, das sei sein gutes Recht. Daraufhin drischt er auf die Bar und sagt immer wieder, wir sollen endlich ver schwinden. Wir trinken also unser Bier aus, und er reißt uns sofort die Gläser weg und stellt sie ins Spülbecken. Während er uns den Rücken zukehrt, lasse ich eins von den Schnapsgläsern in meiner Ta sche verschwinden. Da ist es immer noch – zum Glück bin ich nicht darauf gelandet.« Er schnippte mit dem Mittelfinger gegen die Brusttasche seines Blazers, wo ein leises Klirren zu hören war. »Jetzt fahren wir zurück aufs Revier. Sally wird die Finge rabdrücke überprüfen lassen. Mal sehen, ob was da bei rauskommt. Ist nur ein Versuch, aber man weiß ja nie.« »Was glaubst du, woher er kommt?«, fragte ich. »Und warum erzählt er den Leuten, dass er Albaner ist? Und wohin schickt ihr die Fingerabdrücke?« »Neugieriges kleines Kerlchen, was?«, sagte Joe zu Gomes. »Keine Ahnung, woher er kommt. Ich konnte
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seinen Akzent nicht zuordnen, obwohl ich darin nor malerweise ziemlich gut bin. Warum er sich als Alba ner ausgibt? Ich weiß es nicht, aber wenn er verheim lichen will, woher er in Wirklichkeit kommt, scheint es mir eine recht gute Strategie zu sein. Ich meine, wie vielen albanischen Einwanderern wird er hier in die Arme laufen? Wer weiß hier schon, wie ein Alba ner klingen sollte? Wie viele Leute sind in der Lage, das Land auch nur auf der Landkarte zu finden? Du?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete ich kleinlaut. »Du?« »Und ob ich das könnte!«, antwortete Joe stolz.
»Unser dicker Joey ist ein Landkarten-Freak«, er klärte Gomes. »Mir ist vor ihm noch nie jemand un tergekommen, der sich hinsetzt und nur so zum Spaß Landkarten liest: Straßenkarten, Stadtkarten, Welt karten – einfach alles in diese Richtung. Und dann hat er auch noch ein phänomenales Gedächtnis. Ich weiß, dass er ein Schlamper ist und aussieht, als wür de er in seinen Klamotten schlafen, aber sein Verstand funktioniert wirklich gut.« »Ich mag diesen Anzug«, sagte Joe. Gomes lächelte kopfschüttelnd. »Aber jetzt zu deiner letzten Frage«, fuhr Joe fort. »Wer bekommt die Fingerabdrücke? Natürlich der ganze Bundesstaat, auf lokaler und übergeordneter Ebene. Kein Problem. Das FBI, nehme ich an. Für Sally wahrscheinlich kein Problem. Vielleicht sogar Interpol. Die geben immer so damit an, dass ihr Computersystem hunderte von Ländern miteinander verbindet, aber ihre Datenbanken sind in der Regel ziemlich mies. Ein fauler Bürokrat in Lissabon ist
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nichts anderes als ein fauler Bürokrat in Wickenden, stimmt’s? Wie auch immer, vielleicht landen wir ja einen Treffer. Uns wäre schon geholfen, wenn wir wüssten, woher er kommt – mein Gott, uns wäre schon geholfen, wenn wir seinen Nachnamen wüss ten –, und deswegen fangen wir jetzt mal so an, und dann sehen wir weiter.« »Eigentlich«, meinte Gomes und blies in seine Hände, um sie warm zu halten, »könnten wir Püha päevs Fingerabdrücke auch gleich mitschicken. An dem Typen war irgendwas faul, das ward immer kla rer, je tiefer wir graben. Nachdem wir seine Finge rabdrücke sowieso schon im Computer haben, kann es ja nichts schaden, oder?« »Stimmt«, antwortete Joe. »Wir könnten seinen Namen und seine Fingerabdrücke auch nach Estland schicken. Vielleicht haben die ja was über ihn. Bei uns auf dem Revier spricht nicht zufällig jemand est nisch, oder?« »Ich glaube nicht«, antwortete Gomes. »Oder viel leicht doch. Was ist mit diesem jungen Typen, der immer aussieht, als wäre ihm gerade ein Gespenst begegnet? Ich glaube, er schlägt sich mit dem organi sierten Verbrechen herum. Weißt du, welchen ich meine?« »Ja, ich glaub schon. So ein ganz Magerer, der aus sieht, als würde er in den gleichen Läden einkaufen wie du?« »Wenn du damit meinst, dass er gepflegt aus sieht«, sagte Gomes, während er Joe über den Rand seiner Brille anfunkelte, »dann sprechen wir wohl von demselben Typen, ja. Woher kommt er?«
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»Er heißt Prijenko. Und du hast Recht, er arbeitet an Fällen, die mit der russischen Mafia zu tun haben. Ich bin immer davon ausgegangen, dass er selber auch Russe ist, aber sicher weiß ich es nicht. Viel leicht kann er uns in Sachen Estland tatsächlich wei terhelfen. Ich nehme an, dort sprechen sie immer noch ein bisschen Russisch. Allerdings habe ich noch nie ein Wort mit dem Typen geredet. Vielleicht könntest du ein bisschen Vorarbeit leisten? Dich mit ihm über Krawatten und Aftershaves austauschen oder so was in der Art?« »Sehr witzig. Und du, junger Mann«, wandte Go mes sich an mich, »gehst jetzt am besten wieder hin auf und rettest die hübsche junge Dame vor sich selbst. Wie der Dicke schon gesagt hat, das Schloss müsste noch funktionieren, und was den Küchen stuhl betrifft, war Joe gerade im Begriff, ihn zu be zahlen, stimmt’s?« Joe verdrehte seufzend die Augen und holte eine faustdicke Brieftasche heraus, aus der Unmengen von Zetteln und Rechnungen hervorlugten. Mit einem wehmütigen Blick reichte er mir einen Fünfziger und fragte, ob das reiche. Ich sagte ja, und er nickte. »Übrigens«, sagte ich, »habe ich heute Pühapäevs Bruder kennen gelernt. Zumindest hat er sich dafür ausgegeben. Was nicht heißen soll, dass ich ihm das wirklich abgenommen habe.« »Wo hast du ihn kennen gelernt?«, fragte Gomes.
»Bei Hannah. Sie hat gesagt, er sei hier, um den Leichnam abzuholen.« »Was ja nicht unbedingt heißen muss, dass er tat sächlich der Bruder ist.«
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»Was aber auch nicht heißen muss, dass er es nicht ist. Sogar böse Jungs haben Brüder«, sagte Joe und klimperte dabei wie eine Disney-Figur mit den Wimpern. »Nun wird es aber wirklich Zeit, dass wir aufbrechen, Sally. Die Wildnis hier draußen verur sacht mir langsam Beklemmungen. Und vergiss nicht, dir morgen ein neues Türschloss zu besorgen, Paulie. Bekommt man so was hier überhaupt?« »Nein, normalerweise nageln wir einfach einen Baumstamm quer über die Tür, bevor wir ins Bett gehen. Das ist nur immer ein bisschen aufwändig, wenn man nachts raus muss auf die Außentoilet te.« Als ich wieder nach oben kam, stand Hannah mit verschränkten Armen in der Tür zwischen Wohn zimmer und Küche, die Tüte mit meinen Einkäufen zu ihren Füßen. Ihr Blick wirkte halb verärgert, halb verwirrt. »Wer waren denn diese Typen?«, fragte sie, so bald ich die Tür hinter mir zugezogen hatte. Joe hat te Recht gehabt, das Schloss funktionierte noch bes tens. Nur ein paar Kratzer neben dem Schlüsselloch wiesen darauf hin, dass sich jemand daran zu schaf fen gemacht hatte. Ich schob den Riegel vor und hängte die Kette ein. »Zwei Freunde aus Wickenden. Sie haben mir geholfen, für meinen Artikel über Jaan Informatio nen aufzutreiben.« Sie hob die Arme und ließ sie dann mit einer ge nervten Geste gegen ihre Oberschenkel klatschen. »Wie vielen Leuten willst du denn noch davon er
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zählen? Wolltest du nicht eigentlich etwas schreiben? Oder hast du vor, weiter durch die Gegend zu fahren und alle möglichen Fremden dazu zu bringen, ihn zu verleumden?« »Wer sagt denn, dass sie ihn verleumden?« Sie stieß ungeduldig die Luft aus und senkte den Kopf, sodass sie mich wie ein wütender Stier von unten herauf anfunkeln konnte. Dann sagte sie lang sam und jede Silbe betonend: »Wer … waren … die se … beiden … Männer?« Zwei wirre Sekunden lang kämpfte ich mit mir, ob ich lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Eigentlich tendierte ich zum Lügen, aber mir fiel auf die Schnelle keine gute Geschichte ein: Was konnte ich mit zwei Männern zu tun haben, die ein ganzes Stück älter waren als ich, Schlösser knackten, lateini sche Lieder sangen, einen Crown Vic fuhren und auch in Innenräumen Blazer trugen, die sich unter dem Arm seltsam beulten? »Zwei Detectives aus Wickenden«, antwortete ich ziemlich verlegen. Hannah explodierte. »Polizei! Du hast mit der Po lizei gesprochen? Wann? Warum? Was haben sie vor? Was haben sie zu dir gesagt?« Sie stürmte auf mich zu, blieb aber nach ein paar Schritten abrupt stehen und kehrte an die Stelle zurück, wo sie vorher ge standen hatte. Dann setzte sie sich erneut in Bewe gung und blieb erst ganz knapp vor mir wieder ste hen. Am liebsten hätte ich sie geküsst. Als ich ihr eine Hand auf die Schulter legte, schlug sie sie weg und sah mich eindringlich an. »Ich habe heute Nachmittag mit ihnen gespro chen. Daher wusste ich auch das über Jaan und den
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Anwalt. Sie haben mir gesagt, dass er ein paarmal
verhaftet worden ist.« »Und?« »Nichts und. Der Große, Kräftige ist der Neffe meines alten Professors. Er ist vom Dienst suspen diert und hat deswegen Zeit, mir zu helfen.« »Warum ist er suspendiert?« »Weil er sich mit einem Typen angelegt hat, mit dem er sich nicht hätte anlegen sollen.« »Na wunderbar. Wie schön für dich, dass du so jemanden auf deiner Seite hast.« »Er ist gar nicht so, und er und ich stehen auch nicht auf irgendeiner Seite.« Ich wartete auf eine Reaktion, aber sie starrte mich nur an. Inzwischen war ich überhaupt nicht mehr in der Lage, ihren Ge sichtsausdruck zu deuten. Ich hatte keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging. Ich hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu ha ben. Alles, was sie aufregte, war für mich automatisch falsch. Wären Joe und Sal jetzt noch hier gewesen, hätte ich sie auf der Stelle gebeten, der Sache nicht weiter nachzugehen. Aber dann fiel mir etwas ein: »Möchtest du denn gar nicht wissen, was mit Jaan passiert ist? Wie er gestorben ist?« Seufzend legte sie eine Hand an die Stirn und fuhr sich dann damit durchs Haar. »Natürlich. Natür lich möchte ich das wissen. Schließlich war er mein Freund, nicht deiner. Für mich war er nicht nur ein Trittbrett für einen neuen Job.« »Das ist er für mich auch nicht. Es ist nicht fair von dir, so etwas zu sagen. Tut mir Leid, aber ich verstehe wirklich nicht, warum du dich so aufregst.
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Wir versuchen doch nur herauszufinden, was mit Jaan passiert ist. Deinem Freund. Was ist daran so falsch?« »Paul … Hör zu, ich möchte jetzt nicht mehr über dieses Thema sprechen, ja? Ich möchte nach Hau se.« Sie zog ihren Mantel an und entriegelte die Tür. »Nein, warte. Warum?« Sie gab mir keine Antwort. »Soll ich dich fahren?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann melde ich mich später noch mal telefo nisch bei dir«, sagte ich halbherzig. Mir war klar, dass diese Ankündigung auch nicht viel dazu beitragen würde, sie zu beschwichtigen. »Mach, was du willst«, antwortete sie, und fast lä chelte sie dabei. Dann zog sie leise die Tür hinter sich zu, und ich hörte sie die Treppe hinuntergehen und die Haustür hinter sich schließen. Was ich mir jetzt gewünscht hätte, war ein Essen und eine lange Nacht mit Hannah. Ich überlegte, ob ich ihr nachlaufen sollte, aber so seltsam das an die sem Punkt meiner Erzählung auch klingen mag: Ich besitze durchaus ein klein wenig Stolz. Dabei hatte ich extra die Zutaten für ein Festmahl eingekauft, auf meiner Heimfahrt von Wickenden das Menü ge nau geplant und mir schon in allen erdenklichen Va riationen vorgestellt, wie wundervoll der Abend nach dem Essen weitergehen würde. Die Wirklichkeit hatte mit meinen Phantasien nicht das Geringste zu tun: Nachdem ich die Ravioli ungekocht in einen Plastikbehälter mit kalter Arrabi ata-Sauce getaucht und dieses jämmerliche Mahl mit
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Montepulciano aus der Flasche hinuntergespült hat te, schaute ich mir die Wiederholungen irgendwel cher Serien an, die schon beim ersten Mal nicht be sonders lustig gewesen waren. Irgendwann im Lauf dieser nahtlos ineinander übergehenden Reihe von Ergüssen über schleimige, aber unverwüstliche Fa milien, gestörte junge Erwachsene, die mit anderen gestörten jungen Erwachsenen zusammenwohnten und ihre gescheiterten Beziehungen diskutierten, und weinerlichen, narzisstischen Bewohnern und Bewohnerinnen Manhattans, die sich in theatrali schen Floskeln ergingen, schlief ich auf meiner Couch ein und wachte erst wieder auf, als auf mei nem Fernsehbildschirm ein Testbild zu sehen war (der große Vorteil von Fernsehsendern, die nur einen kleinen Markt bedienen) und ich die Nässe des Rotweins spürte, der mir ins Hemd gelaufen war und meine ganze Brust rosa gefärbt hatte.
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Der weiße Mediko
D Weiß ist die Farbe der Mitte: die Farbe unbetroge ner Ehemänner, nicht junger, verliebter Männer; enttäuschter Schriftsteller, nicht heranwachsender Dichter; halb fertiger Schlösser, nicht halb fertiger Häuser. D GEORG NAGYD Sorratis Tragödie
18. März 1987 Mein Freund, anbei finden Sie eine der zwei Münzen, mit deren Sicherstellung Sie mich und Abulfaz beauftragt hat ten. Ich werde Ihren Dank entgegennehmen, kann Ihnen im Gegenzug aber leider keinen aussprechen: Nachdem ich mit dieser abscheulichen Null in dieses schreckliche Land reisen musste, sind Sie bei mir längst nicht mehr so gut ange schrieben, wie Sie es einmal waren. Das war nun das dritte Mal innerhalb von ebenso vielen Jahren, dass ich mein Zuhause verlassen und mich auf eine eigentlich sinnlose, nur durch Woskresenjows Projekt nötig gewordene Mission begeben musste. Armenien und Turkmenistan waren schon schlimm genug, aber ich war immer ziemlich stolz darauf gewesen, noch nie einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt zu haben. Dass ich diesem Grundsatz nun untreu
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werden musste, noch dazu zusammen mit einem Mann, in dessen Gesellschaft ich noch keine ruhige Minute verbracht habe, ist fast mehr, als ich ertragen kann. Wäre ich nicht ich, und Sie nicht Sie, dann müsste ich eigentlich böse auf Sie sein. Aber egal. Mein vormaliger Begleiter beharrte darauf diese Aufteilung des Schatzes sei Ihre Idee gewesen. Einzig und allein aus diesem Grund war ich damit einver standen. Ich kann nur vermuten, dass Sie dafür denselben Grund hatten wie für diese ganze verdammte chaotische Reise: die amerikanische Frage. Sie kennen meine Meinung zu diesem Thema. Diese Reise hat mich darin nur bestätigt. Was den Wahrheitsgehalt meines Berichts betrifft, bin ich sicher, dass Sie mich noch nie als unehrlich kennen gelernt haben, wohingegen Täuschung nur eine von vielen zweifel haften Praktiken ist, mit denen mein Reisepartner seinen Lebensunterhalt verdient. Wir trafen uns wie vereinbart in einer der unzähligen trostlosen kleinen Bars, von denen es am Brüsseler Flugha fen so viele gibt. Wie immer, wenn ich Gelegenheit habe, Belgien zu besuchen, sann ich über die Frage nach, warum wohl ausgerechnet das langweiligste Volk der Erde eine solch bemerkenswerte Vielfalt von Bieren produziert. Glau ben die Belgier, dass das ihre Langweiligkeit mindert? Dem ist nicht so. Bilden sie sich ein, dem Planeten damit irgend einen wertvollen Dienst zu erweisen? Dem ist nicht so. Wann immer der Stolz einer Nation glasweise geschluckt werden kann – jeweils in einem eigenen, genau passenden Glas, versteht sich –, dann handelt es sich dabei um eine Nation, die zu erwähnen sich kaum lohnt. Und bitte begin nen Sie nun keine Ausführungen über König Boudewijn, an den sich niemand erinnert, oder Tintin, der schließlich nur eine Cartoon-Figur ist, geschaffen von einem Mann, der zu
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beschränkt war – seine Anhänger ersetzen »beschränkt« durch »gutmütig« oder »vertrauensvoll«, wie es die Leute so oft tun –, um zu merken, dass er von den Nazis ausge nutzt wurde. Es wäre für die Welt kein großer Verlust, wenn Belgien von Frankreich, Deutschland oder (soll ich zu träumen wagen?) der Nordsee geschluckt worden wäre. Wie auch immer: Dort saß ich und genoss friedlich mein Leffe, als sich ein Mann, gekleidet wie ein Jude aus dem East End, der endlich auf das richtige Pferd gesetzt hatte, auf den Stuhl mir gegenüber sinken ließ. Es dauerte ein paar Momente, bis ich begriff, dass es sich dabei tatsächlich um Abulfaz handelte: Er hatte sein Haar gebleicht, sich einen albernen kleinen Schnurrbart wachsen lassen und trug eine völlig lächerliche Brille, deren Gläser wie Fern sehapparate geformt waren. Kaum hatte ich ihn begrüßt, informierte er mich auch schon darüber, dass wir uns nicht einmal unter vier Augen mit unseren richtigen Namen an sprechen dürften: Ich solle ihn Riley nennen, und er werde mich als Parker anreden. Ihm war natürlich nicht bewusst, dass ich in diesem Fall den besseren Part erwischt hatte – wer würde schon freiwillig in die Rolle eines Iren schlüp fen? –, auch wenn sein Akzent eher nach BBC World Ser vice als nach Auld Erin (oder gar Kilburn High Road) klang. Trotzdem fand ich es fast eine Spur übertrieben, dass er sein Mantel-und-Degen-Theater vor einer Barfrau mit fauligen Zähnen und ein paar fetten Bewohnern des europäischen Festlands aufrechterhielt, aber er beharrte darauf, dass wir »die ganze Zeit unsere Rollen spielen« müssten, nicht nur um der Kontinuität willen, sondern auch, weil »wir nie wissen, wer uns gerade zuhört«. Das waren tatsächlich seine Worte, genau wie in einem dieser billigen Agentenfilme, die sie am Sonntagnachmittag immer
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zeigen. Es erschien mir einfacher, einzulenken als zu protes tieren, deshalb lenkte ich ein. Während des endlosen Flugs bestand Riley außerdem darauf, dass ich das »Dossier« las – er nannte es »Dos sier«, nicht »Material« oder »Unterlagen«, sondern tat sächlich »Dossier« –, das er über die Mediko-Münzen vor bereitet hatte, weil er wohl annahm, dass ich genauso un kultiviert, unwissend und ungehobelt war wie er selbst. Ich wies ihn darauf hin, dass einer der Artikel (ein unoriginel ler kleiner Erguss, erschienen in einer jener kleinen Fach zeitschriften, die niemand liest, geschrieben von einer rüben förmigen griechischen Doktorandin, deren Vater, ein Bau unternehmer, dafür gesorgt hatte, dass ihre Universitäts karriere erfolgreich verlief) unter meiner Ägide geschrieben worden war und ich in der Bibliographie viermal genannt wurde. Diesmal war er derjenige, der einlenkte. Knapp zusammengefasst, lautet die Geschichte der Mün zen wie folgt: Medea, wie Abulfaz zweifellos nicht wusste, bevor er sich auf diesen Auftrag vorzubereiten begann, wird als eine der Matriarchinnen gewisser geheimnisumwobener Zweige der Botanik betrachtet, und zahlreiche Pflanzen mit medizinischer, therapeutischer oder einfach entspannender Wirkung, deren Ursprünge im Kaukasus liegen, sind nach ihr benannt worden. Laut der Legende – der auf meinem Gebiet oft verlässlichsten Quelle – waren diese zwei Münzen verantwortlich für die prächtigen Gärten am Hof von Kö nig David dem Erbauer, der gegen Ende des ersten Jahr tausends über Georgien herrschte. Sie wurden als Geschenk einem gewissen arabischen Geographen übergeben, den wir alle kennen und der eine nicht näher bezeichnete, aber wert volle Leistung erbracht hatte, die etwas mit der hässlichen Tochter des Königs, einem ausgehöhlten Baumstumpf voller
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zinnoberroter Farbe, einem männlichen Esel in einem frü hen Stadium der Erregung und vier Taschentüchern zu tun hatte. Als der Geograph sein Vorhaben verkündete, die Münzen mit nach Bagdad zu nehmen, war Davids einzige Bedingung, dass der Geograph sie nach dreihundert Neu monden nach Kutaissi zurückbringen sollte. Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass David die ruhmvollen Zeiten, die in Bagdad und Sizilien folgen soll ten, nicht voraussah: Niemand tat das. Niemand hätte sie voraussehen können, und seit damals ist keine noch so phantasievolle gärtnerische Meisterleistung – höchstens viel leicht mit Ausnahme der Arbeit von Capability Brown jemals an sie herangekommen. Dass der Geograph seinen Teil der Abmachung ohne bewusstes Zutun von seiner Seite einhielt, ist einer der seltsameren Zufälle (oder Beweise, wenn man zu einer solchen Sichtweise neigt) in der botani schen, arabischen, numismatischen oder kaukasischen Ge schichte. Nachdem Riley seine Versuche, mich zu belehren, einge stellt hatte, verwandte er den Rest des Fluges darauf sich selbst zu verschönern: Auch wenn Akademiker mittlerweile in der Touristenklasse fliegen, geben sie anscheinend immer noch hunderte – nein, tausende – von Pfund für feine An züge aus. Und seiner war wirklich vom Feinsten: ein Drei teiler, versteht sich, in Dunkelgrün, mit einer perfekt pas senden Seidenkrawatte, einer Saphir-Krawattennadel und einem roten Einstecktuch. Der Effekt war absolut albern: irgendwo zwischen einem viktorianischen Dandy und Al Capones Stellvertreter ihm fehlten wirklich nur noch Ga maschen und ein Gehstock –, aber er schien ziemlich stolz auf sich zu sein. Während des Landeanflugs drängten sich eine Gruppe
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quietschender Schulmädchen und deren pickelgesichtige, affenähnliche Begleiter alle zusammen in eine schmale Halbreihe von Fenstersitzen. Nie habe ich die gurrende Zärtlichkeit verstanden, die Kinder bei manchen Leuten auslösen. In meinen Augen sind Kinder – und ich dehne diesen Begriff auf alle unter vierzig aus – höchst jämmerli che kleine Kreaturen: gewalttätig, renitent, laut, in alle Richtungen Pheromone und Körperflüssigkeiten ausstoßend. Auf jeden Fall nehme ich an, die Bälger hofften, die Frei heitsstatue zu sehen oder vielleicht Superhelden, die gerade von Hochhäusern sprangen. Möglicherweise versuchten sie auch, das Glitzern von Gold auf den Straßen zu entdecken. Stattdessen sahen wir nichts als kleine Streichholzschachtel häuschen, eine Straße nach der anderen, lauter klapprige, (sogar aus dieser Höhe) deprimierende Dinger, die Luton oder Slough bestimmt nicht schöner gemacht hätten. Nachdem wir diesem silbernen Walsarg schließlich ent kommen waren und uns langsam bis zum Zoll vorge kämpft hatten, würdigte man uns dort kaum eines Blickes, sondern winkte uns einfach durch. Können Sie sich das vorstellen? In Armenien und Turkmenistan wurde ich auf Herz und Nieren geprüft – Wo kam ich her? Wie sahen meine Pläne aus? Was für Papiere hatte ich? –, was zur Folge hatte, dass ich mich während der gesamten Reise vollkommen sicher fühlte. Hier verlassen sich die Zollbeam ten anscheinend auf ihre gute alte amerikanische Intuition und schauen einfach, ob man ein guter oder ein schlechter Kerl ist, ob man einen Revolver mit einem weißen oder einem schwarzen Griff im Halfter stecken hat, und fertig. Gehen Sie einfach geradeaus weiter, ja, und achten Sie dar auf, nicht weniger als die Ihnen zugeteilten acht Hamburger pro Tag zu essen, und das war’s. Statt unsere Dokumente
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zu prüfen – statt ihre Arbeit zu tun, um es anders auszu drücken –, katzbuckelten die Zollbeamten alle vor einem fünftklassigen Adonis, der ganz aus makellosen Zähnen und manikürten Nägeln zu bestehen schien und dessen Haar aussah wie ein aufgestelltes Vogelnest. Riley sagte mir, er sei ein amerikanischer Fernsehschauspieler, und wusste sogar den Namen der Serie, bei der er mitspielte – eine Information, die ich natürlich so schnell wie möglich wieder vergaß. Nachdem wir den Zoll hinter uns gelassen hatten, sam melten wir unser Gepäck wieder ein – jeder nur eine einzige armselige Tasche – und quetschten uns in ein Taxi, das uns zu der Unterkunft bringen sollte, die Riley für uns organi siert hatte und stolz »Gästehaus« nannte. Unser Fahrer bestand darauf, während der ganzen Fahrt mit uns zu sprechen, auch wenn er hin und wieder von irgendeinem penetrant riechenden Müll abbiss, den er mit seinen fettigen Händen aus einem Alufolienpäckchen zog. Nachdem wir uns vorher schon durch die Schlange am Taxistand und seinen wahrhaft »Vereinten Nationen« von ungewaschenen und windigen Gestalten gekämpft hatten, die hinter den Steuerrädern dieser scheußlichen gelben Biester lauerten, wollte ich eigentlich nur noch die Augen schließen und die Fahrt hinter mich bringen. Doch dieses Glück war mir nicht vergönnt: Der Fahrer musste Riley (der sich auch noch ge nötigt fühlte, ständig nachzufragen) von seiner ganzen gott verdammten Familie erzählen – seinen sämtlichen Kindern und dem Dorf in Wogistan oder wie auch immer das Loch hieß, aus dem er gekrochen war –, bis ich Riley schließlich einen Ellbogen in die Nieren rammte und er den Mund hielt. Ich hatte mich auf ein schönes gemütliches Zimmer mit
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einem Bett und einer Waschschüssel und vielleicht sogar einer Wärmflasche gefreut, wo ich mich in Ruhe ausstrecken konnte. Stattdessen landeten wir in einem schmutzigen klei nen Restaurant mit einem knallbunten Neonschild im Fenster – ich weiß nicht einmal mehr, wie der Text lautete, und kann mir auch nicht vorstellen, wie irgendjemand in der Lage sein soll, Worte zu lesen, die ununterbrochen blin ken. Das Restaurant selbst … nun ja, der Boden war mit Erdnuss- und Mandelschalen übersät, es stank nach Knob lauch, und überall drängten sich fette Juden mit Goldzäh nen, die aufeinander einquasselten, wie diese Leute es im mer tun. Die Männer hatten diese albernen kleinen runden Schulmützen auf, und die dicklippigen Frauen trugen na türlich alle Halsketten mit schweren, juwelenbesetzten An hängern: Den Rest überlasse ich Ihrer Phantasie. Obwohl der Besitzer kaum Englisch sprach, stellte er sich uns ganz lässig als »Sam« vor. Riley, der sonst vor jedem Fremden buckelt und mit den Füßen scharrt, bewies endlich mal ein wenig Rückgrat und fragte den Mann, ob er wirklich Sam heiße, woraufhin der zugab, dass dem nicht so war: Er hatte irgendeinen von diesen typischen, unaussprechlichen Namen, den er aber – wie sie es immer tun – einfach abge legt hatte. Natürlich macht das keinen Unterschied, man erkennt sie trotzdem – es hat mit der Form der Stirn zu tun, der Krümmung der Nase und den abstehenden Ohren – , und in New York sind sie überall. Die Zimmer selbst waren kaum besser als in einem Ge fängnis: nichts als ein Bett, das eher zu breit, dafür aber zu kurz war, und ein Schreibtisch. Nicht einmal eine Wasch schüssel, geschweige denn ein Waschbecken oder eine eigene Toilette. Durch den Boden drang vulgäre, kreischende Mu sik herauf, die unser Gastgeber abgestellt hätte, wenn Riley
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nicht darauf bestanden hätte, dass er sich »unseretwegen keinerlei Umstände« machen solle. Als der gute alte Sam sich dann schließlich verabschiedete, drückte er uns einfach die Schlüssel in die Hand und machte sich nicht mal die Mühe, uns ans Zahlen zu erinnern (was mich angesichts des sechszackigen Sterns, der an seinem schlaffen, mit Leberfle cken übersäten Hals baumelte, regelrecht schockierte) oder zu erwähnen, wann wir abends wieder im Haus sein sollten, in welchem Zeitraum das Frühstück serviert wurde oder wen wir anrufen sollten, wenn wir heißes Wasser brauchten. Nichts dergleichen. Es schien ihm Freude zu bereiten, das alles uns selbst zu überlassen, als wären wir bereits Mitglie der des Haushalts oder enge Freunde der Familie (Können Sie sich das vorstellen?). Natürlich wollte ich, dass Riley sich beschwerte oder zumindest dafür sorgte, dass uns die Regeln des Hauses mitgeteilt wurden, in dem wir zu Gast waren, aber er lächelte nur aufgeblasen, holte tief Luft und erklärte dann, er sei sicher, wir würden keine Probleme ha ben, da wir an diesem Abend sowieso nicht mehr vorhätten, das Haus zu verlassen. Aber darum ging es ja wohl nicht, oder? Bestimmte Prinzipien müssen einfach aufrechterhalten werden – außer in Queens, wie es scheint. Am nächsten Morgen fuhren wir schon sehr früh in den Laden, was ich zu dem Zeitpunkt für eine gute Sache hielt, da es bedeutete, dass wir Amerika vielleicht schon an diesem Abend wieder verlassen konnten. »Sam«, so erfuhr ich von Riley, war ein Cousin des Mannes, dem die Medikos »ge hörten«, und Riley hatte monatelang mit dem Besitzer in Briefkontakt gestanden, bis er endlich die Zusicherung be kam, dass die Münzen tatsächlich das waren, wofür er sie hielt, und man sich auf einen Preis einigen konnte. Da zeigt es sich mal wieder: Sobald ein paar von ihnen versammelt
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sind, ist ein Ladenbesitzer oder Händler darunter, und immer müssen irgendwelche Preisverhandlungen stattfin den. Sie können nie einfach nur den Mund aufmachen und einem eine richtige, ehrliche, bestimmte Antwort geben. Ich nehme allerdings an, dass Riley – der im Grunde seines Herzens nichts anderes ist als ein gut gekleideter Teppich händler mit ein bisschen Bildung – dieses Gefeilsche durch aus genoss. Der Laden selbst war so dreckig wie nicht an ders zu erwarten: überall Staub, ein grünlicher Boden, übersät mit Zigarettenasche und Gott weiß was sonst noch, und schränkeweise Münzen, nichts als Geld, Geld und nochmals Geld – eine Art jüdisches Paradies, nehme ich an. Der Besitzer stellte sich uns als »Hank« vor, was aber mit Sicherheit ebenso eine Erfindung war wie der Name seines Cousins »Sam«. Er und Riley verstanden sich natürlich auf Anhieb prächtig. Ich verstehe wirklich nicht, wie man so viel Vertrauen in jemanden wie Riley/Abulfaz (wie auch immer er im Mo ment gerade heißen mag) setzen kann: Er besitzt weder eine Identität noch eine Persönlichkeit, sondern ist ein menschli ches Palimpsest, am Leben erhalten durch sein endloses Sperrfeuer aus Fragen und einen ständigen Zufluss nutzlo ser Informationen. Deswegen ist es nur natürlich, dass je mand wie er – jemand, der ständig vor sich selbst davon läuft und in Mamis Schrank mit verschiedenen Akzenten und Pässen Verkleiden spielt – sich zu dieser erbärmlichen, misstönenden Promenadenmischung von einem Volk hinge zogen fühlt. Während ich diesen Brief schreibe, habe ich die Visiten karte des Ladenbesitzers neben mir liegen: »FOREST HILLS MÜNZHANDLUNG, Hank Tonchailov, Münz kenner und -sammler, spezialisiert auf die UdSSR, geöffnet
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Sonntag bis Freitag zu den üblichen Geschäftszeiten, Ter mine ansonsten nur nach Vereinbarung.« Natürlich prä sentiert er sich damit viel großartiger, als er in Wirklichkeit ist. Letztendlich ist Tonchailov ein schäbiger Trödelhänd ler, der seinen eigenen Leuten die letzten kleinen Erinne rungsstücke wegnimmt, die sie aus ihren Heimatländern mitgebracht haben: Er ist also ein Amerikanisierer, um es anders auszudrücken. Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, ihn zu fragen, wie er es fertig bringe, die Andenken seines Volkes (und ich gebrauchte »seines Volkes« hier in einem sehr weiten Sinn) zu verscherbeln, aber er verstand meinen Ton falsch und wurde ziemlich aggressiv. Riley versuchte, die Wogen zwischen uns zu glätten. Zum Glück für den sehr schmächtigen Tonchailov hinderte er mich gewaltsam dar an, dem nach Knochenschwund aussehenden kleinen Juden die verdiente Lektion zu erteilen. Solch eine Erziehungsmaßnahme wäre ohnehin völlig überflüssig gewesen, da wir Tonchailovs letzte Kunden sein würden. Riley kaufte ihm die Münzen um 7300 Dollar ab. Mit jedem Hundertdollarschein, den er ihm (akribisch ge nau mitzählend) hinblätterte, wurden die Augen des Laden besitzers größer. Nachdem das Geschäft abgeschlossen war, streckte Tonchailov Riley die Hand hin. (Ich war auf einen Stuhl in der Ecke des Ladens verbannt worden, wo ungezo gene Kinder warten müssen, bis ihre Daddys mit ihren Er wachsenen-Geschäften fertig sind.) Riley schüttelte ihm die Hand und zog währenddessen mit der anderen einen An zapfer heraus, den er ihm mit voller Wucht an den Hinter kopf schlug. Tonchailov brach zusammen, als hätte ihm einfach jemand die Wirbelsäule aus dem Körper gezogen. Anschließend ging Riley in den hinteren Teil des Ladens, machte die Hauptgasleitung ausfindig, stach ein Loch hinein
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und deponierte eine kleine selbst gebastelte Bombe, die vier zig Minuten später losgehen würde. Dann wischte er mit der widerlichen Unbeschwertheit, die er immer an den Tag legt, alles ab, was wir angefasst hatten, und reichte mir ein Paar dünne Autohandschuhe. Wir kehrten in die Pension des Cou sins zurück, holten unser Gepäck ab, bezahlten die Rech nung und stiegen in den nächsten Flieger nach Brüssel.
GEGENSTAND 11 Der weiße Mediko. Eine große (im Durchmesser 5,3 Zentimeter messende) und nicht ganz runde, am Rand relativ grobe Münze. Die eine Seite besteht einfach aus Kupfer, die andere ist mit weißem Email überzogen, und auf dieses ist eine weibliche Gestalt aufgemalt, die einen Arm ausge streckt hat, als würde sie nach jemandem rufen. In der anderen Hand hält sie eine grüne Flasche. Alchemisten schätzen die Münze nicht nur wegen ihres Porträts der Medea, sondern auch wegen ihrer weißen Farbe, die, auf die verrückte Unentschlos senheit des Regenbogens folgend, die ruhige und zweckdienliche Geburt der kommenden Form signa lisiert.
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HERSTELLUNGSDATUM Unbekannt. Vermutlich nachchristlich (siehe unten), wobei jedoch hinzuzu fügen ist, dass das Christentum in Georgien im ers ten Jahrhundert n. Chr. Einzug hielt. HERSTELLER Die meisten Emailarbeiten entstanden im Kloster, und genauso wie wir nichts über das Aus sehen und die Lebensumstände jener Kelten wissen, die ihr Leben damit verbrachten, die dickbäuchigen B zu verzieren und die Kurven des S genauso verfüh rerisch aussehen zu lassen wie die der Frauen, die sie nie zu sehen bekamen, weiß auch niemand den Na men des Mönchs/der Mönche, von dem/denen die nach ihren Kindern rufende Medea gemalt wurde. Die Legende selbst aber gehört, auch wenn sie in erster Linie durch die Tragödie des Euripides be kannt geworden ist, mindestens ebenso sehr in die georgische wie in die griechische Mythologie. Medea selbst war die Tochter des Aietes, des Kö nigs von Kolchis, das dem heutigen an das Schwarze Meer angrenzenden Teil von Georgien entspricht. Der thessalische Prinz Iason, der von seinem Onkel Pelias dazu herausgefordert worden war, das Goldene Vlies zu suchen, segelte den Fluss Phasis bis zur Hauptstadt des Aietes hinauf, aller Wahrscheinlich keit nach Kutaissi oder Vani. Aietes versprach Iason das Vlies, falls es ihm gelänge, zwei feuerspeiende Stiere vor einen Pflug zu spannen und die Zähne eines Drachen auszusäen, aus denen eine Armee von Männern erwachsen würde. Medea, die sich mit der Herstellung von Zaubertränken und Glücksbringern auskannte (das moderne Wort »Medizin« hat seine
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Wurzeln in ihrem Namen, und Mediko ist der geor gische Beiname für Medea), gab Iason einen Talis man, der ihn dazu befähigte, die Stiere zu bezähmen, den Drachen zu besiegen und das Vlies in seinen Besitz zu bringen. Ab diesem Punkt weichen die verschiedenen Ge schichten voneinander ab: In Euripides’ Version bringt natürlich Iason Medea nach Hause, verschmäht sie aber dann zugunsten einer seiner Laufbahn dienli chen Heirat mit Kreons Tochter Glauke. Als Folge davon verfällt Medea in Wahnsinn und tötet ihre Kin der. Euripides lässt seine Tragödie damit enden, dass sie in einem Wagen davonfährt, der von ihrem Groß vater, dem Sonnengott, gezogen wird. Laut der geor gischen Überlieferung aber brachte Ägeus, der König von Athen, der begierig darauf war, die Gunst einer so weisen Gelehrten und ihres als Krieger berühmten königlichen Vaters zu erlangen, Medea und ihre Kin der durch einen Zauber aus Thessalien nach Athen, und von dort nach Hause. Der Zaubertrank, den sie ihren Kindern gab, ließ für eine Weile deren Atem stillstehen. Anschließend schlachtete sie über ihnen ein Lamm und zeigte sie – leblos und blutig – ihrem Ehemann, um ihn auf diese Weise in den Wahnsinn zu treiben. Nachdem ihre List geglückt war, erweckte sie die Kinder wieder zum Leben, floh zusammen mit ihnen und lebte ein ganzes Jahrhundert lang als Hei lerin, Mutter und Beraterin (aber niemals Bettgefähr tin) des Königs von Athen. HERKUNFTSORT Das smaragdgrüne, safrangelbe und ultramarinblaue geometrische Muster rund um den
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Rand der Münze weist – wie ein Großteil der mittel alterlichen georgischen Kunst – auf einen persischen Einfluss hin. Medeas dunkler, weinroter Hautton und ihr etwas heller dargestelltes Gesicht mit den bemerkenswert fein ausgearbeiteten Gesichtszügen (besorgt, erwartungsvoll, mit hochgezogenen Augen brauen, eingefallenen Wangen und leicht geöffneten Lippen), der Faltenwurf ihres Gewandes und die stilisierte Haltung ihrer schlanken Hand sind typisch für die georgische Ikonographie. Die Thematik ist typisch kolchisch. LETZTER BEKANNTER BESITZER Lawrentij Ma schenabili, Nachfahre von Priestern, Vater von Mons tern, Gatte einer alten Vettel (genauer gesagt, Gatte von Batumis Parteichefin), der kaputte Zähne aus besserte und füllte und seine Tage knöcheltief in dem Speichel und der Fäulnis anderer Leute ver brachte, ein Meister des sowjetischen Tricks, immer nur Dritt- oder Viertbester zu sein: gut genug, um Vertrauen zu erwecken, aber nicht so überragend, um Verdacht zu erregen. Lawrentij vollbrachte in seinem Leben insgesamt zwei gute Taten. Dieser niedrige Schnitt beschämte ihn. Dass es zwei mehr waren, als die meisten anderen Leute für sich in An spruch nehmen konnten, tröstete ihn nicht. Lawrentijs Vater entrann während des Aufstands von 1924 dem Tod, indem er sich unter einem Berg von Leichen versteckte, in den ein aus Woronesch stammender, hoch motivierter oder wahnsinniger Angehöriger der Roten Armee 564 Revolverkugeln abfeuerte. Achtzehn Monate später wurde er nach
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Sibirien deportiert und starb auf dem Weg dorthin.
Er hinterließ drei Söhne und eine schwangere Frau.
Die örtlichen Parteifunktionäre hatten ein beson deres Auge auf David, den ältesten Sohn: Schließlich war er das Kind eines Deportierten. Als er alt genug war, um seinen Wehrdienst abzuleisten, schickten sie ihn an einen entlegenen Außenposten mitten in der Karakum-Wüste. Eines endlosen Wüstentages brach ten ihn die Langeweile und selbst gebrannter Wodka dazu, die Herausforderung des befehlshabenden Of fiziers anzunehmen und sechs lebende Skorpione zu verschlucken, woraufhin er einen so qualvollen Tod starb, dass die Kinder des befehlshabenden Offiziers noch heute davon träumen. Zviad, der zweite Sohn, ertrank während einer U Boot-Übung in Vilnius. Leon, der dritte Sohn, zog es vor, nicht in der Ar mee zu dienen, die seinen Vater und seine beiden Brüder das Leben gekostet hatte, floh durch die Türkei und ließ sich in den Ausläufern der TalisBerge nieder, wo er zum Islam konvertierte, den Kontakt zu seiner Familie abbrach und an einem schattigen Plätzchen ein kleines Café eröffnete. Er lebt noch immer: reich, anonym und ruhelos. Lawrentij heiratete ein durchschnittlich intelli gentes Mädchen mit schlechten Zähnen und dicken Waden und arbeitete als angesehener, wenn auch etwas träger und verträumter Zahnarzt in Batumi. Im Jahre 1983 – zu einer Zeit, als alle, einschließlich sei ner Frau, davon ausgingen, dass er mittlerweile zu alt war, um sich abzusetzen, wurde er auserwählt, die Sowjetrepublik Georgien bei einer internationalen
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Zahnarzttagung in Philadelphia zu vertreten, wo er sich sofort absetzte. Vier Monate vor Lawrentijs Abreise kehrte sein Cousin Boris (der Sohn des Mannes, von dem ge munkelt wurde, er habe Lawrentijs Vater verraten) von Leningrad nach Batumi zurück, natürlich nicht, um sich dort niederzulassen – er war als Ausbilder für marxistisch-leninistische Seemanöver am sowjeti schen Institut für Marineoffiziersausbildung be rühmt, fett und schmierig geworden –, sondern um sich nach dem Verbleib »dieser zwei komischen kleinen Münzen, von denen Großvater immer gesagt hat, er werde sie lieber in der Kirche vergraben, be vor er zulasse, dass sie den Russen in die Hände fie len« zu erkundigen. Er hatte sich überlegt, dass sie vergraben ja niemandem nützten, aber eine Quelle barumischen Stolzes sein würden, wenn sie im Mu seum der sozialistischen Bruderschaft sowjetischer Völker in Moskau ausgestellt wären. Er werde natür lich nichts für sich selbst verlangen, nur eine zusätz liche Schule für seinen Geburtsort, und wenn die Behörden es für angemessen hielten, die Schule nach dem berühmten Sohn dieses Ortes zu benennen – nun, dann würde er keinen Einspruch erheben. Law rentij sei älter als er und erinnere sich wahrscheinlich besser an die Geschichten des Großvaters. Könne er sich zufällig daran erinnern, auf welchem Teil des Kirchengrundes Großvater die Münzen vergraben habe, oder würde er, Boris, russische Archäologen schicken müssen, die die Kirche Stein für Stein ab trugen und den Schutt durchsuchten?
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GESCHÄTZTER WERT Lawrentij grub die Münzen mitten in der Nacht mit bloßen Händen aus – genau so wie sein Großvater sie vergraben hatte – und näh te sie in das Futter seines Koffers. Während seines ersten Aufenthalts in New York fiel ihm eine Annon ce im hinteren Teil der Novoye Russkoye Slovo auf. Er verkaufte die Münzen für eine Summe, die ausreich te, um damit einen Einfachflug nach Kalifornien zu buchen, in Bakersfield eine Zahnarztpraxis zu eröff nen und seinen Namen in Larry Mack umzuändern.
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Dieses ist die Kraft, die stärkste aller Kräfte, weil es alle dünnen oder zarten Dinge überwinden wird.
Ich lag auf dem Meeresgrund, und Zitteraale ließen meine Ohren schmerzen, bis ich schrie. Ich lag aus gestreckt im Wüstensand, dazu verdammt, ReporterDörrfleisch zu werden, während neben mir eine Hy äne aufgeregt heulte. Ein fetter Mann saß auf mei nem Kopf und spielte auf einer Klarinette den höchstmöglichen Ton. Jemand hatte mir eine Mi schung aus fauligem Pferdefleisch und Kaugummi resten vom Boden einer U-Bahn-Station in den Mund gestopft und ihn dann versiegelt. Immer wie der ertönte das laute Warnsignal der U-Bahn-Türen. Ich hatte fast zwei Flaschen Rotwein getrunken, und das Telefon klingelte. Schwerfällig erhob ich mich von der Couch – ich hatte noch alle meine Sachen an, einschließlich mei ner Schuhe – und griff nach dem Telefon. Meine Hand fühlte sich an wie die Schere eines Hummers. »Ggrrmmffrmmf«, meldete ich mich. »Paul?« »Ja?« »Arbeitest du noch für mich?« »Art. Lieber Himmel!« Ich schwankte ein wenig, stolperte über den offenen Behälter mit Pasta-Sauce
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und plumpste dann wie ein undichter Wasserballon
auf meine Couch, die inzwischen magentarot ge sprenkelt war und nach verschüttetem Rotwein roch.
»Bist du krank? Falls ja, soll ich dir von Donna ausrichten, dass sie dir einen Topf Suppe vorbeibrin gen könnte.« Ich rieb mir über mein trockenes, pergamentarti ges Gesicht und schloss die Augen. Trotzdem schwankte der Raum ungleichmäßig von einer Seite zur anderen. Anscheinend war ich immer noch be trunken, der Kater hatte noch gar nicht eingesetzt. »Ich bin nicht krank. Ich habe bloß eine ziemlich harte Nacht hinter mir, das ist alles.« »Ah, verstehe.« Seinem Ton nach zu urteilen, verstand er tatsächlich. »Tja, Eileen Coughlin hat gerade angerufen. Sie wollte wissen, wie es mit dei ner Story läuft, und ich musste ihr leider sagen, dass ich darüber nicht informiert bin.« Er schwieg einen Moment, und obwohl ich genau wusste, dass ich ir gendetwas hätte sagen sollen, fiel mir nichts Passen des ein. »Also, wie läuft es mit der Story?« »Gut«, antwortete ich. Ich war weder in der Stimmung noch in der Verfassung, ihm von den letz ten paar Tagen zu berichten. In meinem Zustand war mir kaum bewusst, das ich so etwas wie Arme besaß. »Gut. Wenn es gut läuft, ist es ja gut. Trotzdem solltest du Leenie vor dem Wochenende mal zurück rufen. Sie klang wirklich interessiert an der Sache, und an dir. Glaub mir, Paul, du solltest diese Chance nutzen.« Ich hatte keine Lust auf ein Motivationsgespräch,
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und ich hatte auch keines verdient. Deswegen sagte ich nur: »Ja, gut.« »Gut. Ja. Ja. Gut. Das erinnert mich an die Ge spräche mit meiner Tochter, als sie fünfzehn war. Hör zu, leg dich wieder hin und trink viel Wasser. Vielleicht schaust du ja heute Nachmittag mal vor bei? Ich hätte da noch was für dich. Und Austell lässt dir ausrichten, dass er dich vermisst.« »Ja, das kann ich mir vorstellen«, krächzte ich. »Dann sehen wir uns in ein paar Stunden.« »Hör zu: Wasser, Schlaf, heißes Bad, Rasur. In dieser Reihenfolge. Prozedur bei Bedarf wiederho len. So was bringen sie einem bei, wenn man Journa lismus studiert.« »Wirklich? Ich dachte, da lernt man nur, was ›TK‹ bedeutet.« »Ja, das auch. Weißt du, was man noch lernt? Dass es meistens keine so gute Idee ist, wenn ein Repor ter sich mit einer Quelle einlässt.« »Art,ich …« »Ich sag dir nur, wie es ist. In einer Kleinstadt spricht sich so etwas rum. Dein Privatleben geht mich nichts an, und ich will mich da auch gar nicht einmischen. Ich nehme an, du hast nicht vor, das zur Gewohnheit werden zu lassen. Es ist nicht gut, wenn ein Reporter diesen Ruf hat.« »Ich habe es zur Kenntnis genommen.« »Dann ist es ja gut. Lass dich nicht unterkriegen. Wir sehen uns.« Nach mehreren Gläsern Wasser und weiteren Glä sern Ginger Ale, ausgedehntem Dösen in meiner verkalkten Badewanne und einer besonders sorgfäl
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tigen Rasur mit Menthol-Rasiercreme besserte sich mein Zustand von albtraumhaft zu nur noch schreck lich. Nach weiteren fünfundvierzig Minuten hatte ich nicht mehr das Gefühl, den Mund voll Watte zu haben und den Magen voll Essig und Wasserbom ben. Ich fühlte mich schon wieder fast menschlich, und ich fand, dass der Zustand der FastMenschlichkeit ideal war, um in einem Büro zu sit zen. Auf meinem Weg zur Arbeit kam ich an Talcott vorbei, und bis das erste Tor vor mir auftauchte, re dete ich mir noch ein, dass ich nicht abbiegen und Hannah besuchen würde, genauso wie ich mir einre dete, dass es purer Zufall war, dass ich um die Mit tagszeit aufgebrochen war und sie gerade Pause hat te. Das Sekretariat war ein Bienenstock der UnBetriebsamkeit. Drei sichtlich geschwächte Sekretä rinnen saßen an drei völlig identischen, in genau gleichen Abständen aufgestellten Holzschreibti schen: Die auf der linken Seite starrte finster auf ih ren leeren Tisch, die auf der rechten Seite sprach leise in ihr Telefon, und die in der Mitte blickte mit völlig ausdrucksloser Miene zu mir auf. Sie sahen alle drei aus, als würden sie in Mottenkugeln schlafen und von dünnem Lindenblütentee leben: drei plato nische Idealbilder der neuenglischen Privatschulsek retärin. Ich nickte der in der Mitte liebenswürdig zu (oder versuchte es zumindest), woraufhin sie eine unsichtbare Haarsträhne hinter ihr dörrpflaumenarti ges, aber blitzsauberes Ohr schob, ohne mich dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ich fragte sie nach dem Büro von Hannah Rowe. Sie räusperte sich, zupfte einen unsichtbaren Fussel von
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ihrem Schreibtisch und legte ihn ordentlich in ihrer obersten Schublade ab. »Folgen Sie Mr. Heatherington.« Sie deutete auf einen Mann, der vor einer Reihe von Postfächern stand. Als er seinen Namen hörte, richtete er sich kerzengerade auf und warf einen fragenden Blick in unsere Richtung. Dann kam er zu mir herüber und reichte mir die Hand. Sie fühlte sich an wie eine nas se Tüte voller Zweige. Ich dankte der Sekretärin, aber sie war bereits damit beschäftigt, etwas von ei ner Karteikarte zu radieren, und schien mich über haupt nicht mehr wahrzunehmen. Ich folgte den Fli cken auf Mr. Heatheringtons Ellbogen durch mehre re Gänge und dann eine Treppe hinauf. Er deutete auf eine Doppeltür am Ende des Ganges. Die ganze Zeit hatte er kein einziges Wort gesagt, und wenn ich auch nur ansatzweise an Geister geglaubt hätte, dann wäre ich durch ihn endgültig in diesem Glauben be stärkt worden. Durch die Doppeltür hörte ich Lachen, das eines Mannes und das von Hannah. Wie ich beim Eintre ten feststellte, sprach sie gerade mit einem irritierend gut aussehenden Typen, der mit seinem markanten Gesicht auch als Model für dicke Zopfpullover oder als Kandidat für ein öffentliches Amt nicht fehl am Platz gewirkt hätte. Er warf mir einen herablassen den Blick zu (den normale Menschen vielleicht mit Freundlichkeit verwechselt hätten, nicht aber die Wissenden und Paranoiden), und wandte sich dann wieder träge zu Hannah um. »Paul, was machst du denn hier?«, fragte sie steif.
»Ich habe auf dem Weg zur Arbeit einen Zwi
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schenstopp eingelegt, weil ich kurz mit dir reden wollte.« Sie lächelte, erst in meine Richtung und dann in die der weißen Zähne neben ihr. »Ihr müsst ent schuldigen«, sagte sie, auch wenn ihr Ton dabei gar nicht entschuldigend klang. »Paul, das ist Chip Gregson, einer von unseren Chemie- und Physikleh rern. Chip, das ist mein Freund Paul. Chip und ich stecken gerade mitten in einer Besprechung.« Chip nickte mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu, machte aber keine Anstalten, aufzustehen und mir die Hand zu geben. »Tut mir Leid, ich wollte euch beide wirklich nicht stören, aber vielleicht hättest du trotzdem eine Minute Zeit für mich …« »Natürlich«, seufzte sie. »Chip, wir reden nach der achten Stunde weiter. Da bist du doch noch im Haus, oder?«, fragte sie lächelnd. »Ja. Und falls du mich im Haus nicht findest, bin ich mit der JV-Defense draußen auf dem ersten Spielfeld, ein bisschen trainieren.« Ich fragte mich, wie groß die Chance war, dass er sich dabei ein Bein brach. Chip leerte seine Teetasse und kam dann ath letischen Schrittes auf mich zu. Im Vorbeigehen klopfte er mir auf die Schulter. »Hat mich gefreut, Kumpel.« »Ja, mich auch.« Als er weg war, ließ ich mich ne ben Hannah nieder. »Chip hat schöne Schultern«, bemerkte ich. Sie gab mir keine Antwort, sah mich nicht mal an. Wahrscheinlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Sarkasmus. Ich streckte die Hand nach ihr aus,
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und sie ließ zu, dass ich ihr Kinn anhob, bis sie mich ansehen musste. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich leise. »Könntest du mich bitte aufklären? Sag mir, was ich falsch gemacht habe oder was in deinem Kopf vorgeht. Oder außerhalb deines Kopfes.« Wieder wartete ich vergeblich auf eine Antwort.
»Bist du immer noch böse wegen Jaan?« Ein Ausdruck von Traurigkeit huschte in ihre Au gen und breitete sich dann über ihr ganzes Gesicht aus. Sie sah aus, als würde sie entweder gerade krampfhaft versuchen, in Tränen auszubrechen, oder aber versuchen, nicht in Tränen auszubrechen. »Paul, darf ich dir eine Frage stellen?« »Natürlich.« »Warum ist dir das alles so wichtig?« »Was alles?« »Jaan. Was mit ihm passiert ist. Ich.« »Also, das Erste ist leicht zu beantworten: Jaan ist einfach ein interessanter Mann. Hör zu …« Ich starr te auf die Teetassenringe, die auf ihrem Schreibtisch eine Art olympisches Muster bildeten, und versuchte meine Gedanken zu ordnen. »Ein Professor, der kaum lehrte. Und der Verbindungen zu Juwelendie ben hatte. Kannst du dir ein behüteteres und siche reres Leben vorstellen, als an der Universität von Wickenden baltische Geschichte zu lehren und hier in Lincoln zu leben? Und trotzdem trägt der Mann nicht nur eine Waffe mit sich herum, sondern be nutzt sie sogar zweimal, wobei er beide Male einer Strafverfolgung entgeht – dank der Protektion durch das Institut für Geschichte und die Universität, der er zufälligerweise sein ganzes Gehalt und noch so
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einiges mehr spendet. Wovon lebt er? Woher kennt er jemanden wie Vernum Sickle? Wovor hat er solche Angst? Ich möchte einfach wissen, wer er war.« Ich hielt einen Moment inne. Sie wirkte nicht beein druckt. In Situationen wie diesen wünschte ich mir einen Drehbuchautor. Der hätte vielleicht besser formulieren können, was ich zum Ausdruck bringen wollte. »Außerdem«, fügte ich langsamer hinzu, »hat mir jemand eine Drohung – einen Umschlag mit einem blutigen menschlichen Zahn – an die Tür genagelt. So etwas kotzt mich an. Ich meine, ich bin kein mu tiger Mensch oder hatte zumindest noch nie Grund, einer zu sein. Aber es macht mich wütend, dass je mand mich auf diese Weise bedroht, statt mir so viel Respekt zu erweisen und mir zu erklären, warum ich nicht über die Sache berichten sollte und welche Konsequenzen es hätte, wenn ich es doch täte, so dass ich meine eigene Entscheidung treffen könnte. Und die zweite Frage ist auch leicht zu beantwor ten.« »Sag jetzt nichts Falsches.« Ihre Augen strahlten.
»Es ist wirklich eine leicht zu beantwortende Fra ge.« Sie drückte sich mit dem Oberkörper an mich, fuhr mit ihren Händen unter mein Hemd, über mei nen nackten Rücken und küsste mich dabei, als sei sie auf der Suche nach etwas Essbarem. Dann zog sie mich auf den Boden hinunter und ließ sich neben mir nieder. Sie drehte mich zu sich herum, sodass wir einander gegenüberlagen, ich auf meiner rechten Seite und sie auf ihrer linken – einfach so, auf dem
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nackten Linoleumboden. Er roch nach Desinfekti onsmittel und Jahrzehnten von Kreidestaub. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich noch einmal leise. »Was ist das Problem?« »Frag mich das nicht. Bitte. Tust du mir einen Gefallen?« »Klar.« »Gönne Jaan ein bisschen Ruhe. Lass die Sache ruhen. Nur ein, zwei Tage.« »Wie meinst du das?« Sie setzte sich auf und schüttelte den Staub aus, der sich in ihrem Haar verfangen hatte. »Versprich mir einfach«, sagte sie und drückte sich dabei wieder an mich, »dass du die Sache mit Jaan ein paar Tage ruhen lässt. Dann kannst du machen, was du willst. Bitte.« »Warum?« »Tust du mir diesen Gefallen? Bitte. Wenn nicht seinetwillen, dann meinetwillen? Bitte. Ja?« Ich stand seufzend auf und setzte mich auf einen Stuhl neben ihrem Schreibtisch. »Zwei Tage?« »Zwei. Lass Jaan ein bisschen Frieden. Dann mach, was du willst. Frag, was du willst.« Dass sie bei ihrer letzten Bemerkung kein Pronomen benutzte, hätte mir stärker auffallen sollen, als es das zu diesem Zeitpunkt tat. »In Ordnung.« »Wirklich?« »Wirklich. Ich schätze, für zwei Tage kann ich die Sache schon auf Eis legen. Ich habe sowieso noch ein paar andere Storys, an denen ich arbeiten sollte.« Sie setzte sich auf meinen Schoß und nahm mei nen Kopf in beide Hände. »Ich weiß, dass ich dir
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eine Erklärung schulde. Aber jetzt musst du mir erst mal glauben, dass es so am besten ist. Für Jaan, für alle, denen er etwas bedeutet hat, und für mich.« »Ich würde das für niemand anderen tun«, sagte ich. »Danke, Paul … Paul.« Meine Name schien wie eine Seifenblase zwischen uns zu schweben, dann erhob Hannah sich schließlich von meinem Schoß, und die Blase platzte. »Ich muss jetzt leider ins Büro.« »Und ich habe hier in fünf Minuten eine Klasse zu unterrichten. Warum ist ›Bolero‹ eigentlich das einzige klassische Musikstück, das Jungs im Teena geralter mögen?« »Was ist ›Bolero‹?« »Du bist mir wirklich eine große Hilfe! Versprich mir, dass du ein bisschen was über Musik lernst.« Ihr Blick wirkte plötzlich ungewöhnlich ernst. »Wirst du mir Nachhilfe geben?« »Das würde ich gern. Sehr gern sogar.« »Was passiert hier eigentlich wirklich?« Sie küsste mich zweimal und ließ ihre Hand noch einen Moment auf meiner Wange. »Meine Klasse
kommt. Rufst du mich später an?« »Natürlich.« »Es ist schön, dass man sich so auf dich verlassen kann, Paul. Danke. Für alles.« Ich wollte wirklich für eine Weile die Finger von der Sache lassen, Gott sei mein Zeuge. Es widerstrebte mir zwar zutiefst, aber ich hätte es trotzdem getan, denn jedes Mal wenn ich Hannah sah, wurde mir sofort unendlich warm ums Herz. Wenn ich mich
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nun um ihretwillen eine Weile mit anderen Storys beschäftigen musste (was sowieso nötig war) und Jaans Story dadurch zwei Tage ruhen würde (was bei einer Zeitung mit einem Zwei-Wochen-Zyklus nicht so schlimm war), dann konnte ich damit leben, und Art bestimmt auch. Außerdem brauchte er ja gar nichts davon zu erfahren. Aber wie es der Zufall so wollte, klingelte genau in dem Moment, als ich die Redaktion des Carrier betrat, mein Telefon, und ich hatte gerade noch ge nügend Zeit, Austell kurz zuzuwinken, bevor ich nach dem Hörer griff. »Hallo, ich hätte gern Paul Tomm gesprochen.«
»Am Apparat.« »Ah, sehr gut. Ich dachte es mir schon fast. Hier ist Anton Jadid.« »Professor, wie schön, von Ihnen zu hören. Nochmals vielen Dank für das Essen letztes Wo chenende.« »Nichts zu danken. Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Der Grund für meinen Anruf ist übri gens, dass ich Sie sehr gern noch einmal zum Essen einladen würde.« »Das ist aber nett. Wann denn?« »Heute Abend.« »Heute Abend?« »Ja. Es tut mir wirklich Leid, dass es so kurzfristig ist, aber ich habe etwas gefunden, was Sie wahr scheinlich sehr interessieren wird.« »Im Zusammenhang mit Professor Pühapäev?«
»In einem sehr engen Zusammenhang mit Jaan, in der Tat. Ich würde es lieber nicht am Telefon be
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sprechen. Haben Sie Zeit, heute Abend zum Institut zu kommen? Sagen wir, gegen halb sechs? Ich bitte noch mal um Entschuldigung, weil es so kurzfristig ist, und dann auch noch so früh am Abend, aber so wäre es wirklich am besten.« Hatte ich Zeit? Ich schätze, ich hatte Hannah ein leeres Versprechen gegeben, und ich machte mir keine Illusionen – oder höchstens oberflächliche, selbst verordnete Illusionen, illusorische Illusionen – darüber, warum ich es ihr gegeben hatte. Ich hatte, glaube ich, wirklich den Vorsatz gehabt, mein Ver sprechen zu halten, aber es war wohl kein schreck lich fester Vorsatz gewesen. Zum einen hatte ich ihr die Wahrheit gesagt, als ich ihr zu erklären versuchte, warum ich an der Sache mit Jaan dranbleiben wollte. Zweitens hatten Jadid und sein Neffe sich große Mühe gegeben, mir zu helfen. Da konnte ich ihnen jetzt kaum eröffnen, dass ich die Story einfach fallen lassen wollte. Und drittens wollte ich diesen Job in Boston. Ich weiß, dass man nicht so karrierebezogen denken sollte, aber das ist leichter, solange man noch keine Jobangebote hat, wegen derer man sich Sorgen machen muss. »Ich habe Zeit«, antwortete ich. »Soll ich irgendetwas mitbringen?« »Nein, nein, natürlich nicht. Kommen Sie neugie rig und hungrig, mehr verlange ich gar nicht. Meine Frau, die Sie sehr gern kennen gelernt hätte, ist leider heute Morgen zu einer Konferenz in Cincinnati auf gebrochen, deswegen liegt die kulinarische Verant wortung ganz bei mir. Kommen Sie gegen halb sechs zum Institut. Es wird um diese Zeit höchstwahr scheinlich schon abgeschlossen sein, aber ich werde
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aufmerksam lauschen, damit ich Sie höre. Sie müssen
auf jeden Fall laut klopfen. Dann bis heute Abend?«
»Bis heute Abend.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Um es rechtzei tig nach Wickenden zu schaffen, hätte ich, wenn ich den Feierabendverkehr mit einrechnete, eigentlich vor einer Viertelstunde aufbrechen sollen. Hinter Arts verschlossener Tür hörte ich seinen Stuhl knar ren, was immer der Fall war, wenn er aufstand. Er schloss seine Schreibtischschublade und setzte sich in Bewegung. Es bestand eigentlich kein Grund, dem Boss zu erklären, wieso ich an einem Wochen tag für drei ganze Minuten ins Büro kam, oder? Nein, natürlich nicht. Als ich schließlich Zeit fand, über Gegenargumente nachzudenken, war ich schon au ßerhalb von Hartford und brauste mit hundertzwan zig in Richtung Osten. Als die letzten glühenden Spuren des Sonnenun tergangs im Wickenden River versanken, bog ich auf den Parkplatz des Instituts für Geschichte ein. Dass dort keine anderen Wagen mehr standen, irritierte mich etwas, ich hatte zumindest mit dem von Profes sor Jadid gerechnet. Ich spähte durch das Fenster am Eingang, aber wie es aussah, brannte nur noch das Neonlicht auf den Gängen, das wahrscheinlich so wieso immer angeschaltet blieb. Drinnen standen keine Türen offen. Der abgenutzte graue Teppich, die durchhängenden Holztreppen, das schmiedeei serne Geländer, bei dem die Farbe abblätterte, und das Pfeifen des Abendwindes, der durch die Außen verkleidung strich, ließen das Institut wie einen dö senden, vor sich hin schnarchenden alten Mann er
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scheinen. Ich klopfte an die Tür, erst höflich, dann fester, dann energisch, dann richtig laut, und schließ lich mit beiden Fäusten und einer Schuhspitze. Pro fessor Jadid kam in einem blauen Baumwollhemd mit offenem Kragen und einer ordentlich gebügelten Jeans die Treppe heruntergeeilt. Ich hatte ihn noch nie anders als mit Krawatte und Blazer gesehen. Sei ne Brille hing an einem Band um seinen Hals und wippte auf und ab, während er zum Eingang hastete. Ohne seine Professorenrüstung sah er aus wie ein lieber, noch recht junger Großvater. »Paul, schön, Sie so bald wiederzusehen. Es tut mir Leid, wenn Sie warten mussten. Sind Sie schon lange da?« »Nein, nicht sehr lange.« Lange genug, um mir ein paar Zehen zu brechen, dachte ich. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen.« »Sehr schön.« Er trat zur Seite und winkte mich in den dunklen Eingangsbereich hinein. »Sie wissen ja, dass mein Büro auf der Rückseite des Gebäudes liegt. Wenn das Institut abends schließt, ist es dort wunderbar ruhig. Ich habe es mir genau aus dem Grund ausgesucht, aber heute Abend stellte das ein kleines Problem da. Ich habe schon befürchtet, dass ich Sie nicht hören würde. Aber zum Glück hat es jetzt ja doch noch geklappt. Kommen Sie, kommen Sie.« Er legte väterlich den Arm um mich, zog mich in das leicht muffig riechende, stille Gebäude und schloss hinter uns ab. »Und nun lassen Sie mich erzählen, warum ich Sie angerufen habe«, meinte er und rieb dabei die Hände aneinander – ob vor Eifer oder vor Kälte, konnte ich
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nicht sagen. »Nein, eigentlich glaube ich, es wäre besser, ich würde es Ihnen zeigen«, fuhr er fort. »Ich nehme an, wir verletzen jetzt keine Privatsphäre mehr, oder?« »Wessen Privatsphäre?« »Ah, das ist die richtige Frage. Die von Jaan, na türlich. Wissen Sie, er … Ich war wirklich noch nie besonders gut darin, Geschenke zu überreichen. Kommen Sie mit, wir müssen hier herauf.« Während wir die Treppe hinaufgingen, sprach der Professor weiter: »Unser Institut leidet, wie die meis ten im Bereich der Geisteswissenschaften, unter aku ter Raumnot. Die Professoren Ryerson und Zinoman, die wir zu Beginn dieses Jahres eingestellt haben, teilen sich bisher ein Büro, und obwohl beide das Beste daraus machen, nehme ich doch an, dass sie die Situation nicht gerade ideal finden. Deswegen habe ich heute beschlossen, mit dem Ausräumen von Jaans Büro zu beginnen, damit wir den beiden ab dem nächsten Semester jeweils ein eigenes Büro ge ben können. Aber wie ich feststellen musste, gestal tete sich das schwieriger als erwartet.« Wir waren inzwischen vor Jaans Tür angekommen. Ich sah, dass sein Nachbar Crowley sowohl den Umschlag seines Buches als auch drei positive Rezensionen an seine Bürotür geklebt hatte. »Fällt Ihnen an dieser Tür irgendetwas Ungewöhnliches auf?« Es war eine Tür wie jede andere im Institut: rechteckig, mit einem Türknauf aus Metall, einem Schloss und einer schlampig aufgetragenen Schicht weißer Farbe. »Nein, nichts.« »Ah. Das dachte ich auch erst. Und nun sehen Sie doch bitte mal nach unten.«
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Ich tat, wie mir geheißen, und entdeckte an den unteren Ecken der Tür jeweils ein stählernes Schlüs selloch. Beide waren groß und rautenförmig. Her kömmliche Bartschlüssel wären darin einfach ver schwunden. Professor Jadid betrachtete mich mit dem befriedigten Lächeln eines Wissenschaftlers, der gera de ein ungewöhnlich schwieriges und wirkungsvolles Experiment erfolgreich abgeschlossen hatte. »Interes sant, nicht wahr? Ich habe den Einbau dieser Schlösser definitiv nicht genehmigt, und ich habe auch keine Ahnung, wann Jaan sie hat einbauen lassen.« »Haben Sie die Schlüssel?« »Natürlich nicht. Jaan wollte wohl, dass nur er selbst Zutritt zu diesem Büro hatte.« »Aber warum? Und wie sollen wir hineinkom men?« »Ich beantworte zuerst Zweiteres: Das ist mir be reits gelungen. Wie ich höre, hat Joseph Ihnen ges tern Abend bereits demonstriert, wie gut er im Kna cken von Schlössern ist. Was Ihnen wohl nicht so gelegen kam, oder?« »Er hat Ihnen davon erzählt? Nun ja, so ungele gen auch wieder nicht, jedenfalls nicht grundsätzlich. Ich meine, ich habe mich gefreut, ihn zu sehen. Auch wenn es nachher dann, nun ja … Aber egal.« »Hmmm.« Der Professor sah mich über den Rand seiner Brillengläser an. »Joseph hatte das Gefühl, dass Ihre Begleiterin weniger gelassen reagiert hat als Sie.« »Ich glaube nicht, dass er lange genug mit ihr in einem Raum war, um das feststellen zu können«, entgegnete ich abwehrend.
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»Täuschen Sie sich da nur nicht. Joseph kann ein sehr aufmerksamer Beobachter sein, ihm fallen oft die kleinsten Details auf, insbesondere was Mimik und Gestik von Menschen angeht. In seinem Beruf eine Fähigkeit von unschätzbarem Wert. Aber vielleicht hat er sich in diesem Fall ausnahmsweise mal geirrt«, räumte der Professor großmütig ein. »Jedenfalls hat Joseph es geschafft, auch diese Schlösser zu knacken, aber er hat dazu fast eine ganze Stunde gebraucht, was nach seinen olympischen Maßstäben bedeutet, dass es sich um ein sehr sicheres Schloss handelt. Sehen Sie sich das an«, fügte er hinzu und führte mich in das ungewöhnlich kalte und muffige Büro. Sechs lange Stahlzylinder, jeder mit einem Durchmesser von vier, fünf Zentimetern, verliefen quer über die Innenseite von Pühapäevs Bürotür. Drei davon waren mit einer Stange auf der linken, drei mit einer auf der rechten Seite verbunden. Sie waren in zwei Stangen eingelassen, von denen je weils eine auf der linken und eine auf der rechten Seite des Türrahmens angebracht war. »Jedes Schloss ist für je drei von diesen stabilen Stäben ver antwortlich«, erklärte der Professor, während er seine Hand über einen davon gleiten ließ. »Joseph hat ge sagt, dass solche Schlösser normalerweise nur für Tresorräume von Banken verwendet werden, wo sie in der Regel aber mit einer dicken Stahltür kombi niert sind. Ich schätze, das wäre hier im Institut zu sehr aufgefallen. Jedenfalls hat Joe gesagt, er habe es bisher noch nicht erlebt, dass jemand sich privat so ein Schloss einbauen ließ. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?«
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»Ich weiß nicht. Der Kostenaufwand?« »Der spielt bestimmt eine Rolle. Deswegen gibt es in unserer Gegend auch nur eine begrenzte Zahl von Firmen, die solche Schlösser anbieten. Joseph hat gesagt, er werde die betreffenden Firmen in und um Wickenden anrufen und sich erkundigen, ob irgendwo Aufzeichnungen über einen Einbau unter dieser Adresse vorliegen. Er geht davon aus, dass zum Beispiel wohlhabende private Kunstsammler ähnliche Schlösser an ihren Türen haben. Seiner Meinung nach sind ihm bloß deswegen noch keine untergekommen, weil diese Schlösser so gut funkti onieren, dass im Zusammenhang mit den Objekten, die sie schützen, meist gar keine Verbrechen passie ren, wegen derer die Polizei ermitteln müsste. Na türlich ist Joseph nun mal Joseph, und er übertreibt hin und wieder um des Effekts willen, aber im Grunde hat er Recht: Wer sich ein so komplexes und nahezu unüberwindliches Schloss leisten kann, ver sucht nicht nur, sondern schafft es in der Regel auch, das zu schützen, was sich hinter seiner Tür befin det.« »Und was befindet sich hinter Jaans Tür?« »Ah, das ist, glaube ich, nicht nur eine faszinieren de, sondern auch eine ganz zentrale Frage, die unter Umständen weit, weit über den Tod eines einzelnen Professors hinausweist. Wie es scheint … nun ja.« Er drehte sich um und ließ den Blick durch das Büro schweifen, und ich folgte seinem Beispiel. Ich wünschte, ich könnte berichten, dass eine Leiche von der Decke hing oder im hintersten Winkel eine ge heime Tür zu sehen war oder große Säcke voll Koks
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und Waagen, aber eigentlich sah es aus wie im Büro jedes anderen Professors: Regale, voll gestopft mit Büchern und Papieren, ein großer, sperriger Schreib tisch, bedeckt mit weiteren Papieren, daneben ein kleiner Tisch mit einem Computer und einer elektri schen Schreibmaschine. Das einzige Auffallende war, dass es im ganzen Raum nur einen Stuhl gab, und zwar hinter dem Schreibtisch: Sprechstunden hatte Pühapäev anscheinend keine mehr gehalten. »Was werden Sie mit seinen Sachen machen?«, fragte ich. »Ich nehme an, das Institut wird sie behalten, es sei denn, es meldet sich noch jemand. Er hat keine Verwandten, oder?« »Ich habe seinen Bruder kennen gelernt.« Professor Jadid wandte sich mit funkelnden Au gen zu mir um, wirkte aber weniger überrascht, als ich gedacht hätte. »Seinen Bruder? Wirklich? Sagen Sie, haben sich die beiden ähnlich gesehen?« »Soweit ich mich erinnern kann, nicht besonders. Sie waren beide alt, weißhaarig und bärtig, aber das war’s dann auch schon.« »Ah.« Nachdenklich lächelnd klopfte er mit der Schuhspitze gegen den Türpfosten. »Aber das be weist natürlich noch gar nichts. Was hatten Sie denn für einen Eindruck von ihm?« »Schwer zu sagen. Auf jeden Fall schien es ihm nicht zu gefallen, dass ich so viele Fragen stellte.« »Das wundert mich nicht. Das wundert mich ganz und gar nicht. Aber nun sehen Sie sich doch bitte mal die Bücherregale an und sagen mir, ob Ihnen etwas auffällt.«
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Die Bücher waren in so vielen verschiedenen Sprachen geschrieben, dass es gar nicht im Bereich meiner Möglichkeiten lag, festzustellen, ob sie un gewöhnlich waren oder nicht. Immerhin entdeckte ich ein paar, bei denen ich zumindest die Titel lesen konnte: Poly-Olbion von Michael Drayton; LebensEntwürfe, John Aubrey; The Patterne of all Wisdome, Geoffrey LeMetier; Chymische Schriften, Sir George Ripley; Araber des Nordmeeres, Herve Tiima; Fahles Feuer, Vladimir Nabokov. »Ich weiß nicht so recht. Leider beschränken sich meine Sprachkenntnisse auf meine Muttersprache und ein sehr rudimentäres Holländisch.« »Ich kann in acht Sprachen lesen und in weiteren sechs mithilfe eines Wörterbuchs. Hier aber zähle ich nicht weniger als dreißig Sprachen. Arabisch, Chine sisch, Russisch, Urdu. Ein paar Texte sehen wie Arabisch aus, verwenden aber andere diakritische Zeichen. Rumänisch, Ungarisch, Finnisch. Kennen Sie irgendjemanden, der so viele Sprachen sprechen oder lesen kann?« »Nein.« »Ich auch nicht. So viele Sprachen zu lernen wür de Jahrzehnte dauern. Vielleicht bräuchte man sogar Jahrhunderte, um jedes Buch in diesem Büro lesen zu können. Auch das beweist noch nichts. Aber von denen, die ich lesen kann, hat kein einziges – viel leicht mit Ausnahme des Bandes über die Araber des Nordmeeres, die es meines Wissens dort gar nicht gab – mit der baltischen Geschichte zu tun, die doch angeblich sein Spezialgebiet war. Und sehen Sie sich das an«, sagte er und ging zum größten und breites
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ten Bücherregal im Raum hinüber. »Wissen Sie, was
hinter diesen Büchern ist? … Nein? Ein Fenster.« »Und?« »Die Politik innerhalb eines Instituts dreht sich zu einem großen Teil um Fenster. Ein Soziologe könn te eine wundervolle Arbeit über Fenster als Status symbole in Universitätsinstituten schreiben. Die meisten Büros haben zwei Fenster. Manche Profes soren warten jahrelang darauf, in ein Zimmer mit einer schöneren Aussicht umziehen zu dürfen. Und Jaan stellte sein Fenster einfach zu. Natürlich ist das keine große Sache, das Fenster geht auf eine Straße hinaus und bieten einen spektakulären Ausblick auf die Müllcontainer des La Tortilla. Ich habe mir das Fenster von der Straße aus angesehen und dabei festgestellt, dass der Vorhang zugezogen ist. Ein zu gezogener Vorhang – wie Sie hier hinten sehen kön nen, ein sehr dicker Vorhang, der außerdem aussieht, als wäre er rund um das Fenster festgeklebt worden – und davor als weiterer Schutz ein riesiges Bücher regal. Auch eine sehr unübliche Vorsichtsmaßnahme, finden Sie nicht? Vielleicht bevorzugte er einfach einen dunklen Raum, aber das erscheint mir eher unwahrscheinlich, weil er ja bei dem anderen Fens ter, dem hinter seinem Schreibtisch, nicht so verfah ren ist.« »Ist das das Fenster, aus dem er geschossen hat?«
»In der Tat. Aber er scheint seitdem ein paar Ver änderungen vorgenommen zu haben. Bitte nehmen Sie doch mal dieses Buch hier.« Er zog einen schwe ren hebräischen Wälzer, auf dessen rotem Lederein band goldene Buchstaben prangten, aus dem Regal
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und reichte ihn mir. »Und nun werfen Sie es durch das Fenster hinter seinem Schreibtisch.« Ich stand mit dem Buch in der Hand da und starr te ihn verwirrt an. Das Gesicht des Professors schien vor Energie zu leuchten. Sein typisches Katzengrin sen wurde immer breiter, und seine Augen funkel ten. »Kommen Sie, geben Sie mir das Buch. Ich möchte Sie nicht dazu nötigen, aber Sie hätten sich sowieso keine Sorgen zu machen brauchen.« Er ging mit dem Band zum Fenster hinüber und schwang ihn gegen die Scheibe. Dabei trug der Buchrücken eine Delle davon, aber das Fenster blieb unbeschädigt. Als der Professor daraufhin mit den Knöcheln gegen die Scheibe pochte, klang es tief und dumpf, als würde er auf Stein klopfen. »Plexiglas. Kugelsicher, nehme ich an. Es sieht aus, als wäre es zehn Zenti meter dick. Ich glaube nicht, dass ein Schuss aus ei ner Handfeuerwaffe dieses Fenster durchschlagen könnte. Und sehen Sie hier.« Er beugte sich zum Rahmen hinunter und strich mit einem Finger dar über. »Die Zwischenräume sind versiegelt, nicht nur mit Farbe übermalt. Dieser Raum ist eine Festung.« Aus der Jeans des Professors erklang plötzlich eine piepende Melodie: »Jeanie with the Light Brown Hair.« Er griff in die Tasche und zog ein Handy her aus. Es hätte mich nicht mehr überrascht, wenn es eine Crack-Pfeife gewesen wäre. Er warf einen Blick auf das Display und nickte befriedigt. »Joseph? Ja, gut, danke, und dir? Gut. Gut. Was? Wirklich? Was hast du … Verstehe. Nein, nein, er ist hier. Hier bei mir, in Jaans Büro. Ich glaube, ich habe etwas ent deckt, was … Du auch? Gut. Gut. Ich wollte Paul
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heute Abend davon erzählen. Bei einem schönen Abendessen. Möchtest du auch kommen? Natürlich. Bei mir. Ja, wir brechen jetzt auf. Dann bis gleich. Ja. Bis dann.« Er klappte das Telefon zu und drehte sich zu mir um. »Mein Neffe: Detective, Vielfraß, wandelndes Lexikon und derjenige, der einem immer die Show stiehlt.« »Wie meinen Sie das?« »Ich dachte, ich hätte entdeckt, was Jaan tatsäch lich im Schilde führte. Ich habe mich schon darauf gefreut, Ihnen heute Abend meine Theorie zu erläu tern. Und nun glaubt Joseph, eine ähnliche Entde ckung gemacht zu haben. Meine beruht auf dem In halt dieses Safes da drüben.« Er deutete auf einen kleinen, würfelförmigen schwarzen Safe unter Jaans Schreibtisch. Die Tür stand offen, und er war leer. »Joseph war so freundlich, ihn für mich zu öffnen. Aber schauen Sie, das hier ist wirklich raffiniert. Das müssen Sie sich ansehen.« Ich beugte mich hinunter und spähte in den Safe. Professor Jadid deutete auf zwei kleine, zylinderför mige Teile, die in den hinteren oberen Ecken des Safes hervorstanden. »Wissen Sie, worum es sich da bei handelt?« »Keine Ahnung.« »Gaszuleitungen. Allem Anschein nach ist dieser Safe darauf ausgelegt, seinen Inhalt in Brand zu set zen, falls jemand versuchen sollte, ihn zu öffnen. Ist das nicht wundervoll? Wie in einem Agentenfilm.« »Wie hat Joe ihn dann aufbekommen?« »Nun ja, zuerst hat er den Boden und dann die
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beiden Seiten des Safes abmontiert, sodass er die beiden Gasbehälter entfernen konnte. Dann hat er etwas ganz Außergewöhnliches mit einem Stetho skop und zwei langen biegsamen Metallstücken ge macht, und plötzlich sprang die Tür auf. Seine Mut ter wollte übrigens immer, dass er Arzt wird. Und ich muss sagen, dass ich die Vorstellung von Joseph im weißen Kittel, wie er mit einem Burger in der einen Hand und mit einem Bier in der anderen über die Gefahren maßlosen Essens schimpft, ausgesprochen erheiternd finde. Den Inhalt des Safes habe ich übri gens hier.« Mit triumphierender Miene hielt er eine schwarze Schachtel hoch. »Ansonsten können Sie in dem Safe auch nichts mehr entdecken, oder?« Ich spähte hinein. Er schien leer zu sein. Gerade wollte ich aufstehen und die Tür schließen, als ganz hinten im Safe etwas aufblitzte. »Warten Sie. Da ist doch was. Dürfte ich Sie bitten, mir ein Blatt Papier zu reichen? Danke. Mal sehen.« Ich wischte ein paar Körnchen auf das Papier, die wie winzige Glassplitter aussahen, aber nicht in meine Haut schnitten. Ei gentlich waren es eher Staubkörner als Splitter, und im Licht des Büros funkelten sie grün. Vorsichtig reichte ich das Blatt Jadid, dessen Augen mit dem grünen Staub um die Wette funkelten. »Was ist das?«, fragte ich. »Ich glaube, das ist das, was mein Neffe wahr scheinlich einen ›eindeutigen Beweis‹ nennen wür de. Kommen Sie«, sagte er und zog mich hoch. »Zeit fürs Abendessen.«
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Al-Idrisis Kama/ (Wasser)
D Zu keiner Zeit kann ein Mann sagen: »Es ist«, son dern nur: »Ich glaube, es war« und: »Ich hoffe, es wird sein«. Umwandlung ist das einzig Beständige. Von der Erde kommen wir, und zur Erde werden wir zurückkehren, aber während wir auf ihr weilen, sind wir formlos und unruhig wie Wasser. D TANDOU ARMAH CISSÉ D So fern, so fern der Heimat
Während der olympischen Spiele von 1980 waren die Regatten bei Pirita abgehalten worden, einer Hafen anlage an der Bucht von Tallinn, in der nordöstlichen Ecke der Stadt. Seitdem waren acht Jahre vergangen, aber noch immer konnte Woskresenjow, der gerade vom Bahnhof aus die Parklandschaft jenseits der Stadtmauern betrachtete, die Auswirkungen des Geldes sehen, das Moskau zur Verschönerung der Stadt geschickt hatte. Selbst die Apparatschiks hat ten kurz die Rüssel aus dem Trog gehoben und sich nicht dagegen gesträubt, dass ein wenig von dem, was sie übrig ließen, nach Nordwesten floss, damit man sich den internationalen Gästen in einem guten Licht präsentieren konnte. Natürlich war der Gast, den man am meisten beeindrucken wollte, zu Hause
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geblieben, aber Woskresenjow konnte sich noch ge nau daran erinnern, wie die anderen Offiziere ge strahlt hatten – auf eine russische, militärische Wei se, versteht sich. Ihre ansonsten ausdruckslosen Züge hatten sich zu einem ansatzweisen, aber wirklich nur ansatzweisen Lächeln verzogen, und mit wodkarauer Stimme hatten sie »Richtig!« gerufen, als Radio Freies Europa und der BBC World Service bewun dernd von »dem Juwel der Ostsee« sprachen. Aber das Verschönerungsprojekt hatte eine unbe absichtigte Wirkung: Die Esten waren plötzlich von heftigem Stolz auf ihre estnische – nicht sowjetische – Hauptstadt erfüllt. Woskresenjow sah es, während er auf dem Weg zu seinem Termin vom Bahnhof aus durch die Altstadt ging: Nach so vielen Jahren, so vielen Revolutionen und so wenig Veränderung hatte er einen Sinn für soziale Instabilität entwickelt. Bestimmte Dinge geschehen. ZUM TEUFEL MIT DEM wer auch immer gerade an der Macht ist – der Spruch findet sich als Graffiti an einer weithin sichtbaren Brücke. Ein Stein segelt mitten in der Nacht durch das Fenster des Gouverneurs, aber un ten auf der Straße ist niemand zu sehen. Bevor ein Bürger den Befehl eines Polizisten befolgt oder eine aufgehaltene Hand schmiert, zögert er und starrt zwei Sekunden länger als sonst auf die Uniform – denn nur das sieht er, die Uniform, nicht den Men schen. Formulare gehen verloren, werden nicht wei tergeleitet. Geldstrafen werden nicht bezahlt. Der Gouverneur wird mitten in der Nacht von Rauchge ruch geweckt: Seine Flagge, die noch an der Fahnen stange vor seinem Fenster hängt, brennt. Politische
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Gefangene werden zu Symbolen, sie gelten plötzlich als Helden, nicht mehr als Außenseiter. Fette, kahle graue Männer in Anzügen eilen schnellen Schrittes vorbei. Junge, dünne in Lederjacken lümmeln unge rührt herum. Die Zeit krümmt sich: Eine Seite schiebt sie nach vorn, die andere versucht erst, sie aufzuhalten, dann den Prozess zu verlangsamen. Dann versteckt sie sich eine Weile, und irgendwann versucht sie dann nur noch davonzukommen. Dass es hier gerade begann, merkte Woskresen jow an dem skeptischen Blick, mit dem ein junger Mann in der Pühavaimu seine Orden betrachtete, an dem nicht reparierten Schlüsselkratzer an der Seite eines Polizeiwagens, der ihm in der Müürivahe auf fiel, und an den Rhythmen der Gitarrenklänge, die in der Pärnu maantee aus einem Fenster im zweiten Stock drangen. Die Altstadt selbst sah aus wie eine Postkartenvi sion von Europa: Kopfsteinpflasterstraßen, die an pastellfarbenen Giebelhäusern vorbeiführten, breite, oben mit Gras bewachsene Stadtmauern, eine Burg auf einem Hügel. Der hanseatische Einfluss ließ die Stadt althochdeutsch aussehen, wie Brügge oder Danzig, kultiviert und maritim und, in dieser späten Phase des zwanzigsten Jahrhunderts, angenehm irre levant. Es war unmöglich, gleichzeitig Moskau und Tallinn zu lieben: Entweder man fühlte sich in der grotesken Energie Moskaus wohl, oder man fand sie unmenschlich. Entweder man schloss die teutoni sche Gemütlichkeit Tallinns ins Herz, oder man fand es dort todlangweilig. Woskresenjow fand es inzwi schen langweilig, obwohl er die Stadt einmal geliebt
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hatte und vielleicht irgendwann wieder lieben wür de, wenn eine weitere Revolution sie in andere Hän de übergeben hatte. Während er an der Raeapteek vorbeiging und die Glocken der Pühavaimu-Kirche elf Uhr schlagen hörte, fragte er sich, was wohl be stehen bleiben und was in den kommenden Jahren vernichtet werden würde, und er war dankbar, dass es sich bei dieser estnischen Revolution um eine handelte, deren Verlauf er aus der Ferne verfolgen konnte. Er fuhr in die ausgedehnten Vororte hinaus, wo der Glanz der Stadt nachließ und sowjetisch wurde, ehe er am Rand von Keila-Joa ganz verschwand. So bald Woskresenjow aus seinem Wagen ausgestiegen war, konnte er den Wasserfall im Zentrum des Ortes hören und das Holzdach des Herrenhauses dahinter sehen. Hinter dem Herrenhaus begann ein typisch estnischer Wald – dunkle Kiefern, durchsetzt mit weißen Birken –, der sich vom Stadtrand bis zum Meer erstreckte. Er sah ein junges Paar Hand in Hand im Wald verschwinden, beide blond und ger tenschlank. Die zwei waren sich vom Typ her sehr ähnlich und wirkten derart attraktiv und gesund, dass sie in jeder größeren russischen Stadt sofort verdäch tig gewesen wären. Neben der Stelle, wo sie verschwunden waren, begann eine Reihe kleiner Holzhäuser, die alle so hübsch und harmlos aussahen, dass sie den sowjeti schen Städteplanern, die immer nur Abrissbirnen vor ihrem geistigen Auge hatten, wohl irgendwie ent gangen waren. Vor dem hintersten Haus in der Reihe blieb Woskresenjow stehen und klopfte. Während er
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wartete, fiel ihm auf, dass er das Meer durch eine Lichtung hinter dem Haus funkeln sehen konnte. Der Mann, der auf Woskresenjows Klopfen hin öffnete, sah aus wie ein wettergegerbter alter Seebär. Er war über einen Kopf größer als der Kommandant und hatte eine lange, schmale Nase und einen zotte ligen weißen Bart. Eines seiner Augen war vom Alter blind und milchig geworden und trieb in seiner Höh le umher wie ein kaputter Kompass, das andere war schwarz wie das einer Krähe. Beide waren jeweils von einem Netzwerk aus Furchen und Falten umgeben. Der Mann schob die Ärmel seinen weiten Pullover halb hoch, als würde er sich auf eine Rauferei vorbe reiten, und wartete, bis sein Besucher etwas sagte. »Genosse Tiima?«, fragte Woskresenjow. Der alte Mann nickte, und der Kommandant zeigte ihm sei nen Militärausweis. »Genosse Tiima, ich bin hier, um einer Beschwerde nachzugehen, die von Ihren Nachbarn gegen Sie erhoben worden ist. Ihre Papie re.« Woskresenjow streckte die Hand aus und be mühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene, während der alte Mann seinen in einer Lederhülle steckenden Pass herausholte, ohne Woskresenjow dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu las sen. Der Kommandant tat, als würde er den Ausweis prüfen, obwohl er in Wirklichkeit nur überlegte, wie lange er auf jede Seite starren musste, damit Tiima den Eindruck hatte, dass er jede Seite genau prüfte. Nachdem der alte Mann zum fünften Mal sein Ge wicht verlagert hatte, klappte er den Pass zu und gab ihn ihm zurück. »Darf ich eintreten?«
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»Das hängt ganz davon ab.« Als Tiima sein gutes Auge auf Woskresenjows Mund richtete, rollte sein milchiges nach oben. »Wovon?« »Davon, wer Sie sind und was mir vorgeworfen wird. Und davon, was passiert, wenn ich Nein sage.« »Mein Name ist Woskresenjow, ich bin Komman dant der Sowjetarmee, Befehlshaber über die balti schen Streitkräfte. Wenn Sie mich nicht hineinlas sen, machen Sie sich der Behinderung der Justiz schuldig.« Der Mann zog müde die Augenbrauen hoch. »Schicken sie mir jetzt schon Leute von der Armee ins Haus?« »Darüber können wir später diskutieren. Aber dass ich kein Polizist bin, heißt nicht, dass ich Sie nicht verhaften kann.« »Dann ist es wahrscheinlich besser, Sie kommen herein.« In der Hütte roch es nach Pfeifenrauch, dem Rauch eines Holzfeuers, dem Rauch eines Kohlefeu ers und der Meerluft, die der Wind durch das hintere Fenster hereintrug. Woskresenjows Augen begannen derart zu brennen, dass er seine Brille abnehmen und ein paar Tränen wegwischen musste. Der alte Mann sah ihm lächelnd zu. Ein kleiner Sieg. »Möchten Sie wieder hinausgehen?« »Nein, nein. Ich brauche nur einen Moment. Darf ich mich setzen?« »Ganz wie Sie wollen. Aber vielleicht klären Sie mich vorher auf?« »Worüber soll ich Sie aufklären?«
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»Die Beschwerde. Was mir vorgeworfen wird.«
»Genosse Tiima, Ihre Nachbarn sind der Mei nung, dass Sie in diesem Haus religiöse Andachten abhalten.« »Das stimmt nicht!«, fauchte er. »Wir sind hier nicht in Moskau. Ich kenne meine Nachbarn, und sie kennen mich. Keiner von ihnen hat das behauptet, und ich habe auch nichts dergleichen getan.« »Ich habe hier eine unterschriebene Erklärung, die besagt …« »Ihre Erklärung kann besagen, was sie will. Das bedeutet nicht, dass ich es getan habe. Man kann jeden dazu bringen, irgendetwas zu sagen.« Woskresenjow sprach in etwas lauterem Ton wei ter und verzog dabei die Lippen zu einem Grinsen, von dem er hoffte, dass es verächtlich aussah. Er hielt den Blick auf die Papiere gerichtet, die er in der Hand hielt. Er wollte nicht, dass der alte Mann die Gier in seinen Augen sah. »Hier steht, Sie hätten im hinteren Teil Ihres Hauses ungenehmigte Versamm lungen abgehalten und durch das hintere Fenster seien deutlich ›ikonenhafte Symbole und kirchliches Zubehör‹ sichtbar gewesen. Anscheinend verläuft am Waldrand hinter Ihrem Haus ein beliebter Wander pfad.« »Ja, schon ganz lange. Ich habe den Weg vor fünf zig, sechzig Jahren eigenhändig ausgeholzt.« »Und haben Sie damals eine offizielle Genehmi gung dafür eingeholt?« Der alte Mann zog eine Grimasse und schüttelte ungläubig, aber keineswegs überrascht den Kopf, ohne die Frage zu beantworten.
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»Darf ich jetzt bitte den hinteren Raum sehen? Es lässt sich ja leicht feststellen, ob die Vorwürfe zutref fen oder nicht.« »Es handelt sich nicht um eine Kirche«, antwor tete der alte Mann, ohne sich von der Stelle zu rüh ren. Woskresenjow stand auf und blickte sich im Raum um. Das Haus konnte zweihundert Jahre alt sein, vielleicht aber auch nur zwanzig. Fest stand, dass es nicht von sowjetischen Handwerkern gebaut worden war, denn dafür war das Holz zu sorgfältig verarbeitet, und die wenigen Dekorationen – ein Wandteppich in leuchtenden Farben, ein Gemälde, das einen Sonnenaufgang über der Ostseeküste zeig te, eine Reihe von geschnitzten Holzschiffen auf einem groben Sims über einem Kanonenofen – wirk ten so einfach und rustikal, dass sie eher in das neunzehnte als in das zwanzigste Jahrhundert zu passen schienen. Wie immer, wenn sich Woskresen jow in der Nähe von etwas aufhielt, was er wollte, begannen seine Oberschenkel und seine Fingerspit zen zu kribbeln. Falls er sich irrte, konnte er sich natürlich immer noch entschuldigen und wieder ver schwinden, aber höchstwahrscheinlich irrte er sich nicht: Sogar in der Sowjetunion lieferte die richtige Mischung aus Geld und Privilegien korrekte Infor mationen. »Ob es sich um eine Kirche handelt oder nicht, entscheide ich, Genosse Tiima, in Überein stimmung mit den nationalen Prinzipien und dem Wohle des sowjetischen Volkes. Führen Sie mich einfach in den Raum.«
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GEGENSTAND 12 Ein stellenweise bereits brüchig gewordenes Seil von undefinierbarer Farbe, 35 Zen timeter lang, versehen mit acht kleinen Knoten. Ein Ende des Seils endet mit einem Knoten, an das an dere ist ein spielkartengroßes, verkupfertes Rechteck gebunden, das mit Grünspan überzogen ist. Es han delt sich dabei um ein von arabischen Seeleuten bei der Navigation benutztes Hilfsmittel namens Kamal, das dazu diente, auf einer vertrauten Reisestrecke einen bestimmten Breitengrad beizubehalten. Die Alchemie kann den Lebensjahren eines Men schen eine gewisse Anzahl hinzufügen, aber sie kann ein einzelnes Leben nicht unbegrenzt ausdehnen: Egal, welche Vorkehrungen getroffen werden, im Leben eines jeden Menschen gibt es andere Men schen, und es ist unvermeidlich, dass sich die Leute irgendwann zu wundern beginnen, wenn ein Nach bar, ein Bekannter oder (gelegentlich) sogar ein Freund nicht altert. Dass die Alchemisten eher Mer kur verehren als Nebukadnezar oder Tithonus, hat einen Grund: Alchemisten entwischen. Keiner von
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ihnen war oder ist für sein hohes Alter bekannt: Wenn sein Alter oder Äußeres aufzufallen beginnt, verschwindet er einfach, indem er ein altes Leben abstreift wie eine Schlange ihre Haut und anderswo als eine andere Person wieder auftaucht. Ein Kom pass, oder in diesem Fall ein Kamal, mit einer auf schlussreichen Geschichte erinnert seinen Besitzer daran, dass er irgendwann mit seinem Leben ab schließen und es verlassen muss, auch wenn das zu gegebenermaßen etwas ganz anderes und wesentlich weniger Schmerzvolles und Dauerhaftes bedeutet als für die Mehrheit der Menschen. HERSTELLUNGSDATUM 7 Jumada ’l-’ula 538. Im westlichen Kalender fällt dieses Datum in die Ad ventszeit des Jahres 1150 n. Chr. HERSTELLER In den Rand der Kupferrechtecks ist Folgendes eingraviert: »Im Namen Gottes, des Gnä digen, des Mitleidigen. In deiner Hand befindet sich der Kamal von Yahya Rifaat Tawfit al-Hashemi, Handwerker von Umm Qasr. Seine Hände woben den letzten Strang und taten den letzten Schlag auf dieses Kupfer am 7 Jumada ’l-’ula 538. Möge er dem, der ihn benutzt, Gottes Segen bringen und ihn durch ruhige Gewässer und sanfte Brisen führen, wo auch immer Gott ihn hinschicken mag.« HERKUNFTSORT Siehe oben. LETZTER BEKANNTER BESITZER Herve Tiima, Kes selflicker, Schneider, Soldat, Seemann, Schiffskoch,
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Einsiedler, Priester und Lieferant seltsamer und un begründeter historischer Theorien. Tiima war der Sohn des Bürgermeisters von Pal diski, Jaan-Uus, der einen »Hexadekalog« von Ro manen schrieb, aber nie veröffentlichte, in dem er die Geschichte Estlands aus der Perspektive einer Reihe von Wellen schilderte, die, gefangen zwischen der Ostsee und der Matsalu-Bucht, von Ozeanen träum ten, aber jahrhundertelang zwischen Hiiumaa und der westlichen Festlandküste bei Rohukula hin und her geworfen wurden. Die einzige Welle, die es schaffte, dieser Hölle zu entkommen, war der Protagonist des vierten Romans, der während eines Wintersturms ein dänisches Schiff vom Hofe König Sweyns bis nach Hiiumaa im westlichen Estland trug. Tiima entwickelte eine Obsession für die meta phorischen Implikationen des vierten Romans der Serie und verfertigte schließlich selbst ein Manu skript über die Passagiere dieses Schiffs, das seiner Meinung nach nicht fiktiv war. In diesem Manu skript, Araber des Nordmeeres, behauptete er, der Schlüssel zur estnischen Identität sei ein Gegenstand von unglaublicher Macht und ungeheurem Wert, den al-Idrisi aus dem stillen Zentrum der Erde, Bagdad, in das gefrorene und gottverlassene Ödland zwischen der Ostsee und dem Peipsi-See gebracht habe. Als die Sowjetunion dann im Sterben lag und Wunder heiler, Wahrsagerinnen sowie Tyromantiker, Pyro mantiker und Gyromantiker vorübergehend zu Nordpolen für die wild zuckenden Nadeln der Bür ger wurden, die dringend etwas brauchten, woran sie glauben konnten, kam Tiimas Theorie in den Dör
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fern westlich von Tallinn kurzfristig sehr in Mode. Er wagte es sogar, eine Lesung mit anschließender Diskussionsrunde zu veranstalten, und benutzte da für den hinteren Raum seines Hauses, den er mit Seemannsmemorabilien seines Vaters geschmückt hatte: einem Astrolabium, einem Sextanten und ei nem Kupferrechteck, das an einem alten Seil befes tigt war. Nachdem Tiima in dem Wald hinter seinem Haus mit einer Kugel im Hinterkopf aufgefunden worden war – abgefeuert aus einer Waffe des gleichen Typs, der auch von Polizisten benutzt wurde –, hielten die Bürger des Ortes auf dem größten Platz von KeilaJoa eine unerlaubte Totenwache ab. Dabei verhiel ten sie sich friedlich, gingen aber nicht nach Hause, als der Befehl dazu ausgesprochen wurde. Die Neu igkeit über diesen bürgerlichen Ungehorsam verbrei tete sich schnell im ganzen Land, und obwohl darauf keine Gewalttätigkeiten, Aufstände oder Solidari tätskundgebungen folgten, nahm ein Jahr später je der einzelne Bürger von Keila-Joa an der »baltischen Kette« teil. GESCHÄTZTER WERT In einem Trödelladen würde ein neunhundert Jahre altes Seil mit einem von Grünspan überzogenen Kupferrechteck wahrschein lich 10 Dollar bringen. Vielleicht auch gar nichts, denn man könnte es leicht mit irgendwelchem Abfall verwechseln. Es könnte aber auch 30.000 Dollar ein bringen, wie beispielsweise ein Kamal, der angeblich vom obersten Navigator Vasco da Gamas benutzt wurde.
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So ist die Welt erschaffen worden.
Mir fiel erst auf, wie dreckig mein Wagen war, als ich Professor Jadid die Tür öffnete. Er runzelte die Stirn, wenn auch nur für einen Moment, um nicht unhöf lich zu wirken, aber doch lange genug, dass es mir auffiel. Rasch sammelte ich die herumliegenden Pappbecher, Sandwich-Verpackungen und Zeitun gen ein und warf sie nach hinten, ebenso zwei Schirme, die unter dem Beifahrersitz lagen. Nach dem ich anschließend noch schnell Brösel in allen Farben des beigen Regenbogens vom Sitz auf den Boden gefegt hatte, stieg der Professor vorsichtig ein. »Neugierig, wie ich bin«, sagte er, während ich vom Parkplatz auf die Straße einbog, »habe ich mich ge fragt, ob Sie sich wohl als religiös betrachten.« »Wie meinen Sie das? Sie wollen wissen, woran ich glaube?« »Oh, das ›Woran‹ ist gar nicht so wichtig. Ich nehme aber mal an, die Religion wäre ein guter Aus gangspunkt. Mich würde einfach interessieren, ob Sie eher zum Glauben oder zum Skeptizismus ten dieren. Was natürlich nicht heißen soll, dass das eine das andere ausschließt.« »Also, in Sachen Religion habe ich nie viel mitbe kommen. Als Kind war ich zwar hin und wieder in der Kirche, wurde aber nie konfirmiert oder so etwas. Ich habe nie ein richtiges Gefühl dafür entwickelt.
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Was vielleicht damit zusammenhängt, dass bei mei nen Eltern ebenfalls alles durcheinander ging und sie daher selbst auch schon Probleme hatten, sich für eine von jeweils zwei Konfessionen oder Glaubens gemeinschaften zu entscheiden. Oder für eine von jeweils zwei Familien, aber das ist wohl eine andere Geschichte.« »Haben Sie das Gefühl, dadurch etwas verpasst zu haben?« »Ich schätze, ich bin ein bisschen neidisch auf die Leute, die etwas daran finden…oder die entspre chenden Rituale sogar zu einem Teil ihres Lebens machen.« »Ja, selbst wenn es die Religion nicht immer schafft, ontologischen Trost zu spenden, so kann sie dem Leben doch eine gewisse Struktur geben. Zu mindest eine chronologische Struktur, wenn schon keine spirituelle.« Ich fragte ihn, wie er auf dieses Thema gekom men sei. »Neugier, reine Neugier. Ich muss sagen, dass ich inzwischen auch nur noch ganz selten den Weg in eine Synagoge finde. Mein Frau ist, wie Sie vielleicht wissen, orthodoxe Christin, sie wurde in Kalifornien als Tochter syrischer Eltern geboren. Wir haben un sere Töchter in diesem Glauben erzogen, was in meiner Familie für ein gehöriges Maß an Aufregung sorgte. Nun, in fortgeschrittenem Alter, fühle ich mich allerdings wieder zunehmend zu meiner Reli gion hingezogen – nicht so sehr zur Kosmogonie oder zum theologischen Gehalt des Judentums, sondern, wie Sie es vorhin ganz richtig beschrieben haben, zu
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seinen Ritualen. Was mich daran anzieht, ist das Ge fühl, an etwas Altem und Beständigem teilzuhaben. Irgendwie beschämt es mich doch sehr, dass ich mich als das fehlerhafte Glied in einer langen Kette von Gläubigen erwiesen habe, die sich vom Sohn über den Vater und den Großvater Jahrhunderte zurück verfolgen lässt. Könnte ich das Thema etwas objekti ver betrachten, dann wüsste ich wahrscheinlich auch die Ironie des Ganzen besser zu schätzen. Im Grun de hat nämlich der Wohlstand das geschafft, was der Not nie gelungen ist: Als es schließlich uns selbst überlassen blieb, uns zu assimilieren, haben wir wohl genau das getan. Und wenn ich ›wir‹ sage, meine ich natürlich ›ich‹. Aber eigentlich wollte ich gar nicht so viel schwafeln. Bleiben Sie weiter auf der Grover Street und biegen Sie dann links in die Appleman ein. Mein Haus kommt gleich nach der Torrance.« Professor Jadid schaltete das Autoradio an und ent schied sich für einen Klassiksender. Wir fuhren etwa zehn Minuten lang schweigend dahin. »Das da vorne ist es«, sagte er schließlich. »Parken Sie in der Zufahrt oder bleiben Sie an der Straße ste hen. Wie es Ihnen lieber ist.« Ich parkte den Wagen an der Straße vor seinem Haus: ein kleines, gepflegtes, für Wickenden ganz typisches Heim mit schindelverkleideter Vordersei te. Jedes der drei Stockwerke hatte seine eigene Ve randa, die mit der jeweils darunter liegenden durch eine Treppe verbunden war. Es sah nicht viel anders aus als das Haus, in dem ich während meines Studi ums gewohnt hatte, oder das, in dem Mia jetzt wohn te. Aus irgendeinem Grund hatte ich etwas anderes
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erwartet: vielleicht ein Schloss oder ein altes Herren haus oder Kloster. Ein Farmhaus auf dem Land. Dass Professor Jadid einen Parka und Stiefel trug, einen Rasenmäher besaß und sich an der Veranda kurz bückte, um eine kostenlose Gemeindezeitung aufzuheben, schien irgendwie nicht zu ihm zu pas sen: In meinen Augen war er dazu bestimmt, seine Abende in einem Wiener Kaffeehaus aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ausklingen zu lassen. Professor Jadids Küche war ein langer, niedriger, von warmem Licht durchfluteter Raum mit viel dunklem Holz: die Art Küche, in der man wunderbar seine Kindheit verbringen konnte. Geschickt schnitt er zwei Tomaten und zwei kleine rote Zwiebeln in winzige Würfel, verarbeitete sie mit der Rückseite eines Holzlöffels zu einer Paste und fügte ein paar Knoblauchzehen sowie die Blättchen von drei Zwei gen Majoran hinzu, die er von einem Stock auf dem Fensterbrett zupfte, außerdem Olivenöl und einen Schuss Weißwein. Dann schnitt er ein großes Stück Lammfleisch auf, vermengte die Fleischwürfel mit der Gemüsemasse und kippte die ganze Mischung in eine Keramikform, die er in den Ofen schob. An schließend schenkte er uns beiden ein Glas Weiß wein ein und bestand darauf, dass wir auf die große schwarze Schachtel tranken, die er in der Ecke abge stellt hatte. »Warum?«, fragte ich. »Das werden Sie schon noch erfahren«, antworte te er, wobei er publikumswirksam die Augenbrauen hochzog.
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Ich stieß ungeduldig die Luft aus. Wir saßen an einem runden Holztisch vor zwei gläsernen Schiebe türen, die auf einen Garten hinter dem Haus hinaus gingen, aber da es dunkel war und sowohl über als auch hinter uns eine Lampe brannte, sahen wir in den Türen nur uns selbst. Als plötzlich ein lautes Klopfen zu hören war und unser Spiegelbild aus den Glastüren verschwand, erschrak ich derart, dass ich ein wenig von meinem Wein verschüttete. Professor Jadid grinste mich verständnisvoll an (»Joseph parkt immer an der Rückseite«) und erhob sich dann, um seinen Neffen hereinzulassen. Besag ter Neffe quetschte sich mit einem Sixpack Newport Storm in der einen Hand und einem Aktenordner in der anderen durch die Tür. Er umarmte seinen On kel, von dem einen Moment lang fast nichts mehr zu sehen war, und küsste ihn dann dreimal auf die Wange, abwechselnd auf die linke und die rechte. Joe war in Begleitung eines großen, extrem dünnen jungen Mannes, der einen tadellos gebügelten kasta nienbraunen Anzug, ein Nadelstreifenhemd und ei ne kastanienbraune Krawatte mit einer GranatKrawattennadel trug, eine Lederjacke in der Hand hatte und aussah wie ein halb verhungerter, melan cholischer Musiker aus dem Greenwich Village der Fünfzigerjahre. »Das ist Ljoscha Prijenko«, stellte Joe ihn vor. Pri jenko schob sich vorsichtig zur Tür herein, als hätte er Angst, jemand könnte ihn sehen, und streckte ei nen knochigen Arm aus, um sowohl mir als auch dem Professor die Hand zu geben. »Ljoscha Prijenko, das ist mein Onkel Abe, und das hier ist Paul, der diese
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ganze Sache ins Rollen gebracht hat. Ljoscha schlägt sich mit dem organisierten Verbrechen herum.« »Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Prijenko. Bitte kommen Sie herein«, begrüßte ihn der Professor. »Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?« Prijenko machte eine abwehrende Handbewegung und schüttelte den Kopf. Seine hervorstehenden, axtförmigen Wangenknochen teilten sein Gesicht in eine obere und untere Hälfte, die, verstärkt durch seine linkische, leicht verlegene Art, nie in Einklang zu stehen schienen. »Nichts, Sir, danke, ich bin noch im Dienst.« Er sprach mit einem leichten Akzent – die Vokale zogen sich wie Gummi, während die Kon sonanten klangen, als würden sie auf dem Weg vom Hals zur Zunge miteinander kollidieren – und erin nerte in seiner steifen Haltung und mit seiner aus druckslosen Miene an einen Militärrekruten. »Natürlich, natürlich. Bitte.« Nachdem der Pro fessor für Joe und Prijenko je einen Stuhl herausge zogen hatte, ließen er und ich uns wieder auf den unseren nieder. Joe machte sich eine Bierflasche auf. Das Glas, das sein Onkel ihm anbot, lehnte er dan kend ab. »Wer von uns soll zuerst erzählen?«, fragte der Professor. Joe wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Unser Ljoscha hier muss zurück in die Arbeit, also lasst uns beide anfangen.« Er kratzte über seinen breiten Bauch und schniefte dabei, als wäre er belei digt oder nachdenklich. »Abe, hier riecht es so gut. Wann gibt’s Abendessen?«
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Professor Jadid schnippte mit den Fingern und tippte sich an die Schläfe. »Danke, Joseph, dass du mich daran erinnerst.« Er deckte den Tisch und warf dann einen Blick auf das Lamm. »Es dauert nicht mehr lange, und vorher gibt es nichts. Du kennst ja meine Regeln.« Er ging zur Arbeitsplatte hinüber und begann die Zutaten für einen Salat aufzuschnei den. »Ich höre trotzdem zu«, rief er über die Schulter hinweg. »Also«, begann Joe, der noch rasch sein Bier aus trank und die leere Flasche auf den Boden stellte. »Ich habe doch erzählt, dass wir gestern in diesem Lone Wolf waren und ein Glas mitgenommen haben, um es auf Fingerabdrücke überprüfen zu lassen, oder?« »Ja.« »Sally und Ljoscha haben sich um die Finge rabdrücke gekümmert. Übrigens soll ich dir von Sally ausrichten, wie Leid es ihm tut, dass er nicht mit kommen konnte, Onkel Abe. Eins von seinen Kin dern spielt heute in irgendeinem Theaterstück mit.« Der Professor nickte. »Jedenfalls hat unser Freund Prijenko hier einen Bruder – einen Bruder oder einen Cousin, Ljoscha?« »Zwei Brüder, um genau zu sein«, antwortete Pri jenko, der sich aufrechter hinsetzte, als wäre er gera de von einem Lehrer aufgerufen worden. »Einer ar beitet als Ermittler für die Moskauer Staatsanwalt schaft, der andere als Assistent des Innenministers.« »Genau. Das klingt nach der russischen Crème de la Crème, oder? Haben diese Jungs wirklich was zu melden?«
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Prijenko zuckte die Achseln und senkte den Blick. »Vermutlich schon. Auf jeden Fall haben sie gute Jobs. Bei meinem nächsten Besuch werde ich meinen Nichten und Neffen wieder viele Geschenke mitbringen, und deswegen haben sie uns geholfen.« »Jedenfalls«, fuhr Joe aufgeregt fort und rutschte dabei auf seinem Stuhl gefährlich weit nach vorn, »habe ich ihm und Sally sowohl die Fingerabdrücke von diesem Barmann Eddie als auch die von Püha päev gegeben. Ihr wisst ja, dass wir hier in Wickenden bereits eine Akte über Pühapäev vorliegen hat ten und er außerdem vom FBI als Hauptzeuge im Zusammenhang mit einem Juwelendiebstahl befragt worden war. Sie konnten ihm damals zwar nichts nachweisen, aber die FBI-Leute in Wickenden wuss ten zumindest, wer er war.« Ich nickte. Professor Jadid trug gerade eine Schüssel Salat zum Tisch und präsentierte uns dabei dieselbe stirn runzelnde Miene, bei der seinen Studenten das Blut in den Adern gefror. »Tja, ich habe Onkel Abe gestern davon erzählt. Er war nicht allzu begeistert darüber, dass Jaan ver sucht hat, diese Juwelen zu stehlen. Schließlich hatte er – ich meine Onkel Abe – ja mitgeholfen, sie für die Ausstellung hier in Wickenden zu beschaffen«, erklärte Joe. »Wie sich herausgestellt hat, war dieser Eddie dem FBI ebenfalls schon bekannt. Demnach heißt er … Moment«, sagte er und faltete ein Blatt Papier auseinander, das Prijenko ihm gereicht hatte. »Edouard Iwanow, am 4. Februar 1992, in Kings County, New York, wegen Besitz von Diebesgut zu einer Haftstrafe verurteilt. Er saß ein Jahr von den
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eineinhalb in Ossining ab, meldete sich anschließend regelmäßig bei seinem Bewährungshelfer, gute Füh rung, keine Beschwerden und so weiter und so fort. Danach hat weder der Gerichtshof von Kings County noch irgendein anderer Bundesgerichtshof je wieder etwas von ihm gehört.« »Um welche Art Diebstahl ging es dabei?«, fragte ich. »Gold. Goldene Heiligenfiguren aus einer ukrai nischen orthodoxen Kirche außerhalb von Bridge port, Connecticut. Nahe der Staatsgrenze, deswegen hat das FBI in der Sache ermittelt. Ein ähnlicher Fall wie bei Pühapäev: Der Trottel, den diese Typen bezahlt haben, wurde mit dem Diebesgut erwischt und behauptete, Iwanow habe den Diebstahl in Auf trag gegeben. Wie es aussieht, hatte Eddie eine vom Gericht dazu bestimmte Vogelscheuche als Anwalt und nicht unseren stadteigenen Johnnie Cochran. Warum zum Teufel engagieren diese Typen solche dämlichen Hehler?« Joe blickte hoch, als würde er eine Antwort von uns erwarten, aber zunächst war nur das Zischen und Brutzeln des Lamms im Ofen zu hören. »Aus Sparsamkeit?«, meinte Prijenko dann. »Viel leicht waren sie geizige alte Sowjets.« »Ja, vielleicht.« Joe klang nicht sehr überzeugt. »Du bist aber vorher nie auf diese Typen gestoßen, oder?« An mich und seinen Onkel gewandt, fügte er erklärend hinzu: »Sein Spezialgebiet ist die russische Mafia, die hier in der Stadt und der Umgebung ihr Unwesen treibt.« »Nein, mir sagte weder der eine noch der andere
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Name etwas. Ich muss allerdings hinzufügen, dass beide ja nicht in Wickenden lebten und ich erst seit neun oder zehn Monaten hier bin.« Prijenko zog mit langen, mädchenhaften Fingern ein Päckchen Parli aments aus der Brusttasche seines Hemds und wand te sich mit fragendem Blick an Professor Jadid, der wortlos einen Aschenbecher vor ihn hinstellte und ihm Zündhölzer reichte. Joe nickte nachdenklich und kratzte dabei über die Unterseite seines Kinns. Jeder Mann hat eine Stelle im Gesicht, die er beim Rasieren zwangsläufig übersieht. Bei Joe war es dieser rechteckige Bart fleck, der wie Moos in der Falte zwischen seinem Doppelkinn und seinem Hals wuchs. »Und jetzt er zähl du den besseren Teil.« Niemand wusste, mit wem er sprach. Sein Onkel servierte jedem von uns einen Teller mit gebackenem Lamm. Joe versetzte Prijenko einen freundschaftlichen Stoß mit dem Ell bogen, der den jüngeren Mann fast vom Stuhl kata pultierte. »Los.« Eine rötliche Spur Lammsaft lief ihm vom Kinn in den Hemdkragen. »Erzähl es ih nen.« »Ach so, ich. Klar. Also, wie sich herausgestellt hat, gibt es in Russland Akten über diesen Iwanow und den Mann, der sich Pühapäev nannte.« Keiner von uns sagte etwas. Prijenko gestikulierte einen Moment mit der Hand, in der er die Zigarette hielt. Er hatte noch nicht zu essen begonnen. »Nun ja, das ist nicht weiter überraschend. Es wurden von allen, die in der Armee oder im Komsomol waren oder in großen Städten lebten, Fingerabdrücke genommen. Überraschend ist nur, dass es mir gelungen ist, das an
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einem einzigen Tag herauszufinden«, fügte er gluck send hinzu. »Mein Bruder – der, der für die Staats anwaltschaft arbeitet – hat mir erzählt, dass sie gera de dabei sind, die neueren Akten in den Computer einzugeben, aber dass die alten immer noch in dem gleichen großen Raum unter der Nowokuznetskaja liegen, in dem sie schon immer lagen. Zum Glück hatte er mit vier von den sechs Frauen, die im Archiv arbeiten, eine Affäre, und drei davon endeten glück lich. Das macht ihn wahrscheinlich zum einzigen Mann in Moskau, der in Erfahrung bringen kann, was wir wissen wollen.« Keiner von uns lachte, aber er selbst schien das ziemlich lustig zu finden. »Wie wär’s, wenn du mal zum Punkt kommst? Und iss was, Dünner!« Nun, da man ihm die Erlaubnis dazu erteilt hatte, begann auch Prijenko mit großem Appetit zu essen. »Danke, das schmeckt wunderbar. Türkisch?« »Das Rezept, meinen Sie?«, fragte der Professor. Prijenko nickte. »Wahrscheinlich war es ursprünglich mal ein griechisches Rezept, aber inzwischen ist es eine Eigenkomposition von mir. Trotzdem sehr gut geraten. Ich schätze, es könnte genauso gut ein türki sches Gericht sein. Nächstes Mal könnte ich ein bisschen Sumach hinzufügen, und vielleicht …« »Entschuldige, Abe, aber Prijenko muss dann wieder weg. Können wir das Austauschen von Re zepten vielleicht auf unseren nächsten Besuch ver schieben?« Professor Jadid wirkte einen Moment leicht aus dem Konzept gebracht, beschränkte sich dann aber auf ein freundliches Achselzucken. »Tut mir Leid.
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Die meisten alten Männer werkeln im Garten herum oder gehen auf den Golfplatz. Ich werkle eben in der Küche. Bitte erzählen Sie weiter, Ljoscha.« »Ja, gut, also meinem Bruder zufolge gehören Iwanows Fingerabdrücke in Russland einem Mann namens Ibragim Ichmajew, einem Inguschen, der einen Schmugglerring betrieben hatte und dafür 1985 zu vierzig Jahren Arbeitslager verurteilt worden war.« »Wie eigenartig«, bemerkte der Professor. »1985? Wurden die Gerichtsurteile denn nicht alle über prüft, als die Sowjetunion zusammenbrach?« Prijenko verzog den Mund, zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. »Damals gab es andere Prioritäten. Außerdem hätten die Behörden in einem Fall wie diesem wahrscheinlich gesagt, Diebstahl sei Diebstahl, egal, ob in einem kommu nistischen Land oder auf dem freien Markt. Aber ich weiß nicht …« »Was?«, fragte ich. »Warten Sie, ich bin gleich fertig.« Er zog ein No tizbuch aus der Tasche. »Ichmajew leitete einen ausgeklügelten Hehlerring. Touristen aus dem Wes ten verkaufte er russische Ikonen und religiöse und historische Artefakte, von denen die meisten natür lich gefälscht waren – die Leute aus dem Westen merken das nicht«, fügte er mit einem reumütigen Lächeln hinzu und senkte dabei den Blick. »Das soll jetzt übrigens keine Beleidigung sein. Für Russen schmuggelte er Autos, Kleidung aus dem Westen, Popmusik und Markenzigaretten aus Skandinavien und Westdeutschland.«
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»Das klingt aber eher nach einem kleinen Fisch«, bemerkte Joe, während er sich zurücklehnte und einen zufriedenen Rülpser ausstieß, der es von der Lautstärke her mit jeder Tuba hätte aufnehmen können. »Ja, aber ich bin noch nicht fertig.« Prijenko legte eine Pause ein, um zu sehen, ob er unsere Aufmerk samkeit hatte. Er nahm mit einem befriedigten klei nen Nicken zur Kenntnis, dass dem so war. »Er hat außerdem Edelmetalle und Juwelen aus Zentralasien nach Russland geschmuggelt.« »Immer haben es diese Typen mit den Juwelen«, stellte ich fest. »In der Tat«, stimmte der Professor mit einem geheimnisvollen Lächeln zu. Prijenko spießte ein Stück Lamm auf seine Gabel und begann es mit den Backenzähnen zu bearbeiten. »Das Interessante an der Sache ist«, sagte er mit vol lem Mund, »dass er dafür normalerweise erschossen worden wäre. Die Art organisiertes Verbrechen, für das Russland inzwischen berühmt ist, existierte unter den Sowjets eigentlich nicht. Nein, das stimmt nicht: Es existierte, aber nur als Regierungssystem.« Wir mussten alle lachen, und er blickte mit einem Fun keln in den Augen auf, lächelte aber nicht. »Das ist kein Witz. Oder es ist doch einer, aber vielleicht eher ein Anti-Witz. Jede Gruppe der russischen Mafia, mit der ich je zu tun hatte, war bewusst oder unbewusst nach dem Vorbild der kommunistischen Partei der Sowjetunion organisiert. Der einzige Unterschied ist, dass die Mafia ihre Diebstähle tätigt, ohne vorher lange Reden zu halten und von hehren Idealen zu
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sprechen, an die sowieso niemand glaubt. Also wie gesagt, eigentlich hätte Ichmajew damals für seine Verbrechen erschossen werden müssen. Was aber nicht der Fall war. Ich nehme an, er hatte irgendwel che Beziehungen, wahrscheinlich zur Armee oder zum Geheimdienst. Wie hätte er so etwas sonst orga nisieren können? Aber trotzdem«, sagte er und hob dabei den Finger wie ein Dirigent in dem Moment, bevor die Musik einsetzt, »ist das noch nicht das Seltsamste an Ichmajew.« »Lieber Himmel, Junge, du musst doch kein Theaterstück draus machen«, sagte Joe. »Nun spuck’s endlich aus!« »Also, der Punkt ist, dass Ichmajew laut den russi schen Polizeiakten noch immer in Magadan ist.« »Wo ist Magadan?«, fragte ich. »Ein paar tausend Kilometer nördlich von Japan, ein paar tausend Kilometer südwestlich von Alaska, und ein paar Millionen Kilometer vom Rest der Welt entfernt. Es ist ein Gefängnis«, antwortete Joe. Wir sahen uns verwirrt an, und Prijenko brach in lautes Lachen aus. »Ich kann gar nicht glauben, dass ein amerikanischer Polizei-Detective weiß, wo Ma gadan ist. Wie kommt das?« Joe zuckte bloß befriedigt die Achseln und grinste dabei übers ganze Gesicht. »Das Blöde ist nur, dass die Akten in einem so chaotischen Zustand sind«, fuhr Prijenko fort. »Als ich meinem Bruder sagte, dass sich dieser Ichmajew hier bei uns rumtreibt, fing er zu schwitzen und zu fluchen an, denn falls sein Telefon abgehört wird, wissen sie jetzt, dass er weiß, dass die Akten nicht in
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Ordnung sind. Womöglich schicken sie ihn dann
nach Magadan und lassen ihn die Sache überprüfen.«
»Wie kann jemand aus einem solchen Gefängnis entkommen?«, fragte Joe. »Oh, da gibt es wahrscheinlich viele Möglichkei ten. Wenn er wirklich über solche Beziehungen ver fügt, wie wir vermuten, dürfte das kein Problem ge wesen sein. Da reicht schon eine gefälschte Anord nung oder ein, zwei bestochene Wachen. Nein, die interessante Frage ist, wie er es geschafft hat, die Eiswüste zu durchqueren. Ich schätze, sogar dort draußen leben noch ein paar Jakuten, aber zu der Zeit wussten alle, dass sie angewiesen waren, die Leute zurückzubringen. Aus ihrem Gebiet heil he rauszukommen war sicher viel schwieriger als aus dem eigentlichen Gefängnis. Aber ich nehme an, das ist genau das, was ein Schmugglerring am besten kann: etwas sicher von einem Ort an einen anderen zu bringen.« Professor Jadid räumte unsere Teller ab und schenkte uns nach. Joe machte sein drittes Bier auf, und der Professor ließ sich auch eines geben. »Ich rette dich vor dir selbst, Joseph«, erklärte er. »Das ist manchmal einfach nötig, wenn du einen Tisch voller Essen und Bier in Reichweite hast.« Der Professor nahm sich auch eine von Prijenkos Zigaretten. »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie über Jaan ebenfalls Informationen?« »Ja, habe ich«, antwortete Prijenko. »Vielleicht ist es völlig unwichtig, aber der Detective wollte, dass ich es trotzdem erwähne.« »Das bin übrigens ich«, sagte Joe. »Der Detective.
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Nur deswegen hat er sich bereit erklärt, so viel Mühe in einen Fall zu investieren, der so weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs liegt. Er glaubt, dass ich ihm jetzt einen Gefallen schulde.« Prijenko fuhr hoch, als wäre er gebissen worden, verblüfft und wü tend. »Und natürlich tue ich das. Ich meine, er hat Recht. Ich schulde ihm einen Gefallen.« »Da kann ich mich für Joseph verbürgen«, mischte sich der Professor in beruhigendem Ton ein, »selbst wenn er nicht mein Neffe wäre. Wir Jadids vergessen unsere Schulden nicht, und wenn wir jemanden um einen Gefallen bitten, dann überlegen wir uns das vorher gut.« Joe bestätigte seine Worte mit einem Nicken und klopfte Prijenko auf die Schulter. »Ja, natürlich, da habe ich keine Bedenken. Dann mache ich jetzt weiter, oder?«, antwortete Prijenko. »Gut. Ich habe also meinem Bruder Pühapäevs Fin gerabdrücke gefaxt, und er hat gesagt, sie würden zu vierzig Prozent mit den Fingerabdrücken von Iwan Woskresenjow übereinstimmen, einem Marinekom mandanten, der zuerst in Murmansk und dann in Ri ga stationiert war und später in Moskau für das Direk torium für Marinestrategie und Sicherheit gearbeitet hat.« Er warf einen Blick auf sein Notizbuch. »Mei nen Notizen zufolge hat er sich 1991 zur Ruhe ge setzt, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Er ist nie in einem Marinekrankenhaus aufge taucht, und es gibt auch keine Aufzeichnungen über eine Seebestattung. Vielleicht ist er immer noch in Russland und führt dort ein beschauliches Leben.« »Wie aussagekräftig ist eine vierzigprozentige Übereinstimmung?«, fragte Professor Jadid.
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»Die meisten Gerichte würden nichts darauf ge ben, das kann ich euch gleich sagen«, erklärte Joe. Prijenko neigte den Kopf erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. »Schwer zu sa gen. Woskresenjows Fingerabdrücke stammen aus dem Jahr – lassen Sie mich nachsehen – 1957. 1989 wurden sie auf Mikrofilm eingelesen und in eine einfache Fingerabdruckdatei eingegeben, die letztes Jahr auf ein fortschrittlicheres System übertragen wurde, aber laut meinem Bruder ist die Bildqualität immer noch ziemlich schlecht. Sie verlassen sich nach wie vor hauptsächlich auf die ganz traditionelle Methode, wenn sie überhaupt Fingerabdrücke ver wenden. Was unter anderem damit zusammenhängt, dass die schlechte Bildqualität ihrer Maschinen sel ten zu eindeutigen Ergebnissen führt. Wie heißen diese Maschinen noch mal?« »Das ist doch scheißegal!«, antwortete Joe. »Joseph, bitte!« »Entschuldige, Abe. Tut mir wirklich Leid. Das ist so eine blöde Angewohnheit von mir.« »Wie auch immer«, fuhr Prijenko fort, »vielleicht sind es seine Fingerabdrücke, vielleicht auch nicht, wir werden es nie mit Sicherheit wissen. Aber eins ist auf jeden Fall seltsam. Woskresenje ist das russische Wort für ›Sonntag‹. Detective Jadid hat mir gesagt, dass Jaan Pühapäev übersetzt ›Johann Sonntag‹ heißt. Iwan ist natürlich die russische Version von Johann. Das ist schon seltsam.« »Ist Woskresenjow ein häufig vorkommender rus sischer Nachname?«, fragte der Professor. »Nein, das nicht, aber man muss dazusagen, dass
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es in Russland sehr, sehr viele verschiedene Nach namen gibt. Vielleicht fünfzehn oder zwanzig Vor namen, aber sehr viele Nachnamen.« »Ach ja, übrigens«, meldete Joe sich zu Wort, »Sally hat gesagt, seinen Freunden zufolge existieren keine Aufzeichnungen darüber, dass jemals ein Mann namens Jaan Pühapäev aus Estland emigriert ist. Trotzdem wurde ein amerikanischer Pass auf die sen Namen ausgestellt, und zwar auf dem Passamt von Hartford.« Joe klopfte Prijenko auf den Rücken. »Mein Jun ge, du hast heute gute Arbeit geleistet. Hör zu: Du darfst mich einfach nicht beachten, wenn ich dir ir gendwie zu nahe trete, okay?« »Ich habe eine dicke Haut«, antwortete Prijenko, während er aufstand und in seine kurze, tabakbraune Lederjacke schlüpfte. Jeder Mann, der etwas auf sich hielt, wünscht sich, in einer solchen Jacke cool aus zusehen. Bei Prijenko war es der Fall. »Gut. Für heute kriegst du einen goldenen Stern.« Prijenko lächelte, tat Joes Bemerkung aber mit einer Handbewegung ab. »Glaubst du, ich mach Witze? Und jetzt ab mir dir. Wir werden mit Sicher heit wieder zusammenarbeiten.« Prijenko gab allen die Hand, dankte Professor Ja did für das Essen und ging. »So«, sagte ich. »So«, sagte Joe. Der Professor hatte den Ofen nicht ausgeschaltet, und die Hitze füllte langsam den ganzen Raum. Außerdem begann es ziemlich ver brannt nach etwas zu riechen, was wohl beim Kochen danebengefallen war. Trotzdem stand niemand auf.
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»Unglaublich«, sagte der Professor nach einer lan gen Pause. »Mein Kollege war nicht, was er zu sein schien.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Dass er in der sowjetischen Armee gedient hat, überrascht mich nicht. Dass sein Name ein ange nommener war, dürfte auch jedem klar sein, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken. Aber er hat versucht, ein paar ganz besondere Rubine zu stehlen: Rubine, die in Ringe eingelegt waren, heimlich ange fertigt von einem sassanidischen Juwelier, der gleich zeitig als ›Mann mit besonderen Fähigkeiten‹ galt. Angeblich verhelfen diese Rubine dem richtigen Träger zu einem langen Leben und schützen – bei richtiger Verwendung – vor sichtbaren und unsichtba ren Feinden. Ob man nun daran glaubt oder nicht, aber die Legende erhöht auf jeden Fall ihren Wert. Dass er versucht hat, sie zu stehlen, finde ich wirklich erstaunlich. Hinzu kommt noch, dass er seine Freizeit im Lokal eines anderen sowjetischen Auswanderers verbrachte, der anscheinend ebenfalls ein Juwelen dieb war. Und dann klingt sein angenommener Name auch noch verdächtig nach dem eines verschwunde nen hochrangigen Marinekommandanten. Wenn man schließlich noch Prijenkos – meines Erachtens recht begründeten – Verdacht hinzunimmt, dass Ichmajews Helfer Beziehungen zum Militär hatten, dann ergibt sich langsam ein immer seltsameres Bild.« »Du glaubst, Pühapäev war eine Art Juwelen dieb?«, fragte Joe. »Nicht direkt, oder jedenfalls nicht in dem Sinn, wie du das Wort wahrscheinlich verstehst.«
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»Wie meinst du das?« Seufzend stellte der Professor die schwarze Schachtel auf den Tisch, die er aus Pühapäevs Büro mitgebracht hatte. Wortlos hob er den Deckel ab und nahm einen gelben Briefumschlag der üblichen Grö ße heraus. »Ich weiß, dass die große Schachtel eine ziemliche Farce ist, aber immerhin sorgt sie für den nötigen dramatischen Effekt. Außerdem hatte ich heute im Büro gerade nichts anderes zur Hand. Ich musste eine Menge Studenten-Essays von zu Hause in die Arbeit schleppen und hatte eigentlich vor, die Schachtel leer wieder mitzunehmen. Egal. Paul, Sie wissen es ja schon, aber Joe, du weißt es noch nicht: Das hier ist der Inhalt von Jaans Safe. So, hier haben wir Nummer eins.« Professor Jadid zog ein langes, zusammengefaltetes Blatt Papier aus dem Umschlag. Es war die Art Papier, die man für die altmodischen Computerdrucker verwendet hatte: Beide Seiten waren mit einem perforierten, abreißbaren und gleichmäßig gelochten Rand versehen. Wer benutzte denn noch solches Papier? »Es handelt sich um einen Reiseplan.« Natürlich: Reisebüros. »Jaan hatte einen ziemlich abenteuerlichen und teuren Winterurlaub geplant: Erst einmal wollte er von Boston nach Berlin fliegen. Drei Tage später von Berlin nach Moskau. Fünf Tage später nach Teheran. Von Teheran nach Riad, von dort weiter nach Amman, dann nach Bag dad und von dort wohl mit einem anderen Trans portmittel nach Jerusalem, denn sein nächster Flug sollte von Jerusalem nach Bombay gehen, dann war ein kurzer Zwischenstopp in Los Angeles geplant, und von dort wollte er nach Boston zurückfliegen.«
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»Die Große Tour«, scherzte Joe. »In der Tat. Ganz schön abenteuerlich für einen alten Professor, findet ihr nicht?« »Was hatte er vor?«, fragte ich. Der Professor bat mit einem erhobenen Zeigefin ger um Ruhe und griff wieder in seine Schachtel. »Nummer zwei bis sechs: Pässe. Estnisch, russisch, holländisch, britisch und iranisch. Joseph, kannst du mir sagen, ob die Vereinigten Staaten für irgendeines dieser Länder eine doppelte Staatsbürgerschaft er lauben, von Großbritannien und den Niederlanden mal abgesehen?« »Meines Wissens nicht.« »Du hast völlig Recht. Demnach sollten diese Pässe – die, wie ihr sehen könnt, alle völlig blanko sind, sogar ohne Foto und Namen – seine amerikani sche Identität wohl eher ersetzen als erweitern, ge nauso wie die amerikanische – wie wir heute Abend entdeckt haben – irgendwann seine estnische ersetzt hat. Und vielleicht hätte die estnische irgendwann wieder die amerikanische ersetzt. Und so weiter.« »Und so weiter?«, wiederholte ich ungläubig. »Wie alt war denn dieser Typ? Ich meine, wie viele Identitäten kann man in einem einzigen Leben an nehmen?« »Das ist eine sehr faszinierende Frage. Von Joseph weiß ich, dass der Gerichtsmediziner, der Jaan obdu ziert hat, an seinen Organen ungewöhnlich geringe Verschleißerscheinungen festgestellt hat.« »Ja, aber was beweist das? Vergessen Sie nicht, dass der Coroner kurz darauf ums Leben kam. Er hatte keine Gelegenheit mehr dazu, die Autopsie zu
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beenden. Es könnte durchaus sein, dass es nur so ein erster Eindruck von ihm war. Dass er schon einen langen Tag hinter sich hatte, einen schnellen Blick auf die Leiche warf und sich erst am nächsten Tag richtig an die Arbeit machen wollte. Ich habe noch nicht mit seinem Nachfolger gesprochen. Vielleicht hat er etwas gefunden, aber das … Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll.« »Vielleicht gar nichts. Aber diese spezielle Aussa ge – dass seine Organe in ungewöhnlich gutem Zu stand waren – scheint eher auf eine genaue Untersu chung hinzudeuten als auf eine schlampige, meinen Sie nicht? Wäre der Coroner müde gewesen oder bei seiner Autopsie hastig oder unsachgemäß vorgegan gen, dann hätte er Pühapäevs Leiche sicher eher die Eigenschaften zugeschrieben, die zu erwarten gewe sen wären, und nicht derartig ungewöhnliche, oder? Warum sollte ein erfahrener Gerichtsmediziner zwei felhafte, aber leicht widerlegbare Behauptungen auf stellen?« Ein gutes Argument, auf das mir keine Erwide rung einfiel. Joe offenbar auch nicht. »Nummer sieben«, fuhr der Professor fort. »Ein Blatt Papier, auf dem fünfzehn geheimnisumwobene Gegenstände handschriftlich aufgelistet sind: ein Destillierkolben, ein Turm, eine goldene Flöte, eine silberne Flöte, ein äthiopischer Triptychon, Xinji angs Elfenbein, die weinende Königin von Hoxton, ein Sheng, Regenbogenstaub, die Käfige des Kag han, der weiße und rote Mediko, al-Idrisis Kamal, Ardabils gelbe und aufgehende Sonne und der Schat ten der Sonne.«
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»Regenbogenstaub?«, fragte Joe ungläubig und brachte dabei seinen Spott zum Ausdruck, indem er jede Silbe betont in die Länge zog. »Was ist ein Mediko?«, fragte ich. Professor Jadid bedachte uns mit einem nachsich tigen Lächeln. »Was Regenbogenstaub ist, weiß ich auch nicht so genau, aber ich nehme an, es handelt sich um etwas Bedeutsameres, als dein verächtlicher Ton unterstellt, Joseph. Und bestimmt erinnerst du dich an Mediko Tschwalianidse, diese wundervolle Sängerin aus Georgien, die zusammen mit dem Chor in St. Cyril’s gesungen hat?« »Ich war nie in der Kirche, hast du das vergessen, Onkel Abe? Ich gehöre doch zur anderen Seite.« »Ach ja, natürlich, natürlich. Ich bin eben schon ein verwirrter alter Mann. Auf jeden Fall nehme ich an, dass es sich dabei um Antiquitäten handelt, die in letzter Zeit in Jaans Besitz gelangt sind. Wie ihr seht, sind die Gegenstände in verschiedenen Farben und mit lauter unterschiedlichen Stiften abgehakt, wahr scheinlich, weil er sie alle zu unterschiedlichen Zei ten erworben hat.« »Lieber Himmel, Abe, du hättest Polizist werden sollen.« »Bitte keine Komplimente, Joseph, sonst werde ich noch rot.« Wieder griff er in die Schachtel, und diesmal zog er sechs ledergebundene Scheckbücher heraus. »Nummer acht bis dreizehn: Sparbücher. Citibank, Barclays, ABN AMRO, außerdem Banken in der Schweiz, auf den Cayman-Inseln und in Liechtenstein. In den ersten drei Sparbüchern ste cken Scheckformulare, in den übrigen drei nicht. Es
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handelt sich dabei wohl um Banken, wo man persön lich erscheinen muss, wenn man etwas abheben möchte, aber vielleicht täusche ich mich da. Auf je den Fall sind alle drei Länder für ihre Freundlichkeit gegenüber denen bekannt, die große Geldsummen entweder verschwinden lassen oder waschen wollen. Und nun kommen wir zu etwas besonders Interes santem: Nummer vierzehn ist, wie ihr sehen könnt, ein weiteres Blatt Papier. Ich werde euch vorlesen, was Jaan darauf geschrieben hat. Ich bin übrigens sicher, dass es sich um seine Handschrift handelt: ›Es ist wahr, ohne Lügen, gewiss und wahrhaftig.
Was oben ist, ist wie das, was unten ist, und was unten ist,
ist wie das, was oben ist, damit die Wunder des Einen
zur Vollendung gelangen.
Und wie alle Dinge den Betrachtungen eines einzigen
entsprangen, so entstanden alle Dinge aus diesem einen
durch einen einzigen Akt der Zubereitung.
Die Sonne ist sein Vater, der Mond seine Mutter.
Der Wind hat’s in seinem Bauche getragen, die Erde ist
seine Amme.
Dies ist der Vater aller Vollkommenheit in der ganzen Welt.
Seine Kraft bleibt vollkommen.
Auf Erden geworfen, scheidet es die Erde vom Feuer, das
Zarte vom Groben.
Sanft mit großem Verstande steigt es
von der Erde auf in den Himmel.
Und steigt wieder herab zu der Erde, um die Macht der
höheren und niederen Wesen zu empfangen.
Auf diese Weise wird dir die Ehre der ganzen Welt gehören,
und alle Finsternis wird von dir weichen.
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Dieses ist die Kraft, die stärkste aller Kräfte, weil es alle
dünnen oder zarten Dinge überwinden wird. So ist die Welt
erschaffen worden.
Hierauf entstehen viele wunderbare Anwendungen, zu denen
die Mittel hier gegeben sind.
Darum werde ich Hermes Trismegistos genannt, weil ich
die drei Teile der Weisheit besitze.
Was ich vom Wirken des Sol gesagt, ist nun vollendet.‹«
»Was zum Teufel war denn das?«, fragte Joe, der mir damit aus der Seele sprach. »Das war der übersetzte Wortlaut der Smaragdta fel, auch Tabula Smaragdina genannt. Es handelt sich dabei um einen der grundlegenden Texte der mittelalterlichen Alchemie. An dieses Blatt sind Übersetzungen ins Englische, Farsi, Arabische und Hebräische geheftet, außerdem jeweils sechzehn Zeilen in Kyrillisch und in zwei vom Sanskrit abge leiteten Schriften, die ich nicht lesen kann, bei de nen es sich aber vermutlich ebenfalls um Überset zungen der Tafel handelt. Übrigens Nummer fünf zehn bis einundzwanzig, falls ihr noch mitzählt.« Der Professor hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt und ließ den Blick zwischen Joseph und mir hin und her wandern. Lächelnd und mit leuchtenden Augen griff er ein weiteres Mal in seine Kiste und holte ein in grünes Leder gebundenes Buch heraus, auf dessen Umschlag und Rücken gotische deutsche Lettern prangten. »Ihr habt ja beide gesehen, wie viele Sprachen in Jaans Bücherregalen vertreten waren. Ich bezweifle allerdings, dass euch auch aufgefallen ist, dass nahe
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zu alle seine Bücher auf die eine oder andere Weise dasselbe Thema behandelten: die Praxis und Ge schichte der Alchemie. In einem großen Teil der Schriften geht es entweder um die Smaragdtafel selbst oder um die als Hermetismus, Hermetizismus oder Gnostizismus bekannten Traditionen, aus de nen die Tafel so eindeutig hervorging. Dieses Buch hier beispielsweise ist eine Kuriosität, von der ich schon oft gehört habe, die ich aber noch nie zu Ge sicht bekommen habe. Und wisst ihr, warum nicht? Nein? Weil davon insgesamt nur drei Exemplare ge druckt worden sind. Eines wird angeblich irgendwo in Deutschland aufbewahrt. Eines ist mit Hitler in seinem Bunker verbrannt. Dass sich das dritte nur ein Stockwerk über mir befand … nun, davon hätte ich nie zu träumen gewagt.« »Was zum Teufel ist das?«, fragte Joe. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Es handelt sich dabei um das private Tagebuch von Volker von Breitzlung, dem Astrologen Hitlers. Nein, nein, lacht nicht: Hitler hielt wesentlich mehr von okkulten Praktiken als jeder andere westliche Füh rer, sogar noch mehr als Reagan.« Er hielt einen Moment inne und grinste. »Oder ihr Mann. Jeden falls sind sich die Gelehrten uneins, ob dieses Buch überhaupt existiert, und würden mich nicht sein Al ter, die Art des Drucks und die Abnützungsspuren eines Besseren belehren, dann würde ich es wahr scheinlich für eine Fälschung halten. Womöglich ist es sogar eine Fälschung, aber dann eine derart gut gemachte, dass sie als solche wohl ebenfalls einen gewissen Wert besäße. Hier«, sagte er und schlug
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eine Stelle auf, die mit einem gelben Zettel einge merkt war. ›»Der Führer fragte mich abermals nach dem großen grünen Stein und wollte wissen, ob er tatsächlich die Wirkung habe, von der ich ihm am Vortag erzählt hatte. Ich sagte ihm, dass dem tatsäch lich so sei und dass, wer den Stein in seinen Besitz brächte und damit umzugehen wüsste, jeden sich ihm in den Weg stellenden Widerstand zweifellos brechen würde. Schon seit geraumer Zeit gebe es Gerüchte, teilte ich ihm erneut mit, dass der Stein in Estland sei, und er bestätigte, dass die Sowjets an den drei Baltenstaaten interessiert seien, dass er aber, selbst wenn er die politische Macht an diese abscheulichen Atheisten abtreten würde, ein wach sames und heimliches Netz treuer deutscher Patrio ten und Anhänger aufrechterhalten würde, die su chen, suchen, suchen würden, bis sie den Stein ge funden hätten.‹ Und damit«, sagte der Professor, während er das Buch zuklappte und ein gefaltetes Blatt Papier hervorholte, »kommen wir zu Nummer zweiundzwanzig.« Er faltete es vorsichtig auseinan der und enthüllte den grünen Staub, den ich ganz hinten in Pühapäevs Safe entdeckt hatte. »Ich glau be, dass Jaan oder wie auch immer sein richtiger Name gewesen sein mag, irgendwie auf die Smaragd tafel gestoßen ist. Ich glaube, dass er versucht hat, sie zu verkaufen oder doch zumindest ihren Einfluss zu verscherbeln.« Nach ein paar Augenblicken Stille beugte sich Jo seph über den Tisch zu seinem Onkel. »Ihren Ein fluss? Abie, hast du deinen gottverdammten Verstand verloren? Welchen Einfluss denn? Um
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Himmels willen, du sprichst vom Märchen eines Ast rologen! Alchemie? Was hätte er denn tun sollen? Nach Bagdad oder Saudi-Arabien jetten und den ganzen gottverdammten Sand in Gold verwandeln?« »Junger Mann, als Erstes möchte ich dich darauf hinweisen, dass ich diese Art gottloses Gerede in meinem Haus nicht dulde.« Joe ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen, senkte den Kopf und blickte seinen Onkel mit einsichtiger Miene von unten herauf an. »Zweitens ist Alchemie weit mehr, als Blei oder Sand, wie du es so schnöde ausgedrückt hast, in Gold zu verwandeln. Es ist die Wissenschaft von der Um wandlung, und vom Verständnis der grundsätzlichen Natur des Universums und all der darin enthaltenen Dinge. Rein theoretisch wäre ein fähiger Alchemist in der Lage, alles in irgendetwas anderes umzuwan deln. Man könnte es auch als physikalische Meta physik bezeichnen. Warum wehrst du dich eigentlich so heftig dagegen, zumindest die Möglichkeit in Be tracht zu ziehen, dass dieser spezielle Gegenstand gewisse, über das Normale hinausgehende Kräfte besitzen könnte?« »Abe, was denn für Kräfte?« »Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Aber denk an den Zustand von Jaans Leichnam. Ir gendetwas muss es möglich gemacht haben, bei sei nen Organen den Alterungsprozess aufzuhalten oder zu verlangsamen oder womöglich sogar umzukehren. Wie sonst erklärst du dir seinen Zustand?« »Der Gerichtsmediziner taugte nichts, das ist al les.«
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»Wie kann man in deinem Alter schon so zynisch sein! Joseph, ich spreche nicht von solchem Zeug, wie du es in diesem Mineralienladen in der Prescott Street bekommst. Ich spreche nicht von einem neu en New-Age-Trend, über den man sich weise ni ckend im Café unterhält, während man ein Glas … wie heißt noch mal dieses Zeug, das deine Cousine Mira so gern trinkt?« »Chai?« »Genau … während man ein Glas Chai trinkt. Ich gebe ja zu, dass das alles ein wenig vage bleibt und dass nirgendwo genau beschrieben wird, worin die Wirkung ganz konkret besteht, aber trotzdem lauten die Äußerungen immer erstaunlich ähnlich, wenn in der Literatur von der Tafel die Rede ist. Diese Ähn lichkeiten ziehen sich durch die Kulturen und durch die Zeitalter, und sie bestehen auch zwischen Auto ren, die unmöglich die Texte des jeweils anderen gelesen haben können. Außerdem wird in den al chemistischen Texten zahlreicher Länder auf eine große Tafel aus grünem Stein Bezug genommen, und es ist dabei immer die Rede von etwas, was trennt und reinigt, die tote Materie hinter sich lässt und das Lebende verjüngt. Wie erklärst du dir das?« »Naja, größtenteils ist es wohl Zufall …« »Unsinn. Die Literatur duldet keinen Zufall.« »Vielleicht nicht in einem einzelnen Buch«, räum te Joseph ein. »Aber irgendwie klingen doch alle My then gleich, egal, woher sie stammen. Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Zufall und irgendeiner Art von Indizienbeweis – und in diesem Fall ist das Wort ›Beweis‹ von lauter riesigen, flammend roten Neon
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fragezeichen umgeben –, dann entscheide ich mich für den Zufall.« »Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte ich. Die beiden unterbrachen ihre Diskussion und sahen mich an. »Ich meine, mal angenommen, Jaan war wirklich im Besitz dieses Steins oder hatte ihn ir gendwie gefunden. Ihr werdet mir doch beide zu stimmen, dass das denkbar wäre, oder? Er hatte schließlich schon einmal versucht, Juwelen zu steh len, und dieser Barmann, Albanian Eddie, ist ja wirk lich eine Art Schmuggler. Es kann also tatsächlich sein, dass er im Besitz dieses Steins war. Ob das Ding nun eine ungewöhnliche Macht hat oder nicht, er versucht auf jeden Fall, es zu verkaufen, oder? Der ganze Ablauf – einen Käufer zu finden, Partner in anderen Ländern zu kontaktieren, Geld auf irgend ein Geheimkonto im Ausland zu transferieren – bleibt der Gleiche, so oder so. Ich kann ja durchaus verstehen, dass es für Sie eine Rolle spielt, ob der Stein eine besondere Macht besaß oder nicht, Pro fessor, allein schon aus akademischem Interesse – was jetzt natürlich keine Beleidigung sein soll. Aber alles andere – die Reisen, die Verkäufe, Jaans Verhal ten – bleibt im Grunde gleich, egal, ob der Stein ein fach nur ein großer Smaragdklumpen oder aber ein großer Smaragdklumpen mit Zauberkräften war. Letztendlich wäre es nur darauf angekommen, ob die Käufer es glaubten oder nicht.« »Da hat der Junge irgendwie Recht«, sagte Joe. »Was glaubst du übrigens, wie groß er ist, Abe?« »Ich weiß es nicht genau. Laut der bekanntesten Legende hatte Noah ihn auf seiner Arche dabei, und
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Abrahams Frau Sarah fand ihn in den Armen eines Priesters, der tot in einer Höhle lag. Hier in dem Buch von Breitzlung wird er als ›großer grüner Stein‹ be zeichnet. Das Wort ›Tafel‹ ist hinsichtlich der Größe auch nicht sehr aufschlussreich. Aber falls es sich bei dem, was wir in Jaans Safe gefunden haben, tatsäch lich um Staub von der Tafel handelt und der Safe ei gens zu dem Zweck angeschafft wurde, die Tafel dar in aufzubewahren, dann müsste es sich tatsächlich um das größte einzelne Smaragdstück handeln, von dem die Welt je gehört hat. Sollen wir mal grob sagen, so groß wie ein normales Blatt Papier? Diese Größe müsste es in etwa haben, damit ein Mann, und sei es auch ein kleiner Mann, es sich auf die Brust legen und mit den Armen umschlingen würde, oder? Könnt ihr euch den Wert eines solchen Steins vorstellen? Milli onen? Hunderte von Millionen? Es wäre unvorstell bar. Ich meine, wirklich unvorstellbar.« »Was sind das eigentlich für anderen Sachen, die du auf deiner Liste stehen hast?« »Was für andere Sachen?« »Die weinende Königin, der Destillierkolben, der Turm – das ganze Zeug.« »Antiquitäten, nehme ich an. Ich kann zwischen diesen ansonsten ziemlich unterschiedlichen Ge genständen keine Verbindung erkennen.« »Abgesehen davon, dass es sich ausschließlich um Antiquitäten handelt.« »Nun ja, das ist ja offensichtlich. Ich spreche von einer echten Verbindung.« »Das ist doch echt genug. Man bezeichnet etwas als Antiquität statt als altes Stück Müll aus dem
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Speicher und bringt damit indirekt zum Ausdruck, dass es einen Wert hat. Vielleicht war Jaan nicht nur ein Juwelendieb. Vielleicht war er ein Hehler für einen Diebesring, der sich auf eine bestimmte Art Ware spezialisiert hatte.« »Ein interessanter Aspekt. Er scheint sich tatsäch lich sehr für Dinge mit einer okkulten Geschichte interessiert zu haben.« »Na bitte«, sagte Joe. »Das macht sie bloß noch wertvoller. Denk an die reichen Schwachköpfe, die den ganzen Tag Yoga und Tai-Chi machen und in Sauerstofftanks schlafen, weil sie sich einbilden, dann länger zu leben. Das würde den Preis dieser Dinge sehr in die Höhe treiben.« »Hmmm«, brummte der Professor, während er seine Brille abnahm und sich den Nasenrücken mas sierte. »Trotzdem behaupte ich, dass es zwischen Himmel und Erde mehr Dinge gibt, Joseph …« »Ja, das habe ich auch schon gelesen. Einigen wir uns doch darauf, dass wir uns in diesem Punkt nicht einigen können. So, und als Nächstes würde ich gern das Haus dieses Typen unter die Lupe nehmen.« »Das würde die Lincolner Polizei niemals zulas sen«, sagte ich. »Nicht einmal, wenn ich Sally mitnehme, und du im Wagen wartest?« »Vergiss es.« »Dann fragen wir sie einfach nicht. Was ist mit deiner Freundin, der Musiklehrerin? Hat sie einen Schlüssel?« »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das eine so gute Idee ist. Ich musste ihr sozusagen versprechen,
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für ein paar Tage die Finger von der Sache zu las sen.« »Warum denn das?« »Sie hat gesagt, sie wolle einfach nicht mehr daran erinnert werden. Sie wolle Jaan in Frieden ruhen
lassen.« »So ein Schwachsinn.« »Vielleicht ist der Schmerz bei ihr einfach noch sehr frisch«, gab Professor Jadid zu bedenken. »Ich finde das gar nicht so ungewöhnlich.« »Das mag ja sein, aber was hat das mit Paul zu tun? Wieso verlangt sie von ihm, dass er seine Nach forschungen einstellt?« »Sie war ziemlich wütend darüber, dass ich mit der Polizei gesprochen habe«, sagte ich. »Tatsächlich? Na ja, wie auch immer. Darüber können wir uns später Gedanken machen. Ich wette tausend Dollar, dass ich auch ohne Schlüssel in das Haus komme.« Weder der Professor noch ich sagten etwas. »Ich werte das als Einverständnis. Jetzt ist es erst neun, also noch viel zu früh, um in diese Richtung aktiv zu werden. Ich könnte allerdings noch einen Drink vertragen.« »Joseph, du hast zu einem einzigen Essen schon so viel Bier getrunken wie ich in einem ganzen Mo nat!«, jammerte der Professor. »Ja, ich weiß. Ich rede ja auch gar nicht von hier. Ich finde, wir sollten auf dem Weg nach Lincoln ei nen Zwischenstopp einlegen und Eddie besuchen.«
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Die gelbe Sonne
D Auf dem Meer gibt es keine Sonnenaufgänge. Wenn der aufmerksame Beobachter vom Krähennest aus erste gelbe Spuren in den Himmel fließen sieht, ist er letztendlich vielleicht erfreut oder beunruhigt, zuerst einmal aber erleichtert. Denn ein gelber Son nenaufgang verheißt Land: Fast ist er schon wieder auf festem Boden. D SØREN ÅSTERGARD D Nachforschungen zugunsten des Lebens
15. Dezember 1989 Aubrey College, Oxford An den Leiter der Psychiatrischen Abteilung, James Hinch cliffe Hospital: Dies ist ein Begleitschreiben für Mr. K. R. Prasad, den stellvertretenden Dekan des Aubrey College, und Mr. Benjamin Glantz, der am Aubrey College ein Aufbau studium absolviert und sich gegenwärtig in einem Zustand erheblicher Erschöpfung befindet. Wie Ihnen zweifellos schon zu Ohren gekommen ist, hat das College einen schrecklichen Verlust erlitten. Mr. Glantz ist davon höchst direkt betroffen, da er zufällig derjenige war, der Dr. Dimbledons Leiche fand. Der junge Mann war
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heute Morgen einem Nervenzusammenbruch so nahe, dass ich es für das Beste hielt, ihn vorerst Ihrer Obhut anzuver trauen. Ich kenne Mr. Glantz als einen außergewöhnlich intelligenten, fähigen jungen Mann (der sich allerdings durch eine etwas nervöse, leicht erregbare Wesensart auszeichnet) und hoffe, dass er nach ein paar Tagen der Erholung in einer ruhigen Umgebung wieder ganz er selbst sein wird. Ich habe eine besondere Bitte, die Sie, eingedenk Ihrer langjährigen Verbindung mit dieser Universität, hoffentlich respektieren werden. Zweifellos sind Ihnen bereits Gerüchte darüber zu Ohren gekommen, was sich hier zugetragen hat, und morgen werden Sie in den spekulativeren und weniger angesehenen unserer Zeitungen alles darüber lesen können. Bitte fragen Sie Mr. Glantz nicht danach, und bitte spre chen Sie in seiner Gegenwart auch nicht darüber. Er ist ein sehr sensibler junger Mann, dem die kleine Rolle, die er bei diesen Ereignissen gespielt hat, sehr zu schaffen macht. Ich bitte Sie, Ihre Neugier zu zügeln, solange er sich in Ihrer Obhut befindet. Natürlich wäre es mir am liebsten, Sie würden sie auch danach noch zügeln, werde mich aber hü ten, Ihnen gegenüber den Moralapostel zu spielen, insbe sondere angesichts von Druckerschwärze und Ruhm, so vergänglich beides auch sein mag. Wie auch immer, hier haben Sie ihn. Behandeln Sie ihn gut. Ich verbleibe hochachtungsvoll Sir Peter Allham Rektor, Aubrey College 15. Dezember 1989 An alle Mitarbeiter und Fellows des Aubrey College:
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Inzwischen haben Sie höchstwahrscheinlich bereits gehört, dass Dr. Darius Dimbledon, leitender Tutor und seit fast fünfzig Jahren angesehener Dozent dieses Colleges, heute Nachmittag verstorben ist. Dr. Dimbledon kam in den ers ten Kriegsjahren an die Universität und war hier seitdem ein stets präsentes und vertrautes Gesicht. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie sehr wir ihn alle vermissen werden. Ich bin mir der zahlreichen und sehr makaberen Gerüch te hinsichtlich der Umstände von Dr. Dimbledons Tod be wusst, ziehe es aber vor, mich dazu nicht zu äußern. Ich möchte Sie bitten, ebenso zu verfahren, insbesondere gegen über den Reportern, die unmittelbar vor den Toren des Colleges Stellung bezogen haben. Zweifellos wird uns von seiten der Presse eine Menge unerwünschte, sensationslüs terne Aufmerksamkeit zuteil werden. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, das Dr. Dimbledon während der gesam ten Zeit, die er bei uns gelehrt hat, auch hier gelebt hat: Ab gesehen von uns hatte er keine Familie, und in Zeiten wie diesen sollten wir die Angelegenheiten von Kollegen als fa miliäre Angelegenheiten behandeln. Die Stadt und die für die Universität zuständige Polizei führen äußerst gründli che Ermittlungen durch, und sollte sich tatsächlich bestäti gen, dass hier ein schreckliches Verbrechen begangen wurde, dann wird zweifellos dafür gesorgt werden, dass der oder die Täter schnell ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Ich bin sicher, dass die ermittelnden Beamten mit Ihrer vollen und bereitwilligen Unterstützung rechnen können. Sie werden feststellen, dass in der Pförtnerloge neben un serem üblichen Pförtner eine Polizeiwache Stellung bezogen hat. Das ist eine reine Routinemaßnahme, die die Sicherheit all unserer Mitarbeiter, Fellows und Gäste (und, nach ih rer Rückkehr, auch die unserer Studenten) gewährleisten
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soll und daher keinerlei Anlass zu unbegründeter Panik geben sollte. Morgen um 15 Uhr wird Dr. Dimbledon auf dem Friedhof der Universität beigesetzt. Ich möchte Sie außer dem einladen, heute Abend um 19 Uhr mit mir und Reve rend Wethersby in der Kapelle des Colleges an einem Ge dächtnisgottesdienst für Darius Dimbledon teilzunehmen. Hochachtungsvoll Sir Peter Allham Rektor, Aubrey College Times, 17. Dezember 1989 [Aus »M-D-s gesellschaftlichem Tagebuch«] Mein alter Schulkumpel »Hammy« (Sir Peter für den Rest der Welt) Allham rief mich gestern an, um mich einzuladen, die Rektorenunterkunft am Aubrey College zu benutzen, falls ich vorhätte, zu dem Gedenkgottesdienst für Dr. Darius Dimbledon zu erscheinen, dem letzten noch verbliebenen Fel low aus meinen alkyonischen Collegetagen. Dimby war schon damals ein verstaubter alter Mistkerl, und außerdem wollten Mrs. D. und ich ohnehin zur Rusalka-Premiere nach Covent Garden, sodass ich Hammy bedauerlicherweise absagen musste, woraufhin er mir versprach, mich anzurufen, sollte er sich das nächste Mal aus dem Elfenbeinturm in die große Stadt wagen. Er versicherte mir, sein Vorhaben baldigst in die Tat umzusetzen, da die vergangene Woche für ihn höchst anstrengend gewesen sei. Und was bedeutet »höchst anstren gend« für einen Universitätsprofessor, Hammy? Dass dir dein Vorrat an Fino ausgegangen ist und du auf Amontilla do umsteigen musst, bis der Quästor dir wieder eine Kiste genehmigt, oder vielleicht auch sechs?
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17. Dezember 1989
An Rektor Allham: Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Polizei die Befragung aller Personen, die zum Zeitpunkt des bedauer lichen Todes von Dr. Dimbledon an der Konferenz teil nahmen und auf dem Gelände des Aubrey Colleges unterge bracht waren, mittlerweile abgeschlossen hat. Es tut mir sehr Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ein Herr, der sich als Konferenzteilnehmer registrieren ließ und seinen Schlüssel bei mir abgeholt hat, allem Anschein nach ver schwunden ist. Sein Name ist Federico Soares, und ich habe ihn als kleinen, dunkelhaarigen Mann von mittelkräf tiger Statur in Erinnerung. Seinem Hauttyp nach dürfte er aus Spanien oder einem ähnlichen Land stammen. Ich habe seinen Schlüssel nicht zurückbekommen, und niemand auf der Konferenz hat den Mann gesehen, zumindest wurde mir das berichtet. Ich überlasse alle weiteren Entscheidungen in dieser Angelegenheit ganz Ihnen, hatte aber das Gefühl, dass Sie darüber Bescheid wissen sollten. Da ich Dr. Dimbledon ebenfalls persönlich kannte, wenn auch bestimmt nicht so gut wie Sie, möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit mein tiefstes Beileid aussprechen. Mit herzlichem Dank Barry Finch Oberpförtner, Aubrey College 17. Dezember 1989 An Rektor Sir Peter Allham: Hiermit möchten wir Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir Mr. Benjamin Glantz morgen Vormittag entlassen
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werden. Wir haben ihm eine Behandlung mit Diazepam verschrieben und empfehlen ihm, weiterhin psychologische Betreuung und/oder Therapie in Anspruch zu nehmen, so lange er es für nötig hält. Wie Sie in Ihrem Begleitschreiben bereits festgestellt ha ben, ist Mr. Glantz ein intelligenter und fähiger junger Mann, aber seine sehr behütete Kindheit und Jugend – keine finanziellen Nöte, Eltern, die großen Wert auf gute schuli sche Leistungen legten, deren Sorge um sein Wohlergehen aber oft einen übertriebenen und erdrückenden Charakter annahm – haben ihn nur sehr unzureichend auf den Schock vorbereitet, den er erlitten hat. Ich hoffe, Sie werden mir die Verallgemeinerung verzeihen, aber die amerikanische Nei gung zum »Zerreden« von Problemen resultiert oft in einer Art Obsession: Natürlich kann Mr. Glantz das Schreckli che, das er gesehen hat, nicht einfach aus seinem Gedächtnis streichen. Aber wie sich herausgestellt hat, ist es für ihn ebenso schwierig, es hinter sich zu lassen. Trotzdem macht er mittlerweile einen einigermaßen ruhigen und gefassten Eindruck, sodass es ihm wahrscheinlich eher schaden als gut tun würde, sollten wir ihn noch länger hier behalten. Vielen Dank, dass Sie ihn unserer Obhut anvertraut ha ben. Natürlich werden ich und meine Belegschaft weiterhin Ihrer Bitte nachkommen, nicht mit Vertretern der Presse über Mr. Glantz zu sprechen. Ich wünsche Ihnen und dem College, dass es Ihnen ge lingt, diese Angelegenheit baldmöglichst zu einem Ende zu bringen. Mit freundlichen Grüßen Dr. Sanjeev Singh Leitender Psychiater James Hinchcliffe Hospital
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19. Dezember 1989 An Sir Peter Allham, Rektor des Aubrey Colleges: Vielen Dank, dass Sie sich wegen Ihrer Bedenken bezüg lich eines Teilnehmers der europäischen ManagementKonferenz, die vor kurzem in den Räumen Ihres Colleges stattfand, mit dem Innenministerium in Verbindung gesetzt haben. Der Herr Minister berichtete mir von seinem Ge spräch mit Ihnen, und es ist nun die Aufgabe meiner Abtei lung, wegen des Verschwindens von Federico Soares Nach forschungen anzustellen. Als Erstes muss ich Sie zu meinem großen Bedauern darüber informieren, dass wir bisher nichts über Mr. Soares wissen. Unsere portugiesisch-spanische Abteilung hält den Namen für eindeutig portugiesischen Ursprungs. Ob der Mann selbst portugiesischer oder brasilianischer Staatsbür ger ist oder war, wissen wir nicht. Ausgehend von Mr. Finchs Beschreibung halten wir es für unwahrschein lich, dass er aus einem der portugiesischsprachigen afrikani schen Länder stammt (Angola, Mozambique, GuineaBissau, Kap Verde oder São Tomé e Príncipe), obwohl auch das natürlich nicht ausgeschlossen werden kann. Er schrieb sich für die Konferenz als Vertreter von PDL Industries ein, und seine Anmeldeunterlagen wurden an eine Postfachadresse in Bremen geschickt. Eine Firma die ses Namens existiert weder in Bremen noch im übrigen Deutschland, und das Postamt, an das die Unterlagen ge schickt wurden, hatte Anweisungen, die eingehende Post an ein Postfach in der Türkei weiterzusenden. Das allein verweist noch nicht auf einen Betrug, die Kom bination aus einer Scheinfirma in Deutschland und einer Nachsendeadresse in der Türkei ist nicht allzu ungewöhnlich.
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Trotzdem hätte ein deutsch-türkischer Geschäftsmann wahrscheinlich einen türkischen Namen und keinen portu giesischen. In Deutschland sind insgesamt sechs Männer namens Federico Soares gemeldet: vier sind unter sechzehn, einer ist 75, und der einzige mit dem passenden Alter arbei tet als Fachmann in der Entwicklungsabteilung bei BMW und hat München seit neun Monaten nicht mehr verlassen. In den letzten sechs Wochen vor der Konferenz sind drei Männer namens Federico Soares nach Großbritannien eingereist. Davon sind zwei innerhalb von drei Wochen wieder abgereist, und der eine noch verbleibende FS wan dert schon seit zehn Tagen im Rahmen einer organisierten Tour durch die Pennines, wo er sich ständig in der Gesell schaft von Führern und anderen Wanderern befindet. In den drei Tagen, die seit der Konferenz vergangen sind, hat kein Mann dieses Namens Großbritannien verlassen. Das heißt, dass er sich entweder noch unter einem anderen Na men im Land aufhält (in diesem Fall wird meine Abteilung ihn finden) oder aber unter einem falschen Namen ange meldet war, was leider bedeuten würde, dass sehr wenig Hoffnung besteht, ihn zu erwischen. Die Polizei anderer Länder dazu zu bringen, bei der Suche nach jemandem mitzuhelfen, der nur unter Umstän den, wenn überhaupt, mit einem Verbrechen zu tun hat, ist ausgesprochen schwierig. Trotzdem werden wir mit unseren Nachforschungen fortfahren. Sollten sich neue Entwicklungen ergeben, wer den wir uns unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen und hoffen, Sie werden dasselbe tun. Mit freundlichen Grüßen Reginald Danvers Einwanderungsbehörde Innenministerium
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19. Dezember 1989 National Herald Cyril Brackett, Nachrichtenredakteur Die Polizei des Themse-Tals tappt weiter im Dunkeln, was den Tod eines der altgedientesten Dozenten Oxfords betrifft, der aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden ist. Vor vier Tagen wurde Dr. Darius Dimbledon, seit fast fünfzig Jahren Fellow am Aubrey College, tot in seinen Räumen aufgefunden. Die Leiche wurde von einem Studen ten entdeckt, der Dr. Dimbledons Räume anscheinend nur aus Versehen betrat, weil er sie irrtümlicherweise für seine eigenen hielt. Besagter Student, der im Zimmer neben Dr. Dimbledon wohnte, kehrte sehr spät und in offenbar ziemlich erschöpftem Zustand ans College zurück. Die Leitung des Aubrey Colleges hat den Namen des Studenten nicht bekannt gegeben, und die Dozenten und sonstigen Angestellten dort weigern sich beharrlich, Fragen über ihn zu beantworten. Ein einziges Mitglied der Belegschaft, das jedoch ano nym bleiben möchte, erklärte sich zu einer kurzen Auskunft bereit und sagte, Dr. Dimbledons Körper seien »schreckliche Dinge« zugefügt worden, wollte sich aber nicht genauer dazu äußern. Offiziell geht die Polizei nicht von einem Mordfall aus. Auf die direkte Frage, wie Dr. Dimbledon denn seiner Meinung nach gestorben sei, antwortete Chief Constable Henry Standage: »An Verletzungen, die er sich unter Umständen selbst zuge fügt hat oder die die Folge eines Unfalls waren, aber nicht notwendigerweise auf Fremdeinwirkung hindeuten.« Inoffiziell aber geht die Polizei vor, als wäre ein Verbre chen begangen worden.
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Laut einer Quelle aus Polizeikreisen war der Verdacht zunächst auf Benjamin Glantz gefallen, den Studenten, der den Toten gefunden hatte. Es habe jedoch keine Verbindung zwischen Student und Dozent nachgewiesen werden können, und der Quelle zufolge gilt Mr. Glantz nicht mehr als Ver dächtiger. Das Schweigen der Kriminalpolizei hat zu allerlei Ge rüchten Anlass gegeben. So erklärte beispielsweise Nigel Blitherington, als Nahost-Korrespondent für den »London Global Report« tätig, in seiner Villa in Beirut, dass »über dem grausamen, blutigen und fachmännisch geplanten Mord an Dr. Dimbledon die dunklen Tentakel des Mossad schweben«, wobei er besonders betonte, dass »sowohl der Vorname Benjamin als auch der Nachname Glantz in ext remistisch-zionistischen Kreisen in den Vereinigten Staaten und Israel erschreckend häufig seien … Warum hat die israelische Botschaft noch nicht bestätigt, dass Glantz nie nach Israel gereist ist? Welche mächtigen Personen haben die Polizei gezwungen, ihre Ermittlungen in diese Richtung so schnell einzustellen? Und wen überrascht es, dass die amerikanischen Medien, die immer schnell bereit sind, zio nistische Abwegigkeit herunterzuspielen, zu diesen Fragen bezeichnend wenig zu sagen haben?« Bisher haben keine weiteren Zeitungen die Spekulationen von Mr. Blitherington aufgegriffen. Eine beliebte Theorie unter den Studenten des Aubrey Colleges lautet, der zurückgezogen lebende, unverheiratete Dozent sei von einem wütenden Liebhaber ermordet wor den. Die Polizei versucht verzweifelt, in Dr. Dimbledons Un terlagen Hinweise auf irgendwelche Meinungsverschieden heiten zu finden, bislang aber ohne Erfolg.
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Zum Zeitpunkt von Dr. Dimbledons Tod stellten sowohl das Aubrey College als auch das Ripley College ihre Räume für eine gesamteuropäische Management-Konferenz zur Verfügung. Einer der Konferenzteilnehmer ist verschwun den, und über seinen Verbleib ist nichts bekannt, obwohl Polizeikräfte aus dem ganzen Land zu einer verdeckten Großfahndung nach ihm mobilisiert wurden. Nach Meinung der Oxforder Stadträtin Sharon Viers ist es »ein Segen, dass das alles passiert ist, während der Großteil der Studenten in den Weihnachtsferien war, und natürlich sind wir alle sehr erleichtert, dass es sich hier um einen Einzelfall zu handeln scheint und nicht um das Werk eines Irren, der womöglich die Sicherheit des gesamten Ortes gefährdet hätte«. 19. Dezember 1989 Sehr geehrter Mr. Bowman, mein Name ist Benjamin Glantz, und ich befinde mich in meinem zweiten Jahr eines Aufbaustudiengangs am Aubrey College. Wie bei unserem heutigen Telefonat bespro chen, möchte ich hiermit in aller Form darum bitten, mein Rhodes-Stipendium für den Rest dieses Studienjahres aus zusetzen. Wie ich annehme, wissen Sie, dass ich von dem Vorfall, der sich kürzlich am Aubrey College ereignet hat, direkt betroffen war. Ich habe Dr. Dimbledons Leiche gefunden und infolge des daraus resultierenden Schocks zwei Tage in der psychiatrischen Abteilung des James Hinchclijfe Hospi tal verbracht. Ich bin immer noch sehr nervös, wenn ich mich am Col lege aufhalte, insbesondere weil mein Zimmer direkt neben
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den Räumen von Dr. Dimbledon liegt. Ich glaube, es wäre für meine Gesundheit am besten, wenn ich meine Studien hier für eine Weile unterbrechen würde. Sollten Sie in irgendeiner Weise an meinem Zustand zweifeln oder mich gar für einen Simulanten halten, dann setzen Sie sich bitte mit Dr. Sanjeev Singh vom James Hinchclijfe Hospital in Verbindung oder auch mit Rektor Sir Peter Allham, der in den letzten Tagen sehr freundlich zu mir gewesen ist. Falls Sie Zweifel an meiner Ernsthaf tigkeit als Student hegen, wenden Sie sich bitte an meinen Kursbetreuer Professor Trelawney, der sich für die Qualität meiner Arbeit verbürgen wird. Und sollten Sie im Zusam menhang mit meinem Anliegen irgendwelche weiteren In formationen benötigen, zögern Sie bitte nicht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Wie Sie sich sicher vorstellen kön nen, ist mir sehr daran gelegen, möglichst schnell wieder zu Hause in meiner vertrauten Umgebung zu sein. Ich möchte Ihnen schon im Voraus für Ihr Verständnis danken und hoffe, bald eine positive Nachricht von Ihnen zu erhalten. Hochachtungsvoll
Benjamin Glantz
21. Dezember 1989 Lieber Mr. Glantz, vielen Dank für Ihr Schreiben. Im Anschluss an unser Telefonat habe ich mich umgehend mit den übrigen Mitglie dern des Stipendienausschusses in Verbindung gesetzt. Wir sehen keinen Grund, Ihrer Bitte um Aussetzung des Rhodes-Stipendiums nicht nachzukommen, und wir haben volles Verständnis für Ihren Wunsch, schnellstmöglich zu Ihrer Familie zurückzukehren. Wir gehen davon aus, dass
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Sie Ihr Studium in Oxford ab Oktober nächsten Jahres wieder aufnehmen werden. Bitte setzen Sie sich bis spätes tens 15. August 1990 mit mir in Verbindung, um die ge plante Wiederaufnahme zu diesem Termin zu bestätigen. Im Namen aller Mitglieder des Rhodes-Ausschusses möchte ich Ihnen hiermit unser Mitgefühl aussprechen und außerdem die Gelegenheit nutzen, Ihnen auch persönlich gute Besserung zu wünschen. Hochachtungsvoll William Bowman Vorsitzender des Stipendienausschusses des Rhodes Foundation Trust 22. Dezember 1989 An Sir Peter Allham, Rektor des Aubrey Colleges: Auf Ihre Anfrage hin möchte ich Sie hiermit über unsere bisherigen Erkenntnisse in dem Fall informieren. Leider kann ich nur berichten, dass wir noch genauso wenig wissen wie vor einer Woche, als wir mit unseren Er mittlungen begannen. Wir haben in Dr. Dimbledons Räu men keine brauchbaren Fingerabdrücke gefunden, oder besser gesagt, hunderte von Fingerabdrücken, hauptsächlich seine eigenen. Man darf auf keinen Fall außer Acht lassen, dass bestimmt Dutzende von Studenten, Reinigungskräften und Gästen diese Räume betreten haben, und wenn man nicht eine bestimmte Person im Auge hat beziehungsweise keine Fingerabdrücke vorliegen, mit denen man die gefun denen vergleichen könnte, ist ein Erfolg in der Regel ein reiner Glücksfall. Erwähnenswert ist vielleicht, dass die Fingerabdrücke von Mr. Glantz nur auf dem Türknauf und der Stelle auf
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dem Teppich gefunden wurden, wo er zusammenbrach. Demnach hatten wir Recht, den jungen Mann nicht weiter zu verdächtigen, und falls wir mit ihm ein wenig grober umgegangen sind, als er es gewohnt ist, wird er dafür sicher Verständnis aufbringen. Wenn wir mehr über diesen ver schwundenen Soares wüssten, würden wir selbstverständ lich nach ihm fahnden, aber da er nur ein Geist gewesen zu sein scheint, haben wir nichts, wonach wir suchen können. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkt vonseiten unseres üblichen Netzwerks von Informanten und verdeckten Er mittlern in Oxford. Ich wage zu behaupten, dass die Oxfor der Unterwelt über Dr. Dimbledons Tod genauso verblüfft ist wie wir, was vielleicht ein kleiner Trost ist. Ich gebe zu bedenken, dass die meisten Mordfälle zu mindest den Hauch einer Spur liefern und dass diejenigen, bei denen sich im Verlauf der ersten Woche keine Anhalts punkte ergeben, oft ungelöst bleiben. Bitte verstehen Sie diese Bemerkung nicht als Eingeständnis unseres Scheiterns, sondern nur als vorsichtige Vermutung, wie der Fall ausge hen könnte. Unsere Ermittlungen dauern an. Hochachtungsvoll
Henry Standage
23. Dezember 1989 Lieber Peter, hoffentlich geht es dir gut. Das Schlamassel an deinem College hat eine ganze Reihe deiner Kumpels hier bei uns einen Teil ihres Weihnachtsurlaubs gekostet. Weshalb sie jetzt natürlich nur noch Exkumpel sind. Aber was soll’s, den Müden sei keine Ruhe vergönnt, nehme ich an. Unser Hammy hat also Bumster im Innenministerium angerufen, Bumster hat Reg von der Einwanderungsbehör
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de angerufen, und Reg ist auf und ab marschiert wie der kleine Zuchtmeister, der er nun mal ist. Er hat absolut nichts herausgefunden, was in Anbetracht seiner etwas be schränkten Mittel ganz normal ist, auch wenn er in diesem Fall – so schmerzlich es auch ist, das zuzugeben – gar nichts dafür kann, weil es einfach nichts herauszufinden gibt. Dieser Dimbledon ist von einem richtigen Profi erle digt worden. Die Einwanderungsbehörde hat nichts herausgefunden, wir haben nichts herausgefunden, und sogar Standage, der in diesem Fall die Ermittlungen leitet (und der übrigens ein recht guter Detective ist, so kompetent und professionell, wie man es sich nur wünschen kann) musste passen. Keine Spur von diesem Soares – nichts in Oxford, nichts in London, nichts von unseren MI6-Spitzeln in Armenien, Turkmenis tan oder New York (Dimbledons einzigen Auslandsreisezie len in den letzten zehn Jahren) – einfach nichts, null Kom ma nichts. Phipps hat sogar ein bisschen in der japanischen Mafia rumgeschnüffelt, auch wenn die in London ziemlich schwach vertreten ist (das Abschneiden eines Fingers ist bei den Yakuza anscheinend eine traditionelle Form der Selbstbestrafung), und das Ergebnis war – errätst du es? – nichts. Dieser Dimbledon gibt uns wirklich Rätsel auf. Lehrt seit fünfzig Jahren in Oxford, verdient sich etwas dazu, indem er in allen möglichen Gärten herumwerkelt, und fällt plötzlich dem professionellsten Mord zum Opfer, den Großbritannien seit Jahren erlebt hat. Irgendetwas stimmt da nicht, und das Problem ist, dass wir wahrscheinlich nie erfahren werden, was. Und deswegen werde ich mir auch die größte Mühe geben, die nächsten zwölf Tage keinen wei teren Gedanken daran zu verschwenden. Ich würde dir
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raten, dasselbe zu tun. Er ist tot, Beanie, genau wie all die anderen. Sag uns Bescheid, wenn du vielversprechenden Nach wuchs entdeckst, ja? Aubrey ist hier seit ein paar Jahren ziemlich schwach vertreten, und genauso in der 6er Abteilung, weißt du das? Oh, du Dämliche etc. Crumms 23. Mai 1977 New York Times Teresa Watkins & Benjamin Glantz Teresa Althea Watkins, Tochter von Harold Watkins und Alice Watkins aus Brooklyn, N. Y., heiratete gestern Ben jamin Herschel Glantz, Sohn von Herman Glantz und Leora Glantz aus Thousand Oaks, Calif. Die Trauungsze remonie fand im Brooklyn Museum of Art statt, unter der Leitung von Hon. Edward T. Harries, Bundesrichter am New York Supreme Court. Rabbi Adam Maiseis vom Temple Beth Shalom in Los Angeles und Rev. Hosea I. M. Jefferson von der Temperance AME Zion Church aus Fort Greene, Brooklyn, nahmen ebenfalls an der Zeremonie teil. Ms. Watkins, 27, behält ihren Namen. Sie ist stellvertre tende Bezirksstaatsanwältin in Manhattan. Sie studierte an der Johns Hopkins University und der Yale Law School. Ihr Vater ist Leiter der Abteilung für südasiatische Antiquitäten am Brooklyn Museum of Art. Er ist außer dem ein Gründungsmitglied der Musica Antiqua Brooklyn, einer Gesangsgruppe, die sich der historisch authentischen Darbietung von Musik aus der Renaissancezeit widmet. Die Mutter der Braut ist das zweite Gründungsmitglied der
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Gruppe, und zugleich die erste Sopranistin. Sie ist außer dem Dozentin für visuelle Kunst an der New York Univer sity. Mr. Glantz, 32, ist Sozius in der Anwaltskanzlei San ders, Clark, Monk, Brown & Garrett und ist dort vor al lem für Regierungsverträge zuständig. Er hat einen B.A. und einen Dr. jur. der University of Chicago und einen M.A. der Oxford University. Seine Eltern betreiben Glantzs Delicatessen in Thousand Oaks, Calif. GEGENSTAND 13 Ein Platinring mit einem gelben, schräg geschliffenen 9,04-Karat-Saphir. »Er ist die Morgensonne, und er ist das Ende« ist auf Arabisch in die Außenseite des Rings graviert. Entlang der Innenseite ranken sich ineinander verschlungene spitze Blätter. Man glaubt, dass es sich dabei um ei nen von drei Ringen handelt, die in Ardabil heimlich von Osman angefertigt wurden, dem Hofjuwelier des abgesetzten Farooz, des letzten Königs des sassanidi schen Reichs. Angeblich wollte Osman auf diese Weise an das Ende der Herrschaft seines Herrn erin nern. Der Ring wird meist als »Die aufgehende Son ne von Ardabil« bezeichnet.
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Die beiden anderen Ringe sind ebenfalls Saphirringe. Einer ist rot und heißt »Die untergehende Sonne von Ardabil«, der andere, »Die Sonne des Weltunter gangs«, ist schwarz. Die untergehende Sonne und die Sonne des Weltuntergangs befinden sich beide in der City Art Gallery von Manchester. Mitte der Neunzi gerjahre waren sie zusammen mit einer Reihe anderer persischer Antiquitäten im Rahmen einer Wander ausstellung in vier amerikanischen Städten zu sehen. HERSTELLUNGSDATUM Die Feinheit der Gravur und die Kombination eines islamischen Elements (der arabischen Schrift) mit einem präislamischen (der Darstellung belebter Dinge, in diesem Fall der Blätter) datiert die aufgehende Sonne auf die dem Untergang der sassanidischen Dynastie unmittelbar folgende Zeitspanne (Mitte achtes Jahrhundert). HERSTELLER In den sassanidischen Annalen ist er lediglich als Osman der Juwelier bekannt. Ob das darauf zurückzuführen ist, dass er keine anderen Namen hatte (was auf eine einfache Herkunft hin deuten würde), oder darauf, dass er wegen seiner großen Bekanntheit keine anderen Namen brauchte, konnte bisher nicht geklärt werden. HERKUNFTSORT Ardabil, eine Stadt, die größtenteils vom sassanidischen König Farooz erbaut wurde und ein ehemaliger achaimenidischer Außenposten am nördlichen Rand des persischen Reichs war. Heute liegt die Stadt im nordöstlichen Iran, nahe der Gren ze zu Aserbaidschan.
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LETZTER BEKANNTER BESITZER Darius Dimble don, altersloses Wunder am Aubrey College. 1988 stahl Dr. Dimbledon den Ring aus dem Gepäck sei nes Reisegefährten, während er sich in New York als Museumsdirektor ausgab. Der Diebstahl wurde erst mehrere Monate später entdeckt, woraufhin sich der frühere Besitzer, der mit dem stillschweigenden Einverständnis seiner Arbeitgeber handelte, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Zutritt zu den Un terkünften des Aubrey Colleges verschaffte und Dr. Dimbledon eines Abends in seinen Räumen auf suchte. Er zwang den Professor, sich zu entkleiden und mit dem gestohlenen Ring am Finger in seinem Lieblingssessel Platz zu nehmen. Anschließend schnitt er ihm mit einem kleinen, scharfen Messer nacheinander alle Finger ab. Er ordnete die Finger auf Dr. Dimbledons Schreibtisch zu einem Äskulap stab an (wobei er, um das Ganze vollenden zu kön nen, auch noch mehrere Zehen sowie einen Penis benötigte). Als er schließlich ging, nahm er Dimble dons Ring und Kopf mit, außerdem ein paar Papiere von seinem Schreibtisch. GESCHÄTZTER WERT Der Saphir ist von ungewöhn licher Klarheit und sehr schön geschliffen. Er würde ohne weiteres 5000 Dollar pro Karat einbringen. In Anbetracht der Tatsache, dass auch der Goldring selbst eine ausgesprochen schöne Arbeit ist und Alter und Abstammung des Stücks seinen Wert noch zu sätzlich steigern, würde sein Preis sicher die 100.000 Dollar-Marke erreichen.
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Hierauf entstehen viele wunderbare
Anwendungen, zu denen die Mittel
hier gegeben sind.
Auf der Fahrt von Wickenden nach Clougham be gegnete Joe und mir keine Menschenseele. Wir sa hen kein einziges Auto, und auch der Parkplatz des Lone Wolf war leer. Durch Clougham zu fahren war, als würde man durch ein Gemälde von Clougham fahren. Wir parkten direkt vor der Kneipentür. Die gespenstische Atmosphäre der menschenleeren Stadt hatte mein ohnehin schon mulmiges Gefühl noch zusätzlich verstärkt, und selbst Joe, der es mit seinem unnachahmlichen Charme wahrscheinlich sogar ge schafft hätte, Pühapäevs ausgenommenen Leichnam in ein Gespräch zu verwickeln, hatte während der ganzen Fahrt kaum ein Wort gesagt. Ich hatte natür lich auch wieder an Hannah denken müssen und dabei eine Mischung aus Wut, Traurigkeit, Sorge und Verwirrung empfunden, gewürzt mit ein biss chen Begehren und leichtem Bedauern. Anders aus gedrückt: mein übliches Gefühlschaos. Und das alles wegen eines Artikels, der auch ein einfacher Nachruf auf der letzten Seite eines kleinen Lokalblatts hätte sein können, den ein paar hundert Leute rasch überflogen hätten, ehe er im Papierkorb gelandet wäre, ein paar Zeilen, die ich gleich am Tag
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seines Todes hätte schreiben können (»Angesehener Emigrant gestorben«, ein paar Fakten über seine Karriere, vielleicht eine lobende Äußerung eines sei ner Uni-Kollegen, und dann jener traurige, schlichte Schlusssatz: ›Er hinterlässt keine Angehörigen‹). Aber die Sache hatte sich anders entwickelt, in eine Richtung, die mir einerseits Angst machte, mich gleichzeitig aber auch in Aufregung versetzte, weil ich das Gefühl hatte, endlich die verschlierte Glas scheibe durchbrochen zu haben, endlich an die Mee resoberfläche aufgetaucht zu sein. Endlich kam ich mir in meinem Leben nicht mehr nur wie ein Beob achter vor. Ob es daran lag, dass ich zusammen mit Joe einer Lösung des Rätsels entgegenfuhr, oder ob es mit Hannah zu tun hatte, für die ich nach so kur zer Zeit schon so tiefe Gefühle hegte – auch wenn ich mir über die Art dieser Gefühle noch nicht so ganz im Klaren war – oder an einer Kombination aus beidem, konnte ich nicht sagen. Ungeduldig zerrte ich an meinem Gurt und trommelte mit den Fingern an der Türverkleidung herum. Ich wollte wissen, wie das Ganze ausgehen würde. Das einzige Licht im Lone Wolf kam von dem Fern seher über der Bar, auf dem gerade ein CollegeBasketballspiel lief. Hinter einer Festung aus leeren Rolling-Rock-Flaschen saß ein Typ und starrte auf den Bildschirm. Obwohl er so unscheinbar wirkte, dass er einem normalerweise nicht im Gedächtnis haften geblieben wäre, erkannte ich ihn sofort an seiner CHARLIE-REED’S-FEED-&-SEED-Kappe wieder.
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»Kann ich behilflich sein?«, brummte er und wandte sich zu uns um. Nach dem vielen Bier hielt er den Kopf, als wäre dieser zu schwer und nur unzu reichend befestigt. »Ja, das können Sie«, antwortete Joe, der die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte und sich umblickte. »Wir sind Freunde von Eddie. Ist er da?« »Hab ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen.«
»Sind Sie eingebrochen? Oder hat er Ihnen den Gast-des-Monats-Schlüssel überlassen?« Joe schnippte das Licht an, um sicherzustellen, dass es funktionierte (was der Fall war), und schaltete es dann wieder aus. »Die Tür war offen, und ich wollte nicht nach Hause, deswegen habe ich mir einfach ein paar aus der Kühlung geholt. Hey, ich lass ihm das Geld da, wenn es das ist, was Ihnen Sorgen macht.« »Nein, aber tun Sie es trotzdem.« Der Typ atmete laut hörbar aus und wandte sich dann kopfschüttelnd wieder dem Spiel zu. »Tun Sie es jetzt!«, sagte Joe, der sich in seiner ganzen Größe vor dem Typen auf baute. Feed & Seed legte einen Zehndollarschein auf den Tisch. »Das ist ein bisschen mager, aber diesmal lassen wir es noch durchgehen.« Joe hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Nase und klappte ihn dann ganz schnell wieder zu, damit der Typ nicht merkte, wie weit er sich außerhalb seines Zuständig keitsbereichs herumtrieb. »Wie heißen Sie, Sir?« »Mike Venables.« »Tun Sie uns einen Gefallen, Mike: Schalten Sie den Fernseher aus und setzen Sie sich da drüben auf
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die Couch!« Jeder Siebzehnjährige kann bezeugen, wie schnell ein Polizist es schafft, selbst den dichtes ten Alkoholnebel zu durchdringen, wenn er den ent sprechenden Befehlston anschlägt. Mike hatte sich wahrscheinlich schon Jahre nicht mehr so schnell bewegt. Nachdem er sich auf die Couch gesetzt hat te, nahm er sogar seine Kappe ab und legte die Hän de in den Schoß. Joe ging in den hinteren Teil der Bar und öffnete die Tür. »Mike, ich sehe hier eine Treppe. Waren Sie schon mal da oben?« »Nein, Sir, noch nie.« »Wissen Sie, was da oben ist?« »Ich glaube, da wohnt Eddie.« »Gut. Haben Sie oben irgendwas gehört, seit Sie hier sind? Irgendwelche Geräusche wie Schritte oder Wasserrauschen oder so was?« »Nein, Sir, Officer, habe ich nicht. Nur das Spiel im Fernsehen.« »Gut, Mike. Ich möchte, dass Sie dort auf der Couch sitzen bleiben. Wenn Sie irgendetwas sehen oder hören, dann rufen Sie uns. Aber Sie bleiben, wo Sie sind, und rühren sich erst wieder von der Stelle, wenn wir es Ihnen sagen, verstanden?« »Ja, Sir, kein Problem. Ich mach sonst gar nichts.« Mike setzte seine Kappe auf, nahm sie aber sofort wieder ab. »Sir?« Er sprach mit der leicht bebenden Stimme eines Menschen, der zu einer Beichte an setzt. »Sir, ich hab ein kleines Vorstrafenregister, aber ich wollte heute wirklich nichts anstellen, das müssen Sie mir glauben. Als ich kam, war die Tür offen, außerdem kennt Eddie mich, er weiß, dass ich
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bezahle, was ich trinke, und er weiß, wo ich wohne, also wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, die alten Geschichten ruhen zu lassen und einfach zu verges sen, was passiert ist, dann …« »Lieber Himmel, Mike, halten Sie einfach den Mund, ja? Kein Mensch hat vor, Sie zu verhaften.« Mike nickte, atmete erleichtert aus und ließ sich zu rück auf die Couch sinken. »Los, Partner, lass uns nach Eddie sehen«, wandte Joe sich an mich. Ich versuchte, wie ein Cop zu gehen, als ich die Kneipe durchquerte, aber wahrscheinlich sah es bloß aus, als hätte ich einen Sonnenbrand an den Beinen. »Glaubst du, der Typ weiß, dass du hier gar nicht zuständig bist?«, flüsterte ich Joe zu. »Sei ruhig und bleib ganz cool. Natürlich weiß er es nicht. Er hat meinen Ausweis gesehen, und jetzt tut er, was ich sage. Komm rüber und bleib hinter mir. Wenn etwas passiert, sollte es zuerst mir passie ren.« Die Hintertreppe war morsch und verstaubt, jede Stufe ächzte und stöhnte unter uns. Am Ende der Treppe befand sich eine Holztür mit abblätternder grauer Farbe und einem Schloss, das Joe innerhalb von Sekunden geknackt hatte. Joe betätigte den Lichtschalter, und dank des traurigen Scheins einer nackten Glühbirne konnten wir feststellen, dass wir uns in einem riesigen und sehr hohen Raum mit einem Holzboden und einem Kamin gegenüber dem Eingang befanden. Der Raum hatte in etwa die Größe der Bar darunter, was vermuten ließ, dass es sich dabei mehr oder weniger um die gesamte Wohnung handelte. Er hätte vor
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nehm, ja sogar elegant wirken können, aber der Bo den war zum Teil in sehr schlechtem Zustand, die Decke war fleckig, die Wandfarbe schlug Blasen und blätterte stellenweise in großen Flocken ab. Es gab keinerlei Möbel. In der hintersten Ecke des Raumes ragten mehrere Rohre traurig und wirkungslos aus der Wand, offenbar war dort etwas (ein Herd? ein Ofen?) herausgerissen worden. Nach Gas roch es al lerdings nicht. Mir fiel auf, dass es in der Wohnung wesentlich kälter war als unten in der Kneipe. Neben dem fehlenden Ofen war eine Tür. Joe ging hinüber und machte sie auf. Sie führte in ein kleines weißes Bad. »Wenigstens etwas hier ist sauber«, flüsterte er, als ich hinter ihn trat. »Warum flüstern wir eigentlich?«, flüsterte ich zu rück. Er erwiderte meinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen und demselben kleinen, nachsichtigen Lächeln, mit dem sein Onkel Studenten bedachte, die unpassende Witze rissen oder auf seine Fragen schwache, wenn auch von gutem Willen zeugende Antworten gaben. Das Bad war genauso leer wie der Rest der Wohnung, völlig ohne jede persönliche No te, als wäre es nicht nur sauber, sondern auch leer geschrubbt worden. Genau in dem Moment, als ich mich umdrehte, um durch die Tür wieder auf den großen Wohnraum hinauszublicken, fuhr unten auf der Straße ein Auto vorbei, aus dem ein lauter Rock song schallte. Irgendetwas an der Art, wie die Gitarre aufheulte und dann wieder in tiefere Bereiche glitt, erinnerte mich an eine Passage aus dem Cello-Stück,
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das Hannah mir vorgespielt hatte, als wir uns gerade erst kennen gelernt hatten. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich mir diese Passage gemerkt hatte, aber plötzlich sah ich Hannah so deutlich und unmit telbar vor mir, dass es körperlich wehtat. Die Ge schwindigkeit, mit der ein paar zufällig an mein Ohr dringende Töne Hannah heraufbeschworen, verblüff te mich, und ich hatte das Gefühl, kurz vor einer wichtigen Erkenntnis zu stehen, als Joe mich am Är mel zupfte und mich aus meinen Gedanken riss. »Hier ist nichts. Vielleicht würden die Jungs von der Spurensicherung etwas finden, aber so wies aus sieht, ist das Ganze sauber. Schau dir die Wanne an«, sagte er mit einem leichten Nicken in ihre Richtung. Ich beugte mich hinunter und betrachtete sie so lan ge, wie ich glaubte, dass es von mir erwartet wurde. »Ich kann nichts feststellen«, erklärte ich etwas ratlos, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. »Ganz genau. Hast du schon jemals eine Wanne ohne Haare oder kleine Wasserpfützen oder Kalk ränder an den Hähnen gesehen? Nur in einem neuen Haus. Oder in einem, das so gründlich geputzt wor den ist, dass es aussieht wie neu.« Unten fanden wir Mike Venables im Tiefschlaf vor. Er hatte den Kopf zurückgelegt und den Mund weit offen. »Da möchte wohl jemand Fliegen fangen«, meinte Joe, der ihm im Hinausgehen an die Lippe tippte. »Sollen wir die Polizei anrufen?«, fragte ich drau ßen. »Bin ich vielleicht keine Polizei?«
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»Doch, ich meine nur …« »Ich weiß, was du meinst. Was sollen wir ihnen sagen? Dass Eddies Badewanne zu sauber ist?« »Ich hatte eher an eine Vermisstenanzeige ge dacht.« Joe schürzte die Lippen, atmete laut aus und gab dann ein Geräusch von sich, das ein wenig wie das Schnauben eines Pferdes klang. »Ja, vielleicht. Wahrscheinlich. Wir sollten es aber anonym machen, weil es mich sonst nämlich meinen Job kosten könn te. Wobei trotzdem die Gefahr besteht, dass sich der Anruf irgendwie zurückverfolgen lässt.« »Auch wenn wir ein öffentliches Telefon benut zen?« »Gute Idee. Trotzdem hat es keine Eile, oder?«
»Wie meinst du das?« »Wir schauen doch noch bei Pühapäev vorbei, oder?« »Ja, aber …« »Dann nichts wie los. Wo liegt das Problem?« Joe stieg ein. »Allen fährt immer noch hin und wieder an dem Haus vorbei, und …« »Aber doch nicht mehr um … wie spät haben wir jetzt? Viertel nach elf? Ein Kleinstadtbulle? Nie im Leben!« »Angeblich leidet er unter Schlafstörungen.« »Zum Teufel mit ihm. Wir parken irgendwo hin ter dem Haus. Wenn er wirklich auftaucht, springen wir ins Auto und fahren ihm davon.« »Bist du schon mal ins Auto gesprungen und je mandem davongefahren?«
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»Nicht bloß einmal«, sagte Joe, während er den Gang einlegte. »Ich habe meine Jugend nicht damit verschwendet, auf einen Studienplatz in Wickenden hinzuarbeiten.« Genau wie Clougham schlief auch Lincoln so fried lich wie ein Dorf in einem Kinderbuch. Wir fuhren in relativ langsamem Tempo durch Station und weiter in Richtung Common, und als ich mein Fenster öff nete, war das Einzige, was ich hörte, das Geräusch unserer Reifen und das Einzige, was ich roch, der Rauch eines spätabendlichen Feuers. »So, wie das riecht, gibt es hier doch irgendje manden, der nicht mit den Hühnern schlafen geht«, meinte Joe. »Solche Orte machen mich wahnsinnig. Wo sind die Banjos, und wo ist der Bruder, der’s ge rade mit seiner Schwester treibt?« »So was gibt es hier im Norden nicht. Das hier ist eine schöne, saubere Stadt.« »Wenn es so eine schöne, saubere Stadt wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier. Was mir übrigens sehr recht wäre.« »Das glaubst du doch wohl selber nicht.« Grinsend zündete Joe sich eine Zigarette an und warf das Streichholz aus dem Fenster. »Wo ist das Haus, Klugscheißer?« Ich lotste ihn in eine Straße, die nördlich von Pü hapäevs (und Hannahs) Haus lag. Er fuhr an den dunklen schlummernden Häusern vorbei, bis wir ein kleines Waldstück erreichten, das die beiden Straßen voneinander trennte und von wo aus man die Rück seite von Pühapäevs Haus sehen konnte. Dort stellte
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er den Wagen ab, und wir schlichen in leicht gebück ter Haltung und so leise wie möglich – in Joes Fall hieß das, dass er nicht ganz so dahintrampelte wie sonst – durch den Waldstreifen auf die klapprige Hintertür zu. »Man möchte meinen, ein Juwelendieb könnte sich einen Maler leisten«, meinte Joe, während er ein Stück der abblätternden braunen Farbe vom Rah men des Glaseinsatzes zupfte. Er klopfte einmal oben, einmal unten und je einmal links und rechts an den Türrahmen, dann packte er den Türknauf und bewegte ihn ruckartig vor und zurück. Die Anstren gung ließ die Farbe aus seinen fest zusammenge pressten Lippen weichen. »Stabiler, als ich dachte«, sagte er, während er eine winzige Taschenlampe von seinem Schlüsselring zog und damit durch den Glas einsatz der Tür leuchtete. »Dachte ich mir’s doch. Sieh dir das an!« Ich trat neben ihn und spähte durch das Fenster nach unten. Genau wie in Pühapäevs Büro verliefen auch hier Metallzylinder quer über die Innenseite der Tür. Joe pochte gegen das Glas. Es klang, als würde er auf Beton klopfen. »Mist! Aber wir haben ja Zeit. Hier.« Er warf mir die kleine Lampe zu, die ich prompt fallen ließ. »Und lass sie nach Möglichkeit nicht fallen. Leuchte auf den Türknauf.« »Was machst du?« »Wonach sieht’s denn aus? Ich knacke das Schloss.« Mit der einen Hand fuhrwerkte er mit ei nem Dietrich im Schloss herum, mit der anderen zog er einen dünnen, schmalen Metallstreifen aus seiner Jackentasche und begann damit die Innenscharniere
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zu bearbeiten. »Warum, ist es dir peinlich? Oder hast
du Angst?« »Nein, es ist nur …« »Entspann dich. Ich bin von der Polizei. Wenn jemand fragt, sag einfach, ich hätte dich entführt. Riechst du das?« Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ein scharfer Rauchgeruch in der Luft hing. »Da hat sich bloß je mand eingeheizt.« »Glaubst du? Nach einem gemütlichen Kamin feuer scheint mir das aber nicht zu riechen. Eher nach etwas, was eigentlich nicht brennen sollte.« »Was schlägst du vor?« »Ich schlage vor, dass du endlich mal deine ver dammte Hand ruhig hältst und nicht dauernd an derswohin leuchtest. Hier, ich hab’s gleich. Es ist nicht ganz so hart zu knacken wie das im Büro.« Als er sich schließlich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnte, gab sie nach. Plötzlich ging das Licht an. Wir standen in einer schmuddeligen Küche. »Ein Bewegungsmelder«, stellte Joe fest. Er rich tete sich auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Ich frage mich, wieso kein Alarm losgeht. Selt sam.« Auf dem Ofen standen zwei Bratpfannen, jede mit einer dicken Schicht fest gewordenem weißen Fett (»Speck«, erklärte Joe, nachdem er daran gero chen hatte). Drei weitere stapelten sich im Spülbe cken. Was auch immer sich darin noch befand, be gann bereits zu verrotten. Eine Küchenschabe lugte über den Rand der Spüle, bewegte sich zögernd ein Stück nach vorn, überlegte es sich dann aber anders und sprang zurück ins Spülbecken. »Das Beste wä
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re«, sagte Joe, »jemand würde hier ein bisschen Ben zin verschütten und die Bude abfackeln. Wie das stinkt! Und alles ist fettig. Hättest du Lust, hier zu kochen? Ich hasse unordentliche Küchen!« Eine unordentliche Küche zeigt nicht nur, dass man einsam ist, sondern auch, dass man damit rech net, einsam zu bleiben. Oder dass man auf Nachsicht hofft und davon ausgeht, dass jeder, der sieht, was für eine schmutzige Küche man hat, das entweder charmant oder unwichtig findet. Ich selbst hatte auch eine unordentliche Küche, und ich glaube, ich rech nete auch mit Einsamkeit, fühlte mich dabei aber nicht mehr besonders wohl. »Hast du vor, dich mit den Kakerlaken anzu freunden oder so was? Komm hier rüber!«, rief Joe aus dem nächsten Raum. Das Schlafzimmer sah aus, als wäre es in ein Ge witter geraten, bei dem es die Klamotten eines alten Mannes gehagelt hatte: Auf dem Bett und dem Bo den lag eine dicke Schicht aus Variationen zum Thema »trist« und »unförmig«. Die Schubladen der Kommode waren herausgezogen und ausgeleert wor den. Die Matratze lehnte an der Wand, und jemand hatte sich mit einer Rasierklinge den Bettrahmen vorgenommen: Streifen des Bezugs hingen in alle Richtungen, wie das Haar eines Ertrunkenen. Joe schob mit der Schuhspitze ein paar Klamotten hin und her. Ich griff nach einem braunen Pullover mit Ascheflecken, aber Joe sagte, ich solle ihn sofort wie der hinlegen. »Das solltest du nicht tun. Lieber Himmel, ich hätte daran denken müssen …«, sagte er mit einem entnervten Seufzer.
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»Was? Was ist los? Was hab ich denn falsch ge macht?« Joe hob die Hände und spreizte die Finger, als hätte er gerade bis zehn gezählt: Er trug dünne Gummihandschuhe. »Du hast an einem Tatort etwas angefasst. Ich hätte dir vorher solche Dinger geben sollen.« Ich ließ den Pullover fallen, als stünde er unter Strom. »Was machen wir denn jetzt?« Witze über Leute, die sich in der Dusche nach der Seife bücken, schossen mir durch den Kopf. Joe grinste etwas verkrampft und zog die Augen brauen hoch. »Hoffen, dass alles gut geht, schätze ich mal. Hör zu, lass dir deswegen jetzt keine grauen Haare wachsen, ja? Es ist nun mal passiert und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir schauen uns ein fach noch ein bisschen um, und dann verschwinden wir.« Er griff in seine Jackentasche und warf mir ein ähnliches Paar Handschuhe zu. Schnell streifte ich sie über. Ich bewegte mich noch immer nicht von der Stel le. Ich wollte nicht ins Gefängnis. »Hey!«, bellte Joe. »Hörst du mich? Es ist spät, ich möchte nach Hause, ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Nun steh nicht einfach so rum. Wenn du mir nicht helfen willst, gut. Dann setz dich da drü ben auf die Klavierbank, wo du aus dem Weg bist.« Ich ging hinüber zum Klavier und ließ mich auf der kleinen Bank nieder, während Joe das Wohn zimmer zu inspizieren begann, das noch genauso aus sah wie bei meinem ersten Besuch. Er hob ein paar Teller hoch und betrachtete ihre Unterseite. Er ließ
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den Finger an Bücherregalen entlanggleiten und schlug hin und wieder ein Buch auf, wobei er jedes Mal eine Staubwolke in die ohnehin schon muffige Luft entließ. Er blätterte ein paar Papiere durch, die auf dem niedrigen Couchtisch lagen, und erklärte: »Geschichtliches Zeug, das Abe viel besser verste hen würde als ich.« Schließlich ließ er sich schwer auf die Couch fal len. Er blies die Wangen auf und stieß dann die Luft aus. Dabei sackten seine Gesichtzüge ein wenig nach unten, und man sah plötzlich, wie müde er war. Er saß völlig still. Es war das erste Mal, dass ich ihn so erlebte. Ich kannte ihn eigentlich nur herumzap pelnd, sich räuspernd, rauchend oder essend. Ich fragte mich, was er in seiner Freizeit wohl gern machte, was für eine Art Musik er mochte, welche Frauen ihm gefielen. Ob er lieber auf dem Gehsteig oder im Gras ging, seinen Urlaub lieber in einer Stadt, in den Bergen oder am Strand verbrachte. Ab gesehen von Art und dem Professor war er im Grun de der erste Erwachsene (Beziehungen nicht mitge rechnet), mit dem ich ein bisschen Zeit verbracht hatte, und bis jetzt wusste ich noch nicht viel mehr über ihn als das, was ohnehin offensichtlich war. Egal, ob das nun positiv oder negativ zu werten war (ich entschied mich für negativ), aber letztendlich konnte ich diese Aussage auf alle Menschen ausdeh nen, die ich kannte – abgesehen von einer einzigen Person, und hier auch nur mit der Einschränkung, dass es niemals irgendeinem Menschen außer mir selbst etwas bedeuten würde, wie sehr sie mein Herz erwärmt, mein Innerstes aufgetaut und berührt hatte.
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Joe ließ den Kopf in die Hände sinken, rieb sich die Augen und hustete dann zweimal wie ein See hund. Das Geräusch erschreckte mich so, dass ich zusammenzuckte und dabei einen Bleistift von der Tastenabdeckung des Klaviers auf den Boden fegte. Als ich mich hinunterbeugte, um ihn aufzuheben, bemerkte ich direkt hinter den Pedalen, unter dem breiteren Teil des Klavierkorpus, vier Erdklumpen. Die beiden, die den Pedalen am nächsten lagen, hat ten ein Waffelmuster und waren eindeutig aus den Sohlen von einem Paar Stiefel herausgefallen. Weiter in Richtung Wand waren zwei weitere Spuren, die keine so klar umrissene Form hatten, dafür aber tie fer in den gebrochen weißen, mit Ascheflecken über säten Teppich hineingedrückt waren. »Joe?« »Ja.« Noch immer saß er da, ohne sich zu rühren, den Kopf auf die Hände gestützt. »Hat das hier etwas zu bedeuten? Hier unter der Bank?« Er öffnete skeptisch ein Auge, holte tief Luft und erhob sich. »Was denn? Was hast du gefunden?« Er beugte sich über meine Schulter, und ich konnte spüren, wie mit einem Schlag die Müdigkeit von ihm abfiel. »Sieh dir das an. Weißt du, warum die Abdrü cke so aussehen?« »Wie meinst du das?« »Hinten mit dem Gittermuster und vorn tiefer eingedrückt?« »Keine Ahnung.« »Da hat sich jemand unter das Klavier gekauert. Mit dem Gewicht auf den Zehen«, erklärte er und
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deutete mit einem Stift auf die beiden undeutliche ren Spuren, »deswegen ist es hier stärker einge drückt. Wenn man sich mit Stiefeln auf den Boden kauert, fällt da, wo die Sohle knickt, der Dreck raus. Daher kommt das Waffelmuster hier.« »Nicht schlecht«, sagte ich und sah ihn an. Er tat das Kompliment mit einer Handbewegung ab. »Aber sieh dir mal das hier an«, fuhr er fort, im mer noch dicht über den Boden gebeugt. »Gib mir mal die Taschenlampe. Hier, siehst du das?« Er leuchtete über den Boden zwischen Klavier und Tür: Dort waren lauter frische Erdspuren, aber im Gegensatz zu denen unter dem Klavier waren sie nicht so deutlich zu sehen. Man entdeckte sie nur, wenn man bewusst danach Ausschau hielt. »Ich hät te eine Kamera mitbringen sollen. Mist!« Er stand auf und verzog das Gesicht. »Da schleppe ich eine ganze Tasche voll Zeug mit mir rum und vergesse ausgerechnet das, was wir wirklich gebraucht hätten. Nun ja.« Er streckte einen Arm aus und gähnte, während er mich mit dem anderen sanft, aber be stimmt aus dem Weg schob. »Lass mich kurz unter das Klavier krabbeln, wenn wir schon mal da sind.« Er zwängte sich in den engen Zwischenraum zwi schen dem Boden, den Pedalen, der Klavierbank und dem Klavierkorpus, und sah dabei aus, als müss te er seinem Körper eine völlig andere Form geben, um überhaupt hineinzupassen. »Hey, hör auf, auf meinen Hintern zu starren und komm hier rüber. Was hältst du denn hiervon?« Ich kroch von der anderen Seite des Klaviers auf ihn zu, wobei ich versuchte, auf den Fäusten zu ba
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lancieren, weil ich trotz der Handschuhe Angst hatte, weitere Fingerabdrücke zu hinterlassen. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf einen Fleck Teppich, der sich nicht von dem Rest zu unterscheiden schien, und blickte fragend zu mir hoch. Ich zuckte die Ach seln und schüttelte den Kopf. Er sah mich seufzend an, als befürchtete er, dass ich vor lauter Dummheit demnächst verdampfen würde, und fuhr dann mit dem Finger über den Teppich. »Hier. Was ist das?« Parallel zur Tastatur des Klaviers zog sich von Joes Finger bis zu der Stel le, wo ich gerade meine Hand hatte, eine kaum er kennbare Linie. Joe grub einen Finger in die Linie und klappte ein Stück Teppich hoch, unter dem der darunter liegende Holzboden zum Vorschein kam. »Wofür hältst du das?«, fragte er. Ich spürte, dass es auf diese Frage eine richtige Antwort gab. Noch deutlicher aber spürte ich, dass ich sie nicht wusste. »Ich weiß nicht. Vielleicht hat er hier mit dem Verlegen des Teppichs angefangen?« »Ach, glaubst du? Ausgerechnet hier. Was für ei nen Sinn könnte dieses lose Stück Teppich hier ha ben?« Wieder konnte ich nur die Achseln zucken. »Lass uns mal was ausprobieren.« Joe klopfte auf den Teppich hinter sich, dann auf den Holzboden vor sich. Der Holzboden klang irgendwie hohl. »Siehst du? Hier, halt das mal und leuchte auf dieses Stück Boden. Gut. Siehst du, wie die Maserung ver läuft? Alles nach rechts, in lauter kurzen Linien. Und nun sieh dir diese lange Rille hier an, die genau in die andere Richtung verläuft. Ich wette …« Er press te die Finger in die Rille und zog ein quadratisches
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Stück Holz hoch. »Glaubst du immer noch, dass das alles mit dem Verlegen des Teppichs zu tun hat?« Die Stelle, über der Joe das quadratische, etwa dreißig auf dreißig Zentimeter messende Boden stück hochhielt, sah aus wie ein entsprechend großes Stück gähnende Leere. Ich glaube, es lag an einer Kombination aus meiner Müdigkeit, meiner unbe quemen Kauerhaltung und der Tatsache, dass ich einfach einen höchst eigenartigen Tag hinter mir hatte, jedenfalls wurde mir, während ich in die Leere unter Pühapäevs Boden blickte, plötzlich schwarz vor Augen. Bei meinem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, beugte ich mich ein Stück zu weit vor und wurde dann – zum ersten und bisher einzigen Mal in meinem Leben – für einen Moment ohnmächtig. Ich kam genau in dem Moment wieder zu Bewusstsein, als ich mit der Stirn auf etwas sehr Kaltes und Hartes knallte, was stark gegen meine Theorie sprach, dass Joe unter dem Boden so eine Art Leere freigelegt hatte. Joe packte mich am Kragen und zog meinen Kopf hoch, bis er direkt vor seinem war, und wäh rend der paar Sekunden, die es dauerte, bis ich wie der klar sehen konnte und ihm versicherte, dass mir nichts fehle, wirkte er zu Tode erschrocken. Ich spürte, dass mir etwas seitlich am Gesicht hinunter lief, und nachdem ich es weggewischt hatte, sah ich, dass mein Handrücken ganz rot war. »Tja, nichts blutet so schön wie eine Kopfverletzung, stimmt’s?«, bemerkte Joe. Seine Stimme klang lauter und mun terer als sonst. »Weißt du, was? Du setzt dich jetzt einfach da drüben auf die Couch, und in zwei Minu ten verschwinden wir von hier. Lass mich nur noch
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schnell nachsehen, was hier drunter ist, dann machen wir die Fliege. Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?« Ich nickte. »Gut. Zwei Minuten.« »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber hier bei dir bleiben und dir zusehen.« »Klar, wie du willst. Solange du mir nicht das Licht nimmst. Komm doch hier rüber auf die andere Seite, dann hast du ein bisschen mehr Platz und kannst dich ausstrecken.« Ich wechselte auf die an dere Seite hinüber, von wo ich einen besseren Blick auf das hatte, was sich unter dem Boden befand: ein etwa dreißig auf dreißig Zentimeter großes Quadrat aus dickem Metall mit einem Schloss in der Mitte. »So, jetzt pass mal auf«, sagte Joe mit einem ver schmitzten Augenzwinkern, während er erneut den dünnen, zusammenklappbaren Metallstreifen aus seiner Jackentasche zog. Zehn Minuten später hatte er sich seiner Jacke entledigt, die Krawatte gelockert und das Hemd aus der Hose gezogen. Während er sich keuchend ab mühte, verwandelten sich die dunklen Halbmonde unter seinen Achseln in Vollmonde und schließlich Wolken, die auf halber Höhe seines Rückens inein ander verschmolzen. »So ein Hurensohn!«, fluchte er und knallte sein Werkzeug auf den Boden neben dem Schloss. »Nichts zu machen.« Er stand auf und streckte sich. »Entweder ist das Ding wirklich nicht zu knacken, oder ich hab kein Händchen mehr dafür. Im Zweifelsfall bin ich für nicht zu knacken. Sieht nach einem Doppelbartschloss aus. Wahrscheinlich braucht man dafür einen Spezialschlüssel, vielleicht ist es auch kombiniert mit einem Zahlenschloss oder
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so was. Da kommt man nicht ran, es sei denn, man sprengt die Tür weg.« »Also ein sicherer Platz, um Juwelen aufzubewah ren?« »Ein sicherer Platz für so ziemlich alles. Vor allem Juwelen. Komm, lass uns nach Hause fahren. Wie spät ist es überhaupt?« Ich rieb mir die Augen und warf einen Blick auf die Uhr. »Zehn vor vier.« Plötzlich fühlte ich mich sehr erschöpft. »Lass mich bloß noch mein Zeug einsammeln.« Joe kroch ein weiteres Mal unter das Klavier, wo noch sein Werkzeug lag. »Na so was! Komm her, das musst du dir ansehen! Aber pass auf deinen Kopf auf.« Er leuchtete mit seiner Lampe auf die Seiten der Vertiefung, zwischen Bodenhöhe und Safehöhe. An den schwarzen Wänden tanzten – wie Glimmererde in Sand – kleine grüne Körnchen und Flocken. Sie wirkten leichter und staubartiger als Glassplitter und glänzten auch nicht so stark. Joe kratzte ein paar da von auf ein Blatt Papier, das er anschließend zusam menfaltete und in seine Tasche schob. »Weißt du … nein, egal. Bloß eins noch«, sagte er, während er sich erhob und zur Haustür ging. »Das Schloss ist intakt. Man würde einen Dietrich brauchen, um es zu öff nen, aber der Türrahmen neben dem Schloss sieht ganz glatt aus, kein bisschen verkratzt oder sonst was. Da hat sich niemand gewaltsam Zutritt verschafft. Durch die Fenster auch nicht, es ist nirgendwo eine Scheibe eingedrückt, und die Schlösser sehen auch nicht beschädigt oder aufgebrochen aus. Natürlich
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müsste sich das jemand von der Spurensicherung erst noch mal genauer ansehen, aber ich wette, man wird keine Hinweise auf einen Einbruch finden.« »Du meinst, abgesehen von dem unseren?«, fragte ich von der Couch. Inzwischen hatte ich meinerseits den Kopf auf die Hände sinken lassen und merkte, wie meine Stimmung langsam umkippte. »Ja, abgesehen von unserem. Los, lass uns von hier verschwinden, damit du endlich nach Hause kommst. In zwei Stunden wird es sowieso schon wieder hell.« Wir verließen das Haus auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren. Nachdem wir die Tür hinter uns zugezogen hatten, schaffte Joe es sogar, das Schloss wieder einrasten zu lassen, aber der Tür rahmen hatte definitiv Schaden genommen. Außer dem waren überall in der Wohnung meine Finge rabdrücke, und Joe war so viel herumgetrampelt und -gekrochen, dass trotz der Handschuhe bestimmt ebenfalls Spuren seiner Anwesenheit zu entdecken sein würden – zumindest für jemanden, der sich die Mühe machte, genau hinzusehen. Und alles, was wir gefunden hatten, war grüner Staub. Joe erklärte, er werde Sal morgen Nachmittag von unserer nächtli chen Aktion berichten und dafür sorgen, dass das FBI nach Lincoln herausfuhr und das Haus auf Spu ren überprüfte, anhand derer sich vielleicht ein Zu sammenhang mit irgendwelchen Juwelendiebstählen in der Gegend herstellen ließ. Trotzdem schien es eine recht dürftige Ausbeute zu sein. Aber vielleicht war ich auch nur müde und neigte deshalb zum Pes simismus. Joe setzte mich vor meinem Haus ab. Ich
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glaube, er wünschte mir eine gute Nacht, aber das bekam ich kaum noch mit. Ich war während der paar Minuten im Auto schon in eine Art Halbschlaf versunken. Nachdem ich die Tür zu meiner Woh nung aufgeschlossen hatte, machte ich mir nicht mal mehr die Mühe, das Licht anzuschalten oder mir die Zähne zu putzen. Ich war bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer, als in meinem Wohnzimmer die Lese lampe anging und eine vertraute Stimme sagte: »Sie arbeiten weitaus länger, als ich vermutet hätte.«
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Der rote Mediko
D Manche Männer sehen auf einem Schlachtfeld ihr Blut und verfallen in allerlei weibische Verhaltens weisen: Sie werden entweder ohnmächtig oder heu len oder säubern sich oder schlagen die Hände vors Gesicht. Andere finden plötzlich zu einem Mut, den sie vorher nicht besaßen: Die Samurai von Toyama beispielsweise waren dafür bekannt, dass sie mit ih rem eigenen Blut den Namen ihrer Herren schrie ben, während sie im Sterben lagen. Männer begeg nen ihrem Tod, wie sie ihr Leben gelebt haben. Aber beim Feigen wie beim Tapferen kündet das Blut vom Ende. D YAMAZAKI HIDEO D Berühmte Schlachten
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GEGENSTAND 14 Der rote Mediko. Eine große (im Durchmesser 5,3 Zentimeter messende) und nicht ganz runde Münze. Die eine Seite besteht einfach aus Kupfer, die andere ist mit rotem Email überzo gen, und darauf ist die Gestalt einer Frau gemalt, die mit dem einen Arm zwei Kinder an ihre Seite drückt. Im anderen Arm hält sie eine grüne Flasche, die leicht in Richtung der Kinder geneigt ist. HERSTELLUNGSDATUM Siehe »Der weiße Mediko«. HERSTELLER Siehe »Der weiße Mediko«. HERKUNFTSORT Siehe »Der weiße Mediko«. LETZTER BEKANNTER BESITZER Siehe »Der weiße Mediko«. GESCHÄTZTER WERT Siehe »Der weiße Mediko«.
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Darum werde ich Hermes Trismegistos genannt, weil ich die drei Teile der Weisheit besitze.
»Sie müssen sehr müde sein. Sind Sie müde?« Tonu saß in meinem Lesestuhl und rauchte seine Pfeife. Doppelt beleuchtet vom Licht der Lampe und der Glut der Pfeife, wirkte sein weißer Bart wie ein Ge spinst aus Goldfäden. »Wie sind Sie hier hereingekommen?« Ich stand immer noch mit weichen Knien in der Tür, die mein Wohnzimmer vom Rest der Wohnung trennte. »Oh, pschhh!« Er schloss die Augen und machte eine Handbewegung, als wollte er ein Kompliment abwehren. »Dieses Schloss« – er hob seinen Stock und deutete auf meine Wohnungstür – »ist völlig wertlos. Sie sollten sich mal überlegen, ob Sie es nicht austauschen lassen.« »Ja, das bekomme ich im Moment dauernd zu hö ren.« »Wobei Sie ja nicht viel Wertvolles besitzen.« Er sah mich an, als würde er eine Antwort erwarten, aber ich zog es vor, zu schweigen. »Oder?« Ich zuckte die Achseln. »Was machen Sie in mei ner Wohnung?« »Möchten Sie sich nicht setzen?« Er deutete auf meinen weniger bequemen Wohnzimmersessel.
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»Nein. Ich würde jetzt gern schlafen, und deswe gen möchte ich, dass Sie gehen.« »Ja. Ja, ja, ja«, sagte er in herrischem Ton. »Und ich würde Sie gern schlafen lassen, aber vorher muss ich Ihnen noch eine Rüge erteilen.« Wieder forderte er mich auf, mich zu setzen. Ich hatte allmählich die ses steife und gleichzeitig gummiartige Gefühl in den Beinen, das man bekommt, wenn man völlig erschöpft ist. Ich blieb stehen. »Ich muss Ihnen eine Rüge erteilen, weil Sie nicht auf den guten Rat Ihrer Freundin gehört haben.« Er sprach leise und doch in scharfem Ton, als würde er samtweiche Salzkräcker brechen. »Sie hätten nur auf sie zu hören brauchen. Auf so ein hübsches Mädchen. Das kann doch nicht so schwer sein, oder?« Er unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung und schüttelte dabei gespielt mitleidig den Kopf. »Sie hätten ein langes und glückliches Leben führen können.« »Was wollen Sie damit …?«, stammelte ich, wäh rend ich mir die Augen rieb und gleichzeitig das Ge fühl hatte, als wären in dem Moment, als er mein Leben ins Konditional II gesetzt hatte, alle meine Eingeweide geschmolzen. Er stand auf. Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, wich ich einen wackli gen Schritt zurück. Dabei stieg ich auf meinen Base ball, der es, egal, wo ich ihn hinlegte, immer irgend wie schaffte, am unpassendsten Platz meiner Woh nung aufzutauchen. Ich landete wie eine Zeichen trickfigur mit in die Höhe gereckten Beinen auf dem Hintern und rang keuchend nach Luft. Tonu kam mit einem überheblichen Lachen zu der Tür zwi
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schen Küche und Wohnzimmer herüber, wo ich,
immer noch leicht benommen, auf dem Boden lag. »Nichts gebrochen, hoffe ich?« Ich bewegte meine Handgelenke und meine Fü ße. Nichts gebrochen, abgesehen von meinem Stolz. Ich schüttelte den Kopf und machte Anstalten, auf zustehen, als Tonu mir die Spitze seines Stocks in die Schulter stieß. »Ein bisschen langsamer, wenn ich bitten darf!« Mit diesen Worten drehte er den Knauf des Stocks. Ein bedrohlich aussehender kleiner Abzug kam an der dafür vorgesehenen Stelle zum Vorschein, und ich sah, dass das Ende seines Stocks hohl war: ein Gewehrlauf. »Was zum Teufel soll das?« »Nett, nicht wahr?« Er hob es einen Moment hoch, um es bewundernd anzusehen. »Ich habe es bekommen, als ich in der osmanischen Ehrengarde diente.« »Der was?« »Stehen Sie ganz langsam auf und setzen Sie sich auf den Stuhl mir gegenüber, wie ich es Ihnen vorher schon befohlen habe. Dort werden wir wie zivilisierte Menschen einen letzten kleinen Plausch halten.« »Werden Sie mich töten?« Ich wünschte, ich könnte berichten, dass ich diese Frage auf eine tap fere Weise gestellt habe. »Lassen Sie uns jetzt nicht an die Zukunft den ken. Nun gehen Sie schon hinüber und setzen Sie sich!« Ich nahm den Baseball mit, um etwas zu haben, womit ich herumspielen konnte, und tat, wie mir
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geheißen. Antiautoritäre Tendenzen lösen sich ganz schnell in Luft auf, wenn man sich am falschen Ende eines Gewehrlaufs befindet. Er ging zur Tür hinüber und zielte dabei mit dem Stock auf mich, ohne den Finger am Abzug zu ha ben, als wollte er erst mal testen, ob der Gewehrlauf auch wirklich gerade war. Dann streifte er ein paar schwarze Lederhandschuhe über und schlüpfte in seinen dunklen Mantel. Anscheinend machte er sich zum Gehen bereit, und ich nahm an, dass es für mich an der Zeit war, dasselbe zu tun. »Also«, sagte er und betrachtete mich dabei mit halb amüsierter, halb mitleidiger Miene. »Gibt es etwas, was Sie noch wissen möchten? Eine Nach richt, die ich übermitteln soll? Vielleicht an Ihre Freundin?« Mein Mund fühlte sich an wie das Innenleben ei nes Sofakissens, und gleichmäßig, aber erschreckend laut hörte ich mein Blut in den Ohren rauschen. Mir zitterten die Hände, und ein kaltes, schmales Schweißrinnsal lief mir von der rechten Schläfe am Hals hinunter bis zum Schlüsselbein. Jeder Film, in dem gezeigt wird, wie jemand geistreiche letzte Wor te spricht, ist eine einzige große Lüge. Ich bezweifle, dass ich überhaupt in der Lage gewesen wäre, zu sprechen, selbst wenn ich gewollt hätte. Tonu zuckte die Achseln. »Dann wird es eben ein schweigender Abgang.« Mehr aus Wut als aus Verzweiflung wischte ich mir meine schweißnasse Hand an der Jeans ab, griff nach dem Baseball und warf damit nach Tonu, so fest ich konnte. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich
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mir davon erwartete. Ich nehme an, ich wollte ein fach meinen Protest zum Ausdruck bringen, wenn auch vielleicht mit schwachen Mitteln: indem ich ein Fenster einwarf, eine Delle in die Wand machte, jemandes Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Aber irgendwie schaffte ich den besten Wurf meiner nicht existenten Baseballkarriere und platzierte einen Fastball direkt auf Tonus Nase. Sein Gesicht wurde wie von einem Flaschenzug nach hinten geschleu dert, und er riss die Hände an die Nase, aus der so fort das Blut schoss. Das Gewehr fiel zu Boden. Rückblickend weiß ich, dass ich es mir sofort hätte schnappen sollen, aber stattdessen kickte ich es nur weg und überließ mich meinem Adrenalinrausch. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass der letz te Mensch, den ich davor geschlagen hatte, mein Bruder Victor gewesen war. Damals war ich zwölf und er siebzehn. Normalerweise tue ich keiner Flie ge was zuleide. Mein Gott, ich habe an einer libera len Universität studiert. Ich mag lieber Baseball als Football. Boxen mag ich überhaupt nicht. Und wenn ich mich aufrege, werde ich meistens schweigsam und mürrisch. Jetzt aber hatte ich, ehe ich recht wusste, was ich da eigentlich tat, die linke Hand um Tonus Hals gelegt und drückte zu, so fest ich nur konnte, während ich mit der rechten auf sein Gesicht einschlug. Dabei spürte ich ein seltsames Kribbeln im Kopf, als würde ich unter Strom stehen, und sah alles, was passierte, wie durch einen langen, stillen Tunnel. Es war das befriedigendste Gefühl meines Lebens, und ich bin sicher, dass ich weitergemacht hätte, bis er tot gewesen wäre, hätte nicht meine
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Vermieterin unter mir an ihre Zimmerdecke geklopft und geschrien: »Geben Sie endlich Ruhe! Haben Sie eine Ahnung, wie spät es ist?« »Entschuldigung!«, rief ich zurück, ohne die Faust zu senken, mit der ich bereits zum nächsten Schlag ausgeholt hatte. Dabei hatte mich meine Nachbarin mit ihrer schrecklichen Musik schon oft am Einschlafen gehindert, aber irgendwie schien das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um darauf herumzureiten. Nachdem ich innehielt, stellte ich fest, dass wir synchron atmeten. Ich rang keuchend nach Luft – fasziniert von mir selbst und dieser bislang ungeahn ten Fähigkeit, einem anderen Schmerz zuzufügen –, während er eine Reihe flacher, verschleimt klingender Keuchlaute ausstieß, die irgendwo zwischen einem Zischen und einem Schnauben lagen. Als ich mich ihm wieder zuwandte, zuckte er instinktiv vor mir zurück, was mir ein großartiges Gefühl verschaffte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass meine Faust fürchterlich aussah, vor allem im Bereich der Knöchel, wo ich mich wohl an seinen Zähnen aufge schlagen hatte. Es freut mich, berichten zu können, dass er noch viel schlimmer aussah. Sein zotteliger Bart war von dem vielen Blut tropfnass und ganz dunkel. Seine Nase wirkte unförmig, fast wie bei einem Schwein, und jedes Mal wenn er atmete, blubberte noch mehr Blut und Schleim heraus. Ich drohte ihm mit der Faust, und als er wieder zusam menzuckte, spuckte ich auf ihn hinunter. Dann ließ ich seinen Hals los und hob das Gewehr auf. Durch meine Badezimmertür sah ich eins von
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den kleinen Handtüchern, die ich für mein Gesicht benutzte, und bei seinem Anblick fiel es mir wieder ein: Ich bin der Typ Mensch, der einem blutenden alten Fremden ein Handtuch für sein Gesicht reicht, selbst wenn es sich dabei um sein eigenes Handtuch handelt. Ich bin sogar der Typ Mensch, der dieses Handtuch vorher unters kalte Wasser hält, selbst wenn der blutende Fremde vielleicht schlimme Din ge getan hat, und das Handtuch hinterher nur noch dazu taugt, in den Müll geworfen zu werden. Nach einer Weile – ich weiß nicht, wie viel Zeit ver gangen war, es können dreißig Sekunden gewesen sein, vielleicht aber auch dreißig Minuten – saßen wir einander gegenüber. Mein Adrenalinspiegel hatte sich ebenso normalisiert wie seiner, und Tonu sagte etwas, was ich nicht verstand. Ich bat ihn, es zu wie derholen, und zielte dabei nur so zum Spaß mit dem Gewehr auf ihn. Es machte tatsächlich Spaß. »Durak«, murmelte er noch einmal. Er sprach leise und undeutlich, aber seine Augen wirkten immer noch schmal, gerissen und lebendig. »Durak. Das ist das russische Wort für ›Idiot‹ oder ›Narr‹. Aber man sagt es auch, wenn jemand einfach nur Glück hat, pures Glück. Wenn jemand mit geschlossenen Au gen eine Billardkugel versenkt, zum Beispiel. Oder in der Lotterie gewinnt.« Als er mit dem Handtuch seine Nase berührte, verzog er das Gesicht. »Oder wenn jemand so einen Schuss landet wie Sie vorhin. Durak.« »Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht mache ich das ja die ganze Zeit.« Ich warf einen Blick auf
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das Gewehr, um sicherzustellen, dass ich mit dem richtigen Ende auf ihn zielte. Er lachte leise, auch wenn es eher wie ein Kräch zen klang. »Ja? Und deswegen zittern Ihre Hände auch noch immer? Und deswegen sehen Sie aus, als ob Sie mehr Angst hätten als ich?« Ich hob das Gewehr und zielte damit auf seinen Kopf. »Sie glauben, ich habe Angst?« »Dieses Ding zu benutzen?« Er schwieg einen Moment, als würde er tatsächlich darüber nachden ken. »Nein. Nein, ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass Sie Angst haben, es zu benutzen. Zumindest nicht in diesem Moment. Aber ich weiß, dass Sie kein Kämp fer sind. Und auch kein Killer.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Weil ich einer bin. Ein Killer, meine ich. Ein sehr guter sogar. Ein erfolgreicher.« Er spuckte einen gelb-roten Klumpen in mein Handtuch. »Was Sie getan haben, war ein direktes Ergebnis meines über steigerten Selbstvertrauens.« »Sie sind hergekommen, um mich zu töten?« »Nun, ja. Könnte ich bitte noch ein Handtuch ha ben?« »Nein. Sie sind wirklich hergekommen, um mich zu töten?« »Bitte!«, jammerte er in fast schon unterwürfigem Ton. »Dieses Handtuch ist schon ganz nass. Und einen Schluck Brandy, wenn Sie haben.« »Das mit dem Brandy können Sie vergessen. Und wenn Sie etwas zum Abwischen brauchen, dann nehmen Sie Ihren Mantel. Sie sind gekommen, um mich zu töten?«
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»Ja, und wenn Sie mir ein bisschen Brandy geben, dann verspreche ich, dass ich gehen werde, ohne Sie zu töten. Und dass ich nie zurückkommen werde. Das verspreche ich Ihnen ebenfalls.« »Sie werden sowieso gehen, ohne mich zu töten, egal, ob ich Ihnen einen Brandy gebe oder nicht. Ich habe nämlich das Gewehr.« »Sie haben es, und ich werde gehen. Da haben Sie Recht. Bravo. Ich sehe schon, dass Sie sich langsam an dieses Spiel der Gewalt gewöhnen. Aber falls Sie sich dazu entscheiden sollten, mich nicht zu erschie ßen, würde ich wahrscheinlich wiederkommen, schon allein aus Ärger über Ihre schlechten Manie ren. Wer außer Ihnen würde einem alten Mann ei nen Drink verwehren?« Mittlerweile lächelte er schon fast und hielt in gespielter Kapitulation die Hände hoch. »Mein Er folg hängt von meiner Zuverlässigkeit ab, genau wie Ihrer«, fuhr er fort. »Wenn Sie mit jemandem reden und dabei im Namen Ihrer Zeitung unterwegs sind, klein und unwichtig, wie sie sein mag, und wenn Sie der betreffenden Person versprechen, ihren Namen nicht zu nennen, tun Sie es dann? Nein. Sie müssen schließlich an Ihren Ruf denken. So ist es bei mir auch. Wenn ich sage, dass ich einen Job er folgreich erledigt habe, dann ist es auch so. Wenn ich sage, dass ich nie zurückkommen werde, dann komme ich tatsächlich nicht zurück. Außerdem ha be ich noch einmal über die Notwendigkeit Ihres sofortigen Todes nachgedacht und bin mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es auch reicht, wenn Sie irgendwann von selbst sterben. Für ein
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anständiges Glas Brandy erkläre ich Ihnen auch, warum.« Ich deutete mit dem Gewehr auf das unterste Fach meines Bücherregals, wo ich eine halbe Flasche Beam Black stehen hatte. »Brandy habe ich keinen, nur das da. Aber bedienen Sie sich. Ich hole Ihnen ein frisches Handtuch.« Ungeschickt schraubte er den Deckel ab und trank gleich direkt aus der Flasche. Ich ging seitwärts ins Bad hinüber, wobei ich das Gewehr die ganze Zeit auf ihn gerichtet hielt. Allerdings schien er im Moment tatsächlich mehr an meinem Whiskey als an mir interessiert zu sein. Ich nahm ein frisches Hand tuch aus dem Schrank und drehte den Hahn auf, aber statt es unter das laufende Wasser zu halten, tauchte ich es kurz in die Toilette, ehe ich es Tonu reichte. Er rieb sich damit sein Gesicht ab, das eine einzige offene Wunde war. Ich hoffte, dass er von dem Handtuch irgendeine fürchterliche Infektion bekommen würde. »Wer sind Sie wirklich, und wer hat Sie beauf tragt, mich zu töten?«, fragte ich. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Whis keyflasche. »Zu Ihrer ersten Frage: Mein Name würde Ihnen bestimmt nichts sagen. Ich kann Ihnen aber versprechen, dass er nicht Tonu lautet. Ich spü re Dinge auf. Ich bringe sie dorthin zurück, wo sie hingehören. Und ich befördere diejenigen ins Jen seits, die sie genommen haben. Und was Sie betrifft … nun ja, für gewöhnlich bevorzuge ich ein sauberes Ende, aber wie gesagt, glaube ich, dass wir dieses Ziel auch ohne weitere Anwendung von Gewalt er
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reichen können. Und was meine Auftraggeber be trifft, sollten wir vielleicht am Anfang beginnen.« Er zündete seine Pfeife an und musterte mich dann wie ein Lehrer, der im Begriff ist, einen Schüler zu schel ten, den er, ohne es zu wollen, eigentlich recht amü sant findet. »Sie sind weitaus mutiger und hartnäckiger als ich – und so manch anderer – anfangs dachte. Ich schät ze, Sie haben sogar sich selbst überrascht.« Er drück te das Handtuch an seine schwarzen, blutverkruste ten Lippen. »Vielleicht. Aber ich weiß nicht so recht, ob das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment war.« Lachend stieß er eine kleine Rauchwolke aus. »Eigentlich weder noch. Es war lediglich eine Fest stellung.« »Basierend worauf?« »Unserer Einschätzung. Demnach hatten wir es mit einem privilegierten, gebildeten, vielleicht etwas verweichlichten jungen Amerikaner zu tun, der sich für eine Zeitung abrackerte, die nur von wenigen Menschen gelesen wurde. Wie viele Leser hat Ihr Blatt? Ein paar hundert? Erst dachten wir, dass Sie sehr schnell die Lust an Ihren Nachforschungen ver lieren und zu demselben Schluss kommen würden wie alle anderen: Ein alter Mann war allein gestor ben. Dann hofften wir, ein fauliger Zahn an Ihrer Tür würde Sie abschrecken. Am Ende hofften wir dann …« »Sie waren das also! Wer ist übrigens ›wir‹? Und von wem war der Zahn?« Tonu, der gerade wieder im Begriff gewesen war,
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die Flasche an den Mund zu führen, hielt mitten in der Bewegung inne und blickte nach oben, als würde er sich von dort eine Antwort erhoffen. Dann zuckte er die Achseln. »Der Zahn gehörte einem ziemlich raffgierigen Barmann aus unserem Bekanntenkreis. Und was das ›wir‹ betrifft … Seit ich in Amerika bin, habe ich schon ein paarmal die Formulierung ›Gottes Werk tun‹ gehört. Sagt Ihnen das etwas?« »Natürlich, das habe ich auch schon ein paar Leu te sagen hören.« »Nun ja, das beschreibt uns recht gut. Wir tun Gottes Werk.« »Was heißt das?« »Was glauben Sie denn, dass es heißt?« »Ich glaube, ich bin müde.« Ich hob das Gewehr so weit an, dass es auf einer Höhe mit seinem Kopf war. »Und ich glaube, ich könnte durchaus so tief sinken, Sie zu erschießen.« »Wieso sinken? Dazu müssten Sie eher aufstei gen«, entgegnete Tonu lachend. »Trotzdem, so wie ich es verstehe, bedeutet ›Gottes Werk tun‹, dass man Dinge tut, die Gott gefallen würden, oder?« »Ja, stimmt.« »Wohltätige Werke. Das, was Priester tun. Manchmal wird es auch in einem ironischen Sinn verwendet, aber im Grunde ist das die hauptsächli che Bedeutung, oder?« »Das habe ich doch gerade schon gesagt, ja.« »Gottes Werk zu tun bedeutet, Werke für Gott zu tun, auf der Seite Gottes.« »Ja. Und?« »Das ist es, was wir tun. Gottes Werk. Mit dem
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einzigen Unterschied, dass wir nicht Werke für Gott, sondern das Werk von Gott tun.« Er nahm einen wei teren Schluck von meinem Whiskey. Mehr als drei Schluck waren nicht mehr in der Flasche. Ich lachte. »Ach so. Das erklärt alles. Danke.« Er ließ sich nicht einmal zu einem kleinen Grinsen her ab. »Das ist unmöglich«, fuhr ich fort. »Blasphemie. Außerdem, warum sollte …« »Blasphemie? Ja, stimmt. Unmöglich? Unmög lich, unmöglich … Tja, ich weiß gar nicht mehr, was das heißt«, scherzte er. »Nein, es ist nicht unmög lich.« Er griff nach dem Baseball, mit dem ich auf ihn geworfen hatte und der jetzt neben ihm auf dem Bo den lag. Zwischen den Nähten war ein Blutfleck, wahrscheinlich war das die Stelle, die seine Nase getroffen hatte. Ich wusste nicht, ob er vorhatte, ihn einzustecken oder auf mich zu werfen. »Legen Sie ihn wieder hin«, sagte ich. »Was? Sie sind paranoid, oder? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nichts mehr von mir zu be fürchten haben. Ich wollte mir nur ansehen, wie …« »Würden Sie ihn bitte wieder hinlegen? Rollen Sie ihn zu mir herüber.« Er wartete ein paar Sekun den und zuckte dann lächelnd mit den Schultern, ehe er meiner Aufforderung nachkam. »Wissen Sie, was Alchemie ist?«, fragte er und beugte sich dabei ein wenig zu mir herüber. Ich beugte mich ebenfalls etwas vor. Wäre ich nicht so müde gewesen, wäre ich wahrscheinlich vor Überraschung aufgesprungen. Ich hätte einen Eck zahn dafür gegeben – die bei mir übrigens noch in
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bestem Zustand waren und sind –, wenn in diesem Moment Anton Jadid durch meine Wohnungstür ge kommen wäre. Ich brauchte Hilfe. »Nein. Ich meine, ich habe schon davon gehört, glaube ich. Irgend so ein mittelalterliches Zeug.« Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm erzählen sollte, was die JadidJungs herausgefunden hatten, hielt es aber für klü ger, es mir von ihm erzählen zu lassen. »Ich hätte gedacht, Sie wüssten ein wenig mehr darüber.« »Nein, eigentlich nicht.« »Nein? Haben Sie mit Ihrem Freund von der Po lizei und seinem gelehrten Onkel, der dauernd in Jaans Büro herumschnüffelt, denn gar nichts gefun den, wodurch Sie ein bisschen mehr darüber hätten lernen können?« Ich gab ihm keine Antwort. Ich hoffte, mein Ge sicht verriet ihm auch nicht allzu viel, aber ich war schon immer ein schlechter Poker-Spieler. »Wirklich nicht? Nun ja, ich kann Sie kaum dazu zwingen, etwas zu sagen, was Sie nicht sagen möch ten. Zumindest nicht im Moment. Jedenfalls ist es sehr schwer zu erklären, was Alchemie ist. Es ist ge nauso schwer -ja sogar exakt genau so schwer –, wie zu erklären, was die Welt ist.« Er begann nachdenk lich über seinen Bart zu streichen, bekam davon aber sofort blutige Hände, die er sich mit angewiderter Miene an meiner Couch abwischte. »Die kurze Er klärung lautet, dass Alchemie das Studium, die Wis senschaft und der Prozess der Umwandlung ist. Der gezielten Umwandlung. Von allem Möglichen in al les Mögliche.« Er ließ sich zurücksinken, als hätte er
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damit alles erklärt, und wandte sich wieder der Fla sche zu. Noch zwei Schlucke. »Zum Beispiel von Blei in Gold?«, fragte ich mit möglichst unwissender Miene. Er lachte herablassend. »Naja, zum Beispiel. Niemand hatte damit gerechnet, dass diese spezielle Heldentat eine solche Mode auslösen würde. Jahrhundertelang ließ sich jeder ehrgeizige und gie rige Gauner, der des Lesens mächtig war, als ›Al chemist‹ nieder. Junge Männer verschleuderten das Vermögen ihrer Familie, Könige und Prinzen warfen ihren guten Ruf weg, Dramatiker und Dichter lach ten uns aus. Aber wenn man …« »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber wen meinen Sie mit ›uns‹?« »Nun, eben uns. Uns, einschließlich mir und Ih rem verstorbenem Mitbürger. Diese so genannten Alchemisten, als die wir uns nie bezeichnet haben – ich spreche hier von den Gestalten aus der Populär geschichte und den Idioten, die es selbst heutzutage noch gibt, sie sitzen in schmuddeligen kleinen Lä den, umgeben von Kristallen und billigen Amuletten mit undefinierbaren Symbolen –, diese Alchemisten glauben von jeher, sie könnten durch Versuch und Irrtum langsam vorwärts stolpern, um dann am Ende irgendwann ihr Ziel zu erreichen. Worin dieses Ziel besteht, ändert sich im Lauf der Jahrhunderte. Heut zutage wendet sich kein Mensch mehr dem Studium der Alchemie zu, um reich zu werden, obwohl das früher einmal der einzige Grund war, wieso jemand dieses beschwerliche Studium in Angriff nahm. ›Aufklärung‹, ›kosmisches Verständnis‹, ›Harmonie‹
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und ähnlicher Unsinn: Das sind die hehren Ziele von heute. Aber die werden sich auch wieder ändern. Egal, welchen Kurs diese Idioten einschlagen, ich nehme an, es besteht zumindest rein theoretisch die Möglichkeit, dass einmal einer von ihnen rein zufäl lig und mit viel Glück ein paar kleine Schritte vor wärts macht, aber das ist noch viel unwahrscheinli cher, als dass sich beispielsweise ein Affe an einen Computer setzt und es durch Zufall schafft, Hamlet herunterzutippen. Hinzu kommt, dass niemand un begrenzt viel Zeit oder Geduld hat. Die Leute leben alle nur ihre siebzig, achtzig Jahre. Außerdem suchen sie sich als Quellen immer nur andere Alchemisten aus oder verlassen sich auf fürchterliche Fehlinter pretationen von Bacon oder Paracelsus. Und sie glauben immer felsenfest daran, dass sie nur noch einen ganz kleinen Schritt vom Ziel entfernt sind und dass der Durchbruch am nächsten Morgen kommen wird, wenn sie nur noch ein bisschen fester daran glauben und den Brenner ein klein wenig hö her drehen. Aber«, sagte Tonu oder wie auch immer er heißen mochte, »warum erzählen Sie mir eigent lich nicht von der Sache, die Sie sowohl in Jaans Haus als auch in seinem Büro gefunden haben?« »Wir haben an beiden Orten viele Dinge gefun den. Bücher, Papiere, Teppiche, Staub. Viel Staub. Komplizierte Schlösser …« »Ja, Schlösser. Und auch Safes, nicht wahr?« »Ja, auch Safes, aber nicht …« »Und in beiden Safes haben Sie funkelnden grü nen Staub gefunden, richtig?« Ich gab ihm keine Antwort.
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»Und Ihr gebildeter Professoren-Freund wusste, wo der Staub herkam.« Er betonte den Schluss des Satzes so, dass er irgendwo zwischen einer Aussage und einer Frage lag. »Was Sie gefunden haben«, fuhr er fort, »ist der Staub eines Lehrbuchs des Lebens. Eines Lehr buchs, das uns sagt, wie wir unsere eigenen kleinen Götter sein können. Es erklärt …« »Was wir gefunden haben«, unterbrach ich ihn, »waren Spuren eines großen und sehr wertvollen Edelsteins. Außerdem haben wir herausgefunden, dass Jaan Verbindungen zu Juwelendieben hatte und dass er diese Leute definitiv nicht nur zufällig kann te.« »Das tut doch überhaupt nichts zur Sache. Wir sprechen hier über etwas, was viel wertvoller ist, als Sie sich vorstellen können. Wissen Sie beispielswei se, wo die Smaragdtafel entdeckt wurde?« »Nein.« »Auf Abrahams Brust, als er tot in seiner Höhle lag. Er hielt sie mit beiden Armen umklammert, und Sarah fand sie. Zweifellos wissen Sie, wie der Text der Tafel lautet?« »Professor Jadid hat uns eine Übersetzung vorge lesen, glaube ich. Ich kann mich nicht besonders gut daran erinnern. Für mich ergab das Ganze keinen Sinn.« Ich konnte es mir jetzt wohl sparen, weiter den Dummen zu spielen. »Das überrascht mich nicht. Bei einer schlechten Übersetzung ist das oft der Fall. Außerdem ist das, was er vorgelesen hat – das, was die vielen offiziellen Übersetzungen und Millionen von geistlosen Inter
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pretationen der Tafel zu erklären behaupten – nichts
als die Präambel.« »Aus welcher Sprache wurde sie übersetzt?« »Die Präambel? Aus dem Aramäischen. Aber der Großteil der Tafel ist in einer Sprache geschrieben, die längst aus dem menschlichen Gebrauch ver schwunden ist. Sogar aus dem menschlichen Ge dächtnis. Vielleicht könnte ein besonders scharfsin niger Fachmann für semitische Sprachen, wenn er sie je zu Gesicht bekäme, ein paar Worte zusammen klamüsern, doch der Sinn würde ihm verschlossen bleiben.« »Aber Ihnen bleibt er nicht verschlossen?« »Nein. Allerdings wurde mir diese Sprache beige bracht, und ich habe sie anderen beigebracht. Einige wenige von uns benutzen sie zur Kommunikation, und wir hüten diese Sprache sehr sorgfältig.« »Und gehörte Jaan zu diesen einigen wenigen?«
»Ja. Er hat Sprachen immer sehr leicht gelernt. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund, warum der Großteil der Tafel nie übersetzt worden ist.« Er hielt inne und sah mich an. So seltsam diese Ge schichte auch klang, er erzählte sie gut. Er verstand es, sein Publikum zu fesseln. Er wusste, wann es an gebracht war, ein paar rätselhafte Details fallen zu lassen, und er wusste auch, wie er mir Informationen entlocken konnte, die ich ihm eigentlich gar nicht geben wollte. »Der Grund ist, dass die Menschheit ihn nie zu Gesicht bekommen hat«, erklärte er mit einem Lä cheln, das sich auf seinen Lippen zu winden schien wie ein blutiger Aal. Er nahm einen weiteren
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Schluck aus der Flasche. Nun war nur noch einer übrig. »Als Sarah die Tafel fand, hielt Abraham sie mit beiden Armen umklammert.« Tonu schlang seiner seits die Arme um die Flasche, drückte sie fest an sich und lächelte durch seinen verfilzten Bart. Er sah aus, als gehörte er in den 3er Zug, der um 4 Uhr mor gens von der New Lots Avenue ging. »Was halten Sie davon?« »Wovon?« Meine Finger schlossen sich noch fes ter um das Gewehr. Er stieß die Luft aus und verdrehte die Augen. »Was steht auf der Rückseite dieser Flasche?« »Ich weiß es nicht.« »Warum nicht?« »Naja, weil ich den Werbetext auf der Rückseite von Whiskeyflaschen nicht auswendig lerne. Und weil ich nicht durch die Flasche sehen kann.« »Genau. Den Text der Präambel kennen Sie nur, weil Sarah in Begleitung von jemandem gewesen sein muss, der aufschrieb, was auf diesem seltsamen grünen Ding, das sein toter Freund in den Armen hielt, zu lesen war. Aber die Tafel hatte auch noch eine andere Seite: diejenige, die Abrahams Brust zu gewandt war. Und diese Seite hat die Menschheit nie zu Gesicht bekommen.« »Sie wollen also behaupten, dass wir über diesen so wertvollen Stein, dieses Geschenk, das Gott oder wer auch immer Abraham gegeben hat und das laut Jadid so berühmt ist, nur zur Hälfte Bescheid wissen, weil niemand auf die Idee gekommen ist, einen Blick auf die Unterseite zu werfen?«
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»So ist es«, antwortete er mit einem leisen La chen. »Absurd, nicht wahr? Die Erklärung ist so ein fach und offensichtlich. Allerdings war es vermutlich nicht so, dass niemand auf die Idee gekommen ist. Die Leute waren damals schon genauso neugierig wie heute. Vielleicht gab es weniger Journalisten, die diese Neugier nährten, aber trotzdem … Doch nach dem die Tafel von Sarah entdeckt worden war, be kam die Öffentlichkeit sie nicht mehr zu sehen. Sa rah wusste, worum es sich dabei handelte. Oder vielmehr wusste es ein Rabbi, und dieser Rabbi wusste auch, dass sie geheim gehalten werden muss te. Natürlich konnte er sie weder zerstören noch ganz allein hüten, wer auch immer er gewesen sein mag. Niemand kann das. Deswegen hat er vermutlich Leute um sich geschart, denen er vertraute, und ge meinsam mit ihnen die Tafel bewacht. Und sie be wachten sie nicht nur mit ihrem Leben, sondern ver längerten auch ihr Leben mithilfe der Tafel, um sie länger bewachen zu können. Und seitdem existiert die Tafel nur noch als Gerücht, wenn auch zugege benermaßen als ein sehr inspirierendes. Ähnlich wie der Jungbrunnen. El Dorado. Die verschollene Stadt Atlantis. Das Zimmer der grünen Löwen. Dass die Tafel tatsächlich existierte, spielte keine Rolle, so lange sie nur diejenigen zu sehen bekamen, die woll ten, dass sie ungesehen blieb.« »Was meinen Sie, wenn Sie sagen, sie hätten ihr Leben verlängert?« »Haben Sie mir nicht zugehört? Die Alchemie ist die Wissenschaft von der Umwandlung. Aus Felsen werden Diamanten oder Geld oder Enten oder ande
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re Felsen. Was Sie wollen. Ein alter Körper wird wieder jung. Oder in meinem Fall, ein verletzter wieder gesund. Würde ich meine Wunden für irrepa rabel halten, dann wäre ich jetzt um einiges wüten der auf Sie. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema – die Tafel kam immer mal wieder in Mode. Alle paar Jahrzehnte behauptete irgendjemand ande rer, sie endlich zu ›verstehen‹. Inzwischen aber ist die Tafel, vor allem in diesem Land, so in Verges senheit geraten, dass nicht einmal mehr ihre angebli chen Anhänger und Entdecker Aufmerksamkeit er regen. Alle paar Jahre gibt es mal ein Buch oder ir gendeine perverse Fernsehshow über Atlantis, und die Kinder lernen, dass die Legende von El Dorado spanische Entdecker in die Neue Welt lockte. Die Tafel aber wurde aus irgendeinem Grund zur bloßen Ahnung eines fernen Gerüchts, das sich um dieses Relikt rankte. Und so wäre es auch geblieben, hätte ihren letzten Hüter nicht irgendwann die Langewei le überkommen und der Hunger auf die Dinge die ser Welt.« »Jaan?« »Natürlich. Ich nehme an, unter den Sachen, die Sie in seinem Büro gefunden haben, war auch ein Reiseplan? Und zwar ein ziemlich abenteuerlicher?« Ich nickte. »Nicht jeder ist so zynisch wie ein unreifer Zei tungsreporter. Auf der ganzen Welt gibt es Men schen, die wissen, was die Tafel ist, und die bereit sind, ungeheure Summen für ihren Einfluss zu be zahlen.« »Warum musste er sie überhaupt verkaufen?
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Wenn die Tafel kann, was Sie behaupten, hätte Jaan dann nicht einfach Geld aus gemähtem Gras oder Pfeifenasche oder so was in der Art machen kön nen?« Er atmete laut aus. Durch die Vorhänge hinter ihm schimmerte bereits das milchige, silbrige Licht des frühen Morgens. »Jaan hatte sich verändert. Er wurde messianisch. Paranoid. Solche Fälle hat es auch früher schon ein paar Mal gegeben, und es wird sie wieder geben, wie sehr wir auch versuchen, das zu verhindern. Wenn man alle Menschen, die man kennt, um hunderte von Jahren überlebt, hat das zwangsläufig gewisse Auswirkungen auf die Psyche. Jaan wollte den Lauf der Geschichte verändern. Er war es müde, zusehen zu müssen, wie geringere Männer irdischen Ruhm ernteten, während er, der Hüter und Besitzer eines Schatzes, der die ganze Menschheit in Staub verwandeln konnte, in Verges senheit lebte. Er verlor seine Mission aus den Augen, verlor den Glauben, verlor …« Er brach ab. Seine Miene wirkte plötzlich traurig, und er rieb sich die Augen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« Meine Stimme klang schüchterner als beabsichtigt. »Wenn die Tafel in Abrahams Armen gefunden wurde, wie ist sie dann bei Ihnen gelandet? Wie ist sie nach Est land gekommen?« »Vielleicht durch Zufall. Vielleicht war es aber auch Bestimmung. Möglicherweise besteht zwischen beidem gar kein Unterschied, abgesehen von der Geschichte, die wir daraus machen. Auf jeden Fall war einer der frühen Hüter der Tafel – und ich sage
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jetzt nur Ihretwegen früh, denn in Wirklichkeit wur de die Tafel zu dem Zeitpunkt bereits seit Jahrhun derten versteckt – ein Bibliothekar aus Bagdad, der am sizilianischen Hof Geograph wurde. Bei ihm brach eine ähnliche Wanderlust aus, eine ähnliche Gier nach irdischem Ruhm wie beim jüngst geschei terten Hüter der Tafel. Besagter Geograph wollte eine Karte der Welt anfertigen – wir sprechen vom zwölften Jahrhundert – und endete als Schiffbrüchi ger in einer eisigen Einöde, die von ein paar halb verhungerten Heiden bewohnt wurde. Natürlich überlebte er das Ganze – wir alle überleben, solange wir wollen –, aber irgendwann wurde er müde. Er benannte neue Hüter als seine Nachfolger und berei tete seinem Leben ein Ende. Die Tafel ließ er an einem Ort zurück, der so weit wie möglich vom Zentrum der Welt entfernt war. Einem sehr sicheren Ort.« »Und dort blieb sie?« »Und dort blieb sie.« »Warum haben Sie sie von dort weggebracht?« »Tja, warum«, sagte Tonu und streckte dabei Ar me und Beine aus. »Ich nehme an, wir hatten uns davon überzeugen lassen, dass durch die Verände rungen in jenem Teil der Welt die Sicherheit der Tafel dort nicht mehr gewährleistet war. Und dass die allgemeine Gleichgültigkeit, mit der dieses Land hier der Geschichte gegenübersteht, es zu einem idealen Ort machte.« Er schlug sich auf die Ober schenkel und trank den letzten Schluck Whiskey. »Ich hatte Unrecht, und ein besonders unsympathi scher Botaniker, den ich ignorierte und später ver
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stümmelte, hatte Recht, aber das ist ja nun alles wie der in Ordnung gebracht. Natürlich werden wir aus den eben genannten Gründen nicht nach Estland zurückkehren. Aber es gibt auf der Welt noch genü gend abgelegene Gegenden in eher unbekannten Ländern, wo wir uns einen Weg in die Sicherheit erkaufen können.« »Wie viele sind ›wir‹?« »Oh, nicht viele.« Er begann seinen Bart erneut mit dem Handtuch zu bearbeiten. Mittlerweile hatte er das meiste Blut aus seinem Gesicht entfernt, und abgesehen von einem kleinen Rinnsal aus seiner Na se und einer Stelle an seiner Oberlippe hatten seine Wunden zu bluten aufgehört. Er deutete auf die Tassenränder und leeren Bierdosen und Wasserfla schen auf dem Couchtisch. »Wie ich sehe, halten Sie genauso wenig von Sauberkeit und Ordnung wie mein verstorbener Kollege. Wir sind gar nicht viele.« »Einer in jedem Land?« »Bitte!«, sagte er grinsend. »Eine schöne runde Hundert? Zweihundert?« »Haben Sie vor, einen kleinen Artikel über uns zu schreiben?«, fragte er in spöttischem Ton. »Warum nicht? Ich wollte mich schon lange mal an einer fiktionalen Geschichte versuchen.« »Ich versichere Ihnen, dass es sich hierbei nicht um Fiktion handelt«, antwortete er lachend, »und außerdem …« »Lässt sich irgendwas von dem, was Sie mir er zählt haben, anhand von Fakten überprüfen? Es ist eine ziemlich faszinierende Geschichte, und Sie sind ein guter Geschichtenerzähler, aber ich bin sicher,
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dass Sie ein noch besserer Juwelendieb sind. Genau wie Jaan, oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß.« »Und außerdem«, fuhr er in lauterem Ton fort, wobei seine Stimme eher amüsiert als wütend klang, »scheinen Sie sich über Ihre eigene Situation nicht im Klaren zu sein. Und auch nicht über die Ihrer Freundin, Miss Rowe.« Als er Hannahs Namen erwähnte, sank ich in meinen Stuhl zurück, als hätte mir jemand einen Magenschwinger verpasst. Rückblickend verstehe ich überhaupt nicht mehr, wieso das für mich so überraschend kam. »Was hat sie damit zu tun?«, fragte ich vorsichtig, als hätte ich Angst, etwas umzustoßen. »Absolut alles.« Tonu bekräftigte seine Worte, in dem er mit der Hand auf die Tischplatte schlug. »Ohne sie hätten wir das alles auf keinen Fall ge schafft. Auf keinen Fall. Ich nehme an, Sie sind bei Ihren verbissenen Nachforschungen auf Jaans Kon flikte mit dem Gesetz gestoßen? Und sicher wissen Sie auch, dass er mit Vernum Sickle bekannt war – ein Kontakt, den wir übrigens nun an seiner Stelle weiter pflegen. Jaan hat die letzten Jahre seines Le bens in Angst vor uns verbracht. Er hat aus Fenstern geschossen und sich hinter Schlössern verschanzt, die eher in den Tresorraum einer Bank als in das Haus oder Büro eines Professors gehörten. Er hatte Glück, dass er damit nicht noch mehr Verdacht er regte, als er es ohnehin schon tat. Was das betrifft, hatten wir alle Glück. Glauben Sie, Jaan hätte uns freundlich empfangen, wenn er gewusst hätte, dass
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wir ihm einen Besuch abstatten wollten? Wir sind in der Lage, Alter und Krankheit zu besiegen, aber ge gen Kugeln sind auch wir nicht gefeit. Ebenso wenig wie gegen alle anderen Formen körperlicher Gewalt, wie Sie vorhin ja so schön demonstriert haben.« »Ich verstehe noch immer nicht …« »Was das mit Hannah zu tun hat? Sie hat ein gutes Herz und ist frei von jenem unreifen Zynismus, der so viele ihrer Zeitgenossen befällt.« Er drohte mir höhnisch mit dem Finger. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten der Reaktion: stoische Gelassenheit oder Mord. Alles andere wäre unglaubwürdig gewe sen, dafür hatte ich selbst gesorgt. Ich entschied mich für Ersteres. »Wir hatten ihn schon eine ganze Weile beobach tet«, fuhr er fort, »und dabei festgestellt, dass der einzige Mensch, den er ins Haus ließ, seine bezau bernde junge Nachbarin war. Deswegen arrangierte ich mehrere zufällige Treffen mit ihr. Das alles ist, lassen Sie mich überlegen, mehrere Monate her. Sie nahm sehr aktiv am kirchlichen Sommerprogramm teil, indem sie Kindern Musik- und Schwimmunter richt gab. Miss Rowe ist sehr selbstlos und, unter uns gesagt, auch sehr stolz auf ihre Selbstlosigkeit. Sie hilft bereitwillig, wo sie nur kann.« Ich stieß angewidert die Luft aus. »Und deswegen haben Sie einfach zu ihr gesagt … Was? Miss Rowe, Sie müssen uns helfen, Ihren Freund zu ermorden?« »Nein, nein, natürlich nicht. Das wäre allzu grob gewesen. Nein, ich erklärte ihr so nach und nach, wer wir waren und wer Jaan war und was er vorhatte. Ich erklärte ihr – bewies ihr sogar mit vielen schmerzhaf
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ten Details –, wieso der gute Zweck es erforderlich machte, dass sie uns half. Wieso es nötig war, dass sie ihre kleinen persönlichen Belange, ihre freundschaft lichen Gefühle, beiseite schob, und sei es nur für einen Abend.« »Und sie hat Ihnen geglaubt?« Meine Worte lagen irgendwo zwischen einer angsterfüllten Feststellung und einer Frage. Sie glaubte an alles. Das hatte sie mir selbst gesagt. »Sie sah ein, dass wir die Tafel nicht aus unserer Obhut entlassen konnten, wie Jaan das plante. Gleichzeitig war sie aber noch nicht bereit für die etwas schmutzigeren Seiten unserer Arbeit. Jaan hat te ihr einen Schlüssel für sein Haus gegeben, müssen Sie wissen. Sie hatte das Gefühl, ein gutes Werk zu tun, indem sie für ihn kochte und wusch, und er ge noss es, sich von einem hübschen Mädchen umsor gen zu lassen. Natürlich wies er sie an, den Schlüssel zu verstecken und ihm jedes Mal Bescheid zu geben, wenn sie vorhatte, ihn zu benutzen. Was sie natürlich auch tat. Bis auf ein Mal.« Nachdem er an diesem Punkt seiner Geschichte angekommen war, schwieg er eine Weile. »Wir alle bedauern Jaans Tod«, fuhr er schließlich fort. »Han nah mehr als jeder andere. Immerhin ist es ihre Schuld, dass wir jetzt diese ganze chaotische Auf räumaktion am Hals haben.« »Mord, meinen Sie wohl. Sie bedauern, dass Sie Jaan ermorden mussten. Und wieso ist diese ›Auf räumaktion‹, von der Sie sprechen, Hannahs Schuld?« »Mord, Tod: Das sind doch nur semantische
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Spitzfindigkeiten. Was wir getan haben, war nötig, und auch das, was Hannah getan hat, war nötig. Völ lig unnötig war hingegen ihr Versuch, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem sie bei der Polizei anrief.« »Hannah hat seinen Tod gemeldet?« »Wer sonst? Erst hinterher ist ihr klar geworden, in was für einer kompromittierenden Situation sie sich befand, und seitdem ist sie viel offener für unse re Ratschläge, weniger aufsässig. Wenigstens besaß sie genug Selbsterhaltungstrieb, um ein abgelegenes öffentliches Telefon zu benutzen, und das auch noch zu sehr später Stunde, aber …« »Was meinen Sie mit Selbsterhaltungstrieb?«, un terbrach ich ihn. »Sie haben doch gesagt, sie habe Ihnen bloß Zutritt zum Haus verschafft. Sie hat ihn doch wohl nicht eigenhändig umgebracht, oder?« »Nein, natürlich nicht. Aber die gewissenhafte Miss Rowe hat dem Staat Connecticut letzten Herbst freiwillig ihre Fingerabdrücke zur Verfügung gestellt. Das geschah im Rahmen einer Initiative, deren Ziel es war, die Identifzierung von Kindern zu erleich tern, die – was Gott verhüten möge – entführt wer den. So wurden von allen Schülern unter dreizehn Jahren die Fingerabdrücke genommen. Hannah woll te wie immer mit gutem Beispiel vorangehen, um den Kindern zu zeigen, dass sie keine Angst zu ha ben brauchten. Nun befürchtete sie, dass man sie verhören würde, falls die Polizei zu dem Schluss kä me, dass Jaan unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen war, und sie hatte Angst – zu Recht, sollte ich wahrscheinlich hinzufügen –, dass
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sie bei einem solchen Verhör umfallen würde. Zum Glück konnten wir uns auf die Trägheit Ihrer Klein stadtpolizisten verlassen, und es gelang uns auch, Jaans Tod relativ unverdächtig aussehen zu lassen. Den Tod des Gerichtsmediziners bedauern wir na türlich …« »Das waren Sie? Sie haben den Panda umge bracht?« Er zuckte die Achseln. »Zumindest kommt es mir jetzt durchaus gelegen, wenn Sie das glauben. Es passieren eben manchmal Unfälle, und da Unfälle Zufälle sind, kommt es eben auch vor, dass manche unverdient davon profitieren.« »Und manchmal ist so ein Unfall auch kein Zu fall.« »Ja, natürlich. Manchmal. Wie gesagt gab es abge sehen von diesem bedauernswerten Coroner nur ei nen einzigen Menschen, der die Umstände von Jaans Tod verdächtig fand. Seine Neugier wurde am Ende sogar so groß, dass er zusammen mit einem gewalttä tigen Schurken von einem Polizisten ins Haus des Toten einbrach. Und ich schätze, jeder, der daran interessiert wäre, könnte die Fingerabdrücke dieses Mannes – Ihre Fingerabdrücke – in dem Haus fin den, oder?« Ich verzog keine Miene. »Und dann ha ben Sie auch noch so fleißig an Jaans Nachruf gear beitet – ungewöhnlich fleißig, könnte man sagen, wenn man bedenkt, dass Sie für eine so kleine, nich tige Zeitung schreiben. Und Sie sind mit Miss Rowe gesehen worden, sind sogar in ihrer Wohnung ein und aus gegangen. In Anbetracht der Tatsache, dass Sie beide sich erst vor so kurzer Zeit kennen gelernt
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haben, haben Sie erstaunlich viel Zeit miteinander verbracht. Verstehen Sie? Ich bin ein Ausländer, der mit einem gefälschten Pass reist: Mich wird man nur finden, wenn Sie sich dazu entschließen, dieses Ge wehr zu benutzen. Mal angenommen, Jaan hat Miss Rowe sein Vermögen vererbt – und mal angenom men, sein Vermögen war viel größer, als es den An schein hatte: Sie können sich sicher vorstellen, was für eine scheußliche Situation sich daraus ergeben könnte.« »Hat er wirklich alles Hannah hinterlassen?« Er seufzte genervt. »Hat er, hat er nicht? Sollten Sie sich dazu entschließen, Ihre Story zu veröffentli chen, dann können Sie davon ausgehen, dass dem so ist. Sie sehen also, dass es besser gewesen wäre, wenn Sie Hannahs Bitte, die Sache ruhen zu lassen, nachgekommen wären. Sie hätten das schon tun sol len, als sie Sie darum gebeten hat, aber ich bin si cher, nun werden Sie es tun«, erklärte er in zuver sichtlichem Ton. »Mit dem einzigen Unterschied, dass nun diese Last auf Ihren Schultern liegt. All die traurigen Ereignisse, die Sie eigentlich gar nichts angehen.« »Aber die Polizei weiß bereits Bescheid«, wandte ich kläglich ein. »Der Mann, der mich vorhin herge fahren hat …« »Sie meinen Detective Jadid? Detective Jadid wurde dabei fotografiert, wie er ins Haus eines Man nes einbrach, das zwei Fahrstunden außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs lag.« Tonu zog eine winzige Kamera aus seiner Innentasche. »Der Film ist bereits an Mr. Sickle geschickt worden, den Anwalt des Ver
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storbenen. Detective Jadid wurde außerdem dabei fotografiert, wie er mit gezogener Waffe eine Bar in Clougham verließ. Der Besitzer der Bar ist – wie sol len wir es ausdrücken – verschwunden. Durch einen seltsamen Zufall hatte besagter Barbesitzer kurz vor seinem Verschwinden ebenfalls Gelegenheit, Mr. Sickle um einen kleinen Rat zu bitten. Die Fo tos werden in wenigen Stunden auf dem Schreibtisch von Polizeipräsident Pereira landen, wenn sie nicht jetzt schon dort liegen.« Er zog den Vorhang auf, um die Morgensonne hereinzulassen. Es war ein sonni ger, klarer Tag, und das Licht flutete in den Raum wie Wasser in eine Wunde. »Ich weiß so gut wie Sie, dass Joseph Jadid ein gu ter Polizist ist und seine Arbeit gern macht. Ich weiß auch, dass er sehr aufbrausend ist und einen sicheren Instinkt dafür besitzt, seine Vorgesetzten zu verär gern. Er wird höchstwahrscheinlich seinen Job behal ten. Aber er wird seine Nase nie wieder in diese An gelegenheiten stecken. Nur unter dieser Bedingung erklärt sich Mr. Sickle bereit, die Sache diskret zu behandeln und dafür zu sorgen, dass die Presse nichts davon erfährt.« Er zog ein Stück Papier aus der Jacke, und als er es auseinander faltete, fiel mir auf, dass es von un gewöhnlich guter Qualität war: Im Morgenlicht war sogar ein Wasserzeichen zu sehen. Warum mir dieses Detail im Gedächtnis geblieben ist, weiß ich nicht. ›»Detective Jadid wird zukünftig darauf verzichten, das Andenken an Jaan Pühapäev, der ein geschätztes Mitglied der akademischen Gemeinschaft von Wi ckenden und ein rechtschaffener Bürger von Lin
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coln, Connecticut, war, zu stören oder auf irgendeine Weise zu schädigen.‹ Mr. Sickles Brief an Polizeiprä sident Pereira.« »Und was passiert jetzt?«, fragte ich nach einer langen Pause, in der mir meine Niederlage so richtig bewusst wurde. »Jetzt? Wie gesagt, ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten. Erst recht nicht mehr nach diesem Ge spräch. Was jetzt passiert, hängt ganz von Ihnen ab. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie diese Ge schichte weiterverfolgen und einen Artikel darüber schreiben müssen, kann ich Sie kaum davon abhal ten, auch wenn das mit ziemlicher Sicherheit dazu führen wird, dass Joseph Jadid, Hannah Rowe und Sie selbst vor Gericht landen, zumindest wegen Ein bruchs. Aber möchten Sie meinen Rat hören?« »Klar, warum nicht?« Als er angefangen hatte, von Smaragden und geheimen Kristallen und ewigem Leben zu faseln, hatte ich ihn erst für ein bisschen übergeschnappt gehalten, aber selbst wenn dieser ganze alchemistische Schwachsinn nur eine Fassade war, hinter der sich etwas anderes verbarg, dann war es zumindest erstklassiger Schwachsinn. Und wenn ich eines bin, dann ein leidenschaftlicher Produzent und Konsument von Schwachsinn. »Tun Sie, worum Ihre Freundin Sie gebeten hat, und lassen Sie das Ganze fallen. Lassen Sie es einfach sein. Sie sind ein junger Mann: Ihre Fähigkeit, zu ver gessen und sich von diesem Schlag zu erholen, ist größer, als Sie meinen. Vor allem jetzt, in Ihrem lie beskranken und übermüdeten Zustand.« Tonu sah mich einen Moment schweigend an. Dann wanderte
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sein Blick ein wenig nach unten, wahrscheinlich woll te er sehen, wie ich das Gewehr hielt (nicht fest genug und nicht auf ihn gerichtet, bis ich seinen Blick be merkte und ich es rasch wieder in Position brachte). »Außerdem steht jeder irgendwann mal auf der Verliererseite. Sogar ich, wie Sie sehen. Und in die sem Fall auch Sie.« Wieder legte er eine Pause ein, und wieder brachte ich es nicht übers Herz, ihn zu erschießen. »Sie scheinen mir ein intelligenter und ernsthafter junger Mann zu sein, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben. Ich verstehe nicht, wieso Sie in dieser Stadt bleiben.« »Nun ja, da ist zum Beispiel Hannah. Da war Hannah.« »Ah. Sie werden sie nie Wiedersehen.« »Bitte? Woher wollen Sie das wissen? Nur, weil …« »Bestimmt ist Ihnen der starke Rauchgeruch auf gefallen, der gestern Abend in der Luft hing?« »Ja.« »In Miss Rowes Wohnung ist gestern Abend ein Feuer ausgebrochen. Ein Kabelbrand. Tragisch, nicht wahr?« Ich fuhr aus meinem Sessel hoch und richtete das Gewehr wieder auf seinen Kopf. »Es geht ihr gut«, sagte er und unterstrich seine Worte mit einer beschwichtigenden Handbewegung. »Ihr ist nichts passiert, ebenso wenig wie ihrer seltsamen Vermieterin. Hannah erfreut sich bester Gesundheit, aber dass sie in so kurzer Zeit sowohl einen Freund als auch ihr Zuhause verloren hat, war einfach zu viel für sie. Deswegen hat sie ein wenig verfrüht ihren Weihnachtsurlaub angetreten.«
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»Wie meinen Sie das? Wo ist sie?« »Wie gesagt, das geht Sie nichts an. Es wäre natür lich schade, wenn nun, da sie sich nicht verteidigen kann, ihr Ruf irgendwie geschädigt würde.« Ich ging zu ihm hinüber und drückte ihm den Gewehrlauf an die Schläfe. Als er das Gesicht verzog und sich mit der Zunge über die Lippe fuhr, drückte ich noch ein wenig fester. »Wollen Sie das wirklich tun?« Ich presste ihm den Gewehrlauf an den Kopf, bis ich ihn wimmern hörte. Da ich spürte, dass mein Ad renalinspiegel wieder anstieg, und wusste, was ich wahrscheinlich gleich tun würde, zog ich das Gewehr rasch zurück und setzte mich wieder hin. »Haben Sie sie getötet?« »Nein, natürlich nicht. So eine ernsthafte, enga gierte, schöne Frau. Eine zeitlose Schönheit, finden Sie nicht auch? Eine zeitlose Persönlichkeit. Wie geschaffen für die Ewigkeit, könnte man sagen.« Er zwinkerte mir zu. »Nein, ich gebe Ihnen mein Wort, dass sie so gesund und munter ist wie eh und je, auch wenn die Ereignisse dieser Woche sie emotional sehr mitgenommen haben. Aber egal. Wie gesagt, Sie werden sie nie Wiedersehen.«
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Die Sonne und ihr Schatten
D Wie sich der Flügel dem Boden entzieht,/Wie die Zwei über die Eins sich stellt,/Wie der Tag die Nacht bestimmt,/So sich der Schatten auch zur Son ne verhält. D JOHN DEVERE
(SECHZEHNTER GRAF VON OXFORD) D Die tragische Geschichte von Posthumus Leonatus, Sein höchst beklagenswerter Tod
Die meisten Leute stellen sich die Winter in Moskau schrecklich vor: endlos, ohne Sonne, trist und farblos, ein karges Land unter einem Himmel, der von Schwarz in schwaches Grau und dann wieder in Schwarz übergeht, von einer Farbe in die andere hinüberrollt wie ein Patient in seinem Krankenhaus bett. In Wirklichkeit ist es der eisige Dauernieselre gen im Herbst und im Frühling, der die Stadt in das Innere einer tuberkulösen Lunge verwandelt, wäh rend der Winter Moskau zum Leben erweckt wie eine Ohrfeige den Schlafenden. Zwischen Dezember und Februar erstrahlt die Stadt an guten Tagen für drei oder vier Stunden im wundervollsten Licht der Welt. An den besten Tagen hat es in der Nacht davor geschneit, sodass der Ruß der Abgase, der alte
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Schnee, die Zigarettenasche, der ausgespuckte Schleim, das verschüttete Bier und die Papierfetzen unter einem glitzernden Mantel aus Neuschnee ver schwinden. Dann ist es auf den breiten Straßen ruhi ger als sonst, und in den schmalen, alten herrscht mehr Leben. So war es auch am Morgen von Woskresenjows letztem Besuch in Moskau. Als er an der Soimo nowskypassage, nicht weit von der Metrostrojewskaja entfernt, aus seinem von einem Chauffeur gefahre nen ZIL stieg, stieß eine Frau, die dort mit ihren beiden flachsköpfigen, rotwangigen Kindern unter wegs war, mit ihm zusammen. Er beugte sich gerade in den Wagen, um seinen Diplomatenkoffer heraus zuholen, und ihre Aufmerksamkeit war ganz auf ihre kleine Tochter gerichtet, die im Begriff war, auf die Straße hinauszustolpern. Im ersten Moment schnappte die Frau nach Luft und fasste sich an den Hals, und als sie sah, wer er war – sie hatte den Wa gen registriert, die Uniform, die Medaillen, die Ak tentasche aus echtem Leder –, weiteten sich ihre Augen, und sie riss unwillkürlich den Kopf zurück. Aber nachdem sie sich wieder gefangen hatte, mus terte sie ihn mit einem kühlen, fast verächtlichen Blick, und statt ihre Kinder in den Arm zu nehmen, um sie vor ihm zu beschützen, streckte sie ihnen ein fach die Hände hin. Die beiden griffen danach, und zu dritt betrachteten sie die Beute, die sie da erlegt hatten. Er überlegte, ob er sie gewinnend anlächeln sollte, hielt es dann aber für das Beste, ihren Blick einfach zu erwidern. Was war nur aus der Ehrfurcht geworden? Warum schlang die Mutter nicht beschüt
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zend die Arme um ihre Kinder und eilte mit einem unterwürfigen Nicken davon? Als Woskresenjow sich bückte, um seine hinuntergefallene Aktentasche auf zuheben, konnte er sich ein Grinsen nicht verknei fen, bemühte sich aber anschließend sofort wieder um eine ausdruckslose Miene. Die Mutter stieß ein kleines, geringschätziges Schnauben aus, dann gin gen die drei weiter. »Weißt du, dass sie diese Straße umbenennen wollen?«, sagte eine vertraute Stimme neben Woskresenjow. »Lubin. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, dich mit mir zu treffen. Noch dazu an der alten Stelle.« »Nun ja, in der Nähe der alten Stelle, um genau zu sein.« Lubin berührte Woskresenjow am Ellbogen und forderte ihn dann mit einem Nicken auf, sich in Bewegung zu setzen. Sie folgten der kleinen Straße in nordwestlicher Richtung, weg vom Fluss, und bo gen dann nach rechts in die Metrostrojewskaja ein. Im Gegensatz zu vielen anderen russischen Männern war Lubin kein Freund von Körperkontakt und übertriebener Zurschaustellung von Emotionen. Er und Woskresenjow beschränkten sich bei der Begrü ßung stets auf einen Handschlag und ein kurzes Ni cken. »Wie meinst du das, in der Nähe? Wir sind doch schon in der Nähe. Sollen wir nicht hineingehen?« Vor ihnen ragte, rot und kitschig wie ein bemaltes Lebkuchenhaus, Dom Pertsova auf. Die phantasie volle Außenverkleidung und die Schlangenspiralen, die einen der Seitenbalkone stützten, amüsierten
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Woskresenjow, und er musste bei ihrem Anblick je des Mal wieder lächeln. »Kaum zu glauben, dass das alles abgerissen wer den sollte«, bemerkte er. »Diese ganze Ecke der Stadt: Metrostrojewskaja, Kropotkinskaja – all die kleinen gewundenen Stra ßen zwischen dem Kropotkinskaja-Bahnhof und Park Kulturij, wegrasiert, um Platz zu machen für einen Palast der Sowjets. Eine tragische Vorstellung, aber nicht wirklich überraschend. Ich bin bloß froh, dass sie nicht mehr dazu gekommen sind«, antwortete Lubin. »Dass ich nicht mehr dazu gekommen bin, meinst du wohl.« Lubin zuckte gleichmütig die Achseln und deutete auf die vor ihnen liegende weiße Kirche mit den grü nen Kuppeln, St. Ilja Objdennij, wo sie und zahllose andere Regierungs-Kontaktleute sich während der Sowjetjahre heimlich getroffen hatten. Da die Bürger fürchten mussten, denunziert zu werden, wenn sie die Kirchen betraten, wurden diese zu sicheren Orten für heimliche Treffen von Regierungsfunktionären. Jeder normale Bürger, der etwas gemeldet hätte, wäre durch sein ungebührliches Interesse für einen Ort der Got tesverehrung sofort verdächtig erschienen. Und was die Treffen der Funktionäre selbst betraf, machte gerade ihre absolute Illegalität sie für alle Beteiligten sicher. Außerdem hatte diese spezielle Kirche ihre ganz eigene Art von Schönheit und strahlte mit ihrem Weihrauchgeruch und ihrer Baufälligkeit einen sol chen Frieden aus, dass sie als Treffpunkt besonders beliebt gewesen war.
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»Siehst du?« Lubin deutete auf die Kirche. »Ah.« Ein schwacher, aber steter Strom von Gläu bigen – Männern und Frauen, Alten und Jungen, Armen und weniger Armen – schob sich in die Kir che und wieder heraus. Manche der Leute bekreu zigten sich inbrünstig, andere linkisch, als müssten sie sich erst wieder an die Geste gewöhnen. »In Est land ist es dasselbe. Ebenso in Lettland. In Litauen und der Ukraine sogar noch mehr.« »Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Sollen wir einfach ein paar Schritte gehen?« »Eine gute Idee.« »Als neuer Name ist übrigens Wsechswjatskij geplant«, sagte Lubin, nachdem sie ein paar Minu ten schweigend dahinmarschiert waren. »Du hast mich zwar nicht danach gefragt, aber vielleicht inte ressiert es dich ja trotzdem. Und diese hier, die Metrostrojewskaja, soll wieder Ostoschenka hei ßen«, fügte er mit einem sparsamen Grinsen hinzu. Er hatte die undurchsichtige, intrigante Art eines Menschen, der schon sein ganzes Leben lang ande re manipulierte und anschließend ihre Reaktionen studierte. »Entschuldigung?« »Diese Straße. Ostoschenka hat sie mal geheißen, und Ostoschenka soll sie wieder heißen. Die Passa ge, wo wir uns getroffen haben, wird Wsechswjatskij, nicht Soimonowsky. Das ist natürlich alles noch ge heim, aber man will zu den vorrevolutionären Namen zurückkehren. Swerdlowsk musste natürlich als Ers tes dran glauben, kein Wunder bei diesem alten Saufbruder. Als Nächstes ist wahrscheinlich Lenin
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grad an der Reihe. Aber so richtig deutlich wird es bei den Straßennamen. Nun ja. Übrigens wusste ich gar nicht, dass du einen Bruder hast.« »Und ich nicht, dass du einen Sohn hast.« »O ja.« Lubin strich mit väterlichem Stolz seine Krawatte glatt. »Sogar drei. Einer wird Arzt – er stu diert im Moment in Berlin –, einer ist hier in Moskau Staatsanwalt, und der dritte, Sascha, wäre ganz nach deinem Herzen.« »Ich kümmere mich nachher gleich darum, Lubin. Und was mein Herz betrifft: Ich kenne den Jungen doch gar nicht. Außerdem, woher sollte der Sohn eines KGB-Mannes etwas über Herzensangelegen heiten wissen?« »Sachte, sachte, mein Freund!« Sein Ton klang eine Spur schärfer, aber nicht richtig verärgert. »Du warst schließlich auch kein Heiliger.« »Entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Lubin nahm die Entschuldigung mit einem Ni cken an. »Ich bewundere Leute, die sich um ihre Familie kümmern. Vor allem in diesen Zeiten. Bist du dir wegen Sascha sicher?« »Absolut. Und du dir wegen Tonu?« Lubin reichte Woskresenjow ein Bündel schlech ter Kopien offizieller Dokumente. »Hier, bitte. Tonu Pühapäev, ein vorbildliches Mitglied eines Schaf zuchtbetriebes in Hiiumaa, wurde kürzlich zum Lei ter des Milchbauernkollektivs Paide ernannt. Hier hast du es schwarz auf weiß.« Woskresenjow griff nach den Papieren und blät terte sie begierig durch. »Und das ist der Milchbe trieb, der privatisiert wird?«
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»O ja, im Lauf des kommenden Jahres. Die Käu fer stehen schon fest, ein Konsortium aus Finnen und Schweden. Sie sagen, es wird der größte Milch bauernhof im Baltikum. Sie wollen damit sogar einen Teil Skandinaviens versorgen. Und angesichts der Tatsache, dass die sowjetischen Arbeitskräfte so bil lig sind, auch wenn es sich jetzt um exsowjetische Arbeitskräfte aus einem freien Estland handelt, dürf te es auch einer der profitabelsten Betriebe werden. Es war ein ziemlich harter Kampf, Tonu diesen Stuhl zu sichern. Die Esten riechen das Geld, sie sind schlimmer als die Juden. Und du?« »Wie vereinbart. Sieh mal.« Woskresenjow deute te auf das bescheidene Holzhaus auf der anderen Straßenseite. »In dem kleinen Haus da hat Turgen jews Mutter gelebt. Es hat all die Brände überstan den, die ganze Zerstörung, die ganze schwachsinnige sowjetische Planung. Und nun steht es da, schlicht und schön wie eh und je, und ist nicht einmal mit einem Schild versehen.« Lubin seufzte ungeduldig und verlagerte das Ge wicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen, was Woskresenjow durchaus nicht entging. »Wie ge sagt. Ich werde gleich im Anschluss an dieses Ge spräch ganz offiziell mein Amt niederlegen. Ich darf meinen Nachfolger selbst bestimmen – natürlich nicht als Kommandant der baltischen Streitkräfte, die es bald nicht mehr geben wird, sondern als Gene ral der russischen Armee. Und wie ich es versprochen habe, wird Aleksandr Anatoljewitsch Lubin der jüngste General der Armee werden. Natürlich kann ich nicht dafür garantieren, dass er in Moskau statio
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niert sein wird, aber ich nehme an, wenn das sein Wunsch ist, dann wird man ihm den auch erfüllen.« »Und er wird es ganz bestimmt nicht nachvollzie hen können, dass ich ihm diesen Gefallen getan ha be?«, fragte Lubin leicht nervös. Es war das erste Mal, dass Woskresenjow Lubin so begehrlich erlebte, und zu sehen, wie dieser aalglatte Mann, der sonst nie eine Miene verzog, plötzlich die Augen aufriss, sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und dann sichtlich mit den Kiefern mahlte, bescherte Woskre senjow ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit. »Sascha und ich, wir reden nicht so viel miteinander, wie wir eigentlich sollten«, fuhr Lubin fort. »Wenn er wüsste, dass er das mir zu verdanken hat, würde er darauf spucken, da bin ich ganz sicher. Er ist ziem lich hitzköpfig, genau wie seine Mutter.« »Er wird es nie erfahren. Absolute Diskretion auf beiden Seiten, wie immer, nicht wahr?« »Natürlich. Eines ist allerdings seltsam.« »Was denn?« »Mir ist da etwas aufgefallen, als ich mir im Zu sammenhang mit meiner Arbeit wegen Tonu deine Akte angesehen habe.« Woskresenjow spürte, wie er sich innerlich an spannte. Er war sicher gewesen, an alles gedacht zu haben. »In deinen Eintrittspapieren ist nirgendwo ein Bruder aufgeführt. Sein Name taucht an keiner Stelle auf, und es wird auch nirgendwo erklärt, wieso zwei Brüder unterschiedliche Nachnamen haben. Noch dazu zwei so ungewöhnliche Nachnamen, die beide in der jeweiligen Sprache ›Sonntag‹ bedeuten.«
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Woskresenjow wandte das Gesicht der Sonne zu, weil ihm das die Möglichkeit gab, vor Wut auf sich selbst die Augen zuzukneifen. Seine Unterlagen im Zentralbüro der Armee hatte er geändert, aber natür lich hatte der KGB diese Dokumente ebenfalls vor liegen. Daran hätte er denken müssen, bevor er Lubin um diesen Gefallen bat. »Hast du die Akte bei dir?«, fragte er, vielleicht ein wenig zu schnell. »Du meinst, hier? Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn auf die Idee? Ich darf sie doch nicht einfach mitnehmen.« »Sie ist also noch bei all den anderen Militärakten in der Lubjanka?« »Natürlich. Wo sollte sie denn sonst sein?« Einen Moment lang spazierten sie schweigend durch diese bescheidene, verwinkelte Ecke der Stadt. »Was wirst du tun?«, fragte Woskresenjow dann.
»Tun? Womit?« Woskresenjow blickte auf Lubin hinunter und setzte dabei eine Miene auf, von der er hoffte, dass sie zumindest ansatzweise nach echtem Interesse aussah. »Ach so. Ich höre auch auf«, antwortete Lubin. »Genau wie du. Anscheinend muss ich dir alles nachmachen.« Sein Lachen schlug in ein leises, aber hartnäckiges Husten um, das sich anhörte, als würde eine Sense durch trockenen Weizen fahren. »Ich kann meine kleine Datscha in der Nähe von Susdal behalten. Meine Wohnung bekommt mein ältester Sohn, damit er einen Platz hat, wo er hin kann, wenn er aus Berlin zurückkommt. Falls er überhaupt zu rückkommt, besser gesagt. So, wie die Dinge im
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Moment liegen, steht das noch nicht fest. Jedenfalls werden meine Frau und ich in Susdal ein ruhiges Leben führen. Und das war’s dann auch schon.« Lubin nickte und machte eine abgehackte Handbewe gung, als würde er genau neben dieser Baumgruppe an der Kreuzung von Sechenowskij und Ostoschenka seine Vergangenheit von seiner Gegenwart trennen oder vielleicht seine Gegenwart von seiner Zukunft. »Und du?«, fragte er. »Ach, weißt du … ich schätze, ich habe da so ein, zwei Sachen im Kopf. Auf jeden Fall mehr Freizeit. Ruhe vor der Armee. Keine Uniformen mehr.« Woskresenjow suchte fieberhaft nach weiteren gut klingenden, aber vagen Bruchstücken. »Ich bin eigentlich nie so richtig aus dir schlau geworden. Was hast du vor? Wie sehen deine Pläne aus? Es geht das Gerücht, dass du irgendeinem ingu schischen Juwelendieb geholfen hast, aus Magadan freizukommen. Ohne jedes Aufsehen, ganz still und leise. Und kannst du mir erklären, warum ich wie ein Mann aussehe, der vierzig Jahre lang trinkend und rauchend in einem kalten Klima verbracht hat, wäh rend du kaum einen Tag gealtert bist?« »Essiggurkenwasser«, antwortete Woskresenjow und klatschte sich auf die Wangen. »Das habe ich von meiner Großmutter – jeden Morgen ein bisschen Essiggurkenwasser auf die Haut.« Lubin lachte unsicher. »Essiggurken? Naja, schon möglich, wenn du es sagst. Ich bin mir aber nicht sicher … Übrigens könntest du die Akte kaufen«, stieß er fast angewidert hervor. »Heutzutage ist alles käuflich – falls du das mit deinem Bruder für dich
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behalten möchtest, wäre es bestimmt kein großes Problem, sie zu kaufen.« Obwohl Woskresenjow schon in dem Moment, als Lubin ihn auf diese Möglichkeit hinwies, wusste, dass ihm wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben würde, verzog er keine Miene. »Dem KGB etwas abkaufen?«, fragte er und tat dabei, als wäre er scho ckiert. »An wen wendet man sich denn in einem sol chen Fall?« Lubin riss ein Stück von der Schachtel Winston Lights ab, die er in der Tasche hatte, schrieb einen Namen auf die weiße Innenseite und reichte es Woskresenjow. »Das ist dein Mann. Er ist sehr dis kret. Jeder, der genug Geld hat und es in diesem neuen Russland zu etwas bringen will, hat ihm schon belastendes Material abgekauft. Und da sich alle an ihn wenden, weiß auch jeder, dass er das macht, und genau deswegen ist er unantastbar. Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt: Obwohl jeder weiß, dass er es macht, wendet sich jeder an ihn, und des wegen ist er unantastbar. Eins von beiden.« »Ja, natürlich«, lachte Woskresenjow, obwohl er eigentlich gar nicht genau wusste, warum er lachte. »Könnte ich das Geld nicht einfach dir geben? Wür dest du die Akte für mich verschwinden lassen?« »Ich? Ganz bestimmt nicht. So etwas mache ich nicht, und außerdem, wozu brauche ich Geld? Aber danke, dass du gefragt hast.« Seit die beiden Männer sich kannten, hatten sie einander immer mal wieder einen Gefallen getan und dabei stets versucht, immer einen Trumpf mehr als der andere in der Hand zu haben – natürlich
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nicht, um ihn auszuspielen, sondern nur, um ihn zu haben. Die ständigen kleinen Verschiebungen, die sich dadurch in ihrer Stellung zueinander ergaben, hatte ihren beruflichen Beziehungen eine persönli che Note und ihrer persönlichen Beziehung eine be rufliche Note verliehen. Woskresenjow fragte sich, was Lubin mit dieser Information anfangen würde. Er betrachtete das schlaffe Gesicht unter dem sprö den, schon ziemlich grauen Haar, die zittrigen, mit Leberflecken übersäten Hände und kam zu dem Schluss: gar nichts. Schachmatt, und weg mit dem König: Lubin gab auf. Und bei einem Mann, der nichts mehr will, kann man auch nichts mehr ausrich ten. »Ich brauche kein Geld mehr«, fuhr Lubin fast schon im Flüsterton fort. Dabei blickte er auf den Boden, als würde er mit sich selbst sprechen. »Ich will nur noch meine Ruhe haben und von alledem hier nichts mehr hören. Meine Frau und ich kommen beide vom Land, aus Twer. Vierzig Jahre in dieser Stadt, diesen ganzen Scheiß. Ich brauche kein Geld mehr.« Sie erreichten eine Stelle, wo sich fünf Straßen kreuzten. Dort lag ein kleiner Park mit ein paar kah len Birken, deren Äste aussahen, als würden sie viel zu weit oben, um von jemandem gesehen zu werden, warnend ihre knochigen Finger emporrecken. In der Mitte des menschenleeren Parks, umgeben von ein paar Büschen, stand ein Brunnen – eigentlich nur ein betonumrandeter kleiner Teich, in dem unter einer dünnen Eisschicht unbewegtes, mit grünem Schaum bedecktes Wasser zu sehen war. Als sie sich dem
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Brunnen näherten, traten sie aus dem hellen Sonnen licht in den Schatten des Dickichts. Die Büsche sorg ten dafür, dass sie von der Straße aus nicht zu sehen waren. Woskresenjow packte Lubin und küsste ihn mitten auf seinen offenen, überraschten Mund. Wäh rend Lubin ihn mit seinen schwachen, spindeldürren Armen von sich wegzustoßen versuchte, holte Woskresenjow sein Springmesser aus der Tasche, ließ die Klinge aufschnappen, zog sie tief durch das Arteriengewirr in Lubins Leisten und stieß ihn dann durch das dünne Eis in den Brunnen hinein. Nachdem er das Messer hinterhergeworfen hatte, suchte er seine Schuhe, seine Hose und seinen Man tel nach Blutflecken ab (da waren keine) und setzte dann seinen Weg in Richtung Lubjanka fort, um dort den Rest seiner Vergangenheit zu kaufen.
GEGENSTAND 15 Eine Halskette mit einem breiten,
an der Rückseite lederüberzogenen Talisman an ei nem dünnen, zusammengeknoteten Lederband von
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34 Zentimeter Länge. Der Talisman ist mit zwei Steinen besetzt: einem Starburst-Topas – in einer runden Bernsteinfassung mit acht schmalen Strahlen, die die Form einer Sonne ergeben – und einem ova len Onyx daneben. Darstellungen von mit Schatten einhergehenden oder untergehenden Sonnen symbolisieren ein fast vollendetes Unterfangen, das aber immer noch in Gefahr ist zu scheitern. Sie rufen in gleichem Maß zu Hoffnung und zu Wachsamkeit auf. HERSTELLUNGSDATUM Unmöglich zu bestimmen. Die Steine selbst weisen Risse auf und sind vom Al ter trüb geworden. Sie scheinen mindestens einige Jahrhunderte alt zu sein. Das Leder dagegen ist noch in recht gutem Zustand, auch wenn es vielgetragen aussieht. HERSTELLER Iwan Woskresenjow. Seinen eigenen Aussagen zufolge ist der Anhänger einer Zeichnung aus dem Notizbuch des arabisch-sizilianischen Geo graphen al-Idrisi nachempfunden, die »die Sonne und ihren Schatten« darstellt – eine rätselhafte al chemistische Hieroglyphe. Aber Comic-Experte Milos Smilos, Autor des Ar tikels »Wo ist der Football, Charlie Brown? Verbote nes sexuelles Begehren in täglich erscheinenden Comicstrips« und der graphischen fiktionalen Auto biographie Nenn mich Sir! Peppermint Patty, Warrior Dyke – schrieb in seiner inoffiziellen, beschönigten Autobiographie, dass sich Kettenanhänger, die mit gelbem Glas und poliertem Obsidian besetzt waren
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und an Lederbändern um den Hals getragen wurden, in der Zwischenkriegszeit bei baltischen Künstlern und Intellektuellen großer Beliebtheit erfreuten. Ausgelöst wurde diese Mode durch die Interpreta tion eines von Flash Gordon getragenen Pullovers durch einen estnischen Künstler. Flash Gordon hatte den betreffenden Pullover 1940 in Flash Gordon Con quers the Universe getragen, dem letzten Teil eines Flash-Gordon-Kinoserials. HERKUNFTSORT Genauso schwierig zu bestimmen wie das Herstellungsdatum. Estland ist eines der wichtigsten Bernstein-Exportländer der Welt, und auch seine Gerbindustrie war immer recht aktiv. Onyx wird zwar nicht im Baltikum produziert, ist aber ein häufig vorkommender und beliebter Edel stein. LETZTER BEKANNTER BESITZER Iwan Woskresen jow. Nach seiner Ermordung durch [NAME DURCHGESTRICHEN] von der Leiche entwen det und an [NAME DURCH-GESTRICHEN] wei tergegeben. GESCHÄTZTER WERT Milos und seinesgleichen würden den Preis wahrscheinlich in die Höhe trei ben. Normalerweise würde das Stück – bei gutem Licht und einem passionierten Käufer – bestenfalls 300 Dollar einbringen.
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Was ich vom Wirken des Sol gesagt,
ist nun vollendet.
»So«, sagte Tonu. Er stand in meiner offenen Woh nungstür, einen Fuß bereits draußen auf dem Gang, eine Hand am Türknauf. »Ich nehme an, ich habe alle offenen Fragen beantwortet.« Dabei gingen so wohl seine Stimme als auch seine Augenbrauen nach oben. »Albanian Eddie?« »Edouard, ja. Ich dachte, den hätten wir verges sen.« Er grinste. In dem Moment kam es mir vor, als hätte ich eine Art gläsernes Reptil vor mir, eine Krea tur, die sich von Gift nährte und einem in die Haut schnitt, sobald man Druck auf sie ausübte. Wie ir gendjemand diesem Mann Vertrauen schenken konnte, ist mir nach wie vor ein Rätsel. »Edouard hatte ein Talent fürs Schmuggeln. Er lernte sein Ge schäft unter den verschlossenen und paranoiden Sowjets. Wir waren uns eigentlich sicher, dass er hier in diesem vertrauensseligen und offenen Land sehr erfolgreich sein würde.« »Was ist passiert?« Tonu trat zögernd zurück in meine Wohnung und hatte schon fast die Tür wieder geschlossen, als er es sich anders überlegte und in seine »Ein Fuß drau ßen, ein Fuß drinnen«-Stellung zurückkehrte. »Das selbe wie mit Jaan. Er wurde gierig, betrügerisch,
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unzuverlässig. Aber wir hatten sowieso nicht vorge habt, seine Dienste langfristig in Anspruch zu neh men. Dafür bewies er nicht genügend Engagement. Er hat uns geholfen, gewisse Dinge zu beschaffen, die wir brauchten, aber inzwischen hatten wir eigent lich keine Verwendung mehr für ihn.« »Was für Dinge?« Tonu trat einen kleinen Schritt weiter in den Gang hinaus. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Nein. Keine Fragen mehr. Das ist alles, was Sie wissen müssen.« »Nein«, sprudelte es aus mir heraus. »Nein, ich habe jetzt mehr Fragen als vor drei Stunden. Ich … Sie können nicht einfach … Was Sie mir gesagt ha ben, ergibt keinen Sinn.« »Welchen Teil haben Sie denn nicht verstanden?« »Gar keinen. Ich meine, alles. Ich kann einfach nicht glauben …« »Das brauchen Sie auch nicht. Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das vorschreibt, dass etwas ge glaubt werden muss, um wahr zu sein. Wissen Sie, Sie sollten wirklich dankbarer sein. Ihnen sind In formationen anvertraut worden, für die viele andere Menschen einen Mord begehen würden.« »Und Sie glauben wirklich, dass ich darüber Still schweigen bewahren werde?« Tonu lachte. »Natürlich. Wem sollten Sie davon erzählen? Wer würde Ihnen glauben? Meiner Mei nung nach haben wir in dieser Hinsicht nichts zu befürchten, und wenn doch, wird uns trotzdem nie mand finden, denn wir sind gut getarnt. Und sollten Sie plötzlich eine übermäßige Neigung zur Ge
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schwätzigkeit entwickeln, müsste ich Sie vielleicht doch noch mal besuchen. Hinzu kommt, dass Ihnen nun, da Jaan Leute angelockt hat, die nach der Tafel suchen, die Aufmerksamkeit sehr zwielichtiger und skrupelloser Kreise zuteil werden würde, falls Sie sich dazu entschließen sollten, mit Ihrem Wissen über ihn zu prahlen. Und wie ich Ihnen eben schon gesagt habe, wären wir dann längst weg und könnten Ihnen nicht helfen.« »Was, wenn ich das Risiko einginge? Es ist eine gute Story«, bluffte ich eher gereizt als mutig. Tonu bedachte mich mit einem enttäuschten Lä cheln und sagte dann achselzuckend: »Wie gesagt, ich habe nicht vor, ein Dauergast in Ihrer Wohnung zu werden. Ich kann nicht kontrollieren, was Sie tun. Ich kann Sie allerdings noch einmal daran erinnern, dass Sie einen Einbruch begangen haben und dass man Sie zusätzlich wahrscheinlich wegen Mordes verurteilen würde. Sollten Sie nähere Bekanntschaft mit den Gefängnissen Connecticuts machen wollen, wird Mr. Sickle dafür sorgen, dass Sie Gelegenheit dazu bekommen. Aber wenn wir Sie für unvernünftig oder leichtsinnig halten würden, wären sowohl Sie als auch Joseph und sein Onkel längst nicht mehr am Leben. Treffen Sie eine kluge Entscheidung, Mr. Tomm. Das ist der Rat, den ich Ihnen geben kann. Treffen Sie eine kluge Entscheidung.« Mit diesen Worten ging er, wobei er bis zum Schluss gute Manieren bewies und die Tür ganz leise hinter sich zuzog. Ich hörte ihn die Treppe hinuntergehen, und dann beobachtete ich durchs Fenster, wie er in einen unauffälligen Wagen von unauffälliger Farbe stieg.
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Er ließ den Motor an und setzte, obwohl keine ande ren Autos unterwegs waren, ordnungsgemäß den Blinker, ehe er in Richtung Süden davonfuhr, weg von Lincoln. Es war zu spät, oder zu früh, um ins Bett zu gehen. Ich habe kein Problem damit, zuzugeben, dass ich immer noch nicht besonders gut schlafe. Es wird aber besser: Die meisten Dinge, die einen zermür ben, können auch eine mildernde Wirkung entfalten, und Zeit ist da keine Ausnahme. Statt zu schlafen, ging ich unter die Dusche, ra sierte mich und machte mir dann eine Kanne Kaffee, die ich ganz austrank. In meiner Kanne hatten knapp zwei Tassen Platz, sie war – genau wie alles andere in meiner Wohnung – für eine Einzelperson gedacht. Um viertel nach sieben brach ich ins Büro auf. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand ausgehöhlt und anschließend mit Watte ausgestopft. Als würde ich eine Last mit mir herumschleppen, aber diese Last war ich selbst. Ich glaube, jeder – vielleicht mit Ausnahme derer, die immer in Bewegung sind oder ein Gefühl für perfektes Timing haben – weiß, wie es sich anfühlt, wenn man zu tanzen versucht, nach dem die Musik bereits aufgehört hat. Wenn einem klar wird, dass man in einem Labyrinth eine Sack gasse erwischt hat. Oder wenn man länger geblieben ist, als man willkommen war. Dieses Gefühl überfiel mich auch während meines letzten Jahres an der Highschool und dann wieder während meines letzten Jahres an der Uni. Damals wie jetzt war es Zeit, zu gehen. Wenn einen dieses Gefühl überkommt, kann
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man entweder zusehen, dass man so schnell wie möglich Land gewinnt, oder aber warten, bis es vor bei ist, und den Rest seines Lebens damit verbrin gen, den unerträglichen Schmerz des Verlusts in ein leichtes Unbehagen zu sublimieren. Ich entschied mich für Ersteres. »Ja, wen haben wir denn da!«, sagte Art, ohne von seiner Zeitung hochzublicken, als ich die Redaktion betrat. »Was machst du denn schon so früh hier?«, fragte ich. »Ich habe es dir schon mal erklärt: Alte Leute schlafen nicht mehr so gut.« Jedes Mal wenn ich an Art denke, sehe ich ihn wieder so vor mir wie an jenem Morgen: wie eine menschliche Hängematte an seinem Schreibtisch lümmelnd und die Times durchblätternd, die Füße auf dem Tisch, eine offene, dampfende Thermos kanne in Reichweite, eine brennende Zigarette im Mundwinkel. Er schob mit dem rechten Fuß einen Briefum schlag zu mir herüber. »Der lag heute Morgen unter der Tür. Ich habe mir gedacht, du liest das erst mal, bevor ich dich frage, wie es dir mit deinem Ewig keitswerk geht.« Ich dankte ihm mit einem Nicken, setzte mich und öffnete den Brief. Noch bevor ich die feine, zise lierte Schrift sah, wusste ich, von wem er war. Lieber Paul, wenn du das liest, hast du schon mit Tonu gesprochen,
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und wenn du mit ihm gesprochen hast, dann hat er dir auch schon gesagt, dass ich Lincoln verlassen habe. Während ich diesen Brief schreibe, wartet draußen ein Wagen mit den paar Habseligkeiten, die ich in mein neues Leben mitneh men werde. Seltsam, was wir in einer solchen Situation mitnehmen und was wir zurücklassen. Meine ganze Musik zum Beispiel, eine Sammlung, die ich im Lauf von fast zwanzig Jahren Stück für Stück zusammengetragen habe, liegt im Musiksaal von Talcott, wobei ich sie viel lieber dir überlassen würde als der Schule. Ich nehme an, ich werde, zumindest am Anfang, einiges von dem vermissen, was hier zurückbleibt. Im Grunde aber lasse ich wenig zurück, was mir etwas bedeutet, mit Ausnahme von dir, den zu treffen ich nicht geplant hatte und für den ich auf keinen Fall das hätte empfinden dürfen, was ich von Anfang an empfand. Ich hatte vorher eigentlich nie einen Gedanken an Nach rufe verschwendet. Ich hatte mir nie Gedanken über die Menschen gemacht, die diese Nachrufe schrieben, und als ich dann tat, was ich tat, kam ich nicht im Traum auf die Idee, dass ich den Verfasser von Jaans Nachruf kennen lernen könnte. Trotzdem geschah es. Und die ganze Zeit versuchte ich mich dazu zu zwingen, dich auf Abstand zu halten, konnte aber nicht anders, als dich – fast gegen meinen Wil len – immer mehr in mein Herz zu schließen. Vielleicht, weil ich deine offensichtliche Zuneigung – und sie war offensicht lich, Paul, und zwar von Anfang an – als ein Zeichen da für sah, dass das, was ich getan hatte, gar nicht so schlimm war. Du weißt ja, ich glaube an Zeichen, auch wenn ich den Verdacht habe, dass du das nicht tust. Unsere gemeinsame Zeit steckt wohl in diesem Satz. Ich sehe die Dinge, ebenso wie Tonu, in einem größeren Zusammenhang, und deswegen glaube ich ihm, was er mir
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– uns – über Jaan und die Tafel erzählt hat und was Jaan damit vorhatte. Er hat mir berichtet, dass du ihm nicht geglaubt hast, und ich sehe dich richtig vor mir, Paul, wie du mit ihm diskutierst und dabei taub bist für das, was er sagt, und dich weigerst, auch nur die Möglichkeit in Be tracht zu ziehen, dass die Welt vielschichtiger und geheim nisvoller sein könnte, als sie erscheint. Trotzdem kann ich dir daraus keinen Vorwurf machen. Ich bitte dich, mir das, was ich glaube, auch nicht zum Vorwurf zu machen. Was Jaan passiert ist, wäre sowieso passiert. Selbst wenn Tonu und er in deinen Augen gemeine Diebe waren und nicht die Hüter von etwas ganz Außergewöhnlichem, weißt du, dass ich Recht habe. Du weißt, dass er etwas vor ihnen versteckte. Menschen mit einer engstirnigen Moral würden jetzt wahrscheinlich sagen, dass das keine Rolle spielt, weil wir letztendlich nur für unser eigenes Handeln verantwortlich sind. Ich aber habe tatsächlich die Chance bekommen, für mehr als nur mich selbst die Verantwortung zu übernehmen, und ich bitte dich, zumindest zu versuchen, mich zu verstehen, und mir vielleicht irgendwann zu ver zeihen, bevor du mich vergisst. Ich möchte dich bloß noch um zwei Gefallen bitten. Ers tens wollte ich dir wirklich nicht nur schmeicheln, als ich dir sagte, dass mir deine Artikel im Carrier gefielen. Ich würde es als ein unglaublich großes Geschenk betrachten, wenn du deine Erinnerungen an die letzte Woche nieder schreiben und an die beiliegende Adresse schicken könntest. Ich möchte wissen, wie mein Handeln auf jemanden gewirkt hat, der nicht wie ich an die Richtigkeit dieses Handelns glaubt. Ich weiß, das ist sehr viel verlangt, und vielleicht erscheint dir meine Bitte eitel, aber ich hoffe, du wirst sie mir trotzdem erfüllen.
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Zweitens möchte ich dich um das Versprechen bitten, nicht nach mir zu suchen. Ich habe nicht vor, sehr lange an dem Ort zu bleiben, an den ich reisen werde, jedenfalls nicht so lange, dass du genügend Zeit hättest, der Spur zu folgen, die zu mir führt. Denn je näher du mir kommen würdest, umso mehr Sorgen müsste ich mir um deine Sicherheit ma chen. Einigen wir uns doch einfach darauf, dass wir beide glücklich sind, uns kennen gelernt zu haben, auch wenn die Zeit, die wir zusammen verbringen durften, nur sehr kurz (zu kurz!) war. Versprich mir, dass du es dabei belässt. Tonu war, wie er dir erzählt hat, nicht Tonu, und Jaan war nicht Jaan. Ich aber war wirklich Hannah Elizabeth Rowe. Während ich das hier schreibe, bin ich es noch, und ich werde mich immer mit großer Zuneigung an dich erin nern, wer auch immer ich bin und wohin ich auch gehe. In Liebe H. Dieser Brief war wirklich ein großer Trost, vielen Dank: Ich habe mitgeholfen, einen alten Mann zu töten. Ich habe es aus Gründen getan, die so erhaben und nobel sind, dass du sie bestimmt nicht verstehen kannst. Ich bin mit dem Mörder verschwunden. Aber du schreibst wirklich gut, und deswegen möchte ich, dass du alles für mich aufzeichnest, und ich werde immer gern an dich denken. Wie hätte ich darauf reagieren sollen? Aus falsch verstandener Ritterlichkeit oder richtig verstande nem schriftstellerischen Egoismus habe ich tatsäch lich diesen Bericht über unsere gemeinsame Woche geschrieben, von dem ich mich hiermit zu hundert Prozent distanziere. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, in der dritten Person von dir zu lesen. Für mich
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war es leichter, auf diese Weise über dich zu schrei ben und nachzudenken. Ehrlich gesagt hoffe ich au ßerdem, dass du es lesen und anschließend verbren nen wirst, aber wenn du es behalten möchtest, kann ich dich auch nicht daran hindern. Wahrscheinlich würde ich es nicht mal schaffen, dich aufzuspüren. Nun kann ich dir eigentlich nur noch erzählen, wie es ein paar von den Nebenfiguren – ein paar von den einfachen Sterblichen – dieser Geschichte ergangen ist, die ja im Wesentlichen die deine ist. Nachdem ich deinen Brief gelesen hatte, tippte ich Folgendes für Art. Es erschien in der nächsten Ausgabe des Carrier. Jaan Pühapäev, ein in Estland geborener Professor für baltische Geschichte der Universität von Wi ckenden, ist letzten Mittwoch in den frühen Mor genstunden in seinem Haus an der Orchard Street gestorben. Er hatte in Lincoln gelebt, seit er 1991 in die Vereinigten Staaten gekommen war. Über sein Alter sowie den genauen Zeitpunkt und die genaue Ursache seines Todes ist nichts bekannt. Er hinter lässt keine Angehörigen. Etwa eine halbe Minute, nachdem ich den Text in die Redaktionsdatei übertragen hatte, hörte ich Arts Schreibtischstuhl ächzen. »Das ist es?«, sagte er, während er zu meinem Schreibtisch herüberkam und mich fragend ansah. »Und dafür bist du tagelang zwischen hier und Wi ckenden hin und her gefahren und hast mit allen möglichen Leuten von der Polizei gesprochen?«
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»Es ist eben nichts dabei herausgekommen«, ant wortete ich. »Wie meinst du das, es ist nichts dabei herausge kommen? Was ist mit den Polizeiakten? Was ist mit, du weißt schon … was ist mit …« Er kniff die Augen zusammen und beschrieb mit den Händen Kreise, als versuchte er weitere Informationen herbeizuzaubern. »Du weißt darüber besser Bescheid als ich – was ist mit dem ganzen anderen Zeug?« »Leider existiert kein anderes Zeug. Nur eine Menge Spekulationen, aber nichts Handfestes. Nichts, womit ich hätte arbeiten können.« »Dann lass dir mit der Sache noch eine Woche Zeit. Wenn du möchtest, dass wir das jetzt so dru cken, in Ordnung, aber gib die Story nicht so einfach auf. Grab weiter. Für Leenie und deine Karriere, wenn schon nicht für diese Zeitung.« »Hör zu, ich glaube wirklich nicht, dass sich da noch irgendwas Neues ergeben wird. Ich würde lie ber ein anderes Thema in Angriff nehmen.« »Gibt es irgendetwas, worüber du mit mir reden möchtest?« »Wie zum Beispiel?« »Ich weiß nicht. Geht es dir darum, eine Quelle zu schützen?« Ich blickte zu ihm hoch. »Weißt du, meine Tochter hat mich auch immer so angesehen«, fuhr er fort. »Das war ihre Art, mir zu sagen, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern sollte.« Ich lächelte, aber Art verzog keine Miene. »Natür lich konnte ich sie nicht zwingen, meine Fragen zu beantworten, weil sie im Gegensatz zu dir nicht für mich gearbeitet hat.« Er nahm meinen Nachruf aus
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dem Drucker und warf ihn weg. »So, und wärst du jetzt bitte so freundlich, mir zu sagen, was eigent lich los ist und warum du nicht mehr vorzuweisen hast?« Ich blickte eine ganze Weile schweigend auf mei nen Schreibtisch hinunter. »Ich wünschte, ich könn te es dir erzählen, Art«, sagte ich schließlich leise. »Aber ich kann nicht, okay? Du kannst diesen Nach ruf drucken oder nicht, du kannst mich auch feuern, du kannst …« »Lieber Himmel, Paul, ich hab es dir doch schon mal gesagt: Kein Mensch will dich feuern. Ich bin nur … Weißt du, du hast jetzt so lange in dieser Sa che recherchiert, warst so überzeugt von deiner Story und hast es sogar geschafft, dass sich eine große Zei tung in Boston dafür interessiert, und nun ist es plötzlich, als hätte jemand das Programm abgeschal tet. Wenn du nicht mit mir darüber reden willst, in Ordnung, aber darf ich dir trotzdem sagen, wie ich darüber denke? Ich glaube, du machst einen Fehler.« Er hielt inne und musterte mich eindringlich, wobei er den Kopf zur Seite legte, als versuchte er, mein Gewicht zu schätzen. Ich zuckte die Achseln und blickte durchs Fenster auf den See hinaus. Wie immer war dort draußen absolut nichts los. Genau aus dem Grund verbrach ten viele Leute ihr Wochenende in Lincoln: weil hier nichts passierte. Ich mochte diese Stadt, sehr sogar, und in ein paar Jahren würde ich vielleicht sogar zurückkommen, um ihr einen Besuch abzustat ten. Jetzt aber hatte sie mir erst einmal den Laufpass gegeben. In einem hatte Tonu Recht gehabt:
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Manchmal muss man einfach eine Niederlage einste cken und zu neuen Ufern aufbrechen. Als ich Art sagte, dass ich kündigen wollte, reagier te er weder mit völliger Gelassenheit noch – was lei der sehr an meinem Ego kratzte – mit verzweifeltem Betteln und Brüllen. Zuerst sagte er gar nichts und ging zurück in sein Büro, während ich versuchte, mich an meinem Schreibtisch zu beschäftigen, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, ich würde bereits meine Sachen zusammenpacken. Gegen Mittag ging er dann mit mir hinüber ins Colonial, um dort etwas zu essen und bei der Gelegenheit das zu führen, was er »das Optionen-Gespräch« nannte. Er fragte mich, wo ich denn hin wolle, und da ich über diese Frage eigentlich noch gar nicht richtig nachgedacht hatte, antwortete ich, dass ich erst mal einen Zwischenstopp zu Hause in Brooklyn einlegen würde, bis ich mich entschieden hätte, was ich machen wolle. Wir über legten gemeinsam, wo ich mich bewerben und wohin er seine Briefe schicken sollte – er versprach mir ein Empfehlungsschreiben, »das dich in den Himmel katapultieren wird«. Er war einer von den wenigen Leuten, die mich nie in eine falsche Richtung gelei tet hatten, weil er nämlich gar nicht erst versuchte, mich zu leiten: Er nahm die Dinge, wie sie kamen, bildete sich sein eigenes Urteil darüber und reagierte dann auf das, was er tatsächlich vor sich hatte, und nicht auf das, was er vielleicht vor sich hätte haben sollen. Er versuchte nicht, mich zum Bleiben zu über reden, wofür ich ihm immer noch sehr dankbar bin. Nachdem wir unser Bier ausgetrunken hatten, fragte er mich, wann ich denn aufbrechen wolle.
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»Sobald ich alles in meinen Wagen packen kann, schätze ich.« »Kommst du am Freitagabend zu uns zum Es sen?«, fragte er und sah mich dabei aus den Augen winkeln an, als hätte er Angst, ich könnte Nein sa gen. »Donna würde sich bestimmt gern von dir ver abschieden.« »Natürlich. Großartig.« Und das war es auch – großartig, meine ich. Sie behandelten mich wie einen Sohn, sodass ich mich während des gesamten Abschiedsessens fühlte, als würde ich von zu Hause fortgehen. Donna weinte, Art und ich tranken zu viel, und Austell stellte die einzige Revolutionskriegsschlacht von Lincoln Common unter Zuhilfenahme von Olivenkernen und Maiskörnern nach. Die Tochter der Rolens, Dana, war aus New York herausgekommen, um das Wo chenende bei ihren Eltern zu verbringen, und ich sah, dass sie nicht nur das lange, schmale Gesicht ihres Vaters geerbt hatte, sondern auch seinen sanf ten Charme und seine unheimliche Fähigkeit, die guten Seiten anderer Menschen zu erkennen und zum Vorschein zu bringen. Das ist eine seltene und beneidenswerte Eigenschaft. Dana und ich sind ein paar Mal miteinander aus gegangen, seit ich nach Brooklyn zurückgekehrt bin. Ich wohne jetzt wieder in meinem alten Kinderzim mer. Von meinem Fenster habe ich denselben Aus blick auf struppiges Parkgras, ein Stück Straße und die Ecke der Grand Army Plaza, den ich schon als Junge hatte. Wenn ich auf meinem Bett liege und den Kopf im genau richtigen Winkel halte, kann ich
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die obere Ecke des Bogens sehen, genau wie es mein Onkel Sean konnte, als er in diesem Zimmer wohnte. Meine Mutter und ich sind ziemlich schnell wieder zu der Rollenverteilung zurückgekehrt, die wir hat ten, als ich sechzehn war. Sie fragt mich, wo ich hin gehe, und ich antworte mit einem Grunzen. Ich frage sie, was es zum Essen gibt, und sie antwortet mit einem Brummen. So ist es für uns beide am leichtes ten, und außerdem tröstet es uns irgendwie. Jedes Mal wenn ich nach Hause zurückkehre, habe ich nämlich das Gefühl, es könnte wirklich das letzte Mal sein, dass ich so richtig »nach Hause« zurück kehre. Meine Schwägerin Anna scheint zu befürchten, mein Neffe könnte sich allein schon dadurch, dass ich auf eine falsche Weise mit ihm spiele, irgendwie bei mir anstecken und ebenfalls zu einem Tauge nichts, Exjournalisten und Faulenzer heranwachsen. Falls dieser Junge es schafft, ohne größere Zusam menbrüche oder chemische Abhängigkeiten acht zehn zu werden, wird er absolut unausstehlich sein. Art und ich haben darüber gesprochen, wie mein nächster Schritt aussehen sollte, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass es damit besondere Eile hat. Vielleicht sind das jetzt meine letzten längeren Win terferien. Als ich noch in Wickenden studierte, hatte ich jedes Jahr über sechs Wochen Wintersemesterfe rien – ein Überbleibsel aus der Energiekrise der spä ten Siebzigerjahre, als die Studentenunterkünfte während des Winters leer und ungeheizt blieben –, und mir waren diese Ferien immer wie eine Art Win terschlaf vorgekommen: als würde ich mich vergra
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ben, um Energie für das kommende Semester zu sammeln. Aber vielleicht lag das nur daran, dass ich nicht genug tat. Jedenfalls werde ich mich nach Neu jahr bei Zeitungen in Hartford, Wickenden, Man chester und Concord vorstellen. Mal sehen, was da bei herauskommt. Ein paar Tage nachdem ich Lincoln verlassen hat te, rief ich bei Joe Jadid an, um zu hören, wie es ihm ergangen war. Alles war in etwa so abgelaufen, wie Tonu gesagt hatte: Er hatte Joe fotografiert, wie er in Jaans Haus eingebrochen war, und die Bilder Sickle geschickt, der sie seinerseits Joe geschickt hatte mit der Aufforderung, seine Ermittlungen einzustellen, es sei denn, er wolle seinen Job verlieren. Also tat er, wie ihm geheißen, und stellte sie ein. Joe bat Sal, seine Kumpels vom FBI nicht mehr zurückzurufen, und verbrachte den Rest der Zeit, die er vom Dienst suspendiert war, mehr oder weniger an seinen Schreibtisch gefesselt, fest entschlossen, nicht wie der in Schwierigkeiten zu geraten. In Anbetracht der Tatsache, dass er seine Probleme direkt auf mich zurückführen konnte, war er am Telefon überra schend freundlich zu mir. Ich erzählte ihm, dass ich mich gerade nach einem neuen Job umsähe, worauf hin er meinte, besser ich als er. Außerdem erklärte er mir, ich werde hoffentlich nicht bei einer Wickende ner Zeitung landen, weil er in diesem Fall nämlich nie wieder ein Wort mit mir sprechen werde. Joe erzählte seinem Onkel von den Fotos, und Anton erklärte sich sofort bereit, niemandem von Jaan und seinen eigenartigen Hobbys zu erzählen. Anton ließ Jaans Sicherheitsvorkehrungen – die Tür
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schlösser, das Plexiglasfenster und den Safe – an ei nem Wochenende ganz unauffällig entfernen, um das Büro für den neuen Dozenten vorzubereiten, der zu Beginn des Frühlingssemesters dort einziehen würde. Von den Büchern suchte er sich ein paar aus, die er mit nach Hause nahm, den Rest überließ er der Institutsbibliothek. Natürlich versprach er, sie alle zurückzugeben, falls doch noch ein Angehöriger auftauchen sollte. Wir telefonierten einmal kurz mit einander und verabschiedeten uns mit dem üblichen Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Diesmal könnte es sein, dass wir- und damit meine ich ›ich‹ – dieses Versprechen sogar halten werden. Vor ein paar Wochen konnte ich Lincoln nicht schnell genug verlassen. Nachdem ich nun aber eine gewisse Zeit in der Einsamkeit meines Kinderzim mers verbracht habe und es hauptsächlich NYI und Law & Order verdanke, dass ich ab und zu Menschen zu Gesicht bekomme (nun ja, abgesehen von Mom und Vic und Anna und Dana), erreiche ich jeden Tag so gegen vier Uhr nachmittags den Punkt, wo ich fast schon bereit wäre, mir den Arm abzukauen, wenn ich dann wieder nach Lincoln zurückkönnte. Dieses Ge fühl vergeht aber wieder. Es ist nur ein Gefühl, und ich lasse es vergehen.
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Der Koffer
D Gesegnet ist Er, der uns Menschen in so vielen
Metaphern erschienen ist.
D ST. EPHREM DER SYRER D
Als al-Idrisi Sizilien verließ, bestand die Samm lung in seiner Bibliothek aus fünfzehn Gegenstän den. Da ich nun aber ein paar Worte zu meiner eige nen Verteidigung sagen möchte, brauche ich einen sechzehnten Gegenstand. Nehmen wir mal an, es handelt sich um Omar Iblis’ gewebten Sack. Und gehen wir mal davon aus, dass ein Webstoff, abgese hen von ein paar besonders gut erhaltenen Ausnah men, keine tausend Jahre überdauert. Deswegen sagen wir doch einfach, der Sack stand für die Idee der Abreise, die Notwenigkeit der Flucht. Und statt eines Jutesacks nehmen wir als sechzehnten Gegens tand den Koffer, in den Tonu und ich die fünfzehn Gegenstände legten, die Jaan in seinem Haus aufbe wahrt hatte. Und fügen wir noch einen weiteren Ge genstand hinzu: ein Flugticket. Tonu hatte es mir gerade gezeigt, als Paul an die Tür klopfte. Ein Ti cket für einen Einfach-Flug erster Klasse und dazu einen Umschlag voller Geld, das dafür sorgen sollte, dass ich und mein Koffer sicher hier anlangten, ohne Probleme mit den Zollbeamten zu bekommen.
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Es fällt mir leichter, wenn ich das Folgende ins Passiv setze: Ich habe das Gefühl, dass der arme Paul von mir auf ziemlich üble Weise missbraucht wurde. Er war – und ist hoffentlich noch immer – ein sehr lieber Junge. Aber er war eben noch ein Junge, An fang zwanzig, also in einem Alter, in dem das Leben bei den meisten Leuten noch nicht einmal angefan gen hat, interessant zu werden, und die Persönlich keit sich erst langsam zu formen und zu vertiefen beginnt. Als wir uns kennen lernten, hatte ich gerade ei nem Mann dabei geholfen, einen anderen zu töten. Ich hatte einem faszinierenden Fremden geholfen, einen Mann zu töten, um den ich mich fast ein Jahr lang gekümmert hatte. Ich empfand Schuldgefühle, Scham und Angst, und genau in dieser Phase taucht praktisch aus dem Nichts dieser junge Mann vor meiner Tür auf und will mit mir reden, mir seine Aufmerksamkeit schenken. Das war sehr schmei chelhaft für mich. Er fand mich attraktiver, als ich mich selbst je gefunden hatte, und auch das war schmeichelhaft. Und ich brauchte die Aufmerksam keit. Ich brauchte jemanden, der mir das Gefühl gab, dass ich nicht verflucht und widerwärtig war. Ich brauchte die spirituelle Bestätigung, dass ich mich mit meinem Handeln nicht aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen hatte, aber ich empfand auch das körperliche Bedürfnis, in den Arm genom men und gehalten zu werden. Paul war für mich also eine Art Krücke, die mir für eine Weile Halt gab. Ich wünschte, ich könnte mich bei ihm entschuldigen, aber nach dem Ton seiner Aufzeichnungen zu urtei
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len, bezweifle ich, dass er mir zuhören würde. Au ßerdem wird er bestimmt darüber hinwegkommen. Wie der Dichter gesagt hat: Die Menschen sind von Zeit zu Zeit gestorben, und die Würmer haben sie verzehrt, aber nicht aus Liebe. Aus Gier dagegen schon: Diese Sünde hat eine Menge Leichen auf ihrem Konto. Ich habe zu Paul gesagt, dass Jaan ein einfaches Leben führte, was er auch tatsächlich tat, zumindest in dem Sinn, wie der Paul Tomm von vor einer Woche es verstanden hät te: Er trug schäbige Kleidung, fuhr eine Rostlaube und hatte ein kleines Haus voller Bücher und Staub und fast nichts anderem. Die einzige Person außer mir, mit der er Kontakt hatte, war ein Barmann in einer Kneipe ein paar Städte weiter, ein Barmann, dessen Habgier der von Jaan nicht nur gleichkam, sondern sie noch zusätzlich steigerte. Von Tonu weiß ich, dass dieser Edouard früher als Schmuggler in Russland tätig gewesen war, als die Sowjetunion noch existiert hatte, und nach Connecticut geholt worden war, um Jaan zu helfen, die Sammlung ins Land zu schaffen. Nachdem er festgestellt hatte, dass das Schmuggeln in einer Kleinstadt in Connecticut so viel leichter war als in Moskau, dehnte er natürlich seine Geschäfte aus und fing an, zusätzliche Aufträge von reichen Kunden anzunehmen. In der Kneipe redete er dauernd dar über, wie viel Geld er hatte und welche Möglichkei ten ihm das eröffnete. Das brachte Jaan zum Nach denken. Und zum Reden. Und während er nach dachte und redete, betrank er sich mit Edouard. Plötzlich waren Gerüchte im Umlauf: Die Smaragd
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tafel sei gefunden worden, und ihr Einfluss stehe zum Verkauf. Kollegen von Tonu stellten unter fal schem Namen Nachforschungen an. Sie gingen ei gentlich davon aus, dass es sich nur um den Beginn einer neuen Tafel-Modewelle handelte – dass mal wieder irgendein Scharlatan versuchte, reichen Nar ren Geld abzuknöpfen –, aber zu ihrer großen Über raschung stellten sie fest, dass die Gerüchte auf Jaan verwiesen. Was Tonu über Jaan und seine Pläne sagte, ent sprach also der Wahrheit, aber da es sich ja um Pläne handelte, die noch nicht realisiert waren, und Tonu sehr effektiv erledigte, was erledigt werden musste, bestand keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu überprüfen. Zumindest nicht für Paul. Aber Paul wurde auch nie von Jaan begrabscht. Bei Paul bedankte Jaan sich nicht für ein Essen, in dem er ihn lüstern angaffte. Paul fragte er nicht nach pornographischen Filmen. Und Paul musste auch nie einen ganzen Abend lang anzügliche Anspielungen und rüde Fragen zum Thema Geld und Prostitution über sich ergehen lassen. Natürlich rechtfertigt nichts davon Jaans Ermordung. Rückblickend denke ich mir, ich hätte mir vielleicht nicht so viel von ihm gefallen lassen sollen. Aber ab dem Moment, als ich das erste Mal an seine Tür klopfte, um mich vorzu stellen, und diesen weitabgewandten, tattrigen, Pfei fe rauchenden alten Mann in einem Haus, das nach Staub und Vernachlässigung roch, auf seinem durch hängenden Sofa sitzen sah, tat er mir Leid. Je gröber und vertraulicher er mit mir umging, desto größer wurde mein Mitleid. Ich nehme an, er erinnerte mich
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an meinen streitlustigen, unsympathischen Vater, der wegen seiner unerträglichen Art von seiner Familie verlassen worden war und dessen Herz gemahlenes Glas durch seine Adern pumpte, sooft er an sie dach te. An uns. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, jedenfalls betrachtete ich Jaans schmierige, lüs terne Art als eine Bürde, die ich tragen musste. Tonu öffnete mir die Augen dafür, dass diese Charakterzüge in Wirklichkeit auf Jaans Hang zum Bösen hindeuteten und wohl auch davon herrührten. Ich lernte so viel von Tonu. Er brachte mir so vieles über die Welt und die Menschen bei. Praktisches und Unpraktisches, Offensichtliches und Esoteri sches. Und ich merkte auch, dass er mich mochte. Nicht auf eine sexuelle Weise – in dieser Hinsicht schien er keinerlei Bedürfnisse mehr zu haben –, sondern weil er mich wegen meines Glaubens und meiner Intelligenz respektierte. Deswegen blieb ich eines Tages, nachdem ich für Jaan eingekauft hatte, noch ein wenig bei ihm, um einen Topf Suppe für ihn zu kochen, und aß einen Teller mit ihm, wäh rend er mir von irgendwelchen Mistkerlen erzählte, die er gekannt hatte, von Leuten, die unverdienter weise mehr Erfolg gehabt hatten als er, und davon, dass niemand außer ihm die Welt richtig verstand. Ich holte eine Flasche Brandy, und wir tranken sie zusammen aus. Das meiste trank er. Als er dann schläfrig wurde, kippte ich den Rest der Suppe hin ter dem Haus aus, spülte das Geschirr ab und ging. Das Einzige, was ich tun musste, war, die Tür offen zu lassen. Und das tat ich. Allerdings besaß ich wohl ein zu ausgeprägtes
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Schuldbewusstsein, denn ich konnte in der Nacht nicht schlafen und in der nächsten auch nicht. Ich versuchte, das Ganze zu vergessen, ich versuchte es mit Beten, aber es fraß weiter an mir. Deswegen ging ich in der Nacht schließlich zu dem öffentlichen Te lefon vor Arliss’s General Store und rief bei der Poli zei an. Nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass er tot war, ging ich wieder nach Hause und kroch in mein Bett. Die Welt um mich herum schloss sich wie ein Auge, und ich konnte endlich schlafen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich den Mund gehalten hätte. Tonu war der Meinung, dass Jaan die Tafel in seinem Büro in Wickenden aufbe wahrte, deswegen fuhr er dorthin, nachdem er in je ner Nacht in Lincoln fertig war. Aber wie sich her ausstellte, war die Tafel doch in Lincoln. Bis er zu rückkam, wurde es fast schon wieder hell, weshalb er es für ratsamer hielt, die nächste Nacht abzuwarten. Er hatte vor, sich in den frühen Morgenstunden noch einmal in Jaans Haus zu schleichen. Unglücklicher weise hatte ich da aber schon meinen anonymen An ruf getätigt, und die Polizei von Lincoln war bereits vor Ort. Joseph Jadids Annahme, dass der Streifen wagen spät nachts nicht mehr unterwegs war, erwies sich als falsch. Er fuhr immer wieder an Jaans Haus vorbei, noch dazu in sehr unregelmäßigen Abstän den. Manchmal stieg der Polizist aus und leuchtete mit einer Taschenlampe in die Räume. Tonu hätte gewartet, bis er das Interesse verloren hätte, aber dann fing Paul mit seinen Recherchen an, und im mer mehr Polizisten kamen ins Spiel, und irgend wann war dann klar – ironischerweise, wie Tonu sag
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te –, dass er nicht mehr die Zeit hatte zu warten. Deswegen steckten wir eine Ecke meiner Wohnung in Brand und riefen die Polizei an, und nachdem wir sie in meinem Haus hatten verschwinden sehen, gin gen wir in das von Jaan und vollendeten das Werk. Das einzig Unerwartete bei der ganzen Sache war für mich, dass Tonu merkte, wie zerrissen und schmerzerfüllt ich noch war. Er lud mich ein, als Hü terin der Tafel Jaans Platz einzunehmen. Er sagte, ich sei für diese Aufgabe geeignet, weil ich einerseits ein Gefühl für die Unantastbarkeit jedes Lebens auf dieser Erde hätte, andererseits aber auch begriffen hätte, dass es manchmal nötig sei, einem Leben ein Ende zu setzen. Er erklärte mir, dass mein Kummer davon zeuge, dass ich ein guter Mensch sei. Er eröff nete mir die Chance, an etwas teilzuhaben, das grö ßer ist als ich – die Chance, mein Leben einer Sache zu widmen, die wichtiger ist als alles, wovon ich je mals zu träumen gewagt hätte. So bin ich hier gelandet. Und »hier« ist eine Stadt, die Sie, lieber Leser, wahrscheinlich noch nie be sucht haben. Trotzdem sehe ich keinen Grund, ihren Namen zu nennen. Es könnte eigentlich überall auf der Welt sein. Hier werde ich auf Tonu warten. Und hier werde ich, wird Hannah Rowe, verschwinden. Sie ist nach einer anstrengenden Woche hergekom men. Sie ist hergekommen, um sich hier zu erholen und wieder zu sich selbst zu finden. Rund um die Stadt gibt es bewaldete Berge mit zahlreichen Wan derwegen. Vielleicht wird sie auf einem gewundenen Pfad hoch über einem Fluss einen Wanderunfall ha ben. Vielleicht wird sie zusammen mit einem seltsam
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aussehenden Mann eine Bar verlassen und niemals in ihr Hotel zurückkehren. Vielleicht wird sie auch einfach verschwinden, wie Menschen es manchmal tun. Ich beneide Huck Finn um das Vergnügen, an seiner eigenen Beerdigung teilzunehmen, aber ein sauberer Schnitt ist wirklich das Beste. Manchmal frage ich mich, ob ich das Richtige getan habe, und gelegentlich plagen mich Zweifel und Schuldgefüh le. Aber diese Gefühle vergehen wieder. Es sind nur Gefühle, und ich lasse sie vergehen.
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Dank
D Mein Dank gilt, wie bei jedem größeren Unterfan gen von mir, zuallererst Zachary, Sally, Benjamin und Rebecca Fasman, die mir alle Rettungsanker und Inspiration waren. Dieses Buch ruht auf den Schultern so vieler an derer Bücher, dass ich unmöglich jedes einzelne er wähnen kann. Als besonders inspirierende Quelle sei hier A Dictionary of Alchemical Imagery von Lyndy Ab raham genannt. Ich danke Peter Johnson, Sylvia Sellers-Garcia und John Williams, die mein Manuskript bereits in sehr frühen Fassungen gelesen und verbessert ha ben, außerdem Mildred Newmark, meiner scharf sichtigen Großtante, die einige ungeschickte Formu lierungen aufgespürt hat, die mir sonst sicher ent gangen wären. Dass sich dieses Buch nun in Ihren Händen be findet und nicht mehr als Manuskript ganz hinten in meiner Sockenschublade, ist hauptsächlich Jim Rut man und Meredith Blum zu verdanken. Würde ich auch nur ansatzweise zu erklären versuchen, was ihre Unterstützung mir bedeutet hat, dann würde diese Danksagung viel zu lang und sentimental ausfallen.
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Deswegen fasse ich mich kurz: Jim bin ich zutiefst dankbar für seine Offenheit und Anständigkeit, Me redith für ihre redaktionelle Sensibilität und beiden für ihren Enthusiasmus, ihr Vertrauen, ihren Fleiß und ihren Esprit. Danke auch an alle bei Penguin, und zwar auf beiden Seiten des großen Teichs: Ann Godoff und Simon Prosser; Sophie Fels, Liza Darnton und Juliet te Mitchell; Bruce Giffords und Maureen Sugden. Ich hätte mir vonseiten meines Verlages keine besse re Betreuung und Unterstützung wünschen können. In Moskau gab mir die Moscow Times bereits ein Zuhause, als ich längst noch keines verdient hatte. Mein Dank und mein tiefer Respekt gilt dem ganzen überaus fähigen Team, insbesondere Lynn Berry, Sunny Bosco und Joy Ziegeweid. Ebenfalls in Moskau hatte ich das unschätzbare Glück, Jeffrey Tayler kennen zu lernen, der mir so vieles über Russland erzählte, was mir andernfalls verborgen geblieben wäre. Seine Großzügigkeit, Herzlichkeit und Neugier, aber auch sein Mut und sein Humor werden mir, solange ich schreibe und reise, stets ein Vorbild sein. Abschließend noch eine kleine Nachricht an mein zukünftiges Ich: Wenn dir dein Sohn, zwei Monate nachdem er ein Mädchen kennen gelernt hat, mit teilt, dass er mit dem Mädchen und ihrem Bruder, ihren Eltern und ihren sämtlichen Cousins, Cousi nen, Tanten und Onkel auf einer kleinen Insel leben will, wo es weder Strom noch fließendes Wasser noch eine Fluchtmöglichkeit gibt, dann gerate nicht in Panik. Es könnte durchaus gut gehen. Vielen Dank
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an George und Paula Krimsky, die dafür gesorgt ha ben, dass es tatsächlich gut ging, und mir darüber hinaus zahllose andere kleine und große Freundlich keiten erwiesen haben. Vor allem aber danke ich ih nen dafür, dass sie eine so außergewöhnliche Toch ter großgezogen haben, ohne die ich weder den Weg nach Russland gefunden noch dieses Buch geschrie ben hätte. Die Bibliothek des Alchemisten ist für Alissa. Und ich auch.
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