Klappentext Das Glück meint es nicht gut mit Clark Kent. Zuerst befördern seine leichtsinnig eingesetzten Superkräfte s...
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Klappentext Das Glück meint es nicht gut mit Clark Kent. Zuerst befördern seine leichtsinnig eingesetzten Superkräfte seinen Vater ins Krankenhaus und den Traktor in die Werkstatt, dann zeigt ihm Lana. in die er heimlich verliebt ist. die kalte Schulter. Als er kurz darauf auch noch mit anhören muss, in welchen Geldnöten seine Eltern durch sein Ungeschick stecken, hat der zukünftige Superman genug. Um niemandem mehr zur Last zu fallen, verlässt er Smallville und brennt nach Metropolis durch. Die erste Begegnung mit der Großstadt fällt jedoch wenig glanzvoll aus. Am Busbahnhof wird er um ein Haar ausgeraubt – doch ein Mädchen namens Luna rettet ihn und stellt ihn daraufhin ihren Freunden, einer Clique junger Ausreißer, vor... Während in Smallville alle verzweifelt nach ihm suchen, lernt Clark das Leben auf den Straßen von Metropolis kennen und wird an der Seite seiner neuen Freundin in ein betrügerisches Komplott verwickelt, an dessen Spitze niemand Geringeres als der Vater seines besten Freundes Lex die Fäden zieht...
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Diana G. Gallagher
Die Bedrohung Aus dem Amerikanischen von Antje Göring
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2003 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – Runaway Smallville and all related characters, names and elements are trademarks of DC Comics © 2003. All Rights Reserved. Translation Copyright © 2003 DC Comics. Das Buch »Smallville – Die Bedrohung« entstand parallel zur TV-Serie Smallville, ausgestrahlt bei RTL. © 2003 Warner Bros. Television © RTL Television 2003, vermarktet durch RTL Enterprises GmbH
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH. Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Ralf Schmitz Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-3266-X Besuchen Sie unsere Homepage www.vgs.de
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Für Mom und Dad; für meine Redakteure Steve Korté und Rich Thomas; für Amanda, David und Mike
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PROLOG HOCH ÜBER DEM LICHTERMEER von Metropolis hing wie ein schiefes Lächeln der sichelförmige Mond am Himmel. In seinem fahlen Lichtschein saß ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt eine weibliche Gestalt auf dem Dach eines düsteren, leer stehenden Gebäudes. Das Mädchen saß im Schneidersitz vor einer weißen Kerze und mischte ein Kartenspiel. Langsam legte sie die Karten im Quadrat aus. Eine rot getigerte Katze marschierte zielstrebig darüber hinweg, die Karten gerieten unter ihren Pfoten in Unordnung. »Hey, Rover, lass das!«, rief das Mädchen lachend. »Ich versuche hier, die Zukunft vorauszusagen, okay?« Sie schnappte sich die Katze und hob sie auf den Schoß, wo sie sich zufrieden schnurrend unter dem schwarzen Webpelzmantel ihrer Besitzerin zusammenrollte. Das Mädchen widmete sich wieder ihren Karten. Es handelte sich nicht um normale Spielkarten mit Herz, Karo, Pik und Kreuz, sondern um solche mit kunstvollen Abbildungen von Schwertern, Kelchen, Türmen und verschiedenen anderen mittelalterlich anmutenden Motiven. Sie strich sich eine blonde Locke aus den Augen, legte die letzten vier Karten in einer gerade Reihe neben die anderen und studierte sie aufmerksam. Die Tür zum Dach öffnete sich knarrend, und ein Junge kam heraus. »Hey!«, rief er und winkte. »Selber hey, Skunk!«, gab das Mädchen grinsend zurück. »Unten gibt es was zu essen«, entgegnete Skunk. »Aber du solltest dich beeilen. Die Truppe ist ziemlich hungrig.« »Die Truppe ist immer hungrig. Gibt es wieder eine von deinen berühmten Pizzaspezialitäten?« Das Mädchen zog die Nase kraus, als Skunk nickte. »Leg mir einfach ein Stück zur Seite, ich komme gleich runter.« 6
»Was sagen denn die Karten Schönes voraus?«, fragte Skunk. »Vielleicht ein bisschen Geld in naher Zukunft? Das könnten wir gut gebrauchen!« Das Mädchen blickte konzentriert auf die Karten und runzelte die Stirn. »Leider nicht, aber es ist ein Neuer im Anmarsch.« »Ach ja? Ist er cool?« Die Stirn des Mädchens glättete sich, als sie eine weitere Karte aufnahm. Der Bube der Schwerter. Ein junger Mann mit breiten Schultern und dunklem Haar, der sein Schwert – das Symbol für das Element Luft – kampfbereit hielt. Die Karte stand für einen hoffnungsvollen, abenteuerlustigen Menschen, der anderen half, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Für einen Helden. Dies war die allgemeine Bedeutung der Karte. Jetzt waren genauere Informationen gefragt. Das blonde Mädchen starrte die Karte an, bis sie vor ihrem Blick verschwamm und die Abbildung darauf nach ein, zwei Sekunden nicht mehr zu erkennen war. Stattdessen sah sie eine Gestalt vor sich, die langsam deutlicher wurde. Es war ein etwa gleichaltriger Junge, um die sechzehn, groß, mit dunklem Haar. Das Mädchen konnte zwar sein Gesicht nicht erkennen, aber sie glaubte sofort zu wissen, von welcher Art er war – als könne sie ihm mitten ins Herz sehen. Ein schönes Gefühl. Aber da war noch etwas, aus dem sie nicht so recht schlau wurde. Der Junge war irgendwie anders. Etwas ganz Besonderes. Langsam verblich die Vision. Das Mädchen sah über die Schulter zu Skunk. »Ziemlich cool«, bestätigte sie lächelnd.
1 »CLARK, DU VERPASST DEN SCHULBUS!«, rief Martha Kent aus der Küche. 7
»Morgen, Mom!« Clark kam polternd die Treppe herunter. »Mach dir keine Gedanken um den Bus! Wenn ich ihn verpasse, laufe ich eben zur Schule.« Er lächelte seine Mutter an, ging an den Kühlschrank und suchte sich etwas zum Frühstück. »Clark, auch wenn du mit hundert Kilometern pro Stunde zur Schule rasen kannst, solltest du dich hin und wieder mal im Bus sehen lassen.« Martha bedachte Clark mit einem viel sagenden Blick. Sie machte sich ständig Sorgen, dass irgendjemand von seinen »besonderen Fähigkeiten« erfahren könnte, wie sie es nannte. Dennoch ging sie jetzt nicht weiter auf das Thema ein. Stattdessen hastete sie in der Küche hin und her und machte einen etwas zerstreuten Eindruck. »Da wir gerade vom Zuspätkommen reden«, bemerkte Clark, während er den alten Toaster dazu zu bewegen versuchte, ein paar gefrorene Waffeln aufzutauen, »solltest du nicht schon längst bei den Luthors sein?« Clarks Mutter war die Assistentin von Lionel Luthor, einem der reichsten Männer des Landes, der obendrein der Vater von Clarks Freund Lex war. »Das sollte ich tatsächlich«, antwortete Martha. »Aber ich habe vergessen, dass heute Morgen wieder eine Rückzahlungsrate für unseren Kredit fällig ist, und dein Vater ist zu den Dixons gefahren, um ihnen auszuhelfen, solange ihr Traktor in der Werkstatt ist. Das kann den ganzen Tag dauern.« Sie seufzte. »Die Bank duldet keine Verspätung bei den Zahlungen, also muss ich wohl schnell hinfahren.« »Ich habe eine Idee«, entgegnete Clark und schob den Toaster beiseite. »Ich kann bei den Dixons vorbeigehen und Dad den Scheck bringen. Dann kann er damit zur Bank fahren, und du kommst nicht zu spät.« »Aber du schreibst doch heute Morgen eine wichtige Chemiearbeit, oder?«, wollte Martha wissen.
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Clark nickte kauend. »Hm-hm. Ich kann trotzdem schnell zu den Dixons flitzen, Dad den Scheck geben und dann zur Schule laufen.« »Bist du sicher, mein Schatz? Ich möchte wirklich nicht, dass du zu spät –« »Ganz sicher«, unterbrach Clark sie und gab ihr einen klebrigen Sirupkuss auf die Wange. »Mach dir keine Gedanken, Mom!« Clark war bester Laune, als er die Straße hinunterraste, die von der Farm der Kents zu den Dixons führte. Die kühle Herbstluft schlug ihm ins Gesicht, und alles ringsum sah für ihn aus, als bewege es sich in Zeitlupe. Er hatte fleißig für die Chemiearbeit gelernt und fühlte sich gut vorbereitet. Und er freute sich über die Gelegenheit, seiner Mom ein wenig unter die Arme greifen zu können, denn es war nicht leicht für sie, den Haushalt, Familie und ihren Job unter einen Hut zu kriegen. Clark ließ die Weiden des elterlichen Hofes rasch hinter sich, und schon tauchten links und rechts der Straße die großen Kornfelder der Dixons auf. Nun waren es nur noch ein paar Kilometer bis zum Haupthaus, wo er wahrscheinlich auf seinen Vater treffen würde. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Er dachte an die bevorstehende Halloween-Party – er wusste, dass Lana Lang, in die er für alle Zeiten verschossen war, als Scarlett O’Hara hingehen wollte, aber was seine eigene Verkleidung anging, war er sich noch nicht sicher. Als Rhett Butler zu gehen wäre vermutlich viel zu auffällig... Clark war so in seine Gedanken vertieft, dass er den Traktor seines Vaters, der aus dem Kornfeld in die Straße bog, erst wahrnahm, als es zu spät war.
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2 »DAD!«, RIEF CLARK. »Dad, bist du okay?« Zuerst hatte er nach dem heftigen Zusammenstoß angenommen, gegen einen Baum geprallt zu sein, obwohl es am Rand des Kornfeldes gar keine Bäume gab. Doch eine Sekunde später, als er von der unbefestigten Straße aufstand, musste er entsetzt feststellen, dass er mit dem Traktor kollidiert war. Das gute Stück war vorne eingedrückt wie eine Ziehharmonika, und sein Vater lag einige Meter weiter reglos auf dem Boden. »Dad!« Clark ging neben ihm in die Knie. »Dad, bitte wach auf...« Er kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg, konzentrierte sich und untersuchte seinen Vater rasch mit Hilfe seines Röntgenblicks, der zu den Fähigkeiten zählte, die er erst kürzlich entdeckt hatte. Keine Kopfverletzungen – Gott sei Dank! –, aber Jonathans Schlüsselbein war gebrochen, wodurch seine Schulter merkwürdig verbogen aussah. »Clark...«, stöhnte Jonathan. »Mein Sohn, geht es dir gut?« Das war typisch für ihn. Er war selbst verletzt, machte sich aber Sorgen um jemanden, dem Pistolenkugeln, Zusammenstöße mit Traktoren oder dergleichen nichts anhaben konnten. »Mir geht es gut«, versicherte Clark und gab sich alle Mühe, seine Besorgnis zu verbergen, »aber dich muss ich wohl ins Krankenhaus bringen.« »Clark!«, rief Martha Kent und eilte über den Krankenhauskorridor auf ihn zu. »Wo ist dein Vater? Geht es ihm gut?« Clark nickte nervös. Ihm war ganz schrecklich zu Mute gewesen, als er seine Mutter anrufen und sie bitten musste, ins Krankenhaus zu kommen. In diesem Augenblick ging eine Tür auf, und der Arzt winkte sie ins Zimmer. Jonathan lag im Bett. Sein Arm steckte in einer Schlinge, und er hatte schlimme Blutergüsse im Gesicht. 10
»Hallo Schatz«, begrüßte Jonathan seine Frau benommen. »Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut.« Martha sah den Arzt fragend an. »Das stimmt, wenn Sie unter ›gut‹ ein gebrochenes Schlüsselbein, einen ausgekugelten Arm und einen Bandscheibenschaden im Bereich der Lendenwirbelsäule verstehen«, erklärte der Arzt. »Ich würde sagen, es wird Ihnen demnächst wieder gut gehen. Frühestens in einer Woche, bei strenger Bettruhe. Es hätte aber viel schlimmer kommen können. Wie, sagten Sie, ist es passiert, Mister Kent?« »Ich... Ich bin mit irgendwas zusammengestoßen«, erklärte Jonathan zögernd. Clark ließ von Schuldgefühlen überwältigt den Kopf hängen. Martha sah von ihrem Mann zu ihrem Sohn. Sie spürte, dass es zu diesem Unfall mehr zu sagen gab, als die beiden in diesem Augenblick preisgeben konnten. Der Arzt runzelte die Stirn. »Nun, ich werde nach einer Weile noch einmal nach Ihnen sehen. Wenn Ihr Zustand stabil bleibt, lassen wir Sie heute Abend nach Hause.« Sobald er aus dem Zimmer gegangen war, erklärte Clark seiner Mutter, was passiert war. »Es tut mir furchtbar Leid, Dad«, sagte er. »Ich war viel zu schnell, und ich habe dich nicht kommen sehen...« »Es ist nicht deine Schuld, mein Sohn«, erwiderte Jonathan, den der bekümmerte Gesichtsausdruck von Clark viel mehr schmerzte als seine Verletzungen. »Mir war die Fälligkeit der Rate eingefallen, und ich wollte schnell nach Hause. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen!« Er streckte seine unversehrte Hand aus und tätschelte Clarks Arm. »Ich bin okay. Geh zur Schule. Wir sehen uns zum Abendessen.« Clark machte sich widerstrebend auf den Weg, nachdem Martha ihn regelrecht zur Tür hinausgeschoben hatte. Clark erreichte die Schule kurz vor der Mittagspause. Der Erste, der ihm über den Weg lief, war Terrance Reynolds, der 11
Direktor der High School von Smallville, den die Schüler bereits praktisch seit seinem Amtsantritt heimlich »Terrance den Schrecklichen« nannten. Unglücklicherweise bemerkte er Clark sofort. »Clark Kent!«, rief er mit ernster Miene und winkte Clark zu sich. Schweigend gingen sie den Korridor zu seinem Büro hinunter. »Sie sind zu spät, Mister Kent«, stellte der Direktor fest und schloss die Tür hinter sich. »Schon wieder.« »Mister Reynolds, ich kann das erklären...« »Die Chemiearbeit, die Sie verpasst haben, spielt eine große Rolle für die Gesamtnote, aber wie man an Ihrer Verspätung sieht, ist Ihnen das wohl nicht sonderlich wichtig!« »Mister Reynolds...«, versuchte Clark einzuwenden, aber der Direktor hob abwehrend die Hand. »Ich bin nicht an Ausreden interessiert, Mister Kent. Sie haben mir in der Vergangenheit schon zu viele aufgetischt, und ehrlich gesagt sind sie nicht besonders einfallsreich.« Reynolds setzte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete Clark mit gewohnt strenger Miene. »Meiner Meinung nach kann man Sie nur dazu bringen, die Schule ernst zu nehmen und Ihr Potenzial auszuschöpfen, wenn man Ihnen bei Bedarf saftige Strafen aufbrummt. Also werden Sie einen Monat lang täglich nach der Schule ein Weilchen nachsitzen. Und wenn ich noch ein Wort höre, lasse ich mir noch mehr einfallen!« »Aber...!« Clark riss entsetzt die Augen auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Reynolds hatte es auf Clark abgesehen, seit er Direktor an der Smallville High geworden war. Und zwar von dem Augenblick an, als er herausgefunden hatte, dass Clark mit Lex befreundet war, den Reynolds von allen Schülern an der Excelsior Prep am wenigsten hatte leiden können. Er war Direktor dieser exklusiven Privatschule gewesen, bis er Lex hinauszuwerfen versucht und Lionel Luthor dafür gesorgt hatte, dass er unverzüglich gefeuert wurde. Dennoch würde der 12
Direktor doch gewiss auf die Stimme der Vernunft hören, wenn er erfuhr, was Clarks Vater zugestoßen war. Das Problem war bloß, zu ihm durchzudringen, und es sah nicht so aus, als würde Clark dies gelingen. »Gut, Mister Kent, dann streichen wir für Sie auch die Aktivitäten außerhalb des Stundenplans. Dazu gehört natürlich die Halloween-Party nächste Woche.« »Mister Reynolds, ich...«, setzte Clark erneut an, aber es war zwecklos. »Und«, fuhr der Direktor fort und holte zu einem letzten vernichtenden Schlag aus, »Sie bekommen in diesem Semester eine Fünf in Chemie. Ich schlage vor, Sie verschwinden jetzt, Mister Kent, falls Sie nicht auch noch von der Schule verwiesen werden wollen. Wegtreten!« Clark verließ niedergeschlagen Mister Reynolds Büro. Ist ja großartig!, dachte er. Heute geht aber auch alles schief, was nur schief gehen kann!
3 DER RESTLICHE NACHMITTAG zog in verschwommenen Bildern an Clark vorbei. Jetzt hatte er das Gefühl, derjenige zu sein, der alles im Zeitlupentempo tat. während die Welt ringsum sich normal bewegte. Er wünschte, sein bester Freund Pete Ross wäre zu Hause. Aber Petes Tante war erkrankt, und Pete war mit seinen Eltern nach Grandville gefahren, um ihr für eine Woche zur Seite zu stehen, bis es ihr besser ging. Pete und Clark waren schon seit Kindertagen befreundet, und Pete war abgesehen von den Kents der Einzige, der über Clarks Geheimnis Bescheid wusste, über seine Fähigkeiten und über das, was im Keller der Kents versteckt war. Clark seufzte. Wie gern hätte er jemandem, der ihn verstand, von seinem Tag erzählt. Lex hatte bestimmt jede Menge zu tun. 13
Er war älter als Clark und der Erbe eines milliardenschweren Unternehmens, daher hatte er für solche Dinge bestimmt keine Zeit. Chloe Sullivan war ebenfalls eine enge Freundin, aber mit ihr hatte Clark kürzlich eine peinliche Beinaheverabredung gehabt, und seitdem war ihr Verhältnis ein wenig angespannt. Blieb noch Lana Lang. Clarks Stimmung besserte sich ein wenig, als er sich auf den Weg zum Talon machte, dem Café, in dem Lana als Geschäftsführerin arbeitete. Clark und Lana verband eine tiefe Freundschaft, obwohl die Sache ziemlich kompliziert war. Er war sehr verliebt in sie, aber es war nie etwas daraus geworden, da sie lange Jahre mit Whitney Fordman zusammen gewesen war. Nachdem Whitney zu den Marines gegangen war und Lana gemerkt hatte, dass sie mit einer Fernbeziehung nicht zurechtkam, waren sie und Clark bereits so gut befreundet gewesen, dass sie sich einfach nicht dazu in der Lage sahen, das nächste Level in Angriff zu nehmen. Einer der Gründe dafür lag auf der Hand. Lana hatte sich bei Clark schon oft darüber beschwert, dass er ihr das Gefühl gebe, etwas vor ihr zu verbergen. Und damit hatte sie ganz Recht. Clark wusste, er würde ihr niemals die ganze Wahrheit über sich sagen können. Doch dank der Intensität ihrer Freundschaft gelang es ihnen, auch dieses Hindernis zu überwinden, und Lana war für Clark zu einer engen Vertrauten geworden. Lana würde diesem Tag nur durch Zuhören etwas von seinem Schrecken nehmen. Im Talon war wie an fast jedem Nachmittag eine Menge los. Lana hatte den Laden mit großer Hingabe – und mit Lex’ Hilfe – von einem abbruchreifen Gebäude in einen beliebten Treffpunkt verwandelt. Sie hoffte, dass das Haus irgendwann wieder in seinem alten Glanz als Kino erstrahlen würde, so wie zu der Zeit, als ihre Eltern sich dort vor Jahren kennen gelernt hatten. Sie waren durch den Meteoritenschauer ums Leben gekommen, der auf Smallville niederging, als Lana noch klein 14
gewesen war, daher setzte sie alles daran, ihr Andenken auf jede erdenkliche Weise zu ehren. »Hallo«, grüßte Clark und nahm am Tresen Platz. Lana wandte sich von der Cappuccino-Maschine ab. »Hey, Clark. Wie geht’s?« »Also, ich habe einen ziemlich interessanten Tag hinter mir.« Er seufzte. »Ich könnte jetzt wirklich einen Freund gebrauchen.« Er sah sie hoffnungsvoll an. Bestimmt würde Lana sich Zeit für ihn nehmen, wie sie es immer tat. Ihre Antwort traf ihn völlig unvorbereitet. »Dann... solltest du vielleicht mit Lex reden.« Clark traute seinen Ohren nicht. »Was...? Stimmt irgendwas nicht, Lana?« Lana stellte den Kaffeefilter ab. »Hör mal«, begann sie, »ich weiß, das kommt jetzt aus heiterem Himmel für dich, aber ich habe viel über uns nachgedacht. Über unsere Freundschaft oder unsere Beziehung, wie auch immer du das nennen willst.« Sie versuchte zu lächeln, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, aber es gelang ihr nicht. »Siehst du, das ist genau das Problem. Ich weiß gar nicht, was wir sind. Ich dachte immer, wir sind Freunde, aber dann hast du mir gesagt, dass... also, dass du etwas für mich empfindest.« Sie musste an den Tag denken, als Clark ins Talon gekommen war und ihr erklärte, dass sie mehr als nur eine Freundin für ihn sei und sie leidenschaftlich geküsst hatte. Sie war überrascht, wie lebhaft sie sich daran erinnerte und wie sehr die Sache sie immer noch aus dem Gleichgewicht brachte. Mühsam konzentrierte sie sich wieder auf das, was sie sagen wollte. »Als Nächstes kamst du mit dem Vorschlag, wir sollten einfach wieder nur gute Freunde sein. Aber du kannst dich nicht einfach um hundertachtzig Grad drehen und erwarten, dass alles wieder so ist wie vorher.« Lana atmete tief durch. Erst vor einer Woche hatte Chloe sie ganz offen gefragt, ob sie Clark irgendwie aus dem Weg gehe. Lana selbst war dies erst zu Bewusstsein gekommen, als Chloe 15
sie darauf angesprochen hatte, warum sie nie mitkam, wenn einer aus ihrer kleinen, eingeschworenen Clique vorschlug, ins Kino oder zu einem Football-Spiel in der Schule zu gehen. »Ich glaube nicht, dass du auf Pete sauer bist«, hatte Chloe gesagt, »also geht es entweder um mich oder um Clark. Raus damit!« Natürlich war nicht Chloe das Problem. Als Lana darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie Clark unbewusst aus dem Weg zu gehen begonnen hatte, weil sie die Gefühle verwirrten, die sie für Clark hegte und er für sie. Chloe hatte sie gedrängt, mit Clark darüber zu reden. »Egal, was du empfindest, du kannst nicht davor weglaufen«, hatte sie gesagt. »Und er auch nicht. Dieses Gespräch ist schon lange überfällig, und wenn du endlich mit der Sprache herausrückst, wird Clark auch ehrlich zu dir sein.« Darauf hatte Lana gehofft – dass Clark ihr offenbaren würde, was er wirklich und wahrhaftig für sie empfand. Sie wollte unbedingt wissen, ob sie nur eine Freundin für ihn war oder mehr. Zwar hatte sie sich im Lauf der Zeit an das ewige Hin und Her gewöhnt, doch dann hatte er ihr ein Zeichen gegeben, das sie völlig in Verwirrung stürzte. Vielleicht würde ihr Clark, wenn sie das Thema offen zur Sprache brachte, endlich erklären, warum er sich so rätselhaft aufführte und warum er sie so nah an sich heranließ nur um sie im nächsten Moment wieder von sich wegzustoßen. Aber nun, da sie ausgesprochen hatte, was sie dachte, sah es nicht so aus, als wollte Clark überhaupt irgendwas sagen. Er saß einfach nur da und machte ein total schockiertes und verletztes Gesicht. Lana hatte gewusst, dass dieses Gespräch vielleicht für sie beide schmerzlich sein würde, aber sie hatte sich geschworen, alles zu sagen, was sie loswerden musste. »Clark, was ich zu sagen versuche, ist... Ich bin einfach nicht sicher, ob ich im Augenblick eine gute Freundin für dich sein kann. Ich glaube, ich brauche etwas Zeit, weil ich darüber 16
nachdenken muss, was wir einander bedeuten. Und ich glaube, das solltest du auch tun.« Kaum hatte Lana diese Worte ausgesprochen, hätte sie am liebsten alles wieder zurückgenommen. Clark setzte die Sache offenbar viel mehr zu, als sie angenommen hatte. Sie konnte seine Traurigkeit praktisch spüren. »Also gut«, sagte er leise. »Wenn du es so siehst.« Er stand auf und ging rasch zur Tür. »Clark, warte...« »Bedienung!«, rief jemand von einem der Tische. »Könnten Sie uns bitte noch Kaffee bringen?«
4 WÄHREND MARTHA KENT den Salat verteilte, fiel ihr auf, wie schweigsam ihr Mann und ihr Sohn am Esstisch saßen. Sie waren zwar keine Blutsverwandten, aber in diesem Augenblick ähnelten sie einander mehr, als ihnen bewusst war. Beide hatten den gleichen ernsten Gesichtsausdruck und starrten trübe ins Nichts. Clark bedachte seinen Vater mit einem traurigen Blick, dann sah er wieder fort. Einen Moment später schaute Jonathan seinen Sohn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber rasch wieder zu. Schließlich brach Martha das Schweigen. »Clark, mach dir über die Fünf in Chemie keine Gedanken! Dein Vater spricht morgen mit Mister Reynolds und erklärt ihm, was passiert ist. Er wird bestimmt Verständnis haben, dann kannst du die Arbeit nachholen.« »Ich weiß«, entgegnete Clark leise. Martha setzte sich und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mein Schatz, ist heute noch etwas vorgefallen? Möchtest du darüber sprechen?« Aber Clark schüttelte nur den Kopf. Jonathan sah Martha, die hilflos mit den Schultern zuckte, mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich bin bald wieder fit, 17
mein Sohn«, versuchte Jonathan Clark zu trösten. »Wirklich, du wirst sehen, ich bin in null Komma nichts wieder wie neu!« Clark sah seinen Vater an, dann senkte er den Blick. Auf seinem Teller türmten sich Makkaroni mit Käse, die seine Mutter selbst gemacht hatte. Nach so einem Tag, hatte sie gesagt, brauche man ein richtig gutes Essen als Trostpflaster. Es war eins von Clarks Lieblingsgerichten, und normalerweise wäre er vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen, aber an diesem Abend bekam er keinen Bissen hinunter. Um die Atmosphäre aufzulockern, erzählte Martha von der Arbeit – über den Bau einer neuen Chemiefabrik von LuthorCorp in Metropolis und die Probleme beim Fortgang des Projekts. Clark gab sich Mühe, ihr zuzuhören, aber als sein Vater beim Griff nach dem Salzstreuer vor Schmerz zusammenzuckte, brachen erneut entsetzliche Schuldgefühle über ihn herein. Als das Essen endlich vorbei war, verzog er sich rasch in die Scheune. Über Smallville funkelten Tausende von Sternen, aber Clark sah sie gar nicht. Geistesabwesend starrte er aus dem Scheunentor. Er war oben auf dem Heuboden, den sein Vater ihm teilweise zur Verfügung gestellt hatte. Clark hatte hier seinen Schreibtisch, seine Stereoanlage, seine Bücher, doch vor allem war er ungestört. Es war ein guter Ort zum Nachdenken. Normalerweise betrachtete er, wenn er sich in die Scheune zurückzog, durch sein Teleskop die Sterne, erledigte seine Hausaufgaben oder saß mit Lana zusammen, die manchmal zur Farm der Kents geritten kam. Aber an diesem Abend kauerte Clark ganz allein auf dem Sofa und dachte darüber nach, ob dieser Tag der schlimmste seines Lebens gewesen war oder nur einer unter den miesesten fünf. Mal sehen, grübelte er, als Erstes habe ich meinen Dad verletzt und den Traktor demoliert. Ich habe die Chemiearbeit 18
verpasst, die ich in einer Minute erledigen und mit Leichtigkeit hätte schaffen können, und eine Fünf als Zeugnisnote für das Semester kassiert. Und schließlich... Clark hielt inne. Der Tiefpunkt des Tages war vermutlich sein Erlebnis im Talon gewesen. Warum heute?, fragte er sich. Warum musste Lana mir ausgerechnet heute sagen, dass sie nicht mehr mit mir befreundet sein will? Es fiel ihm schwer, sich ein Leben ohne Lana vorzustellen. Sicher, er hatte immer noch Pete, Lex und Chloe, aber Lana war etwas Besonderes. Clark empfand mehr für sie als für jeden anderen Menschen, der ihm einfiel. Sie konnten sich Dinge erzählen, die sie niemand anderem anvertrauten. Nun, viele Dinge jedenfalls. Es gab etwas, das Clark Lana nie würde sagen können. Und manches, was er ihr schon gesagt hatte, hätte er besser nie ausgesprochen. Clark wünschte sich wohl schon zum tausendsten Mal eine Möglichkeit, die ganze Geschichte aus seinem Gedächtnis zu löschen. Aber stattdessen spielte er sie in der Erinnerung noch einmal durch. Alles hatte ganz unschuldig angefangen, als Clark einen Ring gekauft hatte. Sein Vater hatte zwar erklärt, dass sie sich eine solche Ausgabe nicht leisten konnten, doch Clark hatte seine gesamten Ersparnisse darauf verwendet, den goldenen, mit einem Rubin besetzten Ring zu erstehen. Allerdings hatte es sich bei dem Stein nicht um einen Rubin gehandelt, wie sich später herausstellte, sondern um einen roten Meteoriten. Meteoriten waren in Smallville keine Seltenheit, hatte doch vierzehn Jahre zuvor ein ganzer Schauer die Stadt verwüstet. Der Meteoritenhagel hatte Lanas Eltern getötet, Lex einen kahlen Kopf beschert... und mich hierher gebracht, dachte Clark. Das Wissen, irgendwie in diese schreckliche Katastrophe verwickelt gewesen zu sein, lastete schwer auf seinen Schultern. 19
Die grünen Meteoriten waren nicht nur eine schmerzliche Erinnerung an diese Ereignisse, sie hatten auch eine verheerende Wirkung auf Clark. Wenn er in ihre Nähe kam, verschwanden seine Stärke, seine Schnelligkeit und alle anderen Fähigkeiten, und die Qualen, die er dabei litt, waren unerträglich. Er spürte dann, wie ihm auf schreckliche Weise ganz langsam die Lebenskraft ausgesaugt wurde. Die roten Meteoriten hatten jedoch eine ganz andere Wirkung auf ihn. Clark erinnerte sich noch gut an den Energiestoß, den er verspürt hatte, als er sich den Ring an den Finger steckte. Plötzlich fühlte er sich selbstsicherer und lebendiger als je zuvor. Aber dieses großartige Gefühl hatte sich rasch in etwas Gefährliches verwandelt, und nach ein paar Tagen war er komplett aus dem Ruder gelaufen, hatte seine Kräfte in der Öffentlichkeit eingesetzt und dabei Menschen Schaden zugefügt. Bevor die Ereignisse jedoch völlig außer Kontrolle geraten waren, hatte es noch diesen einen Nachmittag gegeben, an dem er ganz entspannt ins Talon marschiert war und Lana eröffnet hatte, was er ihr schon seit einer Ewigkeit sagen wollte. Dann – und er konnte immer noch nicht glauben, dass er das wirklich getan hatte – hatte er sie leidenschaftlich geküsst, auf eine Weise, die ihr klargemacht hatte, dass er viel mehr wollte, als nur mit ihr befreundet sein. Danach war alles total schief gelaufen. Clark hatte sich Lex’ Ferrari geliehen, um Lana auszuführen, doch dann hatte er das Ganze verdorben, indem er ein anderes Mädchen anmachte. Und dann... Es reicht! Clark zwang sich, nicht weiter zu denken. Der Tag damals war definitiv keiner seiner besten gewesen. Aber ob er den heutigen an Horror geschlagen hatte...? Clark bemühte sich, an etwas zu denken, das ihn aus seiner trüben Stimmung herausreißen würde, und lächelte, als ihm 20
eine Kindheitserinnerung in den Sinn kam. Als er noch klein war, hatte ihm seine Mutter nach einem schlechten Tag immer einen großen Teller Erdnussbutter-Kekse – die mochte er am liebsten – und ein Glas Milch hingestellt. »Das sind Zauberkekse«, hatte sie erklärt und ihm das Haar zerzaust. »Wenn du ein paar davon isst, vergisst du alles, was dir Kummer bereitet.« Dann hatte sie ihm zugezwinkert und dabei zugesehen, wie er zufrieden die Kekse verputzte. Hey, was damals funktioniert hat, klappt heute vielleicht auch noch! Clark schaltete das Licht in der Scheune aus und ging zurück zum Haus. Von draußen sah er durch das offene Küchenfenster seine Eltern, seinen Vater mit dem Arm in der Schlinge am Tisch, seine Mutter neben ihm. Er wollte gerade hineingehen, als Martha sagte: »Jonathan, bitte, hör endlich auf, dir diese Rechnungen anzusehen...« Etwas in ihrer Stimme ließ Clark innehalten. Sie klang nicht verärgert, eher flehend. Er wollte nicht lauschen, aber manchmal erzählten ihm seine Eltern nur, es sei alles in Ordnung – auch wenn dem gar nicht so war –, damit er sich keine Sorgen machte. Nun wollte er wissen, was wirklich los war. Als er sich neben der Tür versteckte, damit seine Eltern ihn nicht bemerkten, hörte er seinen Vater deprimiert seufzen. »Martha, ich kann nicht aufhören, die Rechnungen anzusehen oder über sie nachzudenken.« »Du hattest einen anstrengenden Tag, Jonathan«, entgegnete Martha. »Du solltest dich lieber ausruhen...« »Das kann ich mir nicht erlauben«, widersprach Jonathan. »Diese Rechnungen hier waren schon schlimm genug, aber jetzt brauchen wir auch noch einen neuen Traktor. Der wird uns Tausende kosten...«
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»Ich weiß, aber wir werden das schon irgendwie schaffen«, tröstete Martha ihn. »Wir hatten auch früher schon mal Probleme, und wir haben immer eine Lösung gefunden.« Clark hielt die Luft an. Er wäre am liebsten gleich wieder in die Scheune gelaufen, so sehr plagte ihn sein Gewissen, weil er die Geldsorgen seiner Eltern mit dem demolierten Traktor, der nun ersetzt werden musste, noch verschlimmert hatte. Aber er blieb an der Tür stehen und lauschte weiter. »Martha... da ist noch etwas«, sagte sein Vater. Seine Mutter schwieg eine Weile. »Ich weiß, worauf du hinauswillst, und... also, auch dafür werden wir eine Lösung finden! Immerhin haben wir ein bisschen Geld auf der hohen Kante...« »Wie du weißt, reicht das nicht annähernd für Schulgeld, Bücher und all die anderen Unkosten. Ich hatte gehofft, er bekommt mit seinen guten Noten ein Stipendium, aber nach dieser Fünf heute...« »Jonathan, du weißt, die wird wieder rückgängig gemacht, wenn wir Mister Reynolds erklären, was passiert ist...« Martha verstummte plötzlich. »Ja, ja, schon klar. Trotzdem... Martha, ich weiß einfach nicht, wie wir es schaffen sollen, Clark das College zu finanzieren.« Diese Worte bereiteten Clark viel schlimmere Schmerzen, als die Meteoriten es jemals vermocht hatten. So viele Sorgen... so viele Probleme, dachte er bekümmert. Und alles nur meinetwegen! Er konnte nicht länger zuhören. Leise schlich er um die Ecke und betrat das Haus durch die Vordertür, tappte die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer. Nun wusste er, was er zu tun hatte.
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5 SO IST ES FÜR SIE AM BESTEN, fand Clark. Er hatte kein Licht eingeschaltet und bewegte sich, so rasch und leise er konnte. Vom oberen Regal in seinem Schrank nahm er eine große Reisetasche, in die mehr hineinpasste als in den Rucksack, mit dem er jeden Tag zur Schule ging. Er stopfte ein paar Jeans und Flanellhemden hinein, dann trat er an seine Kommode, griff nach Pullis, T-Shirts, Socken und Unterwäsche und packte sie ebenfalls in die Tasche. Was noch? Er wusste nicht, was er außer Kleidung noch brauchen würde, also ging er in seinem Zimmer herum und sammelte wahllos ein paar Dinge ein – einige seiner LieblingsCDs, seinen Discman und das Buch, das er für den Literaturunterricht las, Der Fänger im Roggen. Dann trat er an den Schreibtisch. Stifte? Notizbuch? Seine alten BaseballKarten? Clark hielt inne und atmete tief durch. Nur die Ruhe!, ermahnte er sich, denn er war drauf und dran, auszuflippen und die Tasche mit lauter unnützen Sachen voll zu stopfen. Da fiel ihm etwas auf dem Schreibtisch ins Auge. Ein gerahmtes Foto, das ihn selbst im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern zeigte. Es war an dem Tag aufgenommen worden, als sein Vater im Garten einen Reifen zum Schaukeln aufgehängt hatte. Sie sahen alle drei sehr fröhlich aus. Eine glückliche Familie. Die Rührung, die Clark überkam, drohte seine Pläne zu durchkreuzen, und er schob das Foto mitsamt Rahmen hastig ganz tief in die Tasche. Dann griff er in eine der Schubladen seines Schreibtischs und kramte eine Schachtel hervor, in der er Dinge aufbewahrte, die ihm wichtig waren. Dinge, die er als Kind gesammelt hatte. Münzen, Angelhaken von den Ausflügen mit seinem Vater, eine Bärenklaue, die er im Wald gefunden hatte. Auch 23
Zeitungsartikel fand er, die er über die Jahre ausgeschnitten hatte. In manchen ging es um den Meteoritenschauer, der über Smallville niedergegangen war, andere handelten von Kids auf der ganzen Welt mit besonderen Fähigkeiten – einer konnte ein Auto hochstemmen, ein anderer auf glühenden Kohlen laufen. Eine Zeit lang hatte Clark nach solchen Geschichten gesucht, weil er hoffte, Menschen zu finden, die so waren wie er. Als er herausfand, dass es sich bloß um Zeitungsenten handelte, hatte er damit aufgehört. Clark schob alle Schnipsel beiseite und stieß auf ein kleines Bündel Geldscheine, das er rasch durchzählte. Dreihundertfünfzig Dollar, seine gesamten Ersparnisse. Das Geld für den Ring hatte man ihm zurückerstattet, nachdem Chloe herausgefunden hatte, dass für die Ringe statt echter Rubine nur Meteoritensplitter verwendet worden waren. Clark wusste nicht, ob es genug oder viel zu wenig für das war, was er vorhatte. Jetzt blieb ihm nur noch eines zu tun. Er riss ein Blatt aus seinem Notizblock und kritzelte eilig ein paar Zeilen. Clark war fast damit fertig, als er hörte, wie seine Eltern die Treppe hochkamen. Er erstarrte. Sie sollten nicht merken, dass er noch wach war, damit sie nicht hereinschauten, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Zum Glück hatte er das Licht nicht eingeschaltet. Einen Augenblick später hörte er erleichtert, wie seine Eltern ihre Schlafzimmertür schlossen. Er legte den Zettel aufs Kopfkissen, zog seine Jacke an und sah sich ein letztes Mal in seinem Zimmer um. Dann schlich er leise die Treppe hinunter und stahl sich aus dem Haus. Kaum vor der Tür, raste Clark wie der Blitz davon. Innerhalb von Sekunden hatte er das Farmgelände verlassen und rannte die Straße hinunter. Er war entschlossen, sich nicht umzudrehen. »Verdammter Wind!«, fluchte er leise und wischte sich mit dem Ärmel über seine brennenden Augen.
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Er konnte Zeit und – was noch wichtiger war – Geld sparen, so hatte er sich überlegt, wenn er den größten Teil der Strecke nach Metropolis lief. Es schien ihm sinnvoll, dort unterzutauchen. Metropolis war die nächstgelegene große Stadt, und weil er bereits einige Ausflüge mit der Schule dorthin unternommen hatte, war sie ihm nicht ganz fremd. Da es den Leuten jedoch ein wenig seltsam vorkommen mochte, einen Jungen mit Supergeschwindigkeit in die Stadt rasen zu sehen, wollte Clark bis zum Stadtrand laufen und dann einen Bus ins Zentrum nehmen. So würde er weniger Aufmerksamkeit erregen. Clark war noch nicht weit gekommen, als er, ohne zu wissen warum, unvermittelt stehen blieb. Er verschnaufte eine Weile und sah sich um. Es gab weder Schilder noch Gebäude, nichts war zu sehen außer der Straße und den endlosen Kornfeldern. Doch Clark wusste trotzdem, wo er sich befand. Dies war der Ort, an dem ihn seine Eltern nach dem Meteoritenschauer aufgelesen hatten. Clark hatte immer gewusst, dass die Kents ihn adoptiert hatten, aber abgesehen davon, dass er sich gelegentlich fragte, wer seine leiblichen Eltern waren, hatte er nie viel darüber nachgedacht. Da er Jonathan und Martha Kent sehr liebte, war ihm die Frage, wie es eigentlich zu der Adoption gekommen war, eigentlich nie in den Sinn gekommen. Zumindest nicht bis zu dem Tag vor ungefähr einem Jahr, als ihm sein Vater gezeigt hatte, was er im Keller versteckte. Auf den Feldern raschelten die Ähren in der sanften Brise, die über das Land strich, und hier und da blitzten die Halme im Mondlicht dunkelgrün auf. Den großen Krater, der bei dem Meteoritenschauer in das Feld gerissen worden war, gab es nicht mehr, er war längst beseitigt worden. Dennoch sah Clark ihn genau vor sich, da seine Eltern ihm die Geschichte seiner Entdeckung überaus anschaulich geschildert hatten.
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Die Kents waren mit dem Auto auf der Straße unterwegs gewesen, auf der Clark nun stand. Nach den Worten seiner Mutter hatte es so ausgesehen, als würde Feuer vom Himmel fallen, und überall ringsum gab es Explosionen. Clarks Vater war es in letzter Sekunde gelungen, einem Meteoriten auszuweichen, der direkt vor dem Truck aufschlug und die Straße aufriss. Im nächsten Augenblick war er mitten in das Kornfeld gerast. Das Auto überschlug sich, und als es liegen blieb, hingen Martha und Jonathan kopfüber in ihren Gurten und suchten sich gegenseitig nach Verletzungen ab. Dann blickten sie aus dem zertrümmerten Fenster des Trucks und sahen einen kleinen Jungen, der sie freundlich anlächelte. Er stand barfuß vor ihnen, dabei rauchte der Boden noch von der gewaltigen Hitze der Meteoriten. Und hinter ihm... Clark dachte an den Tag zurück, an dem sein Vater im Keller die Segeltuchplane von dem Raumschiff gezogen hatte. Es hatte ihn damals mächtig geschockt, als Jonathan verkündete: »Mit diesem Ding bist du zu uns gekommen, mein Sohn. Damals, als der Meteoritenhagel runterkam.« Wann immer Clark von jenem Tag an über seine Adoption oder seine leiblichen Eltern nachdachte, lautete die Frage für ihn nicht mehr »Wer bin ich?«, sondern »Was bin ich?«. Aber das ist jetzt vorbei, dachte er. Er wollte irgendwohin, wo niemand wusste, dass er anders war. An einen Ort, an dem er keine Unfälle verursachte und einfach ganz normal sein konnte. »Normal!«, flüsterte Clark. »Einfach nur... normal.« Entschlossen setzte er sich wieder in Bewegung.
6 »METROPOLIS! ENDHALTESTELLE!« 26
Die Durchsage des Busfahrers riss Clark aus dem Schlummer, und es dauerte eine Weile, bis er sich an die vergangene Nacht erinnerte. Er hatte die Bushaltestelle am Stadtrand gefunden, und irgendwann in den frühen Morgenstunden war der Bus auch gekommen. Nach seinem anstrengenden Laufpensum war Clark eingeschlafen, kaum dass er sich einen Platz gesucht hatte. Nun schwang er sich verschlafen die Reisetasche über die Schulter und stieg mit den anderen Fahrgästen aus dem Bus – hinein ins große Durcheinander. Auf dem hell erleuchteten Busbahnhof hasteten hunderte von Menschen in alle Richtungen. Jeder schien dringend irgendwohin zu müssen, und alle hatten es offenbar sehr eilig. Clark beobachtete neidisch, wie andere Leute aus dem Bus von Freunden oder ihren Eltern abgeholt und herzlich begrüßt wurden. Er war wahrhaftig allein, wurde Clark in diesem Augenblick bewusst, zum ersten Mal in seinem Leben getrennt von allem, was er kannte, und allen, die er liebte. Er blieb eine Weile neben dem Bus stehen, sah sich um und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. »Da bist du ja!«, hörte er jemanden rufen. Ein hübsches Mädchen in seinem Alter mit blondem lockigem Haar und einem strahlenden Lächeln im Gesicht kam auf ihn zu. Wer auch immer sie abholen wollte, musste direkt hinter Clark stehen. Aber nein, das Mädchen blieb vor ihm stehen und umarmte ihn herzlich. »Es ist so lange her, du erkennst mich bestimmt gar nicht mehr«, sagte sie. »Ähm, ich glaube, das ist eine Verwechslung...« Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen. »Da hinten lauern drei Typen, die es auf deine Tasche abgesehen haben. Sie beobachten dich«, flüsterte sie ihm zu. »Spiel mit, bis wir draußen sind. Vertrau mir!«
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Clark hatte keine Angst – solange die Typen nicht mit Meteoriten bewaffnet waren, stellten sie keine Bedrohung für ihn dar. Aber er wollte keine Aufmerksamkeit erregen, und innerhalb der ersten fünf Minuten in Metropolis ein paar Taschendiebe zu verprügeln, würde man wirklich nicht als gelungenen Start in den Tag bezeichnen können. »Das stimmt!«, sagte er fröhlich und erwiderte die Umarmung. »Du bist wirklich kaum wiederzuerkennen!« »Komm mit!«, forderte das Mädchen ihn auf und hakte sich bei ihm unter. »Die anderen warten schon auf uns!«, sagte sie laut und führte Clark zum Ausgang. Als er sich umdrehte, entdeckte er tatsächlich drei Ganoven, die ihnen nachschauten. Sie sahen aus wie Schlangen, denen der Vogel davonflattert, der auf ihrem Speiseplan gestanden hat. »Tut mir Leid, wenn ich dich überrumpelt habe«, sagte das Mädchen, als sie den Busbahnhof verließen. »Aber ich habe diese Typen schon in Aktion erlebt. Sie sind ziemlich übel. Sie suchen sich immer Jugendliche als Opfer, die gerade aus dem Bus gestiegen sind.« »Wow!«, machte Clark, der sich plötzlich sehr naiv vorkam. »Danke, dass du auf mich aufgepasst hast!« »Ich heiße Luna«, stellte sich das Mädchen vor und gab Clark die Hand. Clark schüttelte verwundert den Kopf. »Sorry, hast du gerade gesagt, du heißt Lana?« Das Mädchen lachte. »Nein, Luna. Also, eigentlich LuAnne, aber Luna gefällt mir besser. Es ist der Name der römischen Mondgöttin. Es bedeutet auch ›verrückt‹, aber lass dich davon nicht einschüchtern!« Luna hatte ein warmes, offenes Lächeln, und sie gefiel Clark auf Anhieb. »Ich bin Clark Kent«, sagte er. »Clark, hm? Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der Clark hieß«, entgegnete Luna.
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»Der Mädchenname meiner Mutter«, erklärte er. »Eine andere Bedeutung gibt es nicht. Außer vielleicht ›verwirrt‹ und ›hungrig‹.« Luna lachte. »Dann kommst du besser mit mir, damit du nicht von irgendeinem Kellner ausgenommen wirst!« Martha Kent sah auf die Uhr. Sie hatte nicht viel Zeit, um Frühstück für Clark und Jonathan zu machen, bevor sie ins Büro musste. Aber wenn sie es nicht tat, aßen ihr Sohn und ihr Mann wahrscheinlich kalte Makkaroni mit Käse, die sie mit Milch direkt aus der Flasche hinunterspülen würden. Martha begann lächelnd, in einer Schüssel ein paar Eier zu verquirlen. Sie hoffte, dass sie pünktlich zur Arbeit kam und der neue Tag Besseres auf Lager hatte als der vergangene. »Hey, was ist das denn?« Jonathan Kent kam langsam in die Küche und gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange. »Eine Geschäftsfrau wie du hat keine Zeit für die Küche!« »Ich habe gedacht, mit dem Arm in der Schlinge würdest du die Omelettes kaum wenden können!« Sie half Jonathan, Platz zu nehmen. Seine steifen Bewegungen verrieten, dass er immer noch Schmerzen hatte. »Wie geht es dir?« »Gut«, antwortete er. »Es ist halb so wild. Abgesehen davon habe ich viel zu viel zu tun und kann ohnehin nicht im Bett bleiben.« »Jonathan Kent, wage es nicht! Clark kann sich um die Farmarbeit kümmern, wenn er aus der Schule kommt. Apropos... Clark! Frühstück!« Martha wartete darauf, das gewohnte »Komme schon, Mom!« ihres Sohnes zu hören, aber es kam nichts. Vielleicht war er noch unter der Dusche? Komisch, man hörte gar kein Wasser laufen... »Hast du Clark heute Morgen schon gesehen?«, fragte sie ihren Mann. Jonathan schüttelte den Kopf. Auch er fand es
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merkwürdig, dass sein Sohn noch nicht aus seinem Zimmer gekommen war. Clark verschläft eigentlich nie, dachte Martha und ging die Treppe hoch. Vor Clarks Tür blieb sie stehen und klopfte leise. »Clark? Schatz, bist du schon auf?« Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie langsam die Tür. Wie bei jedem anderen Sechzehnjährigen auch, war Clarks Zimmer immer ein wenig unordentlich. Aber an diesem Morgen sah es aus, als hätte es jemand mutwillig durchwühlt. Die Schranktür stand offen, alle Bügel waren auf eine Seite geschoben, auch die Schubladen der Kommode und des Schreibtischs waren aufgezogen. Nur das Bett war ordentlich gemacht, als hätte er gar nicht darin geschlafen. Und auf dem Kopfkissen lag ein Zettel. Liebe Mom, lieber Dad, bitte flippt nicht aus! Ich gehe für eine Weile fort, um Geld zu verdienen, damit ich euch nicht so zur Last falle. Wie ihr wisst, müsst ihr euch keine Sorgen um mich machen! Ich werde zusehen, dass ich nicht zu lange fortbleibe. Ich liebe euch sehr. Clark »Jonathan!«, rief Martha außer sich.
7 WÄHREND LUNA DIE SPEISEKARTE des FastfoodRestaurants studierte, für das sie sich entschieden hatten, musterte Clark Luna. Sie sah ein bisschen verwildert aus, war aber wirklich hübsch. Sie unterschied sich gründlich von Lana, Chloe oder allen anderen Mädchen, die Clark kannte. Ihre blonden Locken ringelten sich widerspenstig um ihren Kopf, die Augen hatte sie mit schwarzem Eyeliner umrahmt, 30
ansonsten gab es kein Make-up in ihrem Engelsgesicht. Dadurch wirkte sie irgendwie unschuldig, irgendwie aber auch nicht. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, der aussah, als wäre er aus Teddybärfell, ein weißes T-Shirt, pinkfarbene Schlaghosen aus Kord und schwarze Converse-Sneakers. Sie sah aus wie ein flüchtiges Bandenmitglied oder etwas in der Art. »Hm...«, grübelte sie. »Was kriege ich denn für einen Dollar und zehn Cent...« Clark griff in seine Reisetasche. »Ich habe Geld...« »Schscht!«, ermahnte ihn Luna. »So etwas solltest du in dieser Gegend nicht zu laut sagen, wenn du dein Geld behalten willst.« Clark beugte sich zu ihr vor und sprach leise weiter. »Bestell dir, was du willst«, sagte er. »Das geht auf mich.« »Heißt du etwa mit Nachnamen Luthor?«, fragte Luna und zog die Augenbrauen hoch. Clark musste grinsen. »Nein, aber ich habe genug, um uns ein ordentliches Frühstück bestellen zu können. Und abgesehen davon ist es ja wohl das Mindeste, was ich für dich tun kann, nachdem du mich am Busbahnhof gerettet hast.« Clark hatte selbst einen Riesenhunger, aber Luna aß, als hätte sie seit Tagen nichts zu essen bekommen. Zwei große Hamburger, eine große Portion Pommes, ein paar zusätzliche Pommes aus Clarks Tüte, sowie ein riesiger Erdbeer-Shake verschwanden in ihrem zierlichen Körper. Schließlich lehnte sie sich zufrieden zurück. »Puh!«, seufzte sie. »Danke, Clark! Weißt du eigentlich schon, wo du hier in Metropolis unterkommen willst?« »Eigentlich nicht«, gestand Clark. Genau genommen hatte er noch gar nicht darüber nachgedacht, was er nach seiner Ankunft in Metropolis anfangen wollte.
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»Du bist anscheinend Hals über Kopf von zu Hause weg«, bemerkte Luna. »Was haben dir deine Eltern denn angetan?« »Nichts«, antwortete Clark überrascht. »Meine Eltern sind klasse – sie haben mir noch nie einen Grund zum Abhauen gegeben.« »Warum bist du dann weggelaufen?«, wunderte sich Luna. Clark runzelte die Stirn und dachte über eine Antwort nach, aber bevor er etwas sagen konnte, beugte Luna sich vor und nahm zärtlich seine Hand. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie. »Du denkst, dass du ganz allein bist und niemand kapiert, was bei dir abgeht. Du hast dieses große schlimme Geheimnis und glaubst, niemand auf der Welt könnte dich verstehen.« »Ja«, nickte Clark und war überrascht, wie genau Luna seine Gefühle beschrieb, obwohl sie gar nicht wissen konnte, welches große Geheimnis er verbarg. Sie nickte. »Ich habe mich auch schon mal so gefühlt. Früher.« »Und was ist dann passiert?« »Jemand hat mich am Busbahnhof gerettet.« Sie lächelte. »Am besten kommst du mit zu mir. Metropolis kann ganz schön Furcht erregend sein, wenn man sich nicht auskennt und keine Ahnung hat, wem man vertrauen kann.« »Also...« Clark zögerte. Aber was gab es da schon groß zu überlegen. Viele Möglichkeiten hatte er nicht. Er lächelte Luna an. »Woher soll ich denn wissen, ob ich dir vertrauen kann?« »Vor langer Zeit, in einem früheren Leben, war ich bei den Pfadfindern. Ich weiß, ich weiß, ich sehe nicht gerade so aus, aber es ist wahr!«, gab sie zurück, und sie lachten beide. »Also gibt es nur ein Mittel, um dir zu zeigen, dass du mir absolut und hundertprozentig vertrauen kannst.« Sie hielt zwei Finger in die Luft. »Großes Pfadfinderehrenwort!« Wieder mussten sie beide lachen.
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»Ja, Mrs. Kent, ich rufe natürlich sofort an, wenn ich etwas von ihm höre. Machen Sie sich keine Sorgen! Es geht ihm bestimmt gut.« Als Lex auflegte, kam mit großen Schritten sein Vater herein. »War das Martha Kent?«, fragte Lionel, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Wo ist sie? Sie ist zu spät.« »Leider musst du heute auf deine Assistentin verzichten«, sagte Lex. »Bei den Kents herrscht große Aufregung. Anscheinend ist Clark letzte Nacht von zu Hause abgehauen.« Lionel wölbte überrascht die Augenbrauen. »Wirklich?«, staunte er. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Clark Kent hatte doch noch nie eine rebellische Ader.« Lionel ließ sich auf der großen Ledercouch in Lex’ Büro nieder. »Meiner Erfahrung nach sind unkompliziert wirkende Menschen oft viel... interessanter, als es den Anschein hat.« Lex gab keine Antwort. Als sein Vater nach einem Unfall vorübergehend erblindet war und bei ihm in der Luthor-Villa in Smallville gewohnt hatte, war seine Neugier in Bezug auf Clark, die Kents und die merkwürdigen Dinge geweckt worden, die sich manchmal in der Stadt ereigneten. Und Lex wollte die Neugier seines Vaters nicht unnötig schüren – einerseits, um Clark zu schützen, und andererseits, weil er, was seinen Freund anging, selbst genug Fragen hatte. Allein die Umstände ihrer ersten Begegnung waren ungewöhnlich genug gewesen. Lex war – wieder einmal – viel zu schnell gefahren, als plötzlich ein Reifen platzte und er die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte. Er hatte darauf nur noch mitbekommen, wie er einen Jungen anfuhr und von der Brücke stürzte. Dann hatte er das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich kam, stellte er keine Verletzungen an sich fest, und auch der Junge, den er angefahren hatte, Clark Kent, war offenbar unversehrt. Noch dazu hatte Clark Lex aus dem versunkenen Wagen befreit und ihn so vor dem Ertrinken bewahrt. Clark hatte später erklärt, sich mit einem Sprung zur 33
Seite rechtzeitig in Sicherheit gebracht zu haben. Aber Lex glaubte immer noch, dass er ihn voll erwischt hätte. Später, als man das Auto aus dem Fluss zog, hatte niemand erklären können, weshalb das Dach aussah wie der aufgerollte Deckel einer Sardinenbüchse. Die Frage, wie Clark es geschafft hatte, den Unfall zu überleben und ihn zu retten, ließ Lex keine Ruhe. Trotzdem versuchte er, nicht mehr daran zu denken, schließlich war Clark sein bester Freund in Smallville geworden – vielleicht sein erster wahrer Freund überhaupt. Er biederte sich nicht an, weil Lex reich war, und ließ ihn nicht spüren, dass die meisten Leute den Luthors misstrauten und sie nicht mochten, weil ihnen der Großteil der Betriebe in der Stadt gehörte. Nein, Clark schien Lex einfach zu mögen. Er sah ein wenig zu ihm auf wie zu einem großen Bruder. Und Lex, dessen Mutter tot und dessen Vater eiskalt und gelegentlich sogar gefährlich war, gefiel sich in dieser Rolle. Dennoch... »Macht dir irgendwas Sorgen, mein Sohn?«, wollte Lionel wissen. »Ich habe nur gerade über unsere Pläne für die neue Chemiefabrik nachgedacht«, log Lex und fragte sich, wohin Clark verschwunden sein mochte und warum. »Es kann sein, dass diese alten Gebäude im Zentrum unter Denkmalschutz stehen. Wenn ja, müssen wir einen anderen Standort für die Fabrik finden.« Lionel lachte. »Die Luthors machen Geschichte, Lex – für ihre Bewahrung sind wir nicht zuständig. Mach dir keine Gedanken! Ein paar alte Häuser werden dem Fortschritt nicht im Wege stehen!« Lionel klang ganz unbeschwert, aber etwas in seiner Stimme veranlasste Lex, sich zu fragen, was sein Vater im Schilde führte. 34
8 CLARK WAR NOCH NIE ZUVOR mit der Untergrundbahn gefahren, und er kam sich vor wie in einer anderen Welt. Es war unglaublich laut und hektisch, und die Bahn war sogar mitten am Tag rappelvoll. Clark und Luna standen so dicht aneinander gedrängt, dass Clark sich bei jedem anderen Mädchen unwohl gefühlt hätte, aber in Lunas Gegenwart fühlte er sich erstaunlich entspannt. Er hatte das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. An der Art, wie Clark sich umsah und alles und jeden bestaunte, war deutlich zu erkennen, dass er fremd in der Stadt war. In Smallville gab es viel Platz, und man konnte kilometerweit laufen, ohne jemandem zu begegnen. In Metropolis jedoch wimmelte es nur so von Menschen, und alle waren permanent in Bewegung. Es war der reinste Wahnsinn. Luna zupfte ihn am Ärmel. »Wir müssen aussteigen«, rief sie und lotste ihn auf den Bahnsteig. Während sie die U-Bahn-Station verließen und auf die Straße gelangten, dachte Clark, Luna könnte sich geirrt haben. Ringsum ragten düstere, alte Gebäude auf, manche baufällig, andere nicht weit davon entfernt. Einige waren komplett mit Brettern vernagelt, nirgendwo gab es Geschäfte, Supermärkte oder Cafés – rein gar nichts, was auf ein lebendiges Viertel hindeutete. Sie gingen ein paar Blocks und kamen zu einem fünfstöckigen Gebäude, das vor langer Zeit einmal ein prächtiges, schönes Stadthaus gewesen sein musste. Es hatte eine schwere Eingangstür aus Holz mit einem Buntglasfenster, von dem jedoch nur noch ein paar rote und blaue Bruchstücke übrig waren, die meisten Scheiben waren längst zerbrochen. Die Fenster des Hauses hatten kunstvoll verzierte Simse, aber auch sie bröckelten bereits. Zu seiner Zeit hatte das Haus bestimmt
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großartig ausgesehen, genau wie die anderen in der Straße. Jetzt jedoch machte keines von ihnen mehr Eindruck. »Da wären wir«, verkündete Luna und machte eine schwungvolle Handbewegung. »Das Hauptquartier meiner Truppe.« Clark sah sich um. »Wow!«, machte er. »Ich bin definitiv nicht mehr in Kansas.« »Also, genau genommen schon.« Luna lachte. »Aber ich weiß, was du meinst – das hier sieht wirklich nicht nach einem gemütlichen Zuhause aus. Aber es ist besser, als auf der Straße zu schlafen. Komm mit, ich zeige dir alles!« Als sie das Haus betraten, machte sie Clark auf die Löcher in der Vordertreppe aufmerksam. »Pass auf, wo du hintrittst!« Im Erdgeschoss gab es nur die Vorhalle und eine Küche mit einem alten Ofen, in dem schon lange kein Feuer mehr gebrannt hatte. Der zweite Stock war, Lunas Erklärung zufolge, eine einzige Rumpelkammer. Der frühere Bewohner des Hauses hatte dort alle alten, kaputten Möbel und jede Menge ausrangiertes Zeug eingelagert. »Wir haben nichts davon rausgeschmissen, weil die Bodendielen hier überall morsch sind«, sagte Luna und zeigte auf ein paar eingetretene Stellen. »Von uns hält sich sowieso niemand hier auf. Wir sind meistens im Wohnzimmer im dritten Stock.« Das Wohnzimmer machte auf Clark den Eindruck, als hausten dort Kids, die ohne Mutter aufgewachsen waren. In dem großen Raum herrschte ein beträchtliches Durcheinander. Überall lagen Schlafsäcke, Klamotten, Rucksäcke, CDs, Kerzen, ein verlassener Teddy, Hüllen von Schokoriegeln, Bücher und Papier herum, dazwischen ein Gettoblaster, nur der große Marmorkamin an der Wand war frei von Müll. Unter einer Wolldecke bewegte sich etwas, dann kam eine kleine rot gestreifte Katze darunter hervor. »Rover!«, rief Luna erfreut. »Komm zu Mami!« Das Kätzchen hielt schnurstracks
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auf Luna zu, die es hochhob und auf den Kopf küsste. »Sag hallo zu Clark!« Clark musste lachen. Noch nie hatte er eine Katze so laut schnurren hören. Behutsam kraulte er ihren Kopf, worauf sie mit einem leisen Miauen reagierte. »Sie mag dich«, sagte Luna. »Aber ›Rover‹ passt irgendwie nicht zu ihr, finde ich«, bemerkte Clark. »Na ja, ist auf jeden Fall besser als ›Muschi‹ oder ›Pussi‹ oder so«, entgegnete Luna grinsend. »Du kannst deine Sachen erst mal hier abstellen – wir machen später ein bisschen Platz für dich.« Im vierten Stock befand sich das einzige halbwegs funktionierende Badezimmer. Es gab dort zwar fließendes Wasser, allerdings nur kaltes. »Da haben wir aber Glück, dass noch nicht Winter ist, wie?«, meinte Clark und fragte sich, wie in diesem Haus überhaupt jemand leben konnte, doch da fiel ihm Lunas Bemerkung wieder ein. »Besser, als auf der Straße zu schlafen«, hatte sie gesagt. »Andere träumen davon, berühmt zu werden«, sagte Luna und zeigte auf die große Badewanne auf klauenartigen Füßen. »Ich träume davon, mal ein heißes Bad zu nehmen. Und jetzt zeige ich dir das Beste am ganzen Haus!« Sie stiegen zwei wackelige Treppen hoch und erreichten eine schwere Eisentür, die auf das Dach führte, und Clark sah sofort, was Luna so toll fand – die Aussicht auf Metropolis war einfach unglaublich. Unzählige Gebäude in allen möglichen Formen und Größen, Hubschrauber, die durch die Luft knatterten... Aus dieser Perspektive betrachtet wirkte die Stadt aufregend und voller Möglichkeiten. Clark lächelte. »Ich bin beeindruckt.« »Warte, bis du es in der Nacht siehst, wenn alles hell erleuchtet ist«, entgegnete Luna. »Die Aussicht ist wirklich wunderschön. Der da gefällt mir besonders!« Sie zeigte auf einen großen gläsernen Wolkenkratzer. Clark erkannte den 37
Firmensitz von LuthorCorp sofort. Seine Mutter begleitete Lionel Luthor dorthin, wenn er geschäftlich in Metropolis zu tun hatte. Wie aufregend, verwirrend und neu die Eindrücke seiner Reise bislang auch sein mochten, plötzlich bekam Clark gewaltiges Heimweh. Aus dem Augenwinkel sah Lana Lang, wie Lex Luthor das Talon betrat. Das selbstbewusste Gebaren, mit dem er hereinmarschierte, ließ keine Zweifel zu. Er war der Besitzer des Cafés und obendrein der Typ, dessen Vater die halbe Stadt gehörte. Lex schaute regelmäßig herein, um die Einnahmen abzuholen, aber an diesem Tag kam er nicht aus geschäftlichen Gründen. »Hast du was von Clark gehört?«, fragte Lana ihn sofort. »Nein«, antwortete Lex. »Und du?« Lana schüttelte den Kopf. »Seine Eltern haben mich heute Morgen angerufen und gefragt, ob ich etwas weiß. Zuerst konnte ich gar nicht glauben, dass er weggelaufen ist. Ich bin zur Schule gefahren und habe gedacht, er wird schon noch auftauchen, aber... Hast du eine Ahnung, wo er stecken könnte?« Lex schwang sich auf einen Barhocker vor der Theke. »Ich glaube, er ist gar nicht so weit weg. Metropolis ist die nächste große Stadt, man kommt leicht hin, und man kann dort ebenso leicht untertauchen. Eigentlich...« Er hielt inne und überlegte. »Ich habe geschäftlich in Metropolis zu tun. Ich wollte eigentlich erst nächste Woche hin, aber vielleicht sollte ich die Sache ein wenig vorverlegen.« Auf Lanas Gesicht erschien ein entschlossener Ausdruck. »Weißt du was? Ich hatte schon lange vor, meine Tante Nell in Metropolis zu besuchen«, sagte sie. »Vielleicht wäre jetzt ein günstiger Zeitpunkt dafür.«
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Lex lächelte. »Am schnellsten geht es mit dem Hubschrauber«, erklärte er und stand auf. »Wir geben Clark noch bis heute Abend Zeit – vielleicht nimmt er ja Vernunft an und kommt wieder nach Hause. Wenn nicht, schicke ich dir gleich morgen früh meinen Wagen.«
9 ES WURDE DUNKEL, und die Straße vor dem Fenster wirkte noch düsterer und unheimlicher als am Tag. Doch drinnen im Wohnzimmer zündete Luna zahlreiche Kerzen an, die den Raum mit warmem Lichtschein erfüllten. »Hallo Mondfrau!«, sagte eine Stimme in der Tür. »Was geht ab?« »Skunk!« Luna lächelte. »Komm, sag meinem neuen Freund Clark hallo.« Clark erschrak ein bisschen, als der Junge auf ihn zukam, um ihm die Hand zu schütteln. Er hatte einen stacheligen Irokesenschnitt, und das gebleichte Haar stand in starkem Kontrast zu seiner dunklen Haut. Seine heiteren mandelförmigen braunen Augen waren von einer gepiercten Augenbraue eingerahmt, die Ohren waren mehrfach durchstochen, den Mund hatte er gepierct, den er jetzt zu einem breiten Grinsen verzog. Er trug eine schwarze Lederjacke und ein T-Shirt, auf dem der Name einer Punkrock-Band prangte, mit Nieten besetzte Lederarmbänder und an sechs verschiedenen Stellen zerrissene Jeans. Der Junge sah total gefährlich aus, war jedoch offenbar ein so gutmütiger Kerl, dass Clark unwillkürlich dachte, dass man ein Buch wirklich nicht nach dem Umschlag beurteilen sollte. »Hallo, Neuer!«, rief Skunk und schüttelte Clark herzlich die Hand. »Willkommen bei der Truppe!« »Danke«, antwortete Clark und gab sich alle Mühe, nicht dauernd auf Skunks Piercings zu starren. 39
»Hast du heute Glück mit einem Job gehabt?«, fragte Luna. »Nö. Aber ein paar Touristen, die mich fotografieren wollten, haben mir fünf Dollar gegeben.« Skunk grinste. Einer nach dem anderen kehrten auch die anderen Kids zurück, die in dem heruntergekommenen Haus wohnten. Aubrey, ein rothaariger, sommersprossiger Junge aus Atlanta, der, wie Luna erklärte, aus einem Waisenhaus ausgerissen war. Und Margaret, die alle Mag nannten, und die mit ihrer blassen Haut, den hellblauen Augen und dem weißblonden Haar fast so auffallend war wie Skunk. Mag war unglaublich schüchtern, und niemand – außer vielleicht Aubrey, der ihr Freund geworden war – wusste, woher sie kam oder aus welchem Grund sie weggelaufen war. »Und ich, ich bin aus Miami, wie Luna«, erklärte Skunk, als die anderen ihre Schlafsäcke und Klamotten wegräumten, um Platz für Clark zu machen. »Meine Leute sind richtig altmodische Japaner, denen die Art der Selbstdarstellung ihres Sohnes nicht gefallen hat.« Sein Lachen klang alles andere als fröhlich. »Was ist mit dir, Neuer? Wie geht deine Geschichte?« »Solltet ihr euch nicht lieber ums Essen kümmern, statt eine Märchenstunde abzuhalten?«, knurrte jemand hinter ihnen. Clark drehte sich um. Im Türrahmen stand ein Junge, der alter wirkte als die anderen. Er war fast so groß wie Clark, trug ein schmutziges weißes T-Shirt und sah mager, aber dennoch kräftig aus. Auf dem Kopf trug er einen Bauarbeiterhelm. Mit seinen strahlend blauen Augen sah er zuerst Skunk, dann Clark an, schließlich blieb sein Blick an Luna hängen. »Schon wieder einen Streuner aufgelesen?«, fragte er beim Hereinkommen. Dann blieb er vor den anderen stehen, ohne sich zu ihnen zu gesellen. »Sean, das ist Clark«, erklärte Luna. Clark stand auf. »Hallo«, sagte er und streckte seine Hand aus. Sean ignorierte ihn.
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»Ich habe ihn am Busbahnhof getroffen«, fuhr Luna mit fester Stimme fort. »Er brauchte eine Unterkunft.« »Wir sind schon so viele hier und haben kaum genug Platz und Essen, Luna«, entgegnete Sean. »Ich werde mir einen Job suchen, wenn das dein Problem ist«, schaltete Clark sich ein. Diesmal nahm Sean ihn zur Kenntnis und sah ihn an. Die beiden taxierten einander. Sean schien zu der Sorte Menschen zu gehören, die andere gerne einschüchtert, und es gefiel ihm gar nicht, dass Clark sich nicht einschüchtern ließ. Clark erwiderte seinen Blick ebenso unschuldig wie beharrlich. Schließlich ergriff Sean das Wort. »Gute Idee! Wenn du bei uns leben willst, musst du etwas beitragen. Geld oder Essen, was immer du kriegen kannst. Wir kümmern uns alle abwechselnd um die Versorgung. Und...«, ergänzte er und bedachte Skunk mit einem vernichtenden Blick, »ich glaube, jetzt bist du an der Reihe, Skunk.« »Kein Problem«, antwortete Skunk und sprang auf. »Ziehen wir zusammen los, Neuer?« »Klar«, sagte Clark. Er wollte Luna zwar nicht mit Sean allein lassen, aber er spürte, dass es besser sein würde, ihm zumindest vorerst aus dem Weg zu gehen. Jonathan und Martha Kent saßen schweigend am Küchentisch. Der Kaffee, der vor ihnen stand, wurde kalt, ohne dass sie auch nur einen Schluck davon getrunken hatten. Es war ein langer, schrecklicher Tag gewesen. Clarks Brief hatte sie unwillkürlich in Panik versetzt. Ihr Sohn, von zu Hause weggelaufen? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Aber dann war ihnen ihr Gespräch vom Vorabend wieder eingefallen, und ihnen war klar geworden, dass Clark sie belauscht haben musste. Martha war angesichts dieser Erkenntnis in Tränen ausgebrochen, während Jonathans Schuldgefühle von einer viel dringlicheren Frage überdeckt wurden. 41
»Ich habe keine Ahnung, was wir jetzt tun sollen«, hatte er gesagt. »Was wir tun sollen? Was willst du damit sagen? Wir müssen die Polizei anrufen. Wir müssen ihn finden!« Martha war fast hysterisch geworden. Jonathan, dessen verletzter Arm immer noch schmerzte, hatte ihr die freie Hand auf die Schulter gelegt. »Natürlich müssen wir ihn finden. Aber...« »Was aber?« Jonathan war bekümmert in der Küche auf und ab marschiert, um seine Gedanken zu ordnen. »Sein ganzes Leben lang haben wir darauf geachtet, dass er nirgendwo aneckt, damit niemand etwas von seinen Fähigkeiten erfährt und auf die Idee kommt, ihn zu erforschen und Profit daraus zu schlagen, dass er etwas Besonderes ist«, hatte er schließlich erklärt. »Wenn wir den Sheriff anrufen, muss er das FBI informieren – Clark ist noch minderjährig. Was, wenn sie ihn finden und herausbekommen, wozu er fähig ist?« In Marthas Gesicht hatten sich, als ihr die Bedeutung von Jonathans Worten klar wurde, zuerst Kummer und dann Entsetzen abgezeichnet. »Wir könnten ihn für immer verlieren«, hatte Jonathan benommen gemurmelt. Sie hatten sich Zeit zum Nachdenken verschafft, indem sie zunächst sämtliche Freunde von Clark anriefen, um sich zu erkundigen, ob er irgendwo aufgetaucht war oder jemanden über seine Pläne informiert hatte. Doch jedes Mal hatte die Antwort nein gelautet. Darüber war der Vormittag vergangen, und Clarks Fehlen in der Schule war bestimmt bereits aufgefallen. »Ich weiß, dass er körperlich unverletzbar ist«, hatte Martha mit zitternder Stimme gesagt. »Und mir ist klar, dass wir ein Geheimnis zu bewahren haben. Aber im Augenblick ist er für mich nur ein sechzehnjähriger Junge irgendwo da draußen. 42
Und ich will ihn wieder hier zu Hause haben! Wohlbehalten! Bei uns!« Jonathan hatte mit besorgter Miene genickt, zum Telefon gegriffen und die Nummer des Sheriffs gewählt. »Ethan? Hier ist Jonathan Kent. Ich... Clark ist verschwunden.« Der Sheriff war zu ihnen gekommen, um mit ihnen über die möglichen Gründe für Clarks Verschwinden zu sprechen. Sie hatten ihm bis auf Clarks Beteiligung an Jonathans Unfall alles gesagt, was sie wussten. Dann war Ethan wieder gegangen, um eine Vermisstenmeldung herauszugeben und alle Flughäfen, Busbahnhöfe und Straßen der Region überprüfen zu lassen. Jonathan und Martha wollten selbst losziehen und nach ihrem Sohn suchen, aber der Sheriff hatte ihnen geraten, zu Hause zu bleiben, falls Clark anrief oder unversehens zurückkehrte. Nun war es Zeit fürs Abendessen, bei dem sie normalerweise immer zu dritt am Tisch saßen und einander berichteten, was sie tagsüber erlebt hatten. An diesem Abend saßen jedoch nur zwei unglückliche, bangende Menschen da, die in Schweigen verharrten.
10 CLARK LIEß SICH VON SKUNK durch die dunklen Straßen des Viertels führen. »Was ist los mit dem Typ?«, fragte Clark. »Habe ich etwas falsch gemacht?« »Sean ist nicht gerade von der freundlichsten Sorte. Mach dir keine Sorgen deshalb«, antwortete Skunk. »Ich ignoriere ihn meistens. Ich weiß kaum etwas über ihn. Er ist aus Gotham City und hat sich lange allein durchgeschlagen. Ich glaube, er hat sogar schon im Jugendknast gesessen. Aber er hat das einzige verlassene Gebäude in diesem Viertel ausfindig gemacht, das noch bewohnbar ist, und unseren Verein gewissermaßen gegründet, als er Aubrey am Busbahnhof auf43
gelesen hat. Also kann er kein schlechter Kerl sein... Da sind wir schon!« Sie blieben vor einem Münztelefon in der Nähe einer Pizzeria stehen. »Hast du Kleingeld?«, fragte Skunk. Clark fand ein paar Münzen in seiner Tasche, und schon wählte Skunk die Nummer, die am Fenster der Pizzeria stand. »Hallo, ich möchte eine Pizza bestellen, die ich gleich abholen komme«, sagte er. »Eine große hätte ich gern, mit Hack, Ananas, Zwiebeln und Sardellen. Ich bin in zehn Minuten da. Danke!« Clark verzog das Gesicht. »Ist das eure Standardbestellung?« »Nein, Kumpel, das ist der Trick bei der Sache«, erklärte Skunk. »Man bestellt eine Pizza, die sie niemand andrehen können – solche Zutaten will doch keiner auf seiner Pizza haben. Wenn sie nach einer halben Stunde noch nicht abgeholt wurde, können sie das Ding nur noch wegschmeißen. Da kommen wir ins Spiel.« Skunk deutete auf einen Müllcontainer an der Ecke neben der Pizzeria. Clark war drauf und dran, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass er liebend gerne für eine Pizza bezahlen würde. Schließlich war es schon schlimm genug, die ganzen widerwärtigen Zutaten zu bestellen, um das Ding anschließend aus den Küchenabfällen zu fischen, noch dazu handelte es sich dabei... nun, es war nicht fast Diebstahl, es war Diebstahl. Im nächsten Moment fiel ihm auf, dass er seinen Geldbeutel in der Reisetasche vergessen hatte, weil er sich von Sean und seiner schroffen Art aus dem Konzept hatte bringen lassen. Wenigstens konnte er darauf vertrauen, dass sein Geld bei Luna sicher aufgehoben war. »Skunk, das ist nicht richtig«, sagte Clark. »Ich laufe schnell noch mal zurück und hole mein Geld, dann kaufen wir...« »Kumpel, wenn du Geld hast, dann behalt es mal schön«, meinte Skunk. »Du findest vielleicht nicht sofort einen Job, und von uns hat keiner mehr als ein bisschen Kleingeld in der 44
Tasche. Mit diesem Pizza-Trick sammle ich natürlich keine Punkte für den Himmel, das ist mir schon klar, aber ich finde, wir müssen das bisschen Geld, das wir haben, für die wirklich wichtigen Dinge sparen, zum Beispiel für Medizin, falls jemand krank wird. Du verstehst das nicht, weil du neu bist, aber du wirst es schon einsehen!« Clark dachte über Skunks Äußerung nach. Ihm passte zwar nicht, was sie taten, aber er musste zugeben, dass Skunk Recht hatte – das Geld, das sie hatten, musste für den Notfall herhalten. »Okay, nur dieses eine Mal«, willigte Clark ein. »Danach bezahle ich. Entweder treiben wir Geld auf oder ich esse nichts.« »Gehungert haben wir schon oft genug, das kannst du mir glauben!« Skunk seufzte. »Aber ich respektiere deine Einstellung.« Sie versteckten sich in der Seitenstraße in der Nähe des Müllcontainers und warteten ab. Nach ungefähr einer halben Stunde kam, genau wie Skunk vorhergesagt hatte, ein Typ mit einem großen Müllbeutel in der einen Hand und einer Pizzaschachtel in der anderen aus dem Laden. Er warf den Beutel in den vollen Container und schleuderte die Schachtel hinterher. Sie flog jedoch über die Kante und rutschte hinter den riesigen Metallbehälter. »Nein!«, zischte Skunk. Sie warteten, bis der Typ weg war, dann liefen sie geduckt zu dem Müllcontainer. »Oh, Mann!«, stöhnte Skunk verzweifelt. Der Pizzakarton war in dem schmalen Spalt zwischen dem Container und der Mauer bis ganz nach unten gerutscht. »Kommst du dran?«, fragte Clark. Skunk versuchte seine Hand in den Spalt zu schieben. »Nein, ist zu weit unten!« »Dann lass uns den Container doch ein Stück zur Seite schieben.« 45
Skunk stand seufzend auf. »Kumpel, das Ding wiegt eine Tonne, wenn es leer ist. Und jetzt ist es rappelvoll!« Er drehte sich um und ging davon. Clark legte eine Hand gegen die Mauer und stemmte die andere gegen den Müllcontainer. Skunk hatte Recht gehabt, er wog tatsächlich mehr als eine Tonne. Zum Glück stellte das Gewicht für Clark kein ernst zu nehmendes Problem dar. Der Container bewegte sich mit einem lauten Knirschen. Skunk wirbelte herum. »Hey, Mann...! Wie hast du das denn gemacht?« Clark zeigte auf den Boden. »Siehst du das Pizzafett unter den Rädern?«, erklärte er. »Davon kriegt man zwar Pickel, aber es ist ein hervorragendes Gleitmittel.« Skunk klatschte begeistert in die Hände und tauchte hinter dem Container ab, um die Pizza zu retten. Auf dem Heimweg grinste er übers ganze Gesicht und erzählte den anderen, wie Clark an diesem Abend für das Essen gesorgt hatte. Clark wünschte sich jedoch bald, Skunk hätte den Mund gehalten, denn bis sie ihre Unterkunft erreichten, war die Pizza kalt, der Käse klebte auf einer Seite, und die Ananasstücke und die Sardellen ließen sich nicht mehr entfernen. Clark hatte noch nie etwas Ekeligeres gegessen, trotzdem bedankten sich die anderen bei ihm. Alle außer Sean. Nach dem Essen zauberte Luna einen Schlafsack hervor, den ein ehemaliges Mitglied der Truppe im Haus zurückgelassen hatte. Sie schuf neben sich am Kamin Platz und half Clark, sein Nachtlager aufzuschlagen. Sean schnappte sich seinen Schlafsack, brummelte, dass es ihm zu voll sei, und stapfte die Treppe in den zweiten Stock hinunter. Niemand hielt ihn zurück. Clark rieb sich die Augen. Er war unglaublich müde. Am vergangenen Abend hatte er sich noch in seinem Zimmer in Smallville darauf vorbereitet, seine Eltern, die ihn liebten, und sein Zuhause zu verlassen. An diesem Abend schlief er in 46
einem heruntergekommenen Gebäude in Metropolis auf dem harten Holzboden – neben einem Mädchen mit einem rot getigerten Kätzchen auf dem Schoß und einem geheimnisvollen Leuchten in den Augen. Eine nach der anderen wurden die Kerzen ausgeblasen, bis Clark nur noch Lunas lächelndes Gesicht erkennen konnte. »Willkommen bei der Truppe!«, flüsterte sie ihm zu. »Entschuldige bitte, aber das willst du wirklich machen? Warum denn?« Lana sah seufzend von ihrem Koffer auf, den sie gerade packte. »Chloe, ich weiß auch nicht, aber ich habe das Gefühl, ich muss nach Metropolis fahren und nach Clark suchen. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, einfach abzuhauen.« »Wohl war, Weglaufen passt nicht zu ihm, aber zu dir passt es nicht, die Schule zu schwänzen und mit Lex Luthor nach Metropolis aufzubrechen«, erklärte Chloe, die im Schneidersitz auf Lanas Bett hockte. Im vergangenen Jahr, als Lanas Tante Nell beschlossen hatte, mit ihrem Verlobten Dean nach Metropolis zu ziehen, hatte Lana ihre Freunde, das Talon und Smallville um keinen Preis verlassen wollen. Zum Glück hatten ihr Chloe und Mister Sullivan angeboten, bei ihnen einzuziehen. Es war schon eine komische Geschichte, fand Chloe; sie war immer ein wenig neidisch auf Lana gewesen, die hinreißend und beliebt war und ihre schärfste Konkurrentin, was Clark anging. Und doch hatte sie sich mit Lana angefreundet. Vielleicht war sie mittlerweile sogar enger mit ihr vertraut als mit Clark. Lanas Einzug bei den Sullivans war problemlos über die Bühne gegangen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Chloes Angst vor einer möglichen Romanze zwischen Lana und Clark unbegründet war. Aus irgendeinem Grund waren Spannungen aufgetreten, und obwohl Chloe ihren beiden
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Freunden alles Glück auf Erden wünschte, mussten sie ja nicht unbedingt zusammen glücklich werden. An diesem Nachmittag jedoch war Lana aus dem Talon nach Hause gekommen, sofort in ihrem Zimmer verschwunden und hatte zu packen begonnen, um sich auf die Suche nach Clark zu machen. Chloe war selbst sehr besorgt um ihn – schließlich war er immer noch ein guter Freund... Ja, natürlich!, ließ sich plötzlich ihre innere Stimme vernehmen. Du bist immer noch in Clark verknallt, daran wird sich wohl nie etwas ändern. Und du bist neidisch, weil Lana losziehen kann, um ihn zu suchen, während Dad dich niemals gehen lassen würde! »Ich meine«, sagte Chloe und schüttelte die unangenehmen Gedanken ab, »ich kann gar nicht glauben, dass deine Tante damit einverstanden ist.« Lana packte inzwischen entschlossen weiter. »Sie ist so begeistert, dass ich sie besuchen will, da ist es ihr völlig egal, wie ich in die Stadt komme oder weshalb«, sagte sie, ohne Chloe dabei anzusehen. Chloe war von Natur aus neugierig – deshalb hatte sie auch all die merkwürdigen Dinge ans Tageslicht gebracht, die in Smallville passierten, und schrieb über sie in der Schülerzeitung. Sie hatte die Begabung, zwischen den Zeilen zu lesen, und in diesem Augenblick kam es ihr so vor, als würde Lana einen bestimmten Grund für ihre überstürzte Suche nach Clark verbergen. Es war fast so, als würde sie sich dazu verpflichtet fühlen. Schon stiegen in Chloe, der klar war, dass sie Clark niemals so nahe kommen würde, wie sie es sich wünschte, wieder die alten Gefühle des Neids und der Eifersucht auf. Sie erinnerte sich daran, wie sie Lana dazu gedrängt hatte, endlich mit Clark zu reden, und hätte sich dafür in den Allerwertesten treten können. Sie solle nicht vor ihren Gefühlen davonlaufen, hatte sie Lana gesagt, und nun sah es ganz so aus, als hätte ihre Freundin die unumstößliche Absicht, ihren Rat zu beherzigen.
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»Lana«, fragte sie zögernd, denn eigentlich wollte sie die Antwort gar nicht hören, »ist etwas zwischen dir und Clark vorgefallen?« »Ja«, antwortete Lana und klappte ihren Koffer zu. »Aber ich möchte nicht darüber reden.«
11 CLARK HATTE DIE GANZE NACHT kaum ein Auge zugetan. Er hatte auf dem Boden gelegen und dem merkwürdigen Knarren und Ächzen des alten Hauses und den ungewohnten Geräuschen der Stadt gelauscht, die von draußen hereindrangen. Dennoch war er beim ersten Anzeichen der Morgendämmerung auf den Beinen. Landei bleibt Landei, dachte er, auch in der großen Stadt! Einen Augenblick lang hielt er beim Zähneputzen inne. So was in der Art hätte sein Vater jetzt bestimmt gesagt. Hoffentlich regten sich seine Eltern nicht zu sehr über sein Verschwinden auf! Obwohl er kaum mehr als einen Tag von zu Hause fort war, musste er immer wieder an seine Eltern denken. Sie wussten zwar, dass ihm nichts passieren konnte, aber sie machten sich ständig Sorgen um ihn. Wahrscheinlich wurden sie gerade wahnsinnig vor Kummer, und er wäre am liebsten gleich nach Hause gerannt, um sie zu beruhigen. Dann fiel ihm wieder ein, weshalb er ausgerissen war. Wahrscheinlich habe ich das Richtige getan, dachte er, aber trotzdem fehlten ihm seine Eltern – von Pete, Chloe und Lana ganz zu schweigen. In diesem Augenblick kam Luna ins Badezimmer. Sie trug ein weites Sweatshirt über ihren Schlafanzughosen und hatte ihre wilde Mähne mit einem Haargummi gebändigt. Clark spülte sich rasch den Mund aus und nahm ein Handtuch. »Hey«, sagte er lächelnd. 49
»Guten Morgen«, entgegnete Luna und erwiderte sein Lächeln. »Ich habe gehofft, ich erwische dich noch, bevor du das Haus verlässt.« »Ja, ich dachte, ich mache mich früh auf den Weg«, nickte Clark. »Mal sehen, ob es mir gleich heute gelingt, einen Job zu finden.« »Das wird es«, bekräftigte Luna mit Bestimmtheit. »Ich habe letzte Nacht davon geträumt.« »Wirklich?« Sie nickte. »Ich habe den Namen Merkur gesehen, und du bist total schnell gelaufen. Ich meine, schneller als ein Mensch überhaupt laufen kann.« Clark stand vor Staunen der Mund offen. »Ich weiß, das klingt merkwürdig«, sagte Luna, »aber glaub mir, es hatte etwas damit zu tun, dass du einen Job findest.« Sie ging zur Tür. »Ich warte unten, bis du fertig bist.« »Ist okay, ich bin schon fertig«, sagte Clark schnell und überspielte seine Beunruhigung. Was Luna von ihrem Traum erzählt hatte, war bestimmt nur ein dummer Zufall, nicht mehr. »Das Badezimmer gehört dir. Also... dann sehen wir uns heute Abend?« »Ich werde hier sein. Und hoffentlich gibt es was Besseres zu essen.« Sie lächelte. »Ach, hier, das hätte ich fast vergessen – ich habe etwas für dich.« Sie hielt eine schwarze Schnur in der Hand, an der ein kleiner grüner Stein baumelte. Clark wich instinktiv zurück. Ein Meteorit? Aber er spürte keine Schmerzen, als Luna sich auf Zehenspitzen hinter ihn stellte und ihm die Schnur um den Hals band. »Was ist das?«, fragte Clark. »Ein Stück Glas vom Strand«, antwortete sie. »Glasscherben, die im Meer schwimmen, werden vom Sand abgeschliffen, und wenn sie irgendwann an den Strand gespült werden, sehen sie aus wie farbige Steine. Ich habe sie von zu Hause mitgebracht.« 50
Clark betastete die glatten, abgeschliffenen Kanten der Scherbe. »Ich dachte, es wäre... etwas anderes«, sagte er und sah in den Spiegel. »Jade zum Beispiel?« Luna grinste. »Tut mir Leid, aber wenn ich so etwas Wertvolles hätte, würde ich es wohl eher verkaufen.« »Das hier gefällt mir besser«, erwiderte Clark. »Danke!« »So, das hätten wir!«, rief Luna, als sie die Schnur um Clarks Hals verknotet hatte, und schlang die Arme um seine Schultern. »Das ist ein Talisman für Glück und Wohlstand.« »Wirklich?«, staunte Clark und war ganz aufgeregt, weil Luna ihn nicht gleich wieder losließ. Er nahm ihre Hände, die auf seiner Brust ruhten. »Was ein Stückchen Glas so alles kann! Das ist ja die reinste Zauberei!« Luna ließ langsam die Arme sinken. Clark war nicht sicher, aber als er in den Spiegel blickte, glaubte er eine gewisse Verschlossenheit in Lunas Blick zu erkennen. Sie schien sich vor ihm zurückzuziehen. »Ach... na ja, du weißt schon, alles alter Aberglaube«, meinte sie. »Aber du machst dich jetzt besser auf den Weg, wenn du einen Job finden willst.« »Du hast Recht.« Clark ging widerstrebend zur Tür. »Oh, fast hätte ich es vergessen. Dein Badewasser ist fertig.« Luna lächelte ihn an. »Sehr witzig!«, meinte sie und drehte sich zu der Badewanne um, die voll... Moment, dampfte das Wasser etwa? Das konnte doch unmöglich sein – in diesem Gebäude hatte es seit Ewigkeiten kein heißes Wasser mehr gegeben... Luna tauchte die Hand hinein. Das Wasser war herrlich, angenehm warm. »Clark!«, rief sie begeistert, aber er war bereits verschwunden. Lex liebte es, wie die Leute plötzlich Haltung annahmen, wenn er zur Tür hereinkam. »Guten Morgen, Mister Luthor«, 51
begrüßten ihn die Empfangsdame sowie ein Dutzend weiterer Mitarbeiter von LuthorCorp, die rasch zur Seite traten, als er gebieterisch den Korridor hinunterging. Es war interessant – er brüllte oder drohte nie, wie sein Vater es tat, und doch schienen ihn die Leute, die für LuthorCorp arbeiteten, instinktiv zu fürchten. Und er musste zugeben, dass ihm das gefiel. »Guten Morgen, Mister Luthor.« »Ist es ein guter Morgen, Trumble?« Lex blieb im Türrahmen eines kleinen Büros stehen und stemmte die Hände links und rechts gegen die Pfosten. Erwischt!, dachte er und amüsierte sich einen Augenblick lang im Stillen, bevor er das Büro betrat. »Ich bin nicht sicher, ob es für mich einer ist.« »I-ich weiß nicht recht, was Sie meinen, Mister Luthor«, stammelte Mister Trumble und hoffte, dass nicht zu erkennen war, wie sehr er schwitzte. Lex ließ sich in den Sessel gegenüber von Mister Trumbles Schreibtisch sinken. »Ich habe von unseren Anwälten noch immer nichts über den vorgeschlagenen Standort für die neue Chemiefabrik in der Stadt gehört. Stehen diese Gebäude nun unter Denkmalschutz oder nicht?« Hal Trumble schluckte. »Die Verhandlungen mit den Behörden sind noch nicht abgeschlossen«, erklärte er. »Sie waren es, der meinem Vater diesen Standort schmackhaft gemacht hat, Trumble. Die Abriss- und Bautrupps stehen bereit, und meinem Vater wird es gar nicht gefallen, wenn die Häuser nächste Woche immer noch stehen.« Lex unterdrückte ein Grinsen, als er sah, wie sein Gegenüber sich bemühte, nicht nervös zu wirken. »Ich werde Ihnen sagen, was ich gehört habe«, fuhr er fort. »Es gibt Gerüchte über Korruption, Bestechung und andere illegale Methoden bei der Abwicklung dieser Sache.« Er ging um Mister Trumbles Schreibtisch herum und postierte sich hinter dem Mann. »Davon wissen Sie doch bestimmt nichts, oder?« 52
Mister Trumble verrenkte sich den Hals, um Lex anzusehen. »Nein, Mister Luthor. Davon habe ich nichts gehört.« Lex überlegte, ob er Trumble noch ein bisschen mehr quälen sollte, beließ es aber dabei. Es war unwahrscheinlich, dass dieser nervöse kleine Mann mit der Korruption zu tun hatte, von der er gehört hatte. »Nun«, sagte er und klopfte Trumble wohlwollend auf die Schulter, »wenn Sie etwas hören, werden Sie mich sofort davon in Kenntnis setzen!« Als er das Büro verließ, hätte Lex schwören können, dass Trumble vor Erleichterung seufzte. Es war spät am Nachmittag, und Clark war müde und entmutigt. Nach seinen Erfahrungen bei der Jobsuche in Metropolis erschienen ihm die Aufgaben, die er auf der Farm zu erledigen hatte, ein Kinderspiel zu sein. Die Wörter »Nein« und »Sorry« hatte er an diesem einen Tag öfter gehört als bisher in seinem ganzen Leben. Er hatte in zahllosen Bekleidungsgeschäften, einigen Restaurants und Pizzerien nach Arbeit gefragt, und an ein, zwei Baustellen. Entweder wurde keine Hilfe benötigt, oder die Verantwortlichen wollten – verständlicherweise – niemanden einstellen, der noch minderjährig war und keinen festen Wohnsitz angeben konnte. Nun wanderte Clark einfach ziellos umher. Wenn es so weiterging, würde er nie genug Geld verdienen, um etwas zu einem neuen Traktor beisteuern zu können. Und wenn es ihm nicht gelang, einen Job zu finden, gab er seinen Eltern nur unnötig Grund zur Sorge. So viel zu Lunas Traum!, dachte er und fasste an den grünen Glasanhänger, den sie ihm um den Hals gebunden hatte. Hoffentlich enttäuschte er sie nicht allzu sehr... Clark blieb wie angewurzelt stehen. Er konnte nicht glauben, was er sah. Vor einem Geschäftshaus mit einem Schild, auf dem MERKUR BLITZKURIER – DER SCHNELLSTE VON METROPOLIS stand. 53
Genau wie Luna gesagt hatte! Clark wusste nicht, wie sie darauf gekommen war, aber das spielte eigentlich auch keine Rolle. Als er den Laden betrat, wusste er, dass er am richtigen Ort war. Nun musste er nur noch denjenigen überzeugen, der hier für die Jobs verantwortlich war. Das schien keine leichte Aufgabe zu sein. Der Mann in der Zentrale, dessen Namensschild ihn als C. GRIMES auswies, war schon älter und hatte sich tagelang nicht rasiert. In seinem Mundwinkel klemmte ein nicht angezündeter Zigarrenstummel. Er ignorierte Clark völlig und bellte Adressen und Anweisungen in drei verschiedene Funkgeräte und fünf Telefonhörer. »Entschuldigen Sie bitte!«, machte Clark sich schließlich bemerkbar. Der Mann bedachte ihn mit einem warnenden Blick. »Ähm, ich habe gehofft, ich könnte hier einen Job finden«, erklärte Clark. Mister Grimes legte eins der Telefone ab. »Hör mal, Junge, ich habe genug Boten.« Dann brüllte er in ein Funkgerät: »Rico, wo bleibst du denn? Ich habe hier einen eiligen Auftrag für dich!« »Ich brauche unbedingt Arbeit«, fuhr Clark fort. »Es ist wirklich dringend.« »Das sehe ich, Junge, und es bricht mir das Herz. Aber ich bin beschäftigt...« »Ich bin ziemlich schnell«, drängte Clark. »Dann kannst du ja auch ziemlich schnell von hier verschwinden«, knurrte der Mann. »Rico! Wo zum Teufel steckst...« Clark lehnte sich mutig über die Theke. »Hören Sie, es ist doch so, ich brauche dringend einen Job, und Sie brauchen genauso dringend jemanden, der diesen eiligen Auftrag erledigt. Ich garantiere Ihnen, dass ich der schnellste Bote bin, den Sie je gehabt haben. Geben Sie mir nur diesen einen Auftrag, 54
und wenn ich ihn nicht in Rekordzeit erledigen kann, müssen Sie mich auch nicht bezahlen.« Mister Grimes stellte das Funkgerät ab und wälzte den Zigarrenstummel rasch vom linken in den rechten Mundwinkel. »Hast du dein Fahrrad vor der Tür?« »Ich... habe kein Fahrrad«, antwortete Clark zögernd. Hoffentlich stellte der Mann keine weiteren Fragen zum Thema Fortbewegungsmittel! Mister Grimes beugte sich jedoch über die Theke und warf einen Blick auf Clarks Stiefel. »Du hast ja nicht mal ordentliche Laufschuhe!« Clark fühlte sich unwohl, setzte aber eine entschlossene Miene auf. »Erinnere mich daran, dass ich dir eine Chance gegeben habe, wenn ich dich nachher um den Block prügle«, knurrte Mister Grimes. »Melde dich sofort in der Poststelle im Grand Building an der Ecke Vierte und Main! Da wird man dir sagen, wo du die Lieferung hinbringen sollst.« »Wird sofort erledigt«, sagte Clark. Er trabte aus dem Gebäude, aber kaum war er draußen, legte er einen Zahn zu.
12 »HOFFENTLICH DARF ICH SO WAS als Mitbesitzer des Talon zu dir als meiner Angestellten überhaupt sagen«, überlegte Lex, »aber du siehst absolut bezaubernd aus!« Am Ende eines frustrierenden Tages, an dem nichts Neues über Clark oder die Korruption bei LuthorCorp herausgekommen war, hatte Lex Lana zum Abendessen eingeladen. Lana errötete und sah an dem Kleid hinunter, das sie sich von Nell geliehen hatte. Sie war froh, dass sie sich ein wenig zurechtgemacht hatte, denn Lex hatte sie in das eleganteste japanische Restaurant von ganz Metropolis entführt. Lex war sich bewusst, dass er Lana womöglich anstarrte, aber es war sehr schwer, das nicht zu tun. Natürlich hatte er 55
von Anfang an verstanden, warum Clark in sie verliebt war – an diesem Abend jedoch, in ihrem pinkfarbenen Seidenkleid und den Riemchensandalen, sah sie einfach atemberaubend aus. Zum Glück wurde Lex von der Kellnerin abgelenkt, die mit dem Essen an den Tisch kam. Die Kellnerin war ebenfalls eine auffällige Erscheinung, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Ihr hübsches Gesicht fiel in Anbetracht ihrer weißblonden Haare, der blassen Haut und hellblauen Augen sicher den wenigsten auf. Sie war offenbar ein Albino. Ihr fehlten die Farbpigmente in den Haaren und der Haut, eine genetische Zufallskombination, die überall in der Natur vorkommen konnte. Lex fiel ein, wie er als Kind einmal eine Albinoschlange im Zoo gesehen hatte, die er echt cool gefunden hatte. Aber wenn man zur Schule gehen musste und so ganz anders aussah als die anderen... Lex wusste sehr gut, wie es war, anders zu sein. Jahrelang war er im Internat wegen seines Kahlkopfs gehänselt worden. An guten Tagen hatte er sich einzureden versucht, etwas Besonderes zu sein und dass seine Kahlheit auf eine große Zukunft für ihn hinwies. An schlechten Tagen war sich Lex nur wie eine Missgeburt vorgekommen. So wurde sie bestimmt auch genannt, dachte er, und noch viel Schlimmeres. Er lächelte die Kellnerin an und versuchte ihr mit den Augen eine Art geheimen Gruß zu übermitteln. Sie erwiderte sein Lächeln, bevor sie ging, allerdings so schüchtern und obenhin, dass Lex sich nicht sicher war, ob sie seine Botschaft verstanden hatte. »Wow«, sagte Lana und blickte auf ihr Sushi-Tablett. »Das sieht aber hübsch aus! Ist ja viel zu schade zum Aufessen!« »Wenn du es nicht isst, bereitest du dem Chefkoch Schande, und er begeht Harakiri«, erklärte Lex lächelnd. »Nun, das wollen wir natürlich nicht«, entgegnete Lana und griff zu ihren Stäbchen. »Das ist alles so toll, dass ich fast
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vergesse, warum wir eigentlich hier sind.« Sie sah auf ihr Essen, rührte es aber immer noch nicht an. »Du machst dir um ihn Sorgen«, stellte Lex fest. »Natürlich mache ich mir Sorgen. Wer weiß, wo er steckt und was er treibt! Wir wissen ja nicht mal, ob er überhaupt hier in Metropolis ist.« »Das ist aber sehr wahrscheinlich. Wenn ich Clark wäre, würde ich hierher kommen.« Lanas Blick schweifte in die Ferne. »Wenn ich Clark wäre... Es ist schon merkwürdig. Ich kenne Clark Kent fast mein ganzes Leben lang, aber in der letzten Zeit hatte ich das Gefühl, ihn überhaupt nicht zu kennen.« »Es ist gar nicht so leicht, mit Clark befreundet zu sein«, bemerkte Lex. Lana zögerte. »Wie meinst du das?« »Er ist manchmal... so ein Geheimniskrämer.« »Siehst du das auch so?« Lana lachte. »Ich dachte, es ginge nur mir so.« Lex lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von seinem grünen Tee. »Clark zieht andere nicht gern ins Vertrauen. Aber zu dir scheint er ein besonderes Verhältnis zu haben.« Lana schlug die Augen nieder. »Nein, gar nicht. Clark und ich sind Freunde. Nur Freunde.« »Was das deine Entscheidung oder seine?« »Die Entscheidung war einvernehmlich«, erklärte Lana, und ihre Worte klangen defensiver, als ihr lieb war. »Nun, man kann nie wissen«, entgegnete Lex. »Vielleicht ändert sich das ja irgendwann.« Lana stocherte mit den Stäbchen in ihrem Essen herum. »Das glaube ich nicht«, meinte sie. »Clark ist nur ein Freund. Und ich glaube, mehr wird er auch nie für mich sein.« Lex lächelte. »Du bist erst sechzehn, Lana.« Er sah sie durchdringend an, aber ihr kam es vor wie ein Selbstgespräch.
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»Du hast noch keine Ahnung, wie sehr sich Menschen verändern können.« Es war schon mehr als eine Stunde vergangen, seit Lex sie bei ihrer Tante abgesetzt hatte, aber Lana stand immer noch an dem großen Fenster im Wohnzimmer und dachte nach. Sie sah eine gewisse Ironie darin, dass man von dort ausgerechnet das Hochhaus von LuthorCorp im Blick hatte, andererseits war es das höchste Gebäude der Stadt und von fast jedem Ort aus zu sehen. Als Lana zurückgekommen war, hatten Tante Nell und Dean bereits geschlafen, und sie war froh, ein bisschen allein sein zu können. Staunend blickte sie hinaus auf das Lichtermeer der Stadt. Metropolis war eine riesige Stadt, und Lana fragte sich, ob es Clark gut ging und was er wohl in diesem Augenblick machte – wenn er überhaupt irgendwo da draußen war. Was mache ich eigentlich hier?, fragte sie sich. Natürlich war sie gekommen, weil Clark ein guter Freund von ihr war, ganz egal, was sie ihm im Talon gesagt hatte. Schon bei dem Gedanken an dieses schreckliche Gespräch überlief Lana ein Schaudern. Aber da war noch etwas anderes, das sie sich nicht eingestehen wollte. Die Möglichkeit, dass sie nach Metropolis gekommen war, um nach Clark zu suchen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Zum Teil bin ich daran schuld, dass er weggelaufen ist, dachte sie. Er hat mich gebraucht, und ich habe ihn abgewiesen. Hätte ich das nicht getan, wäre er vielleicht immer noch zu Hause, oben in der Scheune, um wie gewöhnlich die Sterne zu beobachten. Aber hatte sie andererseits ihre Gefühle für Clark nicht lange genug zurückgehalten? Hatte sie nicht das Recht, ihm zu sagen, wie frustriert sie über ihre Beziehung war? Besonders nach dieser Phase...
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Lana wurde wütend, als sie sich an die Tage erinnerte, da Clark, der immer schon anders als alle gewesen war, plötzlich völlig den Verstand verloren zu haben schien. Er war mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet auf dem Motorrad seines Vaters in die Schule gekommen. Ein für seine Verhältnisse ziemlich ungewöhnlicher Auftritt. Dann hatte er wild mit einer neuen Schülerin geflirtet und über Nacht sein schüchternes Wesen abgelegt. Schließlich war er ins Talon spaziert und hatte Lana geküsst. Dieser Kuss! Die Erinnerung daran machte Lana immer noch zu schaffen. Wenn sie sich in der Vergangenheit einmal gestattet hatte, darüber nachzudenken, wie es wohl wäre, mit Clark zusammen zu sein, hatte sie sich seine Küsse immer sanft, zärtlich und liebevoll vorgestellt. Aber an diesem Tag hatte er sie leidenschaftlich geküsst, mit einer Selbstsicherheit, die fast arrogant wirkte und die sie ihm nie zugetraut hätte. Es war, als hätte er geglaubt, sich alles nehmen zu können, was er wollte – einschließlich Lana – und als könnte es für ihn keine Hindernisse geben. Lana runzelte die Stirn. Diese Einstellung erinnerte sie an jemand anders... Lex Luthor. Ein solches Verhalten sähe ihm ähnlich, nicht Clark. Dennoch war es Clark gewesen, der sich so aufgeführt hatte. Und dann, einen Tag später, war er mit Blumen zu ihr gekommen und hatte versucht, sich zu entschuldigen. Er sei nicht ganz bei Verstand gewesen, hatte er lahm erklärt. Er verrät immer nur so viel, wie er will!, dachte Lana frustriert. Und das ist in seinem Fall nie genug! Ganz oben im Wolkenkratzer von LuthorCorp ging in einem großen Büro das Licht an. Lana fragte sich, ob die Leute in dieser Stadt tatsächlich die ganze Nacht arbeiteten. War es vielleicht sogar Lex, der erledigen wollte, wofür er nach Metropolis gekommen war?
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Lana kannte Lex nun etwas über ein Jahr, konnte ihn jedoch noch immer nicht richtig einschätzen. Er schien zwei Seiten zu haben. Eine wohlmeinende und eine... Nun, wie Clarks Vater immer sagte, er war eben ein Luthor. Es war etwas Zwiespältiges an ihm. Aber das würde sie niemals offen aussprechen. Sie stand für immer in Lex’ Schuld, weil er ihr geholfen hatte, das Talon zu retten, und er war Clark ein guter Freund. Lana ließ die Jalousie herunter und sperrte den Mond und das LuthorCorp-Hochhaus aus. Sie hatte Handzettel vorbereitet, auf die Clarks Foto und eine Telefonnummer gedruckt waren, unter der sich Leute melden konnten, die ihn gesehen hatten. Da sie die Zettel morgen in der Stadt verteilen wollte, wurde es höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Abgesehen davon wollte sie viel lieber schlafen als wach bleiben und darüber grübeln, warum sie sich so sehr zu jemandem hingezogen fühlte, wenn es so viele offene Fragen gab, die sie zweifeln ließen.
13 »HEY, MAG!«, rief Skunk mit hoffnungsvoller Miene. »Was ist in den Tüten?« Mag lächelte nur und stellte ein paar Schachteln mit Essen auf dem Boden ab. Die anderen setzten sich aufgeregt im Kreis um sie und betrachteten neugierig, was sie mitgebracht hatte. »Okay, das hier ist Aal mit Gurke, das sind scharfe Thunfisch-Röllchen. Oh, und hier sind noch ein paar California-Röllchen...« »Super, Mag!« Skunk lachte. »Du bist wahrhaftig unsere Königin!« Mag wurde knallrot, als Aubrey ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Mag hat eine Freundin, die in einem japanischen Schickimicki-Restaurant arbeitet«, erklärte Luna Clark. »Sie 60
konnte heute ihre Schicht nicht antreten, und Mag ist für sie eingesprungen.« »Und die haben mir sämtliche Reste mitgegeben«, ergänzte Mag, die sich wieder einmal hinter ihren hellen Ponyfransen versteckte. »Aber das Beste kommt erst noch. Ich habe einen reichen Typen und seine Freundin bedient, und wisst ihr, wie viel Trinkgeld er mir gegeben hat?« Alle sahen sie erwartungsvoll an. »Fünfzig Mäuse!« »Gut gemacht, reicher Typ, wer immer du bist!«, rief Skunk, und alle klatschten in die Hände und lachten. Niemand ließ ein Wort darüber fallen, aber es war nicht zu übersehen, das die Stimmung im Haus viel besser war, wenn Sean nicht da war. Clark betrachtete die Essensschachteln auf dem Boden und suchte nach etwas, das ihm auch nur im Entferntesten bekannt vorkam. »Gibt es wirklich rohen Fisch zum Abendessen?«, flüsterte er Luna zu. Er wollte nicht undankbar gegenüber Mag erscheinen, aber rohen, in Seetang gewickelten Fisch essen zu müssen war für einen Jungen, der mit Brathähnchen, Frikadellen und Spagetti aufgewachsen war, eine wenig verlockende Vorstellung. »Du hast noch nie Sushi gegessen?«, fragte Luna überrascht. »Mensch Clark, das schmeckt wirklich klasse!« »Ich komme von einem Bauernhof in Smallville«, erklärte Clark schulterzuckend. »Bei uns gibt es leider nicht jeden Sonntagabend rohen Fisch, wie es woanders anscheinend üblich ist.« »Los, Clark, du musst das probieren«, sagte Skunk. »Vielleicht schmeckt dir das Zeug ja. Und wenn nicht, bringt es dich auf jeden Fall nicht um.« Clark brachte ein schiefes Lächeln zu Stande. »Das stimmt«, nickte er und griff nach einem Aalröllchen. Zögernd schob er es in den Mund. Luna sah ihn erwartungsvoll an. »Und?« »Hm«, machte Clark. »Genau wie meine Mutter sie nie gemacht hat.« 61
»Luna, warum kann man hier keine Sterne sehen?« Clark saß mit Luna auf dem Dach und beobachtete den Mondaufgang und die immer zahlreicher werdenden Lichter der Stadt, die aussahen wie Tausende Glühwürmchen. Er hatte ihr gerade erzählt, wie es ihm gelungen war, bei dem Kurierdienst Merkur einen Job zu ergattern. Weil er so schnell gewesen war, hatte Mister Grimes den Empfänger angerufen, um sich zu vergewissern, dass Clark nicht geflunkert hatte. Nach dem Anruf hatte er ihn angegrinst und ihn für den nächsten Tag zur Arbeit bestellt. »Wirklich merkwürdig, dass du davon geträumt hast«, hatte Clark gesagt. Hinter seinen Worten verbarg sich die Frage, wie sie davon gewusst haben konnte, aber er traute sich nicht, sie offen zu stellen. Luna hatte nur gelächelt. Als es dunkler geworden war, hatte Clark auf die Sterne gewartet, aber der Himmel über der Stadt war pechschwarz. »Zu Hause gibt es Unmengen von Sternen, da kann ich alle Sternbilder erkennen...«, sagte er. Luna zuckte mit den Schultern. »Zu Hause in Miami konnte ich die Sterne auch erkennen. Ich glaube, hier gibt es zu viel Licht und Luftverschmutzung. Aber mach dir keine Gedanken, Clark«, sagte sie und tätschelte seinen Arm. »Sie sind immer noch da oben und passen auf dich auf!« Clark lächelte. Das war ein tröstlicher Gedanke. »Okay, und jetzt erzähl mir mal, wie du heute Morgen das Badewasser heiß gemacht hast?« »Nur wenn du mir sagst, woher du das mit dem Job bei Merkur wusstest«, entgegnete Clark. Luna sah auf ihre Hände. »Das ist mein Geheimnis«, antwortete sie. »So wie du deines hast.« Sofort schrillten bei Clark sämtliche Alarmsirenen. »Was willst du damit sagen?«
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»Weshalb du von zu Hause weggelaufen bist«, gab Luna zurück. »Jeder im Haus hat einen Grund, warum er hier ist, aber manche wollen ihn niemandem anvertrauen. Das ist okay für mich, Clark, ich verstehe das.« »Dafür bin ich dir dankbar«, sagte Clark und entspannte sich wieder. Er war so sehr daran gewöhnt, ständig etwas verbergen zu müssen, dass es eine große Erleichterung für ihn war, einmal nichts erklären zu müssen. »Ich will dir nichts verschweigen«, fuhr er fort. »Es gibt einfach nicht so viel über mich zu erzählen.« »Ja, ja, ganz bestimmt. Ich könnte wetten, es gibt überhaupt nichts Interessantes an dir«, entgegnete Luna ironisch und stieß Clark mit der Schulter an. »Warte, mal sehen, ob ich etwas erraten kann.« Luna holte tief Luft und schien sich auf Clark zu konzentrieren. Sie fasste ihn genau ins Auge. Es war, als sähe sie in ihn hinein. Nach einer Weile erklärte sie: »Du bist adoptiert worden.« »Das stimmt!«, fuhr Clark überrascht auf, aber vielleicht hatte Luna ja auch nur einen Glückstreffer gelandet. »Und... du hast es erst letztes Jahr erfahren.« »Nein«, sagte Clark, »das wusste ich immer schon.« Luna runzelte die Stirn. »Aber es gibt etwas, das du letztes fahr erst herausgefunden hast. Etwas darüber, wer du bist oder woher du kommst.« Allmählich wurde Clark bewusst, dass Luna gar kein Ratespiel veranstaltete. Irgendwie gelang es ihr, die Wahrheit aufzuspüren. Er hatte im vergangenen Jahr wirklich etwas Wichtiges über sich erfahren, und zwar als sein Vater ihm das Raumschiff gezeigt hatte, mit dem er auf die Erde gestürzt war. Aber wie konnte Luna das wissen? Clark wurde nervös, wie immer, wenn jemand dahinter zu kommen drohte, dass er nicht der war, der er zu sein schien.
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Aber Luna trat ihm nicht zu nahe. »Weißt du denn überhaupt, wer deine leiblichen Eltern sind, Clark? Oder woher sie stammen?« Clark schüttelte den Kopf und widerstand dem Impuls, in den Himmel zu schauen. »Willst du es denn wissen?«, fragte Luna und zog ein Kartenspiel aus der Jackentasche. Clark lächelte zweifelnd. »Die Geschichte meines Lebens steht in diesen Karten?« »Du würdest staunen, was sie dir alles verraten«, erklärte Luna. Während sie die Karten mischte, fragte sie: »Wer ist Clark Kent?« Dann legte sie die Karten auf einen Stapel, hob die obere Hälfte ab und legte die untere Hälfte darauf. Als Nächstes sah sie sich die Karte an, die zu oberst lag. »Das ist komisch«, sagte sie und zeigte sie ihm. »Es ist das Ass der Sterne.« Clark starrte die Karte an, auf der über einer Frau, die an einem Fluss kniete, die Sterne funkelten. So etwas hatte er noch nie gesehen. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Was sind das für Karten?« »Meine Tarot-Karten«, antwortete Luna. »Sie helfen einem, etwas über sich selbst herauszufinden, über die Zukunft und so.« »Und was bedeutet der Stern?«, erkundigte sich Clark. »Das Bild hat mit dem Universum zu tun. Siehst du die sieben Sterne? Sie symbolisieren die sieben astrologischen Zeichen zugeordneten Planeten. Diese Karte entspricht dem Element Luft.« Luna lachte. »Bist du etwa vom Himmel gefallen, Clark?« Clark fiel beklommen in ihr Lachen ein. Das Ganze war wirklich zu sonderbar. »Mal sehen, ob ich noch mehr Informationen bekomme«, sagte Luna. Clark wollte sie schon fragen, was sie meinte, aber da konzentrierte sich Luna bereits auf die Karte. Ihr Blick 64
wurde glasig und schien sich in der Ferne zu verlieren. Sie schwieg eine Weile, und als ihr Blick sich wieder klärte, sah sie Clark verwundert an. »Seltsam.« »Was?«, fragte Clark. »Alles, was ich gesehen habe, waren grüne Steine, die durch die Luft fliegen«, antwortete Luna. Clark schluckte. Die Meteoriten! »Kannst du damit irgendwas anfangen?«, hakte Luna nach. »Ähm... nicht wirklich.« Mehr fiel Clark in diesem Moment nicht ein. Er begriff nicht, woher Luna diese Dinge wissen konnte, und er wollte unbedingt das Thema wechseln, bevor sie eine Karte fand, auf der ein Raumschiff oder so etwas abgebildet war. »Hey, über dich weiß ich aber auch noch nicht viel«, rief er. »Steht in den Karten auch etwas über dich?« »Sicher.« Lächelnd reichte ihm Luna die Karten. »Aber stell die Frage nicht laut. Denk nur beim Mischen an sie und zieh eine Karte. Dann hast du deine Antwort. Schließlich will ich mir hinterher nicht vorwerfen lassen, ich hätte manipuliert.« Die Art, wie sie lachte, verriet Clark, dass ihr das schon mal passiert war. Er nahm die Karten und sah sich die seltsamen Bilder an. Er glaubte im Grunde nicht daran, dass diese Karten Geheimnisse enthüllen oder die Zukunft vorhersagen konnten. Aber wer würde andererseits glauben, dass es einen Jungen von einem anderen Planeten gab, der Superkräfte hatte und durch Wände sehen konnte! Abgesehen davon mochte er Luna und wollte sie nicht verletzen. Clark lächelte in sich hinein. Wenn er die Frage nicht laut stellen durfte, konnte er fragen, was er wollte... Er schloss die Augen und mischte die Karten. Dann halbierte er den Stapel, wie Luna es getan hatte, und hob die oberste Karte ab. Er starrte sie ungläubig an. Die Botschaft schien so eindeutig, dass er sie Luna vorenthielt. 65
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Und? Was hast du gezogen?« Die Karte, die Clark in den Händen hielt, zeigte die Liebenden. »Sorry, das kann ich dir nicht verraten«, entgegnete er und wurde knallrot. Rasch schob er die Karte zurück in den Stapel. »Na schön«, sagte Luna lachend. »Aber ist deine Frage damit beantwortet?« »Ähm, ja«, antwortete Clark. »Aber für heute habe ich genug vom Kartenlesen.« »Also gut, lassen wir das mit den Karten«, sagte Luna und nahm Clarks Hand. »Probieren wir es stattdessen mit Handlesen.« Clark war drauf und dran zu protestieren, aber als Luna mit dem Finger langsam die Linien in seiner Handfläche nachzeichnete, überliefen ihn warme Schauer, und er wollte plötzlich nicht mehr, dass sie damit aufhörte. »Mal sehen... Du hast eine sehr deutlich ausgeprägte Lebenslinie. Es wird zwei große Lieben in deinem Leben geben... und einen großen Feind. Es ist jemand, der dir nahe steht. Und...« Luna sah Clark an. Ihr Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt. »Eigentlich bin ich im Handlesen nicht besonders gut. Ich habe nur nach einer Ausrede gesucht, damit ich deine Hand halten kann«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. Clark fühlte sich wie magnetisch von ihr angezogen. Er hatte das wunderbare Gefühl, dass ein Mädchen, das er liebend gern küssen wollte, seinen Wunsch erwiderte, noch nicht sehr häufig genießen dürfen. Und diesmal gab es keinen festen Freund, keine bedrohte Freundschaft – einfach nichts, was sie hindern konnte. Ganz sanft berührten sich ihre Lippen und verschmolzen zu einem innigen Kuss. Weder Clark noch Luna bemerkten, wie mit einem leisen Knarren die Dachtür ins Schloss fiel. 66
14 ALS CLARK ERWACHTE, schien die strahlende Herbstsonne durch die kaputten Fenster des Wohnzimmers. Auch nach seiner zweiten Nacht in diesem Haus brauchte er noch einen Augenblick, bis ihm wieder einfiel, wo er war. Ob er sich je daran gewöhnen würde? Und daran, die Nächte im Schlafsack auf dem harten Boden zu verbringen? Seine Stimmung änderte sich, als sein Blick auf Luna fiel, die friedlich neben ihm schlummerte. Er beugte sich über sie und küsste sie zärtlich auf die Wange. Er war überrascht, dass sie noch da war, denn sie hatte ihm gesagt, dass sie normalerweise früh aufstand, um vom Dach aus den Sonnenaufgang zu beobachten. Aber sie hatten fast die ganze Nacht dort oben verbracht und aneinander gekuschelt den Mond und die Lichter der Stadt betrachtet. Clark lächelte und schlüpfte leise aus seinem Schlafsack. Er konnte kaum glauben, wie gut sich ein Kuss anfühlte oder eine Hand zu halten, wenn es sich um das richtige Mädchen handelte. Außerdem wurde ihm klar, wie wenig die Mädchen zu ihm passten, die er kannte. Eine Zeit lang hatte er gedacht, etwas für Chloe übrig zu haben, aber als sie vorschlug, nur wieder »gute Freunde« zu sein, war ihm das durchaus recht gewesen. Und dann gab es natürlich noch Lana. Aber ihre Freundschafts- oder Beziehungskiste schien irgendwie zerrüttet, daher gab es keinen Grund, sich noch länger darüber den Kopf zu zerbrechen. Nun war er mit einem wild aussehenden, aber total süßen Mädchen zusammen, das ihn so zu mögen schien, wie er war. Keine Komplikationen, keine Verschrobenheit. Abgesehen vielleicht von Lunas seltsamen Karten jedenfalls und ihrer Fähigkeit, bestimmte Dinge über ihn herauszufinden. Was
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soll’s, dachte er und ging mit Zahnbürste und Handtuch bewaffnet zur Treppe. »Clark, Kumpel!«, rief Skunk, der gerade die Stufen herunterkam, und streckte die Hand für einen High Five in die Luft. »Du siehst so zufrieden aus. Was ist los, Mann?« Clark klatschte Skunk ab. »Ich mache mich nur für die Arbeit fertig«, entgegnete er mit einem Achselzucken. Als er die Treppe hinaufsteigen wollte, sagte Skunk mit ernster Miene: »Ähm, ich will dir ja nicht den Tag verderben, Kumpel, aber Sean will dich sprechen. Er ist oben im Bad.« »In Ordnung«, sagte Clark, »ich wollte mir sowieso die Zähne putzen.« Aber Skunk kam noch einen Schritt auf ihn zu und sprach ganz leise. »Clark, Mann, nimm dich vor Sean in Acht! Er kann manchmal ganz schön fies werden, verstehst du?« Clark stutzte und fragte sich, um was es überhaupt ging. »Mach dir keine Gedanken, Skunk«, sagte er. »Ich kann ganz gut auf mich aufpassen.« Skunk nickte zwar, aber in seinem Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab, als er im Wohnzimmer verschwand. Clark ging die Treppe hoch und fand Sean vor dem großen Waschbecken. Er hatte das Gesicht voll Rasierschaum und sah aus wie ein tollwütiges Tier. Beim Rasieren nahm er immer wieder einen Schluck aus der Bierflasche, die neben ihm stand. »Frühstück für Champions?«, fragte Clark sarkastisch, während er das Badezimmer betrat. Sean drehte sich zu ihm um. »Es ist schon fast Mittag, Mann. Abgesehen davon bin ich achtzehn und...« Er sah Clark scharf an. »... du bist nicht mein Vater.« Sie starrten sich eine ganze Weile an. Dann rasierte Sean sich weiter und fragte: »Hat Skunk dir gesagt, dass ich dich sprechen will?« Clark nickte. »Gut, gut«, sagte Sean und klang ganz nach einem Typen, der zu viel Macht über andere hatte. 68
Ein Tyrann, dachte Clark und versuchte, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, obwohl er spürte, wie Wut in ihm hochkochte. Sean grinste nur. »Du bist ein ziemlich mutiger Bursche, Clark«, sagte er. »Du bist gerade erst angekommen, und schon wilderst du in meinem Revier.« »Wie bitte?«, sagte Clark. »Luna«, entgegnete Sean. »Sag jetzt nicht, du hättest nicht gewusst, dass ich mit ihr zusammen bin.« Clark stutzte. Luna und Sean? Das konnte er nicht glauben. »Nein«, entgegnete er, »das habe ich wirklich nicht gewusst.« Sean sah ihn durchdringend an. »Tja, Kumpel, es ist aber wahr. Ich dachte, ich warne dich besser. Da gibt es ja wohl kein Problem, oder?« Clark schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er glaubte Sean nicht – oder wollte er ihm vielleicht nicht glauben? Aber wenn es stimmte... dann hatte Luna ihn belogen. »Abgesehen davon«, fuhr Sean fort, der Clarks Verwirrung spürte, »siehst du nicht so aus, als wolltest du mit einer Hexe zusammen sein.« Clark fuhr entsetzt auf. »Mit einer... was?« Sean wischte sich das Gesicht ab und tat so, als sei er überrascht. »Das hat sie dir also auch nicht gesagt?« Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Und du bist nicht selbst drauf gekommen – die Karten, die Kerzen, die Träume...?« Sean malte mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft und lachte abermals. »Sag mal, Clark, hat sie dir auch schon aus der Hand gelesen?« Clark spürte, wie er rot vor Zorn wurde. Er wollte, dass Sean den Mund hielt, und er fühlte sich von Luna verraten. Wie konnte sie nur mit so einem Clown gehen? Und was hatte es mit diesem Hexenkram auf sich? Sean legte einen Arm um seine Schultern. »Hör mal, Mann, alles in Ordnung«, sagte er. Es klang freundlich, obwohl es ihm nicht ganz gelang, die Schärfe aus seiner Stimme zu 69
verbannen. »Du bist neu hier, sie hat dich angemacht, und du wusstest nicht, dass sie mit mir zusammen ist. Aber mach dir keine Sorgen, Clark. Alles in Ordnung. Wir sind immer noch Kumpels.« Er versetzte Clark einen kräftigen Schlag auf den Rücken und verließ das Badezimmer. Clark ballte die Hände zu Fäusten. Wie gern hätte er Sean dieses falsche Grinsen ausgetrieben! Zu wissen, dass ihm dies verwehrt war, brachte ihn fast um den Verstand. Doch dann gelang es ihm, sich zu beherrschen, als Sean sich in der Tür umdrehte und sagte: »Ach, eine Sache noch, Clark. Nimm dich in Acht. Das Leben hier kann manchmal ziemlich... gefährlich sein, verstehst du?«
15 »CLARK! Hey, Clark, warte doch!« Clark tat so, als höre er Luna nicht, schnappte sich seine Kuriertasche, lief die wacklige Treppe hinunter und stürmte zur Tür hinaus. Luna musste sich beeilen, um ihn einzuholen. Sie stellte sich ihm in den Weg. »Hey!«, sagte sie. »Du hast dich nicht mal verabschiedet.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um Clark zu küssen, aber er wendete sich ab. »Ich muss zur Arbeit«, sagte er nur. »Erst, wenn du mir sagst, was los ist.« Clark wollte sie nicht ansehen, weil er Angst hatte, sein Gesicht könnte ihr verraten, wie verletzt er war. »Das solltest du lieber Sean fragen«, entgegnete er eingeschnappt. »Ich wünschte aber, du würdest mit mir reden, Clark«, gab Luna zurück und sah ihn verwirrt an. »Bitte!« Clark seufzte. »Du hast mir nicht gesagt, dass du... mit ihm zusammen bist.« Luna nahm die Hände von Clarks Schultern und stemmte sie in die Hüften. »Weil ich es nicht bin!« 70
»Nun, er scheint es aber zu glauben.« Clark suchte in Lunas Gesicht nach Spuren eines schlechten Gewissens. Es gab keine, sie sah eher wütend aus. »Hör mal, Sean glaubt vielleicht, dass er irgendein Recht auf mich hat, weil er mich am Busbahnhof gerettet hat«, erklärte Luna. Clark war bewusst, wie wichtig diese Sache für die Leute im Haus war. Wer draußen jemanden auflas und mitbrachte, hatte für den Geretteten eine besondere Bedeutung. »Er hat das für mich getan, was ich für dich getan habe«, fuhr Luna fort. »Also stehe ich auf gewisse Weise in seiner Schuld. Aber ich war nie mit ihm zusammen, und sein Besitz bin ich schon gar nicht. Ich gehöre niemandem. Ich entscheide selbst, mit wem ich gehen will. Und...« Ihre Stimme wurde weich. »... das bist du.« Clark nahm erleichtert Lunas Hand. »Es tut mir Leid«, sagte er lächelnd. »Ich glaube, ich habe das Zweite-Reihe-Syndrom. So was ist mir nämlich schon mal passiert.« »Also, bei mir läuft das anders.« Luna hob zwei Finger. »Großes Pfadfinderehrenwort«, sagte sie grinsend. »Weißt du noch?« Clark nickte. »Ja, das weiß ich noch.« Er zog Luna an sich, und als er sie umarmte, legte sie ihren Kopf an seine Brust. Es fühlte sich großartig an, einfach so mit ihr dazustehen. Clark wollte alles vergessen, was Sean gesagt hatte. Aber... »Luna«, begann er, »da ist noch etwas...« In diesem Augenblick blickte Luna auf und schrie: »Achtung, Clark!« Er hatte kaum Zeit, den Kopf zu heben, da traf ihn auch schon eine Flasche am Kopf und zersprang in tausend rasiermesserscharfe Scherben. »Clark!«, rief Luna. »Alles in Ordnung?« Die Flasche hatte ihn nicht verletzt. Die Scherben hatten ihn nur ein wenig gekratzt, als sie von seinem Kopf abgeprallt
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waren. Luna suchte Clarks Stirn behutsam nach der Platzwunde ab, die sie dort sicher vermutete. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie verwundert und entfernte ein paar kleine Glassplitter aus seinen Haaren. »Ich dachte... ich hätte schwören können, dass sie dich voll erwischt hat...« Clark überlegte rasch. »Ja«, nickte er, »das habe ich auch gedacht. Aber sie muss zuerst hier aufgeschlagen sein.« Er zeigte auf den Sims des Fensters, vor dem er stand. Bestimmt hatte Luna sich instinktiv geduckt und gar nicht mitbekommen, wie die Flasche seinen Kopf getroffen hatte. »Glück gehabt, wie?« Luna machte ein verblüfftes, aber erleichtertes Gesicht. »Aber wirklich!«, sagte sie und umarmte Clark. Dann rückte sie von ihm ab. »Ich weiß nicht, wo diese Flasche herkam, aber auf jeden Fall riechst du jetzt nach Bier.« Clark runzelte die Stirn, während er über die feuchte Stelle in seinem Haar fuhr. Sean! »So sollte ich wohl nicht auf der Arbeit auftauchen«, bemerkte er leichthin und verbarg seine Wut. »Ich laufe kurz noch mal hoch und halte den Kopf unters Wasser.« Clark ging ins Haus, und sobald Luna ihn nicht mehr sehen konnte, raste er mit Supergeschwindigkeit die Treppe hoch und suchte nach Sean. Er war wütend – nicht weil er die Flasche abbekommen hatte, sondern weil sie Luna hätte treffen können. Wenn ich den Kerl finde... Aber er fand ihn nicht. Sean war spurlos verschwunden. Um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen, beschloss Clark, sich später um dieses Problem zu kümmern.
16 IN EINEM ECKBÜRO hoch oben in einem gläsernen Hochhaus im Zentrum von Metropolis klingelte leise das Telefon. »LuthorCorp, Hal Trumble am Apparat.« 72
»Ich bin es«, knurrte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Mister Trumble drehte sich von der offenen Tür weg. »Ich dachte, ich hätte Ihnen verboten, mich auf dieser Leitung anzurufen!«, flüsterte er ängstlich. »Nur die Ruhe, es wird ganz schnell gehen. Ich habe meine Meinung geändert. Ich bin bereit, den Job anzunehmen, den Sie mir angeboten haben.« Mister Trumble lächelte. »Dann treffen wir uns morgen Mittag. Sie wissen wo.« »Bringen Sie das Geld mit! Bar.« Mister Trumble hörte erleichtert das Klicken in der Leitung. Den Anrufer hatte er glücklicherweise vom Hals – und seine Probleme auch. »Trumble!«, sagte Lex von der Tür aus. »Sie sehen aus, als hätten Sie gerade eine gute Nachricht erhalten. Ich hoffe, es hat etwas mit den Stadthäusern zu tun.« »Das hat es in der Tat«, bestätigte Trumble. »Sieht ganz so aus, als könnten wir bald loslegen.« Martha Kent fuhr auf, als sie das Klopfen an der Küchentür hörte. Nach zwei Tagen ohne irgendeine Nachricht von Clark waren sie und Jonathan ziemlich nervös und unruhig. Nicht zu wissen, wo er war, was er tat, ob er etwas zu essen hatte... Ihre Nerven lagen blank. Sie hielt die Luft an, als sie Chloe Sullivan in der Tür stehen sah. »Oh, hallo Chloe! Komm doch herein!« »Tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte Chloe, stellte ihre Büchertasche auf den Tisch und setzte sich. »Wie geht es Ihnen und Ihrem Mann?« Martha seufzte. »Jonathan liegt im Bett, weil ich ihm damit gedroht habe, ihn wieder ins Krankenhaus zu bringen, wenn er es nicht tut. Tja, und ich, ich... Nun, du siehst ja, wie es mir geht. Ach, wo habe ich nur meine Manieren gelassen?
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Möchtest du etwas trinken, Chloe?« Mrs. Kent sah aus, als sei ihr jede Ablenkung recht, also bat Chloe um ein Glas Wasser. »Ich nehme an, Sie haben noch nichts gehört, oder?«, erkundigte sich Chloe. Mrs. Kent schüttelte den Kopf. »Die Polizei hat auch noch keine Spur.« »Ich weiß«, nickte Chloe. »Ich habe eine Freundin, die im Büro des Sheriffs arbeitet. Aber da ich glaube, dass ich Clark besser kenne als die Polizei, habe ich selbst ein paar Nachforschungen angestellt.« »Ach ja?« Martha fühlte sich angesichts Chloes Hilfsbereitschaft reichlich unwohl. »Es stellt sich ja nicht nur die Frage, wo er hingegangen ist, sondern vor allem, wie er Smallville verlassen hat«, begann Chloe. »Er hat keines von Ihren Autos genommen, also scheidet diese Möglichkeit aus. Mit dem Zug ist er auch nicht weg, weil es ohne Auto zu weit zum Bahnhof ist, und niemand von uns hat ihn hingefahren. Also bin ich mit einem Foto von Clark zum Busbahnhof gefahren, aber dort hat ihn niemand gesehen. Ich habe sogar mit der Frau am Schalter gesprochen, die am Montag Nachtschicht hatte. Sie sagte mir, sie würde sich bestimmt an ihn erinnern, wenn sie ihn gesehen hätte. Mit dem Bus ist er also auch nicht gefahren.« Martha schluckte. So gern sie einen Hinweis auf den Verbleib ihres Sohnes gehabt hätte, auf diese Weise wollte sie ihn nicht bekommen. Chloe hatte die Angewohnheit, den Dingen immer mit äußerster Beharrlichkeit auf den Grund zu gehen. Martha erinnerte sich daran, wie die Kids einmal eine Hausarbeit über einen Klassenkameraden schreiben mussten. Chloe hatte die Kents regelrecht zu Clarks Adoption verhört – wie sie ihn gefunden hatten, wo, wann... Diese und viele andere Fragen hatte sie ihnen gestellt und sie in die Enge getrieben.
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»Bleibt noch das Flugzeug«, fuhr Chloe fort, »aber ich glaube nicht, dass er sein ganzes Geld für ein Flugticket ausgeben würde. Also ist er entweder per Anhalter gefahren, oder er ist einfach aus der Stadt gewandert...« Eher gerannt, dachte Martha. »... doch das ist ziemlich unwahrscheinlich.« Chloe zog die Augenbrauen hoch und sah Mrs. Kent an, als erwarte sie die Antworten auf alle offenen Fragen von ihr. Martha kam es so vor, als sei Chloes Neugier der Hauptgrund für ihr Interesse an Clarks Verschwinden. Er war von einem Freund, der ihr am Herzen lag, zu einem spannenden Rätsel geworden, das geknackt werden wollte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, antwortete Martha ehrlich. Chloe runzelte die Stirn. »Mrs. Kent, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber halten Sie es für möglich, dass Clark sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern gemacht hat? Ich meine, viele adoptierte Kinder tun das. Sie wollen wissen, wer ihre wahren Eltern sind. Vielleicht hat Clark...« »Das glaube ich nicht, Chloe«, erwiderte Martha knapp. »In seinem Brief hat er nichts dergleichen erwähnt.« Sie blickte auf ihre flatternden Hände. Chloe errötete. »Tut mir Leid, Mrs. Kent, ich wollte Sie nicht... ich wollte nur helfen.« »Das ist mir klar, Chloe, und ich weiß das durchaus zu schätzen. Ich glaube nur nicht, dass es irgendwas mit seiner Adoption zu tun hat.« Chloe merkte, dass es besser war, wenn sie sich jetzt aus dem Staub machte. Sie entschuldigte sich noch einmal und verschwand rasch durch die Küchentür. Mrs. Kent blieb mit besorgter Miene am Tisch sitzen. Chloe bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie Marthas Gefühle verletzt hatte, aber als sie zu ihrem Auto ging, musste sie wieder an die Datei denken, auf die sie bei der 75
Recherche für die Hausarbeit über Clark gestoßen war. Er war der einzige Fall einer Adoptionsagentur in Metropolis, die nach nur sechs Monaten wieder zugemacht hatte. Sehr merkwürdig. Clark hatte sich ziemlich über Chloes Schnüffelei aufgeregt, und es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie die Wogen wieder glätten konnte. Allerdings hatte sie sich noch nicht dazu überwinden können, die Adoptionsdatei von ihrer Festplatte zu löschen. Und sie hörte nicht auf sich zu wundern, warum Clark immer so ein Geheimnis aus allem machte, was mit ihm zu tun hatte. So intensiv Chloes Gefühle für Clark auch sein mochten, ihr Bedürfnis, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, war eindeutig stärker. Wenn sie, wie sie einmal gehofft hatte, ein Paar geworden wären, hätte sich die Faszination, die er auf sie ausübte, vielleicht in eine andere Richtung entwickelt. Aber sie waren kein Paar, und nun war Chloes Neugier größer als je zuvor. Sie konnte einfach nicht anders. Sie musste Antworten auf ihre zahlreichen Fragen finden, auch wenn sie dafür unter Umständen einen hohen Preis zahlen musste.
17 »ICH KANN IMMER NOCH NICHT FASSEN, dass du gar nichts abbekommen hast«, sagte Luna verwundert und strich Clark durchs Haar. Sie waren im Wohnzimmer und hatten gerade das Abendessen beendet: Cheeseburger, die Clark bezahlt hatte (nach der Pizza-Geschichte hatte er sich geschworen, nicht mehr zu stehlen und nie wieder etwas zu essen, das auch nur in die Nähe einer Mülltonne geraten war), sowie Stücke von einer Geburtstagstorte, die von einer Feier in dem New-Age-Laden übrig geblieben waren, in dem Luna arbeitete. So sahen ihre Mahlzeiten immer aus, ein Mischmasch aus allem, das günstig oder umsonst zu haben war. Zuerst hatte es Clark Spaß gemacht, sich nur noch von 76
Junkfood zu ernähren, doch mittlerweile sehnte er sich nach dem leckeren Essen seiner Mutter. Das Schöne an diesem Abend war, dass alle anderen ausgeflogen waren, also hatten Clark und Luna das Haus für sich. Es war ein wenig kühl, und Clark hatte ein paar abgebrochene Tischbeine aus dem zweiten Stock geholt, die er mit seinem Hitzeblick anzündete, als Luna gerade nicht hinsah. Nun saßen sie gemütlich vor einem warmen Kaminfeuer. »Und ich kann nicht glauben, dass Sean dir diese Lüge über ihn und mich aufgetischt hat«, nahm Luna verärgert den Faden wieder auf. »Das macht mich total sauer!« Nicht so sauer, wie ich über die Flasche bin, die er nach uns geworfen hat, dachte Clark, sprach es aber nicht aus. Sean war noch nicht wieder aufgetaucht, und abgesehen davon quälte ihn eine ganz andere Frage. »Luna... Sean hat noch etwas gesagt.« »Was denn?«, wollte Luna wissen und verdrehte die Augen. »Erzähl schon!« »Er, ähm... also, ich weiß nicht, was er damit meinte, aber er hat gesagt, du bist eine Hexe.« Zuerst glaubte Clark, dass Luna ihn schockiert anstarrte. Aber dann erkannte er, dass sich etwas ganz anderes in ihrem Gesicht abzeichnete, das über Bestürzung weit hinausging. Und dieser Blick kam ihm irgendwie sehr bekannt vor... Langsam dämmerte es ihm. Genau das gleiche Gesicht hatte er selbst gemacht, als Lex nicht glauben wollte, dass er ihn nicht angefahren hatte... und als Lana Zweifel an seiner Version der Geschichte angemeldet hatte, wie er sie nach den Tornados gefunden hatte... und wann immer jemand ihn bei etwas beobachtet hatte, das sich jeder vernünftigen Erklärung entzog. Es war der Gesichtsausdruck eines Menschen, der etwas zu verbergen hatte.
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»Das... das hätte er dir nicht sagen sollen«, stammelte Luna. »Wenigstens nicht, bevor ich mit dir darüber gesprochen habe.« »Du meinst... es stimmt?«, fragte Clark verblüfft. Luna verschränkte schützend die Hände vor der Brust. »Sieh mich nicht so an!«, bat sie. »Ich bin noch derselbe Mensch wie vor fünf Minuten.« Clark hatte ein regelrechtes Déjà-vu-Erlebnis. Beinah dasselbe hatte er auch zu Pete gesagt, nachdem er ihm die Wahrheit über sich anvertraut hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Pete ihn angestarrt hatte, als hätte er sich plötzlich von einem Menschen in ein Monster verwandelt. Das wollte er Luna nicht antun. »Entschuldige bitte«, sagte er. »Es ist nur... Ich habe überhaupt keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat.« »Was bedeutet es denn für dich?« Clark dachte nach. »Ich weiß auch nicht. Hexen sollen doch böse grüne Weiber mit Warzen an der Nase sein, die ihren Lebensunterhalt mit vergifteten Äpfeln bestreiten. Du machst keinen sonderlich bösen Eindruck«, meinte er. »Und grün bist du auch nicht.« Er hatte die richtigen Worte gewählt. Sie mussten beide lachen, und die Spannung, die sich im Raum aufgebaut hatte, löste sich. Luna ließ die Arme sinken und atmete hörbar aus. »Seit ich denken kann, habe ich das Gefühl, irgendwie anders zu sein«, begann sie. »Als ich klein war, wusste ich immer, wer anrief, bevor jemand ans Telefon ging. Ich fand heraus, dass die Tiere durch Gedankenübertragung mit mir sprachen. Einmal zum Beispiel war unser Hund ziemlich krank. Ich erklärte meinen Eltern, er hätte gesagt, dass er ein Paar Socken von meinem Vater verschluckt hatte. Auf der Fahrt zum Tierarzt schimpften sie: ›LuAnne Dobson, Tiere können nicht sprechen. Das hast du in Dr. Doolittle gesehen!‹ Jedenfalls musste der Hund
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operiert werden.« Luna hielt inne. »Rate mal, was sie gefunden haben!« »Die Socken von deinem Vater«, antwortete Clark, aber er wusste nicht, ob er Luna glauben sollte. Nein, er wollte ihr nicht glauben. Wenn sie die Wahrheit sagte, wenn sie tatsächlich ein Gespür für solche Dinge hatte, dann konnte sie vielleicht auch hinter sein Geheimnis kommen. War so etwas überhaupt möglich? Clark war beunruhigt. »Eines Nachts habe ich geträumt, mein Vater würde sterben«, fuhr Luna fort, schlug die Augenlider nieder und spielte nervös mit den Ringen an ihren Fingern. »Er fuhr mit seinem Wagen, und dann flog er plötzlich auf und davon. Und er war glücklich.« Luna wischte sich über die Augen. »Eine Woche später ist ihm auf dem Heimweg von der Arbeit ein Betrunkener reingefahren.« »Es tut mir so Leid«, sagte Clark sanft. Luna sah ihn an. »Aber es war, als wäre er gar nicht wirklich gestorben, Clark«, sagte sie. »Ich meine, natürlich ist er tot. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass er noch bei uns ist. Und er hat in meinen Träumen zu mir gesprochen. Er hat mir gesagt, dass er uns liebt und dass es ihm gut geht.« Clark schwieg. Für ihn klang das alles nach der ganz normalen Reaktion eines Kindes auf einen derartigen Schock. Und er wollte nicht daran denken, wie es um seinen Verstand bestellt sein würde, wenn seiner Mutter oder seinem Vater etwas zustoßen sollte. Als hätte sie seine Gedanken erraten, fuhr Luna fort: »Aber er hat mir auch speziellere Dinge gesagt. Wo ich das Armband wieder finden könnte, das ich verlegt hatte, oder dass meine Mom ihr Herz untersuchen lassen sollte, weil es da ein Problem gab. Und er hat jedes Mal Recht gehabt.« Nach einer Pause fuhr Luna fort: »Ich glaube, es war zu viel für Mom, als ich versuchte, ihr davon zu erzählen. Sie ist schrecklich wütend geworden und hat mich angeschrien, sofort 79
damit aufzuhören. Sie dachte wohl, ich wäre auf Drogen oder so was. Sie hat mein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt, und als sie die Kerzen und meine Tarot-Karten gefunden hat...« Luna zuckte mit den Schultern. »Sie nahm an, ich wäre verrückt geworden und hat einen Psychiater nach dem anderen angerufen.« Clark war schockiert. »Und deshalb bist du weggelaufen!« Luna seufzte. »Ich liebe meine Mom, Clark, aber sie hielt mich für völlig durchgeknallt. Ein paar von meinen Freunden auch. Hast du so etwas auch schon mal erlebt?« »Öfter, als du denkst«, bestätigte Clark. »Das glaube ich dir nicht«, entgegnete Luna lächelnd. »Du bist so normal – es ist, als würdest du von einem anderen Planeten kommen. Deine Eltern müssen dich wirklich gern haben.« »Glaube schon... Ich meine, ich weiß es.« »Sie fehlen dir, nicht wahr?«, fragte Luna. Clark nickte. »Und sie verlieren wahrscheinlich den Verstand vor Sorge, aber ich will sie nicht anrufen, weil sie dann vielleicht herausfinden, wo ich bin.« Lunas Miene hellte sich plötzlich auf. »Es gibt etwas, das wir tun können. Wir können mit ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen eine Nachricht schicken, ohne deinen Aufenthaltsort preiszugeben.« »E-Mail?«, fragte Clark. »Eher Traum-Mail«, sagte Luna. »Natürlich nur, wenn du kein Problem damit hast. Mit diesem Hexenkram. Und mit mir, meine ich.« Clark grinste sie an. »Fürs Protokoll, ich glaube immer noch nicht, dass du grün genug bist, um als Hexe durchzugehen, und für verrückt halte ich dich auch nicht«, sagte er. In Lunas Gesicht zeichneten sich Erleichterung und Dankbarkeit ab – dieselben Gefühle, die Clark empfunden hatte, als Pete ihn endlich wieder wie seinen besten Freund behandelte. 80
Luna rückte dichter an Clark heran, bis sich ihre Knie berührten, und nahm seine Hände. »Okay, schließ die Augen!«, wies sie ihn an. »Und jetzt denk an einen von beiden, deine Mutter zum Beispiel. Das Bild ist zu verschwommen und undeutlich, wenn du versuchst, zu beiden gleichzeitig Kontakt aufzunehmen.« Clark wusste nicht, was sie damit meinte, aber er schloss die Augen und dachte an seine Mutter. »Und jetzt konzentriere dich auf sie. Überlege dir, wo sie jetzt gerade sein könnte. Versuch sie zu finden«, flüsterte Luna ihm zu. Clark stellte sich sein Elternhaus vor. Er sah es so deutlich vor sich, dass er den Eindruck hatte, wirklich dort zu sein. Er suchte im Wohnzimmer, ging die Treppe hinauf und spähte ins Schlafzimmer seiner Eltern. Da lagen sie im Bett und schliefen. Sein Vater war nicht deutlich zu erkennen, aber die Vision seiner Mutter war so klar, dass Clark sehen konnte, wie besorgt ihr Gesicht selbst im Schlaf war. Ihre Augenlider waren vom Weinen geschwollen. Lunas Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm, obwohl sie direkt neben ihm saß. »Jetzt rede mit ihr – leise, damit du sie nicht weckst.« Offenbar konnte Luna sehen oder zumindest spüren, was er sah, und das war geradezu ein Wunder. Aber Clark war so überwältigt von dem starken Gefühl, wieder zu Hause zu sein, dass er lieber nicht darüber nachdenken wollte. Es geht mir gut, Mom. Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist alles in Ordnung. Ich liebe dich und Dad, und ich komme bald wieder nach Hause. Bitte weine nicht... »Clark?« War das seine Mutter, die ihn rief, oder war es Luna? Clark vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen. Plötzlich hatte er den Eindruck, an einem langen Bungee-Seil zu hängen, das plötzlich zurückschnappte. Es machte Wusch!, und schon sauste er über die Farm, über die Straße, über die Skyline von Metropolis, über das Haus... und dann, als er die Augen aufschlug, war er wieder in jenem Wohnzimmer. 81
»Was...?« Clark schüttelte den Kopf. »Wow! Was war denn das?« »Ich schätze, es hat funktioniert«, meinte Luna grinsend. Sie konnte ihre Begeisterung kaum zügeln. »Und ich schätze, du hast deine Mutter geweckt.« Später am Abend konnte Clark einfach nicht einschlafen. Zuerst musste er immer wieder über die seltsame Erfahrung nachdenken, zu der Luna ihm verholfen hatte. Das Haus, seine Eltern – alles hatte so echt gewirkt, als wäre er wirklich dort gewesen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie Luna das gemacht hatte, oder ob sie überhaupt etwas gemacht hatte. Als Nächstes überkam ihn Heimweh. So stark, dass er es unmöglich verdrängen konnte. Wenn er die Augen schloss, sah er das tränenüberströmte Gesicht seiner Mutter vor sich, wenn er sie wieder öffnete, starrte er in den kalten, schmutzigen Raum mit den kaputten Fenstern und den Rissen in den Wänden. Und da war noch etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Die kratzenden Geräusche von Ratten, die über den Holzboden huschten und in die Mauerritzen krochen. Es gab nur einen Trost an diesem Ort. Clark drehte sich zu Luna um und ergriff ganz behutsam, damit er sie nicht weckte, ihre Hand.
18 »AHA, DA IST JA MEINE MENSCHLICHE KANONENKUGEL!« »Morgen, Mister Grimes!«, rief Clark, als er die Zentrale von Merkur betrat. »Haben Sie was für mich?« »Ich habe eine ganze Menge für dich, mein Junge«, murmelte Mister Grimes mit der angekauten Zigarre im Mund. »Von heute an gehen alle Eilaufträge an dich. Ich weiß zwar 82
nicht, wie du es schaffst, die Sachen so schnell auszuliefern, aber wenn du so weitermachst, erwartet dich am Wochenende ein anständiger Scheck.« Clark strahlte übers ganze Gesicht. Genau aus diesem Grund war er nach Metropolis gekommen. Er würde seinen Eltern das Geld schicken und nur einen kleinen Teil für Essen und Notfälle zurückbehalten. »Okay, Junge«, sagte Mister Grimes und riss einen Zettel von seinem Block. »Hier ist dein erster Job für heute. Du holst eine Lieferung bei dieser Adresse ab und beförderst sie in die Nachrichtenredaktion des Daily Planet. Ruf mich an, wenn du das erledigt hast, dann habe ich was Neues für dich.« Er gab ihm den Zettel. »Wenn ihr Penner nur genauso schnell wärt wie dieser Junge ohne Fahrrad!«, rief er den anderen Boten zu. Clark verließ die Zentrale im Eiltempo. Nicht weil er an das Geld dachte, sondern aus Verlegenheit. In Metropolis war es schwieriger für ihn, mit Höchstgeschwindigkeit zu rennen, als in Smallville. Dort konnte Clark jederzeit, ohne gesehen zu werden, über die Straßen rasen. In dieser Riesenstadt jedoch gerieten ihm Menschen und Autos und Fahrräder und Hunde und was sonst noch in die Quere. Und da er nicht noch so einen Unfall wie den mit dem Traktor seines Vaters riskieren wollte, lief er durch kleine Gassen und Passagen und sogar über die Dächer, deren kurze Zwischenräume er einfach übersprang. Auf diese Weise brauchte er nur ein paar Minuten für die Strecke von der Zentrale zu einem Wohnblock, wo er ein Päckchen abholte, und zum Daily Planet, der seinen Sitz gleich neben dem LuthorCorp-Hochhaus hatte. Daran erinnerte sich Clark durch einen früheren Ausflug nach Metropolis, und achtete daher darauf, sich nicht zu lange auf der Straße aufzuhalten. Schließlich würde es ihn nicht wundern, wenn Lex ausgerechnet in diesem Augenblick sein Büro aufsuchen wollte! 83
In der Eingangshalle des Zeitungsgebäudes blieb Clark erst einmal stehen und bewunderte die riesige Erdkugel mit der Aufschrift DAILY PLANET, die sich in der Mitte der Lobby drehte. Das war echt cool! Nachdem Clark dem Wachmann am Eingang seinen Kurierausweis gezeigt hatte, ging er einmal ganz um den Riesenglobus herum, bevor ihm wieder einfiel, weshalb er gekommen war. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Empfangsdame der Nachrichtenredaktion hoch oben im Gebäude. »Ja, ich habe eine Lieferung für... Samuel Brown.« Clark las den Namen von dem Adressaufkleber ab. »Hm, Samuel Brown«, echote die Sekretärin. »Oh, ja, das ist der neue Reporter. Gehen Sie durch diese Tür und den Gang ganz bis ans Ende. Es ist die letzte Nische auf der rechten Seite.« Als Clark die Glastür öffnete, empfing ihn eine unvorstellbare Hektik. Das offene Großraumbüro erstreckte sich über die ganze Etage, auf der die Mitarbeiter geschäftig hin und her liefen, und war in zahllose kleine Arbeitsnischen aufgeteilt. Überall klapperten Computertastaturen. Am anderen Ende des Raums hing ein elektronischer Nachrichtenticker an der Wand, während über Fernsehschirme in den Eckbüros die Nachrichtensendungen aus dem ganzen Land flimmerten. An einer weiteren Wand zeigten Uhren die aktuellen Zeiten von London, Paris, München, Singapur und anderen Städten an. Clark ging langsam den Gang hinunter. Die vielen neuen Eindrücke musste er erst einmal verarbeiten. Am anderen Ende stieß er in einer kleinen Arbeitsnische auf einen Burschen in Lex’ Alter, vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, der sich einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte und sich in einem irrsinnigen Tempo Notizen machte. Er bemerkte Clark nicht, der neben ihm stand und sich noch einmal in der Redaktion umsah.
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»Sie sagen, die Gebäude stehen unter Denkmalschutz, aber die Pläne für die neue Chemiefabrik werden trotzdem genehmigt?«, sagte Samuel Brown ins Telefon. »Aber das ist doch nicht möglich... es sei denn... Bestechung? Wer? Kommen Sie, Sie müssen mir sagen, woher Sie das haben, sonst kann ich die Geschichte nicht bringen. Wenn ich so etwas drucke, ohne eine Quelle zu nennen, werde ich, wenn die Anwälte von LuthorCorp mit mir fertig sind, nicht einmal mehr für eine Schülerzeitung schreiben können!« Als der Name LuthorCorp fiel, fuhr Clark herum, und Samuel bemerkte ihn endlich. »Ich muss Schluss machen. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Handfestes haben!«, sagte er und legte auf. »Was kann ich für Sie tun?« »Lieferung für Sie«, antwortete Clark und reichte ihm das Päckchen. Er hätte Mister Brown gern gefragt, warum er über die Firma von Lex’ Vater gesprochen hatte, aber das ging ihn natürlich nichts an. »Danke, Junge«, sagte Samuel und merkte, wie Clark sich staunend in dem riesigen Büro umsah. »Cool, was?« »Es ist... toll! Geht es hier immer so zu? So hektisch und aufregend?« Samuel nickte. »Und dabei ist der Tag bisher noch recht ruhig«, erklärte er. »Aber vielleicht geht es ja später noch richtig los. Ich bin neu hier und auf der Suche nach meiner ersten großen Geschichte. Wer weiß...« Er blickte auf seine Notizen. »Kann sein, dass ich schon eine habe.« Clark überlegte, wie er herausbekommen konnte, um was es ging und was Lex mit der Sache zu tun hatte, aber in diesem Augenblick knackte sein Funkgerät, und Mister Grimes Stimme meldete sich. »Hey, Schnellläufer! Melde dich!« »Ich muss los«, sagte Clark bedauernd. Er wäre gern noch geblieben. »Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen.« »Man sieht sich«, entgegnete Samuel und tippte schon wieder eine Nummer ins Telefon. 85
Clark umkreiste noch einmal den riesigen Erdball im Erdgeschoss, bevor er das Gebäude verließ. Als er mit dem Lift nach unten fuhr, war ihm eine Idee gekommen, die ihn in helle Aufregung versetzte: Hier will ich arbeiten! Er sah sich die Eingangshalle ganz genau an und stellte sich vor, wie er eines Tages am Eingang seinen Reporterausweis vorzeigen und seine kleine Büronische betreten würde, wie Mister Brown eine hatte, um täglich neue Geschichten aufzuspüren. Clark hatte zwar manchmal an Journalismus gedacht, wenn ihn die Berufsberater in der Schule gelöchert hatten, was er im College als Hauptfach wählen wollte, und nun, da er diese Nachrichtenredaktion gesehen hatte... Er strahlte vor Begeisterung übers ganze Gesicht. Jetzt wusste er, was er werden wollte. Er fühlte sich wie frisch verliebt – mit dem Unterschied, dass der Daily Planet niemals sagen würde, dass sie nur gute Freunde sein sollten. Clark konnte es gar nicht abwarten, Luna davon zu erzählen. »Junge! Bist du da oder was?«, ertönte knisternd Mister Grimes’ Stimme. »Schon bereit!«, meldete sich Clark. »Tut mir Leid. Wo muss ich als Nächstes hin?« »Fahr zu der Anwaltskanzlei Campbell, Morgan and Davis. Das ist an der Ecke Neunzehnte und James, und schaff die Lieferung zu LuthorCorp.« Oh, nein! Und wenn Lex im Haus war und er ihm unversehens über den Weg lief? »Ähm... kann das nicht ein anderer machen, Mister Grimes?« »Das ist ein supereiliger Auftrag, Junge«, erwiderte Mister Grimes. »Das musst du machen. Wenn du vor zwölf Uhr da bist, gibt es was extra.« Clark zögerte und wog das Risiko ab. »Bin schon unterwegs!«, antwortete er schließlich.
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19 DIE BEGEISTERUNG, die Clark bei seinem Besuch in der Nachrichtenredaktion erfasst hatte, verwandelte sich in Nervosität, als er die Anwaltskanzlei verließ und sich mit einem dicken Umschlag unter dem Arm zu LuthorCorp aufmachte. Bestürzt entdeckte er, dass die Sendung an Lex und Lionel Luthor adressiert war, was bedeutete, dass beide in Metropolis waren. Und wenn er ihnen den Umschlag persönlich überbringen musste? Dann konnte er seine Pläne auch sofort begraben, seine Eltern anrufen und ihnen mitteilen, dass er pünktlich zum Abendessen zu Hause sein würde. Aber das Glück war auf seiner Seite. Sämtliche Lieferungen wurden in der Poststelle im Keller angenommen, und die Wahrscheinlichkeit, dass Lex dort auftauchte, war gleich null. Erleichtert gab Clark den Umschlag ab und ging zurück in die Eingangshalle. Weil er nur darauf geachtet hatte, nicht von Lex erwischt zu werden, war ihm der Anschlag an der Wand neben dem Eingang zuerst gar nicht aufgefallen. Nun aber, auf dem Weg nach draußen, sah er ihn. Es war ein Foto von ihm darauf – sein Foto aus dem Jahrbuch der Schule, das im vergangenen Jahr aufgenommen worden war. Clark hasste dieses Foto. Er blickte darauf verlegen zur Seite, die Krawatte saß zu eng, und er hatte ein befangenes halbes Grinsen im Gesicht, weil Lana, die als Nächste an der Reihe gewesen war, direkt neben ihm gestanden hatte. Aber es kam noch schlimmer. Unter dem peinlichen Foto stand in großen Blockbuchstaben: WER HAT IHN GESEHEN? VERMISST: CLARK KENT. BELOHNUNG, dann eine Telefonnummer und eine Beschreibung – Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe – sowie die Frage, wo er zuletzt gesehen worden war...
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Lex hatte die Steckbriefe bestimmt in der ganzen Stadt verteilen lassen, um Clarks Eltern bei der Suche zu helfen. Clark riss den Anschlag beim Hinausgehen möglichst unauffällig von der Wand. Es muss noch mehr von diesen Aushängen geben, dachte Clark. Da entdeckte er an einem Laternenpfahl vor dem LuthorCorp-Hochhaus auch schon den nächsten, und noch einen an der Bushaltestelle am Ende des Blocks... Da sich wie überall in Metropolis kein Mensch darum kümmerte, was rings um ihn vorging, konnte Clark die Steckbriefe im Vorbeigehen unbemerkt abreißen. Er zerknüllte sie und stopfte sie in die Tasche, während er um die nächste Ecke bog und eine Seitenstraße passierte. Er warf einen Blick hinein und hielt nach weiteren Anschlägen Ausschau. Dabei bemerkte er ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. War das Sean? Da dieser ihn nicht gesehen hatte, ging Clark einfach weiter. Doch nachdem er die Straße überquert hatte, spähte er noch einmal vorsichtig um die Ecke. Es handelte sich eindeutig um Sean. Clark erkannte seine tiefblauen Augen unter dem Bauarbeiterhelm. Er stand neben einem kleinen, nervös wirkenden Typen im Anzug. Der Verkehr war so stark, dass Clark nicht genau hören konnte, was sie sagten. Es gelang ihm lediglich, vereinzelte Wörter aufzuschnappen. »... misstrauisch...«, sagte der Mann im Anzug. Sean machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Sorge... Einfach...« »Wie wollen Sie...?« Clark verfluchte den Lärm. Er verstand zwar nicht, um was es ging, aber wenn Sean die Finger im Spiel hatte, konnte es nichts Gutes sein. Nun streckte Sean mit einer auffordernden Geste die Hand aus. Der Mann sah sich um und gab ihm einen dicken 88
Umschlag. Clark war schockiert über die große Geldmenge, die Sean zu zählen begann. Der Mann nickte Sean noch einmal zu und ging dann in Richtung des LuthorCorp-Hochhauses davon. Sean kam auf Clark zu. Clark versteckte sich im Eingang eines Restaurants und beobachtete, wie Sean vorbeiging. Er ließ ihm einen ausreichenden Vorsprung, dann folgte er ihm in eine U-Bahn-Station.
20 »MISTER LUTHOR?« Einer der vielen Juniorassistenten, die bei LuthorCorp herumliefen, streckte den Kopf durch die Tür des riesigen Konferenzraums, in dem Lex ganz allein saß. »Der Bote, auf den Sie gewartet haben, war gerade da.« Er händigte Lex einen dicken Umschlag aus. »Das ging aber schnell«, sagte Lex überrascht, bevor er den Assistenten wieder fortschickte. Er hatte nur einen kurzen Augenblick, um die dicke Mappe durchzublättern, bevor wieder die Tür aufging. »Lex«, rief Lionel Luthor, »ist es das, wofür ich es halte?« »Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Dad.« Lex zog eine Grimasse. Er wollte die Sache mit der neuen Fabrik so schnell wie möglich hinter sich bringen. Lionel war nach Smallville gekommen, um die Pläne zu besprechen, dann war er mit Lex nach Metropolis geflogen, um sich zu überzeugen, dass alles glatt ging. Jeder, der die beiden nicht kannte, hätte vermutet, Vater und Sohn stünden sich unerhört nah, weil Lionel jeden Schritt von Lex bei diesem Projekt verfolgte. Komisch, dachte Lex, Dad hat den Großteil seines Lebens damit verbracht, sich von mir zu distanzieren, und nun wäre ich am liebsten möglichst weit weg von ihm. »Nun, mein Sohn«, sagte Lionel und nahm sich einen Stuhl, »was sagen unsere Anwälte über die Häuser im Zentrum?« 89
»Sie stehen unter Denkmalschutz«, erklärte Lex ohne Umschweife. Lionel verzog keine Miene. »Das heißt, es wird keine Chemiefabrik geben«, machte Lex deutlich, um sicherzugehen, dass sein Vater ihn verstand. »Die Gebäude müssen der Stadt zur Restaurierung überlassen werden. Wir dürfen sie nicht abreißen.« Am Gesicht seines Vaters ließ sich nicht ablesen, was er dachte. »Hast du außer mir schon jemandem davon erzählt?«, erkundigte sich Lionel. »Nein...«, antwortete Lex und fragte sich, was sein Vater vorhatte. »Ich glaube, die Anwälte haben mit Hal Trumble gesprochen, aber außer ihm weiß es niemand.« »Dann haben unser Abriss- und Bauteams keine Ahnung?« »Nein, aber wir wissen es«, sagte Lex. »Wir können nicht einfach mit dem Abriss beginnen...« »Und warum nicht?«, fuhr Lionel auf. »Die Grundstücke, auf denen diese Häuser stehen, gehören uns. Wäre diese Nachricht ein, zwei Tage später eingetroffen, hätten die meisten Gebäude längst mit der Abrissbirne Bekanntschaft gemacht!« »Aber die Nachricht ist nicht später gekommen«, erwiderte Lex. »Sie liegt hier auf dem Tisch. Wir können nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Wir müssen einen anderen Standort für die Fabrik finden.« Lionels Lächeln ließ Lex das Blut in den Adern gefrieren. Gegen den Raubtierinstinkt seines Vaters war er nicht hundertprozentig gefeit. »Diese Grundstücke waren zu teuer, um sie einfach so aufzugeben, Lex. Und wie ich gehört habe, sind die Häuser darauf alle sehr alt und baufällig. Ich bin nicht mal sicher, ob man sie überhaupt noch in Stand setzen kann.« »Natürlich kann man das, das ist...« »Einige Mitglieder des Bauausschusses der Stadt stimmen in diesem Punkt zufällig mit mir überein«, fiel Lionel ihm nüchtern ins Wort.
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»Du hast sie alle in die Tasche gesteckt«, stellte Lex mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme fest. »Weißt du, ich bin hergekommen, weil ich nach Korruption und Bestechung in der Firma fahnden wollte, aber ich hatte keine Ahnung, dass sogar die oberste Etage darin verwickelt ist.« Lionel sah ihn überrascht an. »Mit solchen Dingen habe ich nichts zu tun«, erklärte er. »Ich habe keinen Einfluss auf das, was andere Leute im Namen des Fortschritts zu tun bereit sind, besonders, wenn sie unter großem Druck stehen, weil sie vielleicht ihre Jobs verlieren. Aber ich werde dir was sagen, Lex.« Lionel erhob sich und baute sich vor seinem Sohn auf. »Es verblüfft mich jedes Mal aufs Neue, wie naiv du dich gibst, wenn es ums Geschäft geht. Es ist wirklich lobenswert, dass du dich immer wieder für ein gutes Ende einsetzt. Aber du musst unbedingt damit aufhören, den Helden spielen zu wollen, mein Sohn. Das können andere besser. Dein Freund Clark Kent zum Beispiel. Es ist für deinen Lebensweg einfach nicht vorgesehen, also vergiss es!« Lex zwang sich, nicht zurückzuzucken, als Lionel die Hand ausstreckte und ihm spöttisch die Wange tätschelte. Lex hatte sich vor langer Zeit geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um nicht wie sein Vater zu werden, aber in seinem tiefsten Innern wusste er, dass Lionels Worte leider der Wahrheit entsprachen. »Sean!«, rief Clark in der U-Bahn-Station und ging auf den Anführer der Truppe zu. Nur wenige Meter vor ihm, kurz vor dem Tunnel, der zur nächsten Station führte, wirbelte Sean um die eigene Achse. Als er Clark entdeckte, wirkte er zuerst überrascht, dann verärgert, bevor er sich ganz unschuldig gab. »Clark«, sagte er, »was geht ab, Mann? Was machst du denn hier?« »Arbeiten«, antwortete Clark. »Und was machst du hier?« »Dasselbe«, entgegnete Sean. 91
»Dein Job ist anscheinend viel besser bezahlt als meiner«, bemerkte Clark. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Sean ging langsam um Clark herum, um näher am Ausgang zu sein. Clark war darauf vorbereitet, ihn sofort am Kragen zu packen, sobald dieses kleine Katz-und-Maus-Spiel abgeschlossen sein würde. »Ich habe dich mit diesem Typen gesehen, der dir das viele Geld gegeben hat«, erklärte er. »Was ist das denn für eine Geschichte?« Sean fühlte sich ertappt und bemühte sich nicht länger, den Kumpel zu mimen. »Halt dich da raus, Clark, wenn dir dein Leben lieb ist!« »Was? Willst du noch mal mit einer Flasche nach mir werfen?« Aus dem Tunnel am anderen Ende der Station drang das Geräusch einer einfahrenden Bahn. »Du bist anscheinend etwas schwer von Begriff«, meinte Sean und beugte sich zu Clark vor, damit dieser ihn über den Lärm hinweg verstehen konnte. »Vielleicht muss ich ja deutlicher werden!« Plötzlich versetzte er Clark einen heftigen Stoß. Noch bevor Clark auf den Schienen landete, erfasste ihn die Bahn mit voller Wucht und schleuderte ihn in den dunklen Tunnel. Er hörte ein hohes Kreischen, aber ob es die Bremsen des Zuges oder die Schreie der Leute auf dem Bahnsteig waren, konnte er nicht unterscheiden.
21 RINGSUM WAR ALLES SCHWARZ. Clark blinzelte einige Male, bis ihm klar wurde, dass er gar nicht bewusstlos war. Er lag lediglich in einem dunklen UBahn-Tunnel. Er war nicht verletzt, aber er war noch nie zuvor von einem Zug angefahren worden, und der heftige Aufprall hatte ihm für einen Augenblick den Wind aus den Segeln 92
genommen. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können, und stand langsam auf. In der U-Bahn-Station sah er den Zug stehen, den zwischen den Scheinwerfern eine Delle verzierte, die deutlich Clarks Umrisse zeigte. Wie in einem Cartoon, fand Clark. Hinter ihm führte der Tunnel zur nächsten Station. Er hörte das Geschrei der Leute an der Haltestelle. »Ich habe es ganz genau gesehen! Der Kerl hat den Jungen auf die Gleise geschubst und ist weggelaufen!« »Oh, mein Gott, ist er tot?« »Der Zug muss sofort zurückgesetzt werden!« »Hat schon jemand die Polizei gerufen?« Dorthin konnte Clark unter keinen Umständen zurückkehren, auch wenn der Zug ihm nicht den Weg versperrt hätte. Er würde einfach mit zu vielen Fragen bestürmt werden. Am besten, er verschwand ganz einfach. Er atmete noch einmal tief durch und rannte dann zur nächsten Station. Die Leute auf dem Bahnsteig spähten in den Tunnel und hielten nach der Bahn Ausschau, während Clark die kleine Leiter am Tunneleingang hinaufkletterte. Die Menge staunte nicht schlecht, als er nach seinem Sturz plötzlich völlig verdreckt aus der Dunkelheit auftauchte. »Ähm... Gleisarbeiten!«, rief er den Umstehenden zu. »Die nächste Bahn hat wahrscheinlich ein paar Minuten Verspätung. Tut mir Leid...« Dann lief er rasch die Treppe zum Ausgang der U-Bahn-Station hoch. Auch nachts war es in dem alten Haus nicht völlig dunkel. Durch die Ritzen zwischen den Brettern, mit denen die Fenster vernagelt waren, sickerte das Licht der Straßenlaternen. Das städtische Gegenstück zu unseren Sternen, dachte Clark. Er sah zu Luna hinüber, die auch noch nicht eingeschlafen war. »Hey«, flüsterte Clark ihr zu. »Was ist los?«
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»Ich mache mir Gedanken um Sean. Ihm wird schon nichts passiert sein...«, erklärte sie, »aber... ich weiß auch nicht. Ich habe das Gefühl, er hat was vor.« Clark hatte ihr nicht erzählt, dass er Sean und den Mann in der Seitenstraße bei einer Geldübergabe beobachtet hatte, weil er nicht wusste, wie er ihr die Sache mit der U-Bahn erklären sollte. Als er nach Hause kam, war Sean nicht da gewesen, also hatte er beschlossen, die ganze Geschichte erst einmal für sich zu behalten. »Aber dich bedrückt doch etwas, nicht wahr?«, hakte er nach. »Ich habe von unserem Haus geträumt«, sagte Luna. »Und von den anderen Gebäuden in diesem Viertel und von Geld und Sean. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Sean irgendwas im Schilde führt. Und was es auch ist, wenn er geschnappt wird... finden uns die Cops, und schon sitzen wir alle im nächsten Bus Richtung Heimat.« Clark dachte an Smallville und an alle, die er vermisste. »Wäre das denn so schlimm?« Das Rascheln eines Schlafsacks war zu hören, als jemand von den anderen sich im Schlaf umdrehte. Clark und Luna warteten, bis wieder alles ruhig war, dann rückten sie dichter zusammen, damit niemand ihr Gespräch belauschen konnte. »Ich weiß nicht«, raunte Luna. »Aber es wäre traurig, weil wir dann keine Familie mehr wären und nicht mehr Zusammensein könnten.« Clark wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Einerseits wäre er sehr gern nach Hause gefahren, andererseits wollte er bis in alle Ewigkeit mit Luna an diesem schrecklichen Ort bleiben. Er betrachtete ihr Gesicht im Schein der von draußen hereinfallenden Lichtstrahlen. Luna schlug die Augen nieder und streichelte geistesabwesend seine Hände. Unvermittelt beugte er sich über sie, um sie zu küssen.
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Clark war von sich selbst überrascht. Normalerweise war er nicht so impulsiv, und es fiel ihm schwer, jemandem seine Zuneigung zu zeigen. Seine Gefühle für Lana hatte er eine halbe Ewigkeit im Zaum halten müssen, aber mit Luna war alles ganz anders. Sie hatte keine Angst davor, ihre Gefühle offen zu zeigen, und Clark hatte den Eindruck, nichts vor ihr verbergen zu müssen. Nun, zumindest nichts, was diesen Teil seines Wesens betraf. »Wofür war das denn?«, fragte Luna lächelnd. Clark war etwas verlegen. »Weil... ich dich wunderschön finde.« An der Art, wie Luna lächelte, merkte Clark, dass sie wahrscheinlich rot geworden war, aber das ließ sich im Dunkeln nur schwer beurteilen. »Ganz bestimmt«, sagte sie. »Ich glaube, die Zukunft hält eine Brille für dich bereit.« Wieder wälzte sich jemand unruhig im Schlaf. »Schscht«, machte Clark, legte den Zeigefinger auf Lunas Lippen und zeichnete sie ganz langsam und sanft nach, dann strich er über ihre Wange. Schließlich senkte er den Kopf und küsste sie auf die Stirn, die Augenlider, die Nasenspitze und auf den Mund. Zu Hause, stellte er fest, das war für ihn dieser Augenblick, und er wollte, das er niemals endete.
22 AM NÄCHSTEN MORGEN schoss Clark kerzengerade aus dem Schlafsack doch dann fiel ihm ein, dass Samstag war und er nicht arbeiten musste. Als er sich wieder hinlegte, fragte er sich schläfrig, wie spät es sein mochte. Bestimmt noch früh, aber eindeutig ließ sich das nicht bestimmen, wie Clark mit einem Blick aus dem Fenster feststellte. Offenbar war heute einer jener Herbsttage, die morgens genauso grau sind wie am Abend. 95
Er sah sich um. Luna war nicht da, aber Aubrey, Mag und Skunk lagen immer noch fest in ihre Schlafsäcke gekuschelt. Clark zog sich rasch an. Es war kühl im Haus. Im Winter würde es bestimmt eiskalt werden. Clark hatte sich gerade einen Pullover übergezogen und wollte aufs Dach hinauf, als das, was er als Nächstes sah, ihn wie angewurzelt in der Tür verharren ließ. Luna stand an der üblichen Stelle, um den Sonnenaufgang zu beobachten, der sich an diesem Tag nur als heller grauer Fleck in den Wolken zeigte. Ungewöhnlich war allerdings, dass Luna in der Mitte einer Fläche stand, die mit vier weißen Kerzen markiert war. Neben ihr lagen Gegenstände, die Clark kannte, Besitztümer verschiedener Hausbewohner – ein Lederarmband von Skunk, Mags Teddy, Aubreys Discman und eins von Clarks blauen TShirts. Luna drehte sich im Uhrzeigersinn im Kreis. Die Arme hatte sie weit ausgestreckt, die Augen geschlossen. »Ich ziehe diesen Schutzkreis, um Schaden abzuwenden – Clark!«, sagte sie und schlug die Augen auf. »Hey«, entgegnete er zögernd. »Was machst du da?« Luna dachte kurz nach. »Komm her!«, bat sie dann. »Moment!« Rasch zeichnete sie mit dem Finger eine Tür für Clark in die Luft. »Jetzt komm rein.« Clark musste grinsen, als er sich neben sie stellte. »Was war das?« »Ich habe eine Öffnung in den Kreis geschnitten«, erklärte sie und wiederholte die Bewegung in umgekehrter Richtung. »Aber da ist doch gar nichts.« »Nichts Sichtbares«, entgegnete sie. »Und um deine Frage zu beantworten, ich ziehe einen Schutzkreis um uns alle – deshalb sind diese Sachen hier.« Luna deutete auf den Stapel Zeug. »Ich brauche dazu von jeder Person einen Gegenstand, den sie oft bei sich trägt. Natürlich ist es besser, wenn die Betreffenden
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da sind«, erklärte sie und nahm Clarks Hand. »Ich wollte nur nicht alle wecken und verrückt machen.« Clark runzelte die Stirn. »Wieso verrückt machen? Hast du etwas geträumt oder so?« »Nein«, entgegnete Luna. »Ich habe die hier gezogen.« Sie hielt eine Tarot-Karte mit der Bezeichnung ›der Turm‹ hoch. Darauf war ein hohes Gebäude zu erkennen, das vom Blitz getroffen wurde. Es brannte, und die Menschen stürzten aus den Fenstern. »Das verheißt nichts Gutes«, stellte Clark fest. »Nicht zwangsläufig. Normalerweise steht die Karte für eine Veränderung, aber sie kann auch Gefahr bedeuten. Nachdem ich auch noch so ein komisches Gefühl hatte, dachte ich, ein Schutzzauber könnte für alle Fälle helfen.« Clark sah Luna tief in die Augen. Er war ihr von Herzen zugetan, aber sein Verstand wehrte sich. »Luna, glaubst du wirklich an Zauberei und Magie?« Er zögerte. »Und dass du eine Hexe bist?« »Ja, das glaube ich, Clark«, gab Luna ernst zurück. »Ich bin fest davon überzeugt. So bin ich nun mal. Du weißt, ich würde nie etwas tun, um dir oder sonst jemand Schaden zuzufügen. Das tun Hexen nicht. Es ist... Ich weiß nicht, ob du jemals etwas getan hast, um jemandem zu helfen, das du vorher für unmöglich gehalten hast, aber genau darum geht es. Vielleicht stehen wir tatsächlich vor großen Problemen, und das hier ist meine Art, etwas dagegen zu unternehmen. Ich weiß, das muss dir merkwürdig vorkommen. Vielleicht komme ich dir sogar merkwürdig vor. Es ist okay, wenn du es nicht verstehst, wenn du nicht hier bleiben willst...«, flüsterte sie. Clark umarmte sie. »Ich verstehe«, versicherte er. »Und ich will hier bleiben.« Luna schmiegte sich an ihn und lächelte. »Was also soll ich tun?«, fragte Clark. »Bleib einfach in der Mitte stehen!«
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Clark beobachtete, wie Luna zweimal den Kreis abschritt. Beim dritten Mal blieb sie bei jeder Kerze stehen und bat die Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde, den Kreis zu segnen. Dann schaute sie Richtung Osten und sagte etwas auf, das wie ein Gebet klang: »Heilige Mutter, heiliger Vater, euch rufe ich und bitte um Schutz für meine Freunde und mich. Schließt uns in die Arme, in Liebe und Güte, wacht über uns, damit eure Gunst uns behüte.« Sie beugte sich vor und schwenkte ein Bündel süßlich duftender Kräuter über den Gegenständen der Hausbewohner, dann waren Clark und sie selbst an der Reihe. Als Nächstes legte sie ringsum einige Kristalle aus. Schließlich zog sie mit weißer Kreide einen Kreis um sich, Clark und den kleinen Stapel. Clark bekam eine Gänsehaut, die jedoch nicht von der kalten Luft herrührte. Obwohl der Himmel immer noch bedeckt war und der Wind übers Dach pfiff, war ihm plötzlich warm, als hätte ihm jemand eine flauschige Decke um die Schultern gelegt. Seltsam! »Bereit?«, fragte Luna. Sie nahm ihn bei den Händen und fing an, sich mit ihm im Kreis zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller und schneller. »Und was wird das?«, fragte Clark. Alles außer Luna verschwamm ihm vor den Augen. »Wir gewinnen Energie!« Luna lachte und japste vor Anstrengung, ihre blonden Locken flogen durch die Luft. »Weiter, weiter, weiter – okay jetzt!« Sie blieb abrupt stehen und warf ihre und Clarks Arme in die Luft, dann sank sie auf die Knie, verschränkte die Hände über ihrem Herzen und schloss die Augen. Clark ließ sich keuchend auf dem Boden nieder. Das hatte Spaß gemacht, aber... 98
All seine Sinne kribbelten, obwohl er weit und breit keine Gefahr spürte. Trotzdem schaltete er seinen Röntgenblick ein. Als er Luna ansah, verwandelte sie sich in ein kniendes Skelett, dessen Atemzüge allmählich ruhiger wurden. Die Kerzen und die Gegenstände im Zentrum des Kreises sahen aus wie auf dem Negativ eines Fotos. Was eigentlich weiß war, erschien nun schwarz, und umgekehrt. Und Clark fiel noch etwas auf. Zuerst wollte er nicht glauben, was er sah, doch er blinzelte ein paar Mal, und es war immer noch da. Ein blaues Feld, das um ihn und Luna wirbelte und bis hoch in den Himmel hinaufreichte. Was ist das?, fragte sich Clark. Energie? Während der ganzen Zeit, in der er gelernt hatte, wie er mit seinen besonderen Sehfähigkeiten umgehen musste, hatte er Energie noch nie mit eigenen Augen gesehen. Allmählich stieg das blaue Feld immer weiter in die Höhe und verschwand. »Was ist?« Luna hatte ihn beobachtet. »Hast du etwas gesehen?« »Ja«, entgegnete Clark. Er war zu verblüfft um so zu tun, als hätte er nichts bemerkt. »Cool.« Mehr sagte Luna nicht dazu. »Wir sind jetzt fertig. Ich muss nur noch den Kreis öffnen.« Clark grübelte noch über das nach, was er eben gesehen hatte, während Luna den Kreis diesmal gegen den Uhrzeigersinn abschritt, den Elementen dankte und mit nach Osten gerichtetem Blick stehen blieb. »So ist der Kreis offen, aber nicht zerstört«, erklärte sie und klopfte drei Mal auf den Boden. »Und was jetzt?«, fragte Clark. Luna zuckte mit den Schultern. Sie sah müde aus. »Wir warten. Und passen auf. Und...« Sie lächelte. »... wir besorgen uns was fürs Frühstück.« Der restliche Tag verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Clark feierte den Erhalt seines ersten Wochenlohns als Bote und lud Luna zum Frühstück ein, obwohl sie einwandte, dass er 99
es nie schaffen würde, Geld nach Hause zu schicken, wenn er immer für andere bezahlte. »Von ein paar Pfannkuchen gehe ich bestimmt nicht bankrott«, hatte Clark gesagt und Luna musste ihm Recht geben. Nach dem Frühstück brach die Sonne durch die Wolken, und da das Wetter sich unverhofft besserte, gingen sie in den Park. Sie setzten sich unter einen Baum, Luna lehnte den Kopf an Clarks Schulter, und Clark spielte mit den Fingern in ihrem lockigen Haar. Er dachte keine Sekunde an Sean und das, was er im Schilde führen mochte. Als der Himmel sich gegen Abend dunkelblau färbte, schlug Clark vor, abgefallene Äste für ein schönes Kaminfeuer zu sammeln. »Wow, guck dir den mal an!«, sagte Luna und zeigte auf einen, der fast so dick war wie der Stamm des Baumes, unter dem er lag. »Schade, dass wir keine Kettensäge haben. Da hätten wir Brennmaterial bis in alle Ewigkeit.« Clark wartete, bis Luna sich ein Stück entfernt hatte, dann stemmte er einen Fuß gegen den dicken Ast und brach ihn rasch in Stücke. Er klemmte sich drei davon unter den Arm, folgte Luna und setzte eine unschuldige Miene auf. »Hey! Wie hast du...« Clark schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Das ist ein altes Bauerngeheimnis. Ich kann euch Städtern nicht verraten, wie das geht, sonst zieht ihr los und holt euch euer Holz selbst und braucht mich nicht mehr.« Luna drückte seine Hand. »Das wird nicht passieren«, sagte sie. Langsam machten sie sich auf den Heimweg quer durch die Stadt. Es war das erste Mal, dass Clark das kalte, heruntergekommene Gebäude als sein Zuhause empfand. Und im Augenblick war es das ja auch. Unterwegs fragte er sich, ob Luna ihre Freunde von zu Hause ebenso vermisste wie er seine. Vielleicht war sie schon in Miami mit Skunk befreundet gewesen, dann konnte sie sich glücklich schätzen, ihn auch in Metropolis um sich zu haben. 100
Aber gab es in ihrem Leben jemanden, der ihr so viel bedeutete, wie Lana ihm bedeutet hatte? Jemand, der ihr ganz nah war und doch unerreichbar? Jemanden, den zu lieben immer wieder Schmerzen brachte? Clark sehnte sich nach seinen Eltern und Freunden, andererseits war ihm leichter ums Herz als jemals zuvor. Sein Leben lang hatte er sich allein gefühlt, als Einzelgänger, weil er Dinge tun konnte, die andere nicht tun konnten. Luna hatte behauptet, das Gefühl auch zu kennen – und sie war tatsächlich anders als alle Menschen, die Clark jemals kennen gelernt hatte. Auch wenn er am Morgen diese blaue Energie gesehen hatte und Luna mit ihren Träumen immer Recht behielt, wusste er nicht, ob sie wirklich irgendeine besondere Macht besaß. Er war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt an Hexen oder Zauberei glaubte. Aber er fühlte sich eng mit Luna verbunden. Er spürte, dass sie irgendwie dieselbe Wellenlänge hatten und aus demselben Holz geschnitzt waren. Und wenn das keine Zauberei ist, dachte er, dann weiß ich nicht, was es sonst sein soll!
23 WAS...? Clark riss die Augen auf. Er hatte tief und fest geschlafen, aber irgendetwas hatte ihn unvermittelt geweckt. Die Antwort saß unmittelbar vor seiner Nase. Lunas rot getigerte Katze sah ihn mit großen blauen Augen an. Sie miaute und tippte ihm auf die Nase. Ihre kleinen Tatzen fühlten sich ganz weich an. »Hey, Rover!«, raunte Clark. Er drehte sich zu Luna um, aber ihr Schlafsack war leer. Es war dunkel und still im Wohnzimmer, nur die gleichmäßigen Atemzüge der anderen 101
Hausbewohner waren zu hören. Clark streichelte die Katze. »Wo ist denn unsere...« Ruckartig zog er die Hand zurück. Irgendwas klebte an Rovers Fell. Er konnte es in der Dunkelheit nicht richtig erkennen, aber den durchdringenden Geruch erkannte er sofort. Benzin? Rover miaute noch einmal eindringlich, als wolle sie Clark auf etwas aufmerksam machen. Clark lief es kalt über den Rücken, und sein Magen zog sich zusammen. Er war augenblicklich hellwach. Leise schlüpfte er aus seinem Schlafsack und zog sich an. Dann verließ er auf Zehenspitzen das Zimmer und schlich die Treppe hinunter. Er kam gerade in den zweiten Stock, als er ein Geräusch hörte. Es klang, als würde eine Flüssigkeit verspritzt. Clark sah einen Schatten an der Wand des angrenzenden Zimmers, der im nächsten Moment verschwand. Er kniff die Augen zusammen und versuchte den Raum mit seinem Röntgenblick zu durchschauen, aber es funktionierte nicht. Er konnte die Wand nicht durchdringen. Es gab nur ein Material, das ihm die Sicht versperren konnte, und das war Blei. Es musste noch in den älteren Farbschichten an den Wänden des in die Jahre gekommenen Hauses enthalten sein. Leise betrat Clark das Zimmer. Durch das kaputte Fenster fielen Lichtstreifen auf die Wände, der Raum selbst lag jedoch weitgehend im Dunkeln, überall reckten sich geheimnisvolle Umrisse. Alte, ramponierte Möbelstücke, wie Clark wusste, die in diesem Moment reichlich unheimlich wirkten. Als er noch einen Schritt machte, merkte er, dass der Boden unter seinen Sohlen rutschig wurde. Noch mehr Benzin! Clark hob intuitiv den Blick, als etwas Großes, Glänzendes auf seinen Kopf zugeflogen kam. Er schaltete auf Supergeschwindigkeit um, als er den Arm hob, um das Wurfgeschoss abzuwehren, und identifizierte es als Blechkanister. Der 102
Kanister landete auf der anderen Seite des Raums und verspritzte Benzin in alle Richtungen. »Warum zum Teufel bist du immer noch am Leben?«, knurrte Sean. »Die Bahn hätte dich doch direkt dahin befördern müssen, wo du hergekommen bist!« Nun konnte Clark Sean sehen, dennoch war es gar nicht so einfach, an ihn heranzukommen. Die aufeinander getürmten alten Möbel bildeten ein regelrechtes Labyrinth, und während Clark unermüdlich ein altes Sofa, Tische und kaputte Stühle zur Seite schob, fand Sean immer wieder neue Verstecke. »Was machst du da überhaupt, Sean?«, fragte Clark. Hinter einer alten Kommode kam ein bitteres Lachen hervor. »Weißt du, hier war alles in Ordnung, bis du aufgetaucht bist, Clark. Du bist ein ziemlich neugieriger Bursche. Aber da du schon mal gefragt hast... Ich verdiene meinen Lebensunterhalt.« Clark versuchte, weitere Möbelstücke aus dem Weg zu räumen, aber es gab nicht mehr viel Platz. Der Raum war so überfüllt, dass Clark trotz seiner Riesenkräfte kaum etwas tun konnte, um Sean, der ihm immer wieder entwischte, in die Finger zu kriegen. »Was soll das heißen, du verdienst deinen Lebensunterhalt? Was ist mit dem Benzin? Sean!« Wieder wurde das widerliche Lachen laut. »Dieses alte Haus ist nicht den Bruchteil des Grundstücks wert, auf dem es steht. Und dieser Typ, mit dem du mich gestern gesehen hast, hat viel Geld dafür bezahlt, dass hier heute Nacht ein Feuerwerk steigt. Also veranstalte ich eine kleine Grillparty, Clark. Und du bist eingeladen.« Clark blieb wie angewurzelt stehen. Voller Entsetzen ging ihm auf, was Sean vorhatte. »Es ist wirklich schade, dass du mich gestern beobachtet hast, Clark. Ich wollte eigentlich erst alle rausholen, aber du hast den anderen bestimmt erzählt, was du gesehen hast«, sagte Sean. »Und ich kann nicht zulassen, dass mich jemand verrät.
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Also...« Es gab ein leises kratzendes Geräusch, dann war ein Lichtschein zu sehen. »Nein!«, rief Clark. Verzweifelt warf er Stühle, Tische und Kommoden hinter sich, um Sean packen zu können. In seiner Wut bekam er nur verschwommen mit, wie das ganze Mobiliar zu Boden krachte. Als er vor einem großen Stoß Möbel stand, an dem er nicht vorbeikam, schlug er ihn einfach mit der Faust in tausend Stücke. Aber es war bereits zu spät. Noch während er Sean ansprang, musste er hilflos mit ansehen, wie ein brennendes Streichholzheftchen im hohen Bogen durch das Zimmer flog. Es war kaum gelandet, da ging – wusch! – der Raum auch schon lichterloh in Flammen auf, die bis zur Decke loderten, die alten Vorhänge verschlangen und sich von dem herumstehenden Gerümpel nährten. »Und was machst du jetzt, du Möchtegernheld?«, rief Sean spöttisch über das Prasseln des Feuers hinweg. »Mein Tipp wäre, du versuchst die restliche Truppe in Sicherheit zu bringen.« Plötzlich war es so hell, dass Clark Seans bösartiges Grinsen deutlich sehen konnte. »Du solltest dich lieber beeilen! Hexen brennen angeblich besonders gut!«
24 ALS SEAN SICH UMDREHTE und zum Hinterfenster hinauskletterte, hätte Clark sich ihn am liebsten geschnappt und verprügelt, aber dazu war die Zeit zu knapp. Er musste die anderen wecken und aus dem Haus schaffen. Er bahnte sich einen Weg durch die brennenden Möbelstücke. Die Hitze der Flammen, die gierig auf seine Kleider übersprangen, spürte er nicht. Wie der Blitz raste er in den dritten Stock. »Aufwachen! Alle raus hier! Feuer!« 104
Aubrey, Mag und Skunk sprangen aus ihren Schlafsäcken, als hätten sie eine Ladung kaltes Wasser abbekommen. »Clark!«, schrie Mag und deutete auf seine Jeans. Clark war gar nicht aufgefallen, dass sein linkes Hosenbein Feuer gefangen hatte. Rasch klopfte er es aus und brachte die anderen in den Flur, zuerst Mag, dann Aubrey und ein, zwei Sekunden später Skunk. Mittlerweile hatte sich das Haus in ein flammendes Inferno verwandelt. Schwarze Rauchwolken breiteten sich aus. Man konnte kaum noch etwas sehen, und die Atemluft wurde knapp. Die Flammen loderten vom zweiten Stock herauf und drohten das ganze Treppenhaus in Brand zu setzen. Clark, der als Einziger nicht hustete und sich kein T-Shirt vors Gesicht hielt, beugte sich über das Geländer. Das Feuer hatte zwar schon den Treppenabsatz im zweiten Stock erfasst, aber wenn er seine Freunde auf den Teil der Treppe hinunterlassen konnte, den das Feuer noch nicht erreicht hatte, würden sie das Haus verlassen können. Er riss das alte Geländer aus der Verankerung und warf es zur Seite. »Ich lasse dich jetzt da runter. Nimm meine Hand und halt dich gut daran fest!«, rief er Mag zu. Mag schien protestieren zu wollen, aber dann besann sie sich eines Besseren und nickte Clark zu, der sich bereits bäuchlings bis zur Kante des Treppenhauses schob. Mag umklammerte seine Hand mit aller Kraft und schob sich mit den Beinen voran über den Abgrund. Clark streckte langsam den Arm aus und ließ sie so weit wie möglich herunter. Mag landete mit einem kleinen Sprung im zweiten Stock, in sicherer Entfernung von den Flammen. Sie sah nach oben und wartete auf Aubrey. »Mag, lauf schnell nach draußen!«, rief Aubrey. »Ich komme hinter dir her!« Ein paar Sekunden später landete er auch schon im zweiten Stock, dann war Skunk an der Reihe. Clark musste grinsen, als er sah, wie Skunk Rover in die Innentasche seiner Jeansjacke 105
schob. Die Katze miaute wie wahnsinnig, ihre Augen waren kreisrund vor Angst. »Kumpel«, keuchte Skunk, »du musst Luna suchen...« »Mache ich«, gab Clark zurück. »Ich gehe nicht ohne sie. Und jetzt beeil dich!« Clark raste die Treppe hinauf. Im vierten Stock blieb er stehen, um mit seinem Röntgenblick zu prüfen, ob Luna sich dort aufhielt, aber wieder hinderte ihn die bleihaltige Wandfarbe. Er verlor zwar wertvolle Sekunden mit der Suche, aber er musste sichergehen. Also rannte er in Windeseile über die ganze Etage. Nichts. Luna musste auf dem Dach sein. Je höher Clark kam, desto heißer wurde es. Er sauste die Stufen hoch und merkte nicht, dass seine Haare bereits qualmten. In seiner Panik stieß er die Tür zum Dach so fest auf, dass sie hinter ihm wieder ins Schloss knallte. Erleichtert atmete er tief durch. Da war Luna, in ihren Webpelzmantel gehüllt. Vor ihr lagen die Karten, auf dem Boden stand eine weiße Kerze, die längst zu einem Stummel abgebrannt war. Clark schüttelte sie. »Luna! Luna, wach auf!« Sie schlug die Augen auf und lächelte ihn an. »Hey, ich bin wohl eingeschlafen...« »Luna, wir müssen hier weg«, sagte Clark rasch. »Das Haus brennt!« Lunas Lächeln verschwand schlagartig, aber sie blieb ganz gefasst, während Clark sie auf die Beine zog und mit ihr zum Treppenhaus rannte. Als er die Metalltür öffnen wollte, hielt Luna ihn zurück. »Warte!«, rief sie. »Teste erst, ob sie heiß ist!« Weil Clark sich so daran gewöhnt hatte, dass fast nichts eine Gefahr für ihn darstellte, vergaß er manchmal die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen. Er legte die Hand auf die Tür und zog
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sie rasch wieder zurück. »Sie ist heiß«, sagte er. »Dann ist das Feuer also schon im Treppenhaus.« »Feuerleiter!«, rief Luna nur. Sie liefen zur Hinterseite des Gebäudes. Doch bevor sie den Rand des Dachs erreichten, sah Clark bereits das orangerote Leuchten von unten. Sie spähten über die Kante, sahen Flammen aus den Fenstern lodern und am Schutzgitter der Feuerleiter lecken und traten rasch wieder zurück. »Clark!«, keuchte Luna. In ihrer Stimme machte sich Panik breit. »Was sollen wir denn jetzt tun?«
25 DER TEER UNTER CLARKS SCHUHEN wurde bereits weich, und auch auf der anderen Seite schlugen die Flammen nun schon bis über das Dach hinauf. Bald würde es unter ihnen zusammenbrechen und Luna und ihn in das Höllenfeuer befördern. Clark sah sich verzweifelt um, aber es gab nur zwei Möglichkeiten. Durch das brennende Treppenhaus oder springen. Um sich selbst hatte er keine Angst. Er konnte mitten durch ein Feuer marschieren und brauchte sich dabei nur Sorgen um seine Klamotten zu machen. Er konnte von einem Gebäude springen, das viermal so hoch war wie dieses, und problemlos auf den Füßen landen. Aber es war unmöglich, Luna über die brennende Treppe nach unten zu bringen. Er konnte sie nicht vor dem Feuer schützen, das sie in Sekundenschnelle erfassen würde. Also gab es nur einen Ausweg. Clark führte Luna an die linke Dachkante und blickte in die Tiefe. An dieser Seite des Hauses gab es keine Fenster, aus denen die Flammen herausschlagen konnten, und auch keine Feuerleiter. Fünf Stockwerke tiefer, im Hinterhof, lag ein großer Haufen aus alten Kartons und Müll. 107
Wenn ich es schaffe, auf dem Rücken zu landen, passiert ihr nichts, kalkulierte Clark. Aber Luna spürte, was er vorhatte, schüttelte den Kopf und wich zurück. »Clark... wir können doch nicht springen! Das ist viel zu hoch! Dabei sterben wir oder...« »Wir müssen springen!«, fiel Clark ihr ins Wort und hielt sie ganz fest an der Hand, damit sie ihm nicht weglief. »Es ist unsere einzige Chance. Wir springen in diese Kartons da unten. Stell dir einfach vor, wir sind beim Film und machen einen Stunt«, sagte er mit einem schwachen Grinsen. Hoffentlich ließ Luna sich überzeugen. Sie schluckte. »Meinst du?«, fragte sie zitternd. In diesem Augenblick gab es unten im Haus eine laute Explosion, und das Splittern von Glas war zu hören. Von der Straße drangen die Schreie der übrigen Hausbewohner herauf, die nach ihnen riefen. Vor dem Haus stieg prasselnd eine Feuersäule auf, und der Teer auf der Vorderseite des Dachs begann Blasen zu werfen. Die Feuersbrunst tobte direkt unter ihnen. »Luna...«, drängte Clark. »Ich weiß, es gibt keine andere Möglichkeit«, keuchte sie. »Eine Sekunde noch!« Clark dachte, dass sie ihren Mut für den Sprung sammeln wollte, aber sie nahm ihn bei den Händen und verschränkte ihre Finger ganz fest mit seinen. Dann schloss sie die Augen und flüsterte etwas. In all dem Getöse ringsum konnte Clark nicht hören, was sie sagte, aber im nächsten Moment schlug sie die Augen wieder auf. »Bereit?«, fragte Clark. Luna nickte. Clark trat vorsichtig an die Kante, zog Luna an sich und schlang die Arme um sie. Wie ein Turmspringer, der rückwärts vom Brett springen will, stand er wippend da. Er sammelte sich und versuchte abzuschätzen, wie er springen musste, um genau an der richtigen Stelle zu landen. Ringsum stiegen dicke schwarze Rauchwolken auf, und die Hitze auf dem Dach war 108
mörderisch. Die Stahltür sprang auf, und Flammen schossen heraus wie ein wildes Tier, das nach Beute Ausschau hält. Jetzt oder nie! Clarks Lippen rückten dicht an Lunas Ohr. »Vertrau mir!«, raunte er ihr zu. Luna nickte wieder und klammerte sich noch fester an ihn. Clark hielt die Luft an und sprang mit Luna rückwärts in die Tiefe.
26 CLARK WUSSTE, er würde sich bei der Landung nicht verletzen, trotzdem kniff er die Augen zu und betete. Bitte, lass ihr nichts passieren! Bitte, lass mich richtig landen, damit sie sich nicht wehtut. Bitte... Irgendwas stimmte nicht. Clark hatte das Gefühl, in der Luft hängen zu bleiben. Es fühlte sich ganz anders an als in den Momenten, in denen er auf Supergeschwindigkeit schaltete, und das hatte er ja auch gar nicht getan. Es war, als... schwebten sie. Clark öffnete blinzelnd die Augen. Er sah zum ersten Mal, seit er nach Metropolis gekommen war, einen schwarzen Nachthimmel und ein Meer funkelnder Sterne. Sie waren wunderschön... doch dann verschwanden sie in schwarzem Rauch. Plötzlich raste das alles an ihm vorbei, und Clark hörte das Krachen der Kartons, die unter ihm zusammengedrückt wurden, dann das Knacken von splitterndem Holz. Er schlang einen Arm um Lunas Taille und legte schützend die freie Hand über ihr Gesicht. Schließlich blieben sie mitten im Müll liegen. Luna rührte sich nicht. Oh, nein!, dachte Clark entsetzt. Über seinem Kopf sah er Licht, und aus der Ferne war eine Sirene zu hören. Sekunden später erkannte er, dass das Licht von einer Straßenlaterne kam und dass die Sirenen die Feuerwehr 109
ankündigten. Skunk, Aubrey und Mag räumten bereits Kartons, Holzplanken und Unrat weg, um ihre Freunde zu befreien. »Luna!«, rief Skunk. »Clark! Seid ihr okay?« Luna öffnete langsam die Augen und sah Clark an, der erleichtert lächelte. Dann umarmte sie ihn so fest, wie sie es beim Absprung getan hatte, und begann zu weinen.
27 »IHR ZWEI WARTET HIER und rührt euch nicht von der Stelle, okay?«, sagte der Polizist. »Die Leute vom Jugendamt sind gleich da.« Clark und Luna saßen in der Polizeiwache des 23. Bezirks von Metropolis auf einer Bank. Sogar die Typen, die in Handschellen abgeführt wurden, starrten die beiden Jugendlichen mit den schmutzigen Gesichtern an, die sich fest an den Händen hielten und deren Kleidung zerrissen und versengt war. Nach der Feuerwehr waren einige Rettungswagen eingetroffen, obwohl niemand ernstlich verletzt war. Da sich schnell herausstellte, dass es sich um Ausreißer handelte, die in dem leer stehenden Haus Obdach gefunden hatten, waren sie alle zur Wache abtransportiert worden. Clark sah zu Mag und Aubrey hinüber, die ihm gegenüber saßen. »Hey, wo ist Skunk eigentlich?«, fragte er Luna. »Abgehauen«, antwortete sie. »Als er gesehen hat, dass uns nichts fehlt, ist er losgerannt. Er wusste, was uns bevorsteht.« Clark sah sie an. »Wir müssen nach Hause«, erklärte sie. In diesem Augenblick sah Clark jemanden hereinkommen, der ihm sehr bekannt vorkam. »Lex!« »Clark!«, rief Lex und packte seinen Freund mit ungewohnter Heftigkeit an der Schulter. »Wo warst du denn? Wir haben uns alle furchtbare Sorgen gemacht!« Sein Gesicht war noch ernster als sonst. 110
»Tut mir Leid. Ich wollte euch nicht verrückt machen. Ich wollte nur... Na, das ist eine lange Geschichte.« »Die kannst du mir ganz in Ruhe erzählen, sobald wir bei mir sind. Wir bleiben über Nacht in Metropolis, und morgen fahren wir nach Hause. Soll ich deine Eltern anrufen?« »Das habe ich schon getan«, erklärte Clark verlegen. »Zuerst waren sie erleichtert, aber dann klangen sie ziemlich sauer.« Lex grinste. »Wie lange wollen sie dich aus dem Verkehr ziehen?« »Ich glaube, sie haben was von lebenslänglich gesagt, aber ich bin mir nicht sicher«, antwortete Clark seufzend. Der Polizeibeamte kam zu ihnen. »Und Sie sind...?«, fragte er Lex. »Seine gesetzliche Aufsichtsperson in Vertretung seiner abwesenden Eltern«, erklärte Lex und wedelte mit einem Bündel höchst offiziell aussehender Papiere, die der Polizeibeamte aufmerksam studierte. »Scheint okay zu sein. Aber das gilt nur für ihn, die anderen bleiben hier.« Er wandte sich an Luna. »Jemand vom Jugendamt ist jetzt hier. Du gehst mit ihr und machst keine Schwierigkeiten!« Clark sah, wie eine freundlich wirkende Frau mit Mag und Aubrey sprach. Luna stand langsam auf. »Moment mal«, sagte Clark. »Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, dass sie mit uns kommen kann?« Er sah Lex bittend an. »Keine rechtlich zulässige«, entgegnete der Polizist knapp. »Ist schon gut, Clark«, sagte Luna und umarmte ihn. »Alles in Ordnung. Mag und Aubrey sind bei mir und...« Sie öffnete ihre Manteltasche, in der Rover zusammengerollt tief und fest schlief. Als er mit Clark die Wache verließ, fiel Lex ein Mädchen mit weißblonder Mähne auf. Er brauchte nur eine Sekunde, bis er sich an Mag, die Kellnerin in dem japanischen Restaurant,
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erinnerte. Er lächelte sie an, und diesmal belohnte sie ihn mit einem schüchternen Handzeichen. Lex wohnte in Metropolis in dem riesigen Penthouse eines schicken Hochhauses, das Clark sicher mächtig beeindruckt hätte, wenn er nicht so müde gewesen wäre. Es war schon fast Morgen, als sie dort ankamen, und er wollte nur noch ins Bett. Aber als Lex die Tür öffnete, sah er sich mit einem Mal Lana gegenüber. Sie sahen einander einen langen Augenblick an, dann kam Lana auf ihn zu und schlang die Arme um seinen Hals. Clark war sprachlos. »Ich, ähm... hole mal ein paar Handtücher«, sagte Lex und verschwand. »Clark, was ist passiert? Gott sei Dank fehlt dir nichts!«, rief Lana und schmiegte ihr Gesicht an sein schmutziges T-Shirt. Sie hielt ihn lange fest umklammert. Sie blieben eine ganze Weile so stehen. Beide in Gedanken, beide verblüfft über das, was sie fühlten.
28 »DIE PASSAGIERE DES FLUGES 207 nach Miami werden gebeten, sich zu Flugsteig drei zu begeben!«, tönte es freundlich aus dem Lautsprecher. »Also«, sagte Luna, »damit bin wohl ich gemeint.« Clark sah zu, wie sie sich den Rucksack über die Schulter schwang und die Transportbox mit Rover vom Boden aufhob. Lex hatte, großzügig wie er war, Flugtickets für Luna, Mag und Aubrey gekauft, damit sie schnell nach Hause kamen. Eine Aussicht die den drei Freunden gar nicht mehr so schlimm vorkam, wie sie befürchtet hatten. Lunas Mutter war so froh über die Rückkehr ihrer Tochter, dass sie bereits jetzt am Flughafen von Miami wartete, obwohl Luna erst in drei Stunden dort ankommen würde. Mag hatte erfahren, dass sie an 112
der Kunstschule angenommen worden war, bei der sie sich beworben hatte, bevor sie weggelaufen war, und nun freute sie sich regelrecht auf ihr Zuhause. Noch dazu hatten ihre Eltern sich bereit erklärt, Aubrey fürs Erste bei sich aufzunehmen, sodass sie zusammenbleiben konnten. Aber es gab zwei Ausreißer, die nicht nach Hause zurückkehren würden. Die Polizei hatte Sean rasch ausfindig gemacht, er saß bereits in Metropolis im Gefängnis. Seine Zelle war gleich neben der von Hal Trumble. Die beiden stritten sich vermutlich, wer die Idee mit der Brandstiftung gehabt hatte, und beschuldigten sich gegenseitig. Und Skunk war irgendwo untergetaucht. Clark bedauerte, dass er sich nicht mehr von seinem neuen Freund verabschieden konnte. Er hätte ihm gern dafür gedankt, dass er die Geistesgegenwart besessen hatte, nicht nur Rover zu retten, sondern auch sämtliche Rucksäcke aus dem Fenster zu werfen, bevor er aus dem brennenden Haus gestürmt war. In Anbetracht der denkbar knappen Zeit hatte er ein wahnsinniges Risiko auf sich genommen. Aber durch seinen Einsatz waren allen ihre kostbaren Andenken erhalten geblieben, die sie von zu Hause mitgenommen hatten, wie zum Beispiel Clarks Foto von sich und seinen Eltern. In ein paar Stunden, wurde Clark in diesem Augenblick klar, würde er wieder zu Hause bei seinen Eltern und Freunden sein. Ein seltsames Gefühl. Einerseits freute er sich darauf, andererseits war er sehr unglücklich. In ein paar Minuten würde Luna nur noch eine Erinnerung sein. »Warte!«, rief er und nahm ihre Hand. »Bevor du gehst, will ich dir noch meine Freunde vorstellen.« Nicht weit entfernt warteten Lex und Lana am Rand des Landefelds, auf dem Lex’ Hubschrauber wartete, aber Luna zögerte. »Was hast du?«, wollte Clark wissen. »Es ist nicht so, dass ich sie nicht kennen lernen will...«, antwortete sie. »Und richte deinem Freund Lex meinen Dank 113
für das Ticket aus. Aber... das ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass wir uns sehen. Ich will lieber mit dir allein sein.« »Ach, red keinen Unsinn«, meinte Clark. »Wir mailen uns jeden Tag, und wir werden uns etwas ausdenken, wie...« »Clark, sei realistisch!« Luna lächelte, verdrehte jedoch die Augen. »Miami ist ziemlich weit weg von Smallville, und meine Mutter und deine Eltern lassen uns wahrscheinlich nie wieder aus den Augen.« Sie blickte in Lanas Richtung. »Ist das deine Freundin?« Clark warf einen Blick über die Schulter. »Nein«, sagte er. »Sie ist... Lana ist eine Freundin, nicht meine Freundin.« »Gut«, nickte Luna. »Dann kann sie ja nichts dagegen haben.« Im nächsten Moment zog sie Clark an sich und küsste ihn. Im ersten Augenblick fand Clark es total peinlich, in Gegenwart von Lana ein anderes Mädchen zu küssen. Aber seine Verlegenheit verflog rasch, als er sich Lunas Kuss hingab. Er hatte plötzlich dasselbe Gefühl wie bei dem Sprung von dem brennenden Dach – als würde er schweben und als wäre die Zeit stehen geblieben. »Letzter Aufruf für die Passagiere des Fluges 207 nach Miami!«, kam es aus dem Lautsprecher. Luna löste sich langsam von Clark, aber er hielt ihre Hand fest. »Warte! Ich wollte dich noch etwas fragen. Oben auf dem Dach, bevor wir gesprungen sind, hast du etwas geflüstert. Was war das?« Luna verschränkte ihre Finger in seinen, wie sie es in der Feuersbrunst auf dem Dach getan hatte. »Ich sagte ›Fliegen, nicht fallen!‹. Ich wollte, dass wir gemächlich nach unten segeln und nicht hart auf dem Boden aufschlagen. Und zuerst... Ich weiß, das klingt verrückt, aber als wir abgesprungen sind, hat es sich gar nicht angefühlt, als würden wir in die Tiefe stürzen, oder?«
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»Nein, es war eher wie Schweben«, antwortete Clark verwundert. Hatten sie es sich beide nur eingebildet? Oder hatte Lunas Zauber wirklich funktioniert? Oder... Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. »Du bist geflogen, Clark Kent«, sagte Luna und sprach seinen Gedanken laut aus. »Du solltest dieses Gefühl nie vergessen. Vielleicht kannst du es in Zukunft noch gut gebrauchen.« Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn ein letztes Mal. »Auf Wiedersehen in deinen Träumen!«, flüsterte sie ihm zu. Clark sah Luna hinterher, wie sie verschwand und ins Flugzeug stieg. Am liebsten wäre er ihr gefolgt, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu beherrschen. Clark schlenderte langsam zu Lex und Lana hinüber. »Wow!«, sagte Lex. »Was für eine Abschiedsszene!« »Wer war das, Clark?«, wollte Lana wissen. Clark wusste ihren Gesichtsausdruck nicht recht zu deuten, aber ihre Stimme hatte einen Unterton, den er noch nie gehört hatte. »Eine Freundin«, antwortete er. »Scheint ja eine ganz besondere Freundin zu sein«, bemerkte Lex. Clark wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwas an Lex und Lana war anders als sonst. Er konnte es nicht genau erfassen, aber sie schienen einander näher gekommen zu sein. Es war, als hätten sich die beiden in seiner Abwesenheit irgendwie verbündet. »Der Hubschrauber wartet«, sagte Lex. »Gehen wir!« Die drei überquerten das Rollfeld, Lex vorneweg, Clark und Lana ein Stück hinter ihm. »Du hast mir noch gar nicht gesagt, was du in Metropolis gemacht hast«, begann Clark. »Ich habe nach dir gesucht«, erklärte Lana ohne Umschweife. »Ich dachte, du bist vielleicht in Schwierigkeiten. Aber anscheinend ging es dir ja sehr gut.« 115
Weil Clark so begeistert war, dass Lana die Schule geschwänzt und alles stehen und liegen lassen hatte, um ihn zu suchen, fiel ihm ihr matter Tonfall gar nicht auf. »Dann«, sagte er zögernd, »sind wir wieder Freunde?« Auf Lanas Gesicht erschien das gewohnte Lächeln, verblasste jedoch rasch wieder. »Wir werden immer Freunde sein, Clark. Da bin ich ganz sicher. Einfach... echt gute Freunde.« Clark wusste nicht genau, was los war, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, mit Lana einen Schritt vorwärts gekommen zu sein, nur um im nächsten Augenblick zwei Riesenschritte zurückgeworfen zu werden.
29 CLARK WAR BEI SEINER ZWEITEN PORTION Frikadellen mit Kartoffelpüree angelangt, als Jonathan fragte: »Hast du überhaupt etwas gegessen, als du weg warst?« Dann reichte er seinem Sohn den Korb mit den Brötchen. »Hm-hm.« Clark nickte kauend. Er nahm sich ein Brötchen, riss ein Stück ab und tunkte es in das Bratfett. »Aber Moms Kochkünste haben mir wirklich gefehlt.« »Du hast uns noch viel mehr gefehlt«, bemerkte Martha und schloss ihn wohl zum hundertsten Mal in die Arme. »Ihr habt euch doch keine allzu großen Sorgen um mich gemacht?«, fragte Clark. Seine Eltern machten beide das gleiche Gesicht. Als wollten sie sagen: »Du hast ja keine Ahnung!« »Clark, wir wissen, dass du in bester Absicht gehandelt hast, aber bitte tu so etwas nie wieder!«, bat Jonathan. »Wir werden schon irgendwie zu einem neuen Traktor kommen, und Mister Reynolds lässt dich die Prüfung nachholen. Das sind doch alles kleine Fische. Wir werden immer mal schwere Zeiten haben, aber mit denen werden wir am besten fertig, wenn wir zusammenhalten.« Clark lächelte. Sein Vater sagte manchmal 116
ziemlich altmodische Sachen, aber er wusste, wie viel Liebe hinter seinen Worten steckte. »Also, ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nie so große Sorgen gemacht«, erklärte Martha. »Aber dann hatte ich einen merkwürdigen Traum. Er war so echt, gar nicht wie ein Traum, eher wie... Es war, als wärst du bei mir gewesen, direkt vor mir, und du hast gesagt, dass es dir gut geht und dass ich mir keine Sorgen machen soll. Dann hast du gesagt ›Bitte weine nicht‹ und ich bin aufgewacht. Und weil der Traum so real war, ging es mir irgendwie ein bisschen besser.« Martha sah ihren Sohn an, der mit der voll beladenen Gabel vor dem Mund erstarrt war. »Ich weiß, das klingt albern, aber es war ja nur ein Traum, mein Schatz«, meinte sie. Spät in der Nacht schlich Chloe in Lanas Zimmer. Es brannte zwar kein Licht, aber sie wusste genau, dass Lana noch wach war. Leise setzte sie sich auf die Bettkante. Lana war nicht überrascht. Sie schien mit Chloes Besuch gerechnet zu haben. »Du hast gar nicht viel von Metropolis erzählt«, sagte Chloe. Lana seufzte im Dunkeln und drehte sich zu ihr um. »Es gibt auch nicht viel zu erzählen. Wir haben Clark gefunden, es ging ihm gut, und wir sind wieder nach Hause gekommen. Ende der Geschichte.« Lana wollte auf keinen Fall über die heftige Eifersucht sprechen, die sie geplagt hatte, als Clark dieses Mädchen geküsst hatte. Und auch nicht über die unerklärlichen Gefühle, die Lex in ihr geweckt hatte, als er sie bei ihrem gemeinsamen Abendessen angesehen und ihr gesagt hatte, sie sei wunderschön. Chloe hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie wegen der Fahrt nach Metropolis neidisch auf Lana gewesen war. Doch nun sah Lana so traurig aus, und Chloes Bedürfnis, ihr zu helfen, war stärker als der Drang, aus ihr herauszubekommen, was passiert war.
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»Lana... ich dachte, wir sind Freundinnen. Du sollst wissen, dass du mir alles anvertrauen kannst und ich nichts davon weitererzähle.« Lana nahm lächelnd Chloes Hand. »Du bist meine Freundin, und ich mache mir keine Sorgen darum, dass meine Geheimnisse in der Schülerzeitung landen könnten. Ich bin nur noch nicht mit Nachdenken fertig, also fällt es mir schwer, darüber zu sprechen.« In diesem Augenblick hielt es Chloe nicht länger aus. »Lana, bist du in Clark verliebt?«, platzte sie heraus. Sie musste es unbedingt wissen. Falls Lana überrascht war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Ihre Stimme klang ganz sanft, als sie antwortete. »Ich glaube... das ist eine sehr gute Frage, Chloe, die du dir vielleicht selbst mal stellen solltest!«
EPILOG DREI WOCHEN SPÄTER. Der Vollmond schien durch Clarks Zimmerfenster, weiße Lichtstrahlen fielen auf sein Bett, in dem er tief und fest schlief. Die Zahlen des Digitalweckers auf dem Nachtschränkchen leuchteten rot in der Dunkelheit und wechselten geräuschlos auf 12:00. Mitternacht. »Hallo, Clark.« Clark kam langsam zu sich. »Was...?«, setzte er an, da spürte er plötzlich einen warmen Druck auf seinem Mund. Seltsamerweise erschrak er nicht, sondern sank entspannt zurück in sein Kissen. Es hatte sich angefühlt... wie ein Kuss. Einen Moment später war alles vorbei. Clark öffnete die Augen und sah sich um. Es war gerade hell genug im Zimmer, um festzustellen, dass außer ihm niemand im Raum war. Hatte er geträumt oder...? Clark war verunsichert, doch dann lächelte er. 118
»Hallo, Luna«, sagte er leise und schaute hinauf zum Mond, der ihm ins Gesicht schien, als ihm die Augen wieder zufielen und er einschlief.
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