Die Allianz Maddrax Band 68 von Jo Zybell
Der Wind bauschte seinen schwarzen Ledermantel. Manchmal peitschte ihm eine ...
9 downloads
315 Views
538KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Allianz Maddrax Band 68 von Jo Zybell
Der Wind bauschte seinen schwarzen Ledermantel. Manchmal peitschte ihm eine Böe den Zopf ins Gesicht. Oder er blies ihm den Rauch des Feuers in die Nase und den Duft der Fische, die sie acht Speerlängen unterhalb seines löchrigen Kerkers über den Flammen brieten. Er fegte über die verrosteten Metallkästen und wehte ihm Staub in Augen und Mund; Staub, der metallen schmeckte und zwischen den Zähnen knirschte. Ostwind. Ein Gruß aus der Heimat. Die Zähne zusammenbeißen - das tat er oft, seit sie ihn in einem der Rostkästen gefangen hielten. Wenn der Hass ihn zu überwältigen drohte oder Schmerz und Enttäuschung über den verlorenen Kampf. Statt zu schreien, zu toben und um sich zu schlagen biss er dann auf die Zähne. Von Zeit zu Zeit stieß er auch Drohungen gegen die beiden Kriegerinnen aus, die ihn bewachten. »Ich werde euch alle töten!«, zischte er.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub, legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Be im Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... *** Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA-Expedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die ge gen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Matt,
Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus auf den Weg, wo Aruula durch ein Experiment ihre telepathischen Kräfte eingebüßt hat. Mit einem Eissegler geht es an der gefrorenen Westküste entlang hinauf nach Kanada, wo Matt in einer Biosphäre des Milliardärs De Broglie von einem Lava-Drachen entführt wird. Aiko und Aruula folgen der entschwindenden Kreatur mit dem Zeppelin der Sphäre und retten Matthew aus der Gewalt eines Volkes, das ihn den Walen im Großen Bärensee opfern wollte. Gemeinsam reisen sie weiter nach Norden - doch in der Nähe von Fort McPherson stürzt der Zeppelin ab. Inuit, die eine »Eisfrau« als Gottheit verehren, nehmen sie auf. Die Göttin entpuppt sich als Amber Floyd, eine Wissenschaftlerin, die seit über 500 Jahren in einem Kältetank liegt und nun von Matt geweckt wird. Gleichzeitig gelangt die Expedition der Running Men, verfolgt von einer Mongolenhorde, nach Fort McPherson. Gemeinsam stellen sie sich der Gefahr. Es gibt Verluste auf beiden Seiten - und auch Amber stirbt, als ihre Zellen rapide altern. Die beiden Expeditionen schließen sich zusammen, doch Matt geht das Bündnis nicht ohne Vorbehalte ein, denn die Runnmg Men und ihr Anführer Black sind ihm suspekt... *** Die Kriegerin, die mit gekreuzten Beinen auf dem Vorderteil des Blechkastens saß, blickte auf. Aruula nannten die anderen sie. Aus misstrauischen und seltsam grünen Augen fixierte sie ihn, als würde sie jedes seiner Worte verstehen. »Dich zum Beispiel werde ich aufschlitzen«, sagte er zu ihr. »Von unten bis zum Kinn aufschlitzen, du drei Mal verdammtes Hurenbalg! Und vorher, weißt du, was ich vorher mit dir machen werde...?« Er spuckte nach ihr, aber sein Mund war so trocken und so voller Roststaub, dass er nur einen jämmerlichen Spritzer
ausspie, der zudem noch an einem der Glassplitter hängen blieb, dje im unteren Rand des Fensterrahmens seiner Kerkerkiste steckten. Diese Geste verstand sie auch, ohne seine Sprache zu sprechen. Die Lider der Frau verengten sich zu Schlitzen. Jetzt sahen ihre Augen eher braun als grün aus. War das nicht Beweis genug, dass ein Dämon sie beseelte? Sie beugte sich ein Stück nach vorn, sodass ihr die schwarze Lockenmähne über die Schulter rutschte. Und ohne Vorwarnung, ja ohne auch nur die Miene zu verziehen spuckte sie nach ihm. Ihr Speichel klatschte auf seine von kleinen Geschwüren überzogene Stirn. Er zuckte kurz zurück, biss die Zähne zusammen - und dann schrie er doch; brüllte vor Wut, als hätte sie ihm ihr Schwert in die Weichteile gestoßen. Wenn nur seine Hände nicht gefesselt gewesen wären - eine einzige Bewegung, und sein Körper wäre durch das Fenster geflogen, und er hätte ihr das Schwert entrissen und sein Versprechen jetzt schon wahr gemacht. »Aufschlitzen werde ich dich! Verdammtes Miststück! Aufschlitzen!« Er riss an seinen Ketten, zischte und stieß den Schädel in ihre Richtung. »Euch alle werde ich aufschlitzen, so wahr ich Kobajozzi Kanga heiße!« Sie feixte ihm ins Gesicht, dieses gerissene, kriegerische Weib! Natürlich verstand sie wieder kein Wort. Ihre Sprachen hätten gar nicht unterschiedlicher sein können. Und so verstand auch er nicht, als sie nach oben blickte, und mit der anderen redete, mit der Grauhaarigen. Die konnte er nicht sehen; sie hockte ja auf dem Dach des Blechkastens. Manchmal, wenn sie sich bewegte, hörte er es über sich scharren und spürte Roststaub auf seinen Schädel rieseln. Und hin und wieder sah er auch ihren Fellmantel oder ein Stück ihres Stiefels hinter einem der Löcher im verrosteten Dach. Die Weiber wechselten ein paar Worte. Das Gesicht der
Schwarzhaarigen mit den wechselnden Augenfarben verfinsterte sich. Mit beiden Händen griff sie über ihre Schulter, zog ihr Schwert aus der Halterung an ihrem Rücken, richtete sich auf den Knien auf und setzte ihm die Klingenspitze auf den Bauch. Blitzschnell ging das; er hielt den Atem an und riss Mund und Augen auf. Sie fauchte ihn an, bellte ein, zwei Sätze heraus, heiser und hart, und obwohl er sie nicht verstand, begriff er doch deren Sinn. Ihr Tonfall, ihr lodernder Blick, der Druck ihrer Klinge gegen seinen Bauch - deutlicher konnte eine tödliche Drohung nicht ausfallen. Auf einmal beschlich ihn die Ahnung, dass diese beiden Kriegerinne n ganz genau wussten, was er ihnen verheißen hatte. »Gut, Weib Aruula, schon gut«, flüsterte er. »Diese Stunde ist deine Stunde. Aber warte nur... warte, bis Kobajozzi Kangas Stunde kommt...« « . Sie steckte ihr Schwert zurück in die Halterung. Ihr Blick durchbohrte ihn, bis er den Kopf senkte und die Augen schloss. Ein dämonisches Weib, war sie das nicht ganz ohne Zweifel? Kobajozzi Kanga hockte auf einem Gestell aus Drahtgeflecht und Metallstangen, beides von Rost überwuchert. Seine Rechte war an einen Fensterholm des Kastens gekettet, seine Linke an eine Art Rad mit drei Speichen, das rechts von ihm unter dem Fensterrahmen befestigt war. Die Füße hatten sie ihm zusammengebunden, sodass er nicht mehr um sich treten konnte. Er saß in der Mitte des Kastens, unter einer Kuppel, die eigentlich nur aus dem leicht gewölbten Dach und vielen Fensteröffnungen bestand. In einigen hingen noch Glassplitter, wie gesagt. Wenn Kobajozzi Kanga sich umschaute und durch die Fensteröffnungen blickte, konnte er unglaublich vie le dieser verrosteten Kuppelkästen sehen. Kreuz und quer übereinander gestapelt, teilweise auf dem Dach liegend, teilweise verbogen
und eingedrückt, bildeten sie geradezu ein Gebirge aus Metall; ein Gebirge, dass an manchen Stellen fast den vierten Teil eines Speerwurfes hoch aufragte. Die meisten Kästen hatten Räder an der Unterseite. Aus den Legenden der Priester wusste Kobajozzi Kanga, dass die Alten in den Zeiten vor dem Weltenbrand in solchen Kästen umhergefahren waren, ohne dass ein Tier sie ziehen musste. Kangas verrosteter Kerker ruhte auf einem Stapel von etwa drei Speerlängen Höhe. Von hier aus konnte er die Feinde am Feuer - ein Weib und vier Krieger - gut beobachten, sogar ihre Stimmen konnte er hören. Obgleich er nichts verstand, glaubte er ihre Sprache wiederzuerkennen: Die Göttersöhne in der Heimat redeten manchmal in einem ähnlichen Dialekt miteinander. Drei oder vier Speerwürfe hinter dem Feuer verschwamm niedriges Gestrüpp mit der einsetzenden Dämmerung. Dort irgendwo lag das Flussufer. Manc hmal trug der Wind das Rauschen der Wasser in Kobajozzi Kangas Gefängnis. Es wurde Nacht. Ein fremder Geruch mischte sich in Bratenduft und Rauch, ein scharfer, widerlicher Geruch. Kobajozzi Kangas Jägerinstinkt schlug an. Seine scharfen Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Doch nirgendwo nahm er eine verdächtige Bewegung wahr. Irgendwann kletterte einer der Feinde über die Blechkästen zu seinem Kerker herauf. Ein großer schwarzhäutiger Mann mit tiefer Stimme. Er wechselte ein paar Worte mit der Hexe und setzte sich dann an ihre Stelle auf den vorderen Teil des Blechkastens. Die beiden Weiber kletterten hinunter und gingen zum Feuer. »Auch dich werde ich töten, Hundesohn«, zischte Kobajozzi Kanga. Der Schwarze reagierte nicht. Wie ein großes Tier hockte er vor dem Fenster und rührte sich nicht. Hin und wieder, wenn der Wind die Glut des Feuers am Fuß des Rostgebirges anfachte, konnte Kobajozzi Kanga für kurze Zeit das Weiß
seiner Augen erkennen, und das helle, seit den Kämpfen blutverschmierte Fell seines langen Mantels. Der Schatten in seiner Hand war diese dämonische Waffe, die Blitz und Donner verschleudern konnte. Selbst in tiefster Nacht, selbst im Nebel würde Kanga sie erkennen. Niemals wieder würde er die Feuerblitze vergessen, die sie versprühte, und die Donnerschläge, die sie verursachte, und die Wunden, die sie in Körper reißen konnte. Diese Zauberwaffe - neben anderen hatte Kobajozzi Kanga zu einem einsamen Krieger gemacht. Später ging die Sichel des Mondes auf. Sie hing zwischen Wolkenfetzen in einem milchigen Lichthof. Vor wenigen Tagen noch hatte der Vollmond auf dreiundsechzig stolze Ostmänner herab geschienen. Und heute war nur noch er übrig, Kobajozzi Kanga, der Vulkan. Ja, so hieß er zu Hause: Vulkan. Und so hatten ihn die Gefährten genannt, die jetzt tot waren. Auch Atorrn, der bei den Reittieren geblieben war, mussten sie getötet haben. Wie anders war es zu erklären, dass ihm der Kampfgefährte nicht längst zu Hilfe gekommen war? Nur zwei Feinde hatten sie im Gegenzug vernichten können. Nur zwei von neun! Kobajozzi Kanga schrie auf, riss an seinen Ketten und wand sich wie in Schmerzen: Nur zwei von neun! Blech knirschte, Metall schabte über Metall, und das Rad mit den drei Speichen klapperte. Sein schwarzer Wächter blaffte ihn an und richtete die Zauberwaffe auf ihn. Kobajozzi Kanga gab Ruhe. Seine Stunde würden kommen. Er wusste es mit der gleichen Klarheit, mit der er den Tod der verbliebenen sieben Feinde wollte. Denn wenn von dreiundsechzig stolzen Ostmännern tatsächlich nur er übrig geblieben war, ruhte somit die ganze Last des Auftrags jetzt auf seinen Schultern. »Ich werde euch töten, ich werde euch töten...« Wieder und wieder flüsterte er es: »Ich werde euch töten, ich werde euch töten...« Die Nachtstunden zogen sich hin. Manchmal döste Kobajozzi
Kanga ein. Einmal, als er aufwachte, merkte er, dass sie den schwarzen Wächter abgelöst hatten. Der große Weiße mit dem gelben Haar hockte jetzt auf dem Vorderteil des Blechkastens; der Mann, den die dämonische Kriegerin »Maddrax« nannte. Kanga zog die Nase hoch, aus der es seit Stunden unaufhörlich rann. Sie war missgebildet wie die vieler Kampfgefährten. Es war eine Auszeichnung der Götter, so wie auch die gespaltenen Münder, deformierten Ohren und Geschwüre im Gesicht und auf den Armen, die alle Ostmänner mit Stolz trugen. Sie dienten dazu, die Feinde in Angst und Schrecken zu versetzen, hatte die Meister der Erde verkündet. Das Feuer unten glomm nur noch vor sich hin, die Sichel des Mondes war vom Nachthimmel verschwunden. Die tiefe Stimme des Schwarzen drang zu ihm hoch: Er erzählte ununterbrochen. Ihm gegenüber am Feuer saß jener starke Krieger, der ihr gewaltiges Gefährt befehligte, ein sehr großer, muskulöser Mann. Er schien dem Schwarzen aufmerksam zuzuhören. Noch etwas hatte sich verändert: Der scharfe Geruch war intensiver geworden. Und plötzlich wusste Kobajozzi Kanga, was sich da unsichtbar in der Dunkelheit zwischen den Blechkasten-Hügeln zusammenrottete. Das Innere seiner Brust fühlte sich schlagartig an, als wurde Eiswasser hinein gefüllt. Für Augenblicke hockte er stocksteif und hörte auf zu atmen. Wenn er Recht hatte, wenn tatsächlich sie es waren, die hier nach Beute suchten - dann waren nicht nur die Stunden seiner sieben Feinde gezählt, dann war auch sein eigenes Leben in Gefahr! Oder hatten die Geister seiner Vorfahren die Bestien geschickt, um ihn zu retten...? ***
Vor über fünfhundert Jahren Washington D.C., 8. Februar 2012 »... neunzehn, achtzehn, siebzehn...« Die raue Männerstimme erfüllte den saalartigen Raum. Der Countdown für den Abschuss von acht Interkontinentalraketen lief aus. Um die achtzig Männer und Frauen saßen oder standen vor Bildschirmen und Instrumentenkonsolen. Niemand sprach ein Wort, alle lauschten sie der Stimme aus der Internationalen Raumstation. »... fünfzehn, vierzehn, dreizehn...« 9:09 Uhr Central Time, behauptete die Zeitangabe am oberen Rand des großen Monitors an der Stirnwand. Schneetreiben hüllte die Skyline von Washington ein. Präsident Schwarzenegger saß in einem Sessel auf einer erhöhten, hufeisenförmigen Plattform in der Mitte der Kommandozentrale, Monitore, Mikrofone und Telefone vor sich auf der Instrumentenkonsole. Rechts von ihm stand der Stabschef der US Air Force, General Forster Crow, daneben Cora Topalias, Medizinerin und Biogenetikerin und Schwarzeneggers Leibärztin. Links des Präsidenten wechselte sein Stellvertreter, Vizepräsident Carl Spencer Davis, unruhig von einem Bein auf das andere. »... neun, acht, sieben...« Eine Windböe zerriss den Schneeschleier auf dem Hauptmonitor, und für Sekunden konnte man die Umrisse von Menschen auf einem der Hochhausdächer erkennen. Der Präsident stützte seinen Kopf in die Rechte und schloss die Augen. Er dachte an die vielen Millionen Amerikaner, die in diesen Minuten vor Fernseh- oder Radiogeräten auf die erlösende Nachricht lauschten. Oder auf die letzte Nachricht ihres Lebens. In U-Bahnschächten, in Kellern, auf Dächern, in Autokolonnen auf den Highways oder auf Dächern, wie diese Leute auf dem Monitor, die jetzt das Schneetreiben scho n wieder verhüllte.
Und er dachte an die hundert Millionen, ja Milliarden von Menschen in der ganzen Welt, die nicht das seltene Privileg hatten, sich vor dem Kometen in einen unterirdischen Bunker verkriechen zu können. So wie er und sein Vize, sein Stabschef und seine Ärztin - und etwa dreitausend Wissenschaftler, Politiker und Militärs der Washingtoner Regierungskaste samt ihrer Familien. Lauter ausgewählte Angehörige der US-Elite, die im bombensicheren Bunkersystem unter dem Pentagon Zuflucht gesucht hatten. »... sechs, fünf, vier...« »Umschalten zur ISS!« Die Stimme Forster Crows riss Schwarzenegger aus seinen Gedariken. »Ich will die Bilder von Hubble!« »... zwei, eins, null.« Das Schneetreiben und die winterliche Skyline auf dem großen Monitor verblassten, ein neues Bild baute sich auf: An den äußeren Monitorrändern sah man Sternengefunkel in der Schwärze des Alls, in der linken unteren Bildhälfte einen Ausschnitt des blauen Planeten, und fast in der Bildmitte eine gleißender Ellipse, deren gewaltiger Schweif alle anderen Gestirne in ihrer Umgebung verblassen ließ: »Christopher-Floyd«. »Jordan an Houston!« Wieder die Männerstimme aus den Deckenlautsprechern. General Jordans Stimme. Er saß auf der ISS und kommandierte den Beschuss des Kometen mit Interkontinentalraketen. »Acht MX-3-Raketen gestartet und auf vorgesehenem Kurs! Over.« Keiner außer dem Präsidenten, den es noch auf seinem Platz hielt. Alle standen sie jetzt, alle. Über neunzig Augenpaare hingen an den acht Lichtgeraden, die auf Abfangkurs dem Kometen entgegen schossen. Je näher sie ihm kamen, desto blasser wurden sie. »Sehen Sir, Sir?« General Crow deutete auf den Hauptmonitor. »Sehen Sie die Raketen? Nicht mal eine halbe Stunde noch und wir sind das Problem los.« Für seine Verhältnisse wirkte der
Stabschef geradezu erregt. Irgendjemand in Schwarzeneggers Umgebung betete. Nun erhob er sich ebenfalls und blickte auf die Männer und Frauen vor den Konsolen und Monitoren hinunter. Viele hatten einander die Arme um die Schultern gelegt, einige bedeckten ihre Münder mit den Händen. Bis auf das Murmeln und Flüstern einiger Betender und das Summen der vielen Geräte war es still in der Kommandozentrale des Pentagonbunkers. Der Präsident starrte die Feuerkeule auf dem Monitor an. Ihr Schweif füllte schon fast die ganze rechte Bildhälfte aus. Neben der digitalen Zeitangabe am oberen Bildrand - 9:10 Uhr Central Time - eine weitere Ziffern- und Buchstabenfolge: 0 hours, 31 minutes, 17 seconds. Die verbleibende Zeit bis zum errechneten Kometeneinschlag - bis zum hypothetischen Einschlag... »Gütiger Gott, gib, dass es eine hypothetische Zeit bleibt...« Jetzt fing auch der Präsident an zu beten. »Mach, dass wir ihn in Millionen Trümmer sprengen...« Carl Spencer Davis legte ihm die Hand auf die Schulter. »Um 9:29 Uhr treffen sie ihn.« Der Afroamerikaner drückte die Schulter seines Chefs. »Sie werden ihn in Millionen Trümmer zersprengen. Ich glaube ganz fest daran, Sir. Noch knapp achtzehn Minuten, dann ist der Spuk vorbei.« Oder noch einunddreißig Minuten, und dann geht die Welt unter, dachte Schwarzenegger. Jemand schob sich von rechts an seine Seite, fasste seinen Arm und schmiegte sich an ihn. Der Präsident spürte, dass Dr. Cora Topalias zitterte. Ihre Angst überstieg die Norm, und so sprengte auch ihr Verhalten das übliche Maß: Normalerweise achteten sie darauf, sich in der Öffentlichkeit nicht zu berühren. Aber jetzt war sowieso nichts mehr normal. Der Präsident riss sich vom Anblick des Kometen los und sank wieder in seinen Sessel. Müde war er, todmüde. Kaum konnte er sich erinnern, wann er das letzte Mal ein Bett gesehen hatte. Cora blieb an seiner Seite und legte die Hand auf seine Schulter.
›Noch achtzehn Minuten, oder noch einunddreißig Minuten‹, dachte er. In seinem breiten Brustkorb dröhnte plötzlich eine Pauke. Auf einmal tauchte seine Großmutter vor seinem inneren Auge auf. Die alte Nickelbrille auf der Nase, beugte sie sich über die Bibel auf dem Küchentisch. Wie oft hatte sie ihm aus dem dicken schwarzen Buch vorgelesen, als er noch ein kleiner Junge war. Jetzt war ihm, als hörte er ihre Stimme so deutlich, wie er eben noch die General Jordans aus den Lautsprechern gehört hatte. »... da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack«, las sie in breitestem Grazer Dialekt. »Und der ganze Mond wurde Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde...« Der Präsident stöhnte leise und bedeckte seine Augen mit der Hand. Wo in diesem dicken schwarzen Buch stand das noch gleich? Im Johannes-Evangelium, richtig. Nein, in der Offenbarung des Johannes. Er schüttelte sich, um die Erinnerung an seine Großmutter aus seinem Schädel zu jagen, er riss die Augen auf und starrte auf den kleinen Monitor direkt vor ihm auf der Konsole. Acht schmale Silhouetten stachen dort in eng beieinand er liegenden Geraden der gleißenden Ellipse »Christopher-Floyds« entgegen; eine vom Hauptcomputer der ISS errechnete Visualisierung der aktuellsten Radaraufnahmen. Der Anblick verschaffte der alten Frauenstimme in Schwarzeneggers Hirn nur noch mehr Raum. Unerbittlich las sie aus dem schwarzen Buch: »... der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln werden wegbewegt von ihren Orten...« »Houston an ISS und Pentagon. Meldung von Eagle 1: Die Flugstaffel hat die Raketen auf dem Radar. Over.« Die Stimme aus dem Kontrollzentrum in Houston ließ die Erinnerung verblassen. Der Präsident hob den Blick. Die leuchtende Feuerkeule auf dem Hauptmonitor überstrahlte alles. Auch in Houston starrten sie jetzt auf den Kometen. In Houston,
und in unzähligen anderen Observatorien, Kontrollzentren und Regierungsbunkern auf der ganzen Welt ebenfalls. 9:19 Uhr Central Time, sagte die Zeitangabe am oberen Monitorrand; und daneben die Zeit bis zum hypothetischen Einschlag: 0 hours, 22 minutes, 07 seconds. »Wir schaffen es, Sir«, flüsterte der Vizepräsident. »In acht Minuten und achtundvierzig Sekunden erwischen wir ihn.« Cora Topalias sagte nichts. Doch ihre Hand klammerte sich an seiner Schulter fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Er blickte zu ihr hinauf und sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss. Noch acht Minuten, oder noch einundzwanzig Minuten... alle Berge und Inseln werden wegbewegt von ihren Orten. Auf einmal strahlte ein wolkenloser blauer Himmel vor seinem inneren Auge, und er sah die majestätischen Gipfel der Hohen Tauern. Mit seinem Vater stand er selbst auf einem dieser Gipfel und bestaunte den erhabenen Anblick. Der Präsident fragte sich, ob er jemals wieder einen solchen Himmel sehen würde, und er fragte sich, in welchem Jahr er mit seinem Vater in den Hohen Tauern auf einer Bergwanderung unterwegs gewesen war. War es 1959 oder 1960 gewesen? Zwölf oder dreizehn Jahre alt musste er damals gewesen sein. Genau wusste er es nicht mehr, aber er wusste noch genau, was sein Vater damals, auf jenem Gipfel sagte. »Wie klein und unbedeutend sind wir doch gegen diese majestätischen Berge«, sagte er. »Wenn es dich und mich längst nicht mehr gibt, werden sie immer noch stehen, Arnold. Bis in alle Ewigkeiten werden sie in den Himmel ragen...« Alle Berge und Inseln werden wegbewegt von ihren Orten... »Gib, dass er sich nicht getäuscht hat«, betete der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Ärztin sah erschrocken zu ihm herunter. Er merkte es nicht. »Heiliger Jesus, gib, dass er sich nicht getäuscht hat...« 9:24 Uhr Central Time, lautete die digitale Zeitangabe. Noch fünf Minuten, bis die Raketen auf »Christopher-Floyd«
explodierten. Oder, falls sein Vater sich doch getäuscht hatte, noch siebzehn Minuten, bis der Komet auf der Erde einschlug...
Ehemaliges Nordwestkanada Ende August 2518 »Grazer Dialekt? Wo, beim Schweif des Kometen, liegt Graz?« Mr. Black warf einen Ast ins Feuer. Hellwach war er plötzlich. Merlin Roots' Erzählung brachte sein Blut in Wallung. Ja, sie erregten ihn mehr als diese ganze kräftezehrende Reise, mehr als die fremdartige Tundra-Landschaft, in die es sie verschlagen hatte; mehr sogar als der blutige Kampf, der hinter ihnen lag. Komisch eigentlich, oder? »Graz liegt nirgendwo mehr«, sagte Merlin Roots in dem ihm eigenen gelassenen Tonfall. »Früher aber lag es in einem Staat, den man Austria nannte.« Roots' Bass rollte tief und gleichmäßig. Jeder Hohlraum seines Körpers schien zu vibrieren, wenn der schwarze Historiker sprach, selbst der Boden, auf dem er saß. Merlin Roots war mit einer Stimme gesegnet, die vermutlich sogar die Würmer unter der Erde erreichte; mit einer Stimme, der man jedes Wort zu glauben geneigt war. »Woher wissen Sie das eigentlich alles so genau, Mr. Roots?« Der Anführer der Running Men mimte den coolen Skeptiker. So amüsiert und spöttisch, wie er grinste, war Black im Grunde gar nicht zumute. »Ich bin Historiker, Mr. Black«, sagte Merlin Roots unbeeindruckt. »Historiker und Chronist. Ich nehme meinen Job ziemlich Ernst, wissen Sie? Während meines Studiums habe ich die Archive der WCA gründlich durchgeforstet. Sie glauben gar nicht, welche Schätze man in den Datenbanken des Pentagon finden kann.« »Schon möglich.« Black zog die Brauen hoch, sein kantiges
Gesicht nahm einen gönnerhaften Ausdruck an. »Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich schätze fantasiebegabte Menschen. Aber Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie in den Datenbanken gelesen haben, wo der Präsident an jenem verfluchten Tag gesessen hat, wer neben ihm stand und was dieser - wie hieß er gleich? - dieser Davis so alles von sich gegeben hat.« Aus der Dunkelheit knirschte Blech. Jemand stieg eine Schrotthalde herab. »Es existieren Audio- und Videodateien von diesem Tag, Mr. Black.« Merlin gähnte. Es war ein Fehler gewesen, das Thema mitten in der Nacht anzuschneiden. »Und nicht nur von diesem. Schauen Sie - meine frühen Vorgänger hatten nicht gerade einen großen Aktionsradius. Außerhalb des Bunkers herrschten Nacht und Winter, und eine Horde futterneidischer Neubarbaren. Die Historiker des ersten Jahrhunderts nach ›Christopher-Floyd‹ mussten sich in ihrer Datensammelwut auf das Bunkersystem unter dem Pentagon beschränken. Und wichtige Leute wurden natürlich besonders oft gefilmt.« Black grinste jetzt nicht mehr. Fast ein bisschen nachdenklich sah er aus. »So, so«, brummte er. Schritte näherten sich, eine in einen Kapuzenfellmantel gehüllte Männergestalt kam ans Feuer. Matthew Drax, der seine Wache hinter sich hatte. Er winkte kurz, ging an ihnen vorbei und verschwand Richtung Fluss. Bald hörten sie die Panzerluke quietschen, und kurz darauf kamen zwei Männer zurück. Matt Drax setzte sich zu Mr. Black und Merlin ans Feuer, Aiko Tsuyoshi ging zur Schrotthalde und kletterte hinauf zu dem verrosteten Wagen, in dem sie den gefangenen Mongolen untergebracht hatten. »Was wird mit ihm?« Mit einer Kopfbewegung deutete Matt hinauf zur Schrotthalde. Aiko Tsuyoshi ließ sich dort oben auf der Kühlerhaube des verrosteten Autowracks nieder. Nur undeutlich sah man die Umrisse seines Körpers. Zwei Punkte leuchteten in Höhe seines Gesichts. Die Augen des Cyborgs.
Manchmal, wenn der Nachtsichtmodus seiner Optik aktiviert war, schimmerten sie wie Glühwürmchen. »Was soll mit Mr. Tsuyoshi werden, Commander?« Black hätte das Gespräch mit Merlin Roots gern fortgesetzt. Die Unterbrechung gefiel ihm ganz und gar nicht. »Wenn einer diese Reise überlebt, dann ihr Cyborg-Freund.« Matthew Drax neigte den Kopf und betrachtete den hünenhaften Anführer der Running Men aus zusammengekniffenen Augen; so wie man die Eisdecke eines zugefrorenen Sees betrachtet, wenn man sich nicht sicher ist, ob sie schon trägt. »Erstens, Mr. Black, ist Aiko ein Mensch aus Fleisch und Blut, auch wenn er künstliche Arme hat und den einen oder anderen Prozessor benutzt, um seine organischen Funktionen zu optimieren. Und zweitens schätze ich es nicht, bewusst missverstanden zu werden. Ich spreche nicht von Aiko Tsuyoshi. Ich spreche von dem Barbaren in dem verrosteten Mercedes dort oben, diesem Kobajozzi Kanga, wie Karyaana herausgefunden hat. Was wird aus ihm? Wir können ihn unmöglich bis zum Kratersee mitschleppen.« »Warum so empfindlich, Drax?« Mr. Black neigte nicht zu Illusionen; er wusste, dass der Mann aus der Vergangenheit ihm nicht über den Weg traute. Und er wusste auch, dass er ihm Grund genug dafür geliefert hatte. »Ich glaubte wirklich, Sie sprechen von ihrem Freund. Denn was aus dem Mongolen wird, das liegt doch wohl auf der Hand.« Als suchte er Bestätigung, blickte er über das Feuer zu dem schwarzen Historiker. Doch Merlin Roots gähnte und tat, als ginge ihn das Gespräch nichts an. »Mr. Roots' Freundin wird ihn belauschen, wie Sie das nennen, und wenn sie seine Gedanken ausspioniert hat und wir wissen, warum diese Horde uns ans Leben wollte -«, er zuckte mit den Schultern, »- dann werden wir uns seiner entledigen.« »Entledigen? Sie meinen ermorden!« Matt schüttelte, den Kopf. »Das kommt nicht in Frage.« »Wir haben vor kurzem sechzig seiner Kumpane getötet, schon
vergessen?« »Das war im Kampf«, stellte Matt klar. »Wir hatten keine andere Wahl. Aber ich weigere mich, einen Gefangenen zu exekutieren.« Wieder wies er mit einer Kopfbewegung die Schrotthalde hinauf. »Er mag ein Barbar sein, er mag kein anderes Gesetz als das des Stärkeren akzeptieren - aber ich werde ihn nicht töten. Von mir aus jagen wir ihn irgendwo mit einem Messer und etwas Proviant in die Wildnis hinaus.« Black lachte. »Wo ist der Unterschied? Wir könnten ihm natürlich auch Ihren Driller, ein Zelt, unseren Panzer und ein bisschen Munition überlassen, dann schafft er es vielleicht wirklich allein...« Schlagartig versteinerte sein Gesicht. »Hören Sie zu, Drax. Seit ich der Kommandeur der Running Men bin, musste ich Hunderte von unpopulären und manchmal auch grausamen Entscheidungen treffen. Ich mache das nicht gern, aber es ist eine Notwendigkeit. Diesen Barbaren freizulassen kann uns selbst die Köpfe kosten. Wenn ich richtig liege, dann hat er einen Auftrag vom Weltrat erhalten, und er wird nicht ruhen, bis wir alle tot vor ihm liegen. Uns bleibt also gar keine Wahl! War das deutlich genug?« »Der Kommandeur der Running Men...« Jetzt war es an Matt zu lachen, aber es klang bitterer als bei Black. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde Ihre Truppe von der WCA aufgerieben. Ich weiß zwar nicht, wie viele Getreue Sie noch in Washington haben, aber hier kommandieren Sie nur über Mr. Roots und Miss Hardy, bestenfalls noch über Miss Karyaana. Wir anderen sind Ihrem Verein noch nicht beigetreten und haben es auch nicht vor.« Matt griff hinter sich, angelte eine Flasche aus der Dunkelheit, setzte sie an und trank, ohne Black aus den Augen zu lassen. »Das verlangt auch niemand von Ihnen.« Seltsam leise und ruhig sprach Black jetzt. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, seine großen Hände lagen vollkommen reglos auf seinen Schenkeln. »Aber dieser Mongole ist ein Gefangener der
Running Men.« »Das ist er nicht.« »Warum so zimperlich, Drax? Nach allem, was ich von Ihrer Zeitepoche weiß, passt das gar nicht zu Ihnen. Dieser Kobajozzi Kanga ist einer der Schlächter, die Mr. Eddy und Phil Hollyday auf dem Gewissen haben. Mein Gewissen wird rein sein, wenn ich ihn erschieße.« »Und ich werde mein Gewissen nicht mit einem weiteren Toten belasten, noch dazu einem Kriegsgefangenen.« »Das brauchen Sie nicht, Mr. Drax. Ich werde tun, was getan werden muss.« Endlich schaltete Merlin Roots sich ein. Beschwichtigend hob er beide Hände. »Schluss jetzt.« Sein Bass brummte gleichmütig. »Keiner ist hier Kommandeur von irgendjemandem, und wenn Karyaana ihren Job erledigt hat, entscheiden wir gemeinsam, was zu tun ist. Alles klar?« Matt und Black fixierten sich gegenseitig. Obwohl sie so taten, als hätten sie Merlins Worte gar nicht gehört, waren beide im Grunde froh, das Problem vertagen zu können, ohne das Gesicht zu verlieren. In das Rauschen des nahen Flusses mischte sich erst das Quietschen der Panzerluke und dann Schritte. Nur die drei Frauen schliefen im Nixon-Panzer. Mindestens eine war aufgewacht. Aruula; Matt hörte es an den Schritten. »Hat Karyaana weiter nichts in den Gedanken dieses Kobajozzi Kanga gefunden als seinen Namen?«, fragte Merlin Roots in das gespannte Schweigen hinein. »Doch.« Der Mann aus der Vergangenheit blickte in die Glut. »Die Kerle kommen aus dem Osten. Aus Russland, oder Ruland, wie sie es jetzt nennen. Irgendjemand hat sie beauftragt, uns zu beseitigen. Nicht Sie, Merlin. Und auch nicht die Running Men. Sondern mich und Aruula und Aiko. Dass sie dabei auf Ihren Panzer gestoßen sind, war reiner Zufall.« »Beseitigen klingt ja geradezu freundlich.« Black lächelte
wieder. »Wenn ich Karyaana richtig verstanden habe, will die Mordmaschine dort oben uns der Länge nach aufschlitzen. Und Miss Aruula, Ihre... wie soll ich sagen, Ihre wehrhafte Gefährtin will er zuvor nach allen Regeln der Kunst vergewaltigen.« »Maddrax?« Aruula blieb ein paar Schritte vor dem Feuer stehen und schnüffelte nach allen Seiten. »Riechst du das auch?« »Ja«, sagte Matt. »Rostiges Metall, Feuer und feuchte Erde.« »Nein, nein - hier riecht es nach Vieh.« Aruula bückte sich nach einer Trinkflasche. Sie leerte die noch fast volle Flasche in wenigen gierigen Zügen. Danach entfernte sie sich Richtung Schrotthalden. Matthew Drax blickte ihr hinterher. Aruulas unglaublicher Durst, den sie in den letzten Wochen zeigte, war merkwürdig. Und ihre Marotten auch. Warum zum Beispiel trug Aruula Tag und Nacht Handschuhe? Und warum war sie so sprunghaft geworden in ihrem Verlangen nach Sex? Er hatte keine Erklärung dafür. Bald hörten sie die Barbarin mit Aiko reden. »Wir waren übrigens gerade bei einem interessanten Thema, Mr. Drax«, riss Black den ehemaligen Air Force Piloten aus seinen Gedanken. »Mr. Roots erzählte mir von meinem Vater.« Matt machte ein begriffsstutziges Gesicht. »Von meinem genetischen Vater«, fügte Black hinzu. »Ah, von Präsident Schwarzenegger. Ein bemerkenswerter Mann, in der Tat.« Matt verstand den plötzlichen Themenwechsel als Angebot für einen vorübergehenden Waffenstillstand. »Haben Sie ihn gekannt?« »Gekannt ist übertrieben. Ich habe ihn oft im Fernsehen gesehen oder bei Truppenparaden. Einmal auch auf einer Leinwand in Brüssel. Irgendwann im Januar 2012 auf einer Krisensitzung im NATO-Hauptquartier. Der Präsident war uns über Satellit zugeschaltet. Schon mehr als zwei Jahre her.« Er blickte auf und sah mit hochgezogenen Brauen von einem zum
anderen. »Aus ihrer Perspektive schon mehr als fünfhundertsechs Jahre.« »Er sah ähnlich aus wie ich, nehme ich an.« »Nun, er war Mitte sechzig, als ich ihn das letzte Mal sah. In jungen Jahren natürlich sah er aus wie Ihr Zwillingsbruder.« Aufmerksam betrachtete er Black. »Und auch in seiner Beharrlichkeit stand er Ihnen in nichts nach. Er wollte nach Hollywood, und er hat es geschafft. Auch wenn er in seinen ersten Rollen mehr Muskeln als Talent zeigte. Er begann als Bodybuilder.« »Als... Körperformer?«, fragte Black. Matt hörte das Interesse in seiner Stimme. »Das war eine Art Sport«, präzisierte er. »Die eindrucksvollen Muskelpakete haben ihm zu seiner Karriere als Schauspieler verholten. Und ohne diesen Bekanntheitsgrad wäre er vermutlich niemals Gouverneur und schließlich sogar Präsident der Vereinigten Staaten geworden.« »Nehmen Sie mich nicht auf den Arm, Drax! Ein Schauspieler kann doch nicht Präsident werden.« Matt schüttelte den Kopf. »Irrtum. Vor ihm ist das auch schon Ronald Reagan gelungen. Die US-Bevölkerung hatte schon immer Probleme damit, Entertainment und Realität auseinander zu halten. Ich wette, viele haben sogar ›Christopher-Floyd‹ für den Star einer SF-Serie gehalten - bis er ihnen auf den Kopf fiel...« »Ronald Reagan?«, hakte Merlin Roots nach. »Da scheint es in den Chroniken eine Verwechslung zu geben. »Ich dachte, er hieß Ronald McDonald.« »Knapp daneben.« Matt grinste breit. »Der war, so weit ich weiß, Spaßminister in der Clinton-Regierung.« An Roots' Gesicht ließ sich nicht ablesen, ob er den Kalauer verstanden hatte. Matt wars egal; heute interessierte eh keinen mehr, welche Staatsmänner sich vor über fünfhundert Jahren am Regierungs-Showbiz beteiligt hatten.
Keinen bis auf Mr. Black. Der wandte sich wieder an den hoch gewachsenen Schwarzen. »Erzählen Sie weiter, Mr. Roots. Ich kann sowieso nicht schlafen.« ›Aber ich‹, dachte Roots, sprach es aber nicht aus. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, Drax und Black allein zu lassen. »Von mir aus«, brummte er... *** Washington D.C., 8. Februar 2012 9:26 Uhr. Central Time. Die Minuten krochen zäh dahin. Der Präsident dachte an die ISS-Besatzung. Er dachte an Professor Dr. Jacob Smythe, den Chef der astronomischen Abteilung der Air Force. Der Mann saß jetzt in Eagle 1, einem der drei Stratosphärenjets, die den Raketen-Beschuss beobachten und seine Auswirkungen messen sollten. Ein Commander namens Matthew Drax kommandierte das kleine Geschwader. Und er dachte an die letzten Berechnungen, die Smythe ihm geliefert hatte: Auswirkungen eines Kometeneinschlags vom Kaliber »Christopher-Floyds«: Die Kraft einiger Hunderttausend Wasserstoffbomben würde einen ganzen Kontinent Zentralasien - deformieren und die Erde unbewohnbar machen; eine Flutwelle globalen Ausmaßes würde die Wochen und ein Feuerorkan die Monate nach der Katastrophe prägen. Weniger als zehn Millionen Überlebende prognostizierte der Astrophysiker! Und auf die wartete ein mindestens vier Generationen dauernder atomarer Winter... Das Gemurmel in der Kommandozentrale schwoll an. Der Präsident schreckte aus seinen trübsinnigen Gedanken hoch. Auf dem kleinen Monitor vor ihm auf der Konsole berührten die acht Raketen den Kometen bereits. Er stand auf, Cora Topalias hakte sich bei ihm unter. Sie zitterte noch immer. Und anders als sonst
sprach die temperamentvolle Wissenschaftlerin kein Wort. »Noch eine Minute bis zur Explosion«, sagte Carl Spencer Davis neben ihm. Schweißperlen glänzten auf der schwarzen Stirn des Vizepräsidenten. Schwarzenegger sah, wie unter ihm einige Männer und Frauen aufsprangen vor Erregung. Andere verschränkten die Arme über den Köpfen oder drückten sich die geballten Fäuste in die Münder. 9:28 Uhr Central Time war es jetzt auf der digitalen Zeitanzeige. »Jordan an Houston«, tönte es aus den Lautsprechern unter der Decke. »Verstärkte Strahlungsaktivität in der Korona des Kometen festgestellt. Over.« Statt Houston antwortete der Stabschef. »Pentagon an ISS!« General Forster Crow verlor jede Beherrschung, er schrie. »Was für eine Art von Strahlung?!« »Neutronen, Sir«, sagte General Jordans Lautsprecherstimme. »Commander Drax meldet extreme Gammastrahlung !« »Noch dreiundsiebzig Sekunden«, flüsterte Davis. Er und Schwarzenegger starrten auf den Großbildmonitor. Die Feuerfaust raste dem blauen Planeten entgegen. »Entfernung von der Erde?!«, rief Davis laut. Der Stabschef gab die Frage an die ISS weiter. Die Antwort kam prompt: »94.743 Kilometer.« Schwarzenegger blickte auf die Zahlen neben der Zeitangabe: 0 hours, 13 minutes, 11 seconds... »Gütiger Gott«, betete er laut. »Lass diesen Stern nicht vom Himmel fallen...!« Davis sah ihn von der Seite an und schluckte. »Noch neunundfünfzig Sekunden!«, rief eine Stimme aus den Lautsprechern. Nicht Jordans Stimme, wahrscheinlich der Chef des Kontrollzentrums in Houston. »Die Raketen tauchen in die Kometenkorona ein...!« Und dann wieder Jordans Stimme: »Gott, diese Gammastrahlung! Was ist das nur für ein Teufelsding?!« Alles ging nun durcheinander, jeder schien die Fassung zu
verlieren. Schwarzenegger machte sich von seiner Ärztin los, stemmte die Arme auf die Konsole und ließ die Augen nicht mehr von der Feuerfaust auf dem Großmonitor. »Treffer!«, rief der Kommandeur der ISS. »Acht Treffer!« Carl Spencer Davis schlug dem Präsidenten auf den Rücken. »Wir haben ihn erwischt, Arnie!« Schwarzenegger sah sie schon vor sich, die kosmische Explosion, in welcher der Komet gleich zerspringen würde. Er hielt den Atem an. Das gesamte Kommandozentrum des Pentagon schien den Atem anzuhalten. Doch »Christopher-Floyd« zersprang nicht. Er glühte zwar kurz auf, und einige Feuerstreifen lösten sich aus seinem Lichthof, aber sonst geschah nichts. Unbeirrt hielt er Kurs auf die Erde. Totenstille herrschte plötzlich. Für Augenblicke rührte sich niemand: Arm streckten sich reglos der Decke entgegen, Münder standen offe n und schlossen sich nicht mehr, geballte Fäuste pressten sich gegen Schläfen. Es war, als würde die Zeit stehen bleiben. Aber natürlich blieb sie nicht stehen: 0 hours, 10 minutes, 53 seconds... Und dann die heisere, erschöpfte Stimme General Jordans von der ISS: »Eagle 1 hat sich bei seiner Bodenstation in Berlin gemeldet. Seine Nachricht: ›Objekt getroffen, keine Wirkung‹.« Für ein paar Sekunden hielt die Lähmung noch an. Dann sanken die Männer und Frauen nacheinander in ihre Sessel. Einige auch auf den Boden. Nur Davis, Schwarzenegger und Dr. Topalias standen wie festgewachsen und beobachteten das nun Unausweichliche: Der Komet raste der blauen Kugel entgegen wie ein siegreicher Racheengel. Der Präsident schloss die Augen. ›Aus‹, dachte er, ›unwiderruflich aus und vorbei...‹ Das glubschäugige Gesicht Dr. Smythes tauchte vor ihm auf. Seine hektische Stimme blaffte: »Hunderttausend Wasserstoffbomben... Zentralasien...
Flutwelle... Feuerorkan... Milliarden von Toten... atomarer Winter...« Neben ihm begann Dr. Cora Topalias leise zu beten. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zu frischen Wassern...« Jedes Wort hörte sich für ihn so absurd an, als würde die Ärztin eine fremde Sprache sprechen. Er öffnete die Augen. 9:33 Uhr Central Time, lautete die Zeitangabe am oberen Rand des Monitors. 0 hours, 9 minutes, 22 seconds... Die halbe Leinwand füllte der Zerstörer aus dem All inzwischen aus. Er schob eine rötliche Glutkuppel vor sich her. Ihre Reflexe spiegelten sich schon in der Atmosphäre der Erde wider, sodass sich der blaue Planet an einige Stellen orange zu färben schien. Unten, vor den Konsolen, fielen sich einige Leute in die Arme. Jemand begann laut zu weinen, jemand betete das Vaterunser, jemand stimmte ein Lied an. Langsam wandte der Präsident seinen Kopf nach links. Das Gesicht seines Vizes war nicht mehr schwarz - es hatte die Farbe von getrocknetem Schlamm. Davis' Unterlippe bebte. Sekundenlang sahen die Männer sich an. Schwarzenegger fragte sich, ob seine Augen genauso leer aussahen wie die von Davis. Er riss sich von seinem Anblick los und betrachtete wieder die Leinwand. War das alles Wirklichkeit, oder sah er nur einen Katastrophenfilm? Die Glutkuppel vor dem Kometen blähte sich zu einer gewaltigen Blase auf. Alle Farbnuancen zwischen Tiefrot und leuchtendem Orange fluteten die Atmosphäre des blauen Planeten. 9:38 Uhr Central Time. »Christopher-Floyd« tauchte in die Erdatmosphäre ein. Stimmengewirr erfüllte die Kommandozentrale. Weinen, Beten, Singen. Plötzlich glaubte der Präsident die ganze Menschheit beten, weinen und singen zu hören. ›Milliarden von Toten‹, dachte er, ›das sind sie also, das sind also die letzten
Minuten der Menschheit...‹ Er sah zu Carl Spencer Davis. Tränen rannen dem Vize über die schmutziggraue Gesichtshaut. Unendlich einsam fühlte sich der Präsident in diesen Augenblicken. »Amen«, sagte Cora neben ihm, und dann verstummte sie und schlang die Arme um ihn. Merkwürdig, auf einmal erschien ihm ihr Gebet gar nicht me hr absurd, auf einmal erschien es ihm als Ausdruck der Hoffnung und nicht der Verzweiflung. Es war nur eine Intuition, doch sie riss ihn aus der Opferstarre, in die er seit den wirkungslosen Raketentreffern gefallen war. Milliarden von Toten, ja - aber eben nicht die gesamte Menschheit. Die neunzig dort unten, die knapp dreitausend im Pentagonbunker, und Zehntausende in weiß Gott wie vielen ähnlichen Bunkersystemen würden überleben. Und vielleicht sogar ein paar Millionen über ihnen auf der Erdoberfläche ... »Umschalten«, krächzte Carl Spencer Davis. »Ich will Bilder aus Spanien...« Seine Stimme war die Stimme eines Greises. Die in Orange getauchte Erdkugel auf dem Großbildmonitor verblasste; ein neues Bild baute sich auf. Die Aufnahme des Laserteleskops auf dem Carlo Alto in Spanien - oder einer Außenkamera des europäischen Observatoriums? 16:41 Uhr MEZ, lautete die Zeitangabe. Und daneben der Countdown für »Christopher-Floyd«: 0 hours, 0 minutes, 51 seconds... Man sah einen wolkenverhangenen Himmel. Schnell verfärbte er sich rötlich, leuchtete schließlich orange, und es rauschte, als würde sich eine Sturmflut über den Kontinent ergießen. Intensiver leuchtete der Wolkenhimmel, das Rauschen schwoll an, verwandelte sich in Gedonner, das Bild begann zu zittern. Von einer Sekunde auf die andere zerriss die orangene Decke. In alle Richtungen schossen die Wolken davon. Das Donnern steigerte sich zu frenetischem Gebrüll. Und dann - vielleicht einen Atemzug lang - sah man den glutroten Feuerball: »Christopher-Floyd«, der die Berge und Inseln von ihren Orten
weg bewegen würde; den Stern, der vom Himmel fiel; den Zerstörer aus dem All... Schwarzenegger kniff die Augen zusammen, weil sein weißer Kern ihn blendete. Er riss einen schwarzen, tausendfach zerfaserten Rußschweif hinter sich her, verwandelte den Himmel in eine brennende Kuppel... Das Bild wackelte, dann verblasste es. Neunzig Augenpaare starrten auf einen schwarzen Monitor. In der Kommandozentrale flackerte das Licht, drei, vier Mal, bis es schließlich erlosch. Für Sekunden war es vollkommen dunkel und vollkommen still. ›Das Nichts‹, dachte der Präsident, ›so muss das Nichts sein...‹ Doch sofort korrigierte er sich: Niemand tauchte ins Nichts und hörte dennoch seinen Herzschlag. Die Beleuchtung flammte wieder auf; der Zentralrechner hatte die autonome Energieversorgung angeworfen. Die Männer und Frauen vor Konsolen und Bildschirmen blickten sich ratlos an. Die Wenigen, die auf dem Boden saßen, standen auf. Nach und nach drehten sie sich um und sahen zu ihrem Präsidenten hinauf. Von der Seite spürte Schwarzenegger den erwartungsvollen Blick seines Vize. »Ladies und Gentlemen.« Schwarzenegger räusperte sich. »Wir hatten ein Problem, Ladies und Gentlemen, ein Problem, das wir ausnahmsweise nicht meistern konnten. Es hat uns voll erwischt. Seit Monaten ahnten wir, dass es so kommen könnte. Jetzt ist er eingetreten, der worse case. Die menschliche Zivilisation, wie wir alle sie kennen, hat soeben einen vernichtenden Hieb empfangen. Kein schöner Gedanke, ich weiß. Aber es ist nicht das Ende! Zehntausende haben die Katastrophe in Bunkern überlebt, genau wie wir, vielleicht Millionen auf der Erdoberfläche. Ich bin mir sicher, dass Gott uns eine zweite Chance gewährt hat, die Chance für einen Neuanfang. Packen wir sie beim Schopf. Es wird viel zu tun geben in den nächsten Monaten und Jahren. Sie alle wissen, dass Ausnahmezustand mit allen Notstandsgesetzen herrscht. Ich
erwarte von Ihnen Disziplin, Gehorsam und Opferbereitschaft... « *** Ehemaliges Nordwestkanada Ende August 2518 Unten am Feuer brummte die Stimme des Schwarzen, entlang der Schrotthalden schlich Aruula mit gezücktem Schwert, und im Autowrack hing der Gefangene weit nach vorn gebeugt zwischen gestrafften Ketten, als würde er irgendwelchen geheimen Botschaften lauschen. Hellwach war er, und das alarmierte Aiko weit mehr als Aruulas Warnung vor fremden Gerüchen. Worauf wartete dieser Krieger so angespannt? Irgendetwas stimmte nicht, keine Frage. Irgendwo in diesem Schrottgebirge braute sich etwas zusammen. Aiko spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Längst stand er breitbeinig auf der Kühlerhaube des verrosteten Mercedes, seine Maschinenpistole im Anschlag. Wehmütig dachte er daran, dass die ausgezeichnete Waffe bald nur noch Ballast sein würde. Knapp siebzig Patronen steckten noch im Magazin, und Nachschub für die ultramoderne Waffe aus Miki Takeos Werkstätten würde er hier nicht finden. Deshalb hatte er die Tak 02 auf Einzelfeuer gestellt. Auch er nahm den scharfen, bitteren Geruch inzwischen wahr. Nach Tier roch es. Er spähte in die Nacht, die für ihn fast taghell war. Der Cyborg hatte seinen Nachtsichtmodus aktiviert: Die Halme der Grasbüschel auf den durchlöcherten Autodächern oder auf den Unterböden sah er genauso deutlich wie das Moos auf den Reifenfetzen, allerdings nur in bläulichem Schwarzweiß. Mit dem Nixon- Transportpanzer hatten sie die Richardson Mountains überwunden und waren etwa hundertzwanzig Kilometer weiter südlich überraschend auf diesen Autofriedhof
gestoßen. Matt hatte eigentlich die Ruinen einer Stadt erwartet, einer Stadt, die er »Old Crow« nannte. Den Fluss, an dem diese Stadt einst gelegen haben sollte - den Porcupine -, hatten sie gefunden, die Ruinen von Old Crow jedoch nicht. Sei's drum wen interessierte schon eine Geisterstadt? Auf den Kontinent, den die Alten einst »Asien« nannten, wollten sie; zum Einschlagsort des Kometen, zum Kratersee. Ein Gedanke reichte, und der Thermomodus sensibilisierte Aikos Sehnerv für Wärmestrahlungen. Auch seine erhöhte Fernsicht aktivierte der Cyborg. Sein Blick glitt über die Schrotthalden. Die Bassstimme am Feuer verstummte plötzlich; auch Mr. Black und Matthew Drax redeten nicht mehr. Vermutlich wurden auch sie sich der Gefahr bewusst. Nur... welcher Gefahr? Bis auf den widerlichen Geruch nahmen Aikos scharfe Sinne nichts wahr. Er wandte sich nach dem Gefangenen um. Auch dessen Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Aiko glaubte etwas wie Furcht auf seinen ledrigen Zügen zu erkennen. Er riss an seinen Ketten, dass das Lenkrad wackelte und der verrostete Fensterholm des Wagens knirschte. »Siehst du was, Aiko?«, flüsterte Aruula am Fuß der Schrotthalde. Aiko blickte zu ihr hinunter. Ihr Schwert auf die Schulter gelegt, drehte sie sich langsam im Kreis und suchte die Schrotthalden, den Platz um das Feuer und den schmalen Durchgang zwischen zwei Wrackhügeln ab. Knapp hinter ihm hatten sie den Panzer geparkt. »Nein, nichts.« Der Cyborg schüttelte den Kopf. »Ich glaube, unser Gefangener weiß mehr als wir«, flüsterte er. »Weck Karyaana, vielleicht kann sie einen Hinweis in seinen Gedanken finden.« Aruula eilte zum Panzer. Aiko vermutete, dass sie sich herabgesetzt fühlte, nicht selbst den Geist des feindlichen Kriegers ausspionieren zu können, denn eigentlich verfügte sie über die gleichen telepathischen
Fähigkeit wie Karyaana. Doch seit Wochen schon konnte sie nicht mehr lauschen. Jeden Tag versuchte sie es, und jeden Tag hörte man sie klagen: ›Ich bin immer noch taub.‹ Die Männer am Feuer erhoben sich und zogen ihre Waffen. Black kletterte auf den ge genüberliegenden Wrackhügel, Merlin Roots stieg zu Aiko hinauf, Matt blieb am Feuer. Wieder suchten Aikos Augen die zerklüfteten Konturen der Schrottlandschaft ab. Und da - ein verwaschener rötlicher Fleck! Die Wärmeabstrahlung eines Lebewesens! Seines Schädels, vermutete der Cyborg. Etwa zweihundertfünfzig Meter entfernt bewegte er sich hinter einem auf dem Dach liegenden Autowrack. Und daneben eine zweite Wärmequelle, und etwas unterhalb schob sich eine dritte aus einem Wrack. Taratzen? In dieser Gegend? Unwahrscheinlich. Aiko zoomte das Bild heran. Was auch immer dort aus der Schrotthalde kroch, es bewegte sich geschmeidig und vollkommen geräuschlos. Auf jeden Fall waren sie viel kleiner als Taratzen. Aiko erkannte einen langen Schwanz, gesträubtes Nackenfell und gelb schimmernde Augen. Ob sie auch seine Augen sehen konnten? Und noch mehr Lebewesen entdeckte er jetzt: sechs, sieben, acht etwa anderthalb Meter lange und kaum knapp kniehohe Kreaturen schlichen da heran. Blech knirschte, die Kühlerhaube schwankte. Merlin schwang sich auf das Mercedeswrack. Matt hatte diesen Namen genannt »Mercedes«. Aiko fand ihn wohlklingend, viel zu schön für so eine Rostkiste. Er deutete auf die Tiere, Merlin setzte das Nachtglas an die Augen und spähte in die angezeigte Richtung. Aiko ließ seinen Blick wandern. Von allen Seiten schlichen sie heran, achtzehn Tiere zählte er inzwischen. Auch Mr. Black auf dem gegenüberliegenden Schrotthaufen beobachtete die Halden des Autofriedhofs durch ein Nachtglas. An seiner leicht gebeugten und angespannten Haltung las Aiko ab, dass er einige der Biester ebenfalls entdeckt hatte. Schritte näherten sich vom Panzer her. Die Umrisse dreier
Gestalten schälten sich aus der Dunkelheit. Aruula hatte Karyaana und Miss Honeybutt Hardy geweckt. Aiko konnte den Lauf eines Lasergewehrs hinter der Schulter von Mr. Blacks Gefolgsfrau sehen. Karyaana war unbewaffnet, Aruula hatte wenigstens ein Schwert. Im Wind flatterte das lange Haar der beiden Frauen von den Dreizehn Inseln. Plötzlich erklang ein Fauchen. Etwas Hartes schrammte über Metall. Aiko fuhr herum. In riesigen Sprüngen jagten zwei der Biester auf der anderen Seite des Feuers über das Schrottgebirge: Sie griffen Mr. Black an! »Vorsicht! Angriff!«, brüllte Merlin, und Aiko riss seine Tak 02 hoch. Auf der Schrotthalde gegenüber flog eine der Kreaturen mit gestrecktem Körper durch die Luft. Black, der ihr ausweichen wollte, stolperte und schlug rücklings auf ein Autodach. Ein Blitz grellte aus Aikos Tak 02. Das Geschoss heulte über das Feuer und Matthew hinweg und traf die Bestie noch in der Luft. Sie krümmte sich zusammen, kreischte, schlug neben Black auf, rollte den Blechberg hinunter und blieb unweit des Feuers reglos liegen. Und dann kamen sie von allen Seiten. Lichtblitze erhellten die Dunkelheit und die geschmeidigen Pelzkörper der Räuber. Geschosse explodierten... Es stank nach wildem Tier und Blut. Ein Schatten sprang aus der, Schrotthalde und jagte Matt entgegen. Zwei, drei weitere folgten. Drei Mal drückte er ab. Dem vorderen Biest zersprengte das Drillergeschoss den Schädel. Zweien fuhren die Explosivgeschosse in die Flanken. Die Wucht der Explosionen hoben sie hoch. Sie überschlugen sich in der Luft und prallten tot auf den Boden. Das vierte Tier machte kehrt, sprang zurück zwischen die Autowracks und verschwand. Rechts oben schoss Mr. Black auf die Angreifer, auf der Halde links Aiko. Merlin neben ihm hielt seine Laserpistole mit beiden Händen umklammert und jagte eine Ladung nach der anderen in
die Dunkelheit. Auch die Frauen, nur wenige Schritte entfernt von Matt, hatten das Feuer eröffnet. Überall Schüsse, überall Wutschreie, Fauchen und Kreischen. Von einem Moment auf den anderen war die Hölle ausgebrochen. ›Der Gefangene‹, schoss es Matt durch den Kopf. ›Wir müssen ihn aus dem Wrack holen, bevor sich die Biester an ihm vergreifen...‹ Er bückte sich zum Feuer, zog ein brennendes Holzstück heraus und beleuchtete den Kadaver am Fuß der Schrotthalde. Eine Katze! Oder so etwas Ähnliches jedenfalls. Das Biest war ungefähr so groß wie ein Rottweiler und hatte kurzes, anthrazitfarbenes Stoppelfell. Das Haar schimmerte feucht im Schein der Fackel. Die Schnauze war spitz, und der Schädel nackt und schuppig. Nirgends Ohren, nur Löcher seitlich des Schädels. Pelzlos und schuppig auch der breite Schwanz. Matts Blick fiel auf die Pfoten: Schwimmhaut spannte sich zwischen nadelspitzen Klauen. »Hinter dir, Maddrax!«, schrie Aruula. Matt fuhr herum. Zwei schmutzigweiße Biester sprangen ihm entgegen. Die Nackenfelle gesträubt, die flachen Schwänze rutenartig von sich gestreckt rissen sie die Mäuler auf. Reißzähne blitzten weiß im Mündungsfeuer von Matts Driller, schmale Augen glitzerten grünlich. Der Treffer schleuderte das zweite Tier ins Feuer; das erste hatte Matt verfehlt. Er duckte sich zur Seite. Die Katzenmutation schlug auf einer Heckklappe auf, warf sich herum und sprang Matt aufs Neue an. Der schlug ihr den brennenden Prügel in die Schnauze. Das Tier heulte auf. Sein gesamtes Körperfell sträubte sich, es kreischte und setzte zum nächsten Angriff an. Ein Laserstrahl zischte in sein Hinterteil. Der verkohlte Schwanz krümmte sich, das Fell verschmorte, das Biest schrie in höchsten Tonen und wand sich auf dem Boden. Matt spurtete zu den Frauen. »Danke!«, keuchte er. Miss
Hardy nickte; sie hatte geschossen. Rücken an Rücken standen Honeybutt und Matt und feuerten auf die Raubkatzen. Aruula hieb mit ihrem Langschwert auf die wenigen Tiere ein, die trotz Laserstrahlen und Explosivgeschossen bedrohlich nahe kamen. Die unbewaffnete Karyaana hatten sie in die Mitte genommen, um sie mit ihren Körpern zu decken. Matt drückte ihr den Feuerprügel in die Hand. Karyaana schlug damit nach angreifenden Katze. »Scheißviecher!« Auf einer der Schrotthalden über ihnen fluchte Mr. Black. Das Mündungsfeuer seines Schnellfeuergewehrs tauchte seine Gestalt von Zeit zu Zeit in grelles Licht. Matt sah die vielen Schatten, die zu ihm hinauf kletterten oder ihn geduckt von drei Seiten anschlichen. »Black hat Probleme!«, rief Honeybutt. Sie jagte einen Laserstrahl zwischen die Autowracks unterhalb ihres Anführers; ein brennender Kadaver rollte über einen Kühlergrill und schlug am Boden auf. Die Biester schienen sich auf Black zu konzentrieren, vielleicht weil er der Einzige war, der sich allein wehren musste. Matt sah auf die andere Seite. Im Mündungsfeuer von Merlin Roots' Laserwaffe und Aikos Maschinenpistole konnte er die Umrisse des Mongolen in seinem Autowrack-Kerker erkennen. Aiko und Roots standen auf der Ladefläche eines zerbeulten Pick- ups zwei Schritte hinter dem Mercedes-Wrack. Sie feuerten auf die Nordseite des Autofriedhofs. Von dort schienen ganze Katzenrotten anzugreifen. »Wir müssen den Gefangenen da rausholen!«, schrie Matt. »Wenn ihn die Biester zerreißen, erfahren wir gar nichts mehr von ihm!« Über ihnen brüllte Black. »Verflucht ...!« Metallprallte auf Metall, etwas rutschte über Blech, schlug ein paar Mal auf und landete schließlich nicht weit von Matt im Grasboden: Blacks Schnellfeuergewehr!
»Schafft den Gefangenen in den Panzer!«, schrie Matt. Er steckte seinen Driller in den Hosenbund, griff sich Blacks Waffe und kletterte die Schrotthalde hinauf. Honeybutts Lasergewehr tauchte den Feuerplatz und zerklüftete Rostgebirge in grelles Licht. Die drei Frauen schafften es einigermaßen unbehelligt zur gegenüberliegenden Halde. Offenbar hatten die Biester dort unten genug. Oder sammelten sich zum nächsten Angriff. Matt packte eine Radfelge und zog sich an ihr hinauf auf den löcherigen Unterboden eines, auf dem Dach liegenden Wracks. Es schwankte gefährlich. Black war mit einem Bein in den durchgerosteten Unterboden eingebrochen. Halb kniete er auf dem anderen, halb hing er in dem Loch, würgte eine Katze und versuchte gleichzeitig, sich ihre ausgestreckten Krallen vom Leib zu halten. Ein zweites Biest, das auf seinem Rucken hockte, krallte sich mit den Vorderlaufen in seinen Schultern und schnappte nach Blacks Nacken. Matt zögerte nicht. Erst halb auf dem Wrack liegend, zielte er auf das Biest und drückte ab. Das Geschoss schleuderte die Katze auf das Dach des benachbarten Wracks. Aus ihm sprangen zwei weitere Tiere herüber und griffen Black an. Eines traf Matt im Sprung. Das andere, ein pechschwarzes Biest, prallte auf den Running Man und riss ihn um. Ungezielt und wie von Sinnen schlug der hünenhafte Mann um sich. Sein Gebrüll schien die Töttungsreflexe der Raubkatzen zu verzögern. Matt zog sich endgültig auf das Wrack. Es begann zu rutschen, Blech knirschte. Er warf sich nach vorn und rammte die Mündung bis zur vorderen Zieleinrichtung in die Kehle des schwarzen Biestes. Das kreischte nicht einmal, röchelte nur. Matt schwang den Lauf herum und schleuderte es im hohen Bogen in die Nacht. Das Wrack kippte! Blitzschnell packte Matt den Festgeklemmten. Der entließ die Katze aus dem Würgegriff. Sie rollte über den Unterboden und rutschte vom Wrack.
»Halt dich an mir fest!«, schrie Matt. Black umklammerte seinen Nacken, zog sein Bein aus dem Rostloch und fiel gemeinsam mit Matthew Drax auf das Nachbarwrack. Über dessen Dach rutschten sie in eine Spalte, scheuerten an durchgerosteten Türen und Kotflügeln vorbei und blieben zwischen einem Tankwagen und dem mannshohen Reifen eines Traktors stecken. Auf der anderen Seite des Traktors krachte das abgerutschte Wrack auf den Boden. Die Nachtluft hing voller Roststaub, und beide mussten sie husten. Matt spähte nach oben: Undeutlich konnte er die zerklüfteten Ränder der Schrottschlucht erkennen. Schüsse explodierten; über dem Spalt leuchtete die Dunkelheit im Laserfeuer. Er zielte mit Blacks Gewehr hinauf, doch keine der Bestien zeigte sich dort oben. Matt atmete auf und reichte Mr. Black die Waffe. »Danke«, keuchte der Anführer der Running Men. Matt zog seinen Driller unter dem Hosenbund hervor und deutete hinauf. »Versuchen wir's. Wir sollten versuchen, den Panzer zu erreichen, zwischen die Halden fahren und die anderen aufnehmen...« *** Nachtwürger! Größere, als Kobajozzi Kanga sie aus der Heimat kannte. Auch hatten sie keine Ohren, und ihr Schädel war weitgehend haarlos. Aber es waren Nachtwürger; er erkannte sie an ihren geschmeidigen Bewegungen, weiten Sprüngen und dem Gefauche und Gekreische. Nur drei konnte er deutlich sehen. Drüben, auf der anderen Halde, wo sie den blonden Riesen angriffen. Und unten in der Nähe des Feuers, wo sich der Mann, den sie Maddrax nannte, mit einer Fackel über einen Kadaver gebeugt hatte. Es mussten viele Nachtwürger sein, sehr viele. Denn trotz ihrer
dämonischen Waffen waren die feindlichen Krieger noch immer nicht fertig mit ihnen. Sie griffen normalerweise nur in kleinen Rotten an. Von Atemzug zu Atemzug wuchs die Hoffnung in ihm und wurde zur Gewissheit: Die Geister seiner Vorfahren standen ihm bei! Sie hatten die Nachtwürger geschickt, um ihn zu retten! Oder vielleicht sogar deren Gestalt angenommen? Ja, vielleicht sogar das. Es gab fast nichts, was den Geistern der Ahnen unmöglich war. Der schwarze Krieger und der mit den Gesichtszügen, die Kobajozzi Kanga ein wenig an sein eigenes Volk erinnerten zumindest an die Vertreter seines Volkes, die nicht den Göttern dienten und deren Gesichter makellos waren - schossen aus ihren Zauberwaffen nach Angreifern, die Kobajozzi Kanga nicht sehen konnte. Beide wandten ihm dabei den Rücken zu. Wie dumm von ihnen... Er riss an seinen Ketten, bis der rostige Metallholm zerbrach. Schusslärm und Geschrei überlagerten die Geräusche. Kobajozzi Kanga packte das Rad unter dem Fensterrand, an dessen drei Speichen sie die zweite Kette befestigt hatten. Es fühlte sich hart und spröde an, doch so sehr er auch drückte, er konnte es nicht zerbrechen. Also rüttelte und zog er daran. Wenigstens schien es sich zu lockern. Den Blick auf die Rücken der beiden Feinde gerichtet, bearbeitete Kanga das Rad und die drei Speichen mit Fäusten und Knien. Es war nicht so hart wie Stein, eher wie Knochen, aber dennoch wollte es nicht nachgeben. Unten sah er kurz die drei Weiber über den Platz zwischen den Metallbergen laufen. Das kleine mit den drahtigen Gliedern und den kurzen schwarzen Haaren verschoss Feuerstrahlen aus ihrer Dämonenwaffe. Sie verschwanden aus seinem Blickfeld, und Kobajozzi Kanga hörte sie über die Metallkästen zu ihm hinaufklettern. Beschwörungsformeln murmelnd, rüttelte er an dem Rad. Auf dem Metallberg gegenüber rutschte einer der Kästen ab
und schlug mit ohrenbetäubendem Lärm auf dem Boden auf. Das entlockte Kobajozzi Kanga ein grimmiges Lächeln, denn er sah den hünenhaften Krieger, den er für einen Hauptmann hielt, nirgends mehr und glaubte, der Metallkasten hätte ihn unter sich begraben. Doch schon beim nächsten Atemzug verwandelte sich seine Miene in die wütende Fratze eines Raubtiers. Die Grauhaarige, die sich so oft und so beunruhigend schweigsam in seiner Nähe aufhielt, kroch auf den vorderen Teil seines Kerkerkastens. Kobajozzi Kanga brüllte seine Enttäuschung hinaus. Während das Weib - Karyaana wurde sie genannt - laut mit dem Schwarzen sprach, kletterten auch die anderen beiden auf den Metallkasten. Die Schwertträgerin, dieses dämonische Miststück, erkannte sofort, dass Kobajozzi Kanga seine Rechte befreit hatte. Sie fuhr ihn an, rutschte auf der anderen Seite vom Kasten herunter und riss die rechte Tür auf. Sie drückte ihm die Schwertspitze so fest gegen den Hals, dass er nicht wagte, sich zu rühren. Das kleine dünne Weib mit den kurzen Haaren stand breitbeinig auf dem Vorderteil des Kastens und schickte Feuerstrahlen aus ihrer Waffe. Die Grauhaarige beugte sich durch das vordere Fenster zu Kobajozzi Kanga hinein. Mit einem Metallstift löste sie die Kette vom Speichenrad. Die Schwertträgerin packte ihn an seinem Ledermantel und riss ihn aus dem Kasten. Mit der Brust drückte sie ihn gegen das Vorderteil. Er sah direkt in die Augen der Grauhaarigen, die auf dem Vorderteil des Kastens kniete. Über ihn hinweg reichte sie der Schwertträgerin den Metallstift. Kobajozzi Kanga wusste: Die Hexe würde ihm die Hände auf dem Rücken zusammenketten. Und er wusste, dass die Geister seiner Vorfahren gerecht waren: Sie würden ihm nur diese eine Gelegenheit schenken. Geblendet von den Feuerstrahlen aus der Zauberwaffe, kniff er die Augen zusammen. Für einen Moment traten Donner,
Zischen, Fauchen und Kreischen in den Hintergrund. ›Du musst sie töten‹, sagte die Stimme des Meisters in seinem Kopf. ›Alle drei. Sie sind die Feinde der Götter!‹ Die Grauhaarige kniete vor ihm und belauerte ihn. Als hätte auch sie die Stimme des Meisters gehört. Kobajozzi Kanga wandte den Kopf ein wenig. Die Schwertträgerin klemmte gerade ihre Klinge zwischen die Beine, um mit den Händen nach seinen Armen und den Ketten zu fassen. Er schloss die Augen, atmete tief ein und senkte den Kopf auf die Brust. Ganz entspannt war seine Nackenmuskulatur. Aber nur einen Herzschlag lang. In einem gellenden Schrei stieß er die Luft aus - Guwaii! -, und sein Nacken wurde hart wie eine Axtklinge. Er schleuderte den Kopf zurück. Sein Hinterkopf traf die Stirn der Schwertträgerin, und er hörte, wie ihr Schwert auf einen Metallkasten prallte. Blitzschnell stieß er sich ab, rutschte über das Vorderteil seines Kerkerkastens, packte die erschrockene Grauhaarige, stieß sich erneut ab und riss sie mit sich in die Tiefe... *** Das Autowrack schwankte unter ihren Stiefeln, Metall schlug auf Metall auf, jemand stöhnte, irgendetwas scheuerte über das rostige Blech. Honeybutt nahm den Finger vom Abzug und wirbelte herum. Gerade prallte Aruula rücklings gegen die Tür des Wracks, auf dem Merlin und Aiko standen. Auch sie hörten auf zu schießen und blickten sich um. Aruula glitt zur Seite und drohte in eine Trümmerspalte zu rutschen. Sie hielt sich an der Fensteröffnung fest. Ihr Schwert lag quer über der Spalte. »Der Gefangene!«, schrie Hone ybutt und sah nach rechts. Ein paar Meter tiefer rappelte sich der Mongole vom Boden hoch. Karyaana hing über ihm auf einer Kühlerhaube. »Da unten!«
Honeybutt zielte mit dem Lasergewehr auf ihn. Der Mann schlug mit der Faust auf Karyaana ein, und Honeybutt konnte nicht abdrücken, ohne die Telepathin in Gefahr zu bringen. Der Mongole hievte sich deren reglosen Körper über die Schulter und rannte in die Dunkelheit. »Er flieht!« Sie sah die Umrisse seiner Gestalt. Doch wie hätte sie abdrücken können? Karyaanas Oberkörper bedeckte ja seinen Rücken. Zwei Katzen setzte ihnen nach - Honeybutt Hardy blieb nichts anderes übrig, als sie zu erschießen. »Er hat Karyaana!« »Waas?!« Merlin sprang vom Wrack des Pick-ups auf die Kühlerhaube des Mercedes und brach prompt in den Motorraum ein. Er zog den Stiefel aus dem Rostloch und balancierte bis an den Rand des Kotflügels. Wie zum Sprung geduckt stand er da und spähte nach unten in die Dunkelheit. »Komm zurück!«, rief Aiko von oben. »Es sind noch ein Dutzend und mehr! Du musst mir helfen!« Aruula schüttelte sich, bückte sich nach ihrem Schwert und kletterte auf die Kühlerhaube zu Merlin und Honeybutt. »Dorthin ist er gelaufen!« Miss Hardy deutete Richtung Panzer. »Er hat Karyaana bewusstlos geschlagen!« »Ich krieg ihn«, zischte Aruula. Sie ließ sich vom Wrack gleiten und schickte sich an, die Schrotthalde hinunter zu klettern. »Hilf Aiko!«, rief Merlin. »Ich geh mit Aruula!« Ehe Aiko oder Miss Hardy widersprechen konnten, stieg auch der Schwarze hinunter. Seite an Seite rannten er und Aruula in die Dunkelheit. Auf der gegenüberliegenden Halde hörte Honeybutt Hardy keine Schüsse mehr. Wo steckte Mr. Black? Und der Blonde aus der Vergangenheit, wo war er? »Kommen Sie schon, Miss Hardy!« Der Cyborg winkte sie zu sich. Widerwillig kletterte sie auf die Ladefläche des zerbeulten und verrosteten Pick-ups.
Etwa zwanzig Minuten mussten sie dort noch die Stellung halten. Ungefähr dreiundzwanzig Tiere töteten sie in dieser Zeit. Danach sah Honeybutt keine Schatten mehr über die Halden springen, und Aiko spürte keine Wärmequellen mehr auf. Hinter ihnen näherte sich das Motorengebrüll des Nixon-Panzers. Sie kletterten von der Schrotthalde. Die ersten Spuren der Morgendämmerung durchzogen den Nachthimmel wie mit milchigen Schlieren. Zwischen dem Feuerplatz und der gegenüberliegenden Halde lag ein Wrack auf der Seite. Der ganze Platz war übersät mit Katzenkadavern. Der Scheinwerferkegel des Panzers schob sich vom Fluss her heran. In seinem Licht besahen sich Honeybutt und Aiko die toten Mutationen. »Katzen«, sagte der Cyborg. »Sie scheinen im Wasser zu leben.« Mit dem Lauf seiner Tak 02 deutete er auf die Ohrlöcher, den breiten Schwanz und die Schwimmflossen zwischen den Krallen. Ketten rasselten, der Motor röhrte, als sich die Umrisse eines kastenartigen Ungetüms aus der Dunkelheit schälten: der NixonTransportpanzer. Er stoppte zwischen den Schrotthalden, eine Luke im Kommandostand öffnete sich, Mr. Blacks große Gestalt stieg schwerfällig heraus. Hinter ihm tauchte Matthew Drax auf. Honeybutt Hardy merkte, dass Mr. Black hinkte. Und als er dann im Scheinwerferkegel des Panzers vor ihr stand, sah sie, dass sein Gesicht und seine Handrücken von Schürfwunden überzogen und der Kragen seines Pelzmantel blutgetränkt war. Er wirkte müde und mürrisch. »Steigt ein«, sagte er. »Wer weiß, ob sie nicht einen zweiten Angriff wagen, diese Biester.« Der Mann aus der Vergangenheit drängte sich an ihm vorbei. »Wo ist der Gefangene?« Matthew Drax' Blicke flogen durch die Dunkelheit. »Und wo sind die anderen...?« ***
Kopfschmerzen. Bei jedem Schritt spürte sie ihr Hirn gegen die Schädeldecke wummern. Der Kopfstoß des Gefangenen hatte ihr fast die Besinnung geraubt. Aber die Wut auf den geflohenen Krieger und die Sorge um Karyaana ließen sie den Schmerz vergessen und schärften ihre Sinne. Hinter sich hörte sie Merlins schnaufende Atemzüge. Aruula blieb stehen. Sie hielt Merlin am Mantelärmel fest. Die Laserpistole im Anschlag, wollte er an ihr vorbeilaufen. Ihm raubte die Angst um seine Gefährtin fast den Verstand. Wie ein Tier war der Mongole, schlimmer noch vielleicht als die blutrünstigen Katzen. Sein Messer dringt bis zum Heft in weiches Fleisch und fährt hinauf, über Bauch und Brust bis hoch zum Hals - hatte Karyaana so nicht eines der widerlichen Bilder beschrieben, die sie in seinem Geist erlauscht hatte? Merlin hatte allen Grund zur Angst. Die Schrotthalden langen schon fünf Speerwürfe hinter ihnen. Sie hörten keine Schüsse mehr von dort, und keine Laserstrahlen erhellten die Dunkelheit über den Wracks. »Weiter!«, keuchte Merlin. Aruula blickte über die nächtliche Landschaft. Die Umrisse niedrigen Gestrüpps standen im Hang, der zum Porcupine hinabführte. Die Büschel des spärlichen Grases ahnte man mehr, als dass man sie wirklich sah. Deutlich aber konnte man den Fluss rauschen hören. Ein knapp drei Speerwürfe breiter Fluss mit starker Strömung. Aruula hatte am vergangenen Morgen ein paar Wasserkanister an seinem Ufer gefüllt. Der Fluss führte Unmengen von Wasser von der Eisgrenze Richtung Sonnenuntergang in das karge Land hinein, das Maddrax »Alaska« nannte. Merlin wollte weiterlaufen, doch Aruula hielt ihn fest. »Denk nach, schwarzer Mann«, flüsterte sie. »Er könnte hinter einem Gestrüpp auf der Lauer liegen oder sich in der Uferböschung ins Gras oder in den Schlamm gewühlt haben. Der Fluss ist zu breit und die Strömung zu stark, als dass er ihn überschwimmen
könnte. Der Fluss ist seine Grenze - er kann nur flussabwärts oder flussaufwärts fliehen.« »Was willst du mir sagen?«, flüsterte Merlin. »Geh zurück und hol die anderen und den Panzer. Im Scheinwerferlicht finden wir seine Spuren.« Merlin zögerte. »Geh schon, dann wissen wir bald, welche Richtung er eingeschlagen hat!« Merlin Roots gab sich einen Ruck. »Also gut, aber nimm das hier.« Er reichte ihr seine Pistole, drehte sich um und rannte zurück zum Autofriedhof. Aruula ging in die Hocke. Aufmerksam spähte und lauschte sie in die Dunkelheit. Hinter ihr entfernten sich Merlins Schritte. Mehr und mehr gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Oder dämmerte schon der neue Morgen herauf? Sie wandte den Kopf und blickte zurück nach Sonnenaufgang. Am Horizont trennte ein milchiger Streifen Himmel und Erde. Tatsächlich: Der neue Morgen graute bereits. Aruula hatte sich noch immer nicht an die kurzen Nächte in diesem Teil der Welt gewöhnt. Sie sah wieder hinunter zum Fluss. Bald konnte sie Einzelheiten erkennen. Abgelagerte Kieshaufen, Schwemmholz und niedriges Gestrüpp säumten das Ufer. Keine Bäume. Noch immer keine Bäume. Ein Geräusch. Sie hielt den Atem an. Es kam vom Fluss her, und trotz des allgegenwärtigen Wasserrauschens konnte sie es hören. Es klang, als würde jemand eine Last über ein Kiesbett ziehen. Da! Ein Schatten bewegte sich unten am Ufer. Ganz kurz nur konnte Aruula ihn sehen, bevor er wieder mit der Uferlandschaft verschmolz. In diesem Augenblick hörte sie von fern den Panzermotor. Und als sie sich umwandte, konnte sie die Halden des Schrottplatzes vor dem grauen Himmel erkennen. Scheinwerferlicht strich über sie hinweg. Maddrax, Merlin und die anderen waren auf dem Weg zu ihr - glaubte sie. Sie umfasste die Laserpistole mit beiden Händen und stand
auf. Die Waffe auf den Fluss gerichtet, schlich sie in weitem Bogen zum Ufer hinunter. Immer wieder blieb sie stehen, lauschte, sicherte nach allen Seiten. Der Motor des Panzers war schon wieder verstummt, nur den Scheinwerferkegel konnte sie noch zwischen den Schrotthalden erkennen. Am Flussufer bewegte sich nichts mehr. Weiter. Ausgeschlossen, auf die anderen zu warten. Vielleicht würde es Karyaanas Tod bedeuten, jetzt auch nur einen Atemzug lang zu zögern. Also weiter, hinunter zum Ufer. Maddrax und die anderen würden bald kommen. Eine verhängnisvolle Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Eine Entscheidung, die nicht nur Aruulas Mut und ausgeprägtem Eigensinn entsprang: Karyaana war ein Kind der Dreizehn Inseln und damit ihre Schwester. Hier auf sie zu treffen, war wie ein Wunder gewesen. Sie hier zu verlieren, hätte Aruula nicht überwunden. Nach so vielen Wintern in der Fremde verkörperten Karyaana und Aruula ein Stück Zuhause füreinander. Der Hügel, den sie zunächst für eine Kieshalde hielt, entpuppte sich beim Näherkommen als ein Schutthaufen: Schrott, Holz, Kunststoffteile aus Autowracks, und jede Menge Autoreifen. Es stank nach Moder und Ro st. Aruula ging neben einem Reifenstapel in die Hocke. Die Böschung fiel zwischen dem Gerümpel flach zum Flusslauf ab. Etwas schaukelte unten im Uferwasser, etwas Rechteckiges, vielleicht zwei mal zwei Speerlängen groß, eine Art Kiste oder Plattform. Darauf lag ein menschlicher Körper und rührte sich nicht. Aruula richtete sich langsam auf. Sie fasste die Laserpistole mit beiden Händen. Lieber wäre ihr gewesen, den vertrauten Schwertgriff in den Fäusten zu spüren, aber der Vorteil der Überraschung lag auf der Seite des Mongolen. Auf den Auslöser der Waffe zu drücken dauerte nur einen Bruchteil der Zeit, die
man benötigte, um mit dem Schwert auszuholen. Außerdem besaß sie eine größere Reichweite. Aruula setzte den Fuß in den Kies. Schritt für Schritt tastete sie sich die Böschung hinunter. Dabei drehte sie sich ständig um sich selbst, spähte und lauschte in alle Richtungen. Keine Spur des Entflohenen. Der Körper dort unten auf der schwankenden Plattform - das war Karyaana. Aruula erkannte die Schwester an der rings um den Kopf ausgebreiteten Mähne. Jetzt hob sie den Kopf, spähte kurz in Aruula Richtung und ließ ihn wieder fallen, als wäre sie zu kraftlos, sich aufzurichten. Sie lebte also! Und sie brauchte Hilfe! Rasche Hilfe vielleicht! Eine Windböe trug Motorenlärm in das Wasserrauschen. Der Panzer! Die Gefährten kamen zur Hilfe! Aruula beschleunigte ihre Schritte. Sich im Kreise drehend, mit ausgestreckten Armen ins Halbdunkle zielend bewegte sie sich über den Kies. Bis sie am Ufer stand. Zwei Schritte trennten sie von einer Art Floß einer Kunststoffplattform, unter der jemand Reifen befestigt hatte - und von Karyaana. Die hob matt die Hand, als wollte sie etwas sagen. Aruula deutete es als Bitte um Hilfe. Verflucht; wenn sie doch nur die Gabe des Lauschens hätte einsetzen können, dann wäre es ein Leichtes gewesen, sich mit Karyaana auch über eine größere Entfernung zu verständigen! Noch ein Blick in die Runde. Nirgends war auch nur die Andeutung einer Bewegung, eines Schattens, eines verdächtigen Geräuschs auszumachen. Der feindliche Krieger schien geflohen zu sein. War ihm Karyaana zu schwer geworden; hatte er sie hier zurückgelassen? Aber warum lebte sie dann noch? Trotz ihres Misstrauens ging Aruula weiter vorwärts. Das kalte Wasser umspielte bereits ihre Knöchel. Sie sah zu Karyaana hinüber. Jetzt entdeckte sie das Bündel hinter deren Kopf und glaubte trotz der Halbdunkels Leder und Fell zu erkennen. Die Kleider des Mongolen! War er also tatsächlich in den Fluss
gesprungen, um zu fliehen? Aruula schauderte. Das Wasser war eiskalt. Er konnte die Strecke zum anderen Ufer unmöglich geschafft haben. Aber das sollte ihre Sorge nicht sein. Jetzt ging es um Karyaanas Leben. Drei, vier Schritte trat Aruula zurück, nahm Anlauf. Dabei steckte sie die Pistole in den Bund ihrer Hose aus fellbesetztem Leder. Dann stürmte sie los und sprang über das Wasser auf das Floß. Es schaukelte wild, als die Barbarin darauf landete. Neben Karyaana ging sie in die Knie und beugte sich über sie. »Was ist mit dir, Schwester? Bist du verletzt?« Ein zusammengeknüllter Stofffetzen steckte zwischen Karyaanas Zähnen, sie blutete aus Platzwunden an Brauen und Lippen. Ihre Hände und Füße waren an einen aus der Plattform ragenden Bügel gefesselt, und aus ihren weit aufgerissenen Augen sprang Aruula der Schrecken entgegen. Hinter ihr plätscherte Wasser. Das Floß schwankte. Aruula fuhr herum - zu spät. Der nackte Körper des Mongolen schoss aus dem Wasser. Aruula sah seine verstümmelte Nase, die Schlitze seiner Augen, und die Metallstange in seinen erhobenen Händen. Viel zu spät riss sie die Laserpistole aus dem Hosenbund. Der Schlag traf ihren rechten Arm. Ihre Finger wurden kraftlos, die Waffe polterte zu Boden. Reflexartig warf Aruula sich zurück und griff mit der Linken zu ihrem Schwert. Sie bekam es halb aus der Halterung, als ein zweiter Hieb die Klinge traf und sie ihr aus der Hand prellte. Das Schwert wirbelte davon und bohrte sich aufrecht in die Uferböschung. Gleichzeitig traf die Eisenstange sie hart an der rechten Schläfe. Das Rauschen des Flusses, das Dröhnen des Panzermotors, die Gestalt des Mongolen, die Morgendämmerung - alles versank in bleischwerer Finsternis... ***
Der Scheinwerfer des Nixon-Transportpanzers tauchte die karge Uferlandschaft in gnadenloses Licht: Kies, Gestrüpp, Schutthalden, da und dort Autoreifen, vom Zahn der Zeit zerfressene, schmutzig- graue Ringe. Einige bestanden nur noch aus Fetzen alten Gummis. Hier und da stapelten sich Kunststoffplatten: teilweise von Moos und Flechten überzogene Kastenwände alter Lieferwagen. An dreien entdeckte Matthew Drax leidlich erhaltene Reifen, die irgendjemand daran befestigt hatte. Und einen knappen Meter jenseits der Wasserlinie ragte ein einsames Schwert aus dem Uferkies. Mr. Black steuerte den Nixon-Panzer in das sanfte Gefalle der Kiesböschung hinein, sodass der Scheinwerferkegel sich nicht über das Wasser hinweg in den langsam grauer werdenden Himmel bohrte, sondern das Ufer ausleuchtete. Der Rebellenführer stellte den Motor ab. Nacheinander sprangen sie aus dem Panzer, Matt und Merlin voran. Aiko überholte sie, als sie zum Ufer rannten. Der Kies unter seinen Stiefeln knirschte. Er aktivierte Nachtsicht und Thermomodus und blickte ins Halbdunkle. Merlin folgte den Cyborg und bedrängte ihn mit Fragen: »Sehen Sie etwas, Mr. Tsuyoshi? Sind sie am anderen Ufer?« Matt stand vor dem Schwert und spürte, wie ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinab rieselte. Es war Aruulas Schwert, natürlich. Und sie würde es niemals freiwillig zurücklassen. Mr. Black hinkte über die Kiesbank heran, Miss Hardy stützte ihn. Der Running Man sah das Schwert und begriff sofort. Schweigend blieb er neben Matt Drax stehen. Das Scheinwerferlicht ließ den Schatten des Schwertes über die schnell strömende Wasseroberfläche fallen. Honeybutt ging in die Hocke und suchte das Kiesbett nach Spuren ab. Keine einfache Angelegenheit, doch sie war in den Ruinen Waashtons groß geworden. Dort starb man jung, wenn
man nicht kämpfen, töten, tagelang hungern und Spuren lesen konnte. »Aruula stand erst am Ufer, dann machte sie kehrt, ging bis zu dieser Stelle.« Honeybutt deutete zu Boden. »Von hier aus nahm sie Anlauf und sprang kurz vor dem Ufer ab.« »Sie ist nicht ins Wasser gesprungen.« Matts Stimme klang bestimmt. »Bei der Kälte wurde sie das keine drei Minuten überleben.« »Aber wenn nun Karyaana im Wasser trieb?«, gab Honeybutt zu bedenken. »Wenn es keinen anderen Weg gab, um sie zu retten?« »Ein Floß.« Merlin deutete auf die Kunststoffplanken mit den Reifen. »Vielleicht hat der Mongole Karyaana auf ein Floß geschafft und stieß sich gerade vom Ufer ab.« Sein Bass zitterte, und er sprach lauter als notwendig. Kaum konnte der schwarze Historiker seine Erregung im Zaum halten. »Er muss die Frauen überwältigt haben.« Mr. Black sprach die harte Wahrheit aus. »Sonst wären sie hier.« »Sie hatte meine Pistole!«, rief Merlin. »Die sie offenbar nicht mehr einsetzen konnte«, beharrte Black. »Entweder finden wir ihre Leichen irgendwo hier am Ufer, oder er hat den Fluss zusammen mit beiden Frauen überquert.« »Ich tippe auf Letzteres.« Aiko stand noch immer an der Wasserlinie. »Das alles ist erst vor kurzem passiert. Selbst wenn eine der beiden tot wäre, müsste sie noch Wärme abstrahlen. Auf dem Flussgrund aber kann ich keine Wärmequelle entdecken.« Matt nickte. Er hatte Aruulas Schwert aus dem Boden gezogen. »Als Geiseln sind sie ihm nützlicher als tot«, sagte er. »Er wird versuchen, Vorsprung zu gewinnen. Selbst wenn er vorhat, am anderen Ufer wieder an Land zu gehen. Also wird er zunächst mit der Strömung ein Stück flussabwärts fahren.« »Das glaube ich nicht«, sagte Mr. Black. »Der Scheißkerl
macht keine Gefangenen. Er...« »Blut!«, unterbrach ihn Honeybutts Schrei. Sie kroch inzwischen durch den Kies in unmittelbarer Nahe des Ufers. »Hier lag ein Körper, hier sind Blutspuren auf den Steinen.« Mit einer Handvoll Kieseln kam sie zu ihnen. Im Scheinwerferlicht sahen sie das noch feuchte Blut glänzen. »Sie sind tot«, bekräftigte Mr. Black. Hart und kantig wurde seine Miene. »Er wird sie in den Fluss geworfen haben, und die Strömung hat sie langst abgetrieben. « Matt packte Aruulas Schwert mit beiden Händen und fixierte Black mit eisigem Blick. »Ich nehme Ihre Meinung zur Kenntnis, Black.« Mühsam unterdrückte er seinen Zorn. »Aber das ändert nichts daran, dass ich verdammt noch mal Gewissheit haben muss. Ich lasse Aruula nicht im Stich.« Er blickte kurz hinüber zu Merlin Roots. »Und ich wette darauf, dass Mr. Roots meiner Meinung ist, was Miss Karyaana angeht.« Er wartete dessen Nicken nicht ab, sondern bohrte seinen Blick wieder in den Blacks. »Und deswegen steigen wir jetzt in den Panzer, und Sie werden das verdammte Ding flussabwärts steuern, bis wir den Kerl finden und die Wahrheit erfahren!« Der Rebellenführer blickte auf das Schwert in Matts Händen, und Matt ließ ihn spüren, dass er es benutzen würde, wenn es hart auf hart ging. Für lange Sekunden sprach niemand ein Wort. Dann drehte Black sich um und humpelte zurück zum Panzer. »Fahren Sie, oder fahren Sie nicht, Black?!«, brüllte Matt ihm hinterher. »Ich fahre, Drax!«, rief Black, während er in den Nixon stieg. In der Luke drehte er sich hoch einmal um. »Ich denke, wir haben schon genug Probleme, da sollten wir uns nicht auch noch gegenseitig das Leben schwer machen, richtig?« Matt war so verdutzt, dass seine Antwort ausblieb. Er hatte nicht mit Blacks Einlenken gerechnet, aber es hatte ehrlich geklungen. »Mr. Black!« Honeybutt Hardy deutete auf die Schutthalde.
»Sollten wir nicht ein paar gut erhaltene Reifen mitnehmen und ein oder zwei dieser Kunststoffplatten?!« »Sie hat Recht«, sagte Aiko. »Mit dem Panzer kommen wir nur an einer Furt über den Fluss. Wenn der Mongole es bis zum anderen Ufer schafft, werden wir froh sein, ein Floß zu haben.« Black nickte. Er nahm am Lenkrad Platz und steuerte den Panzer rückwärts an die Schutthalde heran. Matt und Merlin kletterten auf die überplante Transportfläche und schoben Materialkisten, Proviant und Lederbeutel zusammen, um Platz zu schaffen. Die Lederbeutel stammten aus der Ausrüstung der besiegten Mongolen. Getrocknetes Fleisch, Waffen, Lederdecken und Krüge mit Getränken zumeist. Die anderen drei reichten Reifen und Kunststoffplatten herauf. Zwanzig Minuten später rollte der Nixon am Ufer des Porcupines entlang flussabwärts. Black saß im Fahrersessel, Matt übernahm die Navigation. Im Kommandostand hockte Merlin Roots und beobachtete die Tundra und den Fluss auf dem Bildschirm der Außenkamera. Aiko und Honeybutt Hardy saßen oben auf dem Dach und hielten die Umgebung im Auge. Inzwischen war der rote Glutball der Morgensonne schon zur Hälfte über den östlichen Horizont gekrochen. Angespanntes Schweigen herrschte eine Zeitlang im Inneren des Panzers. Merlin Roots quälte sich mit allen möglichen Gedanken daran, was der Mongole seiner Geliebten antun könnte. Matt dachte an Aruula. Er glaubte fest daran, dass sie noch am Leben war. Ihr Tod überstieg einfach seine Vorstellungskraft. Und Black? Der starrte auf seine Instrumentenkonsole und gestand sich widerwillig ein, dass ihm doch eigentlich nichts Besseres hatte passieren können, als Matthew Drax und dessen Gruppe zu begegnen. Der glimpflich verlaufene Kampf gegen die Mongolen und der abgewehrte Angriff der Katzenmutationen waren nur zwei Gründe dafür. Warum nur fiel es ihm so schwer, den Mann aus der Vergangenheit zu
akzeptieren? Weil Drax ein geborener Anfü hrer war, so wie er selbst, gestand Black sich ein. Er hatte Probleme damit, dem Commander die Hand zu reichen, ohne es als Schwäche zu empfinden. »Sie sind ein verdammt harter Knochen, Black.« Matthew Drax schließlich war es, der irgendwann das Schweigen brach. »Viel härter noch als ihr Vater... ihr Original, wollte ich sagen.« »Präsident Schwarzenegger?« Black war froh, dass Drax das Thema anschnitt. Sich darüber zu unterhalten würde die Spannung lösen - und vielleicht sogar ein paar Rätsel um seine eigene Vergangenheit lösen. »Erzählen Sie, Drax.« Matt hob die Schultern. »Leicht gesagt - wo fange ich da an? 1965 wurde er Weltmeister im Bodybuilding, da war er gerade mal achtzehn Jahre alt. Fünfzehn Jahre lang hat er den Titel erfolgreich verteidigt, glaube ich. Und danach hat er sich in Hollywood durchgebissen. Hinauf bis an die Spitze.« »Hollywood? Das Wort hatten Sie schon erwähnt. Was ist das?« »Hollywood war eine gigantische Unterhaltungsindustrie in den goldenen Zeiten vor ›Christopher-Floyd‹. Die Schauspieler waren so eine Art moderner Gladiatoren, die das Volk unterhielten.« Matt schmunzelte. »Auf Schwarzenegger triff der Begriff besonders gut zu. Meistens spielte er den knallharten Kämpfer und Draufgänger. Berühmt wurde er in der Rolle eines Barbaren namens Conan, übrigens genau dreißig Jahre vor dem Kometeneinschlag.« »Der letzte Präsident des alten Amerika und der erste Präsident nach ›Christopher-Floyd‹ musste ein harter Mann sein«, schaltete Merlin sich ein. Auch er schien dankbar für die Ablenkung von seinen Angstvorstellungen. »Die Jahre nach der Katastrophe waren entsetzlich. Ohne einen harten und entschlossenen Mann an der Spitze hätte die Bunkerkolonie unter dem Pentagon wahrscheinlich nicht überlebt...«
*** Washington, 6. August 2017 Die Kinder schrieen nicht. Nicht einmal die Säuglinge. Die Größeren und Halbwüchsigen sowieso nicht. Sie wussten genau, worum es ging. Oder ahnten es zumindest. Die Kleinkinder aber verhielten sich, als würde noch ihr ganzes Leben vor ihnen liegen. Sie krabbelten auf den Konsolen herum und malten Gesichter in den Staub auf inaktiven Monitoren; sie saßen oder lagen in den Arbeitssesseln davor und spielten Karussell; sie kuschelten sich in die Schöße ihrer Mütter und Großeltern oder balgten sich auf dem Boden unter dem Großbildschirm. Vor allem die kleinen Kinder beobachtete Präsident Schwarzenegger von seinem erhöhten Kommandostand aus, und sein Herz fühlte sich an wie ein heißer Bleiklumpen. »Cunningham an Zentrale. Kommen«, tönte es aus den Deckenlautsprechern. Der Präsident beugte sich über die Konsole zum Mikrofon. »Zentrale hört. Kommen.« »Außeneinheit unter Beschuss. Erste Angriffswelle der Newbies. Zirka achtzig Mann. Sieben Infanteristen gefallen, dreizehn verwundet. Der Außenposten muss die Stellung aufgeben. Fünffache feindliche Übermacht.« »Rückzug in die Ruine.« Konzentriert und ruhig zugleich klang die Stimme des Präsidenten. »Sicherung des Außenschotts von innen. Weitere Verluste vermeiden. Kommen.« »Verstanden. Over.« Sektion 1/5 war ein leidlich erhaltener Flügel im ersten Obergeschoss des Pentagon. Dort befand sich einer der Hauptausgänge an die Erdoberfläche. Einer von vieren, an denen die Stabsleitung der Bunkergarde den Angriff erwartet hatte.
Cora Topalias saß im Sessel neben dem Präsidenten. Im Gegensatz zu Schwarzenegger vermied sie es, die kleinen Kinder anzuschauen. Sie starrte auf den Großbildschirm. Auf ihm sah man eine nächtliche Winterlandschaft. Ruinen ragten aus dem grauen Schnee. Viele mit Leder, Lumpen und Fellen vermummte Gestalten stapften dort heran. Die Außenposten sprachen von mindestens zweihundert Menschen. Auch der Präsident richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Hauptmonitor und die Bilder der Außenkameras. Im grauen Schneetreiben verschwammen die Gestalten fast mit der Nacht und dem Schnee. Dennoch sah Schwarzenegger die Stangen und Keulen in ihren Händen. Einige trugen auch Maschinengewehre und -pistolen mit sich. Oder Faustfeuerwaffen. Die konnte man auf dem Großbildmonitor zwar nicht erkennen, aber durch seine Außenposten war der Präsident einigermaßen im Bilde über die Bewaffnung der Angreifer. Für Cora war der bevorstehende Überfall nicht der einzige Grund, sich auf den Hauptmonitor zu konzentrieren. Sie ertrug den Anblick von Kindern nicht. Seit zwei Jahren nicht mehr. 2015 hatte sie innerhalb weniger Monate zwei Kinder verloren. Eines war schwer behindert zur Welt gekommen und kurz nach der Geburt gestorben, das zweite starb im Alter von anderthalb Jahren an einer Diphtherie-Infektion. Insgesamt achtzehn Kinder und fast sechzig Erwachsenen hatte die Epidemie das Leben gekostet. Nichts Ungewöhnliches. Die Washingtoner Elite hatte den Kometeneinschlag im Bunkersystem unter dem Pentagon zwar überlebt, aber der Tod war dennoch ihr alltäglicher Begleiter geworden. Von etwas mehr als dreitausend Menschen, die den Präsidenten in sein unterirdisches Exil begleitet hatten, lebten zur Stunde noch genau tausendsechshundertachtzig Personen die gerade eben Gefallenen nicht mitgerechnet. Und die Sterberate lag noch immer fast doppelt so hoch wie die Geburtenrate.
Der Präsident stand in Funkkontakt mit einigen anderen Bunkern in Großstädten der Vereinigten Staaten. Mit Baltimore und Chicago zum Beispiel, Boston oder New York City. Nirgendwo sah es besser aus. Eher noch schlechter. In Chicago hatte ein Grippevirus 2014 fast zwei Drittel der Bunkerkolonie dahingerafft, und die Bunkerbesatzung in New York City war schon in den Stunden vor der Katastrophe durch bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit Aufständischen erheblich geschwächt worden. Ob in Chicago, Boston oder hier in Washington: Kinder jedenfalls stellten neben Datenbanken und gut bestückten Waffenarsenalen den einzig nennenswerten Kredit für das Überleben der Zivilisation dar. Deswegen hielten sich auch sechsundfünfzig Kinder hier unten im durch zwei Doppelschleusen gesicherten Zentrum des Pentagonbunkers auf. Und in der Kommandozentrale des Regierungsbunkers unter dem Weißen Haus noch einmal siebenundvierzig; zusammen mit dem Vizepräsidenten Carl Spencer Davis und dessen Stab. Schwarzenegger drückte einen Knopf und beugte sich erneut über das Mikro. »Zentrale an Stabschef. Kommen.« »Stabsleitung hört. Kommen«, krächzte Forster Crows Stimme aus den Lautsprechern. »Erbitte Lagebericht. Kommen.« »Über dreihundert Newbies am Außenschott. Explosionen ohne größere Schäden. Sonst keine direkte Feindberührung. Over.« »Verstanden. Over.« Der alte General hatte sich mit etwa dreihundertachtzig Menschen in den Bunker unter dem Weißen Haus zurückgezogen, unter ihnen Schwarzeneggers Vize. Vorsichtshalber hatten sie sich getrennt. Ganz sicher war es vor sechs Stunden noch nicht gewesen, wo die Aaskauer angreifen würden. Es wäre fatal für die Zukunft des »Rates für den
Wiederaufbau der Welt«, wenn sie beide ums Leben kämen. Auch mit den Kommandanten der Truppen vor den anderen beiden Außenschotts nahm der Präsident Kontakt auf. Alle meldeten Angriffe von jeweils zweihundert bis dreihundert Newbies und Explosionen vor den Schotts. »Cunningham an Zentrale«, schnarrte es aus den Deckenlautsprechern. Die Stimme klang hektisch, und im Hintergrund waren Schüsse und Schreie zu hören. Wie ein Mann zuckten die etwa vierhundertneunzig Erwachsenen im Raum zusammen; meist Greise, Kranke, oder schwangere Frauen. Selbst das Gebrabbel der Kleinkinder verstummte für kurze Zeit. Der Präsident beugte sich zum Mikrofon. »Zentrale hört. Kommen.« »Feindberührung in Sektion 1/5. Sie haben das Außenschott aufgesprengt. Etwa sechs Dutzend Newbies eingedrungen. Leichte bis mittelschwere Bewaffnung. Over.« »New Barbarians«, oder abgekürzt »Newbies« - zuerst hatte man die überlebenden Ruinenbewohner in New York City so genannt. Inzwischen setzte sich dieser Name für die Aaskauer auch in Washington durch. »Keine Gefangenen«, sagte der Präsident. »Over.« »Verstanden. Over.« Schwarzenegger lehnte sich zurück. Keine Gefangenen... Was so unmenschlich klang, war weiter nichts als schiere Überlebensnotwendigkeit. Kaum einer der oberirdischen Ruinenbewohner, der nicht Tuberkulose-Erreger oder Schlimmeres mit sich herumtrug. Ein einziger Gefangener, ein einziges aus Erbarmen aufgenommenes krankes Kind könnte den Tod Hunderter Menschen hier unten bedeuten. Seit fünf Jahren musste der Präsident solche und ähnlich unpopuläre Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die ihn vor der Katastrophe einen Prozess eingebracht oder zumindest seine Wiederwahl verhindert hätten.
Doch seit dem Ende des Jahres 2011 galten die Notstandsgesetze. Und wählen würde man erst wieder nach Ende des Ausnahmezustandes. Schwarzenegger beobachtete die Bilder auf dem Großbildmonitor. Hunderte von Schatten hasteten dort durch Nacht und Schnee. Sollten die Newbies ihre Angriffe wirklich auf das Schott von Sektion 1/5 konzentrieren? »Jesus«, stöhnte Cora neben ihm. »Sie scheinen alles mobilisiert zu haben, was no ch auf eigenen Beinen laufen kann!« ›... und alles, was eine Waffe tragen kann‹, ergänzte der Präsident in Gedanken. Und das waren nach Expertenschätzungen mindestens fünftausend Männer und Frauen. Nach den letzten Erhebungen der Außenposten lebten fünf Jahre nach dem Kometeneinschlag noch etwas mehr als neunzehntausend Menschen in den Ruinen Washingtons. Die meisten waren krank, in einem schlechten Ernährungszustand oder zumindest stark demoralisiert. Mitte 2015 waren die Nahrungsvorräte in den Trümmern der Stadt weitgehend aufgebraucht gewesen. Seitdem berichteten die Außenposten von zahlreichen Kampfhandlungen im ehemaligen Stadtgebiet, und von zunehmendem Kannibalismus. Damals prägte irgendjemand den verächtlichen Namen »Aaskauer« für die elenden Gestalten in den Ruinen. Anfang des Jahres hatten sich die unzähligen rivalisierenden Gangs zu einem lockeren Bund zusammengeschlossen. Im Februar war eine Delegation vor dem Schott von Sektion 1/5 aufgetaucht und hatte im Namen der überlebenden Bürger Washingtons Einlass in den Pentagonbunker gefordert und andernfalls mit Krieg gedroht. Natürlich hatte Schwarzenegger abgelehnt. Die Vorräte im Bunkersystem waren erschöpft, und die mühsam aufrecht erhaltene Lebensmittelproduktion konnte höchstens
tausendfünfhundert Menschen ernähren. In den Monaten darauf war es vermehrt zu Angriffen auf Außenpatrouillen und Außenschotts gekommen. Und seit drei Tagen rechneten der Präsident und sein Stab mit einem massierten Angriff. Die Bilder der Außenkamera übertrafen die schlimmsten Befürchtungen: Die Schneelandschaft zwischen den Ruinen wimmelte geradezu von dunklen Schatten. Tausend, zweitausend oder mehr Newbies griffen das Außenschott von Sektion 1/5 an. »Sie konzentrieren ihre stärksten Kräfte auf uns«, flüsterte Cora. Schwarzenegger starrte in das Schneetreiben auf dem Monitor. 08-06-2017, 12:45 Uhr lautete die digitale Zeitangabe am oberen Bildschirmrand. Seinen sechzigsten Geburtstag hatte er noch am Strand von Santa Monica unter brennender Sommersonne gefeiert. 2007 war das gewesen, mitten im Wahlkampf. An seinem fünfundsechzigsten hatte er die Sonne nicht gesehen - seit dem 8. Februar 2012 wollte es nicht mehr Tag werden. Sein siebzigster Geburtstag vor einer Woche war der erste in seinem Leben, an dem es schneite. »Bilder vom Außenschott auf den Hauptmonitor!«, befahl der Präsident. »Aye, Sir!«, rief jemand. Das Schneetreiben und die anrennenden Schatten auf dem Großbildmonitor verblassten, ein neues Bild baute sich auf: Soldaten der Bunkergarde hinter Sandsäcken. Sie feuerten auf heranstürmende Männer und Frauen, dick in Leder und Lumpen eingemummte Gestalten. Im Hintergrund sah man das zerstörte Schott, durch das sie in die Pentagonruine eindrangen. Nur in den schlimmsten Szenarien der Stabsstrategen hatten Bilder wie diese eine Rolle gespielt. Schwarzenegger hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er blickte zur Seite. Ein hoch gewachsener, höchstens fünfzehn
Jahre alter Junge hockte auf der obersten Stufe zur Kommandoebene. Er hatte langes blauschwarzes Haar, bleiche Haut und ein für sein Alter scharf geschnittenes Gesicht. Eine große Hakennase dominierte es. Das Haar trug er zu einem Zopf gebunden im Nacken. Über seinen Schenkeln lag ein automatisches Gewehr, ein altes M-16. Aus großen dunklen Augen sah er seinen Präsidenten an. »Wie heißt du, Junge?«, fragte Schwarzenegger den Knaben. »Harrison Crow, Sir. Mein Großvater verteidigt den Vizepräsidenten, und mein Dad kämpft in General Cunninghams Einheit.« Der Enkel seines Stabschefs Forster Crow, natürlich! Jetzt erinnerte der Präsident sich. Der Vater des Jungen war Colonel der Bunkergarde. Und Sean Cunninghams Adjutant. »Ich nehme an, du kannst mit dem Gewehr umgehen, mein Junge?« »O ja, Sir. Das kann ich.« Keine Spur von Stolz war in der jungen Stimme. Eher Trauer und Angst hörte der Präsident in ihr mitschwingen. Er nickte langsam. »Beten wir zu Gott, dass keiner von uns hier drinnen seine Waffe gebrauchen muss.« An einige Menschen hier unten im innersten Ring des Pentagon-Bunkers hatte er Schusswaffen verteilen lassen: an alte Männer, an einige Schwangere und Mütter, und an ein paar Halbwüchsige. Sollten die Newbies es wider allen Prognosen schaffen, durch den dreifach gestaffelten Verteidigungsring bis hierher vorzudringen, würden sie jedenfalls auf keine wehrlosen Opfer treffen. Aber das hielt der Präsident für ausgeschlossen. Zweihundertfünfzig waffenfähige Männer und Frauen schirmten die Kommandozentrale vor dem letzten Innenschott ab. Und zweihundert die Bunkerzentrale unter dem Weißen Haus. »Cunningham an Zentrale! Kommen!« Die Stimme des Generals überschlug sich. Schwarzeneggers Nackenhaar stellte sich auf.
»Zentrale hört. Kommen.« Gespenstische Stille herrschte jetzt in der Kommandozentrale. »Sie überrennen unsere Stellungen! Es sind einfach zu viele!« »Rückzug bis Außenschott II. Konzentrieren Sie Ihre Truppen dort. Over.« »Verstanden. Over.« Schwarzenegger informierte den Stabschef und die beiden Kommandeure an den Außenschotts II und III. Dort hatte man die Angreifer unter Kontrolle. Scheinangriffe - die Einsicht schmerzte den Präsidenten. Die Hauptmacht der Newbies konzentrierte sich auf Sektion 1/5, während sie an den anderen neuralgischen Punkten des Bunkersystems nichts als Scheinangriffe vortrugen. »Sir?« Schwarzenegger sah nach links. Der Junge schluckte. »Die Aaskauer schaffen es nicht, oder?« Der Präsident wich seinem flehenden Blick aus. Was er auf dem Großbildmonitor sehen musste, bedrückte ihn noch mehr als das Knabengesicht: Massen von Newbies drangen durch das zerstörte Schott und stürmten Richtung Haupttreppe. Keine Uniform der Bunkergarde zu sehen, kein Mündungsfeuer. »Aufnahmen von Außenschott II auf den Monitor!«, rief er. »Aye, Sir!« Einer der alten Männer unten am inneren Konsolenring drehte sich um. »Kamera aktiviert!« Mündungsfeuer blitzte durch das Halbdunkel auf dem Großbildschirm. Dutzende von Newbies rannten gegen die Stellungen der Bunkergarde vor Außenschott II an. Explosionslärm donnerte, das Bild zitterte, Rauch und durch die Luft wirbelnde Sandsäcke, Leichenteile und Menschen. Sekunden später wurde der Monitor schlagartig dunkel. Und kurz darauf die nächste Hiobsbotschaft Cunninghams: Seine Einheit musste Außenschott II aufgeben. Er sprach von über tausend Newbies, die das erste Innenschott stürmten. Der Präsident befahl ihm, sich bis vor Innenschott III zurückzuziehen. Danach funkte er den Stabschef und die
anderen Kommandeure an und forderte Unterstützung. »Sir?« Als Schwarzenegger zur Seite blickte, stand der Junge vor ihm. »Versprechen Sie mir, dass wir die Newbies besiegen?« Er presste das M-16 an seine Brust, als wäre es sein kleiner Bruder oder seine kleine Schwester. Der Präsident sah die Pickel auf seinem Nasenrücken und den schwarzen Flaum über seiner Oberlippe und an seinem Kinn. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Mein Dad kämpft da draußen«, sagte der junge Harrison Crow. »Meine drei Schwestern sitzen da unten.« Er deutete auf die Arbeitskonsolen hinunter. »Und meine Ma. Sie bekommt ein Baby. Versprechen Sie mir, dass wir die Newbies zurückschlagen, Mr. President...« »Lass den Präsidenten in Ruhe!«, blaffte Cora ihn an. »Du bist nicht der Einzige, der hier Angst hat! Was glaubst du eigentlich?!« Der Junge drehte sich um und schlurfte zurück zur Stiege, die vom Kommandostand in die Zentrale hinab führte. Am Treppenabsatz blieb er stehen und drehte sich um, sagte aber nichts. Schwarzenegger war zum Heulen zumute. Er schluckte. »Ich verspreche es dir, Harrison«, flüsterte er. Der Junge stieg die Treppe hinunter und ging zum Schott. Davor ließ er sich auf dem Boden nieder und legte das Gewehr über seine Schenkel. Der Präsident war nicht sicher, ob er ihn verstanden hatte. Minuten später meldete sich sein Vize, Carl Spencer Davis aus dem Bunker unter dem Weißen Haus. »Wir hätten ihnen zuvorkommen sollen«, sagte er zerknirscht. »Wir hätten sie mit den vier M-2-Panzern in den Ruinen angreifen sollen...« »Wir hätten, wir hätten...« Schwarzenegger fluchte. »Zu spät, Charley, zu spät! Seht zu, dass ihr unsere Ärsche rettet, sonst machen sie uns fertig, und die Hälfte unseres hübsches Bunkers gehört ihnen!« Wie eine Schneelawine mit jedem Meter an Geschwindigkeit
und Zerstörungskraft gewinnt, spitzte das Unheil sich zu: Bald hörten sie den Kampflärm schon vor dem letzten Schott. »Sie überrennen den inneren Verteidigungsring!« Cunninghams Stimme klang verzweifelt. Aus den Lautsprechern Schusslärm und Schreie, auf dem Monitor Explosionen, in Lumpen gehüllte Menschenmassen und Mündungsfeuer, und in der Kommandozentrale quäkten Säuglinge, schrieen Kleinkinder, heulten Frauen und Halbwüchsige. Ein Schuss fiel; eine Frau hatte sich erschossen. Alte Männer in der Uniform der Bunkergarde hinderten andere daran, ihrem Beispiel zu folgen. Tumultartige Szenen spielten sich unterhalb des Kommandostandes ab. Tod und Untergang mochten noch ein paar hundert Meter vom letzten Innenschott entfernt sein, aber ihre Schatten fielen längst auf die Menschen in der letzten Bastion des Pentagonbunkers. Und zu allem Überfluss meldete sich Cunningham mit der nächsten Schreckensnachricht: »Innenschott II endgültig verloren! Sie haben Plastiksprengstoff! Kontakt zu Colonel Crow abgerissen! Er ist mit dreizehn Mann hinter dem zweiten Innenschott eingekesselt...!« »Es ist aus! Wir sind verloren«, schluchzte Cora und barg das Gesicht in ihren Händen. Schwarzeneggers Blick traf den des Jungen vor dem Schott der Kommandozentrale. Mit gekreuzten Beinen saß er da, ganz allein, und blickte zu ihm herauf. Der Präsident beugte sich über das Mikrofon. »Zentrale an Cunningham, kommen!« »Hört.« »Hier spricht der Präsident. Ziehen Sie Ihre Truppen zurück. Öffnen sie Innenschott II. Weichen Sie auf die Seitengänge aus. Lassen sie die Angreifer vorbei! Kommen!« Cora stierte ihn an, als wäre er eine Erscheinung. »Sir...? Ich verstehe nicht...?« Schwarzenegger wiederholte seinen Befehl und forderte den
General der Bunkergarde auf, ihn seinerseits zu wiederholen. »Rückzug, Öffnen des vorletzten Innenschotts, Ausweichen in die Seitengänge, Feind passieren lassen.« Cunningham wiederholte mit Grabesstimme. »Und dann, Sir? Was geschieht dann?« »Sobald das Notlicht ausgeht und Sie Kampflärm vor dem letzten Innenschott hören, fallen Sie ihnen in den Rücken. Verstanden?« »Verstanden, Sir! Over!« Schwarzenegger stand auf und sah sich in der Zentrale um. Bleiche Gesichter, schreckgeweitete Augen, wohin er sah. Alle waren aufgestanden, alle Blicke auf ihn gerichtet. Halbwüchsige lagen sich in den Armen, Jungen und Mädchen drängten sich an ihre Eltern und Großeltern, Mütter drückten ihre Säuglinge an sich. »Wer von euch eine Waffe hat«, begann Präsident Schwarzenegger, »und wer den Mut genug hat, sie zu benutzen, der geht mit mir.« »Das darfst du nicht tun, Arnie!« Dr. Cora Topalias klammerte sich an ihn. »Du bist zu wichtig, du musst leben!« Er küsste sie auf die Stirn und schob sie von sich. Dann nahm er sein Sturmgewehr von der Sessellehne und stieg vom Kommandostand hinab. In bizarrer Weise erinnerte ihn das Szenario an seine Tage als Schauspieler. Der Junge vor dem letzten Innenschott erhob sich. »Ich gehe mit Ihnen, Mr. President.« Schwarzenegger hätte ihn am liebsten zu seiner Mutter geschickt. Aber er nickte nur. Sechsunddreißig Greise, Frauen und Halbwüchsige sammelten sich bei ihm vor dem Schott. Schwarzenegger ließ Helme mit Lichtschutzvisieren, Helmlampen, Brustscheinwerfer und Blendgranaten unter ihnen verteilen. »Sobald wir draußen sind, schließt ihr das Schott wieder«, sagte der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der amtierende Vorsitzende des »Rates für den
Wiederaufbau der Welt«. »Und dann löscht ihr alle Lichter in den inneren Sektionen des Pentagon...« *** Ehemaliges Nordwestkanada Ende August 2518 Der erste Impuls ihres wiedererwachten Bewusstseins: aufspringen, das Schwert aus der Halterung reißen, die Klinge dem Mongolen in den Rücken stoßen. Und danach: Trinken, trinken, trinken. Doch beides konnte sie nicht. Ihre Arme zerrten vergeblich an den Fesseln. Die Handgelenke waren zusammengebunden und mit einer geflochtenen Tiersehne an einem der Bügel befestigt, die am Rand der Plattform aus dem schmutzig-grauen Kunststoff ragten. Und das Schwert? Richtig: Der Mongole hatte es ihr beim Kampf aus der Hand geprellt. Jetzt saß er etwa drei Schritte von Aruula entfernt am vorderen Rand des Floßes. Er beugte sich abwechselnd zu beiden Seiten und stieß ein dünnes Brett wie ein Paddel ins Wasser. Aruula sank zurück auf den harten Untergrund und starrte in den Morgenhimmel. Auch die restliche Erinnerung kehrte nun zurück. Im Wasser hatte Kanga ihr aufgelauert, nackt im eiskalten Wasser! Geduldig und reglos wie ein Reptil, bis er ihrer sicher sein konnte. Was für ein gerissener Kämpfer! Die Barbarin fröstelte. Ein Blick zur Seite: Karyaana kauerte dort auf den Knien. Ihr graues Haar, blutverkrustet, lag auf ihren Schenkeln wie eine schmutzige Decke. Aruula konnte ihr Gesicht nicht sehen. Hatte er sie also beide erwischt... Wut und Enttäuschung trieben ihr die Tränen in die Augen. Seine Gedankenbilder, die Karyaana geschildert hatte, fielen ihr ein: Aufgeschlitzt von unten bis zum Kinn.
Ihr Herz krampfte sich zusammen. Wudan, hilf... Sie wollte den Kloß im Hals herunterschlucken und spürte, wie trocken ihr Mund und ihre Kehle waren. Sie hatte brennenden Durst. Aruula rollte sich auf die linke Seite. Über zwei Speerwürfe entfernt lag das Ufer. Sie sah Kieshalden, vereinzelte Schneebretter, verkrümmtes Gehölz vorbeiziehen. Das Flusswasser hatte die Farbe einer eingefetteten Schwertklinge. Sie schob sich an den Rand des Floßes. Ihre Handfessel straffte sich, aber sie schaffte es, ihren Mund ins Wasser zu tauchen. Kalt war es, eiskalt. Aber ihr Durst war stärker als die Abscheu vor der Kälte. Sie trank und trank und trank. Als sie den Kopf aus dem Wasser hob, sah sie, dass Kobajozzi Kanga sich nach ihr umdrehte. Er feixte. Verachtung, Genugtuung und böse Verheißung lag in dieser verunstalteten Grimasse. Ekel schüttelte Aruula. Sie waren ihm ausgeliefert, alle beide, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass dieser wilde Barbar das auskosten würde bis zur blutigen Neige. Sie ließ sich auf das Floß sinken und schloss die Auge n. Das Gefühl der Ohnmacht raubte ihr ein paar Atemzüge lang alle Kraft. Ihr Kopf schmerzte. Sie schob ihn an ihre Hand heran, tastete sich Scheitel, Stirn und Schläfen ab und fühlte klebrige Feuchtigkeit an der rechten Schläfe, am rechten Ohr und an der rechten Wange. Die Platzwunde über der Schläfe brannte, als Aruula sie berührte. Karyaana hob den Kopf von den Schenkeln. Ihre Blicke begegneten sich. Enttäuschte, wehmütige Blicke. »Du hast ihn belauscht?«, fragte Aruula. Karyaana nickte. Auch ihr Gesicht war blutverkrustet und von Platzwunden, blauen Flecken und Schwellungen entstellt. »Und?« Aruula ließ den Mongolen nicht aus den Augen. Er hatte sich eine Kapuze aus grobem schwarzen Stoff über das fettige Langhaar gezogen. Von Zeit zu Zeit sah er sich um und grinste sein triumphierendes Grinsen unter der zerstörten Nase. Aruula hasste ihn.
»Sie sind uns nur zufällig begegnet.« Karyaana sprach leise. »Merlin, mir und den anderen. Sie jagten dich, Maddrax und Aiko.« »Was sagst du da?«, flüsterte Aruula. Sie konnte es nicht glauben. »Jemand hat sie beauftragt.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Mongolen. »Jemand, den Kobajozzi Kanga fürchtet und achtet. Eine Art Meister.« »Wer?« Die Neuigkeiten mobilisierten Aruulas Lebenskräfte. »Ich konnte seinem Geist die Gesichter zweier Männer entreißen. Beide trugen ähnliche Kleider wie die Herrscher von Waashton.« ›Der Weltrat‹, dachte Aruula. Es stimmte also, was Mr. Black vermutet hatte: Wie hinter den Nordmännern steckte der Weltrat auch hinter den Mongolen. Kanga drehte sich um. Diesmal lächelte er nicht. Auf der ledrigen, von Geschwüren übersäten Stirn über seinen Schlitzaugen türmte sich Falte auf Falte. Er schrie etwas, das weder Karyaana noch Aruula verstanden. Seine Rechte fuhr unter seinen schwarzen Ledermantel und tauchte mit einer Handfeuerwaffe wieder auf. Aruula stockte der Atem - der Kerl hatte sich Merlins Laserpistole unter den Nagel gerissen! Sie und Karyaana drängten sich aneinander. Kobajozzi Kanga fuchtelte mit der gefährlichen Waffe herum, palaverte und zielte immer wieder auf sie. Ob er damit umgehen konnte? Lieber nicht darauf ankommen lassen, lieber schweigen, wie er es offensichtlich verlangte. Endlich steckte er die Waffe wieder unter seinen Mantel, wandte sich ab und griff wieder nach dem Paddelbrett. Eine Galgenfrist - die Frauen atmeten auf. Der Weltrat also, dachte Aruula. Die meerakanische Regierung hatte diesen mongolischen Barbaren den Befehl gegeben, Maddrax, Aiko und sie aufzuspüren und zu töten. Warum? Aruula zählte zwei und zwei zusammen: Die WCA hatte selbst
eine Expedition zum Kratersee geschickt. Allein und ungestört wollten die Wissenschaftler des Weltrats das Geheimnis der Kristalle erforschen - und für ihre Weltmachtspläne missbrauchen ... »Er will uns töten«, flüsterte Karyaana. »Wenn er Vorsprung genug hat, will er am anderen Ufer an Land gehen und uns töten. Bis dahin braucht er uns als Geiseln...« Eine halbe Stunde verging. Im Osten löste sich der Sonnenball vom Horizont. Kalter Nordwind kam auf. Eine Gänsehaut nach der anderen rieselte über Aruulas Haut. Nicht einmal die Lederhosen und -weste konnten sie mehr wärmen. Und ständig dieser quälende Durst. Erneut rollte sie sich an Rand des Floßes und trank gierig. Als sie den Kopf aus dem kalten Wasser hob, hörte sie es: Irgendwo flussaufwärts brummte ein Motor. Der Panzer! *** Washington, 6. August 2017 Explosionen erschütterten Wände und Boden der Halle. Die Türen des innersten Schotts schoben sich hinter Präsident Schwarzenegger und seiner Truppe zusammen. Mit einem Blick erfasste der Präsident die Lage: Dutzende von Männern und Frauen der Bunkergarde lagen oder knieten am Boden und schossen in die Menge der Lumpengestalten. Aus drei der acht Gänge drängten sich die Newbies in die unterirdische Bahnhofshalle von Subway I, der geheimen Untergrundbahn, die vom Weißen Haus zum Pentagon führte. Noch knapp zweihundert Meter entfernt stürmte ihre erste Angriffswelle heran. Die Kämpfer der Bunkergarde robbten oder krochen schießend rückwärts oder flohen in die Gleistunnel von Subway I und in die anderen Gänge. Einige Unerschrockene nur hielten den Verteidigungsring aufrecht, wichen aber langsam zurück. Eine
Frage von wenigen Minuten, bis sie mit dem Rücken zur Wand stehen und das letzte Schott vor der Zentrale einzig mit ihren Körpern verteidigen würden. Und deren Stahl würde dem Plastiksprengstoff der Angreifer nicht wesentlich länger standhalten können als die verzweifelten Kämpfer. »In die Seitengänge!« brüllte Schwarzenegger. »Und Augen zu.« Er sah behelmte Köpfe, die sich nach ihm umdrehten, und überraschte Blicke. »Hier ist euer Präsident! Augen zu!« Viele sprangen auf und rannten in den Gleistunnel, einige warfen sich auf den Boden und bargen die Gesichter in den Armen. Das Licht ging aus. Mündungsfeuer blitzte hier und da noch auf, das Gebrüll der Newbies ebbte ab. »Raus mit den Granaten!« Schwarzenegger schleuderte seine Blendgranate in die Richtung, in der er die Masse der Angreifer zuletzt gesehen hatte. Ein paar Frauen, Halbwüchsige und Greise in seiner Truppe taten es ihm gleich. Er hoffte, dass wenigstens die Hälfte seiner Bunkergardisten hier draußen seine Warnung begriffen hatte. Nacheinander explodierten sieben oder acht Blendgranaten. Ein jähes Lichtgewitter tauchte die unterirdische Bahnhofshalle in gleißenden Schein. Wieder erhob sich das Geschrei der Newbies, doch kein Kampfgeschrei diesmal, sondern das Rufen und Heulen geschockter und verwirrter Menschen. »Scheinwerfer an!« Die Stimme des Präsidenten übertönte das Geschrei der Geblendeten. Über dreißig Helm- und Brustscheinwerfer flammten auf. An seiner rechten Seite erkannte der Präsident den jungen Harrison Crow. »Feuer!«, brüllte Schwarzenegger. Automatische Gewehre spuckten ihre Salven aus, Pistolen und Revolver feuerten auf die geblendeten Angreifer. Vor den drei Tunnelgängen, aus denen sie eingedrungen waren, spielten sich chaotische Szenen ab: Die Fluchtbewegung der Geblendeten oder in Panik Geratenen stemmte sich gegen die nächste Angriffswelle, die in die Bahnhofshalle stürmen wollte.
Schusslärm donnerte aus den Tunneln: Cunningham griff die Newbies von Innenschott II aus an. Mit einer Handbewegung befahl Schwarzenegger seiner Truppe, sich auf den Boden zu werfen. Auch die Bunkergarde griff wieder in die Kämpfe ein, soweit ihre Soldaten nicht selbst geblendet worden waren. »Präsident an Zentrale!«, rief Schwarzenegger in sein HelmMikro. »Lichter an! An Cunningham, kommen!« Die Bunkerbeleuchtung flammte wieder auf, und gleichzeitig meldete sich Cunningham. »Solange die Panik anhält, nur Warnschüsse abgeben!«, befahl der Präsident. »Treiben Sie die Aggressoren aus dem Pentagon! Und nehmen sie ihnen, um Himmels willen, den Plastiksprengstoff ab. Over.« Von der Seite her musterte ihn der Junge. Angst loderte in seinen dunklen Augen. Der Präsident wusste, dass es nicht der Kampf war, vor dem er sich fürchtete. »Und noch etwas, General Cunningham!«, rief Schwarzenegger. »Schicken Sie eine Einheit von Elitekämpfern Richtung Außenschotts. Sie sollen Colonel Crow heraushauen! Kommen!« »Verstanden, over!« Er wartete, bis auch die letzten Newbies sich in die Tunnelgänge zurückgezogen hatten. Dann sprang er auf und brüllte Befehle in alle Richtungen. »Alle Tunnel besetzen! Jede Sektion nach Feinden durchkämmen! Waffen und Sprengstoff beschlagnahmen! Die Leichen der Kerle rausschaffen! Zieht euch dazu Schutzanzüge an! Zwanzig Kämpfer kommen mit mir!« Der Präsident rannte zum Subway-Tunnel. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen schlossen sich ihm an, darunter der junge Harrison Crow. »Wir umgehen die mittleren Zugänge zur Bahnhofshalle und zur Kommandozentrale und versuchen die äußeren Schotts vor dem fliehenden Feind zu erreichen! Die eingekesselten Einheiten brauchen Hilfe!« Er wandte sich an den Jungen. »Du bleibst hier!« »Lassen Sie mich an Ihrer Seite bleiben, Mr. President, Sir!«,
sagte der Junge mit fester Stimme. »Bitte! Ich will meinem Dad helfen!« Schwarzenegger nahm die Entschlossenheit in den dunklen Augen wahr und gab nach. »Gut. Bleib in meiner Nähe!« Zwei Offiziere übernahmen die Vorhut. Die Truppe rannte ein Stück die Gleise von Subway I entlang und bog dann in einen Tunnel ein, der erst durch eine Wohnsektion und dann durch den Laborbereich zu den Innenschotts III und II führte. Bald hörten sie Schusslärm. Im Bereich von Innenschott III sahen sie Scharen von Newbies in kopfloser Flucht durch das offene Schott in den äußeren Bunkerring hasten. Der Schusslärm verstärkte sich. Eine atemlose Männerstimme meldete sich in Schwarzeneggers Helmfunk. »Colonel Crow an General Cunningham! Können Sie mich hören, Sir? Crow an Cunningham, hören Sie mich?!« »Hier spricht der Präsident! Ich höre Sie, Colonel Crow! Wo stecken Sie?!« »Sektion 5/0. Bin hier mit elf Mann eingekesselt. Sechs Verwundete, kaum noch Munition! Die Newbies versuchen drei M-2-Panzer mit nach draußen zu nehmen! Sieht nicht so aus, als könnten wir sie daran hindern! Erbitte dringend Hilfe, Sir! Over.« In Sektion 5/0 war außer einem Materiallager die Garage mit den Kettenfahrzeugen untergebracht, darunter sechs schwere Kampfpanzer. Sie lag direkt vor dem ersten Außenschott. Hatten die fliehenden Newbies den Colonel und seine Einheit so weit in die Außenbezirke des Bunkersystems gedrängt? »Halten Sie durch, Crow, wir sind gleich bei Ihnen! Ihr Ältester ist bei mir! Over!« Unmöglich, durch die Vorhalle und über die Treppe auf die letzte Bunkerebene vorzudringen. Die fliehenden Newbies dort trampelten sich gegenseitig nieder. Schwarzenegger führte seine Truppe zu den Aufzugschächten. Sie teilten sich in zwei Gruppen, und in zwei Aufzügen fuhren je zehn bis zwölf Mann
hinauf. Als sich die Lifttüren auseinander schoben, eröffneten die Bunkergardisten sofort das Feuer aus ihren automatischen Waffen. Mündungsfeuer blitzte von drei Panzern. Motoren brüllten, Dieselgestank erfüllte die riesige Halle. Überall waren Lumpenge stalten, und die drei Kampfpanzer rollten dem aufgesprengten Schott entgegen. Zwei weitere Panzer standen in Flammen. Zwischen zwei Schützenpanzern an der Innenwand sah Schwarzenegger Männer in Uniformen der Bunkergarde: Crow und seine eingekesselte Einheit! Nach links und rechts stürmten der Präsident und die Bunkergardisten aus den Aufzügen, suchten Deckung hinter Materialkisten und Panzern oder warfen sich einfach flach auf den Hallenboden. Aus den Augenwinkeln registrierte Schwarzenegger mindestens vier seiner Leute, die im feindlichen Kugelhagel zusammenbrachen. Zwei schafften es nicht einmal mehr, aus dem Aufzug zu kommen. »Die Panzer!«, brüllte.er. »Haltet die Panzer auf!« Eine dicht gestaffelte Angriffswelle von fünfzig oder sechzig Newbies warf sich ihnen entgegen, um die Panzer zu decken. Die Münder ihrer bärtigen und rußgeschwärzten Gesichter weit aufgerissen, stießen sie ihr Kampfgebrüll aus und schossen aus Schrotflinten, Maschinenpistolen und Faustfeuerwaffen. Keine Spur von Demoralisierung hier oben, nicht die geringste. Der Präsident packte den Jungen, schob ihn hinter sich und steuerte einen Schneepflug an, um hinter ihm in Deckung zu gehen. Plötzlich explodierte sein Knie. Er brach zusammen, heißer Stahl ergoss sich in seine Lunge. Er schnappte nach Luft. Bleikugeln schienen an seinen Gliedern zu hängen, die Luft flimmerte, und dann war ihm, als würde sich ein dunkelroter Vorhang aus Dampf und flüssigem Gummi zwischen ihn und die Welt schieben. »Mr. President!«, schrie eine Knabenstimme. »Sie dürfen hier
nicht liegen bleiben!« Dunkle Augen schwebten über ihm, Schwarzenegger sah Pickel und Bartflaum und bebende Lippen. »Weg hier, Sir! Weg hier!« Die M-16 des Jungen bellte, und gleichzeitig packte seine Rechte Schwarzeneggers Oberarm. Der Schneepflug war genauso weit entfernt wie der noch offene Lift. Dessen Tür hatte sich nicht vollständig zusammen geschoben, weil ein getroffener Bunkergardist auf der Schwelle lag. Schwarzenegger zog das unverletzte Bein an. Halb stieß er sich ab, halb schleifte ihn der junge Crow zum Aufzug. In seiner Lunge brodelte es, jeder Atemzug war, als müsste er zweihundert Pfund stemmen - er riss den Mund auf, spuckte Blut und keuchte. Sein Sturmgewehr war eine Betonklotz, und dennoch krümmte sich sein Zeigefinger um den Stecher. Er feuerte auf die Angreifer, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Über den gefallenen Bunkergardisten - es war eine junge Offizierin, die Schwarzenegger persönlich vereidigt hatte stolperten sie in den Lift. Harrison Crow riss die tote oder bewusstlose Frau vom Türrahmen in den Aufzug hinein, feuerte dabei auf die kaum noch dreißig Schritte entfernten Newbies, drückte auf den unteren Knopf und deckte den angeschossenen Präsidenten mit seinem Körper. Schwarzenegger richtete sich auf dem unverletzten Knie auf. Gott, wie schwer wog seine Waffe! Er konnte sie nicht mehr halten, sie sank auf seine Schenkel. Der schwarzrote Vorhang verdeckte auf einmal den Jungen und die sich zusammenschiebende Tür. Und dann fiel er auf die leblosen Körper der Gardisten... Später, als er die Augen wieder öffnete, saß Carl Spencer Davis neben seinem Bett. Irgendwo brodelte eine Vakuumpumpe. Sie saugten ihm Blut und Luft aus dem Rippenfell. Sein Knie pulsierte. »Es ist vorbei, Arnie«, sagte Davis. »Cunningham und die
Einheiten des Stabschefs kamen gerade noch rechtzeitig.« Der Präsident wollte nicken, aber jede Bewegung verursachte ihm höllische Schmerzen. »Unsere Leute schaffen gerade die Leichen nach oben.« Davis sprach leise, verdächtig leise, als würde jemand im Klinikzimmer schlafen, der auf keinen Fall geweckt werden durfte. »Wir haben die Panzer zurückerobert. Aber zwei sind vollständig ausgebrannt.« Der Präsident wollte antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Lippen bewegten sich stumm, flehend sah er seinen Vize an. Davis las die Frage von seinen Augen ab. »Achtundsiebzig«, sagte er noch leiser. »Achtundsiebzig Tote und hundertdreiundvierzig Verletzte. Es war ein teurer Sieg. Aber vielleicht der wichtigste, den wir je errungen haben, du und ich.« Der Präsident wollte stöhnen, aber nicht einmal dieser Ton gelang ihm. Er sah die Spiralschläuche auf seiner Brust, ertastete den Tubus an seinem Hals und begriff: Luftröhrenschnitt - er wurde künstlich beatmet. Er wandte den Kopf. Auf der anderen Seite des Bettes saßen Dr. Cora Topalias und Harrison Crow. Cora weinte. Der Präsident fuchtelte solange mit beiden Armen, bis sie ihm Stift und Schreibblock reichten. ›Danke, Harry‹, schrieb er, und: ›Wo ist dein Dad?‹ »Bei Ma«, sagte der Junge. ›Warum bist du nicht bei ihm?‹, schrieb Schwarzenegger. »Ich möchte gern bei Ihnen bleiben, Sir, wenn Sie erlauben.« Schwarzenegger schloss kurz die Augen, um ihm zu bedeuten, dass er einverstanden war. Cora sagte kein Wort, sie weinte nur. Kaum wagte sie ihn anzusehen. Langsam, ganz langsam verstand der Präsident: Es ging zu Ende. Stunden später, als sein Bewusstsein zum letzten Mal aus schwarzroter Nacht auftauchte, saßen nur noch der Junge und
sein Vize am Bett. Davis wischte ihm den Schweiß von Stirn und Brust und flößte ihm Wasser ein. »Cora hat eine Blutprobe und Knochenmarkszellen von dir ins biogenetische Labor bringen lassen. Sie will, dass man ein paar Zellkerne von dir einfriert.« Er grinste schief. »Von mir hat sie bei der Gelegenheit auch gleich eine Genprobe entnommen.« Schwarzenegger reagierte kaum. Sollten sie doch mit seinen Überresten anstellen, was sie wollten. Er forderte einen Schreibblock, und der junge Harrison Crow reichte ihm Stift und Papier. ›Hab ein Auge auf den Jungen‹ schrieb der Präsident. ›enschen wie er sind schon die halbe Miete für die Zukunft des Bunkers.‹Davis las es und nickte. Schwarzenegger nahm ihm den Block aus der Hand und schrieb weiter. ›Keine schlechte Zeit gewesen, alles in allem.‹ Seine Schrift war kaum noch leserlich. ›Eine gute Zeit sogar, bis auf die letzten fünf Jahre.‹ Davis hatte Mühe die Worte zu entziffern. Als er es geschafft hatte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber langweilig waren auch sie nicht, oder?« Er fasste die Hand des Sterbenden und drückte sie. »Ein Glücksfall, dass du noch im Amt warst, als der verdammte Komet uns traf.« Schwarzeneggers Hände zitterten, während er den Schreibblock nahm. Carl Spencer Davis hielt ihn fest. Unter seiner schwarzen Haut tanzte sein Adamsapfel auf und ab. ›Gratuliere, Charley.‹ Schwarzenegger schrieb seine letzten Worte. ›Du bist der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten. Wirklich schade, dass du nur noch über Trümmerhalden und Bunker regierst. Verwalte sie trotzdem gut, sonst soll dich der Teufel holen...‹ *** Ehemaliges Nordwestkanada
Ende August 2518 Blacks Miene hatte sich in ein Marmorrelief verwandelt. Er starrte zwar auf das Radardisplay, schien aber durch die Apparatur hindurch zu blicken. Plötzlich tat er Matt Leid. Ein Klon, gezüchtet aus den Genen, die dem Original kurz vor dessen Tod entnommen worden waren. Eine Kopie, ein Mensch ohne Vater und Mutter - selbst die Frau, die ihn entbunden hatte, war im Grunde nicht seine wirkliche Mutter. War Mr. Black nicht ein Mensch ohne Heimat, ohne Wurzeln? Matt fragte sich, ob in dem Hirn hinter diesem versteinerten Gesicht auch nur die Kopie eines Bewusstseins dachte und fühlte. Oder entwickelte ein Klon ein selbstständiges, von seinem Original unabhängiges Bewusstsein? Zumindest erklärten sich so die Flash-backs, die Mr. Black manchmal hatte und die auf Erinnerungen an sein »erstes Leben« zurückgingen. Merlin Roots hing über ihnen im Kommandostand. Er paffte eine Zigarre; die vorletzte, die er in seinem persönlichen Gepäck gefunden hatte. »Wie lang stand Davis an der Spitze des Pentagonbunkers?«, wollte Black wissen. »Bis Ende 2021«, sagte Merlin. Matt bewunderte ihn im Stillen. Manchmal kam ihm der Afroamerikaner vor wie ein wandelndes Geschichtskompendium. »Nach ihm übernahm General Sean Cunningham das Präsidentenamt. Er starb Anfang der vierziger Jahre. Nach ihm wurde Harrison Crow Präsident.« »Na, herzlichen Glückwunsch«, knurrte Black. »Dessen Nachkommen machen mir seit Jahren das Leben schwer.« Matt wusste, wovon Black sprach: von General Arthur Crow und seiner Tochter Lynne. Vor neun Jahren war der Spross des WCA-Militärchefs aus dem Pentagonbunker geflüchtet, um die große Freiheit zu kosten. Ein Ausflug, den sie sich einzig und allein des Serums wegen leisten konnte, das die WCAWissenschaftler aus dem Blut von Black und seinem Freund und
Partner White - dem Klon Carl Spencer Davis' - gewonnen hatten. Zuvor konnten sich die Mitglieder der Bunkerkolonie nur mit Schutzanzügen an der Erdoberfläche bewegen; in Schutzanzügen gegen Krankheitserreger. Das Serum aber mobilisierte das Immunsystem der Bunkermenschen und machte sie unempfindlich gegen bis dahin tödliche Infektionen. Arthur Crow hatte Black und seinen Partner - beide damals noch in den Diensten der WCA - beauftragt, das wilde Töchterlein zu suchen und zurück zu Papa zu bringen. Nun gut, das gelang. Allerdings zu einem hohen Preis für Black und seinen farbigen Freund: Lynne Crow bedankte sich aus Rachsucht mit der Behauptung, White hätte sie vergewaltigt. So wurden Black und sein Partner zu Vogelfreien. Und ihre Karriere als Rebellen und so genannte Terroristen begann. In den folgenden Jahren sammelten sich Straßenkids vom Schlage Honeybutt Hardys um sie, und die Running Men entstanden. »Ohne Harrison Crow kein Arthur Crow«, sagte Matt. »Schon wahr. Aber ohne Harrison Crow gäbe es auch Sie nicht, Black, wenn ich Mr. Roots' Erzählung richtig verstanden habe.« Blacks geballte Faust knallte auf die Instrumentenkonsole. »Verdammt, stimmt!«, fluchte er entgegen aller von ihm selbst aufgestellter Prinzipien guten Benehmens. »Da sind sie!« Miss Hardys Stimme krächzte über ihnen durch die Luke. »Wir haben sie eingeholt!« Aiko Tsuyoshi steckte den Kopf durch die Luke in die Fahrerkabine. »Sie leben!«, rief er. »Aruula und Karyaana sind am Leben!« Black stoppte den Nixon-Panzer. Sie kletterten durch die Luke aufs Dach. Die Zigarre zwischen den Zähnen, spähte Merlin durch seinen Feldstecher. Mitten auf dem Fluss treibend, hockte der Mongole am Bug eines Floßes und ruderte. Er versuchte offenbar das andere Ufer zu erreichen, doch die Strömung in der Mitte des Flusses war für das primitive Paddel zu stark. Die Frauen lagen am Heck, offenbar gefesselt.
»Du verdammter Mistkerl!«, knurrte Merlin. »Wir kriegen dich. Und dann wirst du mich kennen lernen...« *** Es hörte sich an, als würde eine Lawine einen Steilhang hinunterdonnern. Kobajozzi Kanga erstarrte. Er zog das Paddelbrett aus dem Wasser und lauschte. Das Brüllen der Schneemassen schwoll an, näher und näher kam die Lawine. Kanga kannte das Geräusch aus den Schneegebirgen seiner Heimat. Aber hier gab es nirgends nennenswerte Gipfel. Er sah sich um und erkannte die Quelle des Donnerns: Vier oder fünf Speerwürfe flussaufwärts rollte der große Eisenkasten seiner Feinde oberhalb der Uferböschung entlang. Die beiden Weiber stützten sich auf ihre Ellbogen. Wie gebannt beobachteten sie den Kampfwagen ihrer Rotte. Kobajozzi Kanga stieß einen Fluch aus. Er hatte natürlich damit gerechnet, dass sie irgendwann die Verfolgung aufnehmen würden, aber so schnell? Er blickte flussabwärts: Der Fluss schlängelte sich in weiten Biegungen durch felsige Steppe. Die Uferböschung wurde allmählich steiler, und schroffe Gesteinswände lösten die Kiesbänke mehr und mehr ab, und zwar an beiden Ufern. Kanga hatte das Gefühl, dass der Fluss jetzt schneller strömte als noch während des Sonnenaufgangs. Auch schien ihm das Bett schmaler zu werden. Wieder ein Blick zurück. Das schwarz-grüne Ungetüm näherte sich rasch. Schon konnte der Krieger aus dem Osten die von den Kettenrädern aufwühlten Erdfontänen erkennen. In den Mienen der beiden Kriegerinnen las er Hoffnung. Die mit dem Namen Aruula fixierte ihn feindselig aus ihren dämonischen grünen Augen. Bei den Geistern seiner Vorfahren! Was für ein Vergnügen würde es ihm bereiten, diese Zauberin zu töten!
Kobajozzi Kanga spähte ans andere Ufer: Drei Speerwürfe etwa trennten ihn davon. Entschlossen packte er das Brett, rückte ganz an den rechten Rand des Floßes und stieß das Paddel mit aller Kraft ins Wasser. Das Floß drehte ein wenig nach rechts, und langsam schob sich das Ufer aus dem äußersten Rand seines Blickfelds in dessen Zentrum. Eigentlich hatte Kanga geplant, die Strömung auszunutzen und eine möglichst weite Strecke zwischen sich und die Feinde zu bringen, bevor er endgültig über den Fluss setzte. Aber nun durfte er nicht länger zögern, wusste er doch, mit welch starkem und schlauem Gegner er es zu tun hatte. Aber er, Kobajozzi Kanga, war schlauer! Und er hatte die Geister der Ahnen auf seiner Seite! Was für eine Kriegslist auch immer sie planten, seine würde listiger und tödlicher sein. Er paddelte aus Leibeskräften, aber das Ufer wollte nicht näher kommen. Der Schweiß strömte ihm über Stirn und Wangen. Er fegte sich die Kapuze vom Kopf. Der Wind fuhr in sein fettiges Haar und spielte mit seinem Zopf. Das Gebrüll des verfluchten Eisenkastens erfüllte die ganze Welt. Kobajozzi Kanga blickte über die Schulter zurück: Das schwarzgrüne Monstrum pflügte dreieinhalb Speerwürfe entfernt oberhalb der felsigen Böschung vorbei. Kobajozzi Kanga lachte. Sie suchten eine Stelle, um ihren Eisenkasten über den Fluss zu bringen! Ha! Ein schwimmender Eisenkasten? Nein - sie selbst würden schwimmen müssen. Er wandte sich nach den Kriegerinnen um und feixte sie an. Die Grauhaarige blickte ängstlich, die Grünäugige kalt. »Sie fahren vorbei!«, rief er. »Seht ihr? Sie lassen euch im Stich, eure tapferen Freunde!« Schade, dass sie ihn nicht verstanden. Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte er damit, in Richtung Ufer zu paddeln, doch das Floß bewegte sich nur langsam auf dem Kurs, den der Krieger aus dem Osten sich vorstellte; zu langsam. Schließlich zog er das Brett aus dem Wasser und kroch zu den beiden Frauen ans Ende des Floßes.
Wenn er dort das Paddel ins Wasser stieß, würde er die Plattform wirkungsvoller steuern können. »Ja, meine süßen kleinen Schlangen! Es geht ans andere Ufer!« Er klopfte auf die Stelle seines Ledermantels, die sich über der Zauberwaffe ausbeulte. »Und wenn eure Gefährten endlich kommen, können sie sich eure Leichen dort abholen!« Die hilflosen Weiber belauerten jede seiner Bewegungen. Er riss das Brett wie zum Schlag hoch und sah mit Genugtuung, wie sie vor Angst zusammenfuhren. Kobajozzi Kanga kniete sich neben der Grauhaarigen auf das Floß und begann wieder zu paddeln. Der Winkel, mit dem die Strömung gegen die rechte Seite des Floßes drückte, wurde größer, je weiter sich seine Spitze dem jenseitigen Ufer zuwandte, und entsprechend kräftiger musste Kanga rudern. Aber der Krieger aus dem Osten hatte Kraft genug! Nicht umsonst nannten sie ihn den »Vulkan«. Aus dem Augenwinkel konnte er jetzt die Sonne sehen. Sie stand direkt über dem Fluss, als wäre sie aus den Fluten aufgetaucht. Keine gute Zeit für einen Kampf. Aber was blieb ihm übrig? Die Nächte waren kurz und die Tage so lang in dieser Gegend der Welt... Das Floß schaukelte plötzlich heftiger als zuvor. Kobajozzi Kanga beobachtete keinen ungewöhnlichen Wellengang. Links scharrte Leder über eine glatte Fläche. Er warf den Kopf zur Seite. Ein Schatten flog heran, ein Bein. Der Stiefelabsatz traf sein Handgelenk mit voller Wucht. Das Brett entglitt ihm und fiel ins Wasser. Er wollte danach greifen, verlor das Gleichgewicht, rutschte über den Rand des Floßes halb ins Wasser. »Drei Mal verfluchtes Weib!«, brüllte er, warf sich herum, stützte sich ab und griff nach dem Mantel der Grauhaarigen, um sich festzuhalten. Fast bis zu den Hüften hing er im Wasser. Das Brett trieb hinter dem Floß vorbei. Kobajozzi Kanga schrie vor Zorn. Er zog sich ein Stück aus dem Wasser, stemmte sich auf
das Floß und kletterte wieder hinauf. Die grünen Augen des Dämonenweibes hielten ihn fest! Sie hatte es gewagt, ihn anzugreifen, trotz der Stricke, mit denen er ihre Hände an den Rand des Floßes gefesselt hatte! Über ihre Kampfgefährtin hinweg hatte sie ihm das Brett aus den Händen getreten! »Dafür bezahlst du!« Er äugte nach dem Brett. Auf der anderen Seite des Floßes trieb es jetzt im Fluss. Er wollte sich danach ausstrecken, doch die Grünäugige richtete sich auf, so weit es ihre Fessel zuließ, und versperrte ihm den Weg. Kobajozzi Kanga zögerte. Rasch trug die Strömung das Brett davon. Schweratmend starrte ihm der Ostkrieger hinterher. In der Ferne verlor sich das Gebrüll des Eisenkastens. »Du stirbst!« Kangas Stimme war wie klirrender Stahl. »Du stirbst jetzt!« Er griff nach der Eisenstange, die er in der Mitte des Floßes unter einem der Bügel befestigt hatte. Schon einmal hatte er das verfluchte Weib damit niedergeschlagen. Jetzt würde er ihr den Schädel spalten! Er zog die schwere Stange aus dem Bügel und hob sie mit beiden Armen über den Kopf. Und wieder zögerte er. Wie sie ihn belauerte, die dämonische Kriegerin, wie ihre grünen Augen blitzten. Hatte sie denn gar keine Furcht? Etwas in ihm erzitterte. Es musste ein Zauber sein, mit dem sie ihn narrte! Kobajozzi Kanga murmelte eine Gegenbeschwörung. Die Stange über seinem Kopf sank unmerklich, aber das wurde ihm nicht bewusst. Ihre Unterarme! Die Haut an den Säumen der Lederhandschuhe hatte sich grünlich verfärbt! Was hatte das zu bedeuten? Das Herz des Kriegers schlug schneller. Was, wenn er sich der Hexe weiter näherte? Er kannte ihre Zauberkräfte nicht. »Also gut...« Kobajozzi Kanga legte die Eisenstange ab. Das Floß drehte sich; jetzt sah er über die Köpfe der Weiber hinweg flussabwärts. »Dann stirb durch eure eigene Magie...«
Damit zog er die erbeutete Zauberwaffe unter seinem Mantel hervor. Mit beiden Händen fasste er den Griff. Glatt und rund wie die Schulter eines Weibes fühlte er sich an. Er richtete das Zauberrohr direkt auf ihre dämonischen grünen Augen. »Stirb, Hexe...« *** Eine knappe halbe Stunde zuvor »Stopp!« Matt hörte Honeybutt Hardy schreien. Er, Aiko und Merlin Roots arbeiteten im Transportraum des Nixon-Panzers an einem Floß. »Stopp!« Der Mann aus der Vergangenheit balancierte über Kunststoffplatten und Reifen nach vorn zum Führerstand. Honeybutt, die oben auf dem Panzer Ausschau gehalten hatte, sprach durch die offene Dachluke mit Black, der das Fahrzeug lenkte und in diesem Moment anhielt. »Was ist los?«, rief Merlin. »Kommt hoch und schaut es euch an«, antwortete Honeybutt. Sie stiegen durch die Luke hinauf auf ihr Dach. Black stand schon neben Honeybutt und spähte durch seinen Feldstecher. Ein Brausen erfüllte die kalte Luft, als würde ein Orkan toben. Doch es war kein Orkan. Matt sah es gleich, als er sich aufrichtete: Etwa vierhundert Meter flussaufwärts brach der zweihundertfünfzig Meter breite Flusslauf in einer Wand aus Schaum und Wasserdampf ab. »Irgendeine Erdspalte, eine Schlucht, was weiß ich.« Black reichte ihm den Feldstecher. »Jedenfalls ein Wasserfall.« Durch das Fernglas sah Matt die Wassermassen im Dunst verschwinden. Die Ufer waren hier ziemlich steil und gut sechs bis zwölf Meter hoch. »An dieser Stelle schafft es keiner von uns auf die andere Seite«, sagte er. »Und wenn der Mongole die Gefahr nicht rechtzeitig bemerkt, stürzt er mit Aruula und Karyaana in die Tiefe. Wir müssen umkehren!« Sie kletterten zurück in den Nixon. Mit Höchstgeschwindigkeit
pflügte der Panzer wieder flussaufwärts. Eigentlich war es grotesk: Anstatt eine Furt zu finden, an der sie übersetzen konnten, mussten sie nun versuchen, den Mongolen zu warnen, um ihre Frauen zu retten. Dabei wussten sie noch nicht einmal, ob er auf ihre Rufe überhaupt reagieren würde. Aber vielleicht konnten sie sich Aruula und Karyaana verständlich machen, die dann ihrerseits den Mongolen warnen konnten. Einen knappen Kilometer vor dem Wasserfall passierten sie gerade eine Stelle, an der das Ufer trotz der steilen Felsböschung gut zugänglich war, als Mr. Black abrupt anhielt. Matt eilte nach vom. »Was ist passiert?« Black wandte sich zu ihm um. »Was nützt es uns, zurückzufahren und den Dreckskerl zu warnen?«, sagte er grimmig. »Versuchen wir doch lieber, ihm hier eine Falle zu stellen.« »Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte Merlin Roots, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Der Fluss ist viel zu breit, um eine Barriere zu bauen - für die wir eh keine Material hätten.« »Ohne einen Plan hätte ich wohl kaum hier angehalten«, entgegnete Black nicht ohne pikierten Tonfall. Er betätigte den Knopf für die seitliche Tür des Transportpanzers. Sonnenlicht und frische Luft fluteten ins Innere. »Und darf man fragen, wie dieser Plan aussieht?«, fragte Matthew, als der Rebellenführer ohne ein weiteres Wort aufstand, nach hinten ging und eine mit der Wandung verschweißte Werkzeugtruhe öffnete. Mr. Black nahm ein zusammengerolltes Kunststoffseil aus dem Behälter. »Ich werde hinüberschwimmen«, sagte er so leichthin, als hätte er einen Sonntagsspaziergang angekündigt. »... schwimmen?!«, entfuhr es Aiko Tsuyoshi. »Ans andere Ufer?« »Wohin sonst?« Unbeeindruckt hängte sich Black das Seil über die Schulter und griff nach einigen Stahlbügeln und
Karabinerhaken und nach einem Hammer. »Sie werden erfrieren!«, warf Roots ein. »Das Wasser ist eiskalt. Sie schaffen nicht einmal die halbe Strecke, bis sich Ihre Muskeln verkrampfen!« Mr. Black musterte den hoch gewachsenen, schlanken Mann mit der tiefen Stimme. »Schließen Sie nicht von sich auf andere, Mr. Roots«, sagte er. »Sie als ehemaliger Techno hätten in der Tat keine Chance. Ich dagegen bin gut trainiert und abgehärtet. Ich werde es schaffen.« Matt glaubte Arnold Schwarzenegger in einem seiner Actionfilme zu hören. Fehlte nur noch ein kerniges »I'll be back!« Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Black zu widersprechen. Und vielleicht war es ja tatsächlich die beste Chance, die sie hatten, um Aruula und Karyaana zu retten. »Lassen Sie es mich versuchen«, bot Aiko in diesem Moment an, »auch wenn es in meinen Augen Selbstmord ist. Mit meinen bionischen Armen schwimme ich besser als jeder Mensch.« »Und was ist mit dem Rest Ihres Körpers?«, fragte Black. »Auf den Bizeps allein kommt es bei diesem Job nicht an.« »Also, was haben Sie vor?«, fragte Matt, bevor Aiko widersprechen konnte. »Ganz einfach«, erwiderte Black, während er aus dem Panzer stieg und zur Uferböschung strebte. »Ich binde mir das Ende des Seils um den Leib und schwimme hinüber. Dann spannen wir es quer über den Fluss. Bis das Floß kommt, bleibt es unsichtbar unter Wasser. Im richtigen Moment straffen wir es dann und holen den Mongolen von Bord. Da er vorne sitzt, haben die beiden Frauen genug Zeit zu reagieren.« Sie waren die steile Uferböschung hinuntergestiegen. Black schlug einen Stahlbügel in einen massiven Felsblock und befestigte das Kunststofftau daran. Dann schlang er sich das andere Ende um die Hüften und verknotete es. Damit er vom Gewicht der vollgesogenen Kleidung nicht in die Tiefe gezogen wurde, legte er sie bis auf die lange Armeehose ab. Gegen die
Kälte würde sie ihm ohnehin nicht helfen. Lediglich ein Messer schob er sich in den Hosenbund, um das Seil wieder lösen zu können. »Wenn Sie schlappmachen, ziehen wir Sie zurück«, sagte Matt und fing sich einen beleidigten Blick des Rebellenführers ein. »Ich werde es schaffen«, sagte Black mit Nachdruck. Er legte das gerollte Seil am Ufer ab. »Wollen Sie nicht lieber einen Reifen mitnehmen, der Sie über Wasser hält?« Miss Hardy machte sich Sorgen um ihren Chef. »Wir könnten auch noch das Floß fertig bauen, dann -« Black sah sie an. »Wirklich nett vo n Ihnen, dass Sie sich Sorgen machen, Miss Hardy, aber ein Reifen würde mich nur beim Schwimmen behindern, und bis das Floß bereit ist, kann der Mongole längst hier sein.« Er atmete tief ein; sein gewaltiger Brustkorb schwoll eindrucksvoll an. Er sah aus wie Schwarzenegger im Zenit seiner Karriere, unbesiegbar wie der »Terminator«. Matt Drax konnte nicht umhin, Blacks Mut zu bewundern. »Viel Glück«, sagte er und nickte ihm zu. »Ich komme wieder.« Matt blieb der Mund offen stehen. War das Zufall gewesen oder eine von Mr. Blacks »genetischen Erinnerungen«? Ein paar Meter weit watete der Hüne in den Fluss. Als ihm das Wasser bis zur Hüfte reichte, warf er sich hinein und kraulte auf den Fluss hinaus. »Wie stark er ist.« Honeybutt Hardy schüttelte bewundernd den Kopf. »Seht nur, wie er schwimmt!« Die Männer antworteten ihr nicht. Alle drei waren sie beeindruckt von Mr. Blacks Kraftakt: Zielstrebig kraulte er dem anderen Ufer entgegen. Meter um Meter spulte sich das Nylonseil ab. In weniger als fünfzehn Minuten erreichte Black das andere Ufer. Die Strömung hatte ihn etwa vierhundert Meter weit flussabwärts getrieben, doch das Seil reichte. Durch den Feldstecher beobachtete Matt, wie der Chef der Running Men
drüben aus dem Wasser stieg. Er war ohne Zweifel mitgeno mmen, doch seine Bewegungen waren noch immer kraftvoll. Flussaufwärts lief er die vierhundert Meter zurück, bis er ihnen gegenüber stand. Black holte das Seil ein; bis es sich straffte. Dann befestigte er es so an einem Felsen der Böschung, dass es auf ganzer Länge ins Wasser eintauchte. Erst als die Arbeit getan war, gönnte sich Black eine Pause und legte sich für einige Minuten auf den schmalen Kiesstrand, um zu regenerieren. Am diesseitigen Ufer hatte Aiko das Seil ergriffen. Die widerstandsfähige Nylonschnur sang unter der Belastung, mit der die strömenden Fluten an ihm zerrten. »Schneidet das Seil nicht in Ihre Finger, wenn Sie es spannen?«, fragte Miss Hardy fürsorglich. Aiko lächelte ihr zu. »Meine Finger sind aus Plysterox wie meine Arme«, erklärte er. »Die halten eine Menge aus. Trotzdem danke der Nachfrage.« Ihr Blick huschte verlegen zu Boden; offenbar bemerkte sie den Unterschied zwischen Aikos Antwort und dem eher ungehaltenen Dank, mit dem Mr. Black sie vorhin bedacht hatte. Hinter dem Felsen, in dem das Nylonseil verankert war, gingen sie in Deckung. Durch den Feldstecher spähte Matthew Drax flussaufwärts. »Der Mistkerl kann kommen. Er wird eine Überraschung erleben...« Wenige Minuten später entdeckten sie das Floß. Aber die Situation darauf hatte sich in einer Weise verändert, mit der sie nicht gerechnet hatten und die ihren Plan gefährdete! Matt presste einen Fluch hervor und wechselte einen besorgten Blick mit Aiko. Der Mongole hielt sich nicht mehr am Bug auf, sondern hockte zwischen Aruula und Karyaana am Heck. Sie schienen sich gegenseitig zu belauern - und der Mongole zielte mit einer Handfeuerwaffe auf Aruula! Rasch trieb die Strömung das Floß näher...
*** Ihre grünen Augen wurden zu Schlitzen. Vollkommen reglos und kerzengerade hockte sie vor ihm. Kobajozzi Kanga achtete auf ihre Handfessel. Er wusste, dass er ihr nicht zu nahe kommen durfte, und er wusste, dass er sie töten musste. Sein rechter Zeigefinger fand den Keil vor dem Griff der Zauberwaffe. Den hatten sie gedrückt, um Blitze zu schleudern, genau! Kanga hatte die feindlichen Krieger während des Kampfes gegen die Nachtwürger genau beobachtet. Diesen kleinen Keil musste er drücken, dann würde... Das grünäugige Weib riss den Mund auf und fauchte, und etwas schoss zwischen ihren Zähnen hervor. Keine Zunge, nein, etwas Grünes, das Kobajozzi Kanga an die Schlingen fleischfressender Pflanzen in seiner Heimat erinnerte. Es geschah blitzschnell. Das grüne Etwas aus ihrem Mund wickelte sich um sein Handgelenk und riss ihn nach vorn! Er krümmte den Finger, doch der Blitz fuhr ungezielt in den Himmel. Im nächsten Augenblick prallte Kobajozzi Kanga gegen das dämonische Weib. Ihr hochgerissenes Knie traf ihn erst am Brustkorb, dann unter dem Kinn. Die Zauberwaffe entglitt seinen Fingern, die taub wurden unter dem unbarmherzigen Druck der grünen Schlinge. Er rollte sich zur Seite, zerrte das Messer aus der Scheide an seiner Fellhose und brachte die Klinge auf den Strang. Ein kraftvoller Schnitt, und er war frei - auch wenn er dabei seine Haut ritzte. Die grüne Schlinge zog sich peitschend in den Mund der Hexe zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die grauhaarige Frau nach der Zauberwaffe griff und sie auf ihn richtete. Kobajozzi Kanga trat nach ihr, sodass sie rücklings auf das Floß schlug. Die Waffe polterte davon und rutschte bis an den Rand. Er wollte sich in diese Richtung werfen und sie sich zurückholen, doch das dämonische Weib trat ihm die Füße unter dem Körper weg.
Mit einem Ächzen schlug Kanga schwer auf das Floß. Beinahe wäre es gekentert. »Weg von mir, verfluchte Hexe, weg!« Er rammte ihr den Stiefel ins Gesicht, so heftig, dass ihr das Blut aus der Nase schoss. Sie riss den Mund auf, und wieder war da dieses schreckliche Winden, war ihr Rachen gefüllt von grünen Schlangen, von Hexe nzungen! Erneut schnellten sie hervor, aber diesmal war nicht er das Ziel, sondern die Fessel um ihre Hände. Wie eine blitzartig wuchernde Ranke wickelte sich der Strang darum und drang zwischen die Fasern. »Ihr Geister meiner Ahnen, steht mir bei!« Kanga kroch rücklings auf Händen und Füßen nach hinten und wollte nach der Zauberwaffe greifen... die in diesem Augenblick über den Rand des Floßes kippte und in den Fluten versank. Als sein Kopf wieder herumfuhr, sah er die Fessel der Dämonin fallen. Der grüne Strang hatte sie zerrissen! Kobajozzi Kanga fluchte lautstark und rollte sich zum Bug des Floßes, weiter weg von der Dämonin. Keuchend stemmte er sich auf ein Knie hoch und reckte ihr sein Messer entgegen. So verharrte er fast reglos und starrte das Hexenweib an. Deren Mund war jetzt geschlossen. Keine Lianen mehr, keine grüne Zungen, oder was auch immer das für ein Hexenwerk gewesen sein mochte. Dafür musterte ihn das böse Weib, als könnte es ihn allein durch die Kraft ihres Blickes festhalten. Und zum ersten Mal gestand sich Kobajozzi Kanga ein, dass er Angst vor ihr hatte. Im Gesicht der Grauhaarigen nahm er ebenfalls Angst wahr, und die gleiche Fassungslosigkeit, die auch er empfand. Hatte sie nicht gewusst, dass ihre Gefährtin eine Hexe war? Das Floß trieb nun führerlos auf der Mitte des Flusses und drehte sich langsam. Er belauerte die Dämonin, und die Dämonin belauerte ihn. ›Ich muss es zu Ende bringen! Dies ist mein Auftrag, gegeben vom Meister der Erde. Die Götter selbst fordern den Tod der
Hexe!‹ Dieser Gedanke gab ihm neue Kraft. »Ich bin Kobajozzi Kanga«, flüsterte er. »Ich bin der, den sie den ›Vulkan‹ nennen«, sagte er. »Ich kämpfe für die Götter!«, rief er. »Und ich werde dich töten!«, brüllte er. Er riss das Messer hoch und sprang auf Aruula zu... *** Nach einem kurzen Handgemenge kauerte der Mongole nun am Bug des Floßes. Matt hatte die Szene durch den Feldstecher beobachtet, aber die Entfernung war noch zu groß, um Näheres zu erkennen. Der Barbar hatte eine Laserpistole abgefeuert, doch der Schuss ging fehl. Aruula schien ihn trotz ihrer Fessel angegriffen zu haben. Was um alles in der Welt spielte sich dort ab? »Soll ich versuchen, ihn zu erwischen?« Honeybutt Hardy legte das Lasergewehr an. Sie spähte durch die Zieloptik. Noch knapp zwanzig Meter trennten das Floß von der Stelle, an der das Nylonseil unter der Wasseroberfläche hing. »Nein!« Matts Hand drückte das Lasergewehr herunter. »Es ist zu gefährlich - du könntest Aruula oder Karyaana treffen...« Dass er zum »Du« übergegangen war, fiel ihm gar nicht auf. »Das Floß dreht sich!«, sagte Aiko gepresst. Er hatte seine Augen in den Zoom-Modus geschaltet. »Ich weiß nicht, ob wir ihn mit dem Seil erwischen.« »Shit!«, zischte Matt. Er beobachtete, wie der Barbar aus dem Osten sich auf ein Knie aufrichtete, Einen Moment noch belauerte er Aruula, dann sprang er auf sie zu. Blitzte da ein Messer in seiner Rechten? *** Die Knie bis an die Brust gezogen, lag Karyaana auf der Seite.
Sie atmete schwer, ihr Blick flog zwischen Aruula und dem Mongolen hin und her. Die sonst bronzefarbene Haut ihres Gesichts war jetzt schmutziggrau, die Lippen blutleer, Mund und Augen waren weit aufgerissen. In diesen Augenblicken hätte sie nicht sagen können, wer von beiden sie mehr erschreckte - ihre vermeintliche Freundin und Schwester oder ihr Entführer. Was war das für ein grüner Strang gewesen, mit dem Aruula den Barbaren entwaffnet und sich selbst befreit hatte? Welchen bösen Zauber setzte sie ein? Der Mongole starrte Aruula an, und auch in seinem Blick flackerte die Angst; Karyaana sah es genau. Kein Zweifel: Er fürchtete sich. Und wahrscheinlich brüllte er nur, um seine Angst niederzuschreien. Im nächsten Augenblick warf er sich nach vorn, das Messer hoch erhoben, und flog auf Aruula zu. *** Natürlich war Aruula bewusst, was gerade geschehen war. Natürlich hatte sie gesehen und gespürt, wie das »Ding« aus ihrem Mund geschnellt war, den mordgierigen Barbaren angegriffen und den Strick um ihre Handgelenke zerrissen hatte. Aber merkwürdig: Das unheimliche Erlebnis berührte sie kaum. Abgesehen davon, dass sie froh war, den Angriff abgewehrt zu haben und noch am Leben zu sein. Aber sonst? »Etwas« war aus ihrem Mund gekommen, »etwas« hatte den Kerl entwaffnet - na und? Sollte sie das erschrecken? ›Ja‹, flüsterte eine leise, kaum hörbare Stimme in ihrem Kopf, ›ganz bestimmt sollte es das!‹ Doch sie fühlte sich eher so, als wäre sie aus einem kurzen Schlaf und einem Traum erwacht. Und träumt man nicht die seltsamsten Dinge? Karyaana schob sich bis an den hinteren Rand des Floßes, bis
ihr langes Grauhaar ins Wasser fiel und sie fast ins Leere griff. Sie schien panische Angst zu haben - aber wovor? Natürlich vor dem Mongolen! Jetzt erst nahm Aruula die Gefahr wieder wahr, in der sie immer noch schwebte. Und die sich in diesem Moment dramatisch steigerte, als der Angreifer sich abstieß und mit erhobenem Messer auf sie zu flog! Aruula wurde davon so überrascht, dass sie zurückzuckte, das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Etwas surrte eigenartig, der Barbar schrie auf, und eine unsichtbare Macht riss ihn mitten im Sprung zurück. Er prallte direkt vor Aruula auf das Floß. Sie reagierte im Affekt, trat mit aller Kraft zu und erwischte ihn an der Hüfte. Er rollte benommen zur Seite und rutschte über die Floßkante ins Wasser. Verwirrt blickte Aruula sich um, suchte nach ihrem unverhofften Retter - und bemerkte plötzlich einen glitzernden Reflex eine Armlänge über sich. Ein durchsichtiges Seil! Das Sonnenlicht fing sich darin und machte es sichtbar! Aruula sprang hoch und griff zu, bevor das Floß daran vorbei war. Die Leine spannte sich an, und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen: Sie verlief von einem Ufer zum anderen quer über den Fluss! »Maddrax...!«, keuchte sie. Kein Zweifel, das konnte nur das Werk ihres Gefährten sein! Neben ihr begann Karyaana zu schreien. Aruula hielt das Seil fest, stemmte ihre Stiefel gegen den Boden des Floßes und blickte zu ihrer Schwester. Über der Kante direkt hinter Karyaana ragten Kopf und Schultern des Mongolen aus dem Wasser. Angst und Hass zugleich verzerrten seine Züge. Seine Linke klammerte sich am Floßrand fest, die rechte Faust hatte sich in Karyaanas Haar verkrallt und zerrte ihren Kopf ins Wasser. »Aruula!«, schrje sie. »Hilf mir...!« Röcheln und Gurgeln erstickten ihre Stimme. Kobajozzi Kanga drückte ihren Kopf unter Wasser.
Aruula zerrte das Seil nach unten und hakte es unter einen der Metallbügel auf der Kunststoff Oberfläche des Floßes. Aus den Augenwinkeln sah sie nun auch Bewegung am linken Ufer. Rufe gellten. Irgendetwas ging dort vor, doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. »Karyaana!« Noch einmal kam der Kopf ihrer Schwester aus den dunklen Fluten hoch. Ihr Gesicht war blau angelaufen, schwallartig ergoss sich Wasser aus ihrem Mund. Aruula dachte nicht mehr, sondern handelte nur noch. Mit einem Sprung war sie bei Kobajozzi Kanga und wollte auf ihn einschlagen, um Karyaana aus seinem Griff zu befreien. Ein Fehler: Als sie ihn erreichte und sich wie eine Furie auf ihn stürzte, löste der Mongole seine Rechte aus Karyaanas Haar, holte aus und traf die Barbarin mit der geballten Faust voll an der Schläfe. Aruula stürzte zur Seite und verlor das Bewusstsein... *** »Mist, verdammter!«, fluchte Matthew, und brüllte laut: »Kommen Sie zurück, Roots!« Meter für Meter entfernte sich Merlin Roots vom Ufer, hangelte sich am Nylonseil entlang zum Floß hinüber. Die Angst um seine Geliebte hatte den schwarzen Kahlkopf schier um den Verstand gebracht. Ohne Vorwarnung war er ins Wasser gesprungen, nur mit seinem Messer bewaffnet. Weder er, Matt, noch Aiko oder Miss Hardy hatten ihn aufhalten können. Matt sah zum Floß hinüber: Aruula und Karyaana lagen dort auf dem Plastikuntergrund und rührten sich nicht. Waren sie bewusstlos? Oder tot? Matt wusste nicht, was in den letzten Sekunden vorgefallen war. Als sich Roots zu seiner Wahnsinnstat entschloss, hatte er alle abgelenkt. Zumindest war es Aruula noch gelungen, das Seil am Floß zu befestigen, bevor
der Mongole Karyaana in seine Gewalt gebracht hatte. Matt setzte den Feldsteeher an die Augen. Noch gut hundert Meter trennten Merlin vom Floß. Der Mongole, der sich wieder auf das Floß gezogen hatte, schrie irgendetwas. Wahrscheinlich drohte er damit, die Frauen zu töten, wenn der Schwarze nicht kehrt machte. Matt sah hinüber ans andere Ufer. Dort stand Mr. Black mit geballten Fäusten und überlegte wahrscheinlich, ob er es Merlin Roots gleichtun sollte. Matt hatte denselben Gedanken. Und im Gegensatz zu Black war er noch fit und ausgeruht. Fast von selbst flogen seine Finger über die Uniformjacke und knöpften sie auf. Aiko, der das Seil hielt, wandte den Kopf. »Was hast du vor, verdammt?! Sind denn hier alle verrückt geworden?« »Root's schafft es nicht allein«, gab Matt zurück und entledigte sich der Stiefel und seiner Armeehose. »Ach - und du glaubst, zu zweit habt ihr mehr Chancen?« »Hiermit schon!«, sagte Matt und wedelte mit dem Driller, bevor er ihn unter den Bund seiner Unterhose schob. »Ich muss nur nahe genug an den Barbaren heran!« »Du bist verrückt!« Matthew Drax beendete die Diskussion, indem er sich mit einem Sprung in die Fluten stürzte und sich, wie Merlin Roots zuvor, am Seil zum Floß hinüber zog. Da er besser trainiert war als der hagere Historiker, kam er ungleich schneller voran. Er fragte sich, wie lange Merlin in dem eiskalten Wasser überleben würde. Diese Frage auch auf sich selbst zu beziehen, verbot ihm sein Verstand. Weil er sich sonst hätte eingestehen müssen, dass es reiner Selbstmord war, den er hier betrieb... *** Hunderttausend Nadeln bohrten sich durch alle Poren bis in sein Knochenmark. Diese Kälte; bei allen Kometen des Systems, diese unglaubliche Kälte! Merlin spürte seinen Körper
kaum noch. Nur seine Finger, die aus dem Wasser ragten und das Seil umfasst hielten, schmerzten wie Feuer. Als hätten sie ein erstaunliches Eigenleben entwickelt, griffen sie nach dem Seil, lösten sich davon, griffen einen Meter weiter, lösten sich, griffen zu. Was auch immer seine Hände steuerte, sein Verstand war es gewiss nicht mehr. So glitt er durch den Fluss. Der Mongole bellte unverständliche Worte heraus. Dann packte er Karyaana, durchtrennte ihre Fesseln mit einem Messer und zerrte sie hoch. Breitbeinig stand er da und hielt die Frau von den Dreizehn Inseln vor sich umklammert. Unter seinem Bart sah Merlin Karyaanas totenbleiches Gesicht, auf dem ihre grauen Haare ein wirres Netz woben. Schlaff hing ihr Kopf auf dem von kleinen Hautwucherungen verunstalteten Unterarm, den ihr der Kerl gegen den Hals drückte. Weniger die Kälte lahmte Merlin auf einmal, sondern der Gedanke, Karyaana könnte bereits tot sein. Aber hätte der Hundesohn sie dann noch als Druckmittel benutzt...? Automatisch hatten Roots' Hände weiter gearbeitet, hatten ihn näher an das Floß heran gebracht. Als die Erkenntnis in seinen Verstand sickerte, dass er damit Karyaanas Leben in Gefahr brachte, und er abrupt innehielt, war es bereits zu spät. Die Muskelstränge an den Unterarmen des Mongolen traten plötzlich hervor. Er richtete sich auf, drückte sein Knie in Karyaanas Rücken und riss gleichzeitig ihren Kopf zurück. Merlin hörte es knacken. Für einen kurzen Augenblick stand die Zeit still. Farben, Geräusche, Nässe, Kälte verblassten, und die ganze Welt hallte von diesem hässlichen, trockenen Knacken wider. Der Mongole ließ Karyaana los. Ihr Körper knallte auf die Kunststoffplattform; seltsam verrenkt blieb er liegen. Und Merlin sah alles wie hinter einem roten Schleier. Ein verwundetes Raubtier war er in diesen Sekunden. Er brüllte wie von Sinnen, packte das Nylonseil und riss sich bis zum Floß durch das Wasser.
*** Matt handelte wie eine Maschine. Rechte Hand lösen, nach rechts fassen, schließen. Linke Hand lösen, nach rechts fassen, schließen. Dazwischen immer wieder Wasser spucken und zum Floß hinüber schauen. Und den Schmerz und die Kälte ignorieren. Noch war er für einen präzisen Schuss zu weit entfernt. Merlin Roots hatte das Floß fast erreicht, als der Mongole Karyaana hochzerrte und sie als Schild benutzte. Als er seinen Arm um ihren Hals legte, begriff Matt sofort, was er beabsichtigte. Doch Merlin Roots schien die Drohgebärde nicht zu begreifen. Unbeirrt strebte er auf das Floß zu - bis Kobajozzi Kanga seinen Griff verstärkte und der Frau das Genick brach! Matt durchfuhr es wie ein Schlag. Obwohl er noch immer zu weit entfernt war, um sicher zu zielen, hakte er seinen linken Arm über das Seil und zog mit der Rechten den Driller aus dem Hosenbund. Und als der Mongole den Leichnam fallen ließ, brachte er die Waffe ins Ziel und drückte ab. In diesem Augenblick erreichte Roots das Floß und versuchte sich hochzuziehen. Das Entsetzen über den Tod seiner Geliebten verlieh ihm neue Kraft. Die plötzliche Schaukelbewegung brachte den Mongolen aus dem Gleichgewicht; er stürzte. Das Explosivgeschoss des Drillers zischte knapp an ihm vorbei und detonierte erst Sekunden später drüben am anderen Ufer. Da hatte sich Merlin bereits auf das Floß gezogen und wie ein Berserker auf den Mongolen gestürzt. Wieder sah Matt keine Möglichkeit zum Schuss. Er biss die Zähne zusammen, steckte den Driller weg und hangelte weiter. ›Bitte lass Aruula noch am Leben sein‹, betete er inständig. Trotz seiner Wut und des Messers hatte der hagere Roots gegen den muskelbepackten Mongolen keine Chance. Ehe er sich versah, stieß ihn der Mongole schon wieder von sich, kniete
auf seiner Brust und seinen Oberarmen, und jetzt schlossen sich seine Hände um Merlins Hals. Ein paar kraftlose Fausthiebe – mehr brachte der unterkühlte und erschöpfte Roots nicht mehr zustande. Nicht eingreifen zu können, war für Matt der größte Albtraum. Er hing jetzt nur noch zehn oder zwölf Meter vor dem Floß, klammerte sich am Seil fest und kämpfte gegen die Strömung an. Stück für Stück zog er sich am Nylontau dem Floß entgegen, während Merlin Roots von dem Mongolen langsam erwürgt wurde. Jedes Mal, wenn der Mann aus der Vergangenheit aus dem Wasser auftauchte, um nach Luft zu schnappen, sah er die Bewegungen des schwarzen Historikers schwächer werden. Und Aruula rührte sich noch immer nicht. Plötzlich war sie wieder da, die Angst, sie bereits verloren zu haben. Doch sie lähmte Matthew nicht, sie mobilisierte seine Kraftreserven. Mit den Beinen stieß er sich im Wasser ab, mit den Händen hangelte er an der Leine entlang. »Wenn du ihr was angetan hast«, presste Matt hervor, »zerreiß dich in Stücke und verfüttere dich an die Fische!« Und endlich, endlich spürten seine Hände den nassen Kunststoff der Plattform. Er ließ das Seil los und packte zu. Der Kopf des Mongolen fuhr herum. Das plötzliche Schwanken des Floßes hatte ihn alarmiert. Ein Blick aus seinen schmalen Augen traf Matt, ein Blick voller Hass. Matthew Drax stützte die Hände aufs Floß und stemmte sich bis zur Hüfte aus dem Wasser. Merlins Gesicht war grau wie Asche, und Aruulas Augen waren geschlossen. Das Knie bekam er nicht mehr auf das Floß, zu schnell war die Reaktion des Mongolen: Er ließ von Merlin ab, sprang auf und schnappte gleichzeitig nach einer Eisenstange, die mitten auf dem Floß lag. Matt warf sich nach rechts. Die Stange verfehlte seinen Kopf traf nur den linken Oberarm. Die Wucht seines eigenen Hiebes brachte den Mongolen so
nahe an den Rand des Floßes, dass Matt mit der Rechten zupacken konnte. Er erwischte ein Hosenbein des Mongolen; krallte die Finger hinein und zerrte mit aller Kraft. Dafür musste er das Floß loslassen, rutschte ab - und zog den Mongolen mit sich in den Porcupine. Beide versanken sie im Wasser, und als sie wieder auftauchten, hatte die starke Strömung sie schon sechs oder sieben Meter vom Floß fortgetrieben. Mit der Linken wollte Matt den Zopf des Barbaren packen, doch sein Arm reagierte nicht. Nur in Gedanken vollzog er die Bewegung - zu wenig, viel zu wenig. Der Schock über seinen gelähmten Arm dauerte nur Bruchteile von Sekunden, doch lange genug für den kampferprobten Mongolen: Sein Faustschlag explodierte an Matts Schläfe. Wenigstens hatte er die Eisenstange verloren. Wieder versank der Mann aus der Vergangenheit in den Fluten. Er spürte die Hände des Gegner erst in seinem Haar, dann an seinem Hals - wie die Stahlbacken eines Schraubstocks packten sie zu. Unter Wasser schlang er die Beine um den Gegner; tastete gleichzeitig nach dem Driller im Hosenbund, umschloss die Waffe und schlug ungezielt zu. Wieder und wieder, so lange, bis die Klammer um seinen Hals sich lockerte... Als er auftauchte, schwamm er in Blutschlieren. Mit dem Gesicht nach unten trieb der Mongole leblos im Wasser. Und das Floß schaukelte schon über zweihundert Meter entfernt in den Wogen, noch immer gehalten vom Nylonseil. Matt spuckte Wasser, keuchte und schnappte nach Luft. Auf dem Rücken ließ er sich auf dem Wasser treiben. Sein linker Arm war wie taub. Die Strömung riss ihn mit sich, als wäre sein Körper weiter nichts als Treibholz. Dann hörte er das Rauschen, und die Erinnerung kehrte mit einem wuchtigen Schlag zurück. Der Wasserfall!
*** Mr. Black gestand es sich ungern ein, aber die Ochsentour, ans diesseitige Ufer zu schwimmen, hatte ihn mehr geschlaucht als er gedacht hatte. Seine Muskeln fühlten sich noch immer an, als wären sie durch eiskalte, spröde Drähte ersetzt worden, und sein Bizeps schmerzte. Aber das war nicht allein der Grund gewesen, warum er vorhin Mr. Roots nicht zur Hilfe gekommen war. Es war ganz einfach eine Frage der Logik gewesen: In seiner Verfassung und ohne weitreichende Waffe hätte er dem Historiker schlicht nicht helfen können. Das hatte dann Commander Drax übernommen und gar nicht mal schlecht gelöst - bis zu jenem Moment zumindest, wo er zusammen mit dem Mongolen in den Fluss gefallen war. Jetzt sah Black seinen blonden Haarschopf etwa hundert Meter unterhalb des Floßes treiben. Von dem Mongolen erkannte er nur noch einen dunklen Schatten, der sich in den Fluten drehte und sich nicht mehr über die Wasseroberfläche erhob. Dieses Problem schien also gelöst. Das nächste stand glasklar vor seinem inneren Auge: Wenn es Matthew Drax nicht aus eigener Kraft ans Ufer schaffte - woran Black der Unterkühlung wegen nicht glauben konnte -, würde er über die Kante des Wasserfalls stürzen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Und er war der Einzige, der das verhindert konnte. Weil er im Gegensatz zum Rest der Truppe am anderen Ufer über das restliche Seil verfügte. Mit fliegenden Fingern wickelte er es auf. Es mochten noch um die hundertfünfzig Meter sein, die er schließlich dicht am Knoten abschnitt. Wieder sah er zum Floß hinüber - und diesmal konnte er eine Bewegung darauf ausmachen! Merlin Roots erhob sich in eine sitzende Position, hielt sich den Hals und schien zu husten. Wenigstens er lebte noch - und konnte sich um die Barbarin
kümmern. Mr. Black trat ans Ufer und formte mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund. »Kümmert euch um die beiden!«, brüllte er aus Leibeskräften zum anderen Ufer hinüber. »Ich rette Drax!« Und er schwenkte das Seil. Aiko Tsuyoshi schien zu begreifen, denn er nickte. Mr. Black verlor keine weitere Zeit. Das zusammengerollte Nylontau über Kopf und Schulter gehängt, spurtete er am Ufer entlang in Richtung Wasserfall. Auf dem schmalen Kiesstreifen kam er schneller voran, als die Strömung Matt Drax' unterkühlten Körper mit sich tragen konnte. Langsam holte er auf. Er konnte nur hoffen, dass die Kälte nicht das Leben aus Drax herauszog, bevor er ihn erreichte. Und dass er selbst noch genügend Kraft aufbringen würde, um seinen wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen... *** Aiko sah Mr. Black laufen und ahnte, was der Running Man vorhatte. Er konnte ihm dabei nicht helfen, denn ohne Sicherung in einen Wasserfall zu schwimmen, würde auch ein Cyborg wie er nicht lebend überstehen. Seine Aufgabe war es, Aruula und Merlin Roots zu bergen. Dass Karyaana ihr Leben gelassen hatte, war unzweifelhaft zu sehen gewesen. Dieser verdammte Mongole...! Ein Zoom seiner Augenimplantate zeigte ihm, dass Roots wieder bei Bewusstsein war. Er hockte nach vorn gebeugt auf dem Floß und verteilte seinen Mageninhalt auf den Plastikunterbau. Aber war er auch ansprechbar? »Mr. Roots!«, brüllte Aiko. Und als der nicht reagierte: »Merlin! Können Sie mich hören?!« Endlich blickte Roots auf. Seine Bewegungen wirkten unendlich müde. »Sie müssen das Seil am Floß festmachen!«, schrie Aiko
weiter. »Damit es sich nicht von selbst lösen kann!«, fügte er sicherheitshalber hinzu. Roots sah sich fahrig um, dann kroch er zur Mitte des Floßes und hantierte dort herum. Aiko konnte nur hoffen, dass er es richtig machte, sonst... aber daran wollte er besser nicht denken. Schließlich nickte Roots; zum Rufen reichten Kraft und Stimme nicht. »Okay!«, brüllte Aiko. »Dann schneiden Sie jetzt das Seil auf der anderen Seite durch!« Er machte eine säbelnde Geste. »Durchschneiden! Aber auf der anderen Seite, nicht auf dieser!« Wieder begriff Roots, rutschte zum jenseitigen Rand des Floßes und setzte sein Messer an. Aiko spürte den Ruck im Seil, als die Verbindung zum anderen Ufer gekappt wurde. Sofort griff die Strömung nach dem Floß und trieb es weiter den Fluss hinunter - nun allerdings in einem weiten Bogen in Richtung Ufer. Es würde nicht lange dauern, bis es - hoffentlich möglichst sanft - etwa hundertzwanzig Meter flussabwärts anlegen würde. Aiko wandte sich zu Honeybutt Hardy um, die inzwischen auf sein Geheiß die Erste-Hilfe-Ausrüstung aus dem Transportpanzer geholt hatte. Sie trug die schwere grüne Tasche an einem Riemen Über der Schulter. »Komm mit!«, wies er sie an und deutete an Fluss hinab. Sie nickte eifrig und folgte ihm. Ihr bewundernder Blick hing ihm unangenehm im Nacken. Aiko war nicht der Typ, der viel Aufhebens um seine Taten machte. Er hatte seine besonderen Kräfte schon immer auch als Verpflichtung gesehen - mit ein Grund, warum er sich der Expedition zum Kratersee überhaupt angeschlossen hatte. Das Timing war perfekt: Sie erreichten das Floß in dem Augenblick, als es knappe fünf Meter vom Ufer entfernt zur Ruhe kam. Hier war die Strömung weit weniger stark, sodass Aiko und Honeybutt problemlos aufentern konnten. Merlin Roots saß mit leerem Blick da und hatte Karyaanas Kopf in seinen Schoß gebettet. Seine sehnigen Hände
streichelten ihr nasses Haar. Sie atmete nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen. Trotzdem legte Aiko seine Finger an ihre Halsschlagader, er fühlte aber keinen Puls. Jetzt zu Aruula. Sie atmete tief und langsam. Aiko hob ihr rechtes Lid: Die Pupille war unnatürlich geweitet. Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Gottseidank nichts Schlimmeres. In ein, zwei Wochen würde sie wieder vollends hergestellt sein. Er sprang zurück ins Wasser. Seine ganze Kraft bot er auf, um das Floß mit den drei Menschen darauf an Land zu ziehen. Honeybutt kramte hauchdünne, aber isolierende Goldfolie aus der Erste-Hilfe-Tasche, half Merlin, die nassen Sachen abzulegen und wickelte ihn darin ein. Auch über Aruula deckte sie eine der Folien, um sie vor Auskühlung zu schützen. Aiko blickte flussabwärts. Längst schon war von Matthew Drax und Mr. Black nichts mehr zu sehen. Sein Verstand wollte ihm weismachen, sie wären längst über die Kante des Wasserfalls in die Tiefe gestürzt und zerschmettert worden, aber die Hoffnung besiegte den düsteren Gedanken. Noch... *** Matt zwang sich zu tiefen Atemzügen. Auf dem Rücken trieb er im Wasser, atmete gegen die Panik an und versuchte den Kopf über dem eiskalten Wasser zu halten. Mit den Beinen trat er Wasser und versuchte dabei auf das Ufer zu zielen, drehte sich aber mehr im Kreis, weil er nur den rechten Arm zum Schwimmen benutzen konnte. Der linke war noch immer wie gelähmt Der Porcupine kam ihm vor wie ein wildes Tier, das sich in ihm verbissen hatte und ihn nicht wieder freigeben wollte. Aber er würde nicht kapitulieren! Vor Wochen erst hatte er sich aus
dem Maul eines wütenden Wals befreit; da konnte ihn dieser Fluss doch nicht schrecken! So versuchte er sich Mut zu machen. Es funktioniert nicht besonders gut... Allmählich spürte er wenigstens wieder den linken Arm, wenn auch nur als klopfenden Schmerz. Aber benutzen konnte er ihn nicht; er gehorchte einfach nicht seinen Willensimpulsen. Gebrochen? Oder hatte der Barbar einen wichtigen Nerv getroffen? Eigentlich war es ja egal, ob er nun mit einem gebrochenen oder nur betäubten Arm den Wasserfall hinunter»Drax!« Jemand rief seinen Namen. Es war nur ein Raunen über dem Rauschen des Wassers. »Drax, hören Sie mich?!« Matt versuchte den Kopf zu heben. Wasser schwappte ihm über die Augen. Doch dann sah er es: Am rechten Ufer rannte Mr. Black. Sprang über Kiesbetten, Treibholz und Steine. Matt fragte sich, wie verdammt noch mal jemand, der eben erst einen breiten Fluss durchschwommen hatte, so schnell laufen konnte. Der Kerl war ein Phänomen. »Sind Sie okay, Drax?!«, brüllte Black, und Matt hob die Hand und reckte den Daumen nach oben - eine überaus lächerliche Geste in seiner Situation. »Versuchen Sie gegenzuhalten - ich hol Sie da raus!«, schallte Blacks Stimme über den Fluss. Die neue Hoffnung spornte Matt an. Schneller und kräftiger stieß er mit den Beinen in den Fluss, ruderte gezielter mit dem unverletzten Arm. Er wollte näher ans Ufer, näher zu Black. Auf einmal merkte er, dass der Running Man ihn längst überholt hatte. Dreißig, vierzig Meter flussabwärts stand er jetzt über einem nicht sehr steilen Felshang und schlang etwas um einen frei stehenden Felsen. In etwa ahnte Matt, was Black vorhatte, und es gab ihm weiter Auftrieb. Noch zwanzig Meter, höchstens fünfundzwanzig, bis er mit Black auf gleicher Höhe
sein würde... Plötzlich sah er die Katzen. Die mutierten Biester sprangen den Hang hinauf, in dem Black vor dem Felsen kniete und das Nylontau verknotete. Zwei der Bestien zählte der Mann aus der Vergangenheit; Black bemerkte sie nicht. »Katzen!«, brüllte Matt. »Da sind Katzen!« *** Er hörte die Stimme dort unten im Rauschen und Brausen des Porcupines, aber was sie gerufen hatte, begriff er erst, als er die Biester sah. Und fast im gleichen Moment griff das erste auch schon an. Black ließ sich auf den Rücken fallen und zog die Beine an. Die erste Wasserkatze, ein dürres, schmutziggraues Tier, prallte mit ausgefahrenen Krallen auf seine Knie. Black klappte die Beine auseinander, sodass der Kopf des Tieres genau vor ihm war. Es krachte grässlich, als seine Faust sie zwischen die Augen traf und ihr den Schädel zerschmetterte. Die zweite Katze, fetter und dunkler als die erste, verharrte drei Schritte vor ihm, sträubte das nasse Fell und duckte sich zum Sprung. Black tastete nach seinem Messer. Das Biest fauchte und wich zurück, als ahnte es, was ihm blühte. Der Running Man holte aus und warf die Klinge. Sie fuhr der Katze in die Brust. Die Bestie überschlug sich und stürzte die Böschung hinab. »Shit!« Black befürchtete das Schlimmste, als er aufsprang und zum Fluss hinunter blickte. Aber es war noch nicht zu spät! Drax, vierzig Meter vom Ufer entfernt, passierte gerade seine Höhe. Black packte das Treibholz, das er ans Ende des Nylonseils gebunden hatte - einen armdicken Ast, nicht ganz einen Meter lang - und schleuderte ihn. Knapp sechs Meter von Matthew Drax entfernt klatschte das Holz ins Wasser. »Schwimm!«, brüllte Black. »Greif dir das Holz!« Doch der
Mann, den er retten wollte, trieb schon mehr als sieben Meter vor dem Ast flussabwärts. Verloren. Tausend Flüche stauten sich in Blacks Kehle. Doch er sparte seinen Atem. So schnell er konnte, holte er das Seil wieder ein, schnitt das Holz ab, löste die Leine vom Felsen ab und spurtete los. Er kletterte die Felsböschung hinauf. Dort oben, etwa elf Meter über dem Flussbett war der Boden ebener, gab es kein Geröll und keine Steigung zu überwinden. Black rannte wie einer, der genau wusste: Wenn er zu spät kam, würde es für immer zu spät sein. Der Gedanke beherrschte ihn, Matthew Drax zu retten, um jeden Preis. Der Mann aus der Vergangenheit - plötzlich erschien er Mr. Black wie ein Anker im Dunkel seiner eigenen Geschichte, wie eine Brücke zu den Wurzeln seiner Biographie. Hatte dieser Mann ihn nicht persönlich gesehen, diesen Präsidenten und ehemaligen Schauspieler, aus dessen Zellkernen sie ihn erschaffen hatten? Black wollte mehr von ihm erfahren. Immerhin war er doch sein Vater, irgendwie. Black achtete nicht mehr auf den Fluss, vergewisserte sich nicht, ob er Matthew Drax schon eingeholt hatte, rannte einfach, wie eine Taratze, hinter der hundert Bogenschützen her waren. Seine Lungen stachen, sein Herzschlag trommelte in der breiten Brust. Bald hörte er es rauschen und donnern. Zuerst glaubte er, es wäre sein eigener Puls und der Strom seines Blutes. Aber schnell merkte er, was da wirklich rauschte und donnerte: der Wasserfall...! Er lief bis dicht an die Böschung heran. Vierzehn, fünfzehn Meter hoch war sie hier. Black blieb stehen, sah nach links und erkannte Matthew Drax' Blondschopf mitten im Fluss, noch etwa hundert Meter entfernt. Ein Blick nach rechts: Nach knapp sechzig Metern stürzte der Porcupine in einer Wand aus Dunst und Schaum in die Tiefe.
Black nahm das Seil von der Schulter. An seinem Unterarm maß er etwa siebzig Meter ab. Nahm er zu wenig, würde er Drax nicht erreichen; nahm er zu viel, würde der Wasserfall ihn schlucken. Ständig wanderte sein Blick zwischen dem Blondschopf im tosenden Fluss und dem Nylonseil hin und her. Schließlich schnitt er das Seil ab, befestigte das Ende an einem Felshaken und trat an die Abbruchkante. Commander Drax war noch etwa vierzig Meter von seiner Höhe entfernt. Der Zeitpunkt war gekommen. Mr. Black band sich die Nylonschnur um die Hüfte, über die Armeehose, die er trug, und trat zehn Schritte von der Steilböschung zurück. Drei Mal atmete er tief durch. Dann nahm er Anlauf, stieß sich ab und sprang. Er schrie, während er durch die Luft flog. Halb um seiner Angst Luft, halb, um Matthew Drax aufmerksam zu machen. Die Beine angezogen, die Knie mit den Armen umklammert schlug er im Wasser auf. Lange Sekunden versank er im tiefen Flussbett. Die Kälte war wie Peitschenhiebe ins Gesicht, der Druck auf den Ohren wie ein Nagel im Trommelfell. Er schwamm gegen das Absinken an, bis er endlich auftauchte. Zwölf Meter vor ihm trieb Matthew Drax. auf dem Rücken. Er benutzte nur einen Arm. Ein Blick zum Wasserfall: noch zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Eine Frage von dreißig oder vierzig Sekunden. Black kraulte schräg gegen die Strömung an; und Matt, der ihn in der reißenden Strömung entdeckte, drehte sich und versuchte ihm entgegen zu schwimmen. Und sie trafen sich! Trafen sich kaum vier Meter vor der Wand aus Donnern, Gischt und Schaum. Black fasste in Matts Haar, riss ihn heran und umklammerte von hinten seinen Brustkasten. Er schaffte es noch, das Seil zu greifen, dann spülte die Strömung sie in den Abgrund. Sie schwangen durch einen Vorhang aus Wasser, scheuerten
über schroffen Stein. Über ihnen verfing sich das Seil im Fels am Rande des Abgrunds. Hart stürzten sie in die Rettungsleine; ein Wunder, dass das Nylonseil dieser Belastung standhielt. Black schrie gequält auf, als es durch den Stoff der Hose hindurch in seine Haut schnitt. Ein paar Mal pendelten sie noch hin und her. Der tosende Wasservorhang ergoss sich jetzt hinter ihnen in die Tiefe, um sie herum war es fast dunkel, und vor ihnen fiel eine zerklüftete Wand steil nach unten, feucht und schwarz. Ihre Füße fanden Halt. Matt vor seinem Körper haltend, stemmte Black sich in den Fels. Eine Zeitlang verharrten sie so. Beide atmeten schwer. »Wir müssen nach rechts!«, brüllte Black gegen das Donnern des Wasserfalls an. »Der Mongole hat meinen linken Arm mit der Stange erwischt!«, schrie Matt. »Ich werde keine große Hilfe sein!« »Trotzdem, wir versuchen es!«, brüllte Black. »Benutz den rechten Arm und such Halt, wo du kannst!« Beide stemmten sie die Beine in die zerklüftete Wand. Stück für Stück arbeiteten sie sich zunächst nach oben, um Seillänge zu gewinnen. Danach kletterten sie nach rechts. Ständig rutschten sie an der nassen Wand ab. Glücklicherweise war der Fels unter dem Wasservorhang aber nicht nur glitschig, sondern auch so zerklüftet, dass ihre nackten Füße dennoch immer wieder Halt fanden. Sie leisteten schier Übermenschliches. Nach fast jedem Meter mussten sie verschnaufen. »Vielleicht komme ich später nicht mehr dazu, es dir zu sagen!«, brüllte Matt irgendwann. »Tut mir Leid, dass ich dich für einen sturen Quadratschädel gehalten habe! Du bist in Ordnung!« Er fühlte sich, als sei er in den Hades gestürzt und suche vergeblich einen Weg zurück ins Leben. »Ich bin ein sturer Quadratschädel!«, brüllte Black zurück. »Und ich werde es bleiben! Liegt wohl an meinen Genen.«
Dabei grinste er. Weiter ging es, Zentimeter für Zentimeter. Jedes Zeitgefühl ging ihnen verloren. Hingen sie eine Stunde oder schon drei im Fels unter dem Wasserfall? Oder einen ganzen Tag? Jedenfalls war es noch hell, als sie endlich am rechten Rand der hinabdonnernden Wassermassen ans Ufer kletterten. Keiner von beiden hatte noch die Kraft, nach dem Stand der Sonne zu schauen oder gar nach den anderen. Nebeneinander sanken sie in Kies und Geröll und blieben dort, liegen, bis es dämmerte... * Ehemaliges Alaska, Anfang September 2518 Sie begruben Karyaana am Ufer des Porcupines im Kies, als sie die Grenze Kanadas hinter sich gelassen hatten. Aruula sang ein Lied ihres Volkes. Ein Lied von der Schönheit der Dreizehn Inseln, von der Erhabenheit des Meeres und vom Freiheitsdurst ihres Volkes. Nachdem sie es gesungen hatte, übersetzte sie es ins Englische. Merlin Roots sagte während der ganzen Zeremonie kein einziges Wort, und er vergoss keine einzige Träne. Sein Gesicht war wie aus Granit gemeißelt, und sein Blick ging in unsichtbare Fernen. Nach der Beerdigung kniete er noch lange vor dem schmucklosen Grab, das sie mit Steinen bedeckt hatten, damit keine Tiere den Leichnam ausgraben konnten. Später stiegen sie in den Panzer und fuhren los. Aruula setzte sich neben den hochgewachsenen Schwarzen auf dessen Koje und ergriff seine Hand. Schweigend saßen sie so beieinander, während der Panzermotor brummte und sie von der wilden Fahrt des Kettengefährts durchgeschüttelt wurden. Überhaupt sprach niemand viel während der ersten Stunden der Weiterfahrt. Aiko hatte sich auf eine der drei übereinander angeordneten Kojen gelegt und versuchte zu regenerieren. Black steuerte den Nixon-Panzer am Lauf des Porcupines entlang
Richtung Westen. Das Gelände neigte sich; ein, zwei Tage noch, dann würden sie Sumpfland erreichen. Matthew Drax saß neben ihm auf dem Navigatorensessel und studierte einige in Plastikfolie eingeschweißte Karten, die er seit Anbeginn der Reise mit sich führte. Darauf zu sehen war in topografischen und radiologischen Ansichten ihr Ziel: der Kratersee in Russland. Eine der Karten deckte einen Teil Alaskas mit ab. Durch die offene Luke zum Transportraum drangen irgendwann Honeybutt Hardys und Aruulas Stimmen zu ihnen ins Fahrerhaus. Sie sangen. Matthew und Mr. Black lauschten. »Sie bringt ihr das Lied von den Dreizehn Inseln bei«, sagte Matt. »Die Stelle mit dem Freiheitsdurst hat Miss Hardy beeindruckt«, meinte Black. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Karte. Matt legte sie neben die Steuerkonsole. Mit dem Zeigefinger fuhr er den Lauf des Porcupines entlang, der in den oberen Rand der Karte hinein ragte. »Hier, kurz vor der Mündung in den Yukon lag zu meiner Zeit ein Fort der USArmy. Fort Yukon. Dorthin sollten wir fahren« Black nickte, und Matt steckte die Karte in die rechte Wadentasche seiner Uniform zurück. Sie schwiegen wieder. Und es war gut zu schweigen und dem Gesang der Frauen zu lauschen. Es musste nichts mehr gesagt werden zwischen dem Anführer der Rebellen und dem Mann aus der Vergangenheit. Matthew Drax wusste jetzt, dass er auf Black bauen konnte; und Black wusste, dass er einen Freund gewonnen hatte. Die Frauen hinten im Transporter sangen lauter. Honeybutt Hardys heller Sopran folgte Aruulas Altstimme fast fehlerfrei. Und auch die Worte der ihr fremden Sprache formte sie ohne zu stocken. Irgendwann fiel sogar Merlin ein. Erst summte er die Melodie mit seinem rollenden Bass, dann sang er einzelne Worte und Sätze. Es klang schräg, und trotzdem - oder gerade deswegen - rührte
es Matt mächtig an. Als er sich nach Merlin Roots umdrehte, sah er, wie ihm die Tränen über das schwarze Gesicht strömten. Endlich. ENDE
Die Heimsuchung von Ronald M. Hohn Auch wenn sie selbst sich keine Gedanken darüber macht: Aruula hat sich in den letzten Wochen dramatisch verändert. Erst der unstillbare Durst, dann die Grünfärbung ihrer Augen und Hände, plötzliche Gelüste, schließlich gar Bewegungen unter ihrer Haut und der grüne Strang, der bereits drei Mal in höchster Not aus ihrem Rachen schoss. Warum erkennt die Kriegerin vom Volk der Dreizehn Inseln nicht, was mit ihr geschieht? Warum hält sie die fortschreitende Verwandlung vor ihren Freunden geheim? Und natürlich: Was steckt dahinter? Der nächste Band gibt die überraschende Antwort auf diese Fragen. Aber manchmal ist alles anders, als es auf den ersten Blick scheint...