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Kriminalroman
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Der Mann Edwin Kischkoweit wird aus dem Zuchthaus ent...
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Kriminalroman
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Der Mann Edwin Kischkoweit wird aus dem Zuchthaus entlassen. Er hat eine langjährige Freiheitsstrafe verbüßt und steht nun an einem Scheideweg. Wird er zurückkehren in den Kreis von notorischen Arbeitsbummlern, Dieben und Hehlern, in dem er vor seiner Verhaftung als sogenannter Boß fungierte? Oder wird er sich hineinzufinden suchen in ein Leben, das Ruhe und Sicherheit bietet, zugleich aber einiges fordert – vor allem moralische Integrität?
Tom Wittgen Der zweite Ring __________________________________________
Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1970 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/11/70 Lektor: Sieglinde Jörn Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM*
1. Edwin Kischkoweit erwachte gegen vier Uhr morgens, wälzte sich auf den Rücken, gähnte und streckte sich, bis die Gelenke knackten. Dann schlug er die Augen auf. Es war stockdunkel in der Zelle, draußen auf dem Gang blieb alles still, keine Schritte, kein Schlüsselklappern, kein Wachtmeister, der „Aufstehen!“ rief. Einen Augenblick lang glaubte Kischkoweit, lebend in einem Grab zu liegen. Er atmete hastig. „Ist was, Eddi?“ Das war die Stimme von Gubisch, der auf der Pritsche unter Kischkoweit schlief. Die Worte löschten das Angstgefühl aus und holten Kischkoweits Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Er atmete tief und stieß die Luft langsam durch den Mund wieder aus. „Bist du krank?“ „Und wie“, sagte Kischkoweit. „Wer aufwacht, bevor der olle Zempe an die Tür wummert, dem ist doch gar nicht mehr zu helfen.“ Gubisch sagte: „Ich wache jeden Morgen auf, eh’ Zempe kommt. Ich muß immer daran denken, wie das sein wird, wenn ich ’rauskomme und nach Waren fahre und den Geldschrank …“ „Die Story kenn’ ich.“ „Mit einer elektrischen Bohrmaschine müßte das klappen.“ Gubisch seufzte. „Dicht neben dem Schloß ansetzen …“ Sein Murmeln wurde leiser, wurde unverständlich. Kischkoweit fröstelte, zog die Decke bis zum Hals, und da er nicht wieder einschlafen konnte, versuchte er, sich an das Datum des anbrechenden Tages zu erinnern. 7
Seit sechs Jahren zählte Edwin Kischkoweit an jedem Morgen die Jahre, die Monate, später die Wochen und die Tage, die ihn noch von der Haftentlassung trennten. Und plötzlich wußte er, daß es ab heute nichts mehr zu zählen gab, denn heute war der 23. Dezember 1959, der Tag seiner Entlassung. Kischkoweit fühlte das Blut zum Herzen strömen. Er knüllte die Schlafdecke in den Fäusten. Leise rief er Gubischs Namen, erhielt aber keine Antwort. Der träumte wohl schon wieder von dem Geldschrank in Waren. Langsam öffnete Kischkoweit die Fäuste und strich die Decke glatt. Dann lag er reglos und starrte Wunschträume in die Dunkelheit. Als erstes sah er ein Fenster, das er öffnen durfte und hinter dem ihm kein Gitter das Stückchen sichtbare Welt in Streifen schnitt. Dann sah er Henny, groß, blond, schlank, voller Temperament und mit einem Leberfleck auf der linken Brust. Henny, die einzige Frau, die in seinem Leben eine Rolle spielte. Kischkoweit hatte in den vergangenen Jahren oft darüber nachgedacht, warum sein Zusammenleben mit Henny so ungetrübt verlaufen war; er mußte vor sich selbst zugeben, daß es Hennys Verdienst gewesen war. Er, Kischkoweit, ein Dickschädel, konnte herrisch sein und sturer als ein Gerichtsvollzieher. Henny dagegen war stets ausgeglichen und heiter gewesen und hatte ihm mit ein paar guten Worten, einem Lächeln, einer Geste die schlechte Laune vertrieben. Sie war dabei von einer entwaffnenden Herzlichkeit, ehrlich, ohne Berechnung. Kischkoweit hatte an ihr geschätzt, daß sie nie mit vorgetäuschter Munterkeit belangloses Zeug schwatzte, das ihn aufheitern sollte und doch nur in Wut gebracht hätte. Er hatte Achtung vor dieser Frau gehabt, denn er spürte in 8
ihrer Ruhe und Nachgiebigkeit nichts Unterwürfiges, sondern eine Überlegenheit, die ihr wahrscheinlich selbst noch nicht bewußt geworden war. Manchmal hatte sich in seine Achtung auch ein wenig Furcht gemischt, sie, die so feinfühlig war, könnte sein doppeltes Spiel durchschauen. Sie machte ihm nie eine Szene, wenn er spätabends oder gar erst gegen Morgen nach Hause kam und ihr erzählte, er habe seine Freunde beim Skatspielen ein wenig ausgenommen. Doch es konnte passieren, daß sie am nächsten oder übernächsten Tag sagte: „Eddi, wenn ich mein Examen als Kindergärtnerin habe, dann bist du dran mit Lernen. Dann machst du deinen Ingenieur und verdienst so viel, daß du deinen Freunden nichts mehr beim Skatspielen abzunehmen brauchst.“ Diese oder ähnliche Worte, leichthin, mit einem Lächeln gesagt, enthielten für Kischkoweit die unaufdringliche Forderung, etwas aus sich zu machen, und die unausgesprochene Frage nach den Nächten, die er angeblich mit Skatspielen verbrachte. Vielleicht hätte es Henny noch erreicht, daß ich zur Abendschule gegangen wäre, dachte Kischkoweit. Doch ganz sicher war er sich da nicht, denn von zwei Wegen, die beide zum gleichen Ziel führten, hatte er stets den gewählt, der kurz war und mühelos, aber mit einem Verbotsschild versehen. Als sie ihn damals um fünf Uhr morgens abgeholt hatten, stand Henny am Fenster, ein Frottiertuch um den nackten Leib gewickelt, die Arme vor der Brust gekreuzt, schweigend. Erst als er schon in Handfesseln an der Tür stand, sagte sie unter Tränen: „Ich habe es gespürt, Eddi, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe auch gespürt, daß ich dich nicht danach fragen durfte. Wenn ich nur bei dir bin und dich nicht verlasse, habe ich gedacht, dann 9
wird es vielleicht gut gehen. Und nun …“ Dann hatte sie die Lippen zusammengepreßt und sich abgewandt. Jetzt hatte Edwin Kischkoweit die Vorstellung, Henny würde, wenn er an diesem Abend nach Hause kam, noch ebenso am Fenster stehen, und er würde ihr Gesicht in die Hände nehmen und ihr sagen können, daß alles ein böser Traum gewesen sei und daß sie nun von vorn anfangen würden, ganz von vorn … Kischkoweit wälzte sich zur Seite. Sicherlich müssen wir von vorn anfangen, dachte er, doch er dachte es mit Unbehagen, denn das bedeutete auch, mit leeren Händen dastehen, sich mühevoll eine Existenz erarbeiten. Das aber paßte keineswegs in das Bild, das er sich von seinem künftigen Leben entworfen hatte. So verdrängte er vorerst den Wunschtraum Henny und ließ aus der Dunkelheit der Zuchthauszelle einen Wagen wachsen, chromblitzend und schnittig, ein Phantasiemodell, das aber sicherlich in ähnlicher Form existierte, denn die Autoindustrie hatte man nicht sechs Jahre lang in einen ziegelroten Backsteinbau gesperrt wie den Autonarr Edwin Kischkoweit. Dann tauchten noch ein Boot und ein Bungalow aus dem Dunkel. Kischkoweit lächelte. Sein kleiner Mund mit den nach unten gezogenen Winkeln verzog sich dabei kaum. Nur die Oberlippe schob sich ein wenig hoch, und um die Augen bildeten sich kleine Fältchen. Als Auto, Boot und Bungalow, kurz: die ganze Fata Morgana der Zukunft wieder zerflossen waren, dachte Kischkoweit: Und wie schaffe ich das, wenn ich doch so „ganz von vorn“ anfangen muß? Arbeiten? Sicherlich werde ich mich anfangs benehmen wie ein Ackergaul unter Zirkuspferden. Und ehe ich wieder auf den neuesten Stand dressiert bin und nach dem neuesten Stand 10
Geld verdiene, vergeht Zeit. Viel zuviel Zeit. Was bleibt noch? Schieben. Schnaps und Kartoffeln. Das ist so aktuell wie eine Rede aus dem Führerhauptquartier. Vorbei. Selbst Buntmetall ist Schnee vom vergangenen Jahr. Und für höhere Werte fehlt mir das Anfangskapital. Was man wohl draußen einem Kraftfahrzeugschlosser zahlt? Die neuen Chromblitzer reparieren, das wäre doch eine Arbeit für mich. Sicherlich sind die Besitzer solcher Kutschen auch mit dem Trinkgeld nicht kleinlich – zumindest nicht denen gegenüber, die ihre Schlitten schnell und fachmännisch aufpolieren. Aber zu denen wirst du nicht so bald gehören, Kischkoweit. Wenn ich bloß eine Arbeit wüßte, die mir so leicht von der Hand ginge wie ein Fenstereinstieg und ein Diebstahl. Stehlen, das ist bei mir wie Autofahren, einmal gelernt, das sitzt für immer. Nur die Pannen … Vielleicht geht’s doch mit Arbeit. Vielleicht … Vielleicht höre ich jetzt auf zu spinnen! Was auf mich zukommt, kann ich damit auch nicht ändern. Kischkoweit wandte den Kopf ein wenig zur Seite und lauschte auf die Atemzüge der Schlafenden. Der kleine Mirisch gab kurze Pfeiftöne von sich, und Kromm schnarchte leise. Morgen höre ich euer Atmen nicht mehr, dachte Kischkoweit, ein wenig später werden mir eure Stimmen aus dem Gedächtnis schwinden, und bald wird es mir schwerfallen, mich an euere Gesichter zu erinnern. Doch vergessen werde ich euch nie. Dieser Mirisch zum Beispiel, ein Mensch, dessen Geist erschlafft war wie eine Wäscheleine, die von jedermann benutzt, aber von keinem nachgespannt wird. Er hatte die Kriegserlebnisse und den Tod seiner Frau noch nicht überwunden, als ihm im Sommer siebenundvierzig die Tochter an Kinderlähmung starb. Die folgenden fünf Jahre bewegte 11
er sich nur zwischen dem Arbeitsplatz und dem Zimmer seiner Mutter, die ans Bett gefesselt war und die er pflegte. Und eines Tages war das für die Mutter und die Nachbarn Unfaßbare ans Licht gekommen: Robert Mirisch hatte sich an Kindern vergangen. Als er abgeholt wurde, fragte er ängstlich, was nun mit ihm geschehen würde. „Kastrieren!“ sagte der Wachtmeister, grinste und schob ihn in den Wagen. Während der Vernehmung saß Mirisch mit gefalteten Händen und beantwortete ehrlich und wortreich jede Frage. Aber dann zog der Oberleutnant ein Messer aus der Schreibtischlade, ein scharfes, vom Schliff glänzendes, vielleicht, weil er sich einen Apfel schälen wollte oder den Bleistift spitzen. Mirisch schrie, sprang auf, stieß den Stuhl um, rannte zur Tür, die verschlossen war, und wieder schrie er. Erst der Staatsanwalt, der im Nebenzimmer den Haftantrag formulierte, konnte ihn zur Ruhe bringen. Er schwor ihm, daß er nicht vorhabe, Mirisch zu entmannen; allerdings würde er ihn für einige Jahre ins Zuchthaus schicken müssen. Und Mirisch atmete auf. Edwin Kischkoweit kannte diese Geschichte wie jeder in der Zelle, aber heute, in der Dunkelheit seines letzten Zuchthausmorgens, lächelte er zum ersten Mal darüber. Aus dem sanftmütigen, dümmlichen Mirisch hatte er sich zwar nie viel gemacht, doch er hatte ihn stets als einen erträglichen Menschen empfunden und in der Zelle geduldet. In der Regel ist es mit Knastbrüdern wie mit Verwandten, dachte Kischkoweit, man kann sie sich nicht aussuchen, sie sind da, und man muß sich mit ihnen abfinden. Edwin Kischkoweit hatte auf diese Regel gepfiffen. Nach 12
zwei, drei Tagen hatte er feste Vorstellungen, wer ihm in der Zelle Gesellschaft leisten durfte und wer zu verschwinden hatte. Verschwinden mußten zwei. Der eine war ein Jüngelchen, blasiert und überheblich, er hatte Sparbücher gefälscht, redete fortwährend vom „qualifizierten Verbrechen“ und redete für Kischkoweits Empfinden überhaupt zuviel. Der andere war ein Geizkragen, nahm von jedem und teilte mit keinem, und Kischkoweit nannte ihn „Hamster“. Am zehnten Abend nach Kischkoweits Einlieferung besaß keiner in der Zelle mehr ein Krümelchen Tabak, außer Hamster. Der hockte auf dem Bettrand, qualmte schon die dritte Zigarette und sah zufrieden aus. Da ging Kischkoweit langsam auf ihn zu, nahm ihm langsam die Zigarette aus dem Mund, sagte beiläufig: „Du miese Lusche“ und knallte ihm die Faust ans Kinn. Hamster verdrehte die Augen, rutschte von der Pritsche und legte sich auf den Fußboden. Kischkoweit ließ die Zigarette rundumgehen. Sie rauchten alle zwei, drei Züge und blickten abwechselnd auf Kischkoweit und auf die miese Lusche, die am Boden lag. Später, als sich Hamster aufrappelte und das Blut von den Mundwinkeln tupfte, sagte Kischkoweit: „Du ziehst um in ein anderes Appartement. Laß dir einen Grund einfallen!“ Hamster fluchte und drohte Kischkoweit mit einer Meldung. Gubisch sagte: „Hier hat noch nie einer gemeldet, wenn er mit dem Kopf versehentlich gegen den Bettpfosten gerannt ist.“ „Meinetwegen werde krank und versuche, ins Krankenzimmer zu kommen, aber verschwinde! Anderenfalls darfst du jeden Abend so schön von der Pritsche rut13
schen.“ Und zu dem Jüngelchen sagte Kischkoweit: „Und du Qualifizierter verschwindest gleich mit.“ Jüngelchen jammerte und beteuerte, es habe nur noch vier Wochen abzusitzen und wolle sich bis dahin schön ruhig verhalten. Hamster nahm die erste beste Gelegenheit wahr, um in einer anderen Zelle unterzukommen. In Kischkoweits Zelle wurden zwei Neue eingewiesen. Die erkannten ebenso wie die übrigen Zellengenossen sehr schnell, daß Kischkoweits Ratschläge Anordnungen waren, die man klugerweise befolgte. Übrigens hatten das vor ihnen auch schon ein paar andere begriffen, einige, denen Kischkoweit begegnet war, als er noch in Freiheit lebte. Kischkoweit hatte es all die Jahre über als ungerecht empfunden, daß man ihm vor Gericht vorwarf, er habe 1950 begonnen, eine Bande zu bilden. Ich habe nur zusammengehalten, was mir zugelaufen ist, dachte er. Und ich habe die Zugelaufenen ihren Fähigkeiten entsprechend arbeiten lassen. Die Unauffälligen, Flinken, die ließ er den Leuten in die Taschen greifen, die technisch Versierten mußten gelegentlich ein Motorrad auseinandernehmen oder ein Schloß aufbrechen. Die Findigen verbargen das Diebesgut, und wer sich zum Feilschen und Schachern eignete, hatte die Ware zuerst auf dem schwarzen Markt, später in Westberlin oder auch im Demokratischen Sektor an den Mann zu bringen. Die schwersten Brüche aber und die Krawallfahrten über die Grenze, um Buntmetall abzusetzen, die habe ich immer selbst besorgt, dachte Kischkoweit. Und wenn ich einen Helfer brauchte, bin ich mit Schattan losgezogen, der besser Scharlatan geheißen hätte. Den hat man voriges Jahr ’rausgelassen. Hoffentlich treffe ich ihn wieder. 14
Von den anderen der ehemaligen Bande wollte sich Kischkoweit fernhalten, denn er wußte nicht, was die einzelnen inzwischen aus sich gemacht hatten. Viel besser kannte er sich da bei seinen Zellengefährten aus. Der schöne Liebing zum Beispiel, der in Westberlin Zuhälterei betrieben hatte und im Demokratischen Sektor als Taschendieb gefaßt worden war, gäbe einen ausgezeichneten Hehler ab. Hans Kromm hatte seine mäßige Intelligenz darauf konzentriert, Verstecke für Diebesgut zu erkunden, und es dabei zu beachtlichen Erfolgen gebracht. Noch immer ließ er die Polizei vergebens nach zwei Pistolen, einem Revolver, etlichen Kilo Buntmetall und einem Ballen Stoff suchen. Gubisch hatte noch einige Zeit abzusitzen, in der er seinen Traum nähren würde, einmal einen Panzerschrank zu knacken. Diese Beharrlichkeit imponierte Kischkoweit, zumal Gubisch keinem Phantasiegebilde nachjagte, sondern an den ganz bestimmten Panzerschrank eines bestimmten Betriebes in einer bestimmten Stadt dachte. Schattan, Gubisch, Kromm und Liebing – Diebe, Hehler, Zuhälter. Eine makabre Gesellschaft, aber Kischkoweits einzige Freunde. Den Gedanken, daß er Gelegenheit gehabt hatte und wieder haben würde, sich einen anderen Freundeskreis zu schaffen, schob er von sich wie einen Schuldschein, dessen Begleichung niemand von ihm forderte. Und Henny? Würde ihn Henny nach dieser Enttäuschung wieder aufnehmen? Kischkoweit fürchtete, ihren Namen zu rufen, knüllte ein Stück Schlafdecke zusammen und schob es in den Mund. Warum nur hatte er sechs Jahre lang immerzu an Henny gedacht? Nach zwei Jahren war die Post von ihr 15
ausgeblieben, und er hatte sich trotzdem noch vier Jahre lang nach ihr gesehnt. Sie waren nicht einmal verheiratet gewesen, doch für ihn gehörte sie zu den Dingen, die er wiederhaben mußte, wenn er herauskam, die einfach noch dazusein hatten. Wenn ich Henny finde, wird alles gut, dachte Kischkoweit. Ich werde arbeiten, als Schlosser, als Kraftfahrer, ich werde auch zur Abendschule gehen, wenn sie es immer noch will, aber ich werde arbeiten. Henny soll sich nicht schämen müssen, wenn sie Kischkoweit heißt. Aber wenn ich Henny nicht finde? Angst kroch in Kischkoweit hoch. Angst vor dem Leben von morgen, für das es keine neben die Tür geheftete Tagesordnung gab. Was wird aus mir, wenn ich Henny nicht finde? Sie ist fort, dachte er verzweifelt. Sie hat vielleicht einen anderen Mann geheiratet. Ich habe sie zu sehr belogen und erniedrigt mit meinem Doppelleben. Nun sorgt und kümmert sie sich nicht mehr um mich. Was aus mir wird, ist ihr gleichgültig, und sie läßt sich von mir auch nicht mehr zum Bett tragen, so, wie ich es mir in ungezählten Nächten vorgestellt habe. Und plötzlich wünschte sich der Strafgefangene Kischkoweit, heute möge noch nicht der dreiundzwanzigste Dezember, der Tag seiner Entlassung sein. Diesen Tag sollte es seinetwegen nie geben. Es sollte überhaupt nicht mehr Tag werden, nur Dunkelheit sollte sein und Traum. Ich dreh’ durch, sagte sich Kischkoweit. Viele drehten durch am letzten Tag. Er kannte das. Wenn die anderen wüßten, daß ich jetzt auch soweit bin! Und ohne Zusammenhang dachte er: Wer das wohl sein mag, den sie geheiratet hat? Wer schon – Hypko natürlich, Eberhard Hypko, dessen Blick man nicht immer standhalten konn16
te, weil er ehrlich war und stets Ehrlichkeit forderte. Hardy Hypko, der Mann, der aussieht wie einer, dem man vertrauen kann. Hypko hatte damals viel Größe gezeigt, als sich Henny, die er ebenfalls liebte, für Kischkoweit entschied. Von diesem Hypko ging Ruhe aus und ein Gefühl der Sicherheit, genau das also, was Henny wahrscheinlich bei mir vermißt hat, dachte Kischkoweit. Und dann kam ihm der Gedanke, zu Hypko zu gehen, wenn er entlassen war. Der stellt mich wieder auf die Beine! Der hat mich jedesmal auf die Beine gestellt, wenn ich mit dem Kopf im Sand steckte. Wenn er bloß Henny nicht geheiratet hat! Zu Fred könnte ich auch gehen. Er ist zwar nur mein Stiefbruder, aber er hat mir sechs Jahre lang geschrieben, als hätte ich nicht im Knast gelebt, sondern im Sanatorium. Manchmal hat er sich ja ein bißchen hochtrabend ausgedrückt. Ingenieur sei er geworden, schreibt er, und er würde immer für mich da sein, wenn ich ihn brauchte. Nur – ich brauche nicht gern jemand! Edwin Kischkoweit bittet um Geld, Bett und Vergebung. Scheißleben! Dann schon lieber Schattan. Mit dem würde es anders vorangehen. Kischkoweit zuckte zusammen. Der Wachtmeister riß die Tür auf, rief: „Aufstehen!“ und „Strafgefangener Kischkoweit, fertigmachen zum Entlassungsgespräch!“ Gubisch gähnte. „Menschenskind, Kischkoweit müßte man heißen, ’raus aus dem Bau, Werkzeug schnappen, Fahrkarte nach Waren, ’rin ins Büro, ’ran an den Panzerschrank, Geld ’raus …“ „… und wieder ’rin ins Kittchen“, ergänzte Liebing boshaft. „Schaffst du alles an einem Tag.“ Edwin Kischkoweit schwang sich von der Pritsche und 17
dachte: Der Gubisch, der hat es mal leichter als ich, der hat ein Ziel und marschiert drauflos. Aber ich steh’ am Kreuzweg. Fred und Eberhard Hypko auf der einen, Schattan und Konsorten auf der anderen Seite. Und wo finde ich Henny?
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2. Frau Lydia Atting war eine korpulente Mittsechzigerin, die nach dem Motto „Wer rastet, der rostet“ auch im Rentenalter den Müßiggang verachtete und deshalb in der Konsumverkaufsstelle Petershagen als Hilfskraft arbeitete. Am 1. September 1960, kurz vor Ladenschluß, traf im Konsum eine Lieferung, bestehend aus Fleisch, Butter und zehn Büchsen Ölsardinen, ein. Fleisch und Butter waren für die Schulspeisung bestimmt. Der Konsum hatte an diesem Tag einen zusätzlichen Kühlschrank erhalten, um die Lebensmittel nachtsüber frisch halten zu können. Die alte Atting hatte Fräulein Borisch helfen wollen, Fleisch und Butter in den Kühlschrank zu packen. Als sie jedoch die Unruhe der Verkäuferin bemerkte – es war fünf Minuten vor sieben, und Fräulein Borisch pflegte fünf nach sieben ein Rendezvous zu haben –, schickte sie das Mädchen weg und füllte den Kühlschrank allein. Aber hatte sie ihn dann auch eingeschaltet? Sie war nach Strausberg gefahren, um mit ihrem Bruder Geburtstag zu feiern, und hatte sich durch des Bruders Worte, daß im Wein die Wahrheit liege, verleiten lassen, den Wein recht gründlich auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ob sie jedoch den Kühlschrank eingeschaltet hatte, war ihr auch nach dem vierten Glas Wein noch nicht eingefallen, und sie beschloß, die Wahrheit lieber auf dem Nachhauseweg an Ort und Stelle herauszufinden. Die Schlüssel zum Verkaufsraum lagen in ihrer Handtasche. Gegen Mitternacht verließ Frau Atting das S-Bahn19
Gelände in Petershagen und lief in leichten Kurven, aber noch zielstrebig die Dorfstraße hinunter. Es war eine dunkle und windige Nacht, und die Rentnerin, die eigentlich eine furchtsame Natur war, hätte sich um diese Zeit wohl kaum in die vereinsamten Räume der Verkaufsstelle gewagt, wenn sie nicht vorher Alkohol genossen hätte. Doch der Wein machte sie nahezu verwegen. An der Tür der Verkaufsstelle stieß sie den Schlüssel ins Schloß, öffnete und tastete nach dem Lichtschalter. Sie drückte ihn vergeblich. Die Kaufhalle blieb im Dunkeln. Nur der Mond goß fahles Licht durch die Fenster, wenn der Wind die Wolkendecke zerriß. Frau Attings weinumnebeltes Gehirn fand für das Versagen der Lichtanlage keine andere Erklärung, als daß eine Glühbirne ausgefallen sein mußte. Ihr kam weder in den Sinn, daß die Verkaufshalle nicht dunkel bleiben konnte, wenn nur eine einzige Glühbirne ausgefallen war, noch gelangte sie zu der Erkenntnis, daß die gesamte Stromanlage beschädigt sei oder die Sicherungen herausgedreht sein könnten. Frau Atting war von dem Gedanken beherrscht, sich Gewißheit über den Zustand des Kühlschrankes zu verschaffen, und da sie in der Verkaufshalle jeden Tisch, jedes Regal, den Standort jedes Nudelpaketes kannte, tastete sie sich mit Leichtigkeit an ihr Ziel heran. Doch plötzlich glitt ihr Fuß auf etwas widerlich Schlüpfrigem aus. Haltsuchend griff sie um sich und erhaschte ein Päckchen Salz, das sie noch im Fallen umklammert hielt. Sie wimmerte, als sie auf dem Boden aufschlug, und rieb den schmerzenden Fußknöchel. Dann zwang sie sich, ihre nächste Umgebung mit Blicken abzusuchen. Da wieder dichte Wolken vor dem Mond lagerten, konnte sie die Gegenstände um sich herum nur undeutlich erkennen, doch eines wußte sie mit Sicherheit: sie war ge20
nau vor dem Kühlschrank hingefallen. Als sie den Arm ausstreckte, stieß sie gegen einen harten, beweglichen Gegenstand. Die Tür des Kühlschrankes stand offen! Frau Atting schob sich vor Verwunderung, Neugier, aber auch vor Schmerz stöhnend, näher an den Schrank heran, um nach dem Inhalt zu tasten. Richtig, an der Seite war die Butter, daneben mußte das Fleisch liegen. Sie griff danach – und berührte den Rücken einer knochigen Hand. Der Schreck erstickte ihren Schrei in der Kehle, machte sie jeder Bewegung unfähig. In diesem Moment gleißte der Mondschein wieder durch die Fenster, und Frau Atting starrte in seinem bleichen Licht in eine abscheuliche, grinsende Fratze. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte die Frau zusammen. In der dritten Morgenstunde wurde dem Dauerdienst des VP-Kreisamtes Strausberg, Abteilung Kriminalpolizei, dieser sonderbare nächtliche Vorfall gemeldet. Frau Atting, die erst nach zwei Stunden wieder fähig gewesen war, den Raum zu verlassen, hatte sich ins Wohnhaus zu Herrn Kramer geschleppt. Herr Kramer war Verkaufsstellenleiter des Konsums. Frau Atting hatte einen Schock erlitten, weinte und schüttelte sich wie im Fieber, und sie kam nicht zurecht mit dem, was sie erlebt hatte. Die Hand, gegen die sie gestoßen war, müsse einem Toten gehört haben, beteuerte sie, so kalt und knochig sei sie gewesen. Aber das Gesicht, das hätte gelebt, nur … es sei nicht das Gesicht eines Menschen gewesen. Frau Kramer bettete sie auf eine Couch, gab ihr zwei leichte Schlaftabletten, und während Frau Atting ruhig und müde wurde, lief der Verkaufsstellenleiter zur Polizei. 21
Leutnant Meinhardt, der Nachtdienst hatte, telefonierte sofort nach seinen Mitarbeitern und stellte in Rekordzeit eine Untersuchungsgruppe zusammen; sie bestand aus drei Männern und einem Fährtenhund. Er forderte einen Wagen an, mit dem die Kriminalisten abgeholt werden sollten. Der Leutnant blieb lauschend am Fenster stehen, bis er den Fahrer ins Auto springen und, kaum daß die Tür geschlossen war, die Straße hinunterfegen hörte. Dann trat er ins Zimmer zurück, holte aus seinem Schreibtisch eine rotköpfige Stecknadel und spießte sie auf der großen Landkarte, die an der Wand hing, beim Ort Petershagen ein, ungefähr in der Mitte der Triftstraße. Minuten später kreischten in ebendieser Triftstraße die Bremsen des Polizeiautos. Vor der Verkaufshalle lungerten trotz der frühen Morgenstunde etliche Schaulustige herum und starrten den drei Kriminalisten entgegen, die mit dem Hund an der Leine auf sie zukamen. „Was für ein schönes Tier!“ rief eine schlanke Rothaarige, lächelte kokett und wiegte sich ein wenig in den Hüften. Der kleinste der drei Kriminalisten blieb vor den Leuten stehen und sagte: „Ich bin Oberleutnant Hypko. Wissen Sie etwas über den Einbruch? Haben Sie etwas beobachtet?“ Und als ihm niemand antwortete, fuhr er fort: „Das hier ist kein Nachtkabarett. Gehen Sie nach Hause, wenn Sie uns nichts erzählen können.“ „Ich bleibe aber“, beharrte die Rothaarige, lehnte sich betont lässig gegen das Schaufenster, bemüht, ihre Figur zur Geltung zu bringen. „Ich bin nämlich hier Verkäuferin. Und außerdem hat mich heute so’n Individuum angequatscht. Vielleicht war das der Verbrecher.“ Hypko musterte sie und fand, daß ihr Äußeres einige 22
Blicke wert war. Er sagte: „Wenn Sie so anziehend auf Verbrecher wirken, sollten Sie lieber nicht Verkäuferin sein.“ Sie bekam große runde Augen und verhaspelte sich beim Sprechen. „So was Unhöfliches! Da will man helfen … Na, ich kann ja gehen.“ „Gute Nacht“, sagte Hypko und wußte, daß sie bleiben würde. Dieser Typ blieb immer. Er wandte sich um, entdeckte vor dem Eingang seinen Hundeführer und den Kriminaltechniker im Gespräch mit dem Abschnittsbevollmächtigten und einem Mann, der sich als Verkaufsstellenleiter Kramer vorstellte. Kramer hielt ihm ein Schlüsselbund entgegen und rief: „Na, da sehen Sie sich die Bescherung mal an!“ Der Oberleutnant ließ den Lichtstrahl seiner starken Taschenlampe durch den dämmrigen Verkaufsraum gleiten. „Nur angucken“, sagte er zu seinen Mitarbeitern. „Nur schön gründlich angucken.“ Er stellte sich mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen neben die Tür. Die Verkaufshalle sah aus, als sei sie von einem Erdbeben erschüttert worden: Eine Milchkanne lag umgekippt im Raum, in der weißen Lache schwammen Sternchennudeln, Makkaroni, kleine Päckchen Erbsensuppe und Erwa-Brühwürfel. Mehl, Zucker, Grieß, Puddingpulver waren aus den Regalen gerissen worden und lagen zwischen den Scherben zertrümmerter Bierflaschen. In der Abteilung für Fleisch und Wurstwaren hingen an den schweren Fleischerhaken nur noch Wurstzipfel. Die abgeschnittenen Würste lagen auf der Erde und waren mit einer dünnen Schicht Waschpulver bedeckt. Oberleutnant Hypko ließ seinen Blick lange und gründlich durch den ganzen Raum gleiten. Er versuchte, 23
sich in dieser sinnlosen Verwüstung möglichst viele Einzelheiten einzuprägen. Der Verkaufsstellenleiter seufzte und sagte: „Ich möchte nur wissen, ob sie die Ölsardinen gefunden haben!“ Hypko, der mit ausgebreiteten Armen wie ein Verkehrspolizist im Türrahmen stand, drehte sich ein wenig nach Herrn Kramer um, machte große Augen und fragte: „Ob sie was gefunden haben?“ „Die Ölsardinen“, wiederholte Herr Kramer und betonte jede Silbe. „Zehn Büchsen Ölsardinen! Gestern kurz vor Ladenschluß geliefert. Am Wurststand ist unterm Verkaufstisch ein verschließbares Fach, dort hatte ich sie deponiert.“ Eberhard Hypko ließ die Arme sinken. „Na, dann wollen wir mal!“ Ohne viel Worte zu machen, gingen sie an die Arbeit. Der Hundeführer lief mit dem Fährtenhund die Umgebung der Verkaufsstelle ab, der Kriminaltechniker fotografierte den verwüsteten Verkaufsraum, und Hypko versuchte, den Einstiegsweg zu ermitteln. Nach einer reichlichen Stunde Arbeit ergab sich folgendes Bild: Die Einbrecher waren durch das offene Fenster der Personaltoilette geklettert und hatten drei Türen mit Sperrhaken geöffnet, um in den Verkaufsraum zu gelangen. Dort hatten sie Lebensmittel gestohlen und die Verwüstungen angerichtet. Als Frau Atting, die auf einem zerplatzten Ei ausgerutscht war, bewußtlos am Boden lag, hatten die Einbrecher den Konsum wahrscheinlich durch die Tür, die von Frau Atting geöffnet worden war, wieder verlassen. Oberleutnant Hypko trat aus der Halle und sagte zu Herrn Kramer: „Wenn der Kriminaltechniker heraus24
kommt, sind Sie an der Reihe. Versuchen Sie Ordnung zu schaffen, und schreiben Sie mir auf, was gestohlen und was vernichtet wurde. Vergessen Sie nicht, den Wert der Waren anzugeben.“ Herr Kramer nickte und wies mit einer Kopfbewegung zum Schaufenster. Dort stand noch immer die Rothaarige und redete mit zwei jungen Frauen auf den Abschnittsbevollmächtigten ein. „Das sind meine drei Verkäuferinnen. Sie wollten absolut nicht nach Hause gehen.“ „Prima“, sagte Hypko. „Mit dem Personal können Sie mühelos eine Nachtverkaufsstelle einrichten.“ Dann ging er zu der Gruppe am Schaufenster und wandte sich an die Rotblonde. „Sie sind ja schon wieder da.“ Er zog die Stirn in Falten und blickte sie halb belustigt, halb vorwurfsvoll an. „Noch“, sagte sie. „Ich bin noch da. Und Sie sollten mich nicht wie ein Schulmädchen behandeln.“ „Stimmt, Sie sehen wirklich nicht aus, als ob Sie wie ein Schulmädchen behandelt sein wollten. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Borisch“, sagte sie. „Gisela Borisch.“ „Und was hat es mit dem ‚Individuum‘ auf sich, Fräulein Borisch, von dem Sie mir vorhin erzählen wollten?“ „Mich hat gestern auf dem Nachhauseweg einer angepöbelt. Rotfuchs hat er mich genannt und gesagt, ich gehöre in eine Pelztierfarm und nicht in den Petershagener Konsum. Wissen Sie, wer so mit Mädchen umgeht, der stiehlt auch.“ „Beschreiben Sie den Burschen mal.“ „Beschreiben?“ Sie schien verblüfft. „Ja, erzählen, wie er ausgesehen hat: Statur, Kleidung, Haarfarbe, Gesichtsschnitt, ungefähres Alter.“ Sie dachte nach, und Hypko merkte, daß Denken für 25
sie eine Anstrengung war. Das Ergebnis stand dann auch in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Sie brachte eine Beschreibung zusammen, die auf jeden dritten zwanzigjährigen Burschen gepaßt hätte. „Wann haben Sie gestern die Verkaufsstelle verlassen?“ fragte Hypko. „Kurz vor neunzehn Uhr. Frau Atting hatte gesagt, ich darf gehen.“ „Und warum sind Sie nicht bis neunzehn Uhr geblieben?“ Sie zauberte sich ein kokettes Lächeln ins Gesicht. „Ich war mit Eddi verabredet.“ „Hat Ihr Eddi gesehen, daß Sie von einem Fremden belästigt wurden?“ „Von wegen! Eddi hätte Hackfleisch aus dem gemacht.“ Sie kniff die Augen zu einem Spalt zusammen und musterte Hypko. „Eddi ist nämlich nicht gerade ’ne mickrige Gestalt. Ihnen zum Beispiel kann der glattweg übern Kopf spucken.“ „Wie schön für ihn“, sagte Hypko. „Kommt er manchmal in die Verkaufsstelle?“ „Nein. Wir sehen uns nur nach Feierabend. Er kommt aus Neuenhagen ’rüber.“ „Fragt er Sie manchmal nach den Einrichtungen im Konsum oder nach den Lieferungen, die Sie erhalten?“ Sie trat einen Schritt von Hypko zurück und fauchte ihn an wie eine wütende Katze. Was ihm einfiele, solche Fragen zu stellen? Das klänge ja, als ob der Eddi hier im Konsum … Hypko hörte einige Augenblicke lang nicht zu. Der Name Eddi, der so ein großer Kerl war, daß er ihm über den Kopf spucken konnte, und der Ort Neuenhagen zwangen ihm Erinnerungen auf. Er drängte sie zurück 26
und fragte in das Geschimpfe hinein: „Also, haben Sie ihm nun vom Konsum erzählt oder nicht?“ „Nein!“ rief sie. „Nein!“ Es klang hysterisch, und Hypko nahm an, daß sie log. Er ließ sie stehen, wandte sich dem Abschnittsbevollmächtigten, Herrn Kramer und den beiden anderen Verkäuferinnen zu und fragte sie nach Jugendlichen oder auch älteren Personen, die sich kürzlich länger als notwendig in der Verkaufsstelle aufgehalten hatten, nach neuen Kunden und nach Besonderheiten, die sie in den letzten Tagen wahrgenommen hatten. Der Abschnittsbevollmächtigte notierte etwas auf einem Zettel und drückte ihn Hypko in die Hand. Herr Kramer sprach von einer Frau, die für ihren kleinen Haushalt vier Stück Butter kaufte. „Die Hälfte davon wird über die Grenze gehen“, vermutete er. Außerdem seien die Elektriker dagewesen, sie hätten in den hinteren Räumen gearbeitet, durch die die Täter eingedrungen waren. Und vor zwei Tagen habe ihn ein dicker, cholerischer Mann „Ladenschwengel“ geschimpft, weil er, Kramer, morgens um acht auf einen Hundertmarkschein noch nicht herausgeben konnte. Die eine Verkäuferin war von zwei Burschen beleidigt worden, die nach Ladenschluß unbedingt noch Zigaretten haben wollten. Ein alleinstehender Vater hatte Fräulein Müller, der zweiten Verkäuferin, eröffnet, er werde ihr sein Baby auf den Ladentisch legen, falls sie nochmals vergäße, für ihn Milch zurückzustellen. Oberleutnant Hypko war ein guter Zuhörer. Seine freundliche, erwartungsvolle Miene gab jedem das Gefühl, etwas Wichtiges mitzuteilen. Dabei sortierte er schon beim Hören das Geschwätz von den Hinweisen, 27
die es zu überprüfen galt. Vor allem interessierten ihn die Namen, die der Abschnittsbevollmächtigte notiert und mit Bemerkungen wie „als Rowdy aufgefallen“, „lebt über seine Verhältnisse“ versehen hatte. Bemerkenswert schien ihm auch der Hinweis auf die Elektriker zu sein und der Verdacht, Fräulein Borisch, die hübsche Kratzbürste, könne ihrem Freund Eddi mehr über die Verkaufsstelle erzählt haben, als der zu wissen brauchte. Er sah sich nach dem Mädchen um. Sie hatte sich beruhigt, lehnte wieder am Schaufenster und konzentrierte sich darauf, ihre Figur zur Geltung zu bringen. Hypko trat zu ihr und fragte leise, so daß es die anderen nicht hören konnten: „Fräulein Borisch, wie heißt denn Ihr Freund mit Nachnamen?“ „Was weiß denn ich!“ Das klang zu spitz und zu burschikos, als daß es über ihre Verlegenheit hätte hinwegtäuschen können. „Er hat sich als Eddi vorgestellt, und mir genügt das.“ Diesmal glaubte ihr Hypko. Er fragte: „Seit wann kennen Sie ihn denn?“ Sie bekam runde Augen und wurde wieder kratzbürstig. „Sie tun, als seien Sie von der Sitte. Vorige Woche habe ich ihn kennengelernt, im ‚Fernfahrer‘, einer Gaststätte am Ortsausgang von Neuenhagen. Sind Sie damit zufrieden?“ „Vorläufig“, sagte Hypko. „Ich danke Ihnen auch schön.“ Der Kriminaltechniker trat aus der Tür und rief Oberleutnant Hypko zu, er sei fertig, das Verkaufspersonal könne jetzt hineingehen. „Na, dann an die Arbeit“, sagte Hypko zu Herrn Kramer und den Verkäuferinnen. „Übrigens, die Ölsardinen sind weg.“ 28
„Weg? Die Ölsardinen weg?“ „Ich habe Friedhelm Ölsardinen auf Toast versprochen“, jammerte Fräulein Müller. „Der läßt mich sitzen, wenn ich ihn enttäusche.“ „Superschufte! Ölsardinen klauen!“ „Ich verstehe Ihren Schmerz, meine Damen“, sagte Hypko. „Trösten Sie sich mit der Vorstellung, Sie seien Käufer und die Verkäuferinnen hätten die schönen norwegischen Ölsardinen bereits unter sich aufgeteilt, ehe Sie auch nur den Laden betreten konnten.“ Das Geschnatter verstummte. In die peinliche Stille hinein sagte die Rothaarige: „Was verstehen Sie denn von unserer Arbeit! Wenn wir zehn Büchsen Ölsardinen auf den Ladentisch gestellt hätten, wäre spätestens heute Nachmittag Ihre Mordkommission fällig gewesen!“ Sie gingen lachend zur Tür, aber als sie den Raum betraten, blieb ihnen das Lachen im Halse stecken. Eine Woche nach dem Einbruch im Petershagener Konsum hatte Oberleutnant Hypko Nachtdienst. Er lag in seinem Dienstzimmer auf einer Pritsche, grinste das Telefon an, das seit zwei Stunden nicht geklingelt hatte, und verfiel schließlich ins Grübeln. Seine Gedanken kreisten um die Frage nach den Tätern, die den Konsum verwüstet hatten. Sollten es Jugendliche gewesen sein? Nach einem Dummenjungenstreich hatte die Verkaufsstelle eigentlich nicht ausgesehen. Vielleicht waren es Einbrecher gewesen, die die Polizei irreführen und auf die Spur jugendlicher Rowdys lenken wollten. Es konnte aber auch jemand getan haben, der einen unbändigen Haß in sich trug: auf die Menschen, auf die Arbeit, auf das Leben schlechthin. Ein Menschenfeind. Hypko stellte sich noch einmal den verwüsteten Verkaufsraum vor, und die 29
zuletzt erwogene Version erschien ihm am realsten. Aber sie half ihm in seinen Ermittlungen auch nicht weiter. Er hatte die nötigen Routinearbeiten mit der ihm eigenen Sorgfalt längst hinter sich gebracht, hatte die Elektriker überprüft, die vor Wochen im Konsum eine Leitung installiert hatten. Auch den paar Rowdys, die in der Umgebung lebten, ließ sich der Einbruch nicht nachweisen. Hypko mußte sich eingestehen, daß er mit seinen Ermittlungen auf dem berühmten toten Punkt angelangt war. Sollte er noch nach diesem Eddi forschen, der angeblich in Neuenhagen wohnte und seine Abende im „Fernfahrer“ zu verbringen schien? Aber warum eigentlich? Weil er der Freund dieser kratzbürstigen Sexbombe war? Die dritte Verkäuferin hatte ebenfalls einen Freund, Fräulein Müller war in festen Händen, und auch der Verkaufsstellenleiter hatte eine Familie, der er sicherlich dieses und jenes von seiner Arbeitsstelle erzählte. Niemand wäre mit Hypko einverstanden gewesen, wenn er all diese Leute hätte überprüfen wollen. Es half nichts, sich etwas vorzumachen. Im Grunde genommen war ihm längst klar, warum er diesen Eddi, dessen Nachnamen er nicht kannte, aufspüren wollte. Einer, der Eddi hieß, war sein Jugendfreund gewesen, ein großer, breitschultriger Junge mit kräftiger Nase, schmalen Lippen und leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln. Ein Kerl, der aussah wie ein Draufgänger und der auch einer war. Damals, 1945, hatte Eberhard Hypko so einen Kerl als Freund gebraucht, einen, der das Leben nahm, wie es sich anbot, der es anpackte und in die Knie zwang. An einem Kerl wie Edwin Kischkoweit hatte sich der kleine Eberhard Hypko, für den soeben eine Welt zusammengebrochen war, aufrichten können. Eddi mußte 30
seine Lebensuntüchtigkeit gespürt haben, er hatte ihn durch die schwerste Zeit hindurchgeschleppt. Und das hatte ihm Eberhard Hypko nie vergessen.
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3. Der Erfolg eines Kriminalisten kann unter anderem davon abhängen, daß er Zufälle zu nutzen weiß. Oberleutnant Hypko sah im Zufall nie eine sinnlose Gegebenheit, er versuchte stets, ihn als Glied einer Kette logischen Geschehens zu erkennen. Auch, wenn es dabei um. Kleinigkeiten ging. Eines Morgens, Hypko war aus dienstlichen Gründen nach Fredersdorf gerufen worden, begegnete er einer Frau, die einen Mülleimer hinter das Haus trug. Obenauf lagen drei Büchsen norwegische Ölsardinen. Dem Etikett nach mußte es die Sorte sein, von der vor drei Wochen aus dem Petershagener Konsum zehn Büchsen gestohlen worden waren. Auf Hypkos Frage nach der Herkunft der Konserven erzählte die Frau bereitwillig, wenn auch verwundert, daß ihre Tochter Anne am vergangenen Abend Geburtstag gefeiert und unter anderem zwei Dosen Ölsardinen von ihrem Freund Erich Kloge aus Strausberg geschenkt bekommen habe. Die dritte Büchse hätte Herr Kloge schon vor zwei Wochen mitgebracht, man hatte sie für die Geburtstagsfeier aufgehoben. Die Frau äußerte sich noch unwillig über die schlechte Warenverteilung; während es in Strausberg des öfteren Raritäten zu kaufen gäbe, schienen die Verkaufsstellen in Fredersdorf aus dem Lieferplan der GHG gestrichen zu sein. Oberleutnant Hypko bedankte sich bei der Frau, die sich ihm als Elisabeth Heister vorgestellt hatte, und ging seinen dienstlichen Obliegenheiten nach. Nebenbei aber erkundigte er sich, wann man in Strausberg zuletzt nor32
wegische Ölsardinen verkauft hatte, und er erfuhr, daß dies in den vergangenen vier Wochen auf keinen Fall geschehen war. Jemand riet ihm sogar, sich bei dem ältesten Einwohner von Strausberg zu erkundigen, vielleicht könne der sich an ein solches Ereignis aus seiner Jugendzeit erinnern. In den nächsten Tagen zog Oberleutnant Hypko Erkundigungen über Erich Kloge ein. Es stellte sich heraus, daß Kloge keinen Beruf erlernt hatte, die Arbeitsplätze häufig wechselte und zeitweilig auch ohne Arbeit lebte. Trotzdem ging er gut gekleidet, rauchte teure Zigaretten und fuhr eine Awo-Sport. Er lebte im Haushalt seiner Mutter, einer fleißigen Frau, die in einer Wäscherei beschäftigt war. Oberleutnant Hypko besorgte eine Durchsuchungsanordnung; und förderte zusammen mit Leutnant Rüdiger aus Kloges Wohnung Kaffee, Zigaretten und Spirituosen zutage, die eindeutig aus dem Einbruch in Petershagen stammten. Auch eine Filmkamera und ein Kofferradio, beides im Sachfahndungsbuch vermerkt, konnten beschlagnahmt werden. Daraufhin wurde Erich Kloge in Untersuchungshaft genommen. Er war neunzehn Jahre alt, blaßgesichtig – und gab sich bei der Vernehmung sehr vornehm. Wenn er sprach, warf er den länglichen, gutgeformten Kopf in den Nacken, wandte den Kriminalisten sein beneidenswert ebenmäßiges Profil zu und sah geflissentlich an ihnen vorbei. Er drückte sich gewählt aus und gebrauchte häufig Fremdwörter, die er hin und wieder an falscher Stelle einsetzte. Verbesserte ihn einer der Kriminalisten, entgegnete Kloge in näselndem Ton: „Ich wollte mich soeben berichtigen.“ 33
Anfangs stritt er den Einbruch im Konsum ab. Erst als Hypko einen Teil der gestohlenen Ware, die man in seinem Zimmer gefunden hatte, vor ihm auftischte, gestand er beinahe beleidigt: „Ja, ich habe mich an diesen Dingen bereichert.“ Die Filmkamera und das Kofferradio erwähnte Hypko noch nicht, lenkte das Gespräch aber auf die Einbrüche, aus denen diese Dinge stammten. Doch Kloge ging darauf nicht ein, sondern erklärte zurechtweisend, der Einbruch in Petershagen sei sein einziger Fehltritt gewesen. Die Kriminalisten ließen es vorläufig dabei bewenden. Sie unterhielten sich mit ihm über seine häuslichen Verhältnisse, seine Interessen und über seinen Bekanntenkreis. Doch entweder war Kloge ein Einzelgänger, oder er hatte Grund, seine Bekannten an diesem Ort nicht zu erwähnen: Sie vernahmen ihn drei Stunden lang, ohne etwas Nennenswertes zu erfahren. Nachdem man ihn abgeführt hatte, fragte Leutnant Rüdiger: „Ob er derjenige war, den Frau Atting hinter der Kühltruhe gesehen hat?“ Hypko wiegte den Kopf. „Kann sein, kann nicht sein. Die Frau sprach von einer häßlichen Fratze, doch Kloge hat ein hübsches, fein geschnittenes Gesicht. Aber eines glaube ich auf gar keinen Fall: daß die Verwüstungen auf sein Konto gehen. Der Junge ist ein Gernegroß, will angeben, den Gentleman spielen und fühlt sich wohl, wenn er mit Geld um sich schmeißen, mit Kognak und teuren Zigaretten protzen kann. Werte sinnlos vernichten, das paßt nicht zu ihm. Das muß einer getan haben, der die Menschen und ihre Arbeit haßt, der aus irgendeinem Grunde Rache nehmen will. Oder es war ein Jugendlicher, der sich von aller Welt unverstanden fühlt und uns zeigen will, was er kann.“ 34
Sie ließen Kloge am nächsten Morgen wieder vorführen und setzten die Vernehmung fort. Der Bursche zeigte sich zugänglicher als am Vortag und formulierte seine Antworten weniger geschraubt. Bereitwillig gab er auch über seine Freundin Anne Heister Auskunft, die er durch ihren Bruder Joachim Heister kennengelernt hatte. Heister war Kraftfahrer, und Kloge hatte sich angeblich im „Fernfahrer“ mit ihm angefreundet. Oberleutnant Hypko konstatierte, daß die Gaststätte „Zum Fernfahrer“ im Zusammenhang mit den Ermittlungen um den Einbruch in Petershagen bereits zum zweiten Male genannt wurde. Fräulein Borisch hatte dort ihren Eddi kennengelernt und Erich Kloge seine Freundin Anne Heister. Oberleutnant Hypko fragte Kloge, ob er sich oft mit seinen Freunden in dieser Gaststätte treffe. Kloge, der bis dahin nur von Leutnant Rüdiger vernommen worden war, fuhr herum und blickte Hypko mißtrauisch an. Einige Nuancen reservierter als zuvor antwortete er: „Ich bevorzuge kein bestimmtes Lokal.“ „War es Ihr Freund Joachim Heister, mit dem Sie in den Konsum eingestiegen sind?“ fragte Rüdiger. Kloge stutzte einen Moment, wandte sich Rüdiger wieder zu und versicherte rasch: „Ich habe es allein getan.“ Hypko kam hinter seinem Schreibtisch hervor, zog einen Stuhl heran, setzte sich dicht vor Kloge und blickte ihn aus großen Augen vorwurfsvoll an. Wenn Hypko wollte, konnte er so vorwurfsvoll blicken, daß die Kirchgänger sogar nach der Beichte noch das traurige Gefühl überkam, sündenbeladene Wesen zu sein. Kloge wurde unter diesem Blick unsicher, er sah an Hypko vorbei, begegnete Leutnant Rüdigers fragendem 35
Blick und senkte den Kopf. Nervös schlug er die Schuhspitzen gegeneinander. „Herr Kloge“, sagte Hypko leise, „wir wollen doch ehrlich bleiben. Diese sinnlosen Verwüstungen haben Sie nicht angerichtet.“ „Woher …?“ fragte Kloge hastig, und das Wort drückte mehr Angst als Verwunderung aus. Er brach den Satz sofort ab. „Woher ich es weiß, spielt keine Rolle“, entgegnete Hypko. „Und wenn Sie jetzt noch nicht darüber sprechen möchten, lassen wir es vorläufig. Erzählen Sie uns etwas über den Einbruch in der PGH ‚Hans Sachs‘ in Fredersdorf.“ Oberleutnant Hypko spielte auf den Einbruch an, bei dem das Kofferradio gestohlen worden war, das sie in Kloges Wohnung gefunden hatten. Doch der Bursche spreizte sich von neuem und näselte: „Ich bedeutete Ihnen schon, daß nur der Einbruch im Konsum …“ Leutnant Rüdiger schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Nun halten Sie aber die Luft an! Wir haben die Geduld auch nicht gepachtet.“ Kloge war zusammengezuckt und aus dem Konzept geraten. Mit einem hilfesuchenden Blick drehte er sich zu Hypko um. Doch der Oberleutnant stand wieder hinter seinem Schreibtisch und sah gelangweilt zum Fenster hinaus. „Wenn Sie uns nichts erzählen wollen“, sagte er, „fangen wir von vorn an. Heute Nachmittag, morgen, auch übermorgen. Die ganze Woche meinetwegen. Zuletzt hat noch jeder eingesehen, daß es das klügste ist, uns zu sagen, was wir wissen wollen.“ Kloge saß reglos mit gesenktem Kopf und schwieg. Plötzlich fuhr Hypko herum und beugte sich über den Schreibtisch. „Sie haben Angst, Herr Kloge“, sagte er 36
scharf, ohne die Stimme zu heben. „Angst vor dem Scheusal, das den Konsum verwüstet hat. Ohne diesen Menschen, den Sie aus Furcht decken, waren Sie ein unbedeutender, von keinem beachteter Hilfsarbeiter, aber dieser sogenannte Freund aktiviert sie, treibt sie zum Verbrechen. Nun stellen Sie etwas dar – wenigstens in Ganovenkreisen.“ Oberleutnant Hypko dachte: Kloge verkehrt im „Fernfahrer“, und der mysteriöse Eddi ohne Nachnamen verkehrt auch dort, es muß doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich die „Fernfahrer“-Kundschaft nicht untereinander kennt. Er fragte Kloge: „Heißt dieser Freund Eddi?“ „Nein!“ Die Antwort kam zu schnell und klang wie ein Aufschrei. Aber nach einem forschenden Blick auf den Oberleutnant fragte Kloge betont lässig: „Wer soll denn das sein, dieser Eddi?“ Hypko sagte: „Kommen Sie sich doch nicht so schrecklich schlau vor, und lassen Sie endlich das Theater! Sie wissen genau, wer Eddi ist.“ Kloge rieb sich mit den Handballen die Stirn. Die Kriminalisten sahen, daß er sich quälte, aber er schwieg. Hypko kämpfte gegen ein Gefühl an, das teils aus Mitleid, teils aus Verachtung bestand. Er setzte sich wieder auf den Stuhl dicht vor Kloge. „Dieser Mann, der den Konsum verwüstet hat, hält Sie an der Leine“, sagte er. „Er zieht Sie dahin, wo er Sie braucht. Seitdem wir die Leine durchgeschnitten haben, jaulen Sie wie ein herrenloser Hund, der Angst hat, von Fremden Futter anzunehmen.“ Und sehr leise, aber voller Verachtung setzte Hypko hinzu: „Sie sind ein ganz erbärmlicher Feigling.“ Kloge war dem Weinen nahe. Er schluckte ein paarmal, dann sagte er tonlos: „So glauben Sie mir doch, ich habe es allein getan – auch den Diebstahl in der Genos37
senschaft ‚Hans Sachs‘.“ Hypko warf ihm noch zwei, drei Einbrüche vor, die sie bisher nicht klären konnten, doch verglich man die Arbeitsweise und das Diebesgut, das er ausgewählt hatte, so gelangte man zu der Ansicht, daß es sich um den gleichen Täter handeln mußte, der auch in die PGH eingestiegen war. Kloge gestand ohne Zögern. Er sprach wie gehetzt und beteuerte immer wieder, alles allein getan zu haben. Schließlich sagte der Oberleutnant: „Wir sehen uns heute Nachmittag wieder. Überlegen Sie sich bis dahin, was Sie uns noch zu erzählen haben. Wer reinen Tisch machen will, darf auch die kleinste Dreckecke nicht vergessen.“ Er ließ Kloge abführen. Als sie allein waren, sagte Leutnant Rüdiger: „Wir haben mehr aus ihm herausgeholt, als zu erhoffen war.“ Hypko drückte seine Zigarette aus. „Aber das Wichtigste wissen wir noch nicht – wer sein Mittäter ist. Und es existiert einer! Einer, vor dem er Angst hat. Kloge wird uns alle Einbrüche gestehen, um glaubwürdig zu wirken, und er wird stets beteuern, allein gewesen zu sein. Übrigens wirst du heute Nachmittag die Vernehmung ohne mich führen müssen. Ich will der rotblonden Katze, die im Petershagener Konsum Milch verkauft, noch ein paar Fragen stellen. Anschließend fahre ich zu Heisters, und mein Abendbrot ‚trinke‘ ich heute im ‚Fernfahrer‘.“ Fräulein Gisela Borisch stand hinter dem Verkaufstisch und blickte den Oberleutnant aus einem gesunden und einem häßlich verschwollenen Auge an. „Nanu“, sagte Hypko, „ich habe Sie ganz anders in Er38
innerung.“ „Sie haben eben ein gutes Gedächtnis.“ Das klang wütend. „Etwa mit Eddi Ärger gehabt?“ „Dazu ist es gar nicht erst gekommen.“ „Das müssen Sie mir ein bißchen ausführlicher erzählen. Gibt es hier ein Séparée für uns?“ Sie kräuselte spöttisch die Lippen, die Hypko auch ein wenig angeschwollen vorkamen, und ging vor ihm her auf eine Tür zu, an der „Büro“ stand. Drinnen schob sie dem Oberleutnant einen Stuhl hin. Sie schwang sich auf den Schreibtisch. „So gut möchte ich meinen Urlaub verbringen wie Sie Ihre Arbeitszeit. Sie gehen einfach umher und fragen die Leute aus.“ Hypko war damit beschäftigt, ihre langen schlanken Beine zu begutachten, die genau in Augenhöhe vor ihm vom Schreibtisch baumelten; er hatte nicht hingehört. „Was ist denn nun mit Eddi?“ fragte er und zwang sich, ihr ins Gesicht zu blicken. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Er kommt nicht mehr. Schon lange nicht mehr.“ „Verstehe ich nicht.“ Hypkos Blick rutschte wieder von ihrem Gesicht auf ihre Beine. „Ich hab’ das auch nicht verstanden“, sagte sie, „deshalb bin ich gestern Abend nach Neuenhagen gefahren und hab’ im ‚Fernfahrer‘ nach ihm gefragt.“ „Und?“ Hypko interessierten die Beine plötzlich nicht mehr. „Ein komischer Laden dort! Der Fettkloß von Wirt war ekelhaft höflich zu mir und erzählte immer wieder, Eddi habe sich schon wochenlang nicht sehen lassen. Dann war noch einer dort, den Eddi mal mit ‚Jürgen‘ angesprochen hatte, und der beteuerte, einen Eddi kenne er 39
nicht. Da habe ich mich wieder verzogen. Als ich so ungefähr dreißig Meter von der Kneipe weg war, raschelte neben mir im Gebüsch etwas, aber bevor ich mich umsehen konnte, leuchtete mir jemand mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ach was, Taschenlampe! Das muß ein Scheinwerfer gewesen sein! Ich stand völlig geblendet da, und dicht an meinem Ohr sagte ein Kerl: ‚Schönen Gruß von Eddi!‘ und schlug mir ins Gesicht, drei- oder viermal. Dann wurde es wieder dunkel, und der Kerl war spurlos verschwunden.“ „Sind Sie zur Polizei gegangen?“ fragte Hypko. „Mit dem Gesicht? Ich bin doch kein Clown, der dafür Geld kriegt, daß er ausgelacht wird.“ „Und nun beichten Sie mir mal, was Eddi von Ihnen über den Konsum wissen wollte.“ Sie quälte sich ein Weilchen mit Nachdenken ab und sagte dann: „Eigentlich nichts. Aber er war mal kurz vor Ladenschluß hier und … na, da habe ich ihm eben gezeigt, wo die Personaltoilette ist.“ „Sie Herzenskindchen“, sagte Hypko und erhob sich. „Hätten Sie mir das schon in der Einbruchsnacht erzählt, wäre Ihnen sicherlich Ihr linkes Auge in aller Schönheit erhalten geblieben.“ Frau Heister öffnete die Tür nur so weit, daß sie sehen konnte, wer geklingelt hatte. Sie erkannte Hypko auf den ersten Blick. „Na, wollen Sie wieder wissen, wo es Ölsardinen gegeben hat?“ „Diesmal nicht“, sagte Hypko. „An meinem Wagen ist was nicht in Ordnung, und ich möchte mir von Ihrem Sohn einen Rat holen. Ist er da, der Joachim?“ „Ja, Sie haben Glück“, erwiderte Frau Heister, führte Hypko ins Wohnzimmer und rief nach ihrem Sohn. Dann 40
ging sie in die Küche. Hypko atmete auf. Als Joachim Heister eintrat, zeigte ihm Hypko seinen Ausweis und bat ihn um Auskunft über seinen Freund Erich Kloge. Heister sah ihn an wie einen, der für seine Dummheit bestraft werden muß. „Wir sprechen entweder von meinen Freunden oder von Erich Kloge.“ Er wies mit einer Kopfbewegung in die Couchecke, Hypko faßte das als Einladung auf und setzte sich. Joachim Heister ließ sich in die andere Couchecke fallen. „Wenn das so ist“, sagte Hypko, „beginnen wir damit, warum Erich Kloge nicht Ihr Freund ist.“ „Der Lackaffe!“ Heister lachte verächtlich. „Fragen Sie doch meine Schwester nach ihm.“ Er schüttelte den Kopf und sprach leise vor sich hin, wie einer, der etwas Geschehenes nicht fassen kann. „An so ’nen Lackaffen hängt die sich.“ „Ihre Schwester hat Herrn Kloge durch Sie kennengelernte nicht wahr?“ „Ach was, durch mich!“ rief Heister. „Durch ihr albernes Rumflirten!“ Als sie Urlaub hatte, habe er sie für ein paar Tage mit auf Fahrt genommen. Seine Tour ging nach Greifswald, und sie war noch nie an der See gewesen. „Auf der Heimfahrt kriegte sie bei jeder Kneipe, die in Sicht kam, mächtigen Durst. Schlimmer als ein Bierkutscher, sage ich Ihnen. Na, ich habe das Spiel gleich durchschaut: bißchen ’rumsitzen, bißchen angeben, die Kulleraugen verdrehen und Abenteuer suchen – entweder müssen Achtzehnjährige so sein, oder unsere hat’s besonders schlimm erwischt.“ Er blickte Hypko an, als erhoffte er von ihm Auskunft über das seltsame Benehmen seiner Schwester. Hypko schwieg und lächelte, und Heister blieb nichts 41
anderes übrig, als weiterzuerzählen. „Als wir am ‚Fernfahrer‘ anlangten, war mir auch die Zunge trocken geworden. Eigentlich gehe ich dort ungern ’rein. Wer nicht Stammkunde ist, wird vom Wirt, diesem Nilpferd, kurz abgetan. An jenem Abend war ziemlicher Trubel in der Gaststube. An einem Tisch saß ganz allein ein schmalbrüstiges Kerlchen mit ’nem Gesicht wie’n beleidigter Jesus. Wir setzen uns also da ’ran, und ich denke noch, meine Schwester steht sowieso bloß auf Männer, da sehe ich, wie sie ihm Blicke zuwirft, die auch einen eingefrorenen Motor wieder auf Touren gebracht hätten. Sie sind zusammengeblieben. Aber mir geht er aus dem Weg, der Kloge, der fühlt wohl, daß bei mir die Masche vom unverstandenen Künstler nicht zieht.“ „Ach“, sagte Hypko, „was für Kunst betreibt er denn?“ „Angeblich schreibt er Gedichte. Was er sonst noch treibt, wissen Sie sicherlich besser als ich.“ „Oder geht er Ihnen aus dem Weg, weil er vor Ihnen Angst hat?“ „Angst?“ fragte Heister verständnislos. „Ich habe ihm nie gedroht, aber …“ Er suchte nach Worten, und seine großen, kräftigen Hände strichen fahrig über die Tischdecke. „Sie sind von der Kriminalpolizei, und ich will nicht fragen, weshalb Sie sich für Kloge und … auch für uns interessieren. Ich denke, wenn’s an der Zeit ist, werden Sie’s uns schon sagen. Aber falls dieser Lackaffe meine Schwester auf krumme Wege gebracht hat, dann … dann … ich glaube, dann bringe ich ihn um.“ „Das wäre das Dümmste, was Sie tun könnten“, entgegnete Hypko ruhig. „Wie steht denn Ihre Mutter zu Anne und ihrem Freund?“ „Mama liebt uns auf ihre Art“, sagte Joachim Heister, 42
und es klang wie eine Entschuldigung, „was wir tun, ist richtig. Ich weiß, daß der Kloge hier tagelang ’rumsitzt und sich durchfüttern läßt, wenn ich auf Fernfahrt bin. Nicht mal daran stößt sich Mutter, die sich ihr Leben lang abgerackert und uns immer zum Arbeiten angehalten hat. Hauptsache, Anne ist glücklich.“ Oberleutnant Hypko besaß genügend Menschenkenntnis, um zu erkennen, daß Joachim Heister aufrichtig zu ihm sprach. Auf keinen Fall konnte er Kloges Mittäter sein, der den Konsum verwüstet hatte. Trotzdem fragte er ihn, wo er sich in der Einbruchsnacht aufgehalten habe. Heister überlegte ein Weilchen, dann zog er sein Fahrtenbuch aus der Tasche, und Hypko überzeugte sich davon, daß er zu diesem Zeitpunkt vier Tage lang im Vogtland gewesen war. Sie hörten beide, daß die Korridortür aufgeschlossen wurde. Jemand trippelte zur Küche und rief: „Mammi! Ist Erich heut gekommen?“ Die Stimme war hoch und etwas schrill. Joachim Heister sagte: „Bitte, da hören Sie es selbst. Bevor sie guten Tag sagt, fragt sie schon nach Erich.“ Plötzlich brüllte er: „Komm ’rein!“ Die Tür flog mit Schwung auf, und vor Hypko stand ein junges Mädchen, klein und ein wenig mollig. Nach oben gebogene Mundwinkel und winzige Sommersprossen, wie Konfetti über den Nasenrücken verstreut, gaben ihrem Gesicht einen kindlichen und zugleich lustigen Ausdruck. Die großen dunklen Augen erinnerten Hypko an die Glaskullern eines Plüschteddys. Ihr selbst schienen sie noch zu unauffällig zu sein, denn sie riß sie unnatürlich weit auf und fand allenthalben Gelegenheit, sie ein wenig zu verdrehen. Dieses lustige Puppengesicht mit den kullerdummen Augen war von langem blondiertem 43
Haar umgeben; das Mädchen war geschminkt wie eine Kokotte. Hypko stand auf und stellte sich vor. „Wie interessant!“ rief Anne und kullerte mit den Augen. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“ Hypko wußte noch nicht, ob sie sehr raffiniert war oder einfach dumm. „Ich glaube, Sie mißverstehen die Lage etwas.“ Mit einem Blick und einer Geste wies er ihr einen Platz auf der Couch an, als sei er der Hausherr. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander, und Hypko mußte einfach bemerken, daß sie die Strümpfe an einem schwarzen Hüfthalter befestigt hatte. Er erinnerte sich an Fräulein Borisch, die ihm vor kaum einer Stunde ebenfalls ihre Beine vor die Augen gehalten hatte, und dachte: Die Mädchen vom „Fernfahrer“ bieten mir aber heute was. Joachim Heister griente. „Es tut mir leid, daß ich der Desillusionierung einer liebenden jungen Dame nicht beiwohnen kann“, sagte er, „ich muß zur Arbeit.“ „In Ordnung“, entschied der Oberleutnant, „Sie können gehen.“ „Was ist denn los?“ fragte das Mädchen gereizt. „Ich denke, der Herr von der Kripo ist zu dir gekommen?“ „Das ist erledigt“, sagte Hypko. „Jetzt habe ich ein paar Fragen an Sie zu richten. Es handelt sich um Ihren Freund Erich Kloge.“ Sie stieß einen kleinen spitzen Schrei aus und verdrehte wieder die Augen. „Freundschaft“, sagte Joachim Heister und verließ das Zimmer. „Er war seit drei Tagen nicht hier“, jammerte die Kleine. „Um Himmels willen, was ist ihm denn passiert?“ „Na“, sagte Hypko, „was kann einem jungen Burschen 44
passieren, der nicht arbeitet und von der Gutmütigkeit seines Mädchens lebt?“ Sie blickte ihn verständnislos an. „So einer kommt auf die schiefe Bahn und rutscht und rutscht …“ „… und nun ist er unten.“ Sie schien die Situation schlagartig begriffen zu haben. „Ja“, sagte Hypko, „ganz unten.“ „Aber … was hat er bloß getan?“ Sie weinte, und die Tränen zogen kleine Rinnsale über ihre gepuderten Wangen. „Sie sollten sich nicht so anmalen“, sagte Hypko. „So jung, wie Sie noch sind.“ „Ich mache mich doch nur für ihn schön. Er mag das eben so.“ Sie schluchzte. Hypko erklärte ihr, daß Erich Kloge gestohlen hatte, nicht aus Leichtsinn und nicht nur einmal, sondern mit Vorbedacht und so oft, daß er, ohne zu arbeiten, den Lebemann spielen konnte. „Nun muß er sich wegen fortgesetzter Einbruchsdiebstähle vor Gericht verantworten.“ Sie weinte hemmungslos wie ein Kind. „Er war so gut zu mir. Und auch so … so vornehm. Nein, er hat das nicht getan.“ Dummerchen, dachte Hypko. Wenn du begriffen hast, wer Kloge ist und warum er sich an so ein gutmütiges Puttchen wie dich heranmacht, dann bist du ein gutes Stück weiter. „Er hat es nicht allein getan, Fräulein Heister. Aber diejenigen, die ihn dazu verleitet haben, müssen wir noch finden. Wollen Sie uns dabei helfen?“ Sie wischte Tränen, Puder und Wimperntusche an ihr Taschentuch, schluckte noch einige Male und sagte: „Na45
türlich will ich Ihnen helfen. Aber wie denn nur?“ Der Oberleutnant fragte sie nach Kloges Freunden. Doch die hatte Kloge wohlweislich von Anne ferngehalten. „Im ‚Fernfahrer‘ saßen manchmal junge Leute, die er kannte“, erzählte sie, und nach einer kurzen Pause fügte sie versonnen hinzu: „Die nannten ihn stets ‚der Feine‘. Aber einen richtigen Freund hatte er nicht unter ihnen.“ Hypko ließ sich die Burschen trotzdem beschreiben und wollte Namen wissen. Sie erinnerte sich an einen großen, kräftigen Mann mit braunem, gewelltem Haar, der mindestens zehn Jahre älter war als Erich, und an zwei junge Burschen mit den Vornamen Egon und Jürgen. „Und den Wirt kannte er gut.“ Sie stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände und überlegte. „Mit dem hatte er manchmal Heimlichkeiten. Der Wirt ist ein häßlicher fetter Mann und heißt Philipp Durang. Erich und seine Bekannten nennen ihn Fip. Das ist leider schon alles, was ich weiß.“ Sie lächelte Hypko hilflos an. Der Oberleutnant schrieb ihr die Adresse seiner Dienststelle und seine Telefonnummer auf. „Rufen Sie mich an“, bat er, „falls Ihnen noch etwas einfällt. Übrigens, hat Ihnen Ihr Freund große Geschenke gemacht?“ „Nein“, sagte sie zögernd, „große nicht. Ab und zu brachte er gute Zigaretten mit, auch Kaffee und Schokolade hat er Mama und mir geschenkt. Einige Male haben wir Sekt getrunken.“ „Und das alles, obwohl er nicht arbeitete! Haben Sie sich darüber nie Gedanken gemacht?“ „Er hat gearbeitet“, erwiderte sie trotzig. „Er hat Gedichte geschrieben.“ „Die schlecht sind“, sagte Hypko und zwang sie mit 46
einem Blick, ihm in die Augen zu sehen. „Die schlecht sind“, wiederholte er, „und die keine Zeitung und kein Verlag gedruckt hätte. Ich nehme an, er hat sie auch niemandem angeboten, sondern nur Ihnen gegenüber damit geprotzt. Und Sie haben sich alles gefallen lassen, seine Angeberei, sein Nichtstun, seinen Sekt und seine Zigaretten. Sie sind nicht schuldlos daran, daß er nun für Jahre ins Gefängnis muß. Glauben Sie mir, die meisten Burschen, die zum Arbeiten zu faul sind, haben ein Mädchen wie Sie zur Seite, von dem sie angehimmelt und ausgehalten werden.“ Das Mädchen warf sich auf die Couch und schluchzte hemmungslos. Hypko fühlte Mitleid mit ihr, doch er dachte, daß es besser sei, sie hart anzufassen, dann würde sie vielleicht mit einemmal kuriert sein. „Na, na“, sagte er, als ihr Körper beim Weinen krampfhaft zuckte, „hören Sie ein bißchen auf Ihren Bruder. Ich glaube, mit ihm zusammen kriegen Sie sich schon wieder hin.“ Der „Fernfahrer“ lag an der Straße nach Neuenhagen, ungefähr fünfhundert Meter vom letzten Haus des Ortes entfernt; er war ein Bastard aus Raststätte und Kneipe. Auf dem geräumigen Hof standen zwei Lastwagen und einige Personenautos. Das Haus selbst wirkte baufällig und windschief, als ob die Lastwagen erst gegen seine Mauern gedrückt hätten, bevor sie zum Parken auf den Hof rollten. Über der Tür hing eine Verkehrsampel mit rotem, gelbem und grünem Licht. Zur Zeit war sie auf Grün geschaltet. Oberleutnant Hypko betrat den Gastraum, Abgestandene Luft und der Geruch von Bockwurst, schalem Bier und Zigarettenrauch erschwerten ihm sekundenlang das 47
Atmen. Auch wurde er durch eine eigenartige Beleuchtung irritiert: außer einer schmucklosen Kugellampe, in die man eine schwache Glühbirne geschraubt hatte, zierten die Fensternischen und den Bierausschank wiederum Verkehrsampeln. Ihr grünes Licht gab den Gästen ein blasses, krankhaftes Aussehen. Das erste, was sich aus dieser Geisterbeleuchtung für Hypko erkennbar abhob, war der monströse Fettwanst hinter der Theke. Er nickte dem neuen Gast zu, und seine Hängebacken wabbelten dabei. „Ein Bier!“ rief Hypko und nahm an einem freien Tisch nahe dem Eingang Platz, Von hier aus konnte er den gesamten Gastraum überblicken. Die Mitteltische waren besetzt. An einigen wurde Skat gespielt. Am Ecktisch neben der Tür zur Toilette saß ein junger Mann allein. Er hatte ein längliches, pferdeähnliches Gesicht und aufgeworfene Lippen, Wahrscheinlich erwartete er jemanden, denn er blickte mehrmals auf die Armbanduhr und trank mit kleinen, hastigen Schlucken sein Bier. An Hypkos Nachbartisch verzehrte ein älterer Mann eine Bockwurst und trank Brause dazu. Wahrscheinlich ein Fernfahrer, dachte Hypko. Neben der Theke hockte einer, der nicht mehr nüchtern war. Jedesmal, wenn er das Glas zum Mund hob, prostete er mit einer Geste, die allen Anwesenden galt, in den Gastraum und lallte: „Ho-hoch woll’n wir leben!“ Der unförmige dicke Wirt watschelte mit einem vollen Bierglas in der Hand auf Hypko zu. Als er es auf den Tisch stellte, fragte Hypko: „Wo steckt denn der Feine? Vor einer halben Stunde waren wir verabredet. So lange hab’ ich draußen gestanden. Der hat aber neuerdings Manieren!“ „Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen“, sagte der 48
Wirt mit leiser, etwas quäkender Stimme. „Na, Fip, das wird dir der feine Erich aber übelnehmen, daß du ihn verleugnest.“ Hypko griente. „Du kennst ihn also?“ „Und wie!“ „Er ist schon seit drei Tagen nicht hier gewesen“, erzählte Durang bekümmert. „Gestern hat auch einer umsonst gewartet.“ Hypko musterte den dicken kleinen Mann, dessen Gesichtszüge von Fettpolstern gleichsam zerquetscht wurden. „Schiet“, sagte er. „Bin im Moment darauf angewiesen, daß ich mit Erich ins Geschäft komme. Weiß denn keiner von denen hier“ – er wies mit einer Kopfbewegung in die Gaststube –, „was mit ihm los sein könnte?“ „Die kennen ihn weniger. Aber wart mal …“ Suchend blickte er in die Ecke neben der Toilettentür. Auch Hypko schaute hin, und in dem Moment sah er ihn – Edwin Kischkoweit. Eddi, du bist also wieder da, dachte Hypko, und er rechnete schnell aus, daß seit Kischkoweits Inhaftierung sechs Jahre vergangen waren. Sie hatten ihm demnach zwei Jahre geschenkt. Am liebsten wäre Hypko aufgestanden, zu Eddi gegangen, hätte ihm auf die Schulter geklopft und gefragt; „Wie geht’s dir denn, alter Junge?“ Und er machte sich Vorwürfe, Eddis Entlassung verpaßt zu haben. Das hätte nicht passieren dürfen, dachte Hypko. Ich wollte nach Bautzen fahren und der erste sein, dem er auf der Straße begegnete, aber ich habe nicht daran gedacht, daß er eher entlassen werden könnte! Nun treffe ich ihn hier und bin im Dienst und Einbrechern auf der Spur. Hoffentlich kapiert er, daß ich jetzt den fremden Mann markieren muß … Ob er vielleicht doch der Eddi ist, von dem Fräulein Borisch erzählt hat? 49
Dann hätte er aber mit dem Einbruch im Konsum zu tun … Eigentlich hätte er sich auch mal bei mir sehen lassen können, als er ’rauskam … Wieso sitzt er denn mit einemmal in dieser Gaststube? Er muß durch die Toilettentür hereingekommen sein. Kischkoweit hatte neben dem Pferdegesichtigen Platz genommen und unterhielt sich mit ihm. Plötzlich war es Hypko, als habe sich in dem Raum etwas verändert. Oder täuschte er sich, war es nur Kischkoweits Anwesenheit? Jedenfalls hatte ihn die Entdeckung, daß Eddi hier war, für Sekunden davon abgehalten, den Wirt zu beobachten. „Was ist denn nun?“ fragte er ungeduldig und sah gerade noch, daß Durangs Blick gleichgültig über Kischkoweit und den Jungen mit dem Pferdegesicht hinwegglitt. „Es tut mir leid“, sagte Fip, „aber Freunde vom Feinen sind keine hier.“ Nach dieser Auskunft wandte er sich um und watschelte zur Theke zurück. Hypko sah ihm nach, und plötzlich wußte er, was sich im Raum verändert hatte – es war das Licht. Jemand hatte die Ampeln auf Rot geschaltet. Kischkoweit dachte: Ausgerechnet hier muß er mir über den Weg laufen. Er hatte Eberhard Hypko sofort erkannt, als er aus der Toilettentür getreten war. Am liebsten hätte er sich mit dem Rücken zur Gaststube gesetzt, aber das wäre sicherlich Jürgen Lanze aufgefallen. Außerdem hätte Hardy ihn trotzdem erkannt. Er dachte Hardy und nicht Hypko, und er wußte, daß er sich in einer anderen Umgebung gefreut hätte, ihn wiederzusehen. Aber hier brauchte keiner zu wissen, daß er mit einem von der Kripo befreundet war. Fip ging das nichts an, und Jürgen Lanze erst recht nichts, denn mit dem wollte er eben vor50
sichtig Fühlung aufnehmen wegen eines Geschäftes – oder wegen mehrerer, mal sehen, wie es sich anließ. Man hatte Edwin Kischkoweit nach der Haftentlassung Arbeit an einer Tankstelle zugewiesen. In den ersten Tagen war er zufrieden gewesen. Er hatte Öl und Benzin in die Tanks der Wagen gepumpt und sich über jede Mark gefreut, die man ihm zusteckte. Er hatte Gelegenheit gehabt, die neuesten Modelle der Autoindustrie von innen und außen kennenzulernen, und war es bald schon leid geworden, die Scheiben fremder Wagen sauberzuwischen, dazustehen mit Ölflecken auf dem Overall und mit dem Benzinschlauch in der Hand, während ein Herr in feinem Anzug und mit einem gelangweilten Lächeln in den Wagen stieg und ihn so stümperhaft auf Touren brachte, daß Kischkoweit glaubte, den Motor schreien zu hören. Nein, Kischkoweit war nicht der Mann, der abseits stehen und zuschauen konnte, wie es sich andere wohl sein ließen. Vierzehn Tage später suchte er sich in Westberlin Arbeit, aber selbst das Geld, das er um ein Vierfaches vermehrte, brachte ihm nicht schnell genug den Lebensstandard, den er sich erträumt hatte. Nun versuchte er, erste Verbindungen mit der Unterwelt aufzunehmen. Allerdings, so stellte Kischkoweit fest, hatte die Unterwelt zur Zeit nicht mehr zu bieten als ein paar Miesepeter, die Wurst stahlen und Ölsardinen und die das, was sie nicht mitnahmen, zerstörten und verwüsteten. Kischkoweit dachte: Saubere Arbeit ist das nicht, aber um den Miesepetern zu zeigen, wie man’s macht, muß ich erst mal ’rein ins Geschäft. Wenn allerdings Freund Hypko jetzt an unserem Tisch auftaucht, wird entweder Lanze in ihm den Kriminalisten wittern, oder Hypko wird merken, daß sich hier für seine Leute neue Kundschaft heranbildet. 51
Äußerlich ließ sich Kischkoweit durch keinen Blick und keine Geste seine Befürchtungen anmerken. Ruhig, fast bedachtsam unterhielt er sich mit Jürgen Lanze. Da wechselte das grüne Ampellicht in rotes über. Der Junge mit dem Pferdegesicht schaute einen Augenblick lang erschrocken hoch. „Begreifst du das?“ fragte er Kischkoweit. „Nein, aber benimm dich jetzt nicht auffällig.“ „Verstehe nicht, wer geschaltet hat.“ Jürgen Lanze gab sich den Anschein, als stiere er in sein Bierglas, fixierte jedoch aus den Augenwinkeln heraus die Gäste. „Außer uns ist keiner weiter hier, der den Trick kennt, und Fip serviert.“ „Krücke“, sagte Kischkoweit leise. „Den habe ich oben gesehen.“ Als Lanze diesen Namen hörte, wurde sein Blick ängstlich, „Dann hat’s aber ganz schön was zu bedeuten. Vielleicht sollten wir uns jetzt trennen.“ „Machen wir“, sagte Kischkoweit. „Bezahl dein Bier und geh. Ich rufe dich morgen an.“ Lanze griff nach Hut und Mantel und beglich an der Theke die Rechnung. Als er das Wechselgeld einstrich, warf er Philipp Durang einen raschen, fragenden Blick zu. Doch der hantierte mit seinen kurzen Armen, die prallgefüllten Würsten glichen, am Bierhahn und würdigte Jürgen Lanze keines Blickes. Da hatte es der pferdegesichtige junge Mann eilig, den „Fernfahrer“ zu verlassen. Das rote Licht kann nur Hypko gelten, überlegte Kischkoweit. Sicherlich weiß Krücke, wer Hypko ist. Und er wird herauskriegen, daß ich mit ihm bekannt bin. Irgendwie wird er es schon herauskriegen, und ich werde wieder draußen sein aus dem Geschäft, noch bevor ich richtig eingestiegen bin. Wenn ich bloß wüßte, wo sich 52
Schattan ’rumtreibt! Mit Schattan zusammen hätte ich diese Miesepeter hier nicht nötig. Plötzlich sah er, daß sich Hypko erhob und auf die Theke zuging. Fip, der ein paar Minuten lang in den hinteren Räumen gewesen war, schlurfte eben wieder herein. „Ich hau’ jetzt ab“, sagte Hypko. „Vielleicht ist der Erich krank geworden.“ Er legte ein Markstück auf den Ausschank. „Stimmt.“ Doch Philipp Durang griff nach dem Wechselgeld und gab seinem Gast auf den Pfennig genau heraus. „Jetzt bin ich genauso beschissen dran wie der, der gestern Abend auf ihn gewartet hat. Weißt du, wann der sich wieder hier sehen läßt?“ „Hoffentlich überhaupt nicht“, antwortete der fettleibige Wirt unwirsch und wurstelte wieder am Bierhahn herum. „Ich hab’s nämlich nicht gern, wenn in meinem Lokal undurchsichtige Geschäfte bequatscht werden.“ Irgendeiner muß ihm gesteckt haben, wer ich bin, dachte Hypko. Kischkoweit? Der hat die ganze Zeit über am Tisch gesessen. Aber der Pferdegesichtige ist gegangen. Der könnte es von Eddi erfahren und beim Bezahlen dem Wirt beigebracht haben. Hypko sammelte umständlich das Kleingeld auf, schmunzelte und sagte fröhlich: „Aber ich komme trotzdem wieder.“ Unter der Tür wandte er sich noch einmal um. Philipp Durang stand mit der starren Miene eines feisten chinesischen Götzen am Bierhahn und warf dem Oberleutnant einen haßerfüllten Blick Zu. Kaum hatte Hypko die Tür ins Schloß gedrückt, erhob sich Edwin Kischkoweit, zog seinen Mantel über und trat an den Ausschank zu Durang. „Zähl zusammen und gib noch eine Karo drauf.“ 53
Während der Wirt Zahlen auf einen Rechnungsblock schrieb und Kischkoweit sich zu ihm herunterbeugte, als ob er das Geschriebene kontrollieren wollte, flüsterte Durang; „Erich sitzt. Ich habe es soeben von Krücke erfahren. Der kleine Blonde, der vor dir gegangen ist, hat auch nach Erich gefragt. Aber der war von der Kripo. Krücke wollte vorgestern zum Feinen, hat aber einen Wink gekriegt, daß Polente oben ist. Da hat er sich im Haus gegenüber versteckt und den Blonden mit Erich herauskommen sehen.“ „Na, dann … guten Abend.“ Kischkoweit legte fünf Mark auf den Rechnungsblock und ging mit großen, aber gemächlichen Schritten zur Tür. Draußen fegten kurze, kräftige Windstöße ums Haus. Es war kalt und dunkel. Vereinzelte Sterne und eine schmale Mondsichel hingen wie verirrt am Himmel. Kischkoweit blickte suchend die Straße entlang. Ungefähr dreißig Meter entfernt von der Gaststätte glühte ein Funke auf, schien zu verlöschen, glühte wieder stärker. Dort steht Hardy, raucht und Wartet auf mich, dachte Kischkoweit. Ich brauche nur in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, dann weiß er, daß ich ihm aus dem Weg gehen will. Kischkoweit zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich nach links und ging auf den Mann mit der glimmenden Zigarette zu. Das Geschäft mit Kloge und dessen Leuten im „Fernfahrer“ war sowieso geplatzt. Er selbst steckte, wenn er den Tipp mit dem Konsum, den er ihnen gegeben hatte, einmal abrechnete, nicht gerade tief drinnen und würde sich herauswinden können. Und dann – lieber sein Geld „ehrlich“ eins zu vier verdienen als mit diesen Halbgescheiten zusammenarbeiten, die nicht wußten, wie man ein Ding richtig drehte. Nein, er hatte kei54
nen Grund, Hardy zu meiden, selbst wenn der inzwischen Polizeipräsident geworden war. „Na, mein fixes Kerlchen“, sagte er, als er Hypko erreicht hatte, „wie geht’s dir denn?“ „Verhältnismäßig prima.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Und was ist mit dir?“ „Was soll schon mit mir sein?“ entgegnete Kischkoweit und zündete sich etwas umständlich eine Zigarette an. „Du hast mich für acht Jahre in den Knast gebracht, und ich habe sechs davon abgesessen.“ „Und?“ fragte Hypko. Kischkoweit fühlte seinen durchdringenden, fordernden Blick. „Und?“ fragte Hypko wieder. „Komm mit auf meine Bude“, sagte Kischkoweit. „Hier klönt sich’s nicht gut.“ Als sie losgingen, heulte am „Fernfahrer“ ein Motor auf. Sekundenlang wurden sie von grellem Scheinwerferlicht erfaßt. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr ein Volkswagen an ihnen vorüber. Sie beachteten ihn beide nicht. Und dann, während sie dem Dorf zuliefen, begann Edwin Kischkoweit doch schon zu erzählen. „Damals“, sagte er, „bist du mit einemmal als Leutnant der Kripo in Neuenhagen aufgetaucht; ich habe gleich geahnt, daß du uns schaffen würdest. Versuchte sofort, die ganze Bande aufzulösen, aber einige haben trotzdem weitergemacht.“ „Einige?“ fragte Hypko zurück. „Du doch auch. Du und Schattan. Ich wußte, daß ihr noch Material für ein paar einträgliche Fahrten nach drüben gelagert hattet, Zinkbadewannen und Kupferplatten, und ich wußte auch, daß ihr auf den Gewinn nicht verzichten würdet.“ Kischkoweit zuckte die Schultern. „Du hast uns überrumpelt“, sagte er. „Damals hab’ ich dich verflucht und 55
hab’s nicht verstanden, daß einer seinen Freund ins Zuchthaus bringen kann. Später habe ich dann gedacht: Wer weiß, was noch alles passiert wäre, denn die Krawallfahrten über die Grenze waren reine Selbstmordtouren. Vielleicht wären wir eines Tages verunglückt, oder wir hätten einen Grenzer überrollt.“ „Dann hätte es den Kopf gekostet“, sagte Hypko, „aber das alles hättet ihr euch vorher ausrechnen können, nicht erst im Zuchthaus.“ „Du weißt nicht, wie das ist, Hardy. Man rechnet sich alles aus, vorher. Und man hat auch Angst, wahnsinnige Angst. Man schwört sich, daß es das letzte Mal sein wird – aber dann geht es gut aus, und man macht wieder weiter. Nein, Hardy, wer einmal anfängt, hört von allein nicht mehr auf. Das ist wie ein Ring: Man weiß den Anfang nicht mehr und sieht kein Ende.“ Hypko hörte solche Worte nicht zum ersten Mal. Er erinnerte sich an Diebe und Einbrecher, die aufgeatmet hatten, wenn sie vor ihm saßen, erleichtert darüber, daß sie nun gezwungen waren, einem Leben den Rücken zu kehren, dem sie aus eigener Kraft nicht zu entrinnen vermocht hatten. „Nun weißt du ja Bescheid“, sagte Hypko. „Ich hoffe nicht, daß ich dich ein zweites Mal aus solch einem Ring befreien muß.“ Schweigend liefen sie an den ersten Häusern des Dorfes vorbei. Unter einer altmodischen Gaslaterne parkte ein Volkswagen. Kischkoweit verzog unwillig das Gesicht, als er die Nummer erkannte. Dann führte er Hypko über die Straße in ein altes Mietshaus. Sie stiegen die ausgetretenen Treppen bis unter den Wäscheboden hoch. Kischkoweit bewohnte hier oben ein Zimmer, das mit billigen Möbeln ausgestattet war, es gab nicht zwei Stü56
cke, die annähernd zusammen gepaßt hätten. Hypko kam sich vor wie in einem Gebrauchtwarenladen. Neben dem Zimmer befand sich eine geräumige Küche mit Gasherd, Abwaschtisch und einem alten Küchenschrank. „Noch zwei, drei Monate bleibt das so“, sagte Kischkoweit, „dann muß ich heiraten, und wir richten uns neu ein.“ Sie gingen ins Wohnzimmer zurück und setzten sich an einen altersschwachen Tisch. „Was sagst du da, Eddi?“ fragte Hypko. „Du mußt heiraten? Ja, warum denn? Und – wen?“ Es gibt Fragen, die man nicht direkt beantworten kann. Man muß weit ausholen und erklären, damit die Antwort auch verstanden wird. „Als ich ’rauskam“, erzählte Kischkoweit, „bin ich zu Henny gegangen. Aus ihrer Wohnung kam ein großer blonder Lulatsch ’raus, und ehe ich dem ein paar langen konnte, weil ich doch dachte, er sei Hennys Mann, trat Zum Glück seine Frau zwischen uns. Sie hatten das Zimmer durchs Wohnungsamt erhalten. Henny kannten sie gar nicht. Ich habe die Leute im Haus nach ihr gefragt. Einige waren zugezogen, manche konnten sich kaum noch an sie oder an mich erinnern. Sechs Jahre sind eben eine lange Zeit. Aber einige haben mir auch die Tür vor der Nase zugeschlagen, als sie mich erkannten. Da bin ich ins Gasthaus gegangen und habe mir einen angetütert. Ganz gegen meine Art. Und am nächsten Tag hatte ich einen Kater. Henny aber hatte ich immer noch nicht. Manchmal habe ich gefürchtet, sie könnte mit dir verheiratet sein.“ Hypko schüttelte langsam den Kopf. „Wir waren schließlich beide in sie vernarrt.“ „Ja“, sagte Hypko, „aber sie hatte sich für dich entschieden.“ 57
„Ich habe noch eine Weile nach ihr gesucht. Manchmal hatte ich so’n Gefühl, daß der eine oder andere wußte, wo sie war, und daß er auch vor jedem anderen ausgepackt hätte, aber eben nicht vor mir. – Weißt du, was aus ihr geworden ist?“ „Als sie dich weggebracht hatten“, sagte Hypko, „blieb Henny noch einige Wochen im Ort wohnen. Sie sah krank aus und war wortkarg geworden. Eines Tages meldete sie sich auf dem Revier ab. Sie hatte in Cottbus Wohnung und Arbeit gefunden.“ „So weit bin ich auch gekommen“, meinte Kischkoweit. „Ich bin in Cottbus gewesen. Aber sie war wieder weggezogen. Sie hat niemandem gesagt, wohin sie geht. Als ich von Cottbus zurückkam, hab’ ich’s aufgegeben.“ „Du hättest bei der Polizei offiziell nach ihr fragen können, beim Einwohnermeldeamt.“ Kischkoweit zog die Mundwinkel noch tiefer nach unten und blickte an Hypko vorbei. „Hätte ich tun können.“ Er lachte verächtlich. „Nur habe ich damals um jeden Uniformierten einen Bogen gemacht. Als ich von Cottbus zurückkam, hab’ ich es fertiggekriegt, die erste beste zu nehmen, die mir über den Weg lief, aber zur Polizei zu gehen, das habe ich nicht fertiggebracht. So ist das Leben.“ „Na ja, Eddi, so braucht’s aber nicht zu sein. Und was ist jetzt mit dir?“ „Jetzt wird Kischkoweit Papa. Meine Mutter setzt mir zu, ich müsse das Mädel heiraten, wenn ich ein anständiger Kerl sei.“ „Deine Mutter“, sagte Hypko, „na, gut, das ist verständlich. Aber wie denkst du darüber?“ „Ich denke auch, daß ein anständiger Kerl ein Mädel heiratet, wenn er ihr ein Kind gemacht hat.“ 58
„Ich weiß nicht, ob das anständig ist, jemanden zu heiraten, aus dem man sich nicht viel macht.“ „Ich weiß es auch nicht“, sagte Kischkoweit. „Aber wenn’s ein Junge wird, freue ich mich.“ „Dann wünsch’ ich dir, daß es ein Junge wird – oder zwei, dann hast du die Freude doppelt.“ Ihr Lachen war so unbeschwert wie früher, wenn einer von ihnen beim Sportfest einen Preis bekommen hatte – einer von ihnen gewann immer – und der andere sagte: „Es ist mir zwar schwergefallen, so ’ne miese Figur abzugeben, aber ich habe gesehen, daß du unbedingt gewinnen wolltest.“ „Weißt du, was saudumm wäre?“ sagte Hypko. „Wenn ich zu deiner Hochzeit gerade Einsatz hätte.“ „Wird nicht passieren“, entgegnete Kischkoweit. „Ich sage der Unterwelt Bescheid, daß sie in dieser Nacht Ruhe geben sollen.“ „Du und Unterwelt, mein Freundchen, das ist doch wohl vorbei“, sagte Hypko. Und dann: „Wovon lebst du jetzt, Eddi, was arbeitest du?“ Kischkoweit grinste. „Ich habe dir doch gesagt, in ein paar Monaten sieht das hier anders aus. Ein Fahrzeug muß auch sein. Ich verdiene eins zu vier und hab’ schon ordentlich was zusammen.“ Er lachte, als habe jemand einen guten Witz gerissen. Doch Hypko starrte ihn an, und unter diesem Blick wurde Kischkoweit schließlich still. Er fragte: „Paßt dir was nicht?“ Es klang bockig, aufsässig. Hypko wollte auf diesen Ton nicht eingehen. Er wollte es auch nicht wahrhaben, daß sich da schon etwas Fremdes zwischen ihn und Eddi drängte, kaum daß sie eine Viertelstunde zusammensaßen. „Eins zu vier“, wiederholte er. „Eddi, du Schafsnase, konntest du nicht wenigs59
tens mal versuchen, ehrlich zu arbeiten?“ „Ich arbeite ehrlich, und ich verdiene gut. Eins zu vier.“ Die letzten drei Worte sagte er sehr betont und provozierend. „Du weißt genau, daß es Betrug ist, was du da machst, Eddi. Wirst du denn nie begreifen, wo du hingehörst?“ „Begreif du erst mal“, sagte Kischkoweit gereizt, „wie sich einer fühlt, der nach sechs Jahren plötzlich wieder auf eigenen Füßen steht.“ Das mit den Weibern, das sei nur die eine Seite, erklärte er, die andere sei, daß man nicht mehr wisse, wie sich Menschen benehmen, die in der Zwischenzeit tun und lassen konnten, was sie wollten. Und was schreibt die Mode vor, bitte schön? Trägt man wieder Hut? Oder Weste? Hosen eng? Hosen weit? Kariert oder Streifenmuster? Bitte, keine Streifen, da sind wir zur Zeit allergisch. Den Friseur bittet man um einen Haarschnitt – na, Sie wissen schon –, und man hofft, daß die Mode kein langes Haar vorschreibt, denn die sind noch ein bißchen kurz, die Stoppeln. Was rast denn da für ein Chromblitzer vorbei? Den gab es aber vor sechs Jahren noch nicht. Autonarr Kischkoweit, da wirst du wohl morgen mal ein Kudamm-Bummelchen machen müssen, damit du wieder weißt, wovon man spricht, wenn man Auto sagt. Da fragt einer, ob man sich heute Abend das Weltmeisterschaftsfinale im Eiskunstlauf ansehe oder lieber den Durbridge mit den vielen Toten. „In welchem Kino …?“ Da guckt der so entsetzt, daß man sich nicht weiterzureden getraut. „Wo kommst denn du her? Doch nicht Kino, du Schnurrbart, Fernsehen, Röhre kieken.“ Scheint in die gute Stube zu gehören wie der Topflappen in die Küche. Muß einem schließlich gesagt werden. „Am schlimmsten aber sind diese Läden, über denen 60
Selbstbedienung‘ steht“, sagte Kischkoweit. „Das Zeug liegt nur so ’rum, und man kann’s einfach wegnehmen. Und bei jedem Griff kommt man sich vor wie ein Dieb. Ich krieg’ immer Husten, wenn ich was aus dem Regal nehme, so lange, bis jemand herguckt und sieht, ich leg’s ins Körbchen, ich bin ehrlich. Ja, so ist das.“ Hypko wußte, daß er recht hatte. Noch hatte Eddi recht. Grundlagen für den Sozialismus kann man nicht schaffen, indem man als Aufgabe Nummer eins den Strafvollzug umgestaltet. Aber wie bringe ich das Edwin Kischkoweit bei, dachte Hypko. Vielleicht so: „Was hast du denn erwartet, Eddi? Etwa, daß wir den lieben Mitmenschen, die unser Buntmetall über die Grenze geschmuggelt haben, eine komfortable staatliche Unterkunft verschaffen mit regelmäßigen Modeinformationen: Wie kleidet sich ein Gentleman auf freiem Fuße?“ „Das ist ein neuer Zug an dir“, sagte Kischkoweit verbittert, „daß du ironisch wirst, wenn du nicht weiter weißt.“ Er hat recht, dachte Hypko. So kann man mit ihm nicht sprechen. Und er staunte über die Erkenntnis, daß es schwer ist, Selbstverständliches mit einfachen, verständlichen Worten zu sagen. Er schwieg ein Weilchen und sah Kischkoweit aus seinen großen Augen an, die immer ein wenig fragend und vorwurfsvoll blickten und, weil sie Platz brauchten, die Stirn in Falten schoben. „Als wir aus dem Krieg kamen“, sagte er mit leiser, fester Stimme, „da war mir die Welt fremd geworden. Ich weiß, wie jemandem zumute ist, der tastet und sucht. Aber bitte, erinnere dich, wie wir angefangen haben nach dem Krieg: das Land halb Schutthaufen und halb Friedhof, und ein kleines Häuflein Menschen, nennen wir sie beim Namen: Kommunisten, die sich morgens nicht darum 61
gesorgt haben, ob auf ihrem Abendbrottisch ein Stück Schwarzbrot liegen wird; sie überlegten, wie man zu Roheisen kommt und wo wir die Ingenieure finden können, die verstehen, Häuser zu bauen und Maschinen, damit es wieder vorwärtsgeht mit uns. Und dann sind da ein paar, die grapschen das mühsam zusammengescharrte Kupfer und Zink wieder weg und werfen es denen in den Rachen, die uns ohnehin am liebsten mit Haut und Haaren gefressen hätten. Ist es so schwer zu begreifen, daß wir diese Leute hart angepackt und hinter Gitter gebracht haben, um ungestört arbeiten zu können, und daß wir keine Zeit – Pardon – und auch kein Verlangen hatten, uns um ihr Wohlbefinden zu kümmern?“ Kischkoweit sah Hypko an und dachte, er ist geblieben, wie er war. Er heuchelt nicht und färbt nichts schön. Er sagt seine Meinung, und weil es eine ehrliche Meinung ist, hat man verdammt wenig dagegenzusetzen. Und er erinnerte sich, an Hypko noch nie den fahrigen, ausweichenden Blick bemerkt zu haben, mit dem Menschen oft eine peinliche Situation zu überstehen versuchen oder den man an jemandem bemerkt, der sich scheut, die Wahrheit zu sagen, und doch nicht verdorben genug ist, schamlos zu lügen. Auch damals nach dem Krieg, als Hypko nicht zurechtkam, hatte er ihm ehrlich seine Niederlage eingestanden, und wenn er Hunger litt, war er zu Kischkoweit gegangen und hatte gesagt: „Ich weiß, daß du gestern Kartoffeln klauen warst, Eddi. Ich find’s scheußlich, aber gib mir trotzdem ein paar ab von den Knollen, ich hab’ Hunger.“ Unter diesem Gesetz der Ehrlichkeit war Hypko angetreten, und diesem Gesetz gehorchend, hatte er auch seinen Freund ins Zuchthaus gebracht. Nicht skrupellos, nicht ohne seelischen Schmerz, aber ohne Konflikt. 62
Das alles wußte Kischkoweit, oder er ahnte es, auch ohne Hypkos Charakter jemals bewußt analysiert zu haben. Ihm imponierten Menschen, die sich nicht durch vergängliche Gefühlsregungen von dem Lebensweg abbringen ließen, den sie einmal eingeschlagen hatten. Er sagte: „Von dir aus gesehen, Hardy, ist das schon in Ordnung, was du erzählst.“ „Im Strafvollzug“, fuhr Hypko fort, „brauchen wir noch mehr Psychologen und Pädagogen. Und nicht nur mehr, auch bessere. Unser Ziel ist, die Strafgefangenen in ihrem Beruf oder wenigstens in einem artverwandten Beruf arbeiten zu lassen, damit ihnen das Leben nicht fremd wird.“ „Wenn du noch ein Weilchen redest“, sagte Kischkoweit, „geh’ ich freiwillig wieder ’rein. Bloß um zu erleben, wie dufte so’n sozialistischer Knast ist.“ Hypko überhörte das. Er sagte: „Also, du hast Henny gesucht und sie nicht gefunden. Zu mir wolltest du nicht kommen, weil du dachtest, sie könnte mit mir verheiratet sein, und weil du was gegen die Polizei hattest. Aber gab es denn außer Henny und mir niemanden, der dir zu Anfang auf die Beine geholfen hätte?“ „Meinen Stiefbruder“, entgegnete Kischkoweit. „Er war nach wie vor freundlich zu mir. Vater hat kein Wort über die Geschichte verlauten lassen, Mutter auch nicht, aber die grämte und sorgte sich um mich, als sei ich ein kranker Säugling. Da bin ich schließlich ausgezogen und habe mir diese Bude hier gemietet. Und jetzt komme ich zurecht. Man begreift das fremde Leben, das einen anfangs erschreckt hat, allmählich. Aber dann kommt der Hunger, der große Hunger nach all den Dingen, an denen die anderen schon jahrelang Spaß haben, und dann möchte man alles auf einmal haben: den Wagen, den Fernse63
her, den Kühlschrank, das Motorboot. Über das Wie braucht man sich den Kopf gar nicht lange zu zerbrechen: hier wohnen, einfach und billig, drüben arbeiten und kaufen, was es dort billig gibt, den Rest eins zu vier tauschen und hier kaufen, was es hier billig gibt. Mensch, das bietet sich doch an!“ „Es bietet sich auch an“, erwiderte Hypko, „daß das Brot, das du hier ißt, erst gebacken werden mußte. Aber dafür läßt du andere sorgen. Auch bei uns bauen sich die Häuser nicht von allein, Eddi, und die Maschinen, die wir brauchen, fallen nicht vom Himmel. Und den Kindergarten und die Schule für deine Kinder, die schenkt uns der liebe Gott auch nicht.“ „Reg dich bloß nicht auf, Hardy“, sagte Kischkoweit. „Das alles hat funktioniert, während ich sechs Jahre lang nichts dafür getan habe, und es wird auch weiterhin funktionieren ohne mich.“ Das geht wieder schief, dachte Hypko. Man muß ganz von vorn mit ihm anfangen. Aber wer ist das – man? Ich kann es nicht sein, ich fahre bald für einige Monate zum Lehrgang. Seine künftige Frau wird es wohl auch nicht sein, und seine Freunde erst recht nicht. Hypko fühlte sich ganz elend vor Ratlosigkeit. „So was Dußliges“, sagte Kischkoweit. „Wir sitzen hier und quatschen und verdursten dabei.“ Hypko beobachtete ihn, wie er eine Flasche Weinbrand aus dem Schrank holte und die Gläser füllte. Ein stattlicher Mensch … mit seinem dichten, braunen Haar und den harten Gesichtszügen. Beherrscht und willensstark, aber nichts im Kopf außer der Gier nach dem Geld, das er eins zu vier tauschen kann. Diese Gier in ihm ist stärker, als ich geahnt habe, und er nimmt wohl nur sich selbst wichtig und seinen Drang, im Wohlstand zu leben. 64
„Prost!“ rief Kischkoweit. „Auf unser Wiedersehen!“ „Prost, Eddi.“ Hypko trank und dachte: Ich muß herausfinden, ob er außer seiner Grenzgängerei noch in einer krummen Sache hängt. Er setzte sein Glas ab und fragte unvermittelt: „Kennst du Erich Kloge?“ „Ja.“ „Weißt du, wo er zur Zeit steckt?“ „Nein“, log Kischkoweit, „aber ich kann dir die Adresse von seiner Mutter geben. Wahrscheinlich wohnt er bei ihr.“ Kischkoweit schenkte die Gläser wieder voll und trank das seine in einem Zuge aus. „Also gut, ich werde beichten. Zwei Päckchen Kakao, drei Flaschen Wein und einige Schachteln Zigaretten habe ich von ihm gekauft. Zum halben Ladenpreis.“ Hypko krauste die Stirn, und sein Blick war voller Sorge. „Die Sachen werden aus einem Bruch stammen, den er gemacht hat“, fügte Kischkoweit hinzu. „Und für dich ist das der Anfang zu einem neuen Ring von Verbrechen, in den du hineingerätst.“ Kischkoweit schüttelte den Kopf. „Von Kloge hätte ich mich sowieso getrennt.“ Das klang ehrlich. Hypko hatte ein feines Gehör dafür, ob ihm einer etwas vorflunkerte oder aufrichtig zu ihm sprach. Er dachte: Wenn Eddi ehrlich zu mir ist, so wie früher, wenn er mir auch das sagt, was nicht gerade ein günstiges Licht auf ihn wirft, dann werde ich ihm schon helfen können. Und er fragte ihn, wer Kloges Freunde seien. Kischkoweit ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien abzuwägen, was er sagen und was er verheimlichen wollte, und Hypko spürte, daß sich das Fremde, das Lauern, 65
die Vorsicht, aus schlechtem Gewissen geboren, wieder zwischen sie drängte. Endlich sagte Kischkoweit: „Philipp Durang ist sein Freund. Das ist der Wirt vom ‚Fernfahrer‘. Und Jürgen Lanze. Der saß heute Abend mit mir zusammen am Tisch.“ „Weiter.“ „Weiter niemand“, sagte Kischkoweit. „Du hast ja allerhand gelernt, Eddi“, sagte Hypko enttäuscht. „Und wieder einmal aus dem falschen Buch.“ „So?“ fragte Kischkoweit ungerührt. „Was habe ich denn gelernt?“ „Nur das zuzugeben, was wir schon wissen.“ Und mit scharfer, leiser Stimme fragte Hypko weiter: „Wer ist Kloges Vertrauter? Wer ist dabei, wenn er einen Bruch macht? Es muß einer sein, vor dem er Angst hat.“ Und er dachte: Warum sagt er nichts, wenn er sich sowieso von Kloge trennen will? Will er vielleicht jemanden decken? Oder ist er gar selbst derjenige, den wir suchen? Auf jeden Fall stemmt er sich dagegen, mit mir wie mit einem Freund zu sprechen. Aber ich muß herausfinden, was er mit der Sache zu tun hat; auf diese Weise erkenne ich, wie und womit ich ihm weiterhelfen kann. Also versuchen wir es einmal anders. Und er sagte herausfordernd: „Eddi, stell mal dein Licht flicht unter den Scheffel. Burschen wie Kloge und Konsorten, die kuschen doch vor dir. Warst du selbst Kloges Boß? Willst du dich von ihm trennen, weil er dir nicht gewachsen ist?“ Kischkoweit preßte die Lippen zusammen und hielt Hypkos Blick stand. Dann sagte er: „Du gehst zu weit, Hardy.“ Er schenkte die Gläser wieder voll, und seine Hand zitterte kein bißchen. „Nenne den Namen von Kloges Mittäter, Eddi. Du wolltest dich von Kloge trennen, das glaube ich dir. Aber 66
nun mach auch reinen Tisch mit Kloges Anhängern.“ „Die kenn’ ich nicht“, sagte Kischkoweit gelassen und trank das Glas leer. Hypko fragte: „Warum hast du dich mit der kleinen Borisch aus Petershagen eingelassen, wenn du bald heiraten willst?“ „Nanu?“ Kischkoweit grinste. „Da bin ich wohl aus Versehen in dein Jagdrevier geraten?“ Hypko überhörte die Antwort. „Du hast über Gisela Borisch den Einstiegsweg zum Petershagener Konsum ausbaldowert. Ein paar Tage später hast du mit Erich den Bruch gemacht.“ „Nein“, sagte Kischkoweit, „so kommt das nicht ganz hin. Der Feine wollte dies und das über den Konsum wissen. Ich hab’ ihn nicht nach dem Grund gefragt.“ „Aber du hast ihm dies und das erzählt?“ „So’n bißchen.“ „Mit anderen Worten: Du hast ihm den Tipp gegeben.“ „Das beweise mir erst mal.“ „Ich denk’ drüber nach“, sagte Hypko. „Sicherlich läßt sich’s machen. Aber daß du die kleine Borisch hast grün und blau schlagen lassen, nachdem du sie abserviert hattest, dafür könnt’ ich vor dir ausspucken, Eddi.“ Kischkoweit kniff die schmalen Lippen zu einem Strich zusammen, die Mundwinkel weit nach unten gezogen. Aus halbgeschlossenen Augen betrachtete er Hypko wie einen, dem man sein ganzes Geld anvertraut und der es durchgebracht hat. Dann sagte er: „Ich bin von dir bessere Bluffs gewohnt.“ „Natürlich. Das hier ist ja auch keiner.“ Und er erzählte ihm Fräulein Borischs Erlebnis. Kischkoweit saß mit zusammengepreßten Lippen und starrem Gesichtsausdruck. 67
Hypko fragte: „Hast du ’ne Ahnung, wer sich so etwas in deinem Namen erlaubt?“ „Nein.“ „Du willst mir den Kerl also nicht nennen. Ist es der gleiche, mit dem Kloge den Bruch gemacht hat? Der gleiche, den Kloge deckt? Hast du auch Angst vor ihm?“ „Ich habe vor niemandem Angst“, entgegnete Kischkoweit ruhig. Und Hypko glaubte ihm. Er fragte noch, was es mit den Verkehrsampeln im „Fernfahrer“ auf sich habe. Kischkoweits Gesichtszüge entspannten sich. „Wenn einer von der Kripo da ist“, sagte er, „drehen sie auf Rot. Kommen Uniformierte oder Fremde, bei denen sie nicht wissen, was sie von ihnen zu halten haben, wird auf Gelb geschaltet. Grün brennt, wenn alles in Ordnung geht.“ Hypko erhob sich und zog seinen Mantel über, den er neben der Tür an einen Haken gehängt hatte. „Mach’s gut, Eddi.“ „Komm mal wieder vorbei“, sagte Kischkoweit. Hypko lächelte. „Übrigens – hast du dem Wirt gesteckt, daß ich von der Polizei bin?“ „Nein“, sagte Kischkoweit. „Mich hat es selbst überrascht, daß mit einemmal rotes Licht brannte. Aber ich konnte mir denken, daß es dir galt.“ „Wo werden die Ampeln eingeschaltet?“ „Am Bierausschank oder hinten, in Fips Privaträumen.“ „Der Wirt war’s nicht“, sagte Hypko. „Der stand an meinem Tisch.“ Edwin Kischkoweit nickte, „Ich weiß. Es muß einer hinten gewesen sein, den ich nicht kenne.“ Gedankenversunken stieg Eberhard Hypko die ausgetretenen Stufen hinunter. Als er in der zweiten Etage an68
gelangt war, ging das Hauslicht aus. Hypko lehnte sich ans Treppengeländer und zündete eine Zigarette an. Im Dunkeln trat er an das Fenster und blickte auf die menschenleere Dorfstraße hinaus. Der Wind strich durch die kahlen Bäume, und die Äste bewegten sich ruckartig wie dürre, steif gewordene Finger. Am Haus gegenüber blakte eine Laterne. Hypkos Blick schweifte darüber hin, aber er erfaßte nicht, was er sah. Für ihn war die Nacht angefüllt mit Bildern aus der Vergangenheit, mit Fragen und mit Antworten. Er war verzagt darüber, daß es ihm nicht gelingen wollte, Edwin Kischkoweit auf den Platz im Leben zu stellen, auf den er gehörte. Rowdys, Schläger, Taschendiebe und Einbrecher hatte Eberhard Hypko festgenommen, vor Gericht gebracht und, was ihm weit wichtiger war, ihnen zu der Einsicht verholfen, daß ihr Leben erst dann glücklich sein würde, wenn sie ihre oft außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht gegen die menschliche Gesellschaft, sondern für sie einsetzten. Edwin Kischkoweit aber, der sein Freund gewesen war, entglitt ihm. Plötzlich bist du über einen Menschen hinausgewachsen, der dir einmal Halt gegeben hat, dachte Hypko. Plötzlich? Nichts geht plötzlich. Alles bereitet sich vor, entwickelt sich, und wenn man nicht achtgibt auf dieses Sichvorbereiten und Entwickeln, steht man eines Tages vor dem Ergebnis, ist bestürzt und sagt: So plötzlich … In Wahrheit war weder ihre Freundschaft noch ihr Auseinanderleben plötzlich gekommen. Sie hatten sich als Flakhelfer kennengelernt, und daß sie Freunde wurden, war kein Zufall. Achtzehnjährige Flakhelfer gab es viele, aber es gab nur zwei Musterknaben unter ihnen, Edwin Kischkoweit und Eberhard Hypko. Zwei Musterflakhelfer aus verschiedenartigen Motiven: Edwin 69
Kischkoweit hatte die Erfahrung gemacht, daß sich das Leben leichter ertragen ließ, wenn man zur rechten Zeit strammstand, zur rechten Zeit „Sieg Heil“ brüllte, zur rechten Zeit durch den Dreck robbte, zur rechten Zeit am Geschütz war und schoß. Der Musterflakhelfer Eberhard Hypko aber kämpfte ehrlichen Herzens für den Endsieg. Und so einer weiß nicht weiter, wenn der Sieg ausbleibt und das Ende trotzdem kommt. Einer wie Eddi dagegen, der wußte immer weiter, der tat wieder zur rechten Zeit das Richtige für sich und überlebte und lebte nicht schlecht. Den kümmerte nichts und niemand, und weil er sich mit Fragen nicht quälte, erschütterten ihn auch keine Antworten. Hypko hatte für eine Idee gelebt und gekämpft, und sein Vater war sogar dafür gestorben. Und das sollte alles ein großer Dreck gewesen sein? Ein Verbrechen? Warum? Diesem Warum hatte Hypko nachgespürt, so zäh und ausdauernd wie Kischkoweit den besten Angeboten auf dem schwarzen Markt. Kischkoweit hatte immer die günstigsten Angebote und die niedrigsten Preise ausbaldowert, und Hypko war durch sein Nachspüren auf die wichtigste Frage gestoßen: Cui bono, wem nützt es? Und als er die Antwort begriffen hatte – wenn es der Arbeiterklasse nützt, deiner Klasse, dann ist es gut und richtig –, als er diese Antwort begriffen hatte, sah er auch den Weg vor sich, den er gehen mußte. Er ging ihn seitdem aufrecht und unbeirrbar, und er war von da an Edwin Kischkoweit, dem Lebenstüchtigen, überlegen. Von da an kämpfte er auch zäh und ausdauernd, aber ohne Erfolg um seinen Freund. Kischkoweit blieb ein Einzelgänger, dem die Mitmenschen höchstens dann etwas bedeuteten, wenn sie sich ihm unterwarfen und seine Wünsche erfüllten. 70
Der Oberleutnant schreckte aus seinen Gedanken auf. Über ihm im Treppenhaus knarrte es. Jemand mußte die Holztreppe betreten haben, die von der vierten Etage, auf der Kischkoweit wohnte, zum Boden führte. An einer Tür wurde dreimal kurz und leise geklingelt. Kaum war der letzte Ton verhallt, stieß jemand die Tür auf und sagte: „Das habe ich mir doch gedacht.“ Es war Kischkoweits Stimme. Hypko drückte die Zigarette aus und huschte lautlos vor Kischkoweits Tür. Er hörte Stimmen, konnte jedoch kein Wort verstehen. Hypko spürte, daß er der Lösung eines Rätsels nahe war. Einer, der ihn wahrscheinlich kannte und Grund hatte, ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sich auf dem Boden versteckt gehalten und gewartet, bis Hypko Kischkoweit verließ. Hypko überlegte blitzschnell, wer ihn in den vergangenen Stunden beobachtet haben konnte. Sicherlich war es derjenige, der im Lokal die Ampeln auf Rot geschaltet hatte. Und dann erinnerte er sich an den Volkswagen, der auf der Dorfstraße an ihnen vorbeigerast war. Wer darin gesessen hatte, wußte er nicht. Im Unterbewußtsein hatte er lediglich registriert, daß ein Volkswagen vorübergefahren war. Und ein Volkswagen hatte dem Haus gegenüber unter der blakenden Laterne geparkt. Hypko klingelte. Er wußte, daß seine Chance, den Fremden zu Gesicht zu bekommen, gering war. Er hatte kein Recht, in Kischkoweits Wohnung einzudringen. Edwin Kischkoweit öffnete die Tür nur einen Spalt. Der Oberleutnant schob den Fuß zwischen Tür und Schwelle, sagte: „… ’tschuldige, Eddi, hab’ was vergessen“ und schlüpfte unter Kischkoweits Arm hindurch in den Korridor. „Hypko!“ rief Kischkoweit böse, „‘raus hier!“ 71
Doch der Oberleutnant stand schon im Wohnzimmer. Alles war noch so, wie er es verlassen hatte. Nichts deutete auf einen Besucher hin. Bevor ihn Kischkoweit daran hindern konnte, riß Hypko die Küchentür auf. Auch hier war niemand. In der Mitte der Küche stand ein Korb mit schmutziger Wäsche. Der hatte bei Hypkos erstem Besuch noch nicht dort gestanden. Doch er war zu klein, als daß er einem Menschen als Versteck hätte dienen können. Selbst ein Kind wäre darin aufgefallen. Kischkoweit nahm Hypko die Klinke aus der Hand und schloß langsam die Küchentür. Sie sahen sich an, und einer versuchte die Gedanken des anderen zu erraten. Kischkoweit war wieder ruhig und beherrscht. „Was willst du noch, Hypko?“ „Wer ist bei dir, Eddi?“ „Niemand“, sagte Kischkoweit. „Geh jetzt.“ Hypko ging ohne ein weiteres Wort zur Tür. Vor dem Haus blieb Hypko eine Zeitlang stehen, er zog mechanisch sein Notizbuch hervor und notierte die Nummer des Volkswagens, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Mit einemmal fühlte sich Hypko müde und ausgelaugt, aber er wollte nicht nach Hause gehen und allein sein mit sich und seinen Gedanken. Er blickte zum Himmel, sah den Mond durch die Wolken schwimmen und spürte den Wind, der über die Felder ins Dorf strich. Der Wind brachte den Geruch von Erde und gerodeten Kartoffeln mit. Langsam ging Hypko die Dorfstraße entlang. Wie lange war es her, daß sie auf dem Acker am Feuer gesessen und Kartoffeln in die Glut geworfen hatten – Eddi und er. Die meisten davon waren gestohlen, einige erbettelt und 72
wenige davon auf den abgeernteten Feldern mit der Hacke gestoppelt worden. Hypko spürte Traurigkeit in sich. Nicht weil er in einer Stunde, die zur Schwermut verlockte, seiner Jugendzeit nachtrauerte, sondern weil er sich um seinen Jugendfreund sorgte. Jetzt waren sie sich räumlich wieder nah, ebenso wie früher, aber ihre Freundschaft war erloschen, weil sie Eddi lästig geworden war. Dabei hätte er Kischkoweit besser als Freund denn als Amtsperson helfen können. Das beste wäre, wenn ich ihn von hier weglotsen könnte, dachte Hypko. Hier hat er damals seine Bande organisiert, hier wird er über kurz oder lang wieder mit diesem und jenem zusammentreffen. Eddi müßte in ein ordentliches, gutes Kollektiv, vielleicht in einen Großbetrieb, so wie damals, als wir zusammen Schlosser gelernt haben. Ich müßte ihn mit einer Arbeit weglocken, die ihn reizt, und den reizt alles, was mit Autos zu tun hat. Hypko war inzwischen am S-Bahnhof angelangt. Der Zug nach Strausberg fuhr erst in zwanzig Minuten, aber auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig lief eben der Zug in Richtung Berlin ein. Etwas Besseres kann mir gar nicht passieren, dachte Hypko, der sich trotz seiner Müdigkeit noch immer scheute, in das Strausberger Zimmer zurückzukehren, das er zur Untermiete bewohnte. Er sprang in den Berliner Zug und fuhr zu seiner Freundin Marianne Holter, einem Mädchen, dessen Großmut und Verständnis er oft wider Willen strapazieren mußte. Sicherlich hätte er sie längst geheiratet, wenn nicht immer wieder etwas dazwischengekommen wäre: ein Sondereinsatz im Süden der Republik, zwei Jahre Studium in Moskau für Marianne und in drei Wochen nun wieder ein mehrmonatiger Lehrgang für Hypko. Eine Viertelstunde vor Mitternacht klingelte er endlich 73
an Mariannes Haustür. Im vierten Stockwerk wurde ein Fenster geöffnet, und ein sanftes Stimmchen fragte: „Ja? Was gibt’s denn?“ „Mich gibt’s.“ „Paß auf“, sagte sie. Hypko riß sich den Hut vom Kopf, sprang zur Seite und ließ den herabfallenden Schlüssel im Hut landen. „Das klappt ja noch wie am ersten Tag.“ „Gib nicht so an“, sagte sie. „Am ersten Tag habe ich dir den Schlüssel nämlich gar nicht hinuntergeworfen.“ Hypko grinste. War auch nicht nötig gewesen. Da war sie höchstpersönlich an der Haustür erschienen, Schlafanzug an und Bademantel darüber. Und ein bißchen gezittert hatte sie auch, obwohl es gar nicht kalt gewesen war. Na, lassen wir das. Später, als sie einen Aperitif tranken – Marianne saß auf dem Bettrand, und Hypko hatte sich einen Stuhl herangezogen –, unterhielten sie sich mit den Augen. Mit Marianne konnte er sich prächtig unterhalten, ohne ein Wort zu sprechen. Sie verstand, daß er mit Ereignissen fertig werden mußte, die durch ein Sichaussprechen auch nicht aus der Welt geschafft wurden, und sie verstand auch, daß er heute eine Schlappe erlitten hatte. Eberhard Hypko aber freute sich über ihr Verstehen und wurde langsam wieder fröhlich. Als sie die Aperitifflasche geleert hatten, trug Hypko sie samt den Gläsern in die Küche, und da er ein Mensch war, der Ordnung liebte, spülte er gleich die Gläser aus. Unter dem Spültisch war der Vorhang verrutscht, der den Mülleimer, eine Schüssel Kartoffeln und einen Beutel mit Zwiebeln verdeckte. Hypko zupfte ihn gerade und hielt mitten in der Bewegung inne. Er starrte den Vorhang an, als gelte es, ihm ein Geheimnis zu entreißen. 74
In Kischkoweits Küche war auch ein Vorhang gewesen, und dahinter hatte der Wäschekorb gestanden, als Hypko das erste Mal in der Wohnung gewesen war. Beim zweiten Mal aber stand der Wäschekorb mitten in der Küche, zu klein, als daß sich ein Mensch hätte darin verbergen können – hinter dem Vorhang aber mochte wohl einer Platz gefunden haben. Hypko schlug sich an die Stirn und rief Marianne durch die Tür zu: „Haben die mir aber eine Kreuzlage verpaßt! Donnerwetter, haben die mich aufs Kreuz geschmissen!“ Nun wußte er, daß Kischkoweit einen Gauner deckte, daß er Interesse an ihm hatte, weil er vielleicht einen zweiten Ring aufbauen wollte. Und Hypko wußte, daß er sein Bestes geben mußte, wenn er diesen Ring zerschlagen wollte. Die Durchsuchung im „Fernfahrer“ brachte ein Zimmer voll Diebesgut zutage. Philipp Durang hatte Erich Kloge Zigaretten und Spirituosen zum halben Preis abgekauft und sie zum Gaststättenpreis wieder abgesetzt. Ein einträgliches Geschäft. Die Folgen bekam der Wirt nun zu spüren. Falls er es vorher noch nicht gewußt hatte, so wurde ihm während der Vernehmungen klargemacht, daß der Hehler nicht besser ist als der Stehler. Er quittierte diese Erkenntnis mit Seufzern und Tränen und reumütigen Blicken aus fettumpolsterten kleinen Augen. Die Reue kam zu spät. Die sinnvolle Ampelbeleuchtung wurde außer Betrieb gesetzt, das Lokal blieb geschlossen. Auch der Volkswagen, der am Abend zuvor an Hypko und Kischkoweit vorbeigefahren war, gehörte Philipp Durang. Er selbst nannte an die zwanzig Gäste, die angeblich bezeugen konnten, daß er den Wagen an jenem Abend nicht mehr benutzt hatte. 75
„Morgens stand er auf dem Hof, so wie ich ihn verlassen hatte“, erzählte Durang mit zur Schau gestellter Verwunderung. „Ich kann mir gar nicht erklären, daß er eine Zeitlang weggewesen sein soll.“ Wen deckten Kloge, Kischkoweit und nun auch Philipp Durang? Jürgen Lanze, dem Jungen mit dem Pferdegesicht, schien während der Vernehmung das Gedächtnis abhanden gekommen zu sein. „Weiß gar nicht, wovon Sie reden, Herr Oberleutnant“, meinte er immer wieder. Daraufhin sagte ihm Leutnant Rüdiger sehr drastisch, wovon die Rede sei, und Hypko half ihm geduldig, das geflohene Gedächtnis wieder einzufangen. Die erste Nacht in der Zelle schien sich auf Herrn Lanzes Erinnerungsvermögen ebenfalls recht heilsam ausgewirkt zu haben, denn am folgenden Tag funktionierte es so, daß Oberleutnant Hypko nicht das geringste mehr daran auszusetzen hatte. Der pferdegesichtige Junge entpuppte sich als typischer Hehler: zu feige zur Aktivität – „Nein, Herr Oberleutnant, hab’ noch nie ’nen Bruch gemacht, krieg’ ich einfach nicht fertig so was“ –, aber habgierig genug, sich an der Beute mit festzubeißen. Kaum stand Lanzes Beichte auf dem Papier, meldete der Wachtmeister ein Fräulein Anne Heister. Sie wolle unbedingt den Oberleutnant sprechen, der sie am Vortag besucht hatte. „Ein anhängliches Kind“, kommentierte Rüdiger und führte den Pferdegesichtigen hinaus. Anne Heister sah verweint aus und unglücklich. Und weniger albern. Ihr Make-up war heute dezent und ihr Benehmen ohne Koketterie und Affektiertheit. „Mir ist noch etwas eingefallen“, sagte sie und legte dem Ober76
leutnant eine Armbanduhr auf den Tisch. „Die hat mir Erich zum Geburtstag geschenkt. Ich nehme sie nur zurück, wenn ganz sicher ist, daß er sie nicht gestohlen hat.“ „Wir werden das nachprüfen“, erwiderte Hypko. „Vielen Dank auch. Übrigens – haben Sie schon mit Ihrem Bruder gesprochen?“ Das Mädchen nickte. „Ich habe vieles falsch gemacht. Und was Erich getan hat, muß ich verurteilen. Nur, daß ich ihn gern habe, das hat sich von gestern auf heute kein bißchen verändert.“ „Sie werden lange von ihm getrennt sein“, meinte Hypko, „da wollen wir uns mal gar nichts vormachen.“ Sie preßte die Lippen zusammen und wandte sich zur Tür. „Bitte, geben Sie mir Bescheid“, sagte sie im Hinausgehen, „ob ich die Uhr wieder abholen darf.“ Sie durfte nicht. Die Nummer der Uhr war zusammen mit einigen ihrer markantesten Merkmale im Sachfahndungsbuch vermerkt. Daraufhin konnte Erich Kloge ein weiterer Einbruch nachgewiesen werden. Auch Edwin Kischkoweit mußte sich zu einer offiziellen Vernehmung in Oberleutnant Hypkos Dienststelle einfinden. Ruhig, mit verschlossenem Gesicht, die Mundwinkel nach unten gezogen, saß er vor Hypko und Rüdiger. Ohne weiteres gab er zu, einige Flaschen Wein, Kakao und Zigaretten von Kloge gekauft zu haben; er sagte, daß er es bereue und auch ohne das Eingreifen der Polizei sich künftig von Lanze, Kloge und Philipp Durang ferngehalten hätte. Weitere Bekannte von Kloge zu kennen verneinte er – ruhig, energisch, keinen Widerspruch duldend. Als ihm Hypko auf den Kopf zusagte, wo sich an jenem Abend sein Besucher versteckt gehalten hatte, sagte er einfach: „Du hast dich geirrt, Hardy.“ 77
Das klang so überzeugend, daß Leutnant Rüdiger durchaus geneigt war, ihm zu glauben. Und er sagte zu Hypko, nachdem sie Kischkoweit entlassen hatten: „Der macht einen sympathischen Eindruck.“ Drei Wochen später, als sich Oberleutnant Hypko von seinen Genossen verabschiedete, um nach Dresden zum Lehrgang zu fahren, mahnte er Rüdiger noch einmal: „Gib acht auf Edwin Kischkoweit.“
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4. Die Grüntaler Straße im Wedding gehört zu jenen Straßen, an denen die pompösen Sightseeing-Busse in weitem Bogen vorbeifahren. Sie ist eng und schmutzig, und aus den Hinterhöfen der grauen Mietskästen steigt übler Geruch auf. Eng und schmutzig war auch das Zimmer, das Norbert Schattan mit seiner schwangeren Frau und zwei Kindern bewohnte. Schattan litt unter der Enge, der Schmutz kümmerte ihn nicht. Es war kurz vor zehn Uhr. Lore Schattan stand im Nachthemd am Küchentisch, schnitt Weißbrotstullen und holte ein Einmachglas voll Marmelade aus dem Schrank. „Streich dir selbst was drauf“, sagte sie zu ihrer neunjährigen Tochter. „Und kümmere dich um den Kleinen.“ Dann nahm sie einen Schmöker vom Nachttisch und kuschelte sich wieder in das breite Bett, in dem ihr Mann soeben laut gähnend erwachte. Schattan rieb sich die Augen, blinzelte zur Uhr und registrierte, daß seine Frau um zehn Uhr morgens lesend im Bett saß und die Tochter, statt in der Schule zu sein, den kleinen Bruder fütterte. Also war Sonntag. Ein Blick zum Fenster, das aussah, als hätte es Patina angesetzt, ließ Schattan wissen, daß draußen die Sonne schien und der Himmel vermutlich blau war. „Zigaretten“, sagte er. Daraufhin landete ein Päckchen auf der Bettdecke. Susanne, seine Ältere, hatte den Bogen ’raus. Gelernt ist gelernt. Fluchend bückte sich Schattan nach der Streichholzschachtel, die noch vom Vortag her neben dem Bett lag, 79
und steckte sich eine Zigarette an. Er setzte sich im Bett auf, rauchte gemächlich und sah versonnen den Rauchwölkchen nach. „Es muß etwas geschehen“, sagte er. Als seine Worte keinen Widerhall fanden, nahm er der Frau das Buch aus der Hand und sagte noch einmal: „Es muß etwas geschehen.“ „In einem halben Jahr hausen wir zu fünft hier“, antwortete sie. „Das wird geschehen. Und ich habe gedacht, daß einer ‘ne ganz große Idee kriegt, wenn er fünf Jahre lang Zeit zum Nachdenken hatte.“ Norbert Schattan kannte derartige Vorwürfe und überhörte sie. „Eigentlich hätte ich im Knast bleiben können“, nörgelte er. „Fünfmannzelle. Und für so was muß man auch noch Miete zahlen.“ „Hätťst bleiben können“, sagte Lore gleichgültig. „Da wäre ich wenigstens nicht schon wieder schwanger.“ „Zumindest nicht von mir“, entgegnete Schattan. Lore zuckte mit den Schultern und griff wieder nach dem Schmöker. In diesem Sonntagmorgengespräch war nichts Bösartiges gewesen, wie es überhaupt im Zusammenleben der Familie Schattan keine Bösartigkeiten gab. Lore kannte ihren Norbert. Sie hatte ihn gleich nach der ersten Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte, besser gekannt als mancher, der monatelang mit ihm zusammengearbeitet hatte. Lore und Norbert Schattan respektierten sich gegenseitig; sie wußten, daß man so leicht keinen Partner finden würde, der einem so ähnlich war und einen deshalb so gut verstand wie eben dieser, den man geheiratet hatte. Man sagte seine Meinung und hörte sich die des anderen an, und wenn sie einem nicht paßte, ging man schulterzuckend darüber hinweg. Mit der Zeit würde sich sowieso 80
erweisen, wer recht hatte; Streit griff die Nerven an, und die brauchte man sicherlich noch für wichtigere Dinge. Schattan fragte auch nicht nach dem, was Lore während der Zeit seiner Inhaftierung getrieben hatte, obwohl ihm da einiges zu Ohren gekommen war. Für ihn zählte nur, daß sie am Tage seiner Entlassung vor der Haftanstalt auf ihn gewartet und seitdem wieder Freud und Leid auf ihre Art mit ihm geteilt hatte. Schattan schwang sich aus dem Bett,, schüttete Wasser in eine Schüssel, von der täglich ein wenig Emaille abplatzte, und wusch sich oberflächlich. Beim Ankleiden stellte er sich vor einen großen fleckigen Spiegel und dachte, daß er sich hätte rasieren sollen, bevor er das Hemd anzog. Nun mußte er achtgeben, daß er nichts darauf spritzte, denn das war sein letztes sauberes Hemd. Lore hätte gestern die Wäsche wegbringen müssen, aber die liebenswerte Schlampe hatte sicherlich geschmökert oder geklatscht. Nach dem Rasieren bereitete sich Schattan eine Tasse Kaffee und säbelte drei Stullen vom Weißbrot ab. Als er die erste mit Marmelade bestrich, klopfte es. Sie blickten alle auf, sogar der Einjährige in seinem Gitterbett. Es klopfte noch einmal, kurz und kräftig, dann wurde die Tür geöffnet, noch ehe jemand auch nur einen Ton gesagt hatte. Im Zimmer stand Edwin Kischkoweit. „Tag, Fuchs“, sagte er und deutete durch das Hochziehen der Oberlippe ein Lächeln an. „Mensch, der Lange!“ Eine Begrüßung zwischen ehemaligen Knastbrüdern kann herzlicher sein als zwischen Vater und Sohn, dachte Lore und bezeugte ihre Sympathie für Eddi, indem sie den Schmöker beiseite legte und, mit Nachthemd und 81
Schürze angetan, ihrem Gast einen Kaffee brühte. „Wie hast du uns denn gefunden?“ fragte Schattan, als sie zu dritt am Tisch saßen. Und Kischkoweit pries den Zufall, ohne den er sicherlich heute noch, wie schon seit Monaten, vergeblich nach Schattan Ausschau halten würde. Er war in Leipzig gewesen, und dort lief ihm Schattans Vater über den Weg. Die alten Leute hatten aus Scham und Kummer über den einzigen Sohn ihren Heimatort bei Berlin verlassen und es vorgezogen, in einer Gegend zu leben, in der sie unbekannt waren. „Da du so nett gewesen bist, ihnen eine Weihnachtskarte mit Absender zu schicken, konnten sie mir deine Adresse geben“, sagte Kischkoweit. „Und nun erzähl mir, warum du in diesem Luxusappartement einquartiert bist.“ Es hatte mit Schattans vorzeitiger Entlassung begonnen, die er nicht zuletzt seinem Vater verdankte. Der alte Mann hatte, im Glauben an den guten Kern in seinem Sohn, Staatsanwalt, Gericht, ja sogar den Ministerpräsidenten mit Bittschriften und Gnadengesuchen überschüttet. Auf seine Bitten hin verfaßte Norbert Schattan nach der Entlassung ein Dankschreiben an den Staatsanwalt, in dem es unter anderem hieß: „… will nun als Dank dafür mich verpflichten, der Mensch zu sein und zu bleiben, den Sie in mir erwarten.“ Acht Tage später aber stand Schattan, eine alte Gewohnheit wieder aufnehmend, in einer fremden Gartenlaube, paßte sich ein Paar Stiefel an, stopfte Konserven in den dafür mitgebrachten Rucksack und klemmte sich eine Heizsonne unter den Arm. Nach weiteren zwei Tagen marschierte ein Wachtmeister vor Schattans Haus auf und ab und warf scheinbar gleichgültige Blicke auf dessen Wohnstatt. Doch 82
Schattan deutete sie auf seine Art. „Ich muß einen Fehler gemacht haben“, sagte er zu seiner Frau, „bin wohl ein bißchen aus der Übung. Aber daß mich der Kerl da draußen bewacht und daß in wenigen Minuten ein Streifenwagen vorfährt oder Herren im Ledermantel an die Tür klopfen, das kann ich mir gerade noch ausrechnen.“ So witterte der Fuchs eine Falle und huschte zum Hinterausgang aus dem Bau. Außer Frau und Tochter nahm er nur das Bargeld mit. Zu dritt hasteten sie quer über die Felder zur nächsten S-Bahn-Station und fuhren durch bis zum Lehrter Bahnhof. „Das wäre dir früher nicht passiert.“ Edwin Kischkoweit schüttelte mißbilligend den Kopf. „Mit mir wäre dir das nicht passiert, so in Panik zu machen. Mensch, Fuchs, die Uniformierten können sich doch nicht in Luft auflösen, bloß weil du wieder draußen bist. Da kurvt einer dienstbeflissen an deinem Haus vorbei, vielleicht, weil er einen Wagen im Parkverbot stehen sieht oder weil eine Frau in die Anlagen pinkelt, und du packst deinen Koffer und reißt aus.“ „Darauf hättest du auch kommen können“, sagte Lore und warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. Doch Schattan schien von Kischkoweits Auffassung noch nicht überzeugt zu sein und verteidigte seine damalige Reaktion mit dem Hinweis, ein Krimineller müsse wissen, daß er nie genau weiß, was die Polizei weiß. „Na schön“, sagte seine Frau. „Aber vielleicht weiß jetzt einer, wie das nun weitergehen soll mit uns.“ „Du mußt ’rüber, Fuchs“, entschied Kischkoweit, und Schattan spürte wieder die merkwürdige Autorität, die von Kischkoweit ausging. Er ahnte auch, daß Eddi ihn nicht monatelang gesucht hatte, um ihm nur guten Tag zu sagen. 83
Schattan vermutete richtig. Edwin Kischkoweit hatte einen Plan gemacht – für seine eigene und für Schattans Zukunft. Kischkoweit brauchte diesen schmächtigen, drahtigen und listigen Burschen, der auf den Spitznamen Fuchs hörte. Zwar war er leichtlebig, impulsiv und hatte ein loses Mundwerk, doch da gerade das die Eigenschaften waren, die Kischkoweit fehlten, kam er sich ohne Schattan irgendwie unselbständig vor. Außerdem war ihm der Fuchs für bestimmte Arbeiten unentbehrlich, für schwierige Einstiege zum Beispiel, denn er konnte sich mit den geschmeidigen Bewegungen einer indischen Tempeltänzerin zwischen Eisenstäben hindurchwinden, kroch in Öffnungen, in die andere nicht einmal den Kopf zu stecken wagten, und er konnte einem Menschen so lautlos folgen, als sei er dessen Schatten. Da Kischkoweit schwieg, versuchte der Fuchs, ihn aus der Reserve zu locken. Er machte ihn aufmerksam, daß er, Schattan, dem Staatsanwalt versprochen habe, ihn nicht mehr zu enttäuschen, dann aber hatte er gestohlen und war nach dem Westen abgerückt. Konnte er nun einfach zurückkommen? So mit ‚Guten Tag, Herr Staatsanwalt’. – Ach, mein Versprechen? Ja, wissen Sie, da sind mir die Uniformierten dazwischengekommen. Aber jetzt bin ich wieder da und kann’s einlösen, falls Sie noch Wert darauf legen … „So geht das doch auch nicht“, sagte Schattan. Kischkoweit stemmte die Ellenbogen auf den Tisch, die Fäuste unter das Kinn und blickte in eine unbestimmte Ferne. Schattan kannte das noch von früher und wußte, daß man Kischkoweit in dieser Situation nicht stören durfte. Sein Denken schien den Raum auszufüllen, die Menschen um ihn herum zur Seite zu drücken. Lore kuschelte sich in ihr schlampiges weites Nachthemd, und 84
Schattan duckte sich, als erwartete er einen Schlag. „Zuerst schreibst du dem Staatsanwalt wieder einen Brief“, entschied Kischkoweit schließlich. „Er scheint ein umgänglicher Mensch zu sein. Deine angegriffenen Nerven müssen in dem Brief erwähnt werden und dein Gefühl, du wärst beobachtet worden. Panikstimmung, weil das nicht nach der versprochenen Freiheit, sondern nach erweitertem Gefängnis aussah. In dieser Stimmung bist du getürmt. Zwei Jahre Leben im Elend – und nun Sehnsucht nach dem Heimatdorf. Bitte um Rückkehr. Kapiert?“ „Ja“, sagte Schattan, „kapiert.“ „Bei günstiger Antwort sofort Koffer packen und ab nach Fredersdorf. Drüben wohnt man billiger. Und dann wird gearbeitet, fleißig, solide, zuverlässig. Jeder in seinem Beruf. Ich als Autoschlosser, du als Elektriker – aber im Westen.“ Bei dem Wort „arbeiten“ blickte Schattan erschrocken auf, er schien sich verhört zu haben. Doch Kischkoweit ließ weder Frage noch Einwurf zu und wiederholte: „Wir arbeiten.“ Sie würden ihren künftigen Wohlstand glaubhaft machen müssen, fügte er erklärend hinzu. Wohlstand ohne Arbeit schafft Mißtrauen. Sie müßten das Risiko klein halten. „Du kennst doch wohl Hypko noch?“ fragte er schließlich. Und Schattan fragte zurück: „Mußt du uns jetzt ausgerechnet an den erinnern?“ „Muß ich. Er sitzt in Strausberg bei der Kripo. Hat’s schon bis zum Oberleutnant gebracht.“ „Und da sollen wir nach Fredersdorf ziehen!“ rief Lore ängstlich dazwischen. „Von dem kann unsereins gar nicht weit genug weg sein.“ 85
„Die Entfernung spielt doch dabei keine Rolle!“ entgegnete Kischkoweit ärgerlich. „Wenn der dich finden will, findet er dich auch bei den Eskimos. Wichtig ist, daß wir ihm keine Beweise für irgendwelche krumme Touren liefern. Denken soll er von mir aus, was er will.“ „Hat er dich schon gesehen?“ fragte Schattan. „Hat er. Wir sind uns sozusagen in die Arme gelaufen.“ „Prost Mahlzeit! Wir in Fredersdorf und Hypko in Strausberg. Das wird ja ein Kampf ums Dasein für uns.“ „Er verschwindet bald“, sagte Kischkoweit beruhigend. „Er geht zu einem Lehrgang. Und ich rechne damit, daß das kleine fixe Kerlchen so viel Erfolg hat, daß er bald woanders eingesetzt wird. Aber solange er noch da ist, müssen wir besonders vorsichtig sein. Vorläufig lassen wir die Strausberger Gegend in Ruhe. Wir können die ersten Brüche in Berlin oder in Potsdam machen.“ Anfangs würde auch nur nach Plan gestohlen werden, erklärte Kischkoweit weiter, und nur für den eigenen Bedarf. Hehler sollten später herangezogen werden, wenn man wieder fest im Sattel saß. Unauffällig und einfach mußten sie leben, und unauffällig und einfach mußte auch ihre Art sein, zu Wohlstand zu gelangen. Sie würden anderen nicht nachstehen an Reichtum, keinem Staatsanwalt und keinem Bürgermeister, und Kischkoweits Bruder, dem Ingenieur, erst recht nicht. Ein Häuschen mußte sein und ein Wagen neuester Bauart und auch sonst noch verschiedenes, ein Motorboot vielleicht und ein Bungalow. „So werden wir leben“, sagte Edwin Kischkoweit. Lore sah ihn mit glänzenden Augen an. Da ihre Auffassung von Luxus noch um einige Grade primitiver war, fügte sie hinzu: „Sekt muß im Kühlschrank stehen, 86
Pelzmäntel will ich haben und Perlonwäsche, in der man sich wohler fühlt als in der eigenen Haut.“ Schattan kramte aus einem Kommodenkasten zwischen Taschentüchern, Unterhemden und Windeln Schreibpapier und Umschläge heraus und begann laut redend den Brief an den Staatsanwalt zu formulieren. Lore mäkelte an Worten wie „abhauen“, „Knast“ und „Dreckleben“ herum und wünschte, sie durch vornehmer klingende zu ersetzen. Kischkoweit behielt sich das Richteramt vor, nickte bald Schattan, bald Lore zu, und wem er Beifall zollte, dessen Formulierung galt. Um die Mittagszeit lag der Brief sauber abgeschrieben im Kuvert auf dem Tisch. Lore kleidete sich in einer Zimmerecke ungeniert an, und dann begaben sich alle, einschließlich Tochter und Baby, zum nächsten Briefkasten. Lore wollte auf die Rückseite des Briefes spucken, bevor er eingeworfen wurde; sie glaubte, das würde Glück bringen. Doch Schattan befürchtete, dadurch könne der Absender verwischt werden, und Kischkoweit gab zu bedenken, daß dem Herrn Staatsanwalt solche Spuckflecken mißfallen könnten. Das entschied. Sie warfen den Brief in den Kasten, bummelten einige Straßenzüge weiter und nahmen in einem billigen Lokal ein bescheidenes Mittagessen ein. Während sich Lore mit ihrer Tochter unterhielt und den Kleinen fütterte, schmiedeten Kischkoweit und Schattan wieder Zukunftspläne. Es wurde eine Produktionsberatung gegen die Produktion, ein Kadergespräch zwischen zwei der wenigen Gangster, die zu Beginn der sechziger Jahre in Berlins östlichen Vororten noch wirkten. Vierzehn Tage nach diesem bedeutungsvollen Zusammentreffen erhielt Schattan einen Brief vom Staatsanwalt. Er möge nicht so schreckhaft sein und vor jedem 87
Polizisten davonlaufen, wurde ihm geraten. Diese Leute müßten schließlich auch ihrer Arbeit nachgehen. Natürlich könne er zurückkommen, er möge nur sein Versprechen nicht vergessen und ein anständiges, ehrenwertes Leben führen. Daraufhin zog Familie Schattan um. Diesmal ohne Hast, aber auch ohne Bargeld. Ihre Habe, die den Umzug lohnte, fand in einer mittelgroßen Stadttasche Platz. Sie zogen nach Fredersdorf und gingen in Westberlin weiterhin ihrer Arbeit nach. Drei Wochen später riskierten Kischkoweit und Schattan einen ersten gemeinsamen Einbruch in das Büro einer BHG und stahlen eine Geldkassette mit 1600 Mark. Nach weiteren drei Wochen mußten Kischkoweit und Schattan umdisponieren. Der 13. August 1961 zog einen Schlußstrich unter ihre Eins-zu-vier-Rechnung. Sie glichen den Verlust vorerst durch einen Diebstahl aus, dann hielten sie eine kurze Beratung ab, in der sie sich über ihr künftiges Leben erstaunlich schnell einig wurden.
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5. Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag und half zuerst der korpulenten Frau heraus. „Bitte schön, Frau Plitschke“, sagte er, „stützen Sie sich auf meinen Arm.“ Dann wandte er sich dem Mann zu. Herr Plitschke, rotgesichtig, groß und dick, kroch schweratmend aus dem F 9. Auf dem Gehsteig vor der Staatsoper blieb er breitbeinig stehen und seufzte. „Drei Stunden stillsitzen und nicht einschlafen können, weil die so laut Musik machen – weiß Gott, Kischkoweit, ich ginge lieber mit Ihnen in die Museumskneipe.“ Er hakte seine Frau unter, und sie liefen mit schwerfälligen, plumpen Schritten auf den Eingang des Opernhauses zu. „Halb elf wieder hier!“ rief Plitschke noch, ohne sich umzusehen. Und als ihn Kischkoweit nicht mehr hören konnte, fragte er seine Frau: „Was hältst du von dem? Bis gestern hat er in der Werkstatt aus einem Wartburggetriebe einen Hebelarm ’rausgepolkt. Das in Ordnung zu bringen ist schlimmer, als einen Sack voll Flöhe zu hüten. Dieser Kischkoweit macht sich drüber her, knurrt nicht, sagt überhaupt kein Wort und schafft die Sache in Rekordzeit. Und sauber! Nun entdecke ich heute schon wieder neue Qualitäten an ihm – formvollendet als Chauffeur. Der ist brauchbar, was?“ „Von deinem Autokram verstehe ich nichts, mein Lieber, aber ich kann wohl beurteilen, daß dieser Herr Kischkoweit gebildet ist und Manieren hat. Du hast Glück gehabt, Plitschke. Hoffentlich trinkt er jetzt keinen Alkohol in der Kneipe.“ „Der nicht“, sagte Herr Plitschke überzeugt. Inzwischen hatte sich Edwin Kischkoweit wieder in 89
den Wagen gesetzt. Er wartete, bis Familie Plitschke im hell erleuchteten Foyer der Oper verschwunden war, dann stieg er aus, verschloß sorgfältig die Tür und ging zu Fuß zum Parkplatz. Nach zehn Minuten etwa kehrte er zurück und fuhr Herrn Plitschkes F 9 langsam auf den Platz. In einer Ecke, von der aus die gesamte Parkfläche gut zu übersehen war, hielt er an. Ungefähr eine halbe Stunde später – der Parkplatz lag ruhig wie ein vergessener Friedhof – schlich Edwin Kischkoweit mit einer leeren Reisetasche unter dem Arm zu einem P 70 und machte sich am Türschloß zu schaffen. Schließlich gelang es ihm, die Tür zu öffnen, und er verschwand im Inneren des Wagens. Zuerst griff er nach dem Päckchen, das neben dem Fahrersitz lag. Es war in grobes braunes Papier gewickelt. „HO gekauft – Qualität gekauft“ stand darauf. „Na also“, sagte Kischkoweit leise und ließ das Päckchen in die Reisetasche gleiten. Sie war bereits zur Hälfte gefüllt. Kischkoweit langte den Fotoapparat von der Hutablage, zögerte einen Moment und riß dann auch noch die Wolldecke von den Rücksitzen. Mit nach unten gezogenen Mundwinkeln blieb er etliche Sekunden hinter dem Lenkrad sitzen und schaute über die Parkfläche. Von der Straße her kam eine junge Frau auf den Platz zugelaufen. Zwanzig Meter von dem Auto entfernt, in dem Kischkoweit saß, bestieg sie einen Volkswagen und lancierte ihn geschickt durch die Wagenreihen zur Straße. Als sie außer Sichtweite war, stieß Kischkoweit die Tür auf, griff nach der Tasche und stieg aus. Er lief geradewegs zur entgegengesetzten Ecke des Parkplatzes und schloß dort einen klapprigen Wagen auf, der aus mindestens drei verschiedenen Typen zusammengesetzt war. Der Zündschlüssel steckte im Schloß. Edwin Kischkoweit fuhr den 90
Wagen vom Platz, zuckelte Unter den Linden entlang, bog in die Friedrichstraße und dann in die Clara-ZetkinStraße ein und parkte das klapprige Ding schließlich unweit des Maxim-Gorki-Theaters. Kischkoweit stieg aus, schlenderte zum Bühnenausgang und wartete. Nach zehn Minuten kam Norbert Schattan, der im Theater als Beleuchter arbeitete, die Treppe herunter. „’n Abend, Langer. Gibt’s was?“ „Ja, Fotoapparat und Wolldecke und ’ne Katze im Sack. Aber es steht was von Qualität drauf. Ich hole mir morgen die Kamera ab. Das andere kannst du behalten.“ „Klein, klein“, erwiderte Schattan und nahm die Wagenschlüssel entgegen. „Nur klein wird angefangen. Vorübungen für große Sachen. Aber wir können uns in den nächsten Tagen in unserer Gegend was leisten. Hypko ist zum Lehrgang.“ „Wie lange?“ fragte Schattan. „Weiß der Teufel. Verabschiedet hat er sich mit ‚Tschüs, wir sehen uns wieder‘. Das war in Eggersdorf. Er war dienstlich dort, und ich mußte die Plitschke zu ihrer Mutter fahren. Da haben wir uns getroffen.“ „Hauptsache, er ist erst mal weg“, sagte Schattan. Kischkoweit nickte. „Morgen bin ich bei Plitschke mit Transportfahrten dran: Kartoffeln, Kohlen, Baumaterial. Da halte ich die Augen offen.“ „Ich denke, Plitschke hat eine Autoreparaturwerkstatt?“ „Erstens“, sagte Kischkoweit. „Und zweitens ein Fuhrunternehmen. Drittens und viertens hat er sicherlich auch … aber dahinter bin ich noch nicht gekommen.“ Es klingelte zum zweiten Mal. Die Pause ging zu Ende, und Schattan mußte auf den Beleuchterstand zurückkehren. 91
Kischkoweit schlenderte zur Museumsgaststätte hinüber. Auf dem Parkplatz, den er von weitem sehen konnte, schien noch immer alles ruhig zu sein. Kischkoweit betrat das Restaurant, nahm Platz und bestellte sich auf Plitschkes Kosten ein Abendessen. Um zweiundzwanzig Uhr verließ er die Gaststätte und ging zum Parkplatz, um Plitschkes Wagen zu holen. Wenige Meter vor ihm liefen zwei Männer, ein hagerer Älterer und ein kleiner Dicker. Sie sprachen sehr laut in sächsischem Dialekt miteinander. Der kleinere lallte manchmal. Offensichtlich war er betrunken. Kischkoweit lief schneller als die beiden und holte sie ein. Er hörte den Betrunkenen sagen: „Wenn ich dich nicht getroffen hätte, müßt’ ich jetzt Geld für ’ne Taxe ’rausschmeißen.“ „Und für’n Hotel“, erwiderte der Hagere. „Wo steht denn deine Karre?“ Der Kleine wies in die düstere Ecke, in der der P 70 stand, den Kischkoweit ausgeraubt hatte. Kischkoweit schloß Plitschkes F 9 auf, setzte sich hinter das Lenkrad und zündete sich eine Zigarette an. Die Wagentür ließ er einen Spalt breit offenstehen. Er hörte den Kleinen schimpfen. „Menschenskind“, sagte er, „wo hab’ ich denn die Wagenschlüssel?“ Der Hagere rief: „Wagenschlüssel brauchste nicht. Das hat schon einer ohne geschafft.“ „Prima.“ Plötzlich schien er zu begreifen. „Was sagste da? Was hat hier einer?“ „Deinen P siebzig geknackt. Guck mal ’rein, ob was fehlt.“ Der Kleine riß die Tür auf und verschwand mit dem Oberkörper im Wageninnern. Kischkoweit hörte ihn fluchen, konnte aber seine Worte nicht verstehen. Es klang, als spräche einer, dem man eine Decke über den Kopf 92
geworfen hat. Der Hagere sagte: „Da geht ’n Polizist. Den werden wir mal rufen.“ Der Kleine kroch aus dem Wagen und brüllte: „Hilfe!“ Der Volkspolizist blieb stehen und blickte sich um. Kischkoweit drückte seine Zigarette aus. „Hilfe! Mein Wa-gen!“ rief der Kleine wieder mit weinerlicher Stimme, und der Schluckauf zerhackte seine Worte. Der Polizist kam auf ihn zu. „Was ist denn los?“ „Herr Wachtmeier-meister – mein’ Wagen hamse ausgeraubt!“ Edwin Kischkoweit schloß die Wagentür und ließ den Motor an. Der Polizist sah zu ihm herüber und winkte. Kischkoweit ließ den Motor laufen, öffnete aber die Tür wieder. „Ist was?“ „Stehen Sie schon lange hier? Haben Sie jemanden gesehen, der sich an diesem Wagen zu schaffen gemacht hat?“ „Tut mir leid, ich bin eben gekommen.“ „Stimmt“, sagte der Hagere. „Er lief ein paar Schritte hinter uns und ging gleich zu seinem Wagen.“ Der Polizist bedeutete Kischkoweit mit einer Handbewegung, daß er ihn nicht mehr benötige. „Tut mir leid“, sagte Kischkoweit nochmals, schlug die Wagentür zu und fuhr langsam vom Parkplatz. Otto Plitschke hatte voller Verwunderung festgestellt, daß dieser Edwin Kischkoweit, den er seit zehn Monaten beschäftigte, ein seltsames Gemisch von Gegensätzlichkeiten darstellte. Er war arbeitsam und geschickt, hilfsbereit, höflich und zuverlässig – wenn er wollte. Ihm, Plitschke, gegenüber hatte er bisher gewollt. Das war gut so, und das mußte unbedingt so bleiben. In der Werkstatt 93
und im Fuhrpark aber offenbarte dieser Kischkoweit ganz andersgeartete Eigenschaften. Er spielte den Pascha, erteilte Befehle, beherrschte die sechs Angestellten, die ebenfalls für Plitschke arbeiteten. Er zeigte sich herzlos, berechnend, überheblich, und wenn er schlechter Laune war, wurde er brutal. Nun, solange der Laden flutschte, sollte Kischkoweit von Otto Plitschke aus tun, was er wollte. Ihm hatte dieser seltsame Mensch bisher nur Vorteile gebracht. Er brauchte seine Zeit nicht mehr damit zu vertrödeln, den Angestellten Anweisungen zu erteilen und die Leute von Zeit zu Zeit zu kontrollieren. Morgens sprach er mit Kischkoweit das Arbeitspensum durch, abends sagte Kischkoweit: „Alles klargegangen, Chef“, und Otto Plitschke konnte sich sorglos schlafen legen, selbstverständlich nicht, ohne vorher den Tagesgewinn errechnet zu haben. Nun war aber Otto Plitschke im Laufe der Monate auf einen Umstand aufmerksam geworden, den er nicht recht einzuschätzen vermochte. Gereichte er ihm zum Vorteil, oder konnte er ihm eines Tages zum Verhängnis werden? Plitschke besaß seit langem ein gutgehendes Baustoffund Fuhrgeschäft sowie eine einträgliche Kohlenhandlung, nur die Autoreparaturwerkstatt war am Verkümmern gewesen – bis dieser Kischkoweit aufgetaucht war. Plitschke hatte die Anschaffung von Werkzeug und Autoersatzteilen bislang als zu kostspielig empfunden, – trotzdem verfügte er jetzt über eine gut ausgerüstete Werkstatt. Oder sollte man treffender sagen: Edwin Kischkoweit verfügte darüber? Kischkoweit hatte eines Tages gesagt: „Aber, Herr Plitschke, selbstverständlich haben wir Achsenantriebe auf Lager. Der Herr kann seinen Wartburg ruhig hierlas94
sen.“ Auch der Kunde, der für seinen Skoda eine Lichtmaschine benötigte, wurde von Kischkoweit zufriedenstellend bedient. Plitschkes Autoreparaturwerkstatt stand bald in gutem Ruf, die Kunden wurden schnell, zuverlässig und höflich bedient, auch wenn größere oder schwierigere Reparaturen erforderlich waren. Warum, zum Teufel, hatte dieser Kischkoweit die Werkstatt ausstaffiert? „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, pflegte Herr Plitschke als Antwort zu brummeln, aber er dachte mit Unbehagen daran, daß dieser Kischkoweit einige Jährchen wegen Diebstahls im Zuchthaus gesessen hatte. Doch weshalb Zusammenhänge konstruieren und sich dann auch noch vor ihnen fürchten? Dieser Kischkoweit sehnte sich gewiß nicht nach dem Knast zurück, und die Geschichte mit der Werkstattausrüstung würde gut ausgehen. Und wenn nicht – nun, dann war eben Herrn Plitschkes Name Hase. Er hatte diesem Kischkoweit, der ein Autonarr war und ein guter Arbeiter, die Werkstatt anvertraut und ihm dort freie Hand gelassen. Das war schließlich nicht strafbar. Otto Plitschke schaute zu der schweren altmodischen Wanduhr, die über dem Vertiko tickte, er konnte das Zifferblatt nicht mehr erkennen. Das Zimmer war von der unnatürlichen graugelben Dunkelheit erfüllt, die einem Gewitter vorausgeht. Schwerfällig erhob sich Plitschke aus dem braunen Ledersessel, aus dem sich wahrscheinlich schon sein Großvater schwerfällig erhoben hatte, und trat dicht vor die Uhr. In drei Minuten war es sechzehn Uhr, und wenn die Herren vom Magistrat, die er erwartete, die Pünktlichkeit liebten, mußten sie in drei Minuten eintreffen. Es galt, eine Steuerangelegenheit zu klären. Herr Plitschke war keinen Deut aufgeregt, er hatte heute ein relativ gu95
tes Gewissen. Die ersten Regentropfen klatschten bereits ans Fenster, als draußen ein Wagen vorfuhr. Kurz darauf wurde geklingelt. Herr Plitschke eilte seinen Gästen entgegen und führte sie ins Büro. Die Besprechung dauerte eine knappe Stunde. Während dieser Zeit tobte ein Gewitter, und der Regen schien Häuser und Bäume hinwegspülen zu wollen. Gegen siebzehn Uhr verabschiedeten sich die Herren vom Magistrat. Kaum waren sie zur Tür hinaus, trat Edwin Kischkoweit ein. Er wollte Feierabend machen und meldete vorher seinem Chef, daß alles in Ordnung sei. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als es erneut klingelte – schrill, laut und unheilverkündend. Herr Plitschke eilte hinaus. Die Herren vom Magistrat standen wieder vor der Tür. Der größere von beiden blickte empört und erschrocken. „Der Wagen“, sagte er. Verständnislos sah Otto Plitschke ihn an. Kischkoweit, der hinter ihm am Türrahmen lehnte, zeigte auf einen gelben Wartburg. Er parkte dem Haus schräg gegenüber. „Ist es nicht der dort?“ „Natürlich“, sagte der große Mann. Sein Kollege fragte Kischkoweit schnell: „Woher wissen Sie denn, daß das unser Wagen ist?“ „Ich habe Sie aussteigen sehen“, sagte Kischkoweit. Der Große machte eine einladende Armbewegung, die allen galt. „Kommen Sie mit!“ Er führte sie über die Straße zu dem gelben Wartburg und riß die Tür auf. Otto Plitschke stieß einen Laut aus, der klang, als ob ganz weit weg jemand heulte. Der Wagen war leer. Sogar die Sitze fehlten.
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An diesem Abend kam Edwin Kischkoweit spät nach Hause. Es war schon dunkel, und Kischkoweit fluchte, wenn er in eine Pfütze trat. Die Straße war schadhaft, und der Gewitterregen hatte Hunderte von Pfützen darauf gespuckt. Kischkoweits kleines Haus, frisch verputzt und von einem gepflegten Garten umgeben, stand keine zweihundert Meter von Otto Plitschkes Werkstatt entfernt. Doch wichtiger als das Haus mit der mageren, langweiligen Frau, die er nicht mochte, war ihm augenblicklich die Garage. In der vergangenen Woche hatte er sie fertiggebaut. Stabil, geräumig und vorsichtshalber mit zwei Einoder Ausfahrten versehen. Je nach Gebrauch. Das eine Tor führte auf den Hof hinter dem Haus, das andere, vorerst selten benutzt, auf einen Feldweg. Man konnte es von der Straße aus nicht sehen. Kischkoweit rüttelte an der Klinke, das Tor war verschlossen. Mit einer Taschenlampe leuchtete er ein Stück Weg ab vor der Einfahrt, bis er sicher war, daß der Regen hier jede Spur verwischt hatte. Kischkoweit öffnete das Tor, knipste Licht an und betrat die Garage. Rechts stand sein Fiat, links die MZ und daneben eine Werkzeugkiste. In der Mitte, genau vor der Einfahrt, war eine feuchte Schmutzspur von Wagenrädern zu sehen. Kischkoweit griff nach einem Schrubber und kehrte die Garage aus. Ein verrückter Kerl, dieser Fuchs, dachte er dabei. Ich muß aufpassen, daß der nicht zu leichtsinnig wird. Aber es ist alles gut gegangen. Und Schattan hatte schließlich nicht wissen können, daß der Wagen dem Magistrat gehörte. Ich selbst war die ganze Zeit über mit Plitschkes Transportarbeiter in der Werkstatt, ein Alibi, unanfechtbar und wahr zugleich. Kischkoweit stellte den Schrubber in die Ecke, löschte 97
das Licht und verließ die Garage. Im Hausflur hörte er, daß seine Frau mit jemandem sprach. Der Fuchs soll machen, daß er in seinen Bau kommt, schimpfte er im stillen. Oder denkt er, ich feiere jetzt noch seinen Triumph mit ihm? Ärgerlich stieß er die Tür zum Wohnzimmer auf. „Guten Abend, Eddi“, sagte Hypko, der im Zimmer auf der Couch saß. Kischkoweit zuckte ein wenig mit den Lidern. Das war alles, was er sich von seinem Schreck anmerken ließ. „’n Abend, mein Kleiner“, sagte er, und ihm schoß durch den Kopf, daß Hypko auf acht Flaschen Sekt, fünf Flaschen Kognak und zehn Büchsen Konservenfleisch saß und sich dabei offensichtlich wohl fühlte, aber Kischkoweit fühlte sich nicht wohl und dachte: Ob Freund Hypko weiß, worauf er seinen Allerwertesten plaziert hat? Er schickte seine Frau hinaus, stellte zwei Gläser auf den Tisch und schenkte Adlershofer Wodka ein. „Na, denn prost!“ Er trank sein Glas im Stehen leer. „Ich denke, du sitzt in Dresden und lernst, wie man bösen Buben auf den Fersen bleibt? Hast wohl ausgelernt?“ „Prost“, sagte Hypko. „Man lernt nie aus. Und du arbeitest also bei Plitschke: Dienstbote, Chauffeur, Kohlenträger. Warum denn das?“ „Er zahlt gut.“ Das sehe ich, dachte Hypko und musterte die neuen Möbel. „Ist das der einzige Grund?“ „Weißt du einen besseren?“ „Du versauerst hier, Eddi. In einem Großbetrieb hättest du ganz andere Chancen …“ „Agitationsreden“, unterbrach ihn Kischkoweit, „höre ich mir lieber mit einem Stuhl unter dem Hintern an.“ Er 98
setzte sich rittlings auf einen Stuhl, legte die Unterarme auf die Lehne, stützte das Kinn darauf und grinste Hypko an. „Ich gehe für einige Monate zur Schwarzen Pumpe“, sagte Hypko. „Senftenberg, Schwarze Pumpe, das ist nach meinem Geschmack. Und für deinen Geschmack habe ich auch etwas.“ „In der Schwarzen Pumpe?“ Kischkoweit lächelte mitleidig. „Ach wo. In Zwickau, in unseren größten Autowerken. Eddi, ich habe mit dem Kaderleiter gesprochen. Du könntest dort in deinem Beruf arbeiten, er würde dich als Kraftfahrzeugschlosser einstellen. Und du verdienst dort mehr als bei Plitschke, kriegst Leistungslohn, Trennungsgeld und hast die Möglichkeit, dich zu qualifizieren. Na, ist das was?“ „Klar“, sagte Kischkoweit gereizt. „Das ist was. Aber ich hab’s nun mal lieber, wenn ich mir meinen Brötchengeber selbst aussuchen darf.“ Hypko ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. „Menschenskind, Eddi, werde nicht leichtsinnig! Das ist doch die Arbeit für ’nen Autofritzen wie dich. Wie ich dich kenne, reichst du nach ein paar Wochen den ersten Verbesserungsvorschlag ein, der sitzt. Wenn du dich ’ranhältst, können die Wagen, die in drei, vier Jahren über unsere Straßen flitzen, so aussehen, wie du das willst. Und das ist doch wohl was anderes, als sein Leben lang mit Plitschkes alten Schlitten durch Strausbergs Umgebung zu schaukeln.“ „Wie schön das klingt“, sagte Kischkoweit höhnisch. „Aber du glaubst gar nicht, wie wohl ich mich bei Plitschke fühle, Hypko!“ Da steckt was hinter, dachte Hypko. So ein Angebot 99
schlägt Eddi doch nicht aus Faxerei ab. „Mit dir ist was nicht in Ordnung, Eddi“, sagte er schließlich. Kischkoweit schob die Oberlippe ein wenig hoch. „Mit mir ist alles in Ordnung, mein Kleiner. Mein ganzes Leben war, bis auf paar kleine Fehler, schon immer in Ordnung.“ Hypko beugte sich über den Tisch und zwang Kischkoweit, ihm in die Augen zu sehen. „War das in Ordnung, Eddi, daß du nach dem Krieg, statt zu arbeiten, geschoben hast?“ „Das war in Ordnung. Das haben nach dem Krieg alle getan. Du auch, soweit du dazu fähig warst.“ „Stimmt, Mutters Bettwäsche für ein paar Kartoffeln. Du dagegen hast den Amerikanern Kaffee und Hennessy geklaut, bist damit nach Berlin gefahren und groß ins Schiebergeschäft eingestiegen.“ „So war’s“, gab Kischkoweit zu. „Und du hast von der Sore mitgelebt, wärst ohne mich glattweg verhungert. Du hast dich damals in irgendwelche Ideen verbohrt, nicht gefragt, woher ich täglich für uns was zum Beißen nehme und was zum Anziehen.“ „Du hast recht“, sagte Hypko, „das war ein Fehler. Aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Du nicht. Weder damals noch heute. Du hast auch dann noch geschoben und betrogen, als du es nicht mehr nötig hattest.“ Kischkoweit zog die Oberlippe wieder hoch, lächelte, aber in seinem Lächeln lag eine Drohung. „Was ich nötig habe, weiß niemand besser als ich selbst. Und ich habe gelernt, daß man sich alles irgendwie beschaffen muß, was man braucht. Tadellos beschaffen muß. Erinnerst du dich an Bernie?“ Hypko überlegte einige Sekunden lang, dann sagte er: „Bernie? Ja, das war doch dein kleiner Bruder.“ 100
„Eben“, sagte Kischkoweit bitter. „Er war. Drei Jahre alt war er, als er Ende fünfundvierzig starb, weil sein großer Bruder Eddi ihm gepanschte Spritzen gebracht hatte.“ Hypko wußte, daß Eddi sehr an dem Kleinen gehangen hatte. Als er krank wurde und Penicillin brauchte, hatte Kischkoweit alles zusammengetragen, was irgendwie von Wert war, und Hypko hatte ihm schweigend den Goldring in die Hand gedrückt, den er von seinem gefallenen Vater geerbt hatte. Kischkoweit war nach Berlin gefahren und voller Freude mit einigen Ampullen Penicillin wiedergekommen, aber es war verdünnt worden, und der Kleine überlebte keine zwei Spritzen. „Dich trifft nicht die Schuld an Bernies Tod“, sagte Hypko. „Du hast getan, was du tun konntest. Daß dich so ein Schweinehund von Schieber angeschmiert hat, dafür kannst du nicht.“ „Doch“, entgegnete Kischkoweit trotzig, „ich hätte nicht so dußlig sein dürfen und mich anscheißen lassen. Aber als es mir passiert war, da habe ich mir geschworen, daß in Zukunft lieber ich derjenige sein will, der andere anschmiert.“ „Danach hast du ja dann auch gelebt“, sagte Hypko vorwurfsvoll, „und bist ein Lump geworden.“ Kischkoweit schob die Oberlippe so hoch, daß es nicht mehr nach einem Lächeln, sondern nach Zähnefletschen aussah. Aber er schwieg. Hypko dachte: Ein bißchen sitzt ihm unsere Freundschaft doch noch in den Knochen. Von einem anderen hätte ein Eddi Kischkoweit das nicht so ruhig hingenommen. „Wenn du die Arbeit in Zwickau nicht annimmst, schmierst du dich selber an“, sagte er. „Meine Sache“, entgegnete Kischkoweit langsam, bei101
nahe drohend. Er stand auf, hob den Stuhl ein wenig an und rückte ihn an den Tisch, daß es krachte. „So, mein Kleiner. Und nun guck mal nach, ob’s draußen noch regnet.“ Hypko rührte sich nicht. Er sah Kischkoweit nur mitleidig an. Er war nicht zornig darüber, daß er von Kischkoweit hinausgeworfen wurde, aber es ging ihm nahe, daß Kischkoweit so hoffnungslos verloren war, verloren sein wollte. In den vergangenen Monaten war sich Hypko darüber klargeworden, daß er Kischkoweit nicht einfach den Rücken kehren konnte, sosehr er das vielleicht verdient haben mochte. Sie waren ein Stück ihres Lebens gemeinsam gegangen, hatten in schweren Zeiten zusammengehalten, und das konnten weder sechs Jahre Zuchthaus noch zehn Jahre Polizeidienst auslöschen. Er war zu Kischkoweit gegangen, um ihn aufzurütteln aus seiner geistigen Trägheit, seinem Egoismus und der primitiven Gier nach Wohlleben. Nun spürte er, daß seine Worte ihn nicht mehr erreichten. Er versuchte es ein letztes Mal. „Geh nach Zwickau, Eddi. Wenn du willst, kannst du in ein paar Monaten sicherlich auch deine Familie nachkommen lassen.“ Er legte einen Zettel auf den Tisch. „Hier, Name und Adresse des Kaderleiters, schreib ihm, Eddi.“ Kischkoweit kippte den vierten Adlershofer. Als er das Glas absetzte, sagte er: „Ich bleibe bei der Firma Plitschke.“ Dann räumte er die Gläser vom Tisch und stellte die Wodkaflasche in den Schrank zurück. Mitten im Zimmer blieb er stehen, sah Hypko böse an, dachte: Nun hat er meinen Sekt lange genug gewärmt. Wenn er jetzt nicht geht, passiert was! Hypko erhob sich. Beim Hinausgehen sagte er: „Falls 102
dir mein Angebot nicht in den Plan paßt, Eddi, dann ist dein Plan faul. Stinkig faul ist er dann.“ Kischkoweit schlug wortlos die Tür hinter ihm zu. Einige Sekunden blieb er im Korridor stehen, rieb sich mit dem Handrücken die Stirn. Der hat was gemerkt, dachte er, der merkt immer was. Der hat einen sechsten Sinn dafür, daß einer was Krummes vorhat. Ein Glück, daß er nach Senftenberg geht. Kischkoweit rief nach seiner Frau. Sie steckte den Kopf aus der Küche, fragte: „Was wollte der denn?“ „Einen anständigen Menschen aus mir machen.“ „Du liebe Zeit!“ rief die Frau. „Wovon sollen wir denn da leben?“ Kischkoweit fragte, ob der Fuchs ihm eine Nachricht hinterlassen habe. „Ja, seinen Wagen hätte er nun komplett, läßt er ausrichten. Nur gespritzt muß er noch werden. Er braucht Farbe und ’ne Spritzpistole.“ Kischkoweit winkte uninteressiert ab. „Das kann er sich doch aus jeder Autoreparaturwerkstatt klauen. Außer bei Plitschke natürlich.“ Die Frau verschwand wieder in der Küche, und Kischkoweit ging ins Wohnzimmer zurück. Beim Anblick der Couch dachte er, daß es an der Zeit sei, den Ring zu vergrößern. Vor allem brauchten sie einen zuverlässigen Hehler.
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6. Norbert Schattan schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse. „Bist mir ein schöner Schlawiner“, sagte er laut. „Ausgerechnet dem Magistrat von Groß-Berlin mußt du die Sitze aus dem Wagen holen.“ Er griff nach dem gefüllten Kognakglas, das zwischen Lockenwicklern, Haarwasser und einem schmutzigen Kamm auf der Frisiertoilette seiner Frau stand, und prostete seinem Spiegelbild zu. Der kleine Mann hielt sein Glas erhoben, schnupperte mißtrauisch, ob da nicht etwa Haarwasser hineingeraten war, und trank. Dann wischte er mit dem Handrücken über den Schnurrbart längs der Oberlippe und stellte das Glas wieder ab. „Das mit dem Magistrat“, sprach Schattan sein Spiegelbild an, „dürfen wir uns verzeihen. Erstens konnten wir das nicht wissen, und zweitens war die Innenausstattung wunderschöne unauffällige Dutzendware.“ Er griff nach der Kognakflasche, um sich noch einen einzuschenken, doch der Gedanke an Kischkoweit, der jede Minute hier auftauchen konnte, ließ ihn die Hand zurückziehen. Am liebsten hätte Schattan jetzt sein Weib gepackt und wäre mit ihr ins Bett gegangen. Eine Stunde vor Mitternacht war anständigen Leuten dergleichen gestattet. Die wußten gar nicht, wie gut sie es hatten! Schattan trat ans Fenster. Drüben im Stall raschelte es, als wälze sich ein schwerer Körper im Stroh. Wir haben doch damals im Wedding tatsächlich einen guten Plan gebaut, ging es dem Fuchs durch den Sinn. Gut für uns. Und nur das zählt. Ein Häuschen steht, dreckig und liederlich zwar in jedem Zimmer, aber gerade so, daß es Lore gemütlich findet. Im Stall sind zwei Schweine und 104
ein Dutzend Hühner, und in der Garage steht ein Wartburg. Aus dem Schuppen wird langsam eine private Autoreparaturwerkstatt gemacht. Wir sollten uns überhaupt mehr auf Autos spezialisieren, das werde ich dem Langen mal vorschlagen. Ersatzteile braucht jeder, und keiner fragt, woher sie kommen. Man muß dann nur aufpassen, daß man nicht jemandem die Stoßstange wieder anbietet, die man ihm vorher abmontiert hat. Es klopfte an der Haustür. Lore ging, um zu öffnen. Schattan tropfte rasch noch etwas Mundwasser ins Glas, füllte es mit Wasser auf und spülte sich den Mund. Es war besser, wenn Eddi nicht merkte, daß er getrunken hatte. Ob Eddi auch vor jedem Coup so ein Kribbeln im Magen hatte? Na, wenn schon, anmerken ließ der sich jedenfalls nichts. Für Schatten war der Tag nach dem Fischzug am aufregendsten, wenn man noch nicht wußte, auf welcher Fährte die Polizei ihre Nase hatte, und ’rumhorchte, was die Leute sich erzählten. Und morgen war wieder so ein Tag. Im Korridor sagte Lore zu Kischkoweit: „Paßt auf, Eddi, daß ihr keine kaputte erwischt. Ich will morgen früh damit waschen.“ Kischkoweit nickte, begrüßte Schattan und befahl Lore, das Licht auszumachen. Schattan lief im Dunkeln zur Garage, fuhr den Wartburg auf den Hof, ließ Eddi einsteigen und gab Gas. Als sie verschwunden waren, löste sich eine Gestalt von der Stallwand, blickte zu dem schwach erleuchteten Fenster im ersten Stockwerk, huschte über den Hof und schien für Sekunden mit der Hausmauer verschmolzen zu sein. Wenig später schob sich die Gestalt an der Mauer entlang zur Vorderseite des Hauses, lief zur Gartentür und eilte mit merkwürdig schaukelnden Bewegungen in 105
die Richtung, in der Schattans Wartburg verschwunden war. Schattan hatte bereits nach wenigen Minuten das nächste Dorf erreicht. Er fuhr gemächlich zur Wäscherei „Einheit“ und parkte den Wagen am Hinterausgang. Eddi stieg aus, zog einen Dietrich aus der Tasche und öffnete damit die Tür. „So was Primitives“, sagte er und zeigte voller Verachtung auf das Türschloß. „Sei nicht beleidigt“, murmelte Schattan, „die konnten doch nicht wissen, daß wir heute kommen.“ In der Waschhalle hatte der Rat der Gemeinde sechs Haushaltwaschmaschinen und drei Trockenschleudern aufgestellt. Die Frauen des Dorfes konnten hier ihre Wäsche selbst waschen und sparten so die Kosten für das Bedienungspersonal, das man jedoch für die großen Wäschereimaschinen brauchte. „Greif zu“, sagte Eddi, „aber im Dunkeln, wenn’s recht ist, und ein bißchen hoppla.“ „Pack mal die mit an.“ Sie wuchteten eine Waschmaschine zum Ausgang und schoben sie ins Auto. Kischkoweit verschloß die Waschhaustür, dann fuhren sie los. Irgendwo wurde ein Fenster zugeschlagen. Schattan fluchte, und Kischkoweit sagte: „Es ist zu dunkel, man kann keine Einzelheiten erkennen. Trotzdem sollten wir nicht immer so sorglos mit unserer eigenen Zulassungsnummer spazierenfahren.“ „Wer ist denn das nun wieder?“ Schattan sah im Scheinwerferlicht eine Gestalt die Straße entlanglaufen. „Drei Abende bin ich die Tour um diese Zeit zur Probe gefahren, wie ausgestorben war alles. Und heute …“ „Ich sehe niemanden“, unterbrach ihn Eddi. Schattan fuhr langsam und blendete die Scheinwerfer voll auf. Die Straße war leer. „Vielleicht ein Besoffener, 106
der in den Straßengraben gerutscht ist. Fahr zu!“ Der Mann, der über die Straße gelaufen war, hockte hinter einer Hagebuttenhecke. Er war nicht betrunken. Als der Wartburg an ihm vorbeifuhr, verzog er die Lippen. Dann rappelte er sich auf, zog sich den kurzen steilen Abhang hoch und eilte, halb hinkend, halb rennend, in der Richtung weiter, aus der der Wartburg gekommen war. Inzwischen hatten Schattan und Kischkoweit ohne weiteren Zwischenfall Schattans Haus erreicht. Lore war noch wach. In einen schmuddeligen Bademantel gehüllt, stand sie im Korridor und betrachtete die Waschmaschine wie der Revierförster ein zur Schonzeit erlegtes Reh. Sie sagte: „Die hat keine Trockenschleuder.“ Da schwang keine Enttäuschung mit, und es klang auch nicht nach einem Vorwurf. Es war einfach eine Feststellung, aber die zog Konsequenzen nach sich. Schattan wußte das. Kischkoweit auch. „Na, meinetwegen. Sie muß ja nicht eingebaut sein. Hauptsache, sie ist da.“ Da die Männer weder Antwort gaben noch Anstalten machten, eine Trockenschleuder aus dem Wagen zu holen, steckte Lore beide Hände in die Bademanteltaschen, duckte sich ein wenig, gerade so viel, daß sie Schattan schräg von unten ins Gesicht sehen konnte, und fragte: „Sie ist doch da?“ „Da … da“, wiederholte Schattan ärgerlich. „Dort in der Wäscherei ist eine …“ „Na, aber! Nun frag’ ich mich bloß, was ihr hier noch ’rumsteht.“ Schattan seufzte und stieß Kischkoweit ein bißchen in die Seite. Wortlos gingen sie hinaus und setzten sich in den Wagen. „Verzeih es ihr“, sagte Schattan. „Sie ist 107
wieder mal schwanger.“ Diesmal parkten sie den Wartburg einige Meter von der Wäscherei entfernt hinter einem Schuppen. Die Trockenschleuder nahm Kischkoweit wie ein kleines Kind auf den Arm, er keuchte damit, von Schattan flankiert, zum Wagen. Der riß die Tür auf und fuhr zurück. Auf den hinteren Sitzen hockte eine Gestalt, breitmäulig, pockennarbig, windschief. Schattan packte das Entsetzen. Hilfesuchend umklammerte er Kischkoweit. Die Trockenschleuder fiel zu Boden. „Verdammich!“ brüllte Kischkoweit. Er hatte seinen Fuß nicht schnell genug weggezogen. Dann schob er seinen breiten Oberkörper in den Wagen. „Krücke“, stellte er fest, zog die Oberlippe hoch und lächelte böse. Auch der Windschiefe verzog den Mund, doch in seinem merkwürdig rhomboidartig geformten Gesicht wurde das Lächeln zu einem unheimlichen Grinsen. Kischkoweit sagte: „’raus hier, du Mistkerl.“ Der Windschiefe blieb sitzen und krächzte: „’n Abend, Eddi.“ Schattan glaubte, die Stimme käme aus einem ungenau eingestellten UKW-Sender. Kischkoweit zog den Oberkörper wieder aus dem Wagen zurück und rempelte dabei seinen Komplizen an. „Steh mir nicht im Wege“, knurrte er und stieß Schattan wütend auf den Vordersitz in den Wagen. Dann hob er die Trockenschleuder hoch und warf sie auf die hinteren Wagenpolster. Der Windschiefe heulte auf und zerrte an seiner Hand, die nicht unter der Trockenschleuder hervorkommen wollte. Plötzlich hielt er in der Rechten eine Pistole und zielte auf Kischkoweit. 108
Der stand leicht gebeugt vor der Wagentür und schaute in die Pistolenmündung. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Leise sagte er: „Aber nicht mit Papa.“ Im gleichen Augenblick schlug er zu. Schattan, der angstvoll auf den unheimlichen Fahrgast gestarrt hatte, hörte es zweimal klatschen. Die Pistole fiel zu Boden, der Windschiefe wimmerte wieder. Kischkoweit hob die Pistole auf, betrachtete sie liebevoll und sagte: „Das ist genau der Gegenstand meiner Sehnsucht.“ Er steckte sie in seine Hosentasche. Dann knallte er die hintere Wagentür zu und setzte sich ans Steuer. Sein Zorn war verraucht. „Seid hübsch artig, Kinder“, sagte er und gab Gas. „Papa fährt euch jetzt nach Hause.“ Sie schwiegen, bis sie in Schattans Hof standen. Lore öffnete ihnen die Tür. Als sie den Windschiefen sah, zuckte sie zurück. „Was bringt ihr denn da für einen Waldschrat?“ fragte sie erschrocken. „Hier ist deine Trockenschleuder“, antwortete Kischkoweit, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Und jetzt leg dich ins Bett.“ Es schien, als sei er der Hausherr hier. Lore verschwand. Zu Schattan und dem Pockennarbigen sagte Kischkoweit: „Wir setzen uns in die Küche. Fuchs, zieh die Gardinen zu.“ Schattan zerrte an den schweren braunkarierten Übergardinen. Die Küche war groß, unaufgeräumt. Kischkoweit stieß die windschiefe Gestalt auf einen Hocker und setzte sich auf den einzigen Stuhl. Schattan lehnte sich gegen den Türrahmen. Langsam zog Kischkoweit die Pistole aus der Tasche, betrachtete sie und wollte sie auf den Tisch legen, aber er fand keine saubere Stelle und schnauzte Schattan an: „Gib mal ’n Lappen her!“ 109
Der warf ihm den Abwaschlappen zu und lehnte sich wieder betont lässig gegen den Türrahmen. Er war von Kischkoweit allerhand gewohnt, aber es ärgerte ihn, in seinen eigenen vier Wänden von ihm wie ein Dienstbote behandelt zu werden. „So ein verdammter Saustall“, schimpfte Kischkoweit und wischte Brotkrümel, verschüttete Milch und eine zerquetschte Kartoffel beiseite. Der Marmeladeklecks, mit dem er sich abmühte, war hart wie Bernstein. „Sinnlos. Scheint vom vergangenen Sommer zu sein.“ Behutsam legte er die Pistole auf die saubergewischte Stelle. Es war eine 08, beschußfähig. „Hast du noch Munition, Krücke?“ „Sechs Stück“, krächzte Krücke widerwillig. „Dann vergiß nicht, daß die Munition zur Waffe gehört. Und die Waffe gehört jetzt mir.“ Krücke schwieg. Kischkoweit schob die Pistole in die Hosentasche zurück. „Und nun erzähl Papa, warum du ihm nachschleichst?“ „Will dir ’n Angebot machen“, sagte der Häßliche. Kischkoweit lächelte verächtlich. „Und wenn ich nicht drauf eingehe, verpfeifst du den Bruch von heute Nacht der Kripo. Kleine Erpressung, was? Na, laß mal hören.“ Krücke rutschte auf dem Hocker hin und her. Er hatte sich diese Szene anders vorgestellt und fühlte sich nun aus dem Konzept gebracht. Schuld daran war Kischkoweit, der eben vor nichts Respekt hatte. Der zuckte nicht mal mit der Wimper, wenn er am falschen Ende einer Pistole stand. „Jürgen Lanze ist wieder ’raus“, sagte Krücke mit heiserer Stimme. „Ich biete dir an, mit uns zusammenzuarbeiten.“ Das war ursprünglich als Ultimatum 110
gedacht, jetzt klang es wie eine Bitte. Kischkoweit erhob sich, lief in der Küche hin und her und blieb schließlich dicht vor Krücke stehen. Er sah auf ihn herab wie auf einen räudigen Hund, bei dem man noch im Zweifel ist, ob man ihn erschießen lassen soll oder ihm das Gnadenfutter gewährt. „Jetzt wird Papa mal ’ne lange Rede halten. Wer ihn unterbricht, kriegt was aufs Maul. Sofort. Und wer diese Rede vergißt, kriegt auch was aufs Maul. Später.“ Kischkoweit vergrub die Hände in die Hosentaschen, und seine Worte schlugen wie ein Hagel auf Krücke nieder. „Ich arbeite nicht mit dummen Jungen, die Popanz spielen und die Leute erschrecken. Wer nicht sauber stiehlt, sondern zerschlägt, zertrampelt, vernichtet, kriegt was auf die Pfoten. Dein Einbruch mit dem Feinen im Petershagener Konsum vor zwei Jahren war eine Schande für die ganze Innung. Ihr habt euch wie Verbrecher benommen. – Und noch etwas: Wir sind hier nicht in Chicago. Hier gibt es keine Banden, die einander ins Handwerk pfuschen. Früher gab es hier mich und meine Bande. Als wir kassiert wurden, hast du dich mit dem Feinen breitgemacht. Das ist vorbei. Hier zählen nur noch ich und Schattan.“ Krücke versuchte einzulenken. „Brauchst dir nich so aufzuregen, Langer“, sagte er. „Ich merk’s, an deiner Rede is was dran.“ Kischkoweit musterte ihn noch ein Weilchen. Dann sagte er: „Du hast schon ganz schöne Dinger gedreht. Und du hast auch immer dichtgehalten. Vielleicht bist du noch hinzukriegen – unter meinem Kommando.“ Krücke seufzte. „Na, meinetwegen. Ehe ich brotlos werde, kriech’ ich lieber zu Kreuze. Wie funktioniert denn euer Laden so?“ 111
„Großartig“, sagte Kischkoweit. „Großartig, solange Hypko nicht da ist.“ „Wer is’n das – Hypko?“ „Einer von der Kripo“, entgegnete Kischkoweit. „Vor dem habe ich dich damals in der Küche versteckt, als er dem Feinen und dir auf den Fersen war. Mit dem solltest du es lieber nicht anlegen. Der ist ’n paar Nummern zu groß für dich. Und ich versuch’s bloß mit dir, weil der weg ist.“ „Kanner dir was beweisen?“ „Beweisen! Beweisen!“ wiederholte Kischkoweit ärgerlich. „Ach, du verstehst das nicht!“ Doch dann sagte er: „Wir kennen uns. Waren mal Freunde. Der hat Köpfchen und ’nen Riecher dafür, wo was faul ist.“ Krücke sagte: „Ich hab’ schon mal Polizisten kennengelernt, die nich Hypko hießen und auch nich bekloppt waren.“ Ärgerlich winkte Kischkoweit ab. „Ich sag’ doch: du kapierst das nicht. Der kennt mich, Mann! Der unterhält sich fünf Minuten lang mit mir und spürt, was ich mache, ohne daß ich’s ihm auf die Nase gebunden habe. So gut kennt der mich! Die anderen, die werden wir schon eine Weile hinhalten können, wenn wir solide arbeiten. Und die Brüche immer einige Kilometer voneinander entfernt, das ist wichtig. Wir steigen in Gaststätten, Büros und Wohnungen ein. Tagsüber arbeiten wir und lieben unsere Nächsten. Die Leute gönnen uns, was wir haben, und sie sagen: ‚Die arbeiten aber auch Tag und Nacht.‘ Womit sie recht haben. Einem von der Kripo darf man seinen Beruf nicht ansehen und einem Gangster auch nicht. Das ist oberstes Gebot. Wenn du dich danach richtest, Krücke, darfst du ab und zu ein Ding mit uns drehen. Wenn du Wildwest spielen willst, spring über die Mauer.“ 112
Kischkoweit wandte sich um und ließ sich wieder auf dem Küchenstuhl nieder. Schattan fragte Krücke, wo er arbeite. „Ich arbeite gar nicht“, erwiderte Krücke kleinlaut, und in das feindselige Schweigen hinein schrie er: „Seht mich doch an!“ Er sprang vom Hocker, stand auf dünnen krummen Beinen, die rechte Schulter leicht verkrümmt und vorgeschoben. Am Hals hoch bis zum Ohr hin zogen sich pockenartige narbige Wucherungen, blaurot verfärbt. „So sehe ich am ganzen Oberkörper aus. Und das ist unheilbar.“ „Heb dir die Mitleidstour auf“, sagte Kischkoweit ungerührt. „Vielleicht brauchst du sie später mal vor Gericht. Bei mir zieht das nicht. Anfangs war das Kranksein ganz schön, nicht? Geld ohne Arbeit und ‚Ach, der arme Junge‘. Dann war’s mit einemmal zu spät. Voriges Jahr noch, als ich dich vor Hypko in der Küche versteckt hatte, hast du geprahlt, daß du einen ganzen Kasten voller Aufforderungen zur Untersuchung in den Ofen geschmissen hättest. Also halt jetzt die Luft an. Unsere Bedingungen sind klar. Und trenne dich von Lanze. Mit Leuten, die gerade entlassen worden sind, arbeite ich nicht. Für die hat die Gegenseite noch zuviel Interesse.“ Kischkoweit erhob sich, schlug Schattan auf die Schulter – „Gute Nacht, Fuchs“ – und verließ das Haus. Schattan sagte zu dem Pockennarbigen: „Los, verschwinde du auch.“ Krücke schob seinen schiefen Körper provozierend langsam zur Tür. Schattan drehte hinter ihm den Schlüssel zweimal im Schloß und seufzte. „Noch so ’ne Nacht – und ich werď wieder ehrlich.“
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7. Der Pockennarbige, den sie Krücke nannten, hieß eigentlich Heinz Stock. Aber das wußten nur seine Mutter und die Polizei. Er ging beiden aus dem Weg, und so kam es, daß er gelegentlich selbst seinen Geburts- und Vaternamen vergaß. Krücke bewohnte eine schrägwandige Dachkammer in einem baufälligen einstöckigen Haus an der Fischerbrücke. Zwischen den Neubauten, die sich vom Heinrich-Heine-Viertel und vom Alexanderplatz heranschoben, war der Fischerkietz eine schäbige, verlorene Gegend. In diese Welt von gestern hatte sich Krücke verkrochen. Hier kümmerte sich niemand darum, wann er ging und wann er kam, keiner fragte, ob er arbeitete, wovon er lebte. Und das konnte ihm nur recht sein. Vor einigen Tagen hatte er den ersten Auftrag ausgeführt, den er vom Langen erhalten hatte. Sie brauchten einen Hehler und Zwischenhändler, und Krücke hatte ihnen den schönen Liebing aufgestöbert, der mit Kischkoweit zusammen in der Strafanstalt gewesen war. An diesem Abend wollten sie sich in Krückes Bude treffen. Gegen einundzwanzig Uhr knarrte die Haustür, dann tappten unsichere Schritte die Treppe hoch. Krücke nahm eine Taschenlampe vom Tisch und trat ins Treppenhaus. „Spelunke!“ rief der schöne Liebing aus dem Parterre und stieg im Schein der Lampe die Treppen hoch. „Wenn du jetzt noch den Kriminaltango spielen läßt, fühle ich mich hier richtig.“ „Quatsch drinnen weiter“, sagte Krücke und schob Liebing ins Zimmer. Liebing legte seinen Hut vorsichtig auf den Tisch, als handele es sich um ein rohes Ei, zupfte die hellen Hand114
schuhe, die nicht mehr ganz sauber waren, von den Händen und legte sie neben den Hut. Bevor er sich setzte, rüttelte er an dem Stuhl, den Krücke ihm hinschob. „Dich Strohhalm hält der allemal noch aus“, sagte Krücke, ärgerlich über Liebings Gehabe. Punkt einundzwanzig Uhr wurde lautlos die Türklinke niedergedrückt, und Kischkoweit trat ein. Liebing sagte erschrocken: „Mensch, Langer, hast du ’ne Art!“ Kischkoweit zog die Oberlippe ein wenig hoch. „So kommt man auf Besuch“, sagte er, „und nicht mit Hallo und Kriminaltango. Für ’nen Wohnungseinstieg bist du verloren, soviel habe ich schon mitgekriegt.“ „Du hast mich beobachtet?“ Kischkoweit lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich muß doch wissen, wozu du taugst, wenn ich mit dir arbeiten soll. Übrigens sehe ich dich heute zum ersten Mal in Zivil. Ganz schmuck, so ohne Streifen.“ Kischkoweit wollte sich auf die Couch setzen, die neben dem Tisch stand. Er zeigte auf die schmutzige Schlafdecke und fragte Krücke: „Schläfst du hier?“ „Na, und wie!“ Kischkoweit wandte sich angewidert ab und zog sich einen Stuhl an den Tisch. Einen Augenblick lang sah Krücke ihn haßerfüllt an. „Der hat’s ganz gemütlich hier, nicht wahr?“ Liebing lächelte verächtlich. „Nur die schiefe Decke stört und die Holzwürmer im Schrank, die Liege ist ein Dreckhaufen, der Tisch wackelt, und die Kommode fällt langsam auseinander. Aber sonst …“ Aber sonst gab es nichts im Zimmer. Krückes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er stürzte auf Liebing zu. Kischkoweit sprang dazwischen und 115
scheuchte Krücke mit einer Kopfbewegung auf seinen Platz zurück. Dann wandte er sich um und sagte: „Du quatschst entschieden zuviel, Liebing. Wir haben zusammen eine Arbeit und müssen uns aufeinander verlassen können. Und wenn ich noch mal erlebe, daß sich zwei aufstacheln, bis sie sich an die Gurgel gehen, dann knallt’s.“ Er warf die 08 auf den Tisch. Liebing wurde blaß und atmete hastig. „War nicht so gemeint“, sagte er zu Krücke. Der grinste schon wieder. „Wir können auch im Duett knallen. Ich hab’ nämlich noch ’ne Walther.“ Kischkoweit sagte: „Das paßt mir aber gar nicht.“ Von der Tür her rief jemand: „’n Abend!“ Ohne sich umzusehen, knurrte Kischkoweit: „Fuchs, du kommst zehn Minuten zu spät.“ „Was sind zehn kurze Minuten in einem langen Leben.“ Schattan ging um den Tisch herum und setzte sich ohne ein Anzeichen von Ekel auf die schmuddlige Liege. „War jemand ungezogen?“ fragte er und blickte auf die Pistole. „Ja“, sagte Kischkoweit, „aber sie tun’s nicht wieder.“ Und mit einer Handbewegung zu Liebing hin: „Das ist der Neue. Klaus Liebing. Bei uns heißt er Conny. Er hat kaufmännische Fähigkeiten und einen verschwiegenen Kundenkreis. Jetzt wird er uns erzählen, was er in nächster Zeit absetzen kann, und danach richtet sich unsere weitere Arbeit.“ „Ich hab’ schon mal in ’n Mikrofon gesprochen“, sagte Liebing mit der Stimme eines Neunzigjährigen, „aber in ’ne Pistolenmündung noch nicht.“ Mit spitzen Fingern schob er die 08, deren Mündung auf ihn zeigte, Kischkoweit zu. Der steckte sie in die Hosentasche, und Liebing sah wieder um fünfzig Jahre jünger aus. Dann zählte 116
er auf, was er an den Mann bringen konnte: Spirituosen, Zigaretten, Kaffee und Süßwaren. Auch für Fotoapparate, Radios und Fernseher hatte er hin und wieder Abnehmer. Einer seiner Kunden interessierte sich für Goldschmuck. Kischkoweit zog einen Zettel aus der Jackettasche und vertiefte sich in seine Notizen. Wenn Kischkoweit für Otto Plitschke Kartoffeln, Kohlen oder Baumaterial ausfuhr, war er für die Kunden nichts als ein hilfsbereiter, zurückhaltender, höflicher Chauffeur oder Transportarbeiter. Daß er Gespräche anknüpfte, um ihnen durch belanglos erscheinende Fragen Bemerkungen über Urlaub, Arbeitszeit und Vermögenslage zu entlocken, fiel ihnen nicht auf. Sie bemerkten auch nicht sein Interesse für Schuppen, Kellerfenster und Türschlösser. Kischkoweit aber notierte sich im Gedächtnis alles, was ihm für kommende nächtliche Streifzüge wissenswert erschien. So konnte er auch jetzt einen Plan zusammenstellen, nach dem sie in den folgenden Monaten all das heranzuschaffen vermochten, was Liebing abzusetzen versprach. Ihm wurde klar, daß er Krücke mitschicken mußte, sonst würde die Arbeit nicht zu bewältigen sein. Wenn er ihn ab und zu einschüchterte, würde er sicherlich auch keine allzu großen Dummheiten machen. Hauptsache, er verfiel nicht wieder in seine Zerstörungswut. Man mußte ihm das Gefühl geben, daß er gebraucht wurde, und zu gebrauchen war er auf jeden Fall. Schon diese Kalkhöhle von Wohnung war ein idealer Lagerplatz für die Sore. Allerdings konnte man Krücke nicht als Zwischenhändler einsetzen. Er sollte sich tagsüber möglichst überhaupt nicht sehen lassen. Ein Windschiefer mit blauroten Pocken im Gesicht war auffällig, den merkten sich die Leu117
te. Nein, Krücke mußte Maulwurfsarbeit leisten, die Sore verstecken, gegebenenfalls an Liebing weitervermitteln, und hin und wieder konnte man ihn nachts in Gaststätten und Keller einsteigen lassen. Kischkoweit wußte noch von Erich Kloge, dem Feinen, daß Krücke bei solchen Einbrüchen gute Arbeit leistete. Er selbst wollte sich in nächster Zeit der Reparatur von Autos und Motorrädern widmen, natürlich gemeinsam mit Schattan. Sie hatten nun auch in dessen Schuppen eine Werkstatt eingerichtet, und der Fuchs bekam in Berlin genug Angebote, Wagen zu reparieren. Besonders die Schauspieler schätzten sich glücklich, in einem ihrer Beleuchter einen Autonarr gefunden zu haben, und vertrauten ihm ahnungslos ihre Wagen zur Reparatur an. Bei Kischkoweit wiederum konnte kein Mensch ahnen, daß die von ihm verwendeten Ersatzteile nicht aus Otto Plitschkes Werkstatt, sondern aus fremden Wagen stammten. „Herhören!“ rief Kischkoweit und gab den wohldurchdachten Einbruchsplan für die nächsten Monate bekannt. Als jedem seine Arbeit zugewiesen war, verbrannte Kischkoweit den Notizzettel. Dann wandte er sich an Liebing. „Verschludere unsere sauer erarbeitete Ware nicht. Wir liefern gute Qualität und wollen dafür gutes Geld sehen.“ „Selbstverständlich“, sagte Liebing und schlug lässig ein Bein über das andere. „Aber für den Ladenpreis kann ich’s nicht anbieten. Da können sich’s die Leute ja gleich im Konsum besorgen. Außerdem gehen dreißig Prozent Hehlergebühren ab. Mit mehr als vierzig Prozent vom Neuwert kannst du also nicht rechnen, Langer.“ Kischkoweit lächelte überlegen. Schattan maulte: „Wenn uns der Zwischenhandel so 118
teuer zu stehen kommt, sollten wir lieber drauf verzichten.“ Mit einer Handbewegung wischte Edwin Kischkoweit sowohl Liebings Forderung als auch Schattans Einwand beiseite. „Er kriegt zehn Prozent.“ „Zwanzig“, sagte Liebing, und jetzt klang es schon wie eine Bitte. „Bedenke doch, der Transport, das Risiko …“ „Risiko gibt’s für jeden. Du kriegst dafür zehn Prozent vom Gewinn. Ich bin kein Versorgungsinstitut für Arbeitsscheue. Kannst dir ja deine Sachen selbst ’ranschaffen.“ Liebing wußte ebensogut wie Kischkoweit, daß er das nicht konnte. Man würde ihn spätestens nach dem zweiten Einbruch schnappen. Kischkoweit erhob sich. „Ich sehe, es ist alles klar.“ Keiner widersprach. „Nächste Woche geht’s los. Und daß sich niemand einfallen läßt, früher anzufangen oder auf eigene Faust zu arbeiten. Guten Abend.“ Als Kischkoweit gegangen war, sahen sich Schattan, Krücke und Liebing unsicher an. Der Raum schien plötzlich leer, obwohl sich nichts verändert hatte. Nur Kischkoweit war eben fort. Edwin Kischkoweit lief zur S-Bahn-Station Jannowitzbrücke. Als er das Märkische Museum erreicht hatte, entdeckte er, daß dort jemand einen Skoda abgestellt hatte. Kischkoweit verlangsamte seine Schritte und lauschte in die Dunkelheit. Unauffällig drehte er sich um, stellte fest, daß ihm niemand folgte, überquerte die Straße und ging auf den Skoda zu. Er bückte sich, prüfte die Reifen und freute sich, daß sie kaum abgenutzt waren. Er selbst hatte kürzlich seinen Fiat verkauft und fuhr jetzt einen 119
gebrauchten Skoda, dessen Reifen dringend erneuert werden mußten. Kischkoweit klinkte an der Tür. Sie war nicht einmal abgeschlossen. Er stieg ein. Auch die Mühe, die Zündung kurzzuschließen, blieb ihm erspart. Der Wagenbesitzer hatte den Zündschlüssel steckenlassen. Kischkoweit gab Gas und fuhr in östlicher Richtung aus Berlin hinaus. Am nächsten Morgen fand man den Skoda in der Eggersdorfer Heide. Zwei Arbeiter, die mit Fahrrädern zur Frühschicht unterwegs waren, sahen schon von weitem, daß da ein Wagen von dem holprigen Waldweg abgekommen und mit dem Kühler in einen Kiefernstamm hineingerammt war. „Verkehrsunfall“, sagte der eine und trat kräftiger in die Pedalen. „Hoffentlich sitzt keiner drin und ist zerschunden“, entgegnete der andere. „Ich kann so was nicht sehen.“ Der erste war inzwischen bei dem Wagen angelangt. Er sah zersplitterte Scheiben und verbogene Metallteile. Der Wagen war leer. Blutflecke waren nicht zu entdecken. Der zweite Arbeiter kam heran, lehnte sein Rad an einen Baum und betrachtete ebenfalls das Wrack. „Seltsamer Verkehrsunfall“, sagte er. „Der Fahrer hat sich jedenfalls gerettet. Und als Andenken an den Wagen hat er die Hinterräder mitgenommen.“ Der Funkwagen rollte langsam die Hauptstraße von Fredersdorf entlang. Oberwachtmeister Krüger sagte zu dem Fahrer: „Stopp mal, da winkt einer.“ „Vielleicht verwechselt er uns mit einem Taxi“, erwiderte der Fahrer und brachte den Wagen neben einem großen, hageren Mann zum Stehen, der noch immer aufgeregt die Arme schwenkte. 120
Krüger kurbelte das Fenster herunter. „Was gibt’s denn?“ „Mein Trabant ist gestohlen worden“, sagte der Mann. „Ein blauer, Kennzeichen IA 68-42, und der Herr hier“, er zeigte auf einen jungen Burschen, der soeben herankam, „der hat gesehen, wer ihn gestohlen hat.“ Der Mann sprach hastig, aber konzentriert. Krüger sprang aus dem Wagen, notierte die Namen der beiden und fragte den Jungen, was er beobachtet habe. Mit einem Trabant, einem blauen, antwortete der Bursche, sei vor zwei, drei Minuten ein Mann in ziemlichem Tempo davongerast. „Können Sie ihn etwas genauer beschreiben?“ fragte Krüger. Der Junge erklärte, er habe das Gesicht nicht erkennen können, nur, daß der Mann klein gewesen sei und helles Haar gehabt habe, könne er mit Sicherheit sagen. Er trug dunkle Hosen und eine braune Kordjacke. Der Wagen sei zum Wald hin gefahren. Der EMW jagte davon. Sie hatten auf dem Waldweg ungefähr zwei Kilometer zurückgelegt, als sie zwischen den Bäumen die Umrisse von etwas Massigem, Klobigem sahen, das nicht in den Wald zu gehören schien. Plötzlich heulte ein Motor auf, das Klobige – zwei dicht nebeneinander stehende Wagen – zerriß, eines der beiden Autos fuhr jetzt davon. „Schneller“, rief Krüger ungeduldig, und der Funkwagen schob sich näher an das flüchtende Auto heran. Es war ein Skoda. Der Funkwagen holperte an dem zweiten Wagen vorbei, der noch immer einige Meter vom Weg entfernt im Wald stand. „Sieh da, der blaue Trabant“, sagte Krüger, dann schaltete er das Sprechfunkgerät ein und informier121
te die Zentrale von dem Autodiebstahl und von ihrer Verfolgungsjagd. Der gestohlene Trabant stand unter einem Ahornbaum, aus dessen Zweigen sich eine Gestalt löste, kaum daß der Funkwagen außer Sichtweite war. Norbert Schattan kam lautlos auf dem weichen Waldboden auf und blieb ein Weilchen hocken. Er warf einen wehmütigen Blick auf den Trabant und verfluchte den vertanen Abend. Um nicht mit ganz leeren Händen nach Hause gehen zu müssen, riß er schließlich die Fußmatte aus dem Wagen. Mit leichten Schritten verschwand er im Gebüsch. Inzwischen hatte sich der Abstand zwischen dem Funkwagen und dem Skoda, dessen dreckverkrustete Zulassungsnummer nicht zu erkennen war, weiter verringert. „Los, gib Gas!“ befahl Krüger. „Der ist fällig.“ Der Skoda bog in einen Seitenweg ein, und der Abstand zum Funkwagen vergrößerte sich wieder. „Entweder kennt der sich hier aus, oder er macht in Panik und fährt auf gut Glück kreuz und quer“, sagte der Fahrer, und gleich darauf brummte er: „Der scheint sich doch auszukennen.“ Er riß den Wagen nach links, um dem Skoda zu folgen, der jetzt in wilder Querfeldeinfahrt den Funkwagen abzuschütteln versuchte. Er benahm sich wie ein flüchtender, hakenschlagender Hase. Hin und wieder verloren sie ihn sogar aus den Augen. Plötzlich sahen sie ihn über ein schmales Wiesenstück preschen, das den Wald von der Landstraße trennte. Mit einem kleinen Hopser landete der Skoda schließlich auf dem Asphalt und raste mit unwahrscheinlich hoher Geschwindigkeit in Richtung Neuenhagen davon. Der Funkwagen sauste hinterher – es war, als ob ein Lahmer einem Weltklasseläufer nachjagte. „Passe“, erklärte der Fahrer, „den schaffen wir nicht, 122
der hat seinen Motor hochgezüchtet. Vielleicht können die in Neuenhagen ihn schnappen.“ Die Funkleitstelle hatte zwei Streifenwagen alarmiert, die dem flüchtigen Skoda entgegenfuhren. Edwin Kischkoweit wusch sich gerade die Hände, als er hörte, daß ein Wagen vor dem Haus hielt. Er hatte in keinem Zimmer Licht eingeschaltet. Als es klingelte, zog er rasch den Straßenanzug aus, schlüpfte in seinen Pyjama und knipste die Nachttischlampe an. Seine Frau fuhr erschrocken hoch. „Ist was?“ „Ja“, sagte Kischkoweit, „aber du bleibst im Bett – und ich habe auch bis jetzt geschlafen, so ungefähr seit halb elf. Kapiert?“ Frau Kischkoweit nickte und zog die Bettdecke bis zur Nase hoch. Da klingelte es zum zweiten Mal, lauter jetzt und fordernder. Kischkoweit hing sich den Bademantel über, fuhr in die Kamelhaarpantoffeln und schlurfte zur Haustür. „Wer is’n da?“ Er schien vor Müdigkeit und unterdrücktem Gähnen kaum sprechen zu können. „Polizei!“ „Nanu?“ Kischkoweit öffnete, blickte schlaftrunken auf den Mann in Uniform, der sich als Hauptwachtmeister Löhr vorstellte. „Ich kenne Sie“, sagte er schließlich und rieb sich die Augen. „Sie sind doch vom Neuenhagener Revier, nicht?“ Der Hauptwachtmeister wollte wissen, wo Edwin Kischkoweit in dieser Nacht mit seinem Skoda gewesen und wann er nach Hause gekommen sei. Kischkoweit sagte: „Mir kommt’s bald so vor, als ob’s auf der Welt noch einen Skoda gibt.“ Das sei schon möglich, meinte der Hauptwachtmeis123
ter, aber sicherlich gäbe es den, der vor einigen Minuten zu Kischkoweits Haus gefahren sei, nur einmal. Und er bestand darauf, in die Garage geführt zu werden. „Die Freude kann ich Ihnen machen.“ Kischkoweit holte die Schlüssel, latschte in seinen ausgetretenen Pantoffeln an dem Hauptwachtmeister vorbei über den Hof und schloß die Garagentür auf. „Bitte“, sagte er zu Löhr, der jetzt hinter ihm stand, und zeigte auf einen in seine Einzelbestandteile zerlegten Skoda. „Das muß auch mal sein.“ „Na, damit kann man wohl nicht fahren“, meinte Löhr. „Ooch, das kriegen wir schon wieder hin.“ Kischkoweit grinste. „Haben Sie noch einen Wagen?“ „Hätte“, sagte Kischkoweit und gähnte, „hätte ich gern. Darf man erfahren, warum Sie sich dafür interessieren?“ Der Hauptwachtmeister überhörte die Frage und wollte wissen, wo Kischkoweit den Abend verbracht habe. Vor dem Fernsehapparat habe er gehockt, erklärte Kischkoweit, und gegen halb elf Uhr habe er sich schlafen gelegt. „Dann entschuldigen Sie man die Störung“, sagte der Hauptwachtmeister, grüßte und verließ die Garage. Kischkoweit lehnte sich gegen die Tür und schmunzelte; er mußte daran denken, wie Hypko im Jahre 1947 eines Tages zu ihm gekommen war und ihn mit in die Stadt geschleppt hatte, um einen Autoschlosser aus ihm zu machen. Es bereitete ihm Spaß, daß er es eigentlich diesem fixen Kerlchen zu verdanken hatte, wenn er heute einen Wagen so mir nichts, dir nichts in seine Bestandteile zerlegen konnte. Wenn Hypko das wüßte! Kischkoweit schloß die Tür, schlurfte über den Hof 124
zurück ins Haus. Er fühlte sich müde und ausgepumpt. Die Wald- und Wiesenfahrt war zwar nach seinem Geschmack gewesen, und daß er die Rekordzeit im Wagenzerlegen sicherlich unterboten hatte, verschaffte ihm Genugtuung, aber es ärgerte ihn, daß die Tour umsonst gewesen war. Ohne ökonomischen Nutzen sozusagen. Doch er tröstete sich schließlich mit dem Gedanken, daß es schon allerhand wert war, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Wenn Hypko hier gewesen wäre, dachte er, wäre es sicherlich nicht so glimpflich abgelaufen, denn der kannte ihn und sein Geschick, mit Wagen umzugehen. Der hätte geahnt, daß der Schrotthaufen in der Garage zehn Minuten zuvor noch das Auto gewesen war, das er gejagt hatte. Wir müssen uns ’ranhalten, dachte Kischkoweit. Wir müssen jetzt ein Ding nach dem anderen drehen, damit wir leisetreten können, sobald Hypko wieder auftaucht. Kischkoweit kroch ins Bett. Bevor er einschlief, überkam ihn plötzlich ein seltsames Angstgefühl, die Polizei könne Schattan erwischt haben. Doch Minuten später schon war er sicher, daß der Fuchs seinem Namen Ehre gemacht und sich unbemerkt in den Bau verkrochen hatte. Edwin Kischkoweit schlief ein, und er schlief tief und ruhig bis zum nächsten Morgen.
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8. Norbert Schattan fühlte sich in diesem Sommer nahezu glücklich. Es war schon Juli, ein sonniger, warmer und trockener Juli, Lore hatte in diesem Jahr noch kein Kind geboren, und bis jetzt waren auch Anzeichen, die auf eine Schwangerschaft deuteten, ausgeblieben. Lore nutzte diese angenehme und ihr beinahe ungewohnte Situation, um hin und wieder nach Berlin zu fahren und durch die Stadt zu bummeln oder um sich mit einer Freundin zu treffen. Ihre Kinder versorgten sich gegenseitig, so gut es ging, und Lore meinte, es ginge allezeit gut genug. Familie Schattan bewohnte jetzt ein Häuschen in Seeberg, das man sich zusammengestohlen hatte. Es stand in einem Gestrüpp von Hagebuttensträuchern und Heckenrosen und glich mit seinen vor Schmutz blinden Fensterscheiben und der löchrigen, herabhängenden Dachrinne auf liebenswürdige Weise einem Hexenhaus. Den Vorgarten, blumenübersät und verwildert, bewachte abends und nachts eine bissige gefleckte Dogge. Schattans achteten streng darauf, daß kein Fremder ihr gestohlenes Paradies betrat. Ein Tag war angebrochen, der trotz seiner tauigen Morgenkühle wieder heiß zu werden versprach. Lore hatte am Abend zuvor mit Bekannten im Dorfkrug Wein getrunken und war dann gut gelaunt und ausgelassen wie ein Teenager nach der ersten Party nach Hause gekommen. Sie schlief noch fest, und Schattan beneidete sie darum. Ihn hatte nur der Gedanke an Edwin Kischkoweit aus dem Bett getrieben. Er mußte, noch bevor er zur Generalprobe auf den Beleuchterstand kletterte, zwei Koffer voller Diebesgut zu Krücke bringen. Nach der Probe soll126
te er sich mit Kischkoweit treffen. Sie wollten sich am Abend eine Campingausrüstung beschaffen, denn in der kommenden Woche begann ihr Sommerurlaub. Schattan setzte sich in Arbeitshosen aufs Bett – das Laken war ohnehin nicht mehr sauber – . und überlegte, wo er den neuen elektrischen Rasierapparat hingelegt haben mochte. Er griff nach dem Jackett, das über der Stuhllehne hing, und breitete alles, was in den Brust- und Seitentaschen steckte, neben sich auf dem Laken aus. Es waren in der Hauptsache Geldscheine, Fünf-, Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigmarkscheine. Schattan zählte und ließ sich dann noch einmal zufrieden aufs Bett sinken, die Füße mit den Straßenschuhen auf sechs Fünfzigmarknoten. Für die Urlaubszeit würde das Geld reichen. Nach einigen Minuten setzte sich Schattan wieder auf und stopfte die Scheine in die Taschen zurück. Dann ging er zum Schrank, um nach dem Rasierapparat weiterzusuchen. Er durchwühlte die Schubläden, durchwühlte auch das Nachttischchen und fand ihn schließlich in einem ausgedienten Lederkoffer unter dem Bett. Er und Kischkoweit hatten den Apparat in der vergangenen Woche aus der PGH Öfen und Herde mitgenommen. Wozu brauchten die dort einen Rasierapparat? Die sollten sich doch seinetwegen die Barte abbrennen. Schattan rasierte sich, frühstückte ausgiebig in der Küche, ließ Brot, Butter, Marmelade und Geschirr stehen, wo es stand; falls jemand Platz brauchte auf dem Tisch, würde er das Zeug schon wegräumen oder beiseite schieben. Wichtig war jetzt nur, daß die Koffer mit dem Diebesgut rechtzeitig zu Krücke gelangten. Schattan holte den Wartburg aus der Garage, packte die Koffer hinein und scheuchte das Schwein, das sich mitten auf dem Hof im Schmutz sielte, in den Stall. Dann 127
fuhr er los, vorsichtig, damit er keines der Hühner verletzte, die gackernd um das Haus herumliefen. In Berlin wurde er von Krücke schon ungeduldig erwartet. Ein Teil der Sore sollte am Vormittag bereits in Liebings Händen sein, denn der war gegen zwölf Uhr mit einem seiner Kunden verabredet. Der Arbeitstag verging für Schattan ohne Zwischenfall. Gegen Abend holte er Kischkoweit ab, sie fuhren zum Zeltplatz am Bötzsee. Vorher hatten sie genau festgelegt, wo das Auto abgestellt werden sollte und welches Zelt mitsamt der Einrichtung sie in wenigen Minuten abbauen und in den Wagen verpacken würden. „Lehn die Tür nur an“, sagte Kischkoweit. „Jetzt muß alles ruck-zuck gehen.“ Sie schlichen zum Zeltplatz. Unterleutnant Preiß, der Abschnittsbevollmächtigte, der für den Zeltplatz zuständig war, hatte sich am Konsumstand ein Päckchen Zigaretten gekauft und ging nun den Weg zurück, der ins Dorf führte. Und gerade hier entdeckte er einen gelben Wartburg, unverschlossen, die linke Tür nur angelehnt. Über soviel Leichtsinn konnte der Abschnittsbevollmächtigte nur den Kopf schütteln, und er mußte die Leichtsinnigen warnen. Mit einem Zettel zum Beispiel, der sich hinter den Scheibenwischer klemmen ließ. Dort konnte ihn keiner übersehen. Zuerst entdeckte ihn Kischkoweit, der mit dem Zelt auf dem Rücken angekeucht kam. Schattan trug Decken, Gummieimer und Plastgeschirr. Kischkoweit nahm den Zettel ab, las ihn und fluchte. „Zurück!“ sagte er leise, aber im Befehlston zu Schattan. „Polente war hier. Vielleicht hat sie die Autonummer aufgeschrieben.“ Der Fuchs empfahl, den ganzen Krempel wegzuwer128
fen und zu verschwinden, doch Kischkoweit bestand darauf, das Zelt zurückzubringen und wieder so aufzubauen, wie sie es vorgefunden hatten. „Wenn wir es hier liegenlassen“, sagte er, „ahnen die doch, was wir vorhatten, und werden uns ganz schön einheizen.“ Die Zeltstadt war an diesem Abend wie ausgestorben, denn auf der Freilichtbühne wurde ein Premierenfilm gespielt. Vielleicht war der alte Herr Beier der einzige, der in seinem Zelt geblieben war. Er hatte Kopfschmerz und Rheuma vorgeschützt und Frau, Sohn und Schwiegertochter allein zur Filmvorstellung geschickt. In Wirklichkeit wollte er nichts anderes als ein paar Stunden in Ruhe faulenzen. Er nickte ein wenig ein, wurde aber schließlich von einem Geräusch, das er nicht zu deuten wußte, wieder wach, stopfte sich eine Pfeife und kroch aus dem Zelt. Es war dunkel geworden, und von den nächstgelegenen Zelten waren kaum noch die Silhouetten zu erkennen. Herr Beier hatte das Ungewisse Gefühl, irgend etwas sei nicht in Ordnung. Als er zu den drei Erlen hinüberblickte, unter denen das Lehrerehepaar Röhler zeltete, erschrak er. Das Zelt war verschwunden, obwohl Röhlers keineswegs abgereist, sondern ebenfalls nur zur Premierenfeier gegangen waren. Der alte Herr Beier rappelte sich auf, lief mit nervösen, zittrigen Schritten zu den Erlen. Nur das zerdrückte Gras zeugte davon, daß hier vor kurzem noch ein Zelt gestanden hatte. Er stolperte hastig davon, hin zum großen Zelt der Lagerverwaltung, und erzählte, was geschehen war. Der Verantwortliche für den Zeltplatz benachrichtigte zuerst die Polizei, dann forderte er, sehr zum Ärger der Premie129
rengäste, die Familie Röhler über den Lautsprecher auf, zur Lagerverwaltung zu kommen. Der Kriminalist und Familie Röhler trafen fast gleichzeitig am großen Zelt ein. Zusammen mit dem Lagerverwalter und Herrn Beier begaben sie sich zum Tatort, und zusammen sahen sie schon von weitem die Umrisse des Zeltes unter den Erlen. Familie Röhler atmete auf, der Kriminalist schüttelte mißbilligend den Kopf, und der Lagerverwalter brummte, für ältere Leute sei das Zelten wohl doch zu anstrengend. Opa Beier aber kam sich vor wie in einem Gespensterwald. Schweigend und an seinem Verstand zweifelnd, verkroch er sich ins Zelt. Seit diesem Abend rät er jedem, der etwas vermißt: „Warte nur ein Momentchen, das ist gleich wieder da.“ Und er schüttelt den Kopf dazu wie einer, der nicht fassen kann, was er doch selbst erlebt hat. Nach dem Mißerfolg am Bötzsee hatten sich Kischkoweit und Schattan zwei komfortable Steilwandzelte vom Werbellinsee geholt und sie am Müritzsee aufgebaut. Auf der Fahrt zum Urlaubsort nahmen sie noch ein Zweimannzelt mit, das nördlich von Berlin zweifellos von Schwarzzeltlern aufgebaut worden war. In dem kleinen Zelt schliefen Schattans Kinder. Elisabeth Kischkoweit verstand sich während der Ferientage wider Erwarten doch mit Lore Schattan, die sie vorher nur einmal in Seeberg besucht und seitdem als Schlampe abgelehnt hatte. Ihr gefiel Lores herzige Art, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, und ihre liebenswürdige Bestimmtheit, mit der sie bei Schattan so ungefähr alles erreichte, was sie wollte. Ihr dagegen war es noch nie gelungen, bei Kischkoweit etwas, das der nicht wollte, durchzusetzen. Einige Tage vor Urlaubsende nahm Kischkoweit 130
Schattan beiseite und sagte ihm, daß es höchste Zeit sei, über die Arbeit zu sprechen. „Ja“, erwiderte Schattan, „mein Geld wird auch knapp.“ Kischkoweit war der Meinung, daß sie mit dem Autoausschlachten in letzter Zeit ein wenig zu heftig ins Zeug gegangen seien. „Das wird langsam auffallen“, sagte er. „Sicherlich ist es besser, wenn wir uns in nächster Zeit erst einmal ein paar Wohnungen von innen ansehen.“ Schattan stimmte zu. „Schaden kann das nie. Vielleicht lernt man noch was zu für die eigene Wohnkultur. Bloß, da müßte eigentlich Lore mitkommen.“ „Laß die Weiber aus dem Spiel!“ Kischkoweit winkte ab. „Ich habe Adressen ausgemacht, die sicher sind und lohnen. Geholt wird in erster Linie Bargeld. Ist am ungefährlichsten. Außerdem können noch Sachen mitgenommen werden, die Conny für seine Kunden braucht und schnell umsetzen kann, aber nur, wenn sie ohne besondere Kennzeichen sind.“ „Du redest mit mir, als hätte ich schon mal ein Familienalbum gestohlen.“ Kischkoweit überhörte den Einwurf und fuhr fort: „Für diesen Job setzen wir auch Krücke ein. Der leistet da allerhand.“ „Hat es auch am leichtesten“, maulte Schattan. „Wenn der in einer fremden Wohnung überrascht wird, braucht er nur die Leute anzugrinsen, schon fallen sie in Ohnmacht, er kann den Möbelwagen bestellen und die Wohnung ausräumen lassen.“ „Du bist im Urlaub aber mächtig gesprächig geworden. Gewöhn dir das bloß schnell ab.“ Ein Mann, ungefähr in Kischkoweits Alter, kam auf 131
sie zu. Er ging barfuß, hatte einen kräftigen, etwas gedrungenen Körper, war braungebrannt und lachte wie einer, der gut geschlafen hat und den das Gewissen nicht drückt. Kischkoweit sprang auf. „Gubisch!“ rief er. „Menschenskind, der Gubisch!“ Sie fielen sich in die Arme, und Schattan erriet aus der Art der Begrüßung, daß es sich bei diesem Gubisch um einen alten Bekannten von Eddi handeln mußte. Sie setzten sich alle drei vor Kischkoweits Zelt, Kischkoweit rief, Schnaps müsse her, seine Frau brachte eine Flasche Doppelkorn, Lore drückte Schattan einen Alten Wodka in den Arm und stellte Gläser auf den Campingtisch. Kischkoweit schob sie beiseite, entkorkte den Korn und reichte Gubisch die Flasche. „Trink du zuerst! Auf dein Wohl und auf unser Wiedersehen.“ Gubisch trank und reichte die Flasche weiter. „Was ist denn aus dem Geldschrank geworden“, fragte Kischkoweit, „den du hier in Waren knacken wolltest? Hast du’s geschafft?“ „Den hab’ ich geschafft“, erwiderte Gubisch und lachte wieder wie einer, der ein reines Gewissen hat. „Wenn man sich was ganz fest vornimmt, dann schafft man das auch.“ „Mir scheint“, sagte Kischkoweit, „in dem Schrank war so viel drin, daß du dir gleich hier eine Existenz gegründet hast.“ „Die hab’ ich. Eine prima Existenz sogar – und sicher. Ich arbeite und verdiene mein Geld ehrlich.“ „Du machst vielleicht Sachen“, sagte Kischkoweit enttäuscht. „Wie ist denn das gekommen?“ „’ne traurige Geschichte, über die man lachen darf. Ich werde also kurz nach dir entlassen, fahre nach Waren und 132
schleiche um die Fabrik herum, in der der bewußte Geldschrank steht …“ Gubisch fragte diesen und jenen nach der Arbeit und der Entlohnung und hatte bald heraus, daß freitags noch immer Lohntag war und donnerstags das Geld von der Kasse geholt wurde. Er beschaffte sich das nötige Handwerkszeug, schlich sich gegen Feierabend im größten Gedränge in die Fabrik und ließ sich einschließen. Gegen Mitternacht begann er mit der Arbeit. Er schuftete und schwitzte und freute sich dabei. Nicht, daß es gerade ein Kinderspiel gewesen wäre, aber er war dem Geldschrank in Gedanken schon jahrelang Nacht für Nacht zuleibe gerückt, und nun saß eben jeder Handgriff. Und dann war der große Augenblick gekommen: Die Tür ließ sich öffnen. Gubisch zog sie langsam auf und lachte in sich hinein. Die Tür quietschte ein bißchen, und Gubisch genoß auch das. Nun griff er zu und tastete das obere Fach ab. Aber da war nichts zum Tasten, nur nackte, kalte, schmerzlich kalte Eisenwände. Gubisch überlief’s heiß und kalt. Er griff ins zweite Fach, fühlte Papier – Geld. So mußte einem zumute sein, der schon über dem Abgrund gehangen hatte und vor dem Sturz noch zurückgerissen wurde. Gubisch ließ die Taschenlampe aufblitzen, leuchtete das Fach aus – und sprang in den Abgrund. Er schrie und fiel und schrie, und er schrie noch, als der Wächter schon vor ihm stand und nicht wußte, ob er zuerst die Polizei oder den Irrenarzt anrufen sollte. Gubischs Schreien ging in ein Schluchzen über, das ihn schüttelte. Und vom Schluckauf unterbrochen, sagte er: „Es sind Quittungen, wertlose Quittungen.“ Der alte Wächter hatte so ein enttäuschtes Menschenkind bisher nur einmal gesehen, zur Kriegsweihnacht 1917, als sein Sohn statt der Schneeschuhe nur ein paar 133
warme Socken bekam, und voller Mitleid sagte er zu Gubisch: „Aber das Geld ist doch im neuen Tresor, im Nebenzimmer.“ Er bereute sogleich, daß er das ausgeplaudert hatte, und griff endlich zum Telefon. Mit zittrigen Fingern wählte er den Polizeinotruf und schielte dabei mißtrauisch zu dem Mann, der schluchzend vor dem aufgebrochenen Geldschrank saß und der nun wußte, wo er das Geld wirklich zu suchen hatte. Aber Gubisch schien ihm gar nicht zugehört zu haben. Der flennte und sagte immer wieder leise: „Mein Ziel, das war mein Lebensziel.“ Und mit einemmal war da eine junge, kräftige Männerstimme im Raum. „Lebensziel? Na, da suchen wir uns in Zukunft aber was Besseres aus!“ Gubisch schaute den Unterleutnant an wie ein Verirrter den Wegweiser, der besagt, daß das Ziel nur fünfzig Meter weit entfernt ist, wenn man geradeaus geht … „Und seitdem“, erzählte Gubisch, „bin ich geradeaus gegangen. Sie haben sich viel Mühe gegeben mit mir, die Polizei und der Staatsanwalt. Der hat auch dafür gesorgt, daß ich in ein Kollektiv kam, in dem ich mich wohl fühlen konnte.“ „Im Knast?“ fragte Schattan. „Nein. In einer volkseigenen Schlosserei. Der Staatsanwalt meinte, ich besäße gewisse Fähigkeiten, und die müsse man nützen.“ Kischkoweit sagte: „Der Nachschlüsseldieb und Geldschrankknacker als Fachkraft in der Schlosserei. So was hab’ ich doch schon mal im Film gesehen.“ Schattan merkte, daß Kischkoweit die Wut überkam, und er versuchte ihn zu beschwichtigen. „Stell dir das vor, Eddi, da freut sich einer jahrelang auf einen Geldschrank mit ’nem Vermögen drin, dann hat er ihn endlich geknackt – und hält alte Quittungen in der Hand. Das ist 134
eine Tragödie, Eddi! Ich kann das verstehen, wenn da einer vor Schreck ehrlich wird.“ „Was treibt ihr denn so?“ fragte Gubisch. „Ich arbeite in meinem alten Beruf“, antwortete Kischkoweit, und da das eine Zweideutigkeit war, fügte er hinzu: „Als Kraftfahrzeugschlosser.“ Schattan atmete auf und erzählte, er sei Beleuchter am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. „Na also, da habt ihr es doch auch geschafft“, meinte Gubisch. Eine Woche später setzte der Regen ein. Schattan war schon seit zwei Tagen wieder in Seeberg. Edwin Kischkoweit packte sein gestohlenes Zelt in seinen zusammengestohlenen Wagen und dachte wieder, wie so oft in der vergangenen Woche, an die Begegnung mit Gubisch. Er überlegte, ob er ähnlich reagieren würde wie Gubisch, und wußte, daß er vor einem aufgebrochenen leeren Geldschrank die Fäuste ballen und die Zähne zusammenbeißen und, wenn er sehr unbeherrscht wäre, vielleicht fluchen würde. Und wenn ihm einer von einem Lebensziel redete, so wie Hypko zum Beispiel, würde er ihn reden lassen und denken, daß es sein Lebensziel sei, alles zu haben, wonach es ihn verlangte. So war Kischkoweit, und er konnte sich nicht vorstellen, daß er jemals anders werden würde.
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9. Der Schauspieler Torsten Rehlau fuhr gegen dreiundzwanzig Uhr die Schönhauser Allee entlang nach Pankow und stellte seinen Wagen unter einer Laterne vor einem der großen Mietshäuser in der Nähe des Bürgerparkes ab. Rehlau war Junggeselle und bewohnte ein geräumiges Zimmer, Küche und Bad im Erdgeschoß des Hauses. Rehlau schloß das Gartentor auf, und dabei fiel ihm ein, daß er am nächsten Tag erst nachmittags zur Probe zu kommen brauchte und er den Wagen deshalb eigentlich noch in die Garage fahren könne. Er parkte ihn nur unter der Laterne, wenn er am folgenden Morgen sehr früh wieder losfahren mußte. Rehlau wollte sich umdrehen und in den Wagen steigen, da entdeckte er, daß ein schwacher Lichtschein in seinem Zimmer tanzte, sekundenlang nur, so, als ob jemand eine Taschenlampe kurz aufleuchten läßt. Rehlau starrte auf das Fenster. Es blieb alles dunkel, und er sagte sich, daß sich das Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos oder ein Lichtschein vom Fenster gegenüber in der Scheibe gespiegelt haben mochte. Aber dann bemerkte er zum ersten Mal in den sechs Monaten, die er hier wohnte, daß auf der gegenüberliegenden Seite gar keine Häuser standen. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen – ein Auto war auch nicht vorbeigekommen, seitdem er hier stand. Trotz der funkelnden Sterne erschien Torsten Rehlau die Nacht mit einemmal schwärzer denn je. Noch immer stand er am Gartentor und fröstelte. Er kam sich vor wie auf einer fremden Bühne zwischen ungewohnten Kulis136
sen – vergeblich auf das Stichwort wartend, das ihm weiterhelfen sollte; nicht wissend, welche Rolle er übernommen hatte und wie das Stück hieß, das hier gespielt wurde. Er wartete noch ein Weilchen und überlegte, ob es nicht das beste sei, zum Revier zu fahren; als aber alles dunkel blieb und still, glaubte er, das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen zu sein. Er drückte die Klinke der Gartentür nieder. Geräuschloser als sonst lief er durch den Vorgarten zur Haustür. Sie war abgeschlossen. Torsten Rehlau atmete auf. Es war wohl doch alles in Ordnung. Das Hauslicht funktionierte noch immer nicht, aber das hatte nichts zu besagen. Es sollte schon seit zehn Tagen repariert werden. „Ist wirklich nur eine Kleinigkeit“, hatte der Hausverwalter gesagt, aber er gab sich offensichtlich mit Kleinigkeiten nur ungern ab, und so mußte Herr Rehlau auch heute, wieder im Dunkeln nach den Wohnungsschlüsseln tasten. Als er aufschließen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne – aus seiner Wohnung drang leises, unterdrücktes Husten. Wenn man auf der Bühne einen Helden in einem klassischen Stück spielte, rief man in so einem Fall: „Wer da?“ Parodierte man jedoch den Helden der westlichen Welt, zog man den Colt und rammte mit der Schulter die Tür ein. Wußte man überhaupt nicht weiter, half einem der Regisseur auf die Sprünge. Aber das hier war nicht Schauspiel, sondern Wirklichkeit, und so mußte er schon sein eigener Regisseur sein, dachte Rehlau. Wieder erwog er den Gedanken, zur Polizei zu laufen, er fürchtete aber, der Eindringling könnte inzwischen das Weite suchen. Außerdem erschien es ihm heldenhafter, der Polizei den Verbrecher frei Haus zu liefern. Herr Rehlau war 137
eben ein bißchen zu sehr ans Heldspielen gewöhnt. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, schloß auf, stieß die Tür sehr heftig nach hinten und war sicher, daß sich in der Ecke zwischen Tür und Wand niemand verborgen hielt. Dann knipste er das Licht an. Der Korridor war leer, die Tür zum Wohnzimmer geschlossen. Rehlau machte im Wohnzimmer Licht und trat ein. Auch hier befand sich niemand, und alles stand noch an seinem Platz: das Schränkchen mit einer Sammlung Kristallgläser, die chinesische Blumenvase und der schwere Zinnkrug auf dem Schrank. Auch der Honigfleck auf dem Teppich, der schon drei Reinigungen überstanden hatte, war noch da. Rehlau verließ das Wohnzimmer und öffnete die Küchentür. Ein feiner Lufthauch strich über ihn hinweg. Er sprang zum Fenster und sah, daß neben dem Riegel die Scheibe eingeschlagen war. Rehlau riß das Fenster auf und beugte sich hinaus. In diesem Augenblick huschte eine Gestalt auf das Gartentor zu, wandte sich halb um und sah zum Haus zurück. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf ein rhomboidartig geformtes Gesicht, das nach allen Seiten hin ein wenig verzerrt erschien. Rehlau schreckte zurück. Doch da er jetzt nicht mehr gegen scheinbar irreale Lichterscheinungen und Geräusche anzugehen hatte, faßte er sich schnell, sprang aus dem Küchenfenster und rannte dem Einbrecher hinterher. Die Gestalt, die zwar nicht hinkte, aber in eigenartiger schiefer Haltung vor ihm hersprang, hatte die Straße überquert und hastete an der Umzäunung der Parkanlage entlang. Rehlau holte auf und dachte: Warte nur, hinter der Ecke habe ich dich. Die Gartenmauer verlief in einer leichten Rechtskurve, und Rehlau verlor den Flüchtling 138
für kurze Zeit aus den Augen. Als er um die Ecke bog, glaubte er, die Gestalt fassen zu können – aber sie war verschwunden. Die Parkmauer zog sich jetzt schnurgerade dahin, so weit man in der Dunkelheit sehen konnte. Links, auf dem abgeernteten Roggenfeld, konnte sich kein Mensch versteckt halten. Es war, als hätte sich der Flüchtende in Luft aufgelöst oder als wäre Torsten Rehlau im Traum einer windschiefen Gestalt nachgerannt und nun erwacht. Rehlau ging nach Hause, er sah sich noch einmal flüchtig in der Wohnung um, konnte jedoch nicht feststellen, ob etwas fehlte. Am nächsten Tag suchte er bei blauem Himmel und Sonnenschein ein zweites Mal den Fluchtweg entlang der Parkmauer ab. Er fand auch die Stelle, an der der Windschiefe verschwunden sein mußte, und tastete Stein für Stein an der Mauer ab. Es gab keinen verborgenen Durchschlupf. Rehlau mußte wiederum nach Hause gehen, ohne das Rätsel gelöst zu haben. Seine Arbeit – Rollenstudium, Proben, Auftritte – ließ ihn das ungewöhnliche Erlebnis nach und nach vergessen. Daran erinnert wurde er erst wieder, als er endlich seinen Anzugstoff, das Meter für 103 Mark, zum Schneider bringen wollte. Der Stoff war verschwunden, und verschwunden waren auch 500 Mark, die er, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, für ein paar Tage im Schrank unter der Wäsche aufbewahrt hatte. Rehlau überlegte, ob er nun doch noch zur Polizei gehen sollte, ließ es dann aber bleiben, weil er meinte, es sei inzwischen zuviel Zeit vergangen. Das primitive Türschloß im dritten Stock des alten Mietshauses in Grünau war für Schattan kein ernsthaftes Hindernis gewesen. Er hatte es mit einem Dietrich geöff139
net und stand nun im Wohnzimmer der Familie Reißmann, die er nicht kannte und nach deren Bekanntschaft er sich nicht gerade sehnte. Er hatte die Vorhänge zugezogen und ließ das Licht seiner Taschenlampe über Couch, Sessel, Tisch und ein Schränkchen mit Glastüren gleiten. Auf dem Schränkchen lag eine Damenarmbanduhr und daneben ein Garantieschein. Schattan beugte sich zu der Uhr hinunter, hörte sie leise ticken und verglich die Zeit mit seiner eigenen Armbanduhr. Die Uhr, deren Garantie noch nicht erloschen war, ging drei Minuten nach. Er sagte: „Schweinerei“ und steckte die Uhr in die Hosentasche, den Garantieschein vorsichtshalber gleich mit. Dann durchsuchte er die Schubfächer eines Schreibsekretärs. Unter einem Briefbeschwerer fand er vier Zwanzigmarkscheine. Sie verschwanden ebenfalls in der Hosentasche. Als nächstes kam der Wohnzimmerschrank an die Reihe. Er wußte von Kischkoweit, daß Reißmanns bei der Bank Geld für neue Schlafzimmermöbel abgehoben hatten, aber noch nicht zum Kaufen gekommen waren, da Frau Reißmann durch ein Telegramm zu ihrem kranken Vater gerufen worden war. Das Geld mußte also im Hause sein. Schattan liebte es, fremde Schränke langsam und gründlich zu durchsuchen, doch heute war Eile geboten. Wegen Lores Lamentiererei, daß er ihr im Zelt am Müritzsee nun doch wieder ein Kind gemacht habe, hatte er den Zeitplan nicht genau einhalten können. Herr Reißmann, der Kunstmaler war, pflegte Punkt dreiundzwanzig Uhr sein Atelier in der Stadt zu verlassen und eine Dreiviertelstunde später zu Hause einzutreffen. Jetzt war es dreiundzwanzig Uhr, und nach Kischkoweits Plan hätte Schattan die Wohnung längst verlassen haben müssen. Es hatte sich bewährt, ein bis zwei Stun140
den für den sicheren Abgang einzuplanen. Schattan arbeitete also schneller als sonst. Doch plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne, irritiert durch zwei Geräusche, die er fast zur gleichen Zeit wahrnahm. Beim Durchstöbern der Wäsche hatte es leise geraschelt, so, als ob Papier verschoben würde. Als er Zugriff und Geldscheine zwischen den Fingern spürte, steckte jemand den Schlüssel in das klapprige Schloß der Korridortür. Schattan fröstelte. Er zog die Hand von dem Geld zurück, glättete die Wäsche, die darüberlag, und schloß den Schrank. Im Korridor quietschte die Tür. Jemand verschloß sie von innen. Dann wurden Schritte laut, hinter der milchigen Glasscheibe der Wohnzimmertür wuchs ein Schatten. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein dürrer Mann mit einer fleischigen Nase, die aus einem anderen Gesicht geborgt zu sein schien, trat auf Schattan zu. Er zog den Hut, schwenkte ihn zweimal durch die Luft und sagte freundlich: „Guten Abend.“ Auch Schattan sagte: „Guten Abend“ und griff vor Überraschung nach der Hand des Dürren. Aber er griff daneben. Der Mann torkelte zwei Schritte nach rechts, fing sich am Ofen ab und lehnte sich dagegen. Er lallte: „Das war mal ’ne Feier“ und zerrte an seinem Binder herum, bis es aussah, als wollte er sich damit strangulieren. „Aber zuviel Leute“, erklärte er Schattan und blickte ihn aus glasigen Augen wehmütig an. „Viel zu viele, die ich nicht kenne. Fühle mich da nicht wohl … bin ausgerückt …“ „Macht gar nichts“, sagte Schattan und griff nach der Türklinke. Aber da wurde der Dürre munter. „Halt mal!“ Er stieß 141
sich vom Ofen ab, torkelte überraschend schnell auf Schattan zu und umklammerte ihn. „Dich kenn’ ich auch noch nicht.“ „Na, wenn schon. Ich muß jetzt ohnehin gehen.“ Der dürre Herr Reißmann hielt sich an Schattans Schultern fest und sah ihn nachdenklich an. Langsam schien er dahinterzukommen, daß er sich in seiner eigenen Wohnung befand und daß der, den er gepackt hielt, da nicht hingehörte. „Wie bist du denn hier ’reingekommen?“ Schattan spürte die Finger wie Krallen auf den Schulterblättern. Er sagte leichthin: „Na, die Kleine hat mich ’reingelassen.“ Irgendeine Kleine wird er schon haben, dachte er, Frau, Freundin, notfalls tut’s auch die Tochter. „Die Kleine?“ fragte der Dürre mißtrauisch zurück. „Sie ist immerhin einsachtundsechzig!“ „Aber niedlich“, sagte Schattan schnell und lächelte. Er hätte wohl besser den Mund halten sollen, denn jetzt bohrte ihm der Dürre die Finger ins Fleisch, daß es schmerzte. Er schüttelte Schattan mit einer Kraft, die man in dem ausgemergelten Körper nicht vermutet hätte. „Geben Sie zu, daß Sie meine Frau verführt haben!“ schrie er. Schattan fand es bedenklich, daß er zum Sie übergegangen war. Er kroch in sich zusammen. „Aber nicht doch“, beschwichtigte er, „Sie schätzen die Lage falsch ein.“ Der Griff an seiner Schulter lockerte sich, aber als Schattan sich fallen lassen wollte, wurde er wieder fester. „Sie hat mich eingeladen“, erklärte Schattan, „sie sei allein … Und nun ist sie ’runter, was zu trinken holen …“ 142
„Das Hurenstück!“ sagte der Dürre, der jetzt bedrohlich nüchtern wirkte. „Ich will Ihnen da nicht widersprechen“, entgegnete Schattan höflich, „aber wollen Sie diese innerfamiliären Angelegenheiten nicht lieber untereinander austragen?“ Der Dürre betrachtete Schattan wie eine Fotografie, die jemanden darstellte, von dem er nicht genau wußte, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. „Und wenn das alles nicht stimmt? Wenn sie doch zu ihrem Vater gefahren ist?“ „Dann bin ich ein Gespenst“, erwiderte Schattan sehr liebenswürdig und dachte: Ich muß ihn dazu bringen, daß er seine Reißbrettstifte aus meinen Schultern zieht. „Sie hat gesagt: ‚Ach, da liegt ja auch meine Uhr‘, hat eine Armbanduhr von dem Glasschrank genommen und Geld aus dem Sekretär, um uns was zum Trinken zu holen. Wenn sie zu ihrem Vater gefahren ist, müßte die Uhr noch dort liegen und das Geld im Schrank sein, und ich würde in der Kneipe sitzen.“ Der Dürre sah sich nach dem Glasschränkchen um und fand keine Uhr. Er ließ Schattan los, ging zum Sekretär, zog eine Schublade heraus und murmelte wieder: „Das Hurenstück!“ „Na, also“, sagte Schattan. Er war schon im Korridor und drehte den Schlüssel in dem klapprigen Schloß herum. Herr Reißmann, der jetzt sehr mitgenommen aussah, kam ihm nachgelaufen, wollte etwas sagen, aber Schattan winkte ab wie einer, der es eilig hat und nicht mehr mit sich reden lassen will. Als der dürre Herr Reißmann endlich an der Korridortür angelangt war, schlug Schattan schon die Haustür zu und rannte zu seinem Wagen. Er startete und raste durch 143
die nächtlichen Straßen, als wollte er einen Rekord im Stempelsammeln aufstellen. Frau Anna Schellheim hielt nicht viel von jungen Männern, die wegen einer Schlägerei zur Polizei bestellt worden waren und Tage später die Großstadt verlassen hatten oder hatten verlassen müssen – wer konnte das so genau wissen –, um an einem entlegenen Ort, dicht an der polnischen Grenze, Arbeit und Unterkunft zu finden. So einen jungen Mann aber wollte morgen ihre Enkelin Eva heiraten. Der Ort an der Oder hieß Schwedt, und das Erdölverarbeitungswerk – ein Wort, das Anna Schellheim nie aussprechen konnte, ohne steckenzubleiben –, war die Arbeitsstelle ihres künftigen Schwiegerenkels. Eva hatte versucht, die Bedenken ihrer Großmutter zu zerstreuen: Der Jörg, ihr Freund, lache jetzt über seine ehemaligen Dummejungenstreiche, aber er lache nicht etwa überheblich, sondern verlegen, weil er sich schäme, und das beste sei, wenn Oma helfe, die dumme Vergangenheit mit hinwegzulachen. Ganz so, wie die Jugend sich das vorstellte, schaffte es Oma Schellheim nicht, aber sie schaffte es immerhin auf ihre eigene Weise. Eva war die einzige Verwandte, die sie noch hatte, und die alte Frau Schellheim schöpfte gleichsam Kraft zum Leben aus der Gewißheit, daß Eva ein anständiges Leben führte und daß es ihr gut ging. Sie zwang sich, trotz einiger Zweifel, daran zu glauben, daß Eva einen geachteten Mann heiratete, und beschloß, ihre gesamten Ersparnisse, es waren etwas über zweitausendfünfhundert Mark, den Enkelkindern zur Hochzeit zu schenken. Oma Schellheim kam wie jeden Mittwochabend gegen zweiundzwanzig Uhr von einer Rentnerveranstaltung der 144
Nationalen Front zurück, band den braunen Wollschal vom Kopf und strich das Haar glatt. Dann trat sie ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem sie notiert hatte, was sie zum Hochzeitstag zu besorgen hatte und was noch erledigt werden mußte. Rechts unten auf dem Zettel stand mit kleinen, festen Buchstaben geschrieben: „Liebe Oma, Jörg und ich haben noch den grauen Koffer mit Büchern abgeholt. Schade, daß Du nicht da warst. Geh morgen pünktlich um zehn vor die Haustür, wir schicken Dir eine Taxe. Deine Kinder.“ Nobel, dachte Oma Schellheim und war mit einemmal recht zuversichtlich bei dem Gedanken an ihren künftigen Schwiegerenkel. Sie las den Zettel ein zweites Mal durch und ging dann daran, für den kommenden Tag alles bereitzulegen: das gute Kleid, den selbstgebackenen Kuchen, das Geld. Anna Schellheim öffnete den Wäscheschrank und strich mit den Händen, die runzelig waren und voller Hornhautbällchen, über ihre Wäsche; Bettlaken, Kopfkissenbezüge, einige noch gar nicht gebraucht, lagen ordentlich übereinander gestapelt. Sie würde jedes Jahr zu Evas Hochzeitstag etwas davon an die jungen Leute verschenken. Auch von den Handtüchern konnten sie noch haben. Als Oma Schellheim nach den Handtüchern sah, stieß sie einen kleinen spitzen Schrei aus. Sie wußte nämlich genau, daß obenauf immer die drei Handtücher mit den gelben Streifen lagen. Das hatte sie seit Jahren so gehalten. Jetzt aber lag auf diesen drei Handtüchern ein weißes. Und Frau Schellheim wußte, daß sie es dort nicht hingetan hatte. Sie hielt sich mit einer Hand an der Schranktür fest, mit der anderen warf sie das weiße Tuch aus dem 145
Schrank, dann die drei mit den gelben Streifen und wieder die weißen. Sie schleuderte die Tücher achtlos auf den Fußboden, und als der Stapel abgetragen war, starrte sie mit glanzlosen Augen auf den leeren Platz im Schrank. „Es lag doch zwischen den gelbgestreiften …“ Sie sagte den Satz vier-, fünfmal, lachte dann, schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und schalt sich mit lauter Stimme eine Närrin. Sie hielt sich vor, alt zu sein und dumm und vergeßlich, und meinte, es wäre an der Zeit, das Geld endlich unter die jungen Leute zu bringen. Frau Schellheim zerrte die Bettlaken aus dem Schrank, warf eines nach dem anderen achtlos zu den Handtüchern, trat darauf und steckte bald mit dem ganzen dürren Oberkörper im Schrank. Ihr Lachen klang jetzt gar nicht mehr zuversichtlich. Wieder redete sie sich ein, vergessen zu haben, unter welchem Wäschestapel das Geld lag, und schleuderte alles, bis zum letzten Kopfkissenbezug, heraus. Ihr Lachen klang dumpf in dem leeren Schrankfach. Sie tastete das Holzbrett ab, auf dem die Wäsche gelegen hatte, strich mit ihren dürren Fingern die Wände entlang, griff zu, griff immer wieder ins Leere, immer schneller, schlug schließlich mit dem Kopf auf das Holz und schrie. Erst als sie auf ihren zerknitterten und zertrampelten Wäschehaufen sank, war sie ganz still. Die Annonce vom Tod der fünfundsiebzigjährigen Rentnerin stand vier Tage später in der Berliner Zeitung. Edwin Kischkoweit übersah sie. Er vertiefte sich in das Angebot von Wassersportfahrzeugen und entschied sich für ein Segelboot „Pirat“, das für zweitausendfünfhundert Mark zu haben war. Er machte den Kauf am Telefon per146
fekt. Dann ließ er sich in den Sessel fallen, zog die Oberlippe hoch und lächelte. Edwin Kischkoweit war sehr mit sich zufrieden. Er hatte die zweitausendfünfhundert Mark der Rentnerin Anna Schellheim gut angelegt.
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10. Der Streifenwagen stand hundert Meter von der „Bierklause“ entfernt, und der Mann, der aus dem Lokal trat, beachtete ihn nicht. Er zog die Tür hinter sich ins Schloß, drückte den Hut in die Stirn und lief mit festen geraden Schritten die Straße entlang. Als hinter ihm Autobremsen kreischten, wurde sein Gang mit einemmal unsicher, schwankend. Er stützte sich an der Hauswand ab und torkelte mühevoll weiter. Hauptmann Eberhard Hypko sprang aus dem Streifenwagen und versperrte dem Mann den Weg. „Na, wird’s denn noch gehen?“ „Aber … aber … klar“, sagte der Mann, seine Zunge schien ihm nicht zu gehorchen. „Aber allemal, wir sind doch was gewohnt.“ „So?“ fragte Hypko. „Was denn? Vielleicht, daß Sie hin und wieder mit einem Mantel in die ‚Bierklause‘ marschieren und zwei anhaben, wenn Sie wieder herauskommen?“ Der Mann kicherte. „Hihi, ein Witzbold um Mitternacht.“ „Freilich“, sagte Hypko, „ich war ganz erpicht darauf, mir die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen, damit ich hier mit Ihnen Witze reißen kann. Aber nun kommen Sie spaßeshalber noch mal ’rein in die ‚Bierklause‘.“ „Aber immer“, sagte der Mann mit schwerer Zunge, und der böse Blick aus seinen klaren Augen, mit dem er Hypko abschätzend musterte, paßte nicht zu seiner Trunkenheit. Hypko ließ sich den Personalausweis geben, notierte Name und Adresse und befahl: „So, nun gehen Sie mal 148
voran, Herr Wassicke.“ Der Mann mit den zwei Mänteln wankte langsam zur Seite wie ein lecker Hochseefrachter kurz vor dem Untergang. Hypko fing ihn ab und sagte: „Jetzt war’s zu übertrieben. Das beste ist, wenn Sie wieder so schön nüchtern werden und gerade laufen wie eben, als Sie aus der Kneipe kamen. Und wenn Sie mir gleich noch sagen, wem Sie den Mantel gestohlen und wie oft Sie solche Bekleidungstouren durch die Gaststätten schon gemacht haben, dann sparen wir uns allerhand Zeit und Ärger.“ Der Mann richtete sich im ersten Schreck empor und ging ein paar Schritte aufrecht. Dann bekam er wieder leichten Seegang und verfiel in sein albernes Gekicher. „Hahi! Sagen Sie bloß, ich habe wirklich zwei Mäntel an!“ Er tastete seinen dünnen Körper ab. „Hi, nein, so was! Da haben Sie doch tatsächlich recht! Die Halunken!“ Er hob die Faust und drohte zur „Bierklause“ hin. „Die denken, mit einem Besoffenen können sie so was machen! Ziehen mir einfach zwei Mäntel an, und … und keiner davon gehört mir.“ „Ach, so ist das, alle beide sind gestohlen.“ Der Leutnant, der mit Hypko im Wagen gesessen und sich den Dialog angehört hatte, sagte: „Der hat aber den Bogen ’raus.“ Sie bugsierten Wassicke zum Eingang der „Bierklause“. Der Leutnant packte ihn am Arm und trat mit ihm zusammen ein. Hypko folgte ihnen. Wenn es nicht so penetrant nach schalem Bier, billigem Schnaps und Zigarettenrauch gerochen hätte, hätte man die „Bierklause“ auch für eine Waschküche halten können, in der ein gutes Dutzend Kessel dampften. Die Kriminalisten versuchten, durch Armeschwenken 149
den Rauch zu zerteilen. Herr Wassicke machte sich klein in den beiden Mänteln und grinste dümmlich. Sie gingen tiefer in den schlauchartig geformten Raum, und als sie sich an den grauen Schleier gewöhnt hatten, der über Menschen, Tischen und Stühlen hing, sagte Hypko zu seinem Mitarbeiter: „Wenn man den Wirt dazurechnet, sind hier wohl einige Jährchen Gefängnis versammelt.“ In einer Ecke saßen zwei Burschen, die in der Stadt als Rowdys bekannt waren. Ein Schwarzhaariger, der an der Theke lehnte, wurde verdächtigt, in einem Juwelierladen eingebrochen zu haben. Er ahnte noch nicht, daß die Polizei schon hinter ihm her war und es lediglich noch eine Frage der Zeit sein würde, ihm die Tat nachzuweisen. Über den Wirt hatte die Polizei mehrere Hinweise aus der Bevölkerung bekommen, daß sein teurer Kognak genauso schmeckte wie der billige Weinbrand. Der Leutnant entgegnete: „Viel ist es nicht, was wir hier an Unterwelt zu bieten haben, aber was wir haben, verkehrt wohl in der ‚Bierklause‘.“ „Es braucht eben jeder sein Nest“, sagte Hypko, „Und es ist gut für uns, wenn wir die Nester kennen.“ Sie standen so ziemlich in der Mitte des Raumes, und während sie sich noch unterhielten, kam langsam ein kräftig gebauter Mann in mittleren Jahren auf sie zu. „Achtung“, sagte Hypko. „Jetzt geht’s los.“ Der Mann blieb vor Wassicke stehen, ballte die Faust und holte aus. Hauptmann Hypko fing den Schlag ab. „Na aber, so sagt man sich doch nicht guten Abend.“ „Der Lump“, sagte der Mann langsam und betont. „Ich suche alle Garderobenständer nach meinem Mantel ab, und der Lump …“ Er hielt inne und sah mißtrauisch Hypko an. „Was seid ihr denn für Schnurrbärte?“ „Kriminalpolizei“, antwortete der Leutnant schnell, 150
und sie zeigten beide ihre Marken. Der Mann stellte sich als Alfred Langner vor und meinte, sie müßten dem da in die Manteltasche fassen, falls sie seinen Ausweis sehen wollten, und er wies mit einer Kopfbewegung, die Verachtung ausdrückte, auf Wassicke. Der Leutnant holte den Ausweis aus der bezeichneten Tasche. Er fragte, wem der zweite Mantel gehöre. Alfred Langner gab Auskunft, daß sein Freund Karl Wöllner seinen Mantel ebenfalls vermisse. „Kalle sitzt dort“ – er zeigte mit ausgestrecktem Arm in eine Ecke, in der gerade jemand einen Stuhl umwarf. Dann krachte es, als sei ein Elfmeter in einen Porzellanladen geschossen worden. Irgendwer stöhnte, Frauenstimmen kreischten, und ein Mann rief nach der Polizei. Hypko sagte: „Ich guck’ mir mal die Extravorstellung an dahinten. Der Manteldieb ist sowieso dein Brot. Ich nehme hier keine Kundschaft mehr an, denn in einer Woche bin ich wieder in Berlin.“ Der Leutnant nickte und wandte sich dem Mann in den beiden Mänteln zu. Hypko bahnte sich einen Weg zu der Ecke, aus der der Lärm drang, und sah Karl Wöllner auf dem Fußboden sitzen. Wahrscheinlich hatte er vor seinem Fall mit einer kräftigen Armbewegung Gläser und Flaschen vom Tisch geschoben, denn er saß inmitten eines Haufens Glasscherben. „Haben Sie sich verletzt?“ fragte Hypko. Wöllner stierte ihn aus glasigen Augen an und sagte: „Ich hab’ nichts mehr zu trinken, das ist das Problem.“ Hypko zerrte den Betrunkenen hoch, der Kellner half ihm dabei, und Hypko bat ihn, eine Taxe zu rufen. Dann zog er Wöllner den Personalausweis aus der Tasche und notierte sich die Adresse. 151
Als die Taxe vorfuhr, schob Hypko den Betrunkenen zur Gasthaustür hinaus und in die Taxe hinein. Er nannte dem Fahrer die Adresse, und sie fuhren ab. In der Bergstraße bremste der Fahrer vor einem endlos erscheinenden Neubaublock. Wöllner drückte Hypko seine Brieftasche in die Hand. „Zahlen, Kumpel.“ Der Hauptmann zahlte und zog Wöllner aus dem Wagen. Die Taxe fuhr ab, und Wöllners Blick irrte hilflos die riesige Hauswand mit den vielen Fenstern auf und ab. „Hier wohne ich irgendwo“, murmelte er. „Wir werden’s schon finden“, entgegnete Hypko zuversichtlich und zog den Betrunkenen zum Eingang Nummer fünf. Wöllner blickte dankbar zu Hypko hinunter. „Bissel klein biste“, sagte er, „aber absolut oho. Jawohl, das biste.“ Hypko schob ihn die Treppen hoch und drückte auf den Klingelknopf unter dem Namensschild „Wöllner“. Er wollte der Frau, die ihnen sicherlich öffnen würde, Wöllner in die Arme drücken mit den Worten: „Hier, Mutti, haben Sie Ihr Bierfaß zurück.“ Es war auch eine Frau, die ihnen öffnete, aber Hypko starrte sie nur an und brachte kein Wort heraus. Die Frau war groß und blond und ein wenig fülliger als vor Jahren. Ihre Gesichtszüge waren härter geworden, und in ihrem Blick, der einmal heiter gewesen war, lag Resignation. Wöllner rülpste und torkelte an der Frau vorbei in die Wohnung. „Henny“, sagte er, „Hennylein, das ist ein Freund von mir. Sei nett zu ihm.“ Sie brauchten einige Sekunden, um ihrer Überraschung Herr zu werden. „Henny“, sagte Hypko endlich, noch immer fassungslos. „Menschenskind, Henny …“ Die Frau blickte ihn aus großen Augen an wie etwas, 152
das man lange vermißt und endlich wiedergefunden hat. Um ihre Mundwinkel zuckte es, und Hypko wußte nicht, ob sie im nächsten Moment lachen oder weinen würde. Er fragte schnell, ob er eintreten dürfe. „Natürlich“, sagte Henny mit rauher Stimme, und jetzt merkte er, daß sie nahe am Weinen war. Sie drehte ihr Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Geste, die Hypko noch von früher her an ihr kannte und die ihre Verlegenheit ausdrückte. „Du, ich bin ganz durcheinander“, sagte sie unsicher, „wirklich, ganz durcheinander.“ Sie schloß die Korridortür hinter Hypko ab und ging ihm ins Wohnzimmer voran. Dort bot sie Hypko einen Sessel an; sie selbst setzte sich auf die Couch. Sie stellte ihm viele Fragen, wie es ihm ginge, wo er arbeite, ob er verheiratet sei, Kinder habe, und erwartete im Grunde doch auf keine dieser Fragen eine Antwort. Hypko merkte, daß sie nur aus Verlegenheit redete. Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne, sagte: „Nicht, daß ich dich vergessen hätte, ich habe nur nicht mehr daran geglaubt, dich jemals wiederzusehen, deshalb …“ Das „deshalb“ schien sich auf ihre Verlegenheit und Überraschung zu beziehen. „Laß dir Zeit“, beruhigte Hypko sie, „mir geht es ähnlich. Ich habe auch noch nicht richtig kapiert, daß ich dir in deinem Wohnzimmer gegenübersitze.“ „Seltsam“, fuhr Henny nach einer Weile fort, „jetzt, wo ich dich wiedersehe, zieht das alles wie ein Film an mir vorüber, ich meine, die Zeit in Erfurt: unser Kennenlernen in der Bahnhofsgaststätte, du hattest auf Eddi gewartet, und wir sind dann zu dritt ausgegangen. Später waren wir oft zu dritt im Kino oder im Theater oder haben über Politik diskutiert, dein Lieblingsthema. Oftmals war ich deiner Meinung, habe aber Eddi ein bissel nach dem Mund geredet, weil ich ihn gern hatte.“ 153
Hypko schmunzelte. „Ihr habt mir beide bei der Vorarbeit fürs Examen als Kindergärtnerin geholfen, Eddi hat mir die Wirtschaft versorgt, groß war sie ohnehin nicht, und du hast mit mir gepaukt: Säuglingspflege, Nahrungsmittelchemie. Kannst du dich noch daran erinnern?“ „Natürlich“, sagte Hypko, „an alles.“ „Ein Jahr später habe ich mich mit Eddi von dir verabschiedet, und dann …“ Hypko hätte gern gewußt, wie sie dann mit Eddi gelebt, ob sie diesen Schritt bereut oder sich mit Eddi verstanden hatte. Es war noch nie Gelegenheit gewesen, sich darüber auszusprechen, denn nach Eddis Verhaftung hatte sie Hypko gemieden, solange sie noch in Neuenhagen wohnte. Aber sie sprach auch jetzt nicht weiter. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, sie fragte leise: „Warum bist du hierhergekommen?“ Dann legte sie den Kopf auf den Unterarm und schluchzte. Hypko stand auf, trat in den Korridor und hörte Wöllner im Schlafzimmer schnarchen. Er ging ins Wohnzimmer zurück, setzte sich neben Henny und strich ihr behutsam übers Haar. Sie ist jetzt Mitte Dreißig, dachte Hypko, und ihr Haar beginnt schon grau zu werden. Er hob ihren Kopf hoch und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Das wurde aber Zeit, daß ich dich gefunden habe“, sagte er, und härter, als er wollte, fügte er hinzu: „Was hast du denn aus dir gemacht?“ Sie schlug die Augen nieder. „Ich habe Wöllner geheiratet“, erwiderte sie. „Ohne viel zu überlegen, habe ich ihn geheiratet. Es hätte ebensogut ein anderer sein können, aber ich brauchte jemanden, damals, als ihr Eddi eingesperrt habt.“ 154
Hypko ließ ihren Kopf los und setzte sich wieder ihr gegenüber. „Gut“, meinte er, „das war damals. Aber jetzt? Willst du denn so weiterleben?“ Sie zuckte resignierend mit den Schultern. „Ich habe schon oft daran gedacht, mich scheiden zu lassen. Nur, ob ich dann besser lebe als mit Wöllner …“ „Arbeitest du?“ „Natürlich“, sagte sie, „einer muß doch das Geld für den Haushalt und fürs Essen verdienen, wenn der andere seines fürs Trinken braucht. Aber ich arbeite auch, weil es mir Freude macht. Nur … nach Hause gehe ich nicht gern.“ „Wenn du dich von Wöllner trennst, findest du doch allemal noch einen, der dich mehr schätzt und mit dem du eine ordentliche Ehe führen kannst.“ „Das schon. Aber ich will nicht.“ Und leise, als fürchtete sie, jemand, den das nichts anging, könnte es hören, sagte sie: „Ich kann Eddi nicht vergessen.“ Von draußen drang Lärm herein. Wöllner war wach geworden, polterte durch das Schlafzimmer und durch den Korridor, schien die Wohnzimmertür nicht finden zu können und brüllte: „Wo steckt ihr denn? He, ihr …“ Und dann: „Na, is ja egal, amüsiert euch gut, Kinderchen, aber morgen bin ich wieder dran!“ Hypko ging hinaus, packte Wöllner am Kragen und schleifte ihn ins Schlafzimmer zurück. Als Wöllner zum Schlag ausholte, stieß er ihm mit der Faust gegen das Kinn, nicht gerade hart, aber doch immerhin so, daß Wöllner in die Knie ging. Hypko verließ das Schlafzimmer, verschloß die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Henny“, sagte er, „Eddi ist verheiratet.“ Sie sah ihn ein Weilchen schweigend an und zupfte wieder an ihrem Ohrläppchen. Dann fragte sie: „Hat er 155
sich geändert?“ „Ich weiß das nicht“, sagte Hypko, „ich bin ihm nur zwei- oder dreimal begegnet. Nächste Woche fahre ich nach Berlin zurück und übernehme im Präsidium eine Arbeitsgruppe. Vielleicht treffe ich Eddi dann wieder – hoffentlich nicht beruflich.“ „Hardy“, sagte Henny, „ich bitte dich, such Eddi und schreib mir, was aus ihm geworden ist.“ „Du brauchst mich nicht zu bitten. Den Gefallen tue ich dir schon. Nur, was soll’s? Ich habe dir doch gesagt, er ist verheiratet.“ „Man kann alles ändern“, sagte sie leise. „Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen, genug Zeit, um jemanden zu vergessen, den man vergessen kann. Wenn du an ihn denkst, siehst du ihn mit einer Ladung Buntmetall durch die Schranken brechen, wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn zum Beispiel inmitten einer Schar Kinder, Dreijährige; er wirft sie hoch, fängt sie auf, erzählt ihnen Märchen, in denen immer ein Auto vorkommt, und bastelt Strohpuppen mit ihnen. – Das ist an einem Tag gewesen, als zwei Kolleginnen in der Krippe krank geworden waren. Ich mußte zum ersten Mal allein mit zwei Gruppen Kleinkindern den Tag verbringen. Eddi wußte, daß ich Angst hatte, es könnte etwas schiefgehen. Er nahm sich kurzerhand zwei Tage frei und kam mit mir in den Kindergarten. So war Eddi auch.“ „Ich weiß“, sagte Hypko. „Als Junge war sein Lieblingsbaum eine Birke und sein Lieblingstier der Tiger. So ist Eddi: Birke und Tiger, feinfühlig und brutal zugleich. Tagsüber hätschelt er Kinder, nachts räumt er eine Wohnung aus.“ „Ich will dir nichts vormachen“, sagte Henny, „ich habe auch manchen Kummer mit ihm gehabt. Zum Bei156
spiel, wenn er nachts spät nach Hause kam oder plötzlich viel Geld in der Tasche hatte, obwohl kein Lohntag gewesen war. Nicht, daß wir uns gestritten hätten, wir haben überhaupt nicht darüber gesprochen. Er hat mir etwas von Freunden und Skatspielen erzählt, und ich habe es dabei bewenden lassen. Zuerst dachte ich, eine Frau steckte dahinter, aber dann habe ich gespürt, daß es etwas anderes war, eine Gefahr, die auf mich zukam, noch nicht greifbar.“ „Vielleicht hättest du doch mit Eddi darüber sprechen sollen“, warf Hypko ein. „Nein“, sagte sie zögernd, „ich fühlte, daß Eddi nicht darüber sprechen wollte, und da habe ich es anders versucht – über sein Hobby. Ich wollte ihn über seine Autobastelei zum Lernen bringen, ihn ’rausreißen aus dem Kreis, in dem er sich bewegte. Eddi hat doch Köpfchen, der hätte doch das Zeug zum Ingenieur gehabt.“ Hennys Worte erinnerten Hypko an sein letztes Zusammentreffen mit Eddi. Damals hatte auch er versucht, dem Autonarr Kischkoweit eine Chance zu geben, aber der hatte ihm die Tür gewiesen. Er erzählte Henny nichts davon. Er hörte sie sagen: „Daß ich trotzdem noch an Eddi hänge, kommt vielleicht daher, daß in der Erinnerung die schlechten Erlebnisse verblassen. Man gefällt sich darin, die guten Erlebnisse und die guten Eigenschaften eines Menschen ein bißchen auszumalen. Ich find’s schön, daß es so ist. Vielleicht kommt’s aber auch daher, daß ich zu den Menschen gehöre, die nur einmal im Leben richtig lieben können.“ Sie griff wieder nach ihrem Ohrläppchen und fragte verlegen: „Klingt wohl ein bissel albern?“ „Nein“, entgegnete Hypko, „nicht, wenn du das sagst. Ich kenn’ dich doch. Trotzdem, stell es dir nicht so ein157
fach vor, zu Eddi zurückzukehren. Seine Frau hat ihm einen Sohn geboren.“ „Mit Kindern umzugehen ist mein Beruf“, sagte Henny. „Ich liebe Kinder und war schon oft genug verzweifelt darüber, daß ich selbst keine bekommen kann.“ „Eddis Frau wird ihr Kind auch lieben“, gab Hypko zu bedenken. Henny blickte ihm in die Augen. „Du bist noch genau wie früher. Immer die Wahrheit ins Gesicht, und wenn sie noch so hart ist.“ „Ja“, sagte Hypko, „und ich habe vor, so zu bleiben.“ „Aber du schreibst mir, wie er jetzt lebt, nicht wahr?“ „Klar. Ich hab’s dir doch versprochen. Liest dein Mann deine Briefe?“ „Ja“, antwortete sie, „wenn er sie in die Finger bekommt, liest er sie.“ „Dann lass’ ich dir die Adresse meiner Frau hier. Sie kommt etwas später nach Berlin, wegen der Wohnung. Ich werde ihr schreiben, was du wissen willst. Übrigens kann es dir gar nichts schaden, wenn du dich mit ihr anfreundest. Sie ist ein ganz famoser Kerl.“ „Kunststück“, sagte Henny, „bei dem Mann.“ „Na also, lachen kannst du ja doch noch. Übrigens hat man deinem Kalle in der ‚Bierklause‘ den Mantel gestohlen. Den Dieb haben wir schon. Du kannst morgen in der Inspektion anrufen, die Genossen dort verhelfen euch wieder zu dem guten Stück. Allerdings hat Kalle auch einige Scherben fabriziert, die zerbrochenen Gläser müßt ihr bezahlen.“ „Es sind nicht die ersten.“ Sie lächelte wie über etwas, das einen ärgert, jedoch nicht so wichtig ist, daß es geändert werden müßte. „Schluß jetzt“, sagte Hypko. „Und gute Nacht.“ 158
Sie drückten sich die Hände. An der Korridortür fiel Hypko noch etwas ein. „Moment mal, ich glaube, ich habe deinen Kalle ein bißchen unbequem hingelegt.“ Er ging zur Schlafzimmertür zurück und schloß auf. Wöllner lag noch auf dem Fußboden und schnarchte. „Pack mal mit an“, bat Hypko. Sie hoben ihn hoch und legten ihn quer übers Bett. Hypko sagte: „Nun hast du aber keinen Platz mehr.“ „Ich schlafe im Wohnzimmer“, entgegnete Henny, und als Hypko in den Fahrstuhl stieg, bat sie ihn noch: „Hardy, wenn du mit Eddi sprichst, erzähle ihm nichts von dem hier.“ Sie wies mit einer Kopfbewegung zum Schlafzimmer hin. „Aber grüß ihn von mir, bitte.“ „Na, meinetwegen“, erwiderte Hypko.
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11. Der abnehmende halbe Mond schimmerte durch Nebelschwaden, die zwischen den Kronen hochgewachsener Pappeln hingen. Leutnant Günter Rüdiger lenkte den Skoda durch eine Straße mit villenähnlichen Einfamilienhäusern in Strausberg-Nord. Neben ihm saß Hauptmann Eberhard Hypko. „Wenn ihr mit eurer Gruppe im Präsidium Schwerpunkte klären sollt, werdet ihr wohl bei uns anfangen müssen“, sagte Rüdiger. „In allen Bezirken sinkt die Kriminalität, nur bei uns zeigt die Statistik an, daß die Zahl der Diebstähle gleichbleibt. Und wir merken’s nicht nur an der Statistik!“ „Habt ihr denn Anhaltspunkte für die Aufklärung?“ fragte Hypko. „Keine. Wir wissen nicht einmal, ob wir es mit einer Bande oder mit mehreren Banden oder mit mehreren Einzeltätern zu tun haben. Die Delikte sind ganz verschiedenartig, ebenso die Arbeitsweisen.“ Sie fuhren an einer Villa vorbei, vor der ein Skoda parkte. Aus dem Parterre des Hauses drang schwacher Lichtschein. Nach einem Kilometer etwa sagte Leutnant Rüdiger: „Zum Teufel, da fällt mir ein, unser Kreisarzt, Doktor Schimanski, ist doch im Urlaub, im Ausland, aber vor seinem Haus stand ein Wagen, und in der Wohnung brannte Licht.“ „Fahr zurück“, sagte Hypko. Wegen des Nebels, der zusehends dichter wurde, konnten sie erst kurz vor Schimanskis Villa erkennen, daß der Wagen verschwunden war. Leutnant Rüdiger fuhr weiter. Nach fünfhundert Metern tauchten Rücklich160
ter eines Autos vor ihnen auf. Rüdiger gab Gas und schob sich näher an den Wagen heran. Der Fahrer vor ihnen schien nichts von Gesellschaft zu halten, er ließ den Motor aufheulen und jagte davon. Die Rücklichter wurden zu kleinen boshaften Augen, die sich langsam schlossen. „Wieder einer mit hochgezüchtetem Motor“, sagte Leutnant Rüdiger, und Hypko fragte, ob sie so etwas hier oft hätten. Ab und zu käme es schon vor, entgegnete Rüdiger, aber sie wüßten nicht, ob es immer der gleiche Wagen sei, der sie zum Narren halte. „Bei dem Nebel kann er das Tempo nicht lange durchhalten“, meinte Hypko. „Fahr weiter, vielleicht erwischen wir ihn doch noch. Übrigens solltest du nicht ‚ihr‘ sagen, wenn du von der neuen Arbeitsgruppe im Präsidium sprichst. Ich hoffe, du kommst mit. Wenn wir zuerst die Diebstähle in euerem Bezirk unter die Lupe nehmen, wäre es ohnehin günstig, jemanden in der Gruppe zu haben, der über die Vorkommnisse der letzten Monate Bescheid weiß.“ „Meinetwegen kannst du mich anfordern. Würde gern wieder mit dir zusammenarbeiten.“ Plötzlich schoß aus einer Seitenstraße ein Wagen heraus, schwenkte Zentimeter vor ihnen in die Hauptstraße ein und raste im gleichen Tempo weiter. „Wenn er das mal nicht war“, sagte Rüdiger und jagte ebenfalls mit überhöhtem Tempo los. „Wenn er es ist, hat er einen Umweg gemacht“, entgegnete Hypko, „und ein Wagen, der flüchtet, fährt eigentlich keine Umwege, um später kurz vor seinem Verfolger wieder aufzutauchen.“ Inzwischen war es Leutnant Rüdiger gelungen, an dem Skoda vorbeizukommen und ihn zum Anhalten zu zwin161
gen. Hypko und Rüdiger sprangen aus dem Wagen, und der Hauptmann riß die Tür zum Skoda auf. Am Lenkrad saß ein schmächtiges Kerlchen mit einem blonden Schnurrbart auf der Oberlippe. Es hatte ein fuchsschlaues Gesicht und helle, listige Augen. Neben dem Kerlchen sagte einer: „Guten Abend, Hardy.“ „Guten Abend, Eddi“, sagte Hypko so freundlich und so nebensächlich, als hätten sie erst am Nachmittag zusammen Kaffee getrunken, und forderte von dem Blonden die Fahrerlaubnis. „Die haben Sie schon“, sagte das Kerlchen mit dem Fuchsgesicht und grinste. „Sie dürfen ruhig deutlicher werden“, forderte Hypko noch immer freundlich. Der Blonde zuckte die Schultern. „Ich meine, die Polizei hat sie schon. Ich bin eben mal ohne gefahren.“ „Und gar nicht so schlecht“, ergänzte Kischkoweit, „aber eine Dummheit war es doch von uns. Wir hätten es wirklich nicht tun sollen.“ „Hast du deine Fahrzeugpapiere bei dir?“ fragte ihn Hypko. „Ja. Aber er wollte seinen Wagen unbedingt selbst fahren.“ „Ihren Personalausweis, bitte.“ Hypko sah wieder auf das Fuchsgesicht mit dem Schnurrbart. „Heute geht auch alles schief“, das Kerlchen seufzte, „der Ausweis steckt in ’nem anderen Jackett, und das hängt zu Hause.“ „Vielleicht wissen Sie zufällig, wie Sie heißen?“ „O ja“, sagte der Blonde, „Schattan, Norbert Schattan.“ Und er nannte seine Adresse. Hypko fragte, woher sie kämen und wohin sie wollten, und Schattan und Kischkoweit erzählten ihm abwech162
selnd eine Geschichte, bei der Hypko das Gefühl hatte, daß sie von Anfang bis Ende erlogen sei. Er forderte Schattan auf, im Fond des Wagens Platz zu nehmen, und setzte sich neben Kischkoweit ans Steuer. Dann fuhr er hinter Leutnant Rüdiger her zum VP-Kreisamt Strausberg. Schattan und Kischkoweit wollten weder einen Doktor Schimanski kennen noch ihren Wagen vor dessen Haus geparkt haben. Der diensthabende Kriminalist behielt sie aber auf dem Kreisamt, bis der Streifenwagen mit dem Kriminaltechniker von Schimanskis Villa zurückgekehrt war. Der Kriminaltechniker berichtete, daß man vor dem Haus keine Fahrzeugspuren habe sichern können. Der Wagen, der dort gestanden hatte, war wohlweislich auf der asphaltierten Straße geblieben und hatte somit keinerlei Eindrücke auf dem sandigen Streifen zwischen Straße und Gartentür hinterlassen. In der Villa Schimanski aber war die Haustür gewaltsam geöffnet worden. Die Wohnung habe nach einem Einbruch ausgesehen, bei dem die Täter gestört worden waren. Offensichtlich hatten sie den Tatort eilends verlassen. Hypko war mit Rüdiger in der Inspektion geblieben und hatte diesen Bericht abgewartet. Jetzt ließen sie sich von Schattan und Kischkoweit die Geschichte ihrer nächtlichen Fahrt noch einmal erzählen. Die beiden wichen in keinem Detail von ihrer ersten Darstellung ab. Es klang dennoch alles sehr einstudiert. Leutnant Rüdiger sagte: „Vielleicht war es so, vielleicht aber haben Sie bei Doktor Schimanski eingebrochen, hörten einen Wagen vorbeifahren und dachten, es könnten Bekannte oder Patienten vom Doktor sein, die sich wundern, daß Licht im Hause brennt und ein Wagen vor der Tür steht. Vielleicht haben Sie dann alles stehen163
und liegengelassen, sind davongefahren und haben gemerkt, daß man Sie verfolgte. Mit Ihrem hochgezüchteten Motor konnten Sie entkommen. Sie sind möglicherweise einen kleinen Umweg gefahren, der an einem der halbversumpften Teiche vorbeiführt, und haben dort das Diebesgut oder auch nur das Einbruchswerkzeug verschwinden lassen. Sie mußten damit rechnen, daß man Ihre Wagennummer erkannt hatte. Also dachten Sie sich eine Geschichte aus. Herr Schattan hat sich ans Steuer gesetzt, damit man Sie – wenn Sie nun doch noch erwischt werden sollten – nur wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung belangen konnte.“ „Hört sich gut an“, sagte Kischkoweit. „Vielleicht war es auch so. Nur … beweisen müssen Sie es uns noch.“ „Wir werden uns Mühe geben“, entgegnete Hypko, und er wußte ebensogut wie Leutnant Rüdiger, daß das schlechthin unmöglich war. Hatten diese beiden den Einbruch begangen, waren sicherlich keinerlei verwertbare Spuren zurückgeblieben. Sie konnten nur Schattan bestrafen. Kischkoweit war schon an der Tür, als Hypko sagte: „Eddi, ich soll dich von Henny grüßen.“ Kischkoweit fuhr herum und kam einige Schritte ins Zimmer zurück. In seinen Augen war ein Glitzern, und sein Gesichtsausdruck war gelöster als sonst. „Von Henny?“ fragte er ungläubig. Dann schien er zu merken, daß er sich gehenließ, daß er ein Gefühl zeigte. Sein Blick wurde wieder ausdrucklos, die Gesichtszüge hart, und die Mundwinkel bogen sich abwärts. Hypko sagte sich, daß er selten einen Menschen gesehen hatte, der sich so zu beherrschen vermochte. „Ja, von Henny“, erwiderte er. „Sie hat nach dir gefragt.“ „Wie geht es ihr denn?“ fragte Kischkoweit in gleich164
gültigem Ton. „Sie hat eine hübsche Wohnung“, sagte Hypko, als ob das eine Antwort sei. „Ich wollte wissen, wie es ihr geht und wie sie lebt.“ Trotz aller Beherrschung klang Kischkoweits Stimme leicht gereizt. „Dasselbe will sie von dir wissen“, entgegnete Hypko, „und ich weiß noch nicht, ob ich ihr gleich schreiben soll, wie du lebst – falls du es mir erzählst –, oder ob ich warten soll, bis ich dir und deinem Freund den Einbruch bei Doktor Schimanski nachgewiesen habe.“ Kischkoweit blickte noch immer gleichgültig auf Hypko, doch der spürte, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen. Plötzlich drehte sich Kischkoweit um und ging. Auf der Türschwelle sagte er: „Mach doch, was du willst.“ Dann war er draußen. Leutnant Rüdiger seufzte. „Wieder mal der Kischkoweit.“ „Ist er bekannt bei euch?“ fragte Hypko interessiert. „Ja. Als du zur Schwarzen Pumpe gingst, hast du uns empfohlen, auf Kischkoweit achtzugeben. Es war im Zusammenhang mit dem Einbruch im Petershagener Konsum und dem ‚Fernfahrer‘, der Kneipe, in der krumme Geschäfte abgewickelt wurden und die wir schließen mußten. Erinnerst du dich?“ „Natürlich.“ „Wir haben deinen Hinweis nicht auf die leichte Schulter genommen und ein Auge auf Kischkoweit gehabt. Aber es war ihm in keiner Weise auch nur ein Vorwurf zu machen. Er arbeitet bei Plitschke, arbeitet gut, macht Überstunden, ist nie krank. Jeder kennt ihn als hilfsbereit und freundlich, und man achtet ihn. Aber er tauchte ab und zu bei uns auf. Zuerst am Rande eines 165
Vorganges, als Zeuge, als einer, der zufällig dazukam, später auch als Verdächtiger. Nachweisen konnten wir ihm nichts. Und trotzdem, irgend etwas stimmt mit ihm nicht. Sooft wir ihn auch hier hatten, nie haben wir ihn nervös gesehen. Bisher ist jeder irgendwann nervös geworden, wenn er mehrmals zu uns kommen mußte – Kischkoweit nicht. Der hört sich unsere Fragen an, gibt in aller Ruhe eine Antwort, und bei der bleibt er dann.“ „Ja“, sagte Hypko nachdenklich, „so ist Kischkoweit.“ „Wir fühlen uns irgendwie überrumpelt von ihm“, fuhr Rüdiger fort, „aber es ist ihm einfach nicht beizukommen.“ „Darüber müßt ihr euch nicht ärgern. Sicherlich hat er euch einige Male hereingelegt – mit mir hat er das auch gemacht. Aber wir sind deshalb nicht dümmer als er. Wir haben bisher noch nicht die richtigen Methoden angewandt, um ihn zu fassen. Wenn Kischkoweit der Gangster geblieben ist, der er einmal war, dann arbeitet er mit seinen Leuten heute in Fredersdorf, morgen in Grünau und übermorgen vielleicht in Leipzig. Selbst wenn ihr ihn einmal erwischt, könnt ihr ihm von eurer Warte aus doch nur ein, zwei Dinge nachweisen, die er hier verzapft hat. Und das ist, als ob man mit Angel und Mehlwurm einen Haifisch fangen wollte. Um den Haien auf den Leib zu rücken, muß eine gut ausgerüstete Fangflottille ausziehen – und genau das machen wir jetzt im Präsidium mit unserer Einsatzgruppe, die überörtlich arbeitet. Edwin Kischkoweit soll nicht denken, daß nur er sich qualifiziert hat. Wir haben es auch getan.“ Drei Wochen später, als Hauptmann Hypko im Präsidium Nachtdienst hatte, wurde ihm ein Einbruchsversuch in einer Berliner Gaststätte gemeldet. Man habe eine ver166
dächtige Person festgenommen, hieß es, und werde sie ihm vorführen. Die Genossen vom Streifenwagen berichteten, am „Walfisch“, einer Gaststätte in der Brückenstraße, habe jemand mit einem Wagenheber die Gitterstäbe des Kellerfensters auseinandergedrückt. Das war in Berlin bereits der dritte Gaststätteneinbruch, bei dem der Täter mit Hilfe eines Wagenhebers in die Kellerräume eingedrungen war. Unweit der Gaststätte ging ein großer, kräftiger Mann, der auf ihren Anruf hin zwar nicht losgerannt, aber auch nicht stehengeblieben war. Er war einfach weitergelaufen, hatte sich nicht umgesehen und so getan, als habe er nichts gehört. Er war in die Ohmstraße eingebogen. Einer der Polizisten rannte ihm nach und fand an der Ecke Neue Köpenicker- und Ohmstraße drei Flaschen Kognak im Rinnstein liegen. Sie waren voll gewesen, und der Schnaps floß nun in den Gully wie das Wasser nach einem kräftigen Regenguß. Der Polizist hatte den Mann gestellt; die Geschichte, die er zu hören kriegte, wirkte unglaubhaft. Der Mann hieß Edwin Kischkoweit. Hauptmann Hypko ließ ihn hereinführen. Edwin Kischkoweit stand in der Mitte des Zimmers wie der Stier in der Arena, den Kopf trotzig gesenkt, die Augen aufmerksam auf Hypko gerichtet. „Guten Abend, Eddi“, sagte Hypko. „Komm, setz dich.“ Kischkoweit sagte guten Abend und blieb stehen. Er blieb auch stehen und schwieg, als Hypko ihn fragte, was er in Berlin mache. Erst als Hypko auf den Einbruch im „Walfisch“ zu sprechen kam und ihn beschuldigte, daran beteiligt gewesen zu sein, wurde er zynisch. „Natürlich 167
war ich das“, sagte er. „Ursprünglich wollte ich gleich zu dir kommen, aber damit es nicht so langweilig wird, habe ich ’nen Rucksack voll Werkzeug in der S-Bahn mitgeschleppt und unterwegs ’ne Pulle für uns gemaust. Und dann hab’ ich sie verloren.“ „Das sieht dir ähnlich“, meinte Hypko. „Und wie war’s wirklich?“ Kischkoweit schwieg. Er sagte auch nichts, als Hypko ihm freundlich gute Nacht wünschte und in Untersuchungshaft führen ließ. Sie versuchten drei Tage lang, Kischkoweit den Einbruch nachzuweisen. Hypko hoffte, ihn durch den Wagenheber überführen zu können. Stammte der aus Plitschkes Werkstatt, half Kischkoweit weder Leugnen noch Schweigen. Doch Herr Plitschke gab an, den Wagenheber nicht zu kennen und auch keinen aus seiner Werkstatt zu vermissen. Kischkoweits eigener Wagenheber stand in Neuenhagen in seiner Garage. Hypko erinnerte sich an Eddis Freund Schattan. Er hatte erfahren, daß der sich in Seeberg eine eigene Werkstatt eingerichtet hatte, und zwar eine, die sich sehen lassen konnte. Er ließ das Werkzeug überprüfen, soweit das in dem Durcheinander, das in der Werkstatt herrschte, möglich war, und man fand schließlich einen Wagenheber. Schattan, seine Frau und die Kinder beteuerten wortreich, nie einen zweiten besessen zu haben. An den Wodkaflaschen, die aus dem „Walfisch“ stammten und die man wenige Meter hinter der Gaststätte gefunden hatte, ließen sich keinerlei Fingerabdrücke entdecken. Doch damit hatte Hauptmann Hypko auch nicht gerechnet, ebensowenig wie mit der Meldung, die ihn in der dritten Nacht nach Kischkoweits Festnahme 168
erreichte: In einer Berliner Gaststätte war wieder eingebrochen worden, und wieder hatte der Täter die Gitterstäbe mit einem Wagenheber auseinandergedrückt. Hauptmann Hypko konnte es nicht länger verantworten, Kischkoweit in Untersuchungshaft zu behalten. Als Kischkoweit wieder frei war, hörten die mysteriösen Gaststätteneinbrüche seltsamerweise auf. Kischkoweit erfuhr von Schattan, daß er seine Freilassung Krücke verdankte. Der hatte gemeinsam mit Schattan aus einer Werkstatt in Potsdam einen Wagenheber gestohlen und dann auf eigene Faust einen Einbruch nach Kischkoweits Arbeitsweise riskiert, um die Polizei irrezuführen. „Krücke läßt dich grüßen“, sagte Schattan. „Und er meint, nun seid ihr quitt. Du und Kloge, ihr habt ihn damals aus dem Konsumeinbruch herausgehalten, und dafür hat er dich jetzt aus dem Knast geholt.“ „Kloge hat ihn damals aus Angst nicht verraten, aus Angst vor dem Schießprügel, mit dem Krücke ihm gedroht hatte. Ich dagegen habe ihn nicht verpfiffen, weil es mir widerstrebt, jemanden an die Kripo zu liefern. Außerdem weiß ich, daß er was kann, und will ihn weiterhin vor meinen Karren spannen. Und er zieht ja auch ganz gut.“ „Noch zieht er“, sagte Schattan mit einem Ernst, der Kischkoweit aufhorchen ließ. „Ich nehme an, jetzt, da er quitt ist mit dir, wird er sein eigenes Süppchen kochen wollen“, fügte er hinzu. „Ich werde ihm eins auf die Finger geben“, sagte Kischkoweit, kramte aus einem eingebauten Versteck im Wäscheschrank seine 08 hervor, ließ sie durch die Luft wirbeln und fing sie wieder auf. 169
Schattan seufzte. „Das Dumme ist bloß … so was hat Krücke auch – und er weiß auch damit umzugehen.“
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12. Zu der Einsatzgruppe, die man im Präsidium der Deutschen Volkspolizei gebildet hatte und deren Aufgabe es war, Eigentumsdelikte zu klären, gehörten der Leiter der Gruppe, Hauptmann Eberhard Hypko, und fünf Offiziere im Dienstrang eines Oberleutnants oder Leutnants. Zwei davon, Rüdiger und Bach, arbeiteten unter Hypkos Leitung an den ungeklärten Autodiebstählen und Einbrüchen, eben an jenen Delikten, von denen Hypko meinte, nur ein so gewiefter Ganove könne sie begangen haben wie sein ehemaliger Jugendfreund Edwin Kischkoweit. Seit Tagen saß Oberleutnant Bach, ein gemütlicher, etwas zur Korpulenz neigender Mann, mit stoischer Ruhe hinter dem Schreibtisch und verglich die unaufgeklärt gebliebenen Straftaten nach wiederkehrenden Merkmalen, zum Beispiel nach der Art des Diebesgutes und nach den Arbeitsweisen der unbekannten Täter. Die Raumpflegerin räumte jeden Morgen zwei randvolle Aschebecher von seinem Schreibtisch. An diesem Tag aber waren die Ascher schon am frühen Nachmittag nicht mehr zu benutzen. Die Tür flog auf, Oberleutnant Rüdiger, einen Stapel Schnellhefter auf den Armen, stolperte ins Zimmer, fluchte leise und stieß die Tür mit dem Fuß wieder zu. Er knallte die Schnellhefter auf seinen Schreibtisch. „Der Hauptmann meint, wenn’s nichts nützt, schaden kann’s auch nicht.“ Er lächelte wie einer, dem gar nicht nach Lächeln zumute ist. „Worum geht’s denn?“ fragte Bach. „Genosse Hypko hat von den Inspektionen und Kreisämtern die Unterlagen aller unaufgeklärten Einbrüche 171
angefordert! Als ob wir mit der Vergleichskartei nicht schon genug Arbeit hätten!“ Er wies mit einem Kopfnicken auf den Schreibtisch, an dem Oberleutnant Bach saß. Dann ließ er sich stöhnend in seinen Sessel sinken. „Da viele unserer lieben Genossen in den Inspektionen noch immer nicht begriffen haben, wozu es gut ist, Formulare auszufüllen, darf ich jetzt die Vorgänge Stück für Stück studieren, von der Anzeigenaufnahme über die Gutachten bis zum Schlußbericht.“ Mitleidsvoll sah ihn Oberleutnant Bach an. „Scheint heute nicht gerade dein lustigster Tag zu sein.“ „Na, ist doch wahr“, erboste sich Rüdiger, der heute wirklich keinen Spaß zu verstehen schien, „hätten sie auf der Inspektion die paar exakten Angaben herausgeschrieben, die wir brauchen, wäre längst alles in die Kartei eingeordnet, und wir könnten uns stundenlanges Lesen ersparen. Im übrigen muß ich dir sagen, daß ich langsam Schwielen an den Hintern kriege, die Schreibtischarbeit stinkt mich allmählich an, hab’ einfach Sehnsucht nach Strausberg. Wenn ich gewußt hätte, daß Genosse Hypko so theoretisch, so fürchterlich pedantisch an die Sache ’rangeht, wäre ich lieber im Kreisamt geblieben.“ Oberleutnant Bach holte aus dem untersten Schreibtischfach einen dritten Aschebecher hervor und zündete sich eine Zigarette an. „Noch was?“ fragte er. „Ja, ich denke, wenn uns die Ganoven hier sitzen sähen, würden die sich aus Mitleid mit uns noch heute freiwillig stellen.“ „Noch was?“ „Nein.“ „Na, dann können wir ja arbeiten.“ Seufzend griff Rüdiger nun ebenfalls nach einer Zigarette und zündete sie an. Dann wurde es still im Zimmer 172
bis auf das Rascheln umgeblätterter Seiten und das weiche Gleiten von Kugelschreibern auf Papier. Zwei Stunden später betrat Hauptmann Hypko das Zimmer, schnupperte den Zigarettenqualm, prustete, rieb sich die Augen, ging zum Fenster und riß beide Flügel weit auf. Er trat an Bachs Schreibtisch, zeigte auf die drei Ascher und sagte: „Mal sehen, ob mir der Alte ’ne Mülltonne zusätzlich bewilligt für dich.“ Und Oberleutnant Rüdiger fragte er: „Wie lange werdet ihr denn noch brauchen?“ Rüdiger blickte melancholisch auf seine leere F-6Packung. „Wenn du nicht noch ungeklärte Vorgänge aus Übersee anforderst, haben wir’s in ein, zwei Tagen geschafft.“ „Sei nicht so frech“, sagte Hypko und bot ihm von seinen Zigaretten an. „Schon was Brauchbares gefunden?“ „Vor zwei Jahren hatte ich einen Vorgang“, sagte Bach, „da kriegten wir bald mit, daß überwiegend Schmuck und Kunstgegenstände gestohlen wurden, und wir wußten, in welchen Kreisen die Banditen zu suchen waren. Aber hier …“, er schlug mit der flachen Hand auf das Aktenbündel, das er durchgesehen hatte, „hier ist so ziemlich alles gestohlen worden, von drei Gartenzwergen über Kunstgegenstände, Bargeld, Lebens- und Genußmittel bis zu Waschmaschinen, Fernsehgeräten und wertvollem Schmuck. Von Spezialisierung kann überhaupt keine Rede sein.“ „Bei den Vorgängen, die ich durchsehe, ist es genauso“, sagte Rüdiger. „Höchstens, die Arbeitsweise wiederholt sich hin und wieder.“ „Dann kümmert euch nicht mehr um das Diebesgut“, entschied Hypko, „sondern konzentriert euch auf die Ar173
beitsweise. Vielleicht läßt sich da eine Handschrift ablesen, die uns weiterhilft.“ Doch zwei Tage später, als Hypko, Bach und Rüdiger zusammensaßen, um die getane Arbeit auszuwerten, stellten sie fest, daß es in der Arbeitsweise auch keine erkennbare Handschrift der Täter gab. „Es wiederholen sich aber gewisse Techniken“, sagte Hypko. „Türen sind vorwiegend mit Stemmeisen geöffnet worden, soweit es sich nicht um Wohnungseinbrüche handelt.“ „Und die Autos“, fügte Rüdiger hinzu, „haben sie immer nur ausgeschlachtet und dann stehengelassen. Sie haben nie den ganzen Wagen gestohlen und dann umfrisiert.“ „Man kann also annehmen, daß sie vom Fach sind“, meinte Hypko nachdenklich. „Oder Bastler, technisch versierte Autonarren … wie Edwin Kischkoweit zum Beispiel.“ Bach schüttelte den Kopf. „Dieser Kischkoweit, von dem du uns erzählt hast und den du verdächtigst, kann möglicherweise mit den Autodiebstählen zu tun haben, aber die machen nur einen geringen Prozentsatz der Delikte aus, die wir zu klären haben. Normalerweise halten Täter doch sehr lange an einer einmal entwickelten Methode fest, in Wohnungen, Keller, Büroräume oder Gaststätten einzudringen. Ihre Spezialisierung geht oftmals so weit, daß ein Nachschlüsseldieb kaum einen Einstieg durch ein Fenster wagt, sondern lieber bei der Arbeitsweise bleibt, die ihm geläufig ist. Vielleicht sollten wir uns deshalb erst einmal darüber Gedanken machen, ob wir es nur mit einer oder mit mehreren Diebesgruppen zu tun haben.“ „Einverstanden“, sagte Hypko, „die verschiedenarti174
gen Delikte und Arbeitsweisen sprechen dafür, daß es mehrere Gruppen sind. Tragen wir zusammem, was sich dagegen vorbringen läßt.“ Dagegen sprach vor allem die Tatsache, daß die Zahl der Gesetzesverletzer in den letzten zehn Jahren beträchtlich gesunken war, und die Erfahrung, daß sich mehrere Gruppen nicht lange unerkannt halten konnten. Auch die Tatzeiten, die Hypko verglichen hatte, sprachen dagegen. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Diebstähle zwischen zweiundzwanzig Uhr und drei Uhr geschehen. Das schien darauf hinzudeuten, daß die Täter tagsüber arbeiteten. Bei mehreren Gruppen wären aber sicherlich zwei, drei Jugendliche dabeigewesen, die von Arbeit nicht viel hielten und auch einmal tagsüber oder in den frühen Abendstunden einen Einbruch riskiert hätten. Hauptmann Hypko vermutete, daß alle Straftaten auf das Konto einer einzigen Gruppe kamen, zu der kaum mehr als vier oder fünf Personen gehörten. „Das müssen dann aber durchweg gewiefte Burschen sein“, gab Oberleutnant Bach zu bedenken. „Und dirigiert werden sie von einem besonders klugen Kopf“, sagte Hypko. „Der leitet und organisiert alles, und dem gehorchen sie. Und wenn wir diesen Kopf erwischen, sind wir ein gutes Stück weiter.“ „Nehmen wir an, du hast recht“, sagte Bach, „dann muß dieser Gangster aber Geschick im Umgang mit Menschen haben, sonst hätte doch im Laufe der Jahre wenigstens einmal einer seiner Leute einen folgenschweren Fehler gemacht.“ Oberleutnant Rüdiger schaute betrübt auf seinen papierbedeckten Schreibtisch. „Das heißt, wenn sie keinen Fehler machen, kriegen wir sie nie.“ „Die haben bereits eine Menge Fehler begangen“, er175
widerte Hypko. „Jeder Diebstahl, jeder Einbruch war ein Fehler. Und wir kriegen sie, auch wenn sie es uns schwer machen. Ich will euch ganz ehrlich sagen, daß ich Edwin Kischkoweit für den Mann halte, der an der Spitze dieser Bande steht. Du kennst ihn ja, Rüdiger, er tauchte mehrmals am Rande eines Vorganges auf, aber es war ihm nie etwas nachzuweisen. Außerdem scheint mir die Arbeitsweise dafür zu sprechen, daß Kischkoweit unser Mann ist. Heute mit einem Sperrhaken eine Tür öffnen und morgen ein Auto ausschlachten, hier mit einem Wagenheber Gitterstäbe auseinanderdrücken und dort den Kitt aus dem Fensterrahmen kratzen – diese offensichtlichen Bemühungen, keine Handschrift zu hinterlassen, eben das ist die Handschrift eines Erfahrenen. Und Edwin Kischkoweit ist ein Erfahrener.“ „Er kann es sein“, sagte Bach schulterzuckend, „und er kann es auch nicht sein. Deshalb sollten wir uns auf jeden Fall an ihn halten. Das ist besser, als mit leeren Händen im Schoß auf ein Wunder zu warten.“ „Ich ordne an, daß er ab sofort beobachtet wird“, sagte Hypko. Da er für die Observation niemanden aus seiner Arbeitsgruppe entbehren konnte, mußten die Genossen aus Strausberg einspringen. Tagelang nahm Hypko mit stoischer Ruhe die Meldungen entgegen, daß die Beobachtung erfolglos verlaufen war. Entweder hatte Kischkoweit die Beobachter abgehängt, wenn er spätabends mit dem Wagen losfuhr, oder er hatte sich, von allen unbemerkt, aus dem Haus geschlichen. Es war, als würde er sich zeitweilig in Luft auflösen und erst Gestalt annehmen, wenn er wieder vor seiner Gartentür stand oder mit dem Wagen in die Garage fuhr. Es gab keinen Anlaß, ihm dahin zu folgen oder gar seine Wohnung zu durch176
suchen. Edwin Kischkoweit verhielt sich korrekt, ging pünktlich zur Arbeit, war fleißig und hilfsbereit und hatte nach wie vor einen guten Leumund. Oberleutnant Bach und Oberleutnant Rüdiger begannen allmählich an Hypkos Version zu zweifeln. Der Hauptmann räumte ein, daß er sich in seine Annahme, Kischkoweit sei der lang gesuchte Täter, keineswegs verbohren wolle und gern jedem anderen Hinweis nachgehen werde – nur gab es eben diesen anderen Hinweis nicht. Und um nicht ins Blaue hinein zu ermitteln, verfolgte er Kischkoweits Spur weiter. „Wenn Kischkoweit seine Beobachter abhängt“, sagte er zu Rüdiger, „dann heißt das noch lange nicht, daß er eine reine Weste hat. Einen Kischkoweit kriegt man nicht beim ersten Anlauf, der ist doch kein heuriger Hase mehr.“ „Eben“, entgegnete Rüdiger, „der wird sich sowieso nicht auf frischer Tat ertappen lassen, aber anders können wir ihm nichts beweisen.“ „Er muß Helfer haben“, gab Hypko zu bedenken. „Vielleicht sollten wir versuchen, über einen seiner Mittelsmänner an ihn heranzukommen.“ Er ließ Oberleutnant Bach holen, erklärte ihm, was sie vorhatten, sagte: „Kischkoweit braucht Hehler und Weiterverkäufer. Sicherlich hat er wieder einen Ring aufgebaut, wie er das Anfang der fünfziger Jahre schon einmal getan hat. Dieser Ring besteht aus einzelnen Gliedern und ist deshalb auch nur so stark wie sein schwächstes Glied. Und das müssen wir finden.“ „Finden wir“, sagte Rüdiger, und Hypko sah ihm an, daß er am liebsten den Mantel angezogen hätte und davon gestürmt wäre. „Nicht so eilig“, sagte er. „Sucharbeit beginnt zumeist am Schreibtisch.“ 177
Rüdiger sank resignierend auf einen Stuhl und tat, als interessiere er sich nur noch für die Blattpflanzen, die ein Viertel seines Schreibtisches bedeckten und langsam zu Oberleutnant Bachs Arbeitsplatz hinüberwuchsen. „Wir müssen eine Liste von Kischkoweits Bekannten anfertigen“, sagte Hypko. „Von allen, mit denen er Kontakt hat …“ „Soweit wir sie kennen“, warf Rüdiger ein und betrachtete geradezu liebevoll einen Sternkaktus, der zur Blüte ansetzte. „Auch von denen, die wir nicht kennen“, fuhr Hypko fort, „zum Beispiel von den Strafgefangenen, die bis neunzehnhunderteinundsechzig in Kischkoweits Zelle gesessen haben. Vielleicht unterhält er zu denen Kontakt.“ Hypko und Rüdiger übernahmen es, Kischkoweits früheren Bekanntenkreis zu ermitteln; Oberleutnant Bach wollte Kischkoweits derzeitige Freunde überpüfen, aber wie sehr er sich auch mühte, er brachte es nur auf einen Namen: Norbert Schattan. Unter den Arbeitskollegen in Plitschkes Werkstatt schien es niemanden zu geben, mit dem sich Kischkoweit angefreundet hatte. Die Kollegen sprachen zurückhaltend über ihn, doch der Oberleutnant erfuhr immerhin so viel, daß er ihnen gegenüber den Boß herauskehrte und sie ziemlich grob anfaßte. Sie schienen Respekt vor ihm zu haben und ihm zu gehorchen. Herrn Plitschke und dessen Frau behandelte Edwin Kischkoweit mit formvollendeter, aber kalter Höflichkeit. Den Kunden gegenüber zeigte er sich zuvorkommend und in jeder Situation hilfsbereit. Oberleutnant Bach fand, daß sich dieser Kischkoweit um so mehr als ein interessantes Gemisch von Gegensätzlichkeiten entpuppte, je gründlicher man ihn kennenlernte. 178
Als alle früheren Bekannten Kischkoweits namentlich erfaßt waren, begann erneut die Schreibtischarbeit. Wieder wurden die Fahndungs- und Straftatenvergleichskartei nach Namen durchforscht, die auf der „BekanntenListe“ aufgeführt waren. Sie fanden eine Person, heraus, zu der Kischkoweit früher in der Haftanstalt Kontakt gehabt hatte und die rückfällig geworden war. Allerdings wohnte der Mann so weit von Berlin entfernt, daß eine Verbindung mit Kischkoweit unwahrscheinlich schien. Die Kriminalisten holten außerdem telefonisch, schriftlich oder auch durch Fernschreiber Auskünfte über die Personen ein, deren Namen auf ihrer Liste standen, strichen diejenigen, die nach Angaben der örtlichen Behörden einer geregelten Arbeit nachgingen, die in geordneten Familienverhältnissen lebten und in den letzten Jahren in keiner Weise übel aufgefallen waren. Bei Gubisch, der einmal Kischkoweits Zellengefährte gewesen war, glaubten sie eine Zeitlang, einen Verbündeten von Kischkoweit gefunden zu haben. Gubisch wohnte in Waren, und für einen Autonarr wie Kischkoweit war das keine Entfernung. Außerdem hatte Kischkoweit einmal seinen Sommerurlaub in Waren verlebt. Doch das polizeiliche Führungszeugnis und die weiteren Erkundigungen, die sie über Gubisch einzogen, waren dazu angetan, diese Version wieder fallenzulassen. Schließlich standen noch vier Namen auf ihrer Liste: Schattan, Liebing, Kloge und Lanze. „Wir tragen zusammen, was wir über die Burschen ermittelt haben“, schlug Hauptmann Hypko vor, „und überlegen, wer von ihnen als Kischkoweits Mittäter in Frage kommen könnte. Ich beginne mit Norbert Schattan, da kann ich mich sehr kurz fassen. Er wurde mehrmals mit Kischkoweit zusammen gesehen, sie kennen sich seit 179
Jahren, sind zusammen eingesperrt worden; daß sie auch jetzt wieder zusammenarbeiten, ist so gut wie sicher. Nur … an Schattan werden wir ebenso schwer ’rankommen wie an Kischkoweit. Wir können vorläufig nichts weiter tun als ihn beobachten. Der war nämlich schon immer ein großer Schlaumeier.“ „Vielleicht arbeitet Kischkoweit auch mit Lanze und Kloge zusammen“, sagte Bach. „Die drei kennen sich ebenfalls von früher her. Und Kloge, der genau wie Jürgen Lanze seit seiner Haftentlassung arbeitet, beginnt schon wieder zu bummeln und den feinen Mann herauszukehren.“ „Wir werden ein Auge auf sie haben“, entschied Hypko, „aber ich glaube nicht, daß Kischkoweit mit denen arbeitet. Das hat er nämlich schon damals abgelehnt, bevor sie eingesperrt wurden. Die sind nicht ganz seine Kragenweite.“ „Vielleicht kommen wir über Klaus Liebing an ihn ’ran“, sagte Oberleutnant Rüdiger. „Es gibt Anzeichen dafür, daß die beiden miteinander in Verbindung stehen. Dieser Liebing – sein Spitzname ist Conny – hat nach dem Krieg in Westberlin als Heiratsschwindler einigen Erfolg gehabt. Später hat er sich bei uns als Taschendieb versucht, aber das ging schief. Er ist geschnappt worden und in eine Strafanstalt gekommen. Dort hat er Kischkoweit kennengelernt. Seit seiner Entlassung lebt er in Pankow zur Untermiete und führt ein ziemlich undurchsichtiges Leben.“ Bach gab zu bedenken, daß ein mittelmäßiger Heiratsschwindler und Taschendieb wohl nicht die Qualitäten besäße, die ein Kompagnon von Edwin Kischkoweit mitbringen müsse, doch Hypko sagte: „Stimmt, er hat nicht die Qualitäten eines raffinierten Einbrechers, aber Kisch180
koweit könnte ihn als Hehler und Verkäufer beschäftigen. Wir werden ihn beobachten lassen, da wird es sich schon herausstellen, ob Kischkoweit oder Schattan mit ihm Kontakt haben.“ Klaus Liebing stellte den schwarzen Diplomatenkoffer auf den Tisch, öffnete ihn und pfiff durch die Zähne. In dem Koffer lag Schmuck: zehn Goldringe, vier Armreifen und eine Perlenkette, von der Schattan behauptet hatte, daß es Zuchtperlen seien. Liebing lächelte geringschätzig und dachte, daß der Fuchs vielleicht einiges von Hühner- und Schweinezucht verstand, aber von Perlen? Immerhin, der Inhalt des Koffers, den ihm Krücke heute in Kischkoweits und Schattans Auftrag übergeben hatte, war einige tausend Mark wert, und für ihn, Liebing, würde nach dem Verkauf ein hübsches Sümmchen zurückbleiben. So genau konnte Kischkoweit den Verkauf nicht überprüfen. Liebing schnalzte mit der Zunge, aber dann sah er, wie schon oft in seinen Wunschträumen, Kischkoweits 08 auf sich gerichtet und kroch in sich zusammen. Der Verkauf der Sore hätte ihm mehr Spaß gemacht, wenn Kischkoweit und Krücke keine Schießeisen gehabt hätten. Er war überzeugt, daß es nicht ewig gut gehen könne mit den beiden. Krücke war unberechenbar und Kischkoweit brutal, und Klaus Liebing wünschte sich, daß er nicht gerade dazwischenstehen möge, wenn die beiden eines Tages aufeinander schossen. Er langte die Armreifen aus dem Koffer, betrachtete sie nahezu zärtlich, legte sie zurück und holte aus einem Schubfach sein Notizbuch mit den Namen der „Kunden“. Liebing hatte sich einen Code ausgedacht, nach dem er die Namen verschlüsselte, aber er hatte trotz der Primiti181
vität des Verschlüsselungssystems oft Mühe, die Namen wieder herauszufinden. Nachdem er zwei Kunden entdeckt hatte, denen er schon in den nächsten Tagen etwas anbieten konnte, legte er das Notizbuch wieder in die Schublade zurück und trat ans Fenster. In die Straße bog eben ein Streifenwagen ein. Liebing schob die Gardine zur Seite, um sehen zu können, wo der Wagen hielt. Im gleichen Augenblick ärgerte er sich und dachte: Jetzt haben sie sicherlich bemerkt, daß ich zu Hause bin. Er erschrak über diesen Gedanken, zog rasch die Gardine gerade, ging ins Zimmer zurück und redete sich ein, der Wagen sei vorbeigefahren. Um sich selbst zu beweisen, wie gleichgültig ihm dieser Streifenwagen sei, holte er fünf Goldringe aus dem Koffer, steckte sie an die linke Hand und drehte sie spielerisch. Er schätzte, daß sie rund zweitausend Mark wert waren. Dann streifte er einen Ring nach dem anderen ab; es zog ihn erneut zum Fenster hin. Der Streifenwagen stand vor dem Haus gegenüber. Aber was änderte das schon! Liebing fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Das Tuch wurde feucht, aber die Stirn war noch immer nicht trocken. „O Mama!“ rief er, und dann fluchte er vor Angst. Plötzlich dachte er an Edwin Kischkoweit. Hatte der nicht ganz andere Situationen durchgestanden? Der würde jetzt wahrscheinlich in die Küche gehen und Kaffee kochen, damit er den Polizisten etwas anbieten konnte, falls sie zu ihm kamen. Liebing lachte, aber es klang nicht lustig. Wieder blickte er zur Straße. Ein Polizist war aus dem Wagen gestiegen und sah an der Hauswand hoch, als suche er etwas oder jemanden. Jetzt, dachte Liebing, jetzt hat er mich. Er rührte sich nicht von der Stelle und blickte wie hypnotisiert auf die 182
Straße. Erst als der Polizist dem Fahrer des Streifenwagens etwas zurief, löste sich Liebing aus seiner Erstarrung. Hastig streifte er die letzten beiden Ringe ab, warf sie in den Diplomatenkoffer und klappte ihn zu. Er riß seinen Mantel vom Haken, klemmte den Koffer unter den Arm und rannte hinaus. Den Mann, der dem Haus schräg gegenüber vor einer Drogerie stand und tat, als warte er auf seine Braut, die seit zwei Stunden Seife, Parfüm oder Lippenstifte auswählte, hatte Klaus Liebing nicht beachtet. Dieser anscheinend sehr geduldige Liebhaber war Oberleutnant Rüdiger. Er hatte es durchgesetzt, an Liebings Beschattung teilzunehmen. Etwa eine Stunde zuvor war Liebing mit einem Diplomatenkoffer nach Hause gekommen. Schade, daß man ihn nicht schon früher beobachtet hatte und nicht wußte, wo er gewesen war. Aber irgendwann würde Liebing das Haus wieder verlassen, und dann hatte er Rüdiger auf den Fersen, ganz gleich, wohin er sich wenden mochte. So unruhig Oberleutnant Rüdiger werden konnte, wenn er tagelang am Schreibtisch sitzen mußte, so beharrlich, ja, von stoischer Ruhe beseelt war er, wenn es galt, stundenlang vor einem Haus, vor einem Kino, vor einem Betrieb zu stehen, um irgendwann einem Beschatteten zu folgen. Als der Streifenwagen in die Straße einbog, sah Rüdiger zu Liebings Fenster hoch. Er wußte um die Unruhe, die jeden, der kein reines Gewissen hatte, beim Anblick eines Polizisten befiel. An Liebings Fenster wurde die Gardine ein Stück beiseite geschoben, und für Sekunden sah Rüdiger ein erschrockenes Gesicht. Er trat unter die Tür der Drogerie und ließ Liebings Fenster nicht mehr aus den Augen. Trotzdem bemerkte er, daß ein Genosse 183
aus dem Streifenwagen stieg, die Hausfronten entlang blickte und dem Fahrer etwas zurief. Wer weiß, wen sie suchten – wegen Liebing waren sie jedenfalls nicht hier. Die Gardine an dem Fenster, das Rüdiger beobachtete, bewegte sich noch zweimal. Der Oberleutnant wußte um die Qual, die Liebing jetzt ausstand. Er ging langsam über die Straße und betrat den Hausflur, Liebing durfte ihm auf keinen Fall durch den Hinterausgang entwischen. Plötzlich wurde im zweiten Stockwerk eine Tür ins Schloß geworfen, und gleich darauf raste jemand die Treppen hinunter. Es war Klaus Liebing. Als er einen Mann im Hausflur stehen sah, der die Tafeln mit den Namenschildern betrachtete, lief er langsamer, aber der gehetzte, angstvolle Ausdruck blieb in seinem Gesicht. Er ging an dem Mann vorbei auf die Hintertür zu. „Herr Liebing“, wurde er auf einmal angesprochen, „einen Augenblick, bitte.“ Da wußte Liebing, mit wem er es zu tun hatte; in panischer Angst riß er die Tür auf und rannte davon. Rüdiger lief hinterher. Kurz vor dem Gartentor holte er den Burschen ein und packte ihn am Handgelenk. „Wenn man so hintereinander her rennt“, schnaufte Rüdiger, „ist es unbequem, sich bekannt zu machen.“ Er zeigte ihm die Marke. „Ich bin Oberleutnant Rüdiger. Warum reißen Sie denn aus vor mir?“ Liebing wußte, daß er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte, und versuchte nun, durch betont sicheres Auftreten zu retten, was noch zu retten war. „Aber, Herr Oberleutnant, wenn ich das gewußt hätte … hier treibt sich manchmal so’n Gesindel ’rum, und vor solchen Leuten verdrücke ich mich. Verzeihen Sie, daß ich Sie für so einen gehalten habe …“ „Schon gut“, unterbrach ihn Rüdiger. „Und jetzt 184
möchte ich einen Blick in Ihre Tasche werfen.“ „Sind Sie denn dazu berechtigt?“ Die Frage klang interessiert und sehr höflich. Und Oberleutnant Rüdiger antwortete, daß er sehr wohl dazu berechtigt sei, aber wenn es Herr Liebing vorziehe, mit zum Präsidium zu kommen und dort seine Tasche zu öffnen, dann gehe das auch in Ordnung. Zu Rüdigers Überraschung hielt ihm Liebing die Tasche hin. „Den Weg zum Präsidium möchte ich mir sparen. Meine Zeit ist etwas knapp, wissen Sie? Ich – habe ein Rendezvous.“ Er öffnete die Tasche, und der Oberleutnant hatte Mühe, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Goldene Ringe, Armreifen und eine Perlenkette waren achtlos in die Tasche geworfen worden, als handele es sich um wertlosen Tand. „Und damit wollen Sie zum Rendezvous?“ „Warum denn nicht?“ fragte Liebing zurück, aber sein Lächeln wirkte verkrampft. „Wissen Sie, das ist eine Marotte von mir: Immer, wenn ich ein Mädchen kennenlerne, lasse ich mir ein Schmuckstück von ihr geben, nicht schenken, nein, nur leihen bis zum nächsten Wiedersehen. Sozusagen als Pfand, als Sicherheit, daß sie auch wiederkommt. Ich gebe zu, daß ich vielleicht mehr Frauenbekanntschaften habe, als schicklich ist …“ „Sparen Sie sich das Theater“, sagte Rüdiger, dem soviel Frechheit noch nicht vorgekommen war. „Sie stehen in dem Verdacht, den Schmuck gestohlen zu haben. Vorläufig sind Sie festgenommen.“ Hauptmann Hypko ordnete an, das Haus in Pankow, in dem Liebing wohnte, weiterhin zu beobachten. Vielleicht ließ sich einer von Liebings Kunden oder, wenn sie Glück hatten, einer der Diebe sehen, die ihm Ware brachten oder Geld abholen wollten. Daß es sich bei Liebing 185
um einen Hehler handelte, war schnell klar gewesen. Die Wohnungsdurchsuchung hatte einen Wäschekorb voll Diebesgut zutage gefördert: Alkohol, Zigaretten, Stoffe und zwei Kameras. Anhand der Karteien konnte rasch ermittelt werden, aus welchen Einbrüchen das Diebesgut stammte. Als Hypko genügend Beweismittel beisammen hatte, ließ er sich Liebing zur Vernehmung vorführen. Liebing lächelte wie einer, der wegen eines Kavaliersdeliktes, das keiner recht ernst nimmt, zur Rechenschaft gezogen wird. Mit großen Augen und leicht gerunzelter Stirn musterte Hypko ihn ein Weilchen. Sein verwunderter, fragender Blick wirkte auf die Verdächtigen, die er vernahm, oftmals so, daß sie zu erzählen begannen, noch bevor er sie dazu aufgefordert hatte. Auch Liebing schlug plötzlich die Augen nieder und sagte: „Zugegeben, ich habe mir das Wiederkommen der Mädchen auf recht ungewöhnliche Art gesichert, aber ich bin eben fürs Ungewöhnliche …“ Er brach den Satz ab und sah unsicher zu Hypko. Der Hauptmann saß unbeweglich, blickte ihm in die Augen und bat ruhig: „Bitte, erzählen Sie weiter.“ Hypko wußte, daß Liebing um so mehr in Verlegenheit geraten würde, je detaillierter er ihn sein Märchen ausbauen und ihn im Ungewissen ließ, was er darüber dachte. Liebing redete und redete, verhaspelte und wiederholte sich, sagte schließlich: „Vielleicht stört Sie auch, daß es ungewöhnlich viele Frauenbekanntschaften waren, aber es waren recht charmante Mädchen und ungewöhnliche Schönheiten darunter …“ „Ach“, sagte Hypko sichtlich interessiert, „nennen Sie mir doch einige. Die Adressen gleich mit. Für Schönheiten habe ich auch etwas übrig.“ 186
Aber nein, aber nicht doch, wofür man ihn denn halte, erwiderte Liebing, das könne man nicht von ihm verlangen, schließlich sei er Kavalier. „Haben Sie sich auch von Männern Pfänder geben lassen, als Sicherheit dafür, daß sie wiederkommen?“ fragte Hypko unvermittelt. „Wieso denn?“ Liebing schien völlig überrascht und bekam den Mund nicht wieder zu. Hypko sagte: „Ich glaube kaum, daß Ihnen Ihre weiblichen Schönheiten auch Alkohol, Zigarren und Kameras als Pfand gegeben haben.“ „Aber …“ Hypko erhob sich so heftig, daß Liebing zusammenfuhr.. „Aber jetzt Schluß“, sagte der Hauptmann, nicht laut, doch mit Schärfe. Er stützte die Hände auf den Schreibtisch und beugte sich leicht zu Liebing hin. „Jetzt antworten Sie auf meine Fragen, kurz und präzis und wahrheitsgemäß. Haben. Sie verstanden?“ „Ja“, sagte Liebing wie ein erschrockener Schuljunge. „Woher haben Sie den Schmuck?“ „Ein Mann hat ihn mir gegeben“, stotterte Liebing und drehte einen seiner Jackenknöpfe zwischen den Fingern. „Woher stammen die übrigen Sachen, die Sie in Ihrer Wohnung versteckt hielten?“ „Von der gleichen Person.“ „Name, Adresse.“ „Weiß ich nicht.“ „Beschreiben Sie ihn.“ „Er kam stets im Dunkeln und übergab mir die Ware im Hausflur.“ „An wen haben Sie die Sachen weiterverkauft?“ „Wie es sich so ergab, Namen sind dabei nie genannt …“ 187
„Haben Sie Nähzeug bei sich?“ unterbrach ihn Hypko. Wieder sah ihn Liebing mit leicht geöffnetem Mund und dümmlich-erstauntem Ausdruck an. „Nein. Wieso?“ „Dann lassen Sie Ihren Jackenknopf in Ruhe, Sie haben ihn bald abgedreht. Hat Ihnen ein gewisser Hähnel den Schmuck abgenommen?“ „Nein“ – Liebing zog ein gequältes Gesicht, als fände er sich überhaupt nicht mehr zurecht –, „der hat doch die Kameras …“ Er merkte, daß ihn Hypko bewußt um seine Konzentration und damit völlig aus dem Konzept gebracht hatte, und sagte wütend: „Am besten ist wohl, man hält hier ganz und gar die Klappe.“ „Meinetwegen können wir’s für heute gut sein lassen“, erwiderte Hypko freundlich. „Die Kundennamen haben Sie ja wohl vollzählig und primitiv verschlüsselt in Ihr Notizbuch eingetragen. Das ist eine große Hilfe für uns.“ Er ließ Liebing, der jetzt einen nervösen und erschöpften Eindruck machte, in die Zelle zurückbringen. In den folgenden Vernehmungen blieb Liebing hartnäckig bei der Behauptung, er kenne seine Zuträger nicht. Nach einer Woche sagte Hypko zu seinen Mitarbeitern: „So kommen wir nicht weiter. Wir müssen noch einen zweiten Beteiligten schnappen und dann einen gegen den anderen ausspielen. Das ist nicht gerade die feine Tour, aber schließlich haben sich die Herren ihren Mitmenschen gegenüber auch alles andere als fein benommen. Wir müssen jetzt sämtliche Register ziehen, um ihnen das Handwerk zu legen.“ Trotzdem mußten sie sich noch sechs Tage gedulden, ehe es Oberleutnant Rüdiger gelang, einem von Liebings Kumpanen auf die Spur zu kommen. Es war abends, kurz nach zweiundzwanzig Uhr, und Oberleutnant Rüdiger hatte eben einen Genossen auf seinem Beobachtungspos188
ten abgelöst, als jemand an dem Haus, in dem Liebing wohnte, zweimal vorbeiging und zu den dunklen Fenstern in der zweiten Etage hinaufblickte. Es war eine Gestalt, die aussah, als hätte sie eine Spirale werden wollen und sei mitten in der Bewegung erstarrt. Sie stellte sich unweit von Rüdiger dem Haus gegenüber in eine Nische. Rüdiger empfand die Situation als grotesk. Er stand wie eine Bronzeplastik auf seinem Platz, bemüht, der Konkurrenz nicht aufzufallen und sie dennoch im Blick zu behalten. Da es schon stark dunkelte, sah er ohnehin nur die etwas schiefe Silhouette des Fremden. Nach einer halben Stunde schob sich die Gestalt über die Straße, rüttelte an der Haustür, die jedoch verschlossen war, und drückte dann auf den Klingelknopf neben dem Namensschild Klaus Liebing. Der Oberleutnant lief rasch auf den Fremden zu, doch der hatte wohl einen Instinkt für Gefahrenmomente und rannte davon. Oberleutnant Rüdiger sprintete hinterher und wunderte sich, daß der Windschiefe kaum an Vorsprung einbüßte. Plötzlich ertönte ein Martinshorn, ein Wagen mit Blaulicht raste heran – und der Windschiefe flitzte über die Straße. Rüdiger stockte für Sekunden der Atem. Der Fahrer des Wagens verringerte das Tempo so, daß der Wagen leicht ins Schleudern geriet, konnte ihn aber abfangen und fuhr weiter, als er wußte, daß nichts geschehen war. Rüdiger sah, daß sich sein Abstand zu dem Flüchtenden inzwischen beinahe hoffnungslos vergrößert hatte. Der Schiefe glitt mit eigenartigen flinken Bewegungen an der Mauer entlang, die einen Park umschloß. Schon bog er um die Ecke. Rüdiger sagte sich, daß er ihn unbedingt kriegen müsse, sauste die Mauer entlang, bog um die Ecke – und erschrak. Die Gestalt war verschwun189
den. Links dehnte sich eine Wiese, die auch in der Dunkelheit des Sommerabends gut zu übersehen war, rechts ragte die übermannshohe Parkmauer empor, über die sich keiner so leicht schwingen konnte. Oberleutnant Rüdiger begann, ebenso wie vor Monaten der Schauspieler Torsten Rehlau, die Mauer abzutasten. Er fand keinen Durchschlupf, keine Geheimtür, nicht einmal einen losen Stein. Fluchend rannte er zur nächsten Telefonzelle.
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13. Als Edwin Kischkoweit erwachte, saß ihm noch immer die Angst im Nacken. Am vergangenen Abend hatte er erfahren, daß Liebing in Untersuchungshaft saß. Alles schien schiefzugehen, seit Eberhard Hypko wieder in Berlin war. Seit Wochen schon fühlte sich Kischkoweit beobachtet, morgens, wenn er zur Arbeit ging, abends, wenn er nach Hause kam, und besonders nachts, wenn er seine Touren machte. Morgens und abends störte es ihn nicht sonderlich, und nachts hatte er es bis jetzt noch immer fertiggebracht, seinen Schatten abzuhängen, doch die Ruhe, mit der er sonst loszog, war gestört. Es galt, sozusagen unter erschwerten Bedingungen zu arbeiten. Kischkoweit hatte deshalb in letzter Zeit wenig, für seine Begriffe sogar sehr wenig, unternommen. Das wiederum war Schattan, Krücke und Liebing aufgefallen; seine Unruhe und Gereiztheit griff auf die anderen über, und sie hatten sich Kischkoweit gegenüber in den letzten Wochen aufsässig benommen. Und nun war Liebing aufgeflogen. Seit etwa vierzehn Tagen säße er schon in Untersuchungshaft, hatte ihm Krücke mitteilen lassen. Der schiefe Affe! Wohnte in Berlin, nicht weit von Conny entfernt, und merkte erst nach vierzehn Tagen, daß der in der Falle saß. Kischkoweit donnerte mit der Faust auf den Nachttisch, daß der Wecker die Glasplatte entlangschepperte und zu Boden fiel. Kischkoweit beförderte ihn mit einem Fußtritt unter den Schrank. Seine Frau fuhr erschrocken hoch, fragte: „Was ist denn los?“, und als sie Eddis wutverzerrtes Gesicht sah, kroch sie wieder unter die Bettdecke. 191
„Mach, daß du ’rauskommst!“ brüllte Kischkoweit. „Mach mir was zu essen. Muß weg!“ Sie schob ihren dürren Körper seitlich aus dem Bett, angelte mit dem nackten Fuß nach den Pantoffeln und rannte aus dem Zimmer. „Mit der ist auch gar nichts mehr los“, nörgelte Kischkoweit vor sich hin. „Mit der ist überhaupt noch nie was los gewesen. Fragt nichts, sagt nichts, schimpft nicht, lacht nicht. Macht ihre Arbeit, jeden Tag dasselbe und jeden Tag mit demselben Gesicht. Warum habe ich dieses Gespenst bloß geheiratet?“ Er holte den zerbrochenen Wecker unter dem Schrank hervor, ging damit in die Küche und knallte ihn in den Abfalleimer. Damit schien sein Zorn verraucht zu sein. „Ich mache eine Sonntagstour zu Schattan“, sagte er. „Brauchst mir nicht gerade den besten Anzug ’rauszuhängen.“ Er zog die Mundwinkel noch tiefer als sonst und blickte sehr verächtlich. „Man soll sich seiner Umgebung anpassen.“ Es war seltsam: Schattan war der einzige, dem Kischkoweit freundschaftlich zugetan war, dachte er aber an dessen verdrecktes Haus, an den verkommenen Garten, an die ganze verschlampte Wirtschaft, ekelte er sich vor ihm. Kischkoweit hatte Krücke zu Schattan bestellt, um mit ihm ein ernstes Wörtchen zu reden. Bei Schattan fühlte er sich am sichersten, und auf der Fahrt von Neuenhagen nach Seeberg gab es vielerlei Möglichkeiten, Verfolger abzuhängen. Seit einiger Zeit kümmerte sich Krücke nicht mehr um die Anweisungen, die er erhielt. Kischkoweit wußte bereits von drei Einbrüchen, die er ohne sein Wissen unternommen hatte. Und das ausgerechnet jetzt, da Hypko in der Stadt war! 192
Kischkoweit ging ins Badezimmer, duschte sich eiskalt und dachte, daß es an ihm liege, er durfte nicht nachlassen. Noch heute würde er diesem Gnom ins Gedächtnis rufen, wer Papa war. Er steckte den Kopf aus der Tür, rief: „Lisbeth, leg mir die Pistole auf den Anzug!“ „Ja“, sagte sie, „das Kaffeewasser kocht auch schon.“ Die bringt auch nichts aus der Ruhe, dachte Kischkoweit. Wenn man zu der sagt, im zweiten Stock brennt’s, hol mir mal meine Zigaretten aus dem dritten ’runter, dann stiefelt die los. Aber vielleicht ist es gar nicht dumm, daß man so eine hat. Kischkoweit frottierte sich ab, reckte sich und fühlte sich wieder wohl. Er hatte jetzt das gute Gefühl, daß alles in Ordnung kommen würde. Sicherlich konnte er guten Mutes der Zukunft entgegensehen, für seine Existenz mit Häuschen, Garten, Wagen und Motorboot bestand keine Gefahr. Er konnte immer noch die anderen heimlich auslachen, die Zehnmarkschein um Zehnmarkschein beiseite legten, um sich eine Waschmaschine zu kaufen. Und er lachte gern, wenn niemand wußte, worüber er lachte. Jetzt hatte er auch das sichere Gefühl, daß Liebing ihn und die anderen nicht verraten würde. Dazu schien er ihm zu gut erzogen, und außerdem hätte er keinerlei Vorteil von einem Verrat gehabt. Kischkoweit kleidete sich an, setzte sich an den Frühstückstisch, war zu seiner Frau freundlicher als üblich und versprach Holger, seinem Sohn, ein neues Fahrrad. „Bei Gelegenheit.“ Dann steckte er die 08 in die Tasche, schlenderte pfeifend über den Hof in die Garage und setzte sich in seinen Wagen. Zur Zeit war es ein Tatra. Er lenkte ihn in den Hof, stieg wieder aus und schloß die Garagentür. Dann fuhr er los und dachte: Nein, Hypko, ein Ereignis, das Freund Kischkoweit erschüttern kann, 193
mußt du erst noch erfinden. Krücke hockte schon in Schattans Küche auf einem verschmutzten Stuhl, als Kischkoweit kam. Er begrüßte Lore und den Fuchs, schickte die Frau hinaus und setzte sich Krücke gegenüber an den Küchentisch. Schattan lehnte am Türpfosten. „So war’s schon mal“, sagte er brummig. „Damals, als wir die Waschmaschine geholt haben.“ „Ja“, sagte Kischkoweit, blickte auf den Tisch und dachte, der Marmeladenfleck hat die Zeiten auch standhaft überdauert. „Damals, Krücke, habe ich dir eine lange Rede gehalten, habe dir erklärt, wie du dich zu benehmen hast, wenn du für Papa arbeiten willst, und dann habe ich dich aufgenommen ins Geschäft. Heute mach’ ich’s kürzer und sage nur, Papa ist unzufrieden mit dir.“ „Das macht mir aber traurig.“ Krücke grinste, daß sich sein schiefer Mund bis dicht an die blaurote Pocke unter dem rechten Ohr verzog. „Wenn ich ’n Taschentuch hätť, würd’ ich heulen, aber ich hab’ nie eines. Weiß der Teufel, warum. Ich mach’ dir ’n Vorschlag, Langer. Du nimmst dir deinen Fuchs und gehst mit dem auf Jagd, kriegst ’n großes Revier und ’n gutes. Und ich schnapp’ mir den Feinen und den Lanze, denen juckt’s wieder in den Fingern, und arbeite für mich …“ Kischkoweit winkte ärgerlich ab, noch bevor Krücke zu Ende gesprochen hatte. „Alter Hut. Genau hier in dem Saustall hab’ ich das schon mal gehört.“ „Benimm dich, Eddi“, sagte Schattan vorwurfsvoll von der Tür her. Kischkoweit schob die Unterlippe vor und sah Krücke böse an. „Ich sag’ dir heut zum letzten Mal, du arbeitest unter Papas Kontrolle oder gar nicht. Sonst geht’s näm194
lich schief. Deine Dämlichkeit, vierzehn Tage lang nicht spitzzukriegen, daß sie Liebing kassiert haben, ist ohnehin nicht zu überbieten. Von Kloge und Lanze, dem Pferdegesicht, läßt du die Finger, sonst kriegst du ein paar drüber, daß du fünf kleine Luftballons an jeder Hand hast! Hypko ist nämlich wieder da, und ich habe dir schon mal gesagt, daß der ein paar Nummern zu groß ist für euch. Liebing hat er schon einkassiert, Fuchs und mir ist er auf den Fersen. Wir werden uns anstrengen müssen, um durchzukommen. Wenn er uns beobachten läßt, hat er auf Kloge und Lanze sicherlich auch jemanden angesetzt. Die sind bloß so doof und merken das nicht. Wenn du dich mit denen einläßt, bist du schon so gut wie hochgenommen … Übrigens, bilde dir nicht ein, daß sich der Feine von dir ’rumkommandieren läßt. Der ekelt sich schon, wenn er bloß deinen Namen hört.“ Krücke zog eine Grimasse, als ob ihm einer ins Gesicht getreten hätte, und Kischkoweit wußte, daß er ihn an seiner verwundbarsten Stelle getroffen hatte. Weiter durfte er ihn nicht reizen. „Du hundsgemeiner Kerl, du“, stieß Krücke hervor, „sich vor mir ekeln, aber mich anstellen wollen. Nee, Langer, ab heute is Schluß mit uns beiden. Kloge hat mich damals aus dem Konsumbruch ’rausgehalten, und ich hab’ ihm dafür was auf die Seite gelegt. Das kriegt er nun, und dann arbeiten wir wieder zusammen. Und deinen Hypko, den steck dir an den Hut.“ Kischkoweit stieß den Stuhl zurück, stand auf und sagte: „Kloge hat’s Maul gehalten, weil er Angst vor deinem Schießeisen hatte. Und damit das nicht noch mal passiert, wirst du Papa das Ding jetzt in die Hand drücken.“ Er ging einen Schritt auf Krücke zu und wußte in diesem Augenblick, daß er einen Fehler gemacht hatte. Später 195
war ihm, als sei all das, was dann geschah, zur gleichen Sekunde passiert. Krücke schob die Hand in die Hosentasche und sagte: „Klar, werd’ ich drücken.“ Und dann richtete sich wieder einmal ein Pistolenlauf auf Kischkoweits Brust. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gehirn wich. Ihm schwindelte, und er hörte ein seltsames Rauschen. Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite, bevor der Schuß krachte. Er stand auf und sah, daß Schattan jetzt Krückes Pistole in der Hand hielt und damit auf Krücke einschlug. Lore Schattan hatte den Schuß ebenfalls gehört, sie kam angerannt, sah die drei Männer, die sich prügelten, und sagte: „Das ist aber mal ’ne Wildwestszene. Und ich dachte immer, so was gibt’s nur im Kino.“ Krücke stöhnte, Blut lief ihm übers Gesicht. Lore brüllte: „Aufhören, ihr Idioten! Für Totschlag gibt’s lebenslänglich!“ Schattan ließ sofort von Krücke ab, und auch Kischkoweit bekam sich langsam wieder in Gewalt. Lore schrie noch immer auf sie ein: „… wenn ihr euch nicht anständig benehmt, fliegt ihr ’raus hier!“ „Beruhige dich“, sagte Kischkoweit und atmete schwer. Krücke seufzte, rutschte vom Stuhl und blieb reglos liegen. „Verfluchter Mist“, schimpfte Kischkoweit, hob Krücke hoch, nahm ihn wie ein krankes Kind auf die Arme und trug ihn ins Badezimmer. Zu Lore sagte er: „Hol Wundpflaster!“ Er wischte Krücke das Blut vom Gesicht, tupfte es behutsam mit dem Handtuch trocken, trug ihn ins Wohnzimmer und bettete ihn auf die Couch. Schattan sah ihm zu. „Rück mal ’n Kognak ’raus“, befahl Kischkoweit. 196
„Von dem Bruch in Leipzig muß noch eine Flasche Courvoisier dasein.“ Schattan zögerte, aber als er Kischkoweits Blick sah, ging er schnell hinaus und kam mit der Flasche und vier Gläsern zurück. Kischkoweit goß ein Glas voll, schob einen Arm unter Krückes Nacken und hob ihn so weit hoch, daß er trinken konnte. Er flößte ihm drei Doppelte ein, ließ ihn vorsichtig zurücksinken und schob ihm dann ein Kissen unter den Kopf. „Zeig mal deinen Apothekerkasten“, sagte er zu Lore. Sie stand mit einem Handkoffer vor ihm, und als sie ihn aufklappte, rief Kischkoweit erstaunt: „Donnerwetter, ihr habt wohl ’ne Apotheke ausgeräumt.“ Er beklebte Krückes Wunden mit Pflaster, bis dessen Gesicht aussah wie ein frankierter Brief aus dem Fernen Osten. Die aufgeplatzten Lippen bestrich er mit Salbe. Krücke war durch den Kognak wieder zu sich gekommen und starrte Kischkoweit aus verschwollenen Augen fassungslos an. „Geht’s so?“ fragte Kischkoweit. Krücke bewegte den Kopf ein wenig auf und ab und schloß die Augen. „Der bleibt hier, bis er wieder in Ordnung ist“, befahl Kischkoweit, „und jetzt brauche ich auch einen Schnaps.“ Lore schenkte die Gläser voll und stellte eines davon sehr unsanft vor Kischkoweit hin. „Aus dir soll einer schlau werden. Ekelst dich vor ihm, und dann wäschst du ihm die Wunden aus. Kloppst ihn halbtot und verhätschelst ihn anschließend wie Mutter ihr Lieblingstrinchen, das Bauchweh hat.“ „Ach, halt die Klappe“, wehrte Kischkoweit ab, kippte 197
den Courvoisier hinter und stützte den Kopf in beide Hände. „Ich bin nicht für die rohe Tour. Drohen muß reichen. Im Ausnahmefall mal eine mit dem Handrücken übers Maul – und Schluß.“ Er goß sich noch einen Kognak ein, trank ihn gleich aus und sagte: „Stellt euch vor, Krücke macht nicht weit von euerem Haus entfernt schlapp und fällt einem von Hypkos Leuten in die Hände, die ein Auge auf uns haben. Hypko würde sich gleich seinen Vers darauf machen, was da für ein Zusammenhang besteht zwischen uns und dem zerkloppten, blutbeschmierten schiefen Kerl. Für so was hat der doch einen sechsten Sinn.“ „Hast recht“, sagte Schattan und nickte zu Krücke hin. „Das ist aber auch ein Biest. Der hat richtig scharf auf dich geschossen.“ „Eben.“ Kischkoweit drehte das Schnapsglas zwischen seinen großen Fingern. „Dazu hätte es nicht kommen dürfen. Ich habe ihn falsch angepackt. Irgendwie bin ich nicht mehr in Ordnung. Seit Hypko da ist, fühle ich mich beobachtet, bin unsicher, mach’ Fehler.“ Schattan sagte nachdenklich: „Den darf man wirklich nicht unterschätzen, deinen Freund Hypko.“ Kischkoweit stierte in das leere Kognakglas. „Mein Freund“, sagte er, und es klang bitter. „Früher sind wir mal zusammen durch dick und dünn gegangen. Wir haben zusammen gehungert, ein Nazischwein erschlagen … das heißt, ich hab’s getan, und hab’ den erwischt, der eigentlich nur so’n Mitläufer war. Das hat mich mitgenommen, Hypko hat mich drüber weggebracht. Er hat mich auch angeschnauzt, als ich zu schieben anfing, aber wenn er großen Hunger hatte, kam er zu mir und hat in eine Speckseite gebissen. Eines Tages hat er sich einfach mit mir in den Zug gesetzt und ist mit mir in die Stadt 198
gefahren. Hatte uns dort als Schlosserlehrlinge gemeldet. Am liebsten hätte ich ihn vermöbelt, aber das Leben auf dem Kuhdorf war mir ohnehin langweilig geworden, und ich dachte: Warum nicht mal Tapetenwechsel! Langsam hab’ ich Gefallen gefunden an den Schlitten, die wir reparieren mußten. Bin Autoschlosser geworden, Hypko bloß Schlosser. Eine Freundschaft war das … aber es ist so lange her, daß ich manchmal denke, ich hab’ das gar nicht erlebt, sondern in einem Buch gelesen.“ „Na, dein Hypko ist alles andere als eine Figur aus dem Märchenbuch“, sagte Schattan und dachte an die fünf Jahre Haftanstalt, zu denen ihm Hypko verholfen hatte. „Wie ist denn euere dicke Freundschaft auseinandergegangen?“ „Wie das so kommt“, sagte Kischkoweit, „die Autos haben mich verrückt gemacht. Ich mußte selbst eines haben, aber natürlich nicht irgendeines. Hab’ das auch geschafft: ein Bruch, ein Geschäft, ein noch besseres Geschäft. Dann bin ich mit Henny nach Berlin gezogen. Das übrige weißt du ja. Schwarzmarkt, Schiebung mit Lebensmitteln, mit Buntmetall, das bot sich an, wir haben zugepackt und hatten alles, was wir brauchten.“ „Ja“, sagte Schattan, „bis Hypko wiederkam, dein sogenannter ‚Freunď.“ „Halt den Mund!“ Kischkoweit drehte das leere Glas immer noch zwischen den Fingern und schien zu überlegen, ob er es noch einmal füllen sollte. Doch er schob es von sich und sagte: „Alles, was gewesen ist, auch die sechs Jahre Knast, können nicht ungeschehen machen, daß wir einmal Freunde gewesen sind.“ „Das klingt mir so nach Reue“, sagte Schattan besorgt. Kischkoweit sah ihn verständnislos an. „Reue? Quatsch! Ich habe auf meine Art gelebt und Hypko auf 199
seine. Da gibt es nichts zu bereuen. Nur, er soll mir nicht immer in die Quere kommen.“ Lore trug den Sanitätskoffer hinaus. Unter der Tür sagte sie: „Der Hypko wird euch aber nicht in Ruhe lassen.“ „Soll von mir aus Rowdys oder Arbeitsscheue oder Mörder oder so’n Gesindel scheuchen, aber nicht uns“, beharrte Kischkoweit. „Soll er“, sagte Schattan nachsichtig, „aber er wird nicht. Wir täten gut daran, uns ein Weilchen ganz zurückzuziehen. Ewig kann Hypko nicht hinter uns her rennen, besonders wenn er merkt, daß wir brav sind.“ Kischkoweit rieb sich die Stirn, als würden die Gedanken dadurch besser in Schwung kommen. Dann sah er auf Krücke, der eingeschlafen war und im Schlaf leise stöhnte. „Also, meinetwegen Betriebsferien. In sechs Wochen treffen wir uns hier’ zur Lagebesprechung. Bring das auch Krücke bei. Seine Walther kann er behalten oder in die Spree werfen. Mich interessiert das nicht.“ Kischkoweit erhob sich, schlug Schattan leicht auf die Schulter, sagte: „Mach’s gut, Fuchs“ und ging mit weit ausholenden schweren Schritten zur Tür. Kischkoweit zuckelte mit seinem Wagen nach Hause. Es war kurz vor Mittag, aber der feine Nieselregen und die grauen Wolken, die tief hingen, als wollten sie sich auf die Erde legen, gaben Kischkoweit das Gefühl, der Abend würde bald hereinbrechen. Er überlegte, ob er den Nachmittag zu Hause verbringen sollte, aber er war nicht in der rechten Stimmung, jetzt Familienvater zu spielen. Noch immer war er wütend auf Krücke, auf Hypko, auf sich selbst, eigentlich auf alles. Am liebsten hätte er seine Laune in einem Einbruch ausgetobt. Heute würde er viel200
leicht, ähnlich wie es Krücke manchmal getan hatte, auch vor Wut zerschlagen und zertrampeln, was er nicht mitnehmen konnte. Er bog in die Dorfstraße von Neuenhagen ein und beschloß, doch nach Hause zu fahren und sich nachmittags in der Garage zu beschäftigen. Am Wagen gab es immer etwas zu basteln. Er fuhr in die schmale Seitenstraße ein, die zu seinem Grundstück führte, und sah, daß am Gartentor eine Frau lehnte. Sie hielt die Arme über der Brust gekreuzt, starrte in den wolkenverhangenen Sommerhimmel, schien zu frösteln und schon lange auf jemanden zu warten. Es war Henny. Sie schaute sich erst um, als der Tatra dicht neben ihr bremste. Kischkoweit sprang aus dem Wagen und ging langsam auf sie zu. Alles in ihm war gespannt. Aus den Knien stieg ihm ein Zittern den Leib hoch, trübte ihm den Blick. Eine Weile sah er Henny, das Gartentor und das Haus dahinter nur noch verschwommen. Henny, dachte er immer nur, Henny, wenn wir zusammengeblieben wären, wenn ich jetzt zu dir nach Hause käme … Er nahm ihr Bild in sich auf, freute sich, daß sie das Haar noch genauso trug wie vor Jahren, dicht um den Kopf gelegt, in der Mitte gescheitelt, um die Schläfen gezogen und im Nacken verknotet. Auch ihr Hals war noch lang und schlank, nur ihr hochgewachsener Körper war ein wenig voller, fraulicher geworden. Er streckte ihr die Hand entgegen, und als er den leichten Druck ihrer Hand spürte, war ihm, als sei die alte Vertrautheit zwischen ihnen wieder hergestellt. Kischkoweit wollte ganz leise „Henny“ sagen, aber es würgte ihn in der Kehle, und da klang das Wort kratzig und so, als ob jemand „Hilfe“ gerufen hätte. Dann stan201
den sie sich wieder schweigend gegenüber, aber es war nichts Fremdes zwischen ihnen. Sie waren nur verwirrt über die Entdeckung, daß einer vom anderen über die Jahre hinweg nicht vergessen worden war und daß sie sich nacheinander gesehnt hatten, ohne den Mut zu finden, sich zu suchen. Als Kischkoweit sah, daß Hennys Haar naß war vom Regen, sagte er: „Komm, Henny, komm in den Wagen ’rein. Wir fahren nach Berlin. Irgendwohin.“ Sie nickte und ging zu dem Tatra. Kischkoweit hielt ihr die Tür auf und dachte, wenn sie meine Frau wäre … Er setzte sich neben Henny ans Steuer und fuhr los. Unterwegs fragte er: „Hast du schon lange gewartet?“ Sie wandte sich ihm zu und lächelte. „Ach, Eddi, eigentlich warte ich seit damals.“ Damals – das war, als sie ihn geholt hatten, als Henny am Fenster stand, ihm nachblickte und nicht zu fassen vermochte, was er getan hatte. Kischkoweit sah sich wieder in der Zelle sitzen, zusammen mit sechs oder sieben Mann, die ihm aufs Wort gehorchten und die ihm doch die Einsamkeit nicht vertreiben konnten. Er dachte an seine Sehnsucht in all diesen Jahren und auch an seinen Vorsatz, ein anderes Leben zu beginnen, wenn er Henny finden würde. „Henny“, sagte er, „warum bist du nicht eher gekommen?“ Das war keine Frage, auf die man eine Antwort verlangt, und es war auch kein Vorwurf. Henny sagte nach einer Weile: „Weißt du, Eddi, wichtig ist nur, daß ich mich nach dir gesehnt habe und daß du mich nicht vergessen hast. Und … daß wir wieder einander wert sind.“ Der letzte Satz stimmte Kischkoweit nachdenklich. Er umklammerte das Lenkrad, als könne er dadurch den 202
Gedanken zerdrücken, der ihm eben gekommen war, den Gedanken, Henny sei von Hypko geschickt worden, um ihn weichzumachen, um ihn auszuhorchen, um – wußte der Teufel, warum. Er sah Henny nicht an, stellte sich aber wieder vor, wie sie am Gartentor gelehnt und ihn angeblickt hatte. Nein, Henny hatte ihm noch nie etwas vorgespielt, und Hypko war viel zu fair, als daß er versucht hätte, ihm auf diese Tour beizukommen. Wenn hier wieder einer heucheln mußte, dann war er das. Keinesfalls durfte er Henny die Wahrheit über sein Leben erzählen. Und er dachte, wenn es eine Möglichkeit gäbe, daß sie wieder zusammenkämen, würde er Henny zuliebe sicherlich anders werden. Henny hatte Kischkoweit beobachtet und deutete sein Schweigen falsch. Sie glaubte, daß sie ihn gekränkt hatte. „Eddi“, sagte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm, „das von damals soll vergessen sein. Nur … es war so schwer für mich, daß ich die Richtung im Leben ein bißchen verloren hatte.“ Und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Ich habe mich scheiden lassen.“ „Du bist also frei“, sagte Kischkoweit, „aber ich nicht. Ich bin verheiratet und habe einen Sohn.“ Henny sagte: „Ich weiß. Nur, ich denke, wenn sich zwei Menschen über Jahre nacheinander sehnen, dann gehören sie wirklich zusammen.“ Sie waren in der Innenstadt angekommen. Kischkoweit fuhr jetzt langsam und sagte: „Du glaubst gar nicht, wie ich an meinem Jungen hänge.“ Und nach einer Weile: „Meiner Frau ist so ziemlich alles in der Welt gleichgültig – nur der Junge nicht.“ Vor einem kleinen Restaurant stoppte Kischkoweit den Wagen. Bevor Henny ausstieg, sagte sie: „Eddi, ich 203
lebe lieber allein, als daß ich eine Ehe auseinanderbringe. Aber ich meine, das ist auch nicht sauber und ehrlich, wenn du mit einer Frau zusammen lebst, die du nicht liebhast.“ Edwin Kischkoweit erinnerte sich, daß ihm Hypko vor seiner Hochzeit das gleiche vorgeworfen hatte.
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14. Die Kriminalisten waren der Ansicht, daß ein Mensch nicht einfach verschwinden oder sich in Luft auflösen kann, auch nicht, wenn er verdreht wie eine halbfertige Spirale aussieht. Am Morgen nach dem rätselhaften Untertauchen der schiefen Gestalt ließen sie Klaus Liebing wiederum zur Vernehmung vorführen. Hypko sagte: „Beschreiben Sie uns doch den Unbekannten noch mal, der Ihnen die Ware gebracht hat.“ Liebing beteuerte, er könne ihn nicht besser beschreiben, als er es schon mehrmals getan habe. „Er kam immer im Dunkeln.“ Hypko sah ihn scharf an. „Wie heißt der Mann?“ „Weiß ich nicht.“ „Mir genügt der Spitzname.“ „Weiß ich auch nicht.“ „Er sieht ein bißchen verkorkst aus, nicht wahr?“ Für den Bruchteil einer Sekunde blickte Liebing ihn erschrocken an. Dann stellte er sich wieder dumm und sagte: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Wohin verschwindet er denn, wenn er jemandem entwischen will, der ihm auf den Fersen ist?“ Liebing zog die Unterlippe ein und kaute darauf herum. „Das hat er mir doch nicht verraten.“ „Sie sind unklug, Liebing“, sagte Hypko. „Kriegen wir ihn nicht, büßen Sie allein. Kriegen wir ihn, obwohl Sie uns das schwer machen, gereicht Ihnen das auch nicht zum Vorteil.“ „Aber wenn ich nichts weiß.“ Das klang kläglich und verlogen. 205
Hypko ließ ihn in seine Zelle zurückbringen. Noch am Vormittag fuhr Hypko mit Oberleutnant Bach und Oberleutnant Rüdiger nach Pankow. Sie liefen den Fluchtweg des Unbekannten ab und begannen Meter für Meter den Bürgersteig und die Parkmauer nach Versteckmöglichkeiten abzusuchen. Ungefähr fünfzig Meter nach dem Rechtsknick der Mauer blieb Oberleutnant Bach stehen und sagte: „Sesam öffne dich.“ Er zeigte auf einen runden Deckel, der in die Erde eingelassen war. „Donnerwetter!“ rief Rüdiger. „Und ich dachte, er ist durch die Mauer weg.“ An dem eisernen Deckel war ein Griff befestigt. Rüdiger hob die Platte an und zerrte sie beiseite. Die Kriminalisten starrten in eine dunkle Öffnung, aus der ein übler Geruch emporquoll. „Gullytaucher vor“, sagte Hypko, und Oberleutnant Rüdiger stieg langsam und vorsichtig in die Tiefe. „Bißchen eng hier!“ rief er nach oben. „Komme mir vor wie ein Nilpferd auf ’ner Hühnerleiter …“ Er unterbrach sich und fluchte mörderisch. Hypko und Bach beugten sich erschrocken über den Gullyrand. Bei dem schwachen Schein einer Taschenlampe sahen sie eine Gestalt, die Rüdiger sein mußte, auf allen vieren umherkriechen. „Ist was?“ brüllte Bach, aber Rüdiger gab keine Antwort. Wenige Augenblicke später tauchte er wieder auf. Hypko und Bach fuhren zurück und hielten sich die Nase zu. Rüdiger fluchte noch einmal kräftig, obwohl er wußte, daß Hypko das nicht leiden konnte, und sagte: „Da unten stinkt’s nach einem Gemisch von Rübensilo und Jauchegrube.“ Hypko schnupperte. „Wir glauben’s, du hast den glei206
chen herzhaften Duft an dir. Außerdem siehst du aus wie ein frischgesuhltes Wildschwein.“ „Da“, sagte Rüdiger und warf Hypko einen Plastbeutel vor die Füße, „frisch aus der Suhle.“ Hypko wollte den Beutel öffnen, sagte dann aber: „Du stinkst sowieso, mach du auf.“ Drei ebenfalls in Plast verpackte Päckchen holte Oberleutnant Rüdiger aus dem Beutel, und als er sie ausgewickelt hatte, lagen vier Damenarmbanduhren, zwei Meter Anzugstoff und sechs Silberbestecke auf dem Wiesenrand vor den Kriminalisten. Hauptmann Hypko wollte sich darüberbeugen und den Fund näher betrachten, da legte sich eine Hand auf seine Schulter, und jemand, dessen Kommen er nicht wahrgenommen hatte, fragte: „Was soll denn das bedeuten?“ Hypko schob die Hand von der Schulter, wandte sich um und sagte zu dem Mann, der vor ihm stand: „Vielleicht erzähl’ ich’s Ihnen, wenn ich’s weiß. Wer sind Sie denn?“ „Rehlau“, sagte der Mann beinahe beleidigt. „Torsten Rehlau, Schauspieler. Und ich meine, man sollte die Polizei holen.“ Hypko wollte ihn bei guter Laune erhalten und beteuerte, Rehlau wäre ihm gleich so bekannt vorgekommen. Und warum er denn die Polizei holen wolle? „Eben das möchte ich der Polizei selbst sagen“, entgegnete Rehlau abweisend. „In Ordnung.“ Hypko zeigte ihm seine Marke. „Erzählen Sie mal.“ Rehlau wich einen Schritt zurück, da Oberleutnant Rüdiger auf sie zugetreten war, zog die Nase kraus und murmelte: „Penetranter Gestank.“ Dann erzählte er Hypko sein nächtliches Erlebnis mit einem Einbrecher, der 207
bei der Flucht wahrscheinlich in diesem Gully verschwunden sei. Was die Kriminalisten darüber dachten, erfuhr Rehlau nicht, aber er mußte sich sagen lassen, daß einige Einbrüche wahrscheinlich verhindert worden wären, wenn er damals die Polizei benachrichtigt hätte. Rehlau fragte recht kleinlaut, ob er noch etwas für die Genossen Kriminalisten tun könne, und Hypko bat ihn, sich in aller Ruhe das Aussehen des Einbrechers zu vergegenwärtigen, dessen Gesicht er für kurze Zeit im Licht der Straßenlaterne gesehen hatte. Am nächsten Tag sollte er sich bei Hauptmann Hypko im Präsidium melden. Als Rehlau gegangen war, fragte Hypko den Oberleutnant: „Was meinst du, liegt da noch mehr unten?“ „Sicherlich“, antwortete Rüdiger. „Aber eher lass’ ich mich degradieren, als daß ich noch einmal in diese Kloake steige.“ Hypko überlegte kurz und entschied dann, daß Oberleutnant Rüdiger, dreckig und stinkend wie er war, sowieso nicht im Dienstwagen mitfahren konnte. Er sollte deshalb den Fundort sichern, bis er, Hypko, mit einem Genossen in Schutzanzug und mit Gasmaske zurückkäme. Oberleutnant Bach erhielt den Auftrag, in der Nachbarschaft zu ermitteln, ob jemand eine windschiefe Gestalt bei Liebing hatte ein und aus gehen sehen. Dem Hauptmann kam es darauf an, jemanden zu finden, der ihm von dem Unbekannten eine Personenbeschreibung geben konnte, die für das Fahndungsbuch geeignet war. „Lüfte schön aus!“ rief Bach seinem Kollegen zu und verschwand. Hypko ging zum Dienstwagen, und Rüdiger brüllte ihm hinterher: „Und wie soll ich dann von hier wegkommen?“ 208
Der Fahrer ließ den Motor an. Hypko wandte sich zu Rüdiger um und brüllte zurück, er würde die Städtische Müllabfuhr anrufen. Vielleicht könnte die was für ihn tun. Die Beschreibung, die Rehlau vom Aussehen des Einbrechers gab, erwies sich als sehr mangelhaft, aber er betonte, daß der Mann ein häßliches Gesicht von rhomboidartiger Form gehabt habe. Mehr Glück hatte Oberleutnant Bach mit einer kleinen älteren Straßenbahnschaffnerin, die im gleichen Haus wie Klaus Liebing wohnte. Frau Jahn war nachts, wenn sie vom Schichtdienst kam, mehrmals einer Gestalt begegnet, vor der sie sich anfangs erschrocken hatte. „Aber ich habe mir dann gesagt, daß ein Mensch ja nichts für sein Aussehen kann“, fügte sie in entschuldigendem Ton hinzu. Sie beschrieb das Gesicht des Unbekannten präzise und mit bemerkenswerten Einzelheiten. Hypko dankte ihr und bat sie, ihm weiter behilflich zu sein, wenn er noch Fragen hätte. Der Hauptmann wollte das Bild des Gesuchten mit Frau Jahns Hilfe im Identikit-Verfahren herstellen lassen. Leutnant Duiskat, Kriminaltechniker und Spezialist für das Identikit-Verfahren, führte Frau Jahn wenige Tage später in sein Zimmer und erklärte ihr die Arbeitsweise des Gerätes, mit dem sie den Gesichtstyp des Unbekannten reproduzieren wollten. Der Leutnant zeigte auf eine Mattscheibe. „Hier an der Schmalseite sind bewegliche Halterungsstifte angebracht“, sagte er. „Da hängen wir die Folien der einzelnen Gesichtspartien hinein. Wenn Sie glauben, daß ein Detail nicht treffend wiedergegeben ist, können wir es gegen ein anderes auswechseln.“ 209
Anfangs stand Frau Jahn etwas ratlos vor dem Katalog, der die verschiedensten Gesichtselemente enthielt. Duiskat half ihr, systematisch vorzugehen und zuerst diejenigen Partien des nächtlichen Besuchers zusammenzusetzen, die ihr als besonders auffallend in Erinnerung waren. Frau Jahn suchte eine nach vorn gewölbte Kinnpartie, eine nach links gebogene große Nase und eine niedrige, aber sich trotzdem nach oben verengende Stirn heraus. Am schwersten fiel es ihr, die Partien um die Backenknochen zu formen. Sie behauptete, der rechte Backenknochen müsse etwas höher angesetzt werden als der linke, oder er müsse kräftiger sein, so daß das Gesicht eine unebenmäßige, leicht verzerrte Form erhalte. Bevor sie die einzelnen Teile dafür aussuchte, skizzierte sie auf einem Blatt Papier die rhomboidartige Form des Gesichtes. Trotzdem wechselte sie später einige Elemente mehrmals aus. Schließlich schien sie jedoch zufrieden zu sein mit ihrem Werk, fügte dem Gesicht kleine Augen und einen breiten Mund bei und Ohren, von denen Duiskat behauptete, sie seien versehentlich in den Katalog gerutscht und gehörten wahrscheinlich einem Elefanten. Als das Bild fertig war, sagte Frau Jahn: „Wissen Sie, er ist es, und er ist es auch wieder nicht. Zum Beispiel fehlt da noch ein ganz bestimmter zynischer Ausdruck. Auch die großen Pocken oder Narben, die sich bis zu den Ohren hinziehen, sind nicht da.“ „Es ist keine Fotografie, Frau Jahn“, sagte Duiskat. „Es ist nur der reproduzierte Typ einer Person …“ „Ja, ja“, unterbrach sie ihn, „ich verstehe schon. Wichtig ist, daß man ihn im großen und ganzen erkennt. Und nach dem Bild hier ist er zu erkennen, darauf können Sie sich verlassen. Daß er ein bißchen zum Fürchten aussieht 210
… dafür kann ich nicht. Übertrieben habe ich wirklich nicht.“ Leutnant Duiskat dankte Frau Jahn und begleitete sie hinaus. Dann fotografierte er das Porträt, und als die Fotos entwickelt waren, meldete er sich bei Hauptmann Hypko an. Hypko gab Oberleutnant Bach und Oberleutnant Rüdiger Bescheid, und als Leutnant Duiskat endlich die Fotografien auf den Tisch legte, schauten sie alle mit unverhohlener Neugier in das Gesicht des Mannes, der vielleicht der Gangsterboß war, zumindest aber zu den vertrautesten Kumpanen desjenigen gehörte, dem sie auf der Spur waren. Es war ein abstoßendes Gesicht. Nicht allein, weil es unproportioniert und leicht verzerrt war, sondern vielmehr, weil es selbst in der groben Zusammensetzung Menschenverachtung und Resignation ausdrückte. Hypko sagte: „Er sieht aus, als sei er in seine eigene Bosheit verliebt. Vielleicht gibt ihn Liebing nicht preis, weil er sich vor ihm fürchtet. Vielleicht ist er auch derjenige, den Kloge vor Jahren aus Angst gedeckt hat. Was mag er nur für ein Mensch sein?“ „Ich denke, wir werden das bald erfahren“, meinte Oberleutnant Bach, und Rüdiger fragte: „Wollen wir das Bild vervielfältigen lassen und an die Inspektionen und Reviere geben, damit es die Genossen mit den Paßbildern vergleichen können, oder wollen wir die Bevölkerung um Mitarbeit bitten und das Bild in die Zeitung setzen lassen?“ Hypko überlegte. „Sicherlich führt beides zum Erfolg. Das ist nur eine Frage der Zeit. Vorher möchte ich jedoch etwas anderes versuchen – ich will Klaus Liebing mit dem Bild überraschen.“ 211
Der Hauptmann lächelte überlegen, als Liebing vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte; er hielt ihm die Fotografie vor Augen und sagte: „Wir haben ihn.“ Liebing starrte in das häßliche Gesicht und rief erschrocken: „Krücke! Jetzt haben Sie Krücke!“ „Ja, es ist Krücke.“ Hypko steckte das Foto in sein Schreibtischfach. „Krücke, Ihr ‚Unbekannter‘. Und Sie haben gedacht, Sie könnten uns ’reinlegen. Sie haben seinen Spitznamen gewußt und seinen Namen …“ Hypko zögerte absichtlich, und Liebing, der sehr aufgeregt war, verteidigte sich sofort. „Den Namen habe ich vergessen. Er wurde immer nur Krücke genannt.“ „Vergessen“, wiederholte Hypko verächtlich. „Sie sind doch bei ihm gewesen, und der Name hat am Türschild gestanden.“ Liebing schien nachzudenken. „In der Bruchbude war es so dunkel. Aber jetzt hab ich’s: Stock hat da drangestanden. Ein großes H. und Stock. Na, wichtig ist das wohl jetzt auch nicht mehr.“ „Für uns schon“, sagte Hypko. Liebing sah ihn mißtrauisch an. „Ich denke, Sie haben ihn?“ „Ja, auf dem Bild. Und nun wissen wir auch, wie er heißt. Sagen Sie uns noch seine Adresse, dann haben wir ihn wirklich.“ Liebing bekam ein rotes Gesicht und rief: „Das ist unfair! Was sind denn das für Methoden?“ „Regen Sie sich nicht auf“, sagte Hypko. „Denken Sie daran, wie ‚fair‘ Sie und Krücke in der Vergangenheit gelebt haben. Die Methoden, mit denen wir Sie zum Ehrlichsein kriegen wollen, zwingen Sie uns durch Ihr Verhalten auf. So, und nun erzählen Sie uns von Krücke.“ 212
Liebing preßte die Lippen aufeinander. „Wir kriegen ihn auch so“, sagte Hypko gleichgültig. „Vor Arbeit haben wir uns noch nie gescheut. Ich meine nur, daß Sie nun genug Theater gespielt haben und daß es Ihnen gut tun würde, uns endlich ein bißchen zu helfen.“ Liebing sagte mit tonloser Stimme: „Wenn Sie ihn ohnehin kriegen – könnten Sie es ihm gegenüber dann nicht so hinstellen, daß Sie ihn ohne mein Zutun geschnappt haben?“ „Haben Sie Angst vor ihm?“ „Er hat eine Walther.“ Liebing sprach sehr leise. „Er ist rachsüchtig. Und irgendwann komme ich doch auch wieder ’raus – und er auch.“ „Wenn das so ist“, sagte Hypko, „wird er kein Wort davon erfahren, daß Sie uns geholfen haben. Also reden Sie schon!“ Liebing nannte ihm Krückes Adresse am Fischerkietz. „Schön“, sagte Hypko mit ruhiger Stimme und ohne eine Spur von Triumph. Er schob Liebing eine Schachtel Zigaretten über den Schreibtisch. „Rauchen Sie sich eine an, und dann erzählen Sie mir von Krücke, wie Sie ihn kennengelernt und was für Geschäfte Sie mit ihm abgewickelt haben.“ Liebing erzählte alles, was er über Krücke wußte; er berichtete auch, was er für ihn verkauft hatte. Aber er frisierte seinen Bericht so, daß Kischkoweit und Schattan aus dem Spiel blieben. Er hielt Kischkoweit sogar noch heraus, als Hypko direkt nach ihm fragte, und antwortete, er habe nur mit Krücke zu tun gehabt; mit wem Krücke die Sachen gestohlen habe, wisse er nicht. Er bestritt, Edwin Kischkoweit seit seiner Haftentlassung wiedergesehen zu haben. Der Hauptmann ließ Klaus Liebing wieder in seine Zelle bringen und begann sofort, Heinz Stocks Verhaf213
tung vorzubereiten. Er telefonierte nach Bach und Rüdiger und unterrichtete sie von Liebings Aussage. „Dieser Heinz Stock hat also eine Pistole, weiß damit umzugehen und ist skrupellos“, sagte er. „Wir werden ihn so festnehmen, daß es nicht zur Schießerei kommen kann. Oberstes Prinzip: Es darf keine Verletzten geben, und die Hausbewohner sollen möglichst gar nicht erst beunruhigt werden. Am besten, wir stehen so gegen vier Uhr morgens mit gezogener Pistole vor seinem Bett. Da hat er keine Gelegenheit, frech zu werden.“ „In diesen alten Häusern sind die Türschlösser ohnehin kein Problem“, sagte Rüdiger. Bach gab zu bedenken, daß sich gerade deshalb die Leute, die dort wohnten, einriegelten oder die Tür von innen mit einer Kette sicherten. „Wir werden Klaus Liebing heute Nachmittag noch nach Einzelheiten fragen und uns am Abend Heinz Stocks Villa mal ansehen“, sagte Hypko. „Die Schutzpolizei bestellen wir für drei Uhr dreißig, um drei Uhr vierzig muß der Fischerkietz abgeriegelt sein. Wir fordern noch ein paar Kriminalisten von der Inspektion Mitte an, umstellen drei Uhr fünfundvierzig das Haus, und fünf Minuten später stehen wir vor Heinz Stocks Bett. Wie wir ins Zimmer kommen, haben Oberleutnant Bach und ich bis spätestens heute Abend dreiundzwanzig Uhr auszukundschaften. Danach legen wir uns noch zwei, drei Stunden aufs Ohr. Die anderen machen heute pünktlich Feierabend und gehen zeitig schlafen.“ Pünktlich drei Uhr dreißig bremsten drei Lastwagen vor der Fischerbrücke. Die Polizisten wurden erst hier über Ziel und Verlauf des Einsatzes informiert, sprangen ziemlich geräuschlos von den Lkws und verteilten sich in weitem Bogen um das Haus in der Fischerstraße, in dem 214
Heinz Stock wohnte. Hauptmann Hypko hatte sich bereits mit seinen Leuten in den Anlagen versteckt gehalten. Drei Uhr siebenunddreißig bekam er die Meldung, daß der Fischerkietz abgeriegelt sei; mit acht Kriminalisten schlich er sich daraufhin an Stocks Wohnstätte heran. Er ließ das Haus von fünf Kriminalisten umstellen, postierte einen im Hauseingang und befahl Oberleutnant Bach, bis zu Stocks Wohnungstür vorzudringen. Er selbst pirschte sich mit Oberleutnant Rüdiger zur Rückfront des einstöckigen Hauses, zeigte zum Dach empor und sagte: „Das mittlere Fenster, es steht einen Spalt breit offen.“ Rüdiger blickte prüfend an der Hausmauer hoch, an der sich ein alter wilder Weinstock empor rankte, und flüsterte: „Kannst losgehen! Ich riegele euch von innen auf.“ Hypko gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter und ging zur Haustür zurück. Inzwischen kletterte Oberleutnant Rüdiger flink und geschickt, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, zum ersten Stockwerk hoch. Den Weinstock und die Scharten in der Mauer nutzte er dabei geschickt aus. Oben an der Dachkammer lauschte er einige Sekunden, dann schwang er sich durch das Fenster. Liebing hatte ihm Heinz Stocks dürftige Wohnungseinrichtung genau beschrieben, so wußte er, daß er sich vorerst in der Lücke zwischen Schrank und Wand verbergen konnte. Einige Sekunden blieb er in seinem Versteck stehen, Heinz Stock atmete noch immer tief und regelmäßig. Oberleutnant Rüdiger zog die Pistole aus dem Halfter, entsicherte sie, glitt zur Tür und schob den Riegel zurück. Das ging alles sehr schnell und beinahe lautlos vor sich; als Hypko und Bach eintraten, quietschte jedoch die Tür, und Heinz 215
Stock warf sich im Bett herum. Er schniefte durch die Nase, zog die Decke über die Ohren und atmete wieder ruhig. Die Kriminalisten postierten sich um das Bett, hielten die Pistolenmündungen auf Heinz Stock gerichtet, und Hypko rief: „Stehen Sie auf! Sie sind verhaftet.“ Stock kam mit dem Kopf unter der Bettdecke hervor, hielt die Augen noch geschlossen und brabbelte: „Heute is arbeitsfreier Sonnabend. Heute nich“ und kuschelte sich wieder zurecht. Rüdiger schnitt vor unterdrücktem Lachen eine Fratze, und Bach hatte Mühe, die Pistole ruhig zu halten. Hypko atmete tief durch, ließ den Strahl seiner Taschenlampe über Stocks Gesicht huschen und sagte sehr laut: „Wir nehmen Sie auch am arbeitsfreien Sonnabend mit, Herr Stock. Stehen Sie auf, Sie sind verhaftet!“ Es war weniger das Wort „verhaftet“ als vielmehr die Anrede „Herr Stock“, die Krücke mit einem Schlag wach machte. Er fuhr im Bett hoch und starrte mit offenem Mund auf die Pistolen. Dann begann er zu schimpfen. „Soll’n das, wa? Schlimmer als bei Muttern! Die hat mir mit’n Klaps auf ’n Arsch geweckt. Das war herzlos. Aber was Sie hier anstell’n, macht ’ne Anzeige beim Tierschutzverein fällig!“ „Schütten Sie uns ruhig Ihr Herz aus“, riet ihm Hypko, „wir haben heute ohnehin nichts anderes vor, als Sie an Land zu ziehen.“ Heinz Stock grinste, sah dabei einer zähnefletschenden Bulldogge ähnlich und fragte treuherzig: „Was ham Se denn gegen mir?“ „Mich“, korrigierte Rüdiger. „Gegen mich.“ „Na, aber trotzdem, Sie haben was gegen – mich.“ „Allerdings.“ Hauptmann Hypko zählte ihm einiges auf und zeigte ihm den Haft- und Durchsuchungsbefehl. 216
Heinz Stock wurde nachdenklich. Er sah Hypko an und fragte: „Wer hat mich verpfiffen?“ „Sie sind im Hause eines gewissen Herrn Liebing mehrmals gesehen worden. Nach der Beschreibung der Mieter haben wir ein Bild von Ihnen zusammengestellt, sehr treffend übrigens. Es liegt in meinem Dienstzimmer. Ich zeig’ es Ihnen dann mal.“ „Sie machen mich direkt gespannt, Herr Kommissar.“ „Hauptmann“, sagte Hypko. Heinz Stock winkte ab. „Über Kleinigkeiten gehn wir großzügig hinweg. Bloß, nennen Se mir nich wieder ‚Herr Stock‘, da muß ich erst so lange nachdenken, wen Se eigentlich meinen tun.“ „In Ordnung, Krücke“, sagte Hypko, und Krücke griff resignierend nach seiner Hose. „Die muß ich denn woll nu anziehn.“ „Wenn Sie nicht im Hemd mitkommen wollen“, erwiderte Hypko. „Haben Sie Ihre Pistole zufällig mit ins Bett genommen?“ Krücke seufzte. „Nee, Herr Hauptmann, ’ne Pistole und ’n Mädchen, das sind die Dinge, die mir fehlen tun.“ Er gab sich Mühe, wieder treuherzig zu blicken, knöpfte sich aber vor Aufregung die Hose falsch zu. Hypko machte ihn darauf aufmerksam und sagte dann zu Oberleutnant Bach: „Sie bleiben hier. Ich schicke Ihnen noch zwei Genossen ’rauf, und dann nehmen Sie das Zimmer auseinander, Zentimeter für Zentimeter, die Matratzen,, die Lampe, die Wände, den Fußboden. Suchen Sie das Diebesgut, das er versteckt hat, und suchen Sie vor allem die Pistole.“
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15. Gegen dreiundzwanzig Uhr klingelte es abwechselnd viermal kurz und viermal lang an Kischkoweits Haustür. Kischkoweit, der schon eingeschlafen war, fuhr hoch, schimpfte: „So ein Idiot!“ und meinte damit Schattan, denn es war dessen Klingelzeichen gewesen. Hinter der Haustür fauchte Kischkoweit los, was sich der Fuchs wohl dabei denke, entgegen der Anordnung, sich sechs Wochen lang zurückzuhalten, hierherzukommen. Norbert Schattan sah bekümmert aus. Er sagte: „Sie haben Krücke“ und ging an seinem Freund vorbei ins Wohnzimmer. „Mach mal ’n Punkt“, sagte Kischkoweit und setzte sich zu ihm auf die Couch. Schattan erzählte, daß er von dem Diebesgut, das er noch versteckt hielt, einiges habe zu Krücke bringen wollen, aber die Wohnung im Fischerkietz sei versiegelt gewesen. Durch eine Frau, die in dem Haus wohnte und als Zeugin bei der Wohnungsdurchsuchung dabeigewesen war, hatte er von Krückes Verhaftung erfahren. „Vielleicht bist du beobachtet worden“, sagte Kischkoweit. „Vielleicht. Du mußt sofort jemanden ausfindig machen, der für uns zuverlässig und für die Kripo unverdächtig ist. Und dort müssen wir die Sore unterbringen.“ „Erinnerst du dich an Henny?“ fragte Kischkoweit, als habe er Schattans Worte überhört. „Henny?“ Schattan überlegte. „Henny? Meinst du die Blonde, mit der du zusammen warst, bevor sie dich eingelocht haben?“ „Ja“, sagte Kischkoweit, „die meine ich.“ 218
„Willst du die Sore zu der …“ Kischkoweit fuhr auf. „Du Idiot! Das fehlte gerade noch! Zusammen leben will ich wieder mit ihr. Aber dich und Krücke und Liebing und die Sore, die noch da ist, das alles kann ich nicht abschütteln, es klebt wie Leim an mir. Ich will damit nichts mehr zu tun haben.“ Schattan blickte ihn mit offenem Mund an und sagte sehr nachsichtig: „Es war in letzter Zeit wirklich ein bißchen viel für uns. Bin manchmal selber nahe am Durchdrehen. Eddi, überleg doch, du kannst wegen einem Weib nicht plötzlich alles aufs Spiel setzen!“ „Ich will meine Ruhe haben“, entgegnete Kischkoweit. „Es ist alles da, was wir brauchen: Haus, Boot, Auto, Fernseher, Waschmaschine, alles. Und nun will ich Schluß machen. Henny zuliebe. Sie darf nie etwas erfahren von diesen Dingen.“ Ärgerlich schlug Schatten mit der flachen Hand auf den Tisch. „Quatsch“, rief er. „So kannst du reden, wenn du achtzig bist. Von wegen du und Schluß machen! Henny zuliebe! Wenn das Leben mit ihr erst alltäglich wird, juckt’s dich doch wieder in den Fingern.“ Kischkoweit schwieg, denn Schattan hatte eine Befürchtung ausgesprochen, die auch ihn insgeheim plagte, die er sich aber nicht eingestehen wollte. Er sagte: „Ich möchte mit Henny leben, aber die macht so was nicht mit. Ich kann ja wenigstens mal versuchen, anders zu werden.“ „Wenn wir aus dem Schlamassel hier ’raus sind, dann mach, was du willst“, meinte Schattan ärgerlich. „Aber jetzt kannst du nicht einfach beiseite schieben, was da noch so ansteht. Du hast Sore, ich habe Sore, und sie sind hinter uns her.“ „Ich mach’ keinen Finger mehr krumm“, sagte Kisch219
koweit. „Laß mich in Ruhe damit, für mich gibt es jetzt andere Sorgen. Henny und ich … und was wird aus meinem Jungen, der Junge, und was wird aus Henny und mir? Verstehst du? Das dreht sich alles in meinem Kopf herum, bis ich nicht mehr aus noch ein weiß. Und da kommst du mit deiner Sore, mit Krücke und Polizei. Ich mache nicht mehr mit, dann hat auch die Polizei keinen Grund mehr, mir in die Suppe zu spucken.“ Schattan sah ihn beinahe mitleidig an. „Kischkoweit“, sagte er, „Langer, was hat dieses Weib bloß aus dir gemacht? Besinn dich doch. Wenn dein Hypko ’rauskriegt, was du angestellt hast, dann sagt der doch nicht: ‚Fall erledigt, der Kischkoweit hat sich nämlich gerade vorgenommen, ein anständiger Mensch zu werden.‘ Du mußt für alles büßen. Für alles, Eddi. Wenn die uns kriegen, kannst du wieder im Knast von deiner Blonden träumen.“ „Panikstimmung“, wehrt Kischkoweit ab, aber es klang ziemlich hilflos. „Verhalte dich ruhig und laß alles an dich ’rankommen. Mit diesem Rat bist du noch nie schlecht gefahren.“ Schattan erhob sich und blickte auf Kischkoweit herab. „Wenn du so einen Rat früher gegeben hast, war alles durchdacht, und du wußtest auch für den Fall, daß sie kommen würden, was zu tun war. Heute sagst du’s, weil du nicht weiterweißt.“ Kischkoweit mied Schattans Blick. Bevor Schattan das Zimmer verließ, wandte er sich noch einmal um und sagte langsam und sehr betont: „Kischkoweit, du bist ein Scheißkerl!“ Nach der ersten Nacht, die der Beschuldigte Heinz Stock in Untersuchungshaft verbracht hatte, fand ihn der Wachtmeister morgens auf dem Fußboden der Zelle lie220
gen. Er verlangte winselnd, zum Hauptmann gebracht zu werden. Hypko ließ ihn ins Dienstzimmer führen. „Sind Sie krank, Krücke?“ „Sehn Se das nich?“ schrie Krücke und riß sich das Hemd auf. Sein Brustkorb war von häßlichen roten Narben und großen Pocken übersät. Einige zogen sich bis zum Hals hoch. „Das juckt und kratzt, und wenn eine aufplatzt, könnt’ ich schreien vor Schmerz. Manchmal krieg’ ich auch Fieber, ’ne Qual is das. Und nu wollen Se mich noch dafür bestrafen.“ „Sie bringen da was durcheinander“, sagte Oberleutnant Rüdiger, der bei dem Gespräch ebenfalls anwesend war. „Sie werden nicht für Ihre Krankheit bestraft, sondern dafür, daß Sie gestohlen haben.“ „Is kein Unterschied nich. Seit ich so aussehen tu, will mich niemand mehr. Kein Freund, kein Mädchen, nischt. Und wenn das dann so über mich kommt, Herr Oberleutnant, dann zieh’ ich los und mach’ ’nen Bruch. Dann weiß ich wieder, daß ich doch noch wer bin.“ „Was sind Sie denn von Beruf?“ fragte der Hauptmann. „Bäcker“, sagte Krücke und grinste schadenfroh. Ein Problem ist das schon mit ihm, dachte Hypko. Einer, der sich dauernd an seinen Pocken kratzt, kann kein Brot backen. Er sagte: „Außer Bäcker und Ganove wüßte ich aber noch eine ganze Menge anderer Berufe. Was haben Sie denn noch versucht?“ Krücke schrumpfte mit einemmal auf dem Stuhl zusammen, preßte die Hände gegen die Brust und winselte. „Was können wir jetzt für Sie tun?“ fragte Hypko. Er war sich noch nicht im klaren darüber, ob Krücke bei Fragen, die ihm unangenehm waren, vielleicht einfach einen Anfall simulierte. 221
„Wasser“, wimmerte Krücke. „O Gott, diese Schmerzen. Das geht bis ins Herz.“ Oberleutnant Rüdiger holte ein Glas Wasser, und Krücke trank es hastig leer. Hypko fragte, was der Arzt zu dieser Krankheit sage. „Unheilbar.“ „Wo sind Sie in Behandlung?“ „Gar nich, gar nich“, erwiderte Krücke und bekam ein Zucken im Gesicht. „Wenn’s doch unheilbar is.“ „Das Zucken auch?“ Krücke sah ihn so erstaunt an, daß er vergaß, seine Gesichtsmuskeln spielen zu lassen. „Wenn ich Sie noch mal beim Simulieren erwische, werde ich Ihre Krankheit überhaupt nicht mehr ernst nehmen“, drohte ihm Hypko an. Krücke begann wieder zu lamentieren, aber Hypko schnitt ihm das Wort ab. „Ich sorge dafür, daß Sie noch heute einem Facharzt vorgestellt werden. Und zum Gerichtspsychiater schicke ich Sie auch.“ Krücke sprang auf. „Zum Pschüchater wollen Se mir bringen? Nee, Sie, bei mir sind alle Tassen im Schrank. Verrückt is nich!“ „Ich will wissen, woran ich mit Ihnen bin“, sagte Hypko ruhig. „Ich will Sie während der Vernehmung nicht überfordern, aber ich werde mir auch kein X für ein U vormachen lassen. Und auch die Straftaten will ich im Zusammenhang mit Ihrer Krankheit richtig bewerten. Dazu brauche ich das Urteil der Fachärzte.“ „Soviel Mühe“, klagte Krücke, als man ihn wieder abführte. „Das sehn Se mir doch ooch so an, daß ich ’n verlorener Mensch bin.“ Hauptmann Hypko ließ sehr gründlich nachforschen, wo Stock in Behandlung gewesen war, und erfuhr, daß er 222
seit Jahren alle ärztlichen Aufforderungen, zur Untersuchung zu kommen, unbeachtet gelassen hatte. Im Anfangsstadium hätte seine Krankheit geheilt werden können. Das gerichtspsychiatrische Gutachten, das die Kriminalisten erhielten, wimmelte von Fachausdrücken. Hypko erwarb sich eines der letzten Exemplare des „Medizinischen Wörterbuches“, und als er das Gutachten ins Deutsche übersetzt hatte, wußte er, daß er in Heinz Stock den Typ des sozialpsychologischen Einzelgängers vor sich hatte. Heinz Stock hatte seinen Vater nicht gekannt, die Mutter war ungefähr zu der Zeit gestorben, da seine Hautkrankheit begann. Er hielt es auf keiner Arbeitsstelle lange aus und ging schließlich gar nicht mehr arbeiten. Als ihn seine Krankheit mehr und mehr entstellte, wurde er von Freunden und Mädchen gemieden. Er verwahrloste gefühls- und gemütsmäßig, Depressionen bildeten sich neben einer aggressiven Haltung gegenüber der gesamten Gesellschaft heraus. Sein Geltungsdrang, den er wegen seines abstoßenden Äußeren kaum noch auf eine annehmbare Art befriedigen konnte, ließ ihn zum Außenseiter des öffentlichen Lebens werden. „Wenn man das liest“, sagte Rüdiger zu Hauptmann Hypko, „bekommt man ja fast ein schlechtes Gewissen. Irgendwann hätte ihn die Gesellschaft doch mal auffangen müssen, bevor er bei uns landete.“ „Man kann nicht verlangen, daß die Gesellschaft jeden einzelnen zu seinem Glück zwingt. Ihm wurden genügend Möglichkeiten geboten, ein ordentliches Leben zu führen. Er ist nicht zum Arzt gegangen, hat die Aufforderungen des Arbeitsamtes zerrissen und durch sein renitentes Verhalten auch die Fürsorgerinnen hinausgeekelt, 223
die sich um ihn kümmern wollten. Vielleicht hat jeder, der mit ihm zu tun hatte, ein bißchen zu schnell aufgegeben. Außerdem hatte er sich in einer Umgebung eingenistet, wo ihn keiner so leicht aufstöbern konnte.“ „Das stimmt“, sagte Rüdiger. „Stell dir den Fischerkietz in ein paar Jahren vor, mit Hochhäusern, modernen Wohnungen, Hausgemeinschaften. Da können sich die Krückes, die es noch gibt, nicht mehr vor ihren Mitmenschen drücken.“ Sie ließen Heinz Stock nach einigen Tagen Vernehmungspause wieder in ihr Dienstzimmer führen. „Na“, fragte Hypko, „haben Sie sich inzwischen eingelebt bei uns?“ Krücke zuckte ratlos die Schultern. „Weeß nich, so recht wohl fühlen tu’ ich mir eigentlich nich.“ „Dann wär’s doch das beste“, sagte Hypko, „Sie legen ein Geständnis ab und ziehen einen Schlußstrich. Je schneller Sie das tun, um so eher haben Sie alles hinter sich, auch die Strafe. Und wenn Sie wieder ’raus sind, Krücke, werde ich mich persönlich um Sie kümmern, damit Sie etwas leichter auf die Beine kommen.“ Hypko meinte es ernst. Er hatte schon mehrmals einige Burschen, deren Fall kompliziert gewesen war und bei denen die Gefahr eines Rückfallverbrechens bestand, in ein gutes Kollektiv eingegliedert und besuchte sie noch hin und wieder. „Schöne Rede“, sagte Krücke scheinbar wohlwollend. „Wirklich, Herr Hauptmann, da hör’ ich richtig gerne zu. Bloß ich selber, ich bin nich so fürs Reden geschaffen.“ „Schade“, erwiderte Hypko ehrlich enttäuscht, „Sie hätten sich selbst einen Gefallen getan, nicht uns. Wir können Sie auch ohne Ihr Geständnis dem Gericht übergeben.“ 224
Krücke grinste, aber in seinem Blick war ein lauernder Ausdruck. Der Hauptmann nahm eine Liste zur Hand. „Sechs Paar Damengarnituren, weiß mit blauem Muster, Kunstseide …“ Krücke winkte ab. „Ja, Kunstseide. Dederon gab’s nich. War so’n kleener Laden in Friedrichshagen.“ „Stimmt“, sagte Hypko, „der Inhaber heißt Schottke.“ Er nannte noch Straße und Hausnummer. „Wir können Ihnen noch eine ganze Latte Einbrüche nachweisen. Das Diebesgut, das wir bei Ihnen gefunden haben, ist identifiziert worden.“ „Ich war doch nicht krank“, sagte Krücke empört. Hypko begriff nicht sofort, aber Oberleutnant Bach sagte schmunzelnd: „Nicht desinfiziert, Krücke, sondern identifiziert.“ Und er erklärte ihm den Ausdruck. Krücke sagte ärgerlich: „Na, wenn Se alles besser wissen, da machen Se doch, was Se wollen!“ Hypko überhörte das. „Die Garnitur lag in der Matratzenfüllung. Sie sehen, wir sind gründlich vorgegangen. Wir haben den doppelten Boden Ihres Schrankes ebenso ausgeräumt wie das Diebesgut, das unter den Dielen steckte. Ihr Burschen glaubt, ihr hättet euch wunder was einfallen lassen, und vergeßt, daß alles, was Menschen verstecken, auch von Menschen gefunden werden kann. Also, machen wir weiter: drei Transistorengeräte und ein Plattenspieler stammen aus …“ Krücke stöhnte, krümmte sich und bekam Gesichtszucken. Hypko hielt inne und blickte ihn an. Dann sagte er ruhig: „Mit der Zeit wird das aber auch langweilig, Krücke. Die kleinen Brüche zugeben und bei den großen das Gesichtszucken kriegen! Verurteilt werden Sie trotzdem.“ 225
Oberleutnant Bach fügte hinzu: „Wenn Sie der Bruch im Radiogeschäft nachträglich so schmerzt, können wir ja erst einmal von Ihrer Walther sprechen. Ich habe sie gefunden. Sie war mit zwei Lederriemen an der unteren Seite des Nachttisches befestigt. Übrigens ist vor nicht allzulanger Zeit daraus geschossen worden. Wen hatten Sie denn aufs Korn genommen?“ „’ne Krähe“, antwortete Krücke böse. „’ne olle schwarze Krähe! Draußen auf ’n Rieselfeldern.“ Das Gesichtszucken hatte sich wieder gelegt. „Allein der Besitz einer Waffe reißt Sie ganz schön ’rein“, sagte Hypko. „Sie haben doch dieses Ding nicht aufbewahrt, um Krähen zu schießen und anschließend eingesperrt zu werden.“ Krücke grinste, fletschte die Zähne und schwieg. „Na, was wollten Sie nun damit?“ fragte Hypko. „Hatten Sie vor, gelegentlich eine neue Regierung zu bilden, oder wollten Sie schnell zu einer Erbschaft kommen?“ „Nee, is nich.“ Krücke hob beinahe bedauernd die Schultern. „Reiche Tante fehlt. Hab’ die Knarre eben bloß nich weggeschmissen.“ Hypko sagte ihm auch, daß man seine unterirdische Filiale an der Pankower Parkmauer entdeckt hätte. Vom Städtischen Bauamt wußte Hypko inzwischen, daß dieser Einstieg zu einem alten Heizungskanal führte, der stark baufällig und teilweise verschüttet war. Er fürchtete, Krücke würde abstreiten, diesen Einstieg überhaupt zu kennen, doch diesmal grinste Krücke belustigt und fragte: „Sind Se etwa ’runter?“ „Nicht nur hinunter“, entgegnete Hypko, „sondern auch schwer beladen wieder ’rauf. Und spätestens da ist uns klargeworden, daß Sie das alles nicht allein gestohlen haben können. Wer sind die übrigen Ganoven?“ 226
Krücke setzte sich steif auf und mühte sich, ein würdevolles Gesicht zu ziehen, aber er sah nur komisch aus. „Meine Ehre lass’ ich mich nich angreifen“, sagte er abweisend. „Denken Se, was Se woll’n, und machen Se mir meinethalben zum Zuchthäusler, aber zum Verräter machen Se mir nich.“ „Das war aber mal beeindruckend“, meinte Oberleutnant Bach, ohne von dem Schriftstück, das er eben las, hochzublicken. Hypko gab Krücke zu verstehen, daß er nicht der einzige sei, der in Untersuchungshaft säße. „Wen ham Se denn noch hochgenommen?“ fragte Krücke. „Fragen Sie ruhig weiter“, riet ihm Hypko freundlich. „Meinetwegen können wir für ein paar Minuten die Rollen tauschen – Sie fragen, und wir schweigen.“ Krücke wurde sichtlich unruhig, und nach einer Weile sagte er zu Hypko: „Das ist unfair. Sie haben die Luschen in der Hand, und von mir verlangen Se, daß ich Null ouvert spiele. Fragen Se doch jeden selber, was er gemacht hat.“ „In Ordnung.“ Hypko schob Krücke eine Schachtel Zigaretten über den Schreibtisch. „Und wen soll ich fragen?“ „Ham Se mir verkohlt?“ fragte Krücke erschrocken. „Sitze ich alleine? Bloß ich?“ Er langte eine Zigarette aus der Packung, schob sie sich hinters Ohr und griff nach einer zweiten. „Danke ooch.“ Hypko hielt ihm schweigend das Feuerzeug hin. Krücke rauchte zwei, drei Züge, beugte sich über den Schreibtisch und fragte: „Ehrlich, wen ham Se noch?“ Er flüsterte fast und sah Hypko an, als erwarte er, daß der im nächsten Augenblick bewußtlos vor ihm zusammen227
brechen würde. „Wer hat mir verpfiffen?“ fragte er scharf. Oberleutnant Rüdiger, der ebenfalls im Zimmer saß, seufzte. „Mich, Krücke, ‚mich‘ heißt das.“ Krücke sah sich ärgerlich nach ihm um, und Hypko sagte: „Heute ist ‚mir‘ dran. Dagegen kannst du nichts machen.“ Und zu Krücke gewandt: „Sie sind gesehen worden.“ „Gloob ich.“ Krücke warf den Kopf in den Nacken und blies Rauchwolken gegen die Decke. „Bin ja nich unsichtbar.“ Plötzlich ließ er sich nach vorn fallen, stützte die Unterarme auf den Schreibtisch und sah Hauptmann Hypko aus zusammengekniffenen Augen lauernd an. „War’s der Fuchs?“ fragte er. „Wenn Sie mir so über dem Schreibtisch hängen“, sagte Hypko, „kann ich kein ordentliches Protokoll schreiben. Setzen Sie sich anständig hin. Warum soll es denn der Fuchs gewesen sein? Warum nicht Eddi Kischkoweit?“ Krücke wollte die Arme vom Tisch nehmen, aber als der Hauptmann den Namen Kischkoweit nannte, hielt er mitten in der Bewegung inne, die Arme leicht angehoben und ausgestreckt, als wolle er von sich weisen, was er da gehört hatte. „Der Lange? Nee, der kloppt mir zwar halbtot und bestreut mir hinterher mit Zucker, der zieht ooch seine Nullacht, wenn’s böse kommt, aber Lampen setzt der nich.“ Und nach einer Weile, als die Kriminalisten hartnäckig schwiegen, fügte Krücke enttäuscht hinzu: „So, den Langen ham Se also ooch.“ „Bis jetzt noch nicht“, sagte Oberleutnant Rüdiger. Krücke fuhr herum, starrte ungläubig von Rüdiger zu Hypko. „Den ham Se nich?“ Dann brüllte er los: „Und mir 228
bring Se so weit, daß ich über Eddi quassel? Sind ’n das für Methoden, wa?“ „Wie es aussieht, sind es die richtigen für euch Burschen“, sagte Rüdiger. Krücke lief vor Wut rot an, und seine bohnengroßen Pocken färbten sich lila. „Nicht aufregen“, riet ihm Hypko freundlich. „Wir kriegen Eddi doch sowieso. Wenn Sie uns dabei helfen, schaffen wir es allerdings schneller.“ „Ihnen werd’ ich grade helfen.“ Hypko überhörte das. „Sehen Sie, der Eddi, das ist einer, für den Sie zum Beispiel den dummen August machen sollen. Der rechnet damit, daß Sie schweigen und die Jahre, die er zu kriegen hätte, noch mit auf Ihr Konto nehmen. Er wird währenddessen in Neuenhagen sitzen, den ehrenwerten Bürger spielen und es sich gut gehen lassen. Sehr gut sogar.“ Krücke blies wieder Rauchwolken gegen die Decke und sah ihnen nach. „Da is schon was dran“, sinnierte er. „Da is allerdings was dran.“ Er rauchte die Zigarette schweigend zu Ende. Auch die Kriminalisten sagten nichts. Krücke drückte den Stummel im Ascher aus, und ohne jemanden anzusehen, sagte er: „Wenn ich auspacke … ich meine, irgendwas müßte mir das aber einbringen. Sagen wir, für fünf Dinger, die ich Ihnen von Eddi stecke, lassen Se eins von mir untern Tisch fallen …“ „Wir sind hier nicht auf dem schwarzen Markt“, brüllte Rüdiger, und Krücke zuckte zusammen. Hauptmann Hypko kam hinter dem Schreibtisch vor und stellte sich neben Krückes Stuhl. „Ich habe das Theater jetzt auch satt“, sagte er. „Wir sind nicht auf Sie angewiesen. Aber wenn einer einen Schlußstrich zieht und 229
alles freiweg gesteht, dann haben wir das noch immer zu schätzen gewußt.“ Krücke kroch in sich zusammen und begann zu winseln. Dann bekam er das Zucken im Gesicht. Hypko war sicher, daß er ihnen wieder etwas vormachte, griff zum Telefon und rief den Wachtmeister, der Krücke gebracht hat. „’raus mit Ihnen“, schrie er Krücke an. „Spielen Sie in Ihrer Zelle verrückt.“ Krücke sprang auf, vergaß, mit den Gesichtsmuskeln zu zucken, und sagte weinerlich: „Wo mir doch das lange Gefrage wirklich so anstrengen tut.“ „Ihre Schuld“, entgegnete Rüdiger, „wir hätten es gern kürzer gemacht.“ Der Wachtmeister trat ein. Hypko zeigte auf Krücke. „Nehmen Sie ihn wieder mit. Und wenn er einen Arzt braucht, bringen Sie ihn hin.“ Nachdem Krücke das Zimmer verlassen hatte, sagte Rüdiger : „Wenn der wüßte, was er uns verraten hat. Nun aber ’ran an Kischkoweit! Du hast also doch recht gehabt.“ Hypko lehnte sich an die Schreibtischkante, sog an der Oberlippe und sah Rüdiger nachdenklich an. „Kischkoweit“, sagte er endlich, „Edwin Kischkoweit und eine Nullacht. Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und zog ein Gesicht, als laufe er seinen Gedanken hinterher. Nach einer Weile ließ er Oberleutnant Bach rufen und unterrichtete ihn über das, was er eben von Krücke über Kischkoweit erfahren hatte. „Wenn wir diesem Kischkoweit die Nullacht nicht gerade aus der Hosentasche ziehen und sie ihm vor die Nase halten, wird er nichts zugeben“, sagte Rüdiger. „Ich kenne ihn, er ist uns schon ein paarmal durch die Finger 230
gerutscht, weil wir ihm nichts beweisen konnten.“ Oberleutnant Bach fragte, was man über Norbert Schattan, Kischkoweits Freund, erfahren habe. „Nicht viel“, entgegnete Hypko. „Er lebt seit einiger Zeit sehr zurückgezogen, und man kann ihm nicht beikommen. Wenn wir Schattan veranlassen könnten, über seinen Freund auszusagen, dann würden auch die Indizien gegen Kischkoweit ausreichen.“ Rüdiger sagte: „Man müßte mal bei Schattan ’reinschauen. Manchmal sieht man das eine oder andre, womit sich etwas anfangen ließe.“ „Nun gut“, stimmte Hypko zu. „Schaut nach, ob in den letzten Tagen in der Umgebung von Seeberg irgend etwas geschehen ist. Es kann harmlos sein, aber wir nehmen es als Anlaß, der Familie Schattan ein paar Fragen zu stellen.“ Oberleutnant Bach und Oberleutnant Rüdiger gingen zu ihren Telefonen. Bach erhielt zuerst einen brauchbaren Hinweis : Ana Vortage war in Seeberg eine Scheune abgebrannt. Der Schaden war nicht groß, aber die Brandursache mußte trotzdem ermittelt werden. Hauptmann Hypko entschied, daß sich Bach und Rüdiger sofort nach Seeberg begeben sollten, da Schattan bis zum späten Nachmittag zu Hause anzutreffen war. Erst gegen Abend fuhr er ins Maxim-Gorki-Theater. Am liebsten wäre Hypko selbst mitgefahren, aber Schattan kannte ihn. Über Rüdiger wußte Schattan zwar, daß er Kriminalist war, er glaubte jedoch, dessen Zuständigkeitsbereich sei Strausberg. Oberleutnant Bach konnte sich, ohne Verdacht zu erwecken, als Brandexperte ausgeben. „Seid vorsichtig“, mahnte Hypko. „Schattans Beobachter hat uns mitgeteilt, daß im Garten ein Hund herum231
tobt, der bissiger ist als drei sitzengebliebene alte Jungfern.“ Die Augustsonne schien auf das weinumrankte Häuschen mit der herabhängenden Dachrinne, auf die Büsche und Hecken und Sommerblumen in dem verwilderten Vorgarten, von dem man annehmen konnte, er stehe unter Naturschutz. „Schattans verwunschenes Märchenschloß“, sagte Oberleutnant Bach. Rüdiger nickte. „Da kommt auch schon der Drache. Zünftig, wie es sich gehört.“ Eine hochgewachsene, braun und weiß gefleckte Dogge setzte über Hecken, Steine und Blumen, blieb vor dem Gartentor stehen und bellte. Sie kläffte so laut, daß Bach nicht verstehen konnte, was Rüdiger ihm zurief. Rüdiger drückte den Klingelknopf. Im Parterre wurde ein Fenster geöffnet, eine Frau mit pausbäckigem Gesicht und verwuschelten Haaren steckte ihren Kopf heraus und schrie: „Nick, halt’s Maul!“ Die Dogge setzte sich, knurrte noch ein bißchen und blickte die Kriminalisten so begehrlich an, als sei sie zum Frühstück nicht satt geworden. „Was ist denn?“ fragte die Frau. „Wir möchten mal ’reinkommen und mit Ihnen sprechen“, rief ihr Rüdiger zu. „Es handelt sich um den Scheunenbrand in Seeberg.“ Die Frau schwieg, und Bach fragte: „Können Sie das Kätzchen nicht mal für einen Augenblick auf den Schoß nehmen?“ Er zeigte auf Nick, die Dogge. „Wir haben die Scheune nicht angesteckt“, keifte die Frau. „Sie brauchen gar nicht erst ’reinzukommen.“ Rüdiger hielt seinen Ausweis hoch. „Den würde ich Ihnen gern von nahem zeigen. Ich bin gewohnt, damit 232
überall hereingelassen zu weiden.“ „So“, sagte die Frau giftig, „dann zeigen Sie ihn doch Nick. Vielleicht hat der Respekt davor!“ Das Fenster klappte zu. Bach und Rüdiger starrten sich erst gegenseitig und dann wieder die Dogge an. Da summte es leise am Gartentor, Bach drückte die Klinke, und die Tür gab nach. Mit einer Kopfbewegung zu der Dogge hin sagte er: „Nick scheint erst das Vorspiel gewesen zu sein zu dem, was uns da drinnen erwartet.“ Er öffnete die Tür so weit, daß er eintreten konnte, fuhr aber gleich wieder zurück und stieß dabei seinen Ellenbogen in Rüdigers Magen. Nick war an Oberleutnant Bach hochgesprungen und hatte den Knopf des Sommermantels im Maul, als er wieder von ihm abließ. Rüdiger hielt sich den Magen und stöhnte. „Das schlimmste ist“, sagte er, „daß die jetzt hinter den Gardinen stehen und das alles sehr lustig finden.“ „So“, sagte Bach und schob die rechte Hand unter Mantel und Jackett zur linken Achselhöhle hin. „Nun wollen wir mal hören, wie laut sie lachen, wenn wir so tun als ob.“ Er zog die Hand wieder hervor, hielt seine Dienstpistole gepackt und zielte damit auf Nick. Augenblicklich flogen im Hexenhäuschen drei Fenster auf, und ein halbes Dutzend Stimmen und Stimmchen schrien, heulten, schimpften und flehten, er möge Nick nichts antun. Sie alle wurden übertönt von einer Männerstimme, die befahl: „Komm ’rein, Nick!“ Die Dogge warf den Kriminalisten einen Blick zu, der bedeuten konnte: ‚Hoffentlich klappt’s andermal‘, und sprang zum Haus. Oberleutnant Bach steckte die Pistole ein und betrat mit Rüdiger den Garten. In der Haustür stand die Frau mit dem pausbäckigen Gesicht und tat sehr empört: „Na, 233
Sie gehen aber ’ran!“ Bach, der noch ein bißchen wütend war, lief einfach an ihr vorbei ins Haus hinein. Rüdiger grinste sie an und sagte leise: „Das war noch gar nichts. Neulich muht ihn doch ein Ochse an, und ich denke, er will ihn streicheln, dabei dreht er ihm die Hörner nach unten und das Maul nach oben, und im Konsum gab’s am nächsten Tag Ochsenschwanz. Am besten ist, man tut, was er sagt.“ Lore Schattan lächelte säuerlich, Rüdiger ließ sie stehen, ging ins Haus und öffnete eine Tür, die nur angelehnt war. Er stand auf der Schwelle eines Zimmers, das voll war von Zigarettenrauch, Lärm und Kindern. An der Fensterfront stand Oberleutnant Bach und mühte sich, mit einem Mann zu sprechen, der ein freches, spitzes Gesicht mit einem dünnen Bärtchen auf der Oberlippe hatte. Es war Norbert Schattan. „Guten Tag“, rief Rüdiger, verständigte sich durch einen Blick mit Bach und wandte sich an die Kinder. „Gestern“, sagte er, „hat es hier gebrannt. Hier irgendwo ganz in der Nähe.“ Ein Steppke, der vom Vater das Fuchsgesicht und von der Mutter den Wuschelkopf geerbt hatte, rief: „Ich war dort! Bist du von der Feuerwehr? Ihr habt aber ganz schön geschlafen.“ Die Kinder lachten, brüllten oder kicherten, je nach Temperament und Stimmvermögen, und Rüdiger rief: „Kommt, wir gehen mal in ein anderes Zimmer, hier stören wir Papa und meinen Kollegen.“ Sie stürzten hinaus, zogen Rüdiger mit sich und landeten schließlich in einem Raum, der Wohn- oder Schlafoder Spielzimmer sein konnte oder auch alles zusammen. Er sah unordentlich und sehr schmutzig aus. Rüdiger unterhielt sich mit den Kindern, lief dabei im Zimmer hin und her und sah sich aufmerksam um: Auf 234
der Couch lag ein zusammengedrücktes Federbett, dessen Bezug aussah, als habe Schattans Großmutter schon darin geschlafen. Kleidungsstücke, alle aus Synthetik oder gutem leichtem Wollstoff, lagen umher. Teure, aber zum Teil recht strapazierte Spielsachen bedeckten Fußboden und Möbel und wurden von den Kindern ebenso achtlos umhergestoßen wie Schuhe, Handtaschen und Schulmappen. Und dann sah Rüdiger den Nußknacker. Er stand auf einem Spielzeugregal neben einer kitschigen Porzellanfigur, mochte einen halben Meter hoch sein und war aus dunklem hartem Holz geschnitzt. Ein rechtes Prachtstück. Er hatte einen Ausdruck im Gesicht, der einen fröhlich stimmte, und auch sein breiter großer Mund sah lustig aus. In Rüdigers Kopf jagten sich die Gedanken. Der Kriminalist hob den Nußknacker an, fragte die Kinder: „Wem gehört denn der? Der ist aber prima!“ und schaute unauffällig nach dem Firmenzeichen. „Uns gehört er!“ riefen die Kinder. „Uns allen. Papi hat ihn uns geschenkt.“ Rüdiger dachte: So wie das hier aussieht, kann man annehmen, daß Familie Schattan kaum Sinn für Kultur im Heim und auch herzlich wenig Verständnis für Kunstgegenstände hat. Ein erzgebirgischer handgeschnitzter Nußknacker aus gutem Holz, ein schönes und seltenes Stück – das paßte nicht zu der Unordnung und zu dem Schmutz, und es paßte nicht zwischen Kinderspielzeug und neben eine Kitschfigur. Er steht zufällig hier herum, ist vielleicht zufällig von einem mitgenommen worden, der alles einsteckt, was sich anbietet … Ein Mädchen mit dünnen, kurzen Zöpfen griff nach einem Kinderstrumpf, der neben dem Nußknacker auf dem Regal lag, und rief: „Guckt mal, der Knack hat ein Loch in meinen Strumpf gebissen!“ Wieder grölten die 235
Kinder, die Tür wurde aufgerissen, und Frau Schattan brüllte: „Ruhe!“ Aber sehr viel machten sich die Kinder nicht daraus. Zu Oberleutnant Rüdiger sagte die Frau böse: „Sie fühlen sich wohl wie zu Hause hier, was?“ „N-nein“, antwortete Rüdiger zögernd, sah den schmutzigen Fußboden an, die umherliegenden Schuhe und Taschen und das schmuddelige Bett. „Nein, so fühle ich mich eigentlich nicht.“ „Dann scheren Sie sich doch weg“, schimpfte die Frau und stemmte die Arme in die Hüften, „ich habe Sie nicht herbestellt.“ „Warum sind Sie eigentlich so bissig?“ fragte Rüdiger. „Das steht doch dem Nick viel besser.“ Statt einer Antwort fragte sie barsch: „Haben Sie nun ’rausgekriegt, warum es gebrannt hat?“ „So nach und nach kriegen wir alles ’raus“, sagte Rüdiger, verabschiedete sich von den Kindern, nickte Frau Schattan freundlich zu und ging aus dem Zimmer. Oberleutnant Bach stand schon im Flur. Schweigend verließen sie das Haus. Als sie noch ungefähr drei Meter vom Gartentor entfernt waren, hörten sie hinter sich ein Geräusch und blickten sich gleichzeitig um. Nick setzte gerade über einen Heckenrosenstrauch und fletschte die Zähne. Rüdiger war zuerst am Gartentor und zerrte den korpulenten Bach auf die Straße, bevor Nick wütend am Gartentor hochsprang. „Hier reißen alle ganz fürchterlich das Maul auf“, stieß Rüdiger hervor, „die Frau, die Kinder, Nick – und der Nußknacker.“ Und er erzählte Bach von seiner Entdeckung. Im Präsidium fand Rüdiger den Nußknacker, den er bei Schattan gesehen hatte, in der Diebesgutkartei aufge236
führt. Die Herstellerfirma und einige Merkmale, die angegeben waren und die er sich eingeprägt hatte, stimmten überein. „Wir greifen zu“, entschied Hauptmann Hypko. „Ich beantrage Haft- und Durchsuchungsanordnungen für Norbert Schattan und Edwin Kischkoweit, und dann arbeiten wir einen präzisen Zeitplan aus.“ „Um in Schattans Diebesschloß einzudringen, brauchen wir aber einen Siegfried, der Nick, den Drachen, besiegt“, sagte Oberleutnant Bach und betrachtete wehmütig die Stelle seines Mantels, an der vor Stunden noch ein Knopf geprangt hatte. „Puchlich“, sagte Hypko, „wir nehmen Leutnant Puchlich mit, den Hundespezialisten.“ Der Staatsanwalt stellte Hypko nicht nur die Anordnungen aus, sondern wünschte auch bei Schattans Festnahme dabeizusein. Die Verhaftung sollte von Bach, Rüdiger und dem Staatsanwalt geleitet werden. Hypko wollte zur gleichen Zeit mit einem entsprechenden Polizeiaufgebot Edwin Kischkoweit festnehmen. Zusammen mit dem Staatsanwalt arbeiteten sie den Zeitplan aus. Dann informierten sie Puchlich, einen dicken Leutnant mit einem gutmütigen Gesicht. Bach und Rüdiger beschrieben ihm Nick als ein zähnefletschendes Ungeheuer, gegen das der Hund von Baskerville ein Schoßhündchen sei. „Ein liebes Tierle!“ Leutnant Puchlich strahlte, als wäre ihm soeben eine Gehaltserhöhung zugesichert worden. „Grad so muß ein Hunderl sein. Ich werď ihm das Fell kraule, und Sie könne unbesorgt das Haus auseinandernehme.“ Norbert Schattan kehrte erst kurz vor Mitternacht aus Berlin zurück. Da Lore noch nicht schlief, unterhielt er 237
sich mit ihr über den Besuch der Polizisten. Wenn Schattan zu Hause war, vergingen keine zwei Stunden, ohne daß er auf dieses Ereignis zu sprechen kam. Er war beunruhigt, da er nicht glauben konnte, daß sie wegen einer morschen, abgebrannten Scheune zu ihm gekommen waren; er war ärgerlich, weil er nicht herausfand, was sie wirklich gewollt hatten. Lore meinte, er solle Kischkoweit um Rat fragen, doch das hielt »Schattan für zwecklos. „Der Lange ist verliebt“, sagte er, „und das hat ihm das Rückgrat gebrochen.“ „Zeiten sind das“, sagte Lore, drehte sich zur Seite und schlief ein. Schattan hing noch lange seinen trüben Gedanken nach, und als er endlich einschlummerte, quälten ihn böse Träume. Er wälzte sich im Bett herum und schlief unruhig wie einer, der zum erstenmal im Leben ein schlechtes Gewissen hat. Gegen vier Uhr war er schon wieder wach, und um nicht wieder ins Grübeln zu verfallen, zwang er sich, dem Wind zuzuhören, der durch die Bäume strich. Manchmal knarrten die Äste der alten Obstbäume, oder ein Apfel plumpste ins Gras. Selbst diese Geräusche zerrten in dieser Nacht an seinen Nerven. Das ungesunde Wachsein bereitete ihm nahezu körperliche Schmerzen. Ab und zu fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl es nicht kalt war. Und mit einemmal hörte er ein feines Geräusch, das ihm das Blut zum Herzen drängte und die Luft knapp werden ließ. Es war ein leises Knacken im Türschloß. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Schattan, das alles schon einmal erlebt zu haben, erinnerte sich, daß es eine ähnliche Situation gegeben hatte, damals, als ihn der Kunstmaler in der fremden Wohnung überrascht hatte. Aber jetzt lag er im 238
Bett, in seiner eigenen Wohnung, und wer … Mit einem Satz sprang Schattan aus dem Bett und verkroch sich hinter den langen Übergardinen. Eine Pistole müßte man haben, dachte er. Der zweite Gedanke war, zum Fenster hinauszuspringen, und der dritte, daß er im Pyjama wohl nicht weit kommen würde. Dann redete er sich ein, es wäre Kischkoweit, der beweisen wollte, daß er doch kein Scheißkerl sei und noch etwas tauge. Natürlich, es mußte Kischkoweit sein, denn der war der einzige, den Nick ungeschoren hereinließ. Daß er daran nicht gedacht hatte! Schattan kam hinter der Gardine vor und riß die Schlafzimmertür auf. Im gleichen Moment stieß im Korridor jemand gegen etwas Klappriges, Blechernes, das den Fußboden entlangschepperte und gegen die Badtür knallte. Dann hörte man einen dumpfen Fall und einen gräßlichen Fluch. Schattan wollte die Schlafzimmertür Zuschlagen und zum Fenster springen, doch der Schein einer sehr starken Taschenlampe blendete ihn. „Bleiben Sie stehen!“ rief jemand. „Sie sind verhaftet.“ Das Korridorlicht flammte auf, und vor Schattan standen zwei Männer, die ihre Pistolen auf ihn richteten. Der dritte, der sicherlich das gleiche vorgehabt hatte, saß auf dem Fußboden und schimpfte über den verfluchten Saustall, in den er hineingeraten sei. Damit war er keineswegs im Unrecht, denn Lore Schattan hatte in ihrer unbekümmerten Art abends mitten im Korridor den Eimer mit Schweinefutter abgestellt, der Oberleutnant Rüdiger nun zum Verhängnis geworden war. Während Rüdiger sich aufrappelte, zeigte Oberleutnant Bach die Haft-‚und Durchsuchungsanordnung vor. Schattan wußte, daß es zu Ende war, und ließ sich wider239
standslos die Handfessel anlegen, doch ein Schauer überlief ihn, als er das Eisen am Handgelenk spürte; er sah sehr unglücklich aus. Inzwischen war auch Lore Schattan wach geworden. Sie kam aus dem Schlafzimmer, rieb sich die Augen und fragte mißtrauisch: „Norbert, sind das Freunde von dir?“ Schattan schwieg, und da wurde Lore endgültig wach. Sie erkannte Bach und Rüdiger, sah den umgestürzten Eimer und tobte los. Doch plötzlich hielt sie mitten in einem Satz inne und schrie Bach an: „Wo ist Nick? Haben Sie Nick etwas getan?“ „Nein“, antwortete Bach. Rüdiger wischte an seiner Hose herum, die feucht war und nach Schweinefutter roch, und sagte: „Wir haben ihm nichts getan und er uns nichts.“ Lore Schattan ging zurück ins Schlafzimmer. Oberleutnant Bach blieb bei Schattan, der Staatsanwalt und Rüdiger folgten der Frau. Sie öffnete das Fenster und rief nach Nick. Irgendwo im Garten bellte es freudig, und dann kam Nick langsam neben seinem neuen Freund Puchlich auf das Haus zu. „Auf keinen Hund ist mehr Verlaß“, sagte Lore Schattan enttäuscht. Sie setzte sich auf den Bettrand und zog ein Gesicht, als habe sie sich mit der einen Hälfte der Menschheit verfeindet und die andere Hälfte der Menschheit mit ihr. Im oberen Stockwerk waren inzwischen die Kinder wach geworden, trampelten, stolperten, purzelten die Treppe herab, sahen ihren Vater in Handschellen und die Mutter heulend auf dem Bettrand sitzen und begannen zu jammern, zu schreien und zu schimpfen. Der Staatsanwalt brachte sie so weit, daß sie sich alle in ein Zimmer bringen ließen. Bach und Rüdiger riefen die Schutzpoli240
zisten heran, die vor dem Haus warteten; sie führten Schattan ab. Mit der Wohnungsdurchsuchung begannen sie in dem Zimmer, in dem der Nußknacker stand. Der Staatsanwalt sagte zu einem Mädchen, das er auf zehn Jahre schätzte: „Hol den Besen und feg mal hier aus. Man kommt sich ja vor wie auf ’m Acker.“ Das Mädchen sah ihn verständnislos an. „Ausfegen? Warum denn? Das machen wir doch sonst auch nicht.“ „Eben“, sagte der Staatsanwalt und räumte mit spitzen Fingern ein Schubfach aus, in dem schmutzige Wäsche, drei Tafeln Schokolade und ein kleiner grauer Plüschelefant lagen. Ein kleines Mädchen mit dünnen Zöpfen steckte den Kopf zur Tür hinein, fragte, ob es nun den ganzen Tag im Zimmer bleiben müßte, und jauchzte, als es den Elefanten in der Hand des Staatsanwaltes entdeckte. „Mein Fanti!“ rief es. „Der gute Onkel hat meinen Fanti wiedergefunden!“ Die Kleine zählte noch einige Spielsachen auf, die sie vermißte, und der Staatsanwalt sagte: „Die finden wir auch noch. Wir finden alles. Alles.“ Aber als das Kind vor Freude in die Hände klatschte und zur Tür hinaustanzte, sah er ihm nach wie jemandem, den man mit einem Tausendmarkschein aus der Inflationszeit bezahlt und der das für bare Münze genommen hat. Um drei Uhr fünfundvierzig befanden sich in Neuenhagen die Straßen und Wege unter polizeilicher Kontrolle, und um drei Uhr fünfzig war Kischkoweits Haus umstellt. Hauptmann Hypko und drei weitere Kriminalisten kletterten über den Zaun und schlichen sich durch den Vorgarten. 241
Im ersten Stockwerk war ein Fenster erleuchtet. Hier hatte das Licht die ganze Nacht über gebrannt. Gegen einundzwanzig Uhr war Kischkoweit mit seinem Wagen in die Garage gefahren; er hatte sich den Blicken seiner Beobachter entzogen. Von der Straße aus konnten sie auch nicht sehen, ob Kischkoweit Besuch mitgebracht hatte. Hauptmann Hypko ordnete an, den Zeitplan unbedingt einzuhalten, rasch in das Haus einzudringen und Edwin Kischkoweit festzunehmen, ganz gleich, ob er mit einem Gast in seinem Zimmer saß oder einfach vergessen hatte, das Licht auszuschalten. Um drei Uhr fünfundfünfzig wies Hypko stumm auf ein zweigeteiltes Toilettenfenster, dessen obere Scheibe einen Spalt breit geöffnet war. Einer der Kriminalisten lehnte sich gegen die Hauswand, Oberleutnant Gehricke aus Hypkos Einsatzgruppe kletterte auf seine Schulter, griff durch das Oberfenster, schob einen Riegel zurück und öffnete den ganzen Fensterflügel. Mit einem Ruck zog er sich hoch und wollte sich gerade über die Fensterbrüstung schwingen, als jemand von innen die Haustür aufschloß. Hypko sprang um die Ecke, bevor die Haustür geöffnet wurde, und drückte sich, ebenso wie die beiden anderen Kriminalisten, gegen die Hauswand. Sie zogen ihre Pistolen und warteten, daß Kischkoweit, oder wer immer es sein mochte, um die Hausecke bog. Gehricke hing still an der Fensterbrüstung und bekam langsam steife Arme. Die Haustür wurde wieder ins Schloß gezogen. Mit großen schweren Schritten kam jemand die Vortreppe herunter, und neben diesen kräftigen Schritten hörte man kleine, trippelnde. Eine Gestalt, hochgewachsen und breitschultrig, bog um die Ecke. Hypko erkannte Edwin 242
Kischkoweit, war mit einem Satz bei ihm und bog ihm die Arme nach hinten. Kischkoweit begriff erst, was vorging, als die Handschellen einschnappten. Er erkannte Eberhard Hypko und schrie dessen Namen so laut, daß die Kriminalisten, die ihn abführen wollten, zurückzuckten. Da er nicht um sich schlagen konnte, trat er Hypko gegen das Schienbein. Hypko verbiß sich den Schmerz und sagte ruhig: „Laß das, Eddi, ich bin im Dienst.“ In mancher schlaflosen Nacht hatte sich Eberhard Hypko ausgemalt, wie es sein würde, wenn er Eddi zum zweitenmal festnehmen mußte, wenn er vor ihm stehen würde mit der Pistole in der Hand. Eddi in Handschellen … Nun, da es soweit war, hätte er am liebsten an einen Wachtraum geglaubt. Es gab sicherlich einige Kriminalisten, die stolz gewesen wären, jetzt an seiner Stelle zu stehen, die triumphiert hätten, da Kischkoweit endlich verhaftet war. Hypko aber kämpfte gegen eine dumpfe Traurigkeit an. Er hörte einen der Kriminalisten fragen: „Und wer sind Sie?“ Hinter Kischkoweits breitem Rücken stand eine Frau, kroch in sich zusammen. „Henny“, sagte Hypko müde. Sie sah sehr blaß aus in dem Morgenlicht, das heraufdämmerte. Langsam wandte sie sich Kischkoweit zu und sagte leise: „Du hast mich wieder belogen, Eddi.“ Es hörte sich nicht wie ein Vorwurf an, sondern klang, als ob jemand ein paar belanglose Worte sagt, mit denen er über einen großen Schmerz hinwegzutäuschen versucht. Henny suchte Kischkoweits Blick, und Hypko sah mit Erstaunen, daß Kischkoweit vor einem Menschen die Augen niederschlagen konnte. 243
Henny drehte sich zu Hypko um. „Und du hast auch gelogen“, sagte sie leise und enttäuscht. Hypko fiel es schwer, zu antworten. Er wünschte beinahe, Henny hätte geschimpft, geschrien wie Kischkoweit. Er sagte: „Ich habe dir geschrieben, du sollst selbst herausfinden, was aus ihm geworden ist, weil ich es auch nicht wüßte. Das hat gestimmt, damals. Heute wissen wir es beide.“ „Darf ich gehen?“ fragte Henny. Hypko sagte ja. Sie blickte weder Kischkoweit noch Hypko an, sondern lief schnell zum Gartentor. Gehricke begleitete sie und sagte den Polizisten, sie könne ohne Kontrolle die Absperrung passieren. Kischkoweit blickte ihr nach. Als sie in der Dämmerung nicht mehr zu sehen war, rief er: „Henny! Ich konnte dir doch nicht sagen … Ich wollte aufhören … Henny!“ Er schwieg plötzlich, reckte den Kopf ein wenig vor und lauschte. Hypko lauschte auch. Von Henny kam keine Antwort. Kischkoweit schloß die Augen und weinte. „Führen Sie ihn zum Wagen“, sagte Hypko leise zu einem der Kriminalisten. Als Kischkoweit spürte, daß ihn jemand am Arm faßte und zu ihm sagte: „Kommen Sie, Herr Kischkoweit“, lief ein Zucken über sein Gesicht, und der Ausdruck des Schmerzes verschwand. Sein Blick wurde kalt und gleichgültig, um den Mund lag wieder ein harter, brutaler Zug. Er preßte die Lippen aufeinander, zog die Mundwinkel nach unten und ging vor dem Kriminalisten her zum Wagen. Manchmal hatte Hypko gedacht, mit Kischkoweits Verhaftung sei der größte Teil der Arbeit getan, jetzt 244
wußte er, daß ihm das Schwerste noch bevorstand – er mußte Edwin Kischkoweit zu der Einsicht bringen, daß sein bisheriges Leben verpfuscht war, durfte ihm aber nicht den Mut zum Leben nehmen. Inzwischen hatte einer der Polizisten Zeugen für die Haussuchung herbeigebracht. Hauptmann Hypko begrüßte sie und ging mit ihnen ins Haus. Oberleutnant Gehricke und die Kriminalisten folgten. In dem Zimmer, in dem die ganze Nacht lang Licht gebrannt hatte, saß Frau Kischkoweit und sah ihnen gleichgültig entgegen. Hypko wußte nicht, ob sie Eddis Verhaftung vom Fenster aus mit angesehen hatte, und erklärte ihr, warum sie gekommen seien. „Er wollte sowieso weggehen“, erwiderte die Frau müde. „Mit dieser Henny wollte er weg. Sie haben die ganze Nacht hier gesessen und mir erzählt, wie anständig es von ihm sei, wenn er sich von mir trennt.“ Das hörte sich nicht ironisch an und auch nicht boshaft. Aber gerade weil es so gelassen klang, stieß sich Hypko daran. Frau Kischkoweit sah auch der Durchsuchung so ruhig zu, als sei sie daran gewöhnt, daß man ihr die Schrankfächer ausräumte, den Teppich einrollte, die lockeren Dielen hochhob und die Wände abklopfte. Die Kriminalisten suchten das Haus vom Dach bis zum Keller ab. Hypko war überzeugt, daß nicht nur die Textilien, das Geld, die optischen Geräte und all die anderen Gegenstände, die sie aus den Verstecken holten, gestohlen waren, sondern daß Kischkoweit auch Kleider und Möbel, vielleicht das ganze Haus von gestohlenem Geld gekauft hatte. Die Pistole fanden sie nicht. Frau Kischkoweit wußte angeblich weder von einer Pistole noch von dem Geld unter den Dielen und schon gar nichts von dem goldenen Ring, der unter ihrem Fahrradsattel befestigt war. Angeb245
lich wußte sie auch nicht, daß im Keller hinter der zweiten Reihe Holz Pralinenschachteln aufgeschichtet waren. „Was sagen Sie denn dazu?“ fragte Hypko. Die Frau zuckte mit den Schultern. „Meinen Sie, Ihr Mann hat das alles von dem Geld gekauft, das er bei Plitschke verdiente, und die Sachen versteckt, um Sie kommende Weihnachten damit zu überraschen?“ „Wer weiß“, erwiderte die Frau, und Hypko verzichtete erst einmal auf weitere Fragen. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Im Garten liefen zwei Genossen mit Minensuchgeräten umher. Da der Zähler nicht nur metallisches Diebesgut, sondern jeglichen Gegenstand aus Metall registrierte, hatten sie ein eisernes Bettgestell ausgegraben und einen Kessel. Als nächstes holten sie eine Kassette mit Geld und Schmuck unter dem Rasen hervor. Die Pistole fanden sie schließlich unter dem Rosenbeet. Das paßt zu Kischkoweit, dachte Hypko, Rosen und Pistole, liebevoll und rücksichtslos sein, schenken und stehlen. So ist Kischkoweit. Die Durchsuchung dauerte bis zum Abend. Der Hauptmann wußte, daß seine Leute Wochen brauchen würden, um alles zu registrieren, zu vergleichen, zu ermitteln, aus welchen Einbrüchen das Diebesgut stammte und wer die rechtmäßigen Eigentümer waren. Und wie lange wird es dauern, dachte er, bis ich Eddi zum Sprechen bringe? Hauptmann Hypko arbeitete eine Taktik für Kischkoweits Vernehmung aus. Dazu gehörte, daß er während der ersten vier Wochen, als er noch mit der Durchsicht und dem Einordnen des Diebesgutes beschäftigt war, sich nur wenig mit Kischkoweit beschäftigte. Manchmal, 246
wenn er in der Haftanstalt zu tun hatte und an Kischkoweits Zelle vorüberkam, sagte er freundlich „Guten Tag, Eddi“ und ging weiter. Fast stets saß Edwin Kischkoweit schweigend auf seiner Pritsche, den Kopf in die Hände gestützt; er machte den Eindruck eines Menschen, der über vieles nachzudenken hat. Schattan, Krücke und Liebing wurden beinahe jeden Tag vernommen. Krücke spielte weiterhin den Gequälten, wenn ihm die Fragen zu heikel erschienen. Schattan log in seiner schnoddrigen Art unbekümmert drauflos. Wiesen ihm die Kriminalisten seine Lügen nach, sagte er „Ach so“ und tischte ihnen die nächste auf. Alle drei gaben das zu, was man ihnen mit dem gefundenen Diebesgut nachweisen konnte. Doch es blieben noch ungeklärte Einbrüche offen, die nach Meinung der Kriminalisten ebenfalls auf das Konto dieses Trios kamen; deshalb erbaten sie vom Staatsanwalt eine längere Frist für die Ermittlungen. Sie hielten es für möglich, daß Liebing, Krücke und Schattan noch belastet würden, wenn Edwin Kischkoweit erst aussagte. Als Hauptmann Hypko Edwin Kischkoweit zur ersten Vernehmung vorführen ließ, erklärte er ihm, daß Leugnen keinen Sinn habe, da seine Mittätet ebenfalls gefaßt worden seien und bereits ausgesagt hätten. Hypko sprach freundlich, aber offiziell. Er wollte testen, ob Kischkoweit in sich gegangen war und freiwillig ein Geständnis ablegte. Kischkoweit sagte: „Damit Sie klarsehen und gar nicht erst viel Zeit mit mir vertun, Herr Hauptmann“ – das ‚Sie‘ und ‚Herr Hauptmann‘ kamen ihm schwer über die Lippen –, „ich bin kein Verbrecher und habe nichts zu gestehen.“ 247
Hypko war von dieser Auffassung keineswegs überrascht. Er hatte schon oft erlebt, daß sich Diebe und Einbrecher nicht zu den Verbrechern zählten. Darunter verstanden sie Leute, die mordeten, Häuser anzündeten oder sich an Kindern vergingen. Und Edwin Kischkoweit hatte sich von jeher für einen Mann gehalten, der schlauer war als andere Menschen und der deshalb auch anders lebte als sie. Das Wort Verbrecher hatte er noch nie auf sich bezogen. Hypko dachte, daß er sich zu gegebener Zeit einmal mit ihm darüber unterhalten müsse. Jetzt sagte er nur: „Sie hatten recht ausgeklügelte Verstecke in Ihrem Haus und im Garten, und was wir da herausgeholt haben, ist Diebesgut, ein Lastwagen voll Diebesgut.“ Kischkoweit ließ sich weder Erschrecken noch Erstaunen anmerken. „Ich habe das Haus und die Verstecke nicht gebaut, sondern das Grundstück mit dem fertigen Haus darauf gekauft. Für die Geheimverstecke meines Vorgängers kann man mich nicht verantwortlich machen.“ Und in überheblichem, zurechtweisendem Ton fügte er hinzu: „Darüber hätten Sie sich informieren sollen.“ Hauptmann Hypko sah ihn vorwurfsvoll an, klingelte nach dem Wachtmeister und befahl ihm, Kischkoweit in die Zelle zurückzubringen. Während der folgenden Vernehmungen saß Edwin Kischkoweit vor Hypkos Schreibtisch und schwieg. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Er reagierte auf nichts. Hypko ließ ihn sich täglich vorführen und sprach ein bis zwei Stunden in diese starre Maske hinein, in der nicht einmal mehr die Augen zu leben schienen. Er sprach nicht über Kischkoweits Straftaten, sondern über ihre gemeinsam verbrachten Jugendjahre, über Arbeit, Liebe, Glück, über Lebensfreude und Lebensziele. Er 248
sprach über sich selbst, über Kischkoweit und über Henny. Er malte Kischkoweit aus, wie er sein Leben hätte führen können und wie er es noch führen konnte, wenn er nur erst einmal die innere Bereitschaft zu einer Wandlung zeigte. Hypko hoffte, daß täglich wenigstens einige seiner Worte in Kischkoweit Bedenken, Protest oder Zustimmung auslösten. Er hielt ihn in Einzelhaft, so daß er sich mit niemandem austauschen konnte, denn er wollte in Kischkoweits Kopf Fragen über Fragen anhäufen, mit denen er eines Tages zu ihm kommen mußte. Außerdem suchte der Hauptmann nach einem handfesten Beweis, um Kischkoweit zu überführen. Von Schattan erhoffte er sich dabei keine Unterstützung; der log zu unbekümmert. Und Liebing war in dem Diebesquartett wohl der am wenigsten gewichtige Mann. Es blieb nur Krücke, mit dem es Hypko versuchen wollte. Eines Tages, als er ihn zur Vernehmung hatte vorführen lassen, sagte er.: „Den Eddi haben wir jetzt, aber er gibt nichts zu, und wir können ihm nichts beweisen. Wir werden ihn wieder laufenlassen und uns mit Schattan und Ihnen begnügen müssen.“ „Aber der muß doch Sore verscharrt ham“, widersprach Krücke. „Ham Se denn nischt gefunden?“ „Nein“, log Hypko. „Entweder hat er vorher alles zu Ihnen, zu Schattan und zu Liebing gebracht, oder er hat wirklich nichts damit zu tun.“ Krücke sprang auf und machte dem Hauptmann laut und gestenreich klar, daß diese Behauptung der Höhepunkt kriminalistischer Unfähigkeit sei. „Helfen Sie uns“, sagte Hypko ruhig. „Sie waren schließlich mit ihm zusammen, nicht ich. Irgendwann muß er doch mal einen Fehler gemacht haben, mit dem man ihn festnageln kann.“ 249
Krücke dachte so angestrengt nach, daß sich sein Gesicht verzerrte. Schließlich schien ihm ein wichtiger Gedanke gekommen zu sein. Er strahlte. „Herr Hauptmann, wie rechnen Se mir das an, wenn ich Ihnen helfen tu’?“ „Hoch“, sagte Hypko. „Sehr hoch.“ „Wie merk’ ich ’n das?“ „Ich schreib’s in den Schlußbericht. Das Gericht wird es dann schon richtig würdigen.“ Krücke überlegte. „Meinetwegen“, sagte er endlich, „mehr is bei Ihnen ohnehin nich ’rauszuholen. Aber versprechen Se mir, daß Sie’s Eddi gegenüber so hinbiegen, als wären Se selber draufgekommen.“ Hypko versprach es. Krücke setzte sich betont lässig zurecht und bekam den Blick nicht von Hypkos Zigaretten los. Der Hauptmann hielt sie ihm hin, er steckte sich wieder eine in den Mundwinkel und eine hinters Ohr und sagte: „So reď sich’s gleich besser.“ Und dann erzählte er, daß er drei Monate vor seiner Verhaftung zusammen mit Kischkoweit in Pankow eine Sauerstoffflasche für Schweißarbeiten aus einer Baubaracke gestohlen hatte. „Auf der Rückfahrt hat der Lange die Karre plötzlich angehalten und gesagt, er will umkehren. Ich frag’ noch, ob er ’ne Fotografie von sich hat liegenlassen, da guckt er mir wütend an und sagt, es wär’ noch viel schlimmer: mit seiner Pranke hätť er sich am Fenstersims und am Rahmen festgehalten und vergessen abzuwischen. Ich hab’ ihm ’n Vogel gezeigt und ihn bequasselt, daß auf so ’nem rauhen Holz keen Fachmann ’rauskriegen kann, wer da mal ’ruffgelangt hat. Der Lange hat genickt und ist weitergekurvt. Ich hab’ mir selber gewundert.“ Und als müßte er Kischkoweit verteidigen, fügte Krücke noch hinzu: „’n Gangster is halt ooch bloß 250
’n Mensch und hat seine schwachen Stunden.“ Dann beugte er sich etwas vor und blickte Hypko an. „Na? Können Se was anfangen mit die Annonce?“ „Mal sehen, was sich machen läßt.“ Hypko erfragte noch den genauen Ort und den Zeitpunkt der Tat, dann wurde Krücke wieder abgeführt. Der Hauptmann rief Oberleutnant Rüdiger und Bach zu sich und arbeitete mit ihnen einen Bluff aus, mit dem sie Kischkoweit fangen wollten. Am nächsten Tag ließ Hypko Kischkoweit wieder vorführen. Bis dahin hatte er ihn als „Herr Kischkoweit“ oder einfach als „Kischkoweit“ angesprochen und eine recht offizielle Tonart angeschlagen. Jetzt sagte er: „Eddi, ab heute ist es vorbei mit Hardys Monologen. Ich habe dir nun lange genug erzählt, wie ich über das Leben allgemein und speziell über deines denke. Ich hab’ dir auch erklärt, daß du noch einmal von vorn anfangen kannst, wenn es auch nicht gerade ein Zuckerlecken sein wird. Aber zuvor mußt du reinen Tisch machen. Fang an, Eddi, bei deinem ersten Bruch oder bei. dem letzten, meinetwegen auch mittendrin.“ „Wenn du meinst, daß ich einen Bruch gemacht habe, dann beweise es mir doch“, sagte Kischkoweit ruhig und überlegen. „Ich nehme dir diese Arbeit nicht ab.“ „Wie du willst“, entgegnete Hypko, „ich wollte dir eine Chance geben. Vor Gericht macht es einen besseren Eindruck, wenn man sagen kann, der Beschuldigte habe reumütig gestanden.“ Er telefonierte mit Rüdiger, und wenige Minuten später legte der Oberleutnant die Fotografien mehrerer Fingerabdrücke und ein Gutachten auf den Tisch. Der Hauptmann schob alles zu Kischkoweit hinüber. „Im Januar dieses Jahres“, sagte er, „bist du in Pankow in eine Baubaracke eingestiegen …“, und er 251
schilderte den Einbruch so, wie er sich nach Krückes Angaben abgespielt hatte. „Am Fenster haben wir Fingerabdrücke gefunden, am Sims zum Beispiel, aber die taugten nicht viel. Die vom Rahmen dagegen waren brauchbar. Sie sind identisch mit deinen. Hier …“, er zeigte auf die Fotografien, „überzeuge dich davon. Meinetwegen lies auch das Gutachten.“ Kischkoweit rührte sich nicht. „Vor Gericht sind Fingerspuren gültiges Beweismaterial.“ „Ich weiß“, sagte Kischkoweit leise. „Du hast es geschafft. Ich hätte wissen müssen, daß du es schaffst.“ „Das ist nicht so wichtig“, entgegnete Hypko. „Jetzt kommt es darauf an, daß du es schaffst. Du mußt endlich vor dir selbst und auch vor Henny bestehen können.“ „Laß Henny aus dem Spiel.“ „Warum?“ fragte Hypko. „Sie will doch gar nicht aus dem Spiel bleiben. Sie hat sich nach dir erkundigt.“ Kischkoweit kniff die Augen zusammen, als blende ihn grelles Licht, und um seine Mundwinkel zuckte es. Hypko spürte, daß er mit sich kämpfte, daß er dabei war, den letzten inneren Widerstand zur Seite zu drängen. Der Hauptmann deckte die Schreibmaschine zu, telefonierte nach der Sekretärin und bat sie um zwei Tassen Kaffee. Er nahm sie ihr unter der Tür ab, stellte sie auf ein Tischchen, rückte zwei Sessel zurecht und sagte: „Komm, Eddi. Wir reden jetzt ohne Protokoll miteinander. Als Freunde.“ Kischkoweit kam heran. „Als Freunde? Das ist vorbei.“ „Ich möchte, daß du wieder einen Weg vor dir siehst“, sagte Hypko und setzte sich Kischkoweit gegenüber. „Du bist ein großer Schweinehund gewesen, Eddi, und trotz252
dem gibt es noch Menschen, die an dir hängen. Dein Sohn zum Beispiel. Und Henny.“ „Henny“, sagte Kischkoweit leise. „Du bist der einzige, der weiß, was sie für mich bedeutet.“ Und wie immer, wenn er von Henny sprach, verschwand der harte, gleichgültige Zug um seinen Mund. Und dann brach aus ihm heraus, was ihn seit Wochen in der Einsamkeit der Zelle gequält hatte. „Was soll aus mir werden!“ rief er. „Ich weiß, daß mein Leben verpfuscht ist. Seit ich hier bin, habe ich über vieles nachgedacht – als du mir jeden Tag erzählt hast, wie andere leben und warum sie so leben. Warum hat denn früher keiner so mit mir gesprochen? Es wäre alles ganz anders geworden …“ „Nein“, unterbrach ihn Hypko ziemlich schroff. „Wenn du die Schuld bei anderen suchst, drehst du dich im Kreise. Erinnerst du dich, wie wir uns nach Jahren zum erstenmal im ‚Fernfahrer‘ wieder begegnet sind? Schon damals habe ich dich gewarnt vor dem Weg, den du eingeschlagen hattest. Und Henny? Du hättest ihr zuliebe vielleicht anfangs weniger Nachttouren mit Schattan unternommen, aber du hättest auch sie wieder belogen und enttäuscht, genau so, wie du es ein paar Jahre früher getan hast. An deiner Lebenseinstellung, Eddi, da stimmt etwas nicht. Und daran liegt es.“ „Kann sein“, sagte Kischkoweit, nahm die Kaffeetasse in beide Hände und trank sie mit einem Schluck leer. Er sah Hypko an und fragte: „Erinnerst du dich an die Zeit beim Kommiß?“ „Natürlich, dort haben wir uns ja kennengelernt.“ „Einmal haben sie mich einen ganzen Tag lang geschliffen“, erzählte Kischkoweit, „weil ich morgens beim Appell kein Koppel umhatte. In der Kleiderkammer gab es keine mehr. Aber der Feldwebel brüllte, daß er wegen 253
mir aus seiner Gruppe noch lange keinen Sauhaufen machen ließe, und er würde mir schon Ordnung beibringen. Was einer haben muß, das müsse er haben – soll er doch sehen, wie er es sich beschafft. Und damit ich das auch kapierte, mußte ich einen halben Tag lang bei Wind und Regen über den Acker robben und die zweite Hälfte des Tages nachdenken. Schön still in der Kälte auf dem Acker liegend, weil da das Gedächtnis angeblich am besten arbeitete. Am nächsten Tag hatte ich ein Koppel um, und im Rübenacker lag einer aus der anderen Gruppe. Das war mein erster Diebstahl. Bis zum Abend hatte der andere dann auch kapiert, was Ordnung halten heißt, aber er hat es nicht schlau genug angefangen, und sie haben ihn erwischt beim Kameradendiebstahl. Was darauf stand, wirst du wohl noch wissen. Der kam halb totgeschlagen zum Sani. Ich war damals sechzehn, und ich hab’ mir gedacht: Mit dir macht so was keiner. Bei dir wird immer alles in Ordnung sein, und du wirst stets haben, was du brauchst. Erlaubt ist alles, wenn es dir nur nützt. Und der Zweck heiligt die Mittel. Trotzdem habe ich mich nach dem Krieg noch mal ’reinlegen lassen, damals, als mir einer auf dem schwarzen Markt verdünntes Penicillin angedreht hat und Bernie draufgegangen ist. Aber ein drittes Mal ist es Edwin Kischkoweit nicht mehr passiert, daß er nicht hatte, was er brauchte.“ Kischkoweit schwieg, und der Hauptmann sagte: „Eddi, du bist nach einem Wolfsgesetz angetreten. Im Krieg, da kann es einem passieren, daß man danach leben muß, und in dem Wirrwarr der ersten Nachkriegsjahre, da konnte man auch noch damit leben, aber du hast es in eine Zeit mitgenommen, in der es nicht mehr gilt. Und es hat dich blind gemacht, blind und engstirnig und egois254
tisch … ein Verbrecher bist du geworden.“ Kischkoweit sah Hypko in die Augen, und in seinem Blick lag ein leiser Vorwurf. „Ich hab’ drüber nachgedacht und bin so weit gekommen, daß etwas falsch gewesen sein muß. Aber Verbrecher? Nein, ich kann doch keiner Fliege was zuleide tun.“ „So“, sagte Hypko, „aber du hast vielen Menschen etwas zuleide getan.“ „Wenn du es so siehst …“ Kischkoweit zuckte resignierend mit den Schultern. „Du hast die Menschen gequält“, fuhr Hypko fort. „Wir wollen mal gar nicht davon reden, daß wohl keiner mit einem Achselzucken darüber hinweggeht, wenn er sein neues Auto, zusammengedrückt wie eine großformatige Ziehharmonika, auf der Schutthalde findet, bloß weil du vielleicht ein neues Lenkrad gebraucht hast. Aber wir wollen nicht über die Qualen hinweggehen, die manche Mutter gelitten hat, weil sie ihr eigenes Kind verdächtigte, das gesparte Geld oder den Schmuck oder die Uhr genommen und durchgebracht zu haben. Wohnungsdiebstähle, so geschickt ausgeführt wie die von dir, werden oft erst spät entdeckt oder gar nicht. Die Leute kommen nicht darauf, daß einer drinnen gewesen sein könnte, sie verdächtigen und beschuldigen sich gegenseitig.“ „Von der Seite hab’ ich’s noch nicht gesehen“, gab Kischkoweit zu. „Aber ein Verbrecher, das ist für mich einer, bei dem das Messer locker sitzt oder der eine Frau abwürgt oder mit seiner eigenen Tochter schläft.“ „Unter deinem Rosenbeet war eine Pistole vergraben.“ „Na ja“, meinte Kischkoweit, „damit hab’ ich meine Leute so schön in Schach halten können. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich jemanden umbringen wollte?“ Statt einer Antwort fragte Hypko: „Erinnerst du dich 255
an die beiden Faschisten, die wir in unserem Dorf aufgestöbert hatten? Wir hatten kein Recht dazu, sie selbst zu richten. Wir hätten ins Dorf zurückschleichen und den Amerikanern ihr Versteck angeben sollen. Trotzdem hast du einen erschlagen.“ „Ich bin lange nicht damit fertig geworden, daß ich jemanden getötet hatte“, entgegnete Kischkoweit. „Obwohl er doch ein Faschist war.“ „Du bist nicht fertig geworden damit, weil du gewußt hast, daß es der kleine Schell war, der Mitläufer.“ Sie sahen sich einen Augenblick lang an, dann starrte Kischkoweit an Hypko vorbei. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Hypko ließ Kischkoweit jetzt keine Sekunde mehr aus den Augen. Er fragte: „Erinnerst du dich an einen Einstieg in Grünau bei der Rentnerin Anna Schellheim?“ Kischkoweit schien mit dem Namen nichts anfangen zu können, aber er gab sich Mühe und dachte nach. „Wenn du die meinst, bei der ich zweitausendfünfhundert Mark geholt habe?“ „Ja“, sagte Hypko, „die meine ich. Sie hatte das Geld als Hochzeitsgeschenk für ihre Enkeltochter gespart.“ „Ich weiß – als ich ihr Kohlen brachte, hat sie mir davon erzählt.“ „Sie ist tot“, sagte Hypko, „und du bist an ihrem Tod schuld.“ Kischkoweit sprang auf. „Nein!“ rief er. „Nein, das glaube ich nicht!“ „Das nützt jetzt nichts mehr. Wir haben sie tot vor ihrem ausgeräumten Schrank gefunden, in dem sie nach dem Geld gesucht hatte. Herzschlag.“ Kischkoweit umklammerte die Sessellehne. „Das hab’ ich nicht gewollt“, sagte er tonlos. 256
„Das glaub’ ich dir“, erwiderte Hypko. „Du hast auch nicht gewollt, daß du den kleinen Schell erwischst. Brich mir den Sessel nicht auseinander, setz dich wieder hin!“ Kischkoweit gehorchte. Er wirkte kleiner, zusammengeschrumpft, als er wieder im Sessel saß. Hypko stand auf, kam um den Tisch herum und blieb dicht vor ihm stehen. „Für deine Diebereien“, sagte er, „wirst du hart bestraft werden, und hart heißt auch gerecht. Trotzdem bleibt bestehen, daß du all die Chancen, die dir geboten wurden, ungenutzt gelassen hast und nun versuchst, deine Schwierigkeiten anderen in die Schuhe zu schieben. Ich sage dir noch einmal: Auch wenn du Henny eher gefunden hättest, wärst du mit deiner Lebenseinstellung dort gelandet, wo du nun gelandet bist. Weil du ein so großer Egoist geworden bist, hast du deine Freunde verraten, deinen Sohn, mich und – Henny. Sie ist aus dem Gleichgewicht geraten, weil sie dich liebt und an dir verzweifelt ist. Wer zieht dich allein für dieses verpfuschte Menschenleben zur Rechenschaft?“ Kischkoweit zitterte wie im Fieber. „Hardy“, sagte er leise, „hör auf. Ich kann nicht mehr.“ Um irgend etwas zu tun und seiner Erregung Herr zu werden, trug Hypko die leeren Kaffeetassen zu seinem Schreibtisch. Als er sich umwandte, sah er, daß Kischkoweit die Hände vors Gesicht hielt und weinte. „Ich erzähl’ dir alles“, sagte Kischkoweit am nächsten Tag. „Aber verlange es heute nicht von mir. Gib mir noch ein, zwei Tage. Ich muß ein bißchen zur Ruhe kommen.“ „In Ordnung“, stimmte Hypko zu. „Übermorgen beginnen wir mit dem Protokoll. Richte dich darauf ein.“ Er ließ Kischkoweit in die Zelle zurückführen. 257
Oberleutnant Rüdiger runzelte die Stirn und sagte mißmutig: „Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“ „Soll man“, sagte Hypko. „Als Schmied.“ „Glaubst du wirklich, daß er in zwei Tagen noch bereit ist auszusagen?“ „Ich glaube noch viel mehr.“ „An Kischkoweits große innere Wandlung, nicht wahr?“ „Ich glaube einfach an den Menschen Eddi Kischkoweit. Warum versuchst du, mit mir zu stänkern? Paßt euch wohl nicht, daß ich Kischkoweit nicht gleich ausquetschte, wenn ich merke, daß er mit den Nerven ’runter ist? Hast du nicht begriffen, was wir bei ihm erreicht haben? Er fängt an, über sein Leben nachzudenken. Und das ist der Beginn seiner Wandlung. Wir dürfen nicht wieder zerstören, was wir erreicht haben, dürfen ihn nicht überfordern.“ Zwei Tage später begann Edwin Kischkoweit auszusagen. Hauptmann Hypko und seine Mitarbeiter spürten deutlich, daß er sich alles vom Herzen reden wollte. An einige Straftaten konnte er sich nicht genau erinnern. In solchen Fällen gingen die Kriminalisten mit ihm zum Tatort, versuchten, das Geschehen zu rekonstruieren – eine harte Arbeit für alle Beteiligten. Dann gab es Tage, an denen Edwin Kischkoweit wieder verstockt war oder zu deprimiert, als daß er hätte sprechen können. Hypko ließ ihn dann entweder in Ruhe, oder er versuchte die richtigen Worte zu finden, mit denen er ihm Kraft für sein Geständnis vermitteln konnte. Und Kischkoweit brauchte viel Kraft. Drei Monate nach Kischkoweits Festnahme schrieb Hauptmann Hypko den letzten Satz unter den Schlußbe258
richt. „Das müßte mir auf meine Examensarbeit angerechnet werden“, sagte er, dachte dabei an sein Fernstudium, das er im letzten Jahr sträflich vernachlässigt hatte, und deckte die Schreibmaschine so sorgfältig zu, als habe er die Absicht, sie einige Wochen lang nicht mehr anzurühren. Dann schickte er Oberleutnant Bach aus dem Zimmer. Hypko wollte mit Eddi sprechen, bevor er ihn dem Gericht übergab. Und bei diesem letzten Mal wollte er allein mit ihm sein. Er sagte dem Wachtmeister telefonisch Bescheid, rückte zwei Sessel vor dem Schreibtisch zurecht, lehnte sich gegen den Schrank, in dem auch der Vorgang Kischkoweit lag, und wartete. Minuten später klopfte es. Der Wachtmeister schob den Häftling durch die Tür. In dieser Stunde fiel Hypko auf, wie sehr sich Edwin Kischkoweits Äußeres verändert hatte. Von dem selbstbewußten Mann mit dem kalten, gleichgültigen Blick und dem harten, etwas verächtlichen Zug um die Mundwinkel war nichts übriggeblieben. Kischkoweit, der dünner geworden war, wirkte jetzt noch länger; er ging ein wenig gebeugt, wie einer, der eine Last auf den Schultern trägt. Sein Blick war unruhig, fragend und bekümmert zugleich, die Wangen waren schlaff geworden und bleich und die Mundwinkel tief nach unten gebogen; auf dem Gesicht lag ein Ausdruck von Traurigkeit. „Setz dich“, sagte Hypko und nahm ebenfalls in einem der Sessel Platz. „Der Schlußbericht ist fertig. Ich muß dich nun dem Gericht übergeben.“ Kischkoweit verkrampfte die Hände ineinander. „Wir wollen den Abschied kurz machen, Hardy. Sag mir nur noch eines: Ich bin jetzt bald vierzig Jahre alt, und ich weiß nicht, wie alt ich sein werde, wenn ich wieder herauskomme. Kann man dann noch mal von vorn anfan259
gen?“ „Wird verdammt schwer, Eddi. Aber es ist nicht nur eine Frage der Jahre und des Alters. Auf die innere Einstellung zum Leben kommt es an. Du wirst es schwer haben, aber du kannst es schaffen. Du mußt dich täglich überprüfen, mußt täglich von dir fordern. Ich meine, es ist zu schaffen. Und wenn du mich brauchst, schreibe mir. Ich besuche dich.“ „Ich weiß, daß du recht hast … aber ich weiß nicht, ob einer, der es nicht erlebt hat, so richtig begreifen kann, wie das ist: dahinterzukommen, daß das ganze Leben verpfuscht war.“ Sie saßen sich noch eine Weile schweigend gegenüber, dann sagte Kischkoweit: „Ich habe noch eine Bitte an dich, Hardy. Wenn mein Sohn mal einen Rat braucht …“ „Ich werde mich um ihn kümmern“, entgegnete Hypko und erhob sich. „Und du – versuch’s noch mal mit dir, Eddi.“ Während der Gerichtsverhandlung zeigte sich Edwin Kischkoweit ruhig und diszipliniert. Da viele seiner Straftaten sehr eng mit denen von Schattan, Krücke und Liebing verknüpft waren, saßen sie alle vier auf der Anklagebank. Liebing war ein Bild resignierender Gleichgültigkeit. Schattan behauptete in seiner schnoddrigen Art immerzu das Gegenteil von dem, was in der Anklageschrift stand; es schien ihn nicht im mindesten zu stören, daß ihm ganz offensichtlich weder das Gericht noch der Staatsanwalt, ja nicht einmal sein eigener Verteidiger Glauben schenkte. Krücke gab dem Gericht seine Antworten, ohne aufzu260
stehen; ging er einmal nach vorn, kehrte er nach den ersten zwei, drei Sätzen wieder auf seinen Platz zurück. Ab und zu mußte die Verteidigerin nach einem Glas Wasser für ihn laufen; mehrmals ließ er sich hinausführen und brachte dadurch den Gang der Verhandlung durcheinander, denn das Gericht mußte dann diejenigen Anklagepunkte überspringen, bei denen Krücke allein oder zusammen mit einem seiner Kumpane genannt war. Der Staatsanwalt hatte zu guter Letzt Mühe, sich in dem Durcheinander zurechtzufinden und keinen Punkt der Anklageschrift zu übersehen. Zu Krückes Leidwesen übersah er keinen. Hauptmann Hypko hatte zwar bei den Verhandlungen nicht anwesend sein können, nahm sich aber vor, die Urteilsverkündung im Gerichtssaal anzuhören. Über den Verlauf der Verhandlung war er informiert. Er ließ sich von einer Journalistin täglich berichten. Hin und wieder telefonierte er auch mit dem Staatsanwalt. Der Tag, an dem das Gericht das Urteil fällte, war ein Freitag. Hypko war schon am Morgen unruhig. Den Vormittag verbrachte er mit nebensächlichen Beschäftigungen, die kein angestrengtes Nachdenken erforderten, das Mittagessen zog er ein wenig in die Länge, und Viertel vor vierzehn Uhr saß er bereits auf der hintersten Bank des Gerichtssaales. Hypko verzichtete darauf, den Staatsanwalt vor Beginn der Verhandlung aufzusuchen. Er wollte nicht in Versuchung geraten, ihn nach dem Strafantrag für Edwin Kischkoweit zu fragen. Hypko wußte, daß er auf eine derartige Frage keine Antwort erhalten würde – trotz des Verständnisses, das der Staatsanwalt aufbringen mochte. Langsam füllten sich die Zuschauerbänke, die Journalistin kam, begrüßte ihn und setzte sich an den Pressetisch. Die Verteidiger nahmen 261
ihre Plätze ein. Dann wurden die Angeklagten hereingeführt – Edwin Kischkoweit war nicht darunter. Hypko hielt es auf seinem Platz nicht mehr aus, er ging zur Tür. Auf dem Flur stand Kischkoweit, mit einer Hand an den Wachtmeister gefesselt. Vor ihnen stand Henny. Hypko atmete auf und kehrte in den Saal zurück, ohne von Kischkoweit gesehen worden zu sein. „Wie geht es dir, Henny?“ fragte Kischkoweit. „Wie lebst du jetzt?“ „So, wie ich schon lange hätte leben sollen“, sagte Henny und lächelte leicht. „Wenn man den Menschen, den man liebt, nicht bekommen kann, soll man sich keinen Ersatz dafür suchen. Man muß dann wohl den Mut haben, allein zu leben. Ich arbeite wieder als Kindergärtnerin. Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen, mit mir ist alles in Ordnung. Und …“, sie zögerte, blickte einen Moment zur Seite und sah dann Kischkoweit in die Augen, „ich verspreche dir nicht, daß ich auf dich warten werde, Eddi. Aber du kannst auf mich rechnen, wenn du mich brauchst.“ „Ich werde dich brauchen“, sagte Kischkoweit. „Um mit mir selbst ins reine zu kommen, werde ich dich brauchen. Darf ich dir schreiben?“ „Natürlich. Schreibe, wie es dir geht und was du denkst. Und laß dich nicht unterkriegen. Denk daran, daß du überall Freunde finden kannst, die dir auf die Beine helfen.“ „Ich muß Sie jetzt in den Saal bringen.“ Der Wachtmeister zog ein wenig an der Handfessel. Henny trat einen Schritt auf Kischkoweit zu. „Gehen Sie zurück“, sagte der Wachtmeister. Sie griff nach Kischkoweits Hand und drückte sie. „Das ist verboten“, sagte der Wachtmeister, aber es 262
klang so, als sei er davon selbst nicht überzeugt. Henny suchte Kischkoweits Blick, sagte leise und fest: „Auf Wiedersehen, Eddi.“ Kischkoweit preßte die Lippen aufeinander und nickte. Dann wandten sie sich fast gleichzeitig voneinander ab. Hennys Schritte verhallten in dem langen, menschenleeren Gang. Kischkoweit zog die Unterlippe zwischen die Zähne und biß darauf herum. Als er zusammen mit dem Wachtmeister durch die Tür trat, schwindelte ihn. Der Gerichtssaal schrumpfte vor ihm zusammen. Auf Zellengröße. Kischkoweit schloß die Augen. Sein Herz hämmerte. Er hatte Angst. Angst vor dem Urteil. Was hab’ ich getan! O mein Gott, warum habe ich das nur getan! Ich halte es nicht aus. Die Zelle … die tote alte Frau vor dem ausgeräumten Schrank … Henny! Aber Henny ist stark, und ich schaffe es auch. „Sind Sie krank, Herr Kischkoweit?“ Rechtsanwalt Bruhn, Kischkoweits Verteidiger, war zu ihm getreten. „Kann ich etwas für Sie tun?“ Kischkoweit öffnete die Augen und atmete tief. Die Zelle dehnte sich, wurde wieder zum Gerichtssaal. „Danke“, sagte er. „Ich werde es schaffen.“ An der Seite des Wachtmeisters ging er zu seinem Platz neben Schattan. Langsam erkannte er Einzelheiten im Saal: den Sitz des Gerichtes, die Bank der Verteidiger, den Zuschauerraum. Es waren viele gekommen. Während des ganzen Prozesses waren sie dagewesen. Warum, dachte Kischkoweit. Aus Neugier? Sensationslust? Um die Genugtuung zu haben, daß einer wie dieser Kischkoweit auch genügend lange von ihnen isoliert wurde? Oder aus menschlichem Interesse an einem, dessen Leben so verquer verlaufen war? „Es gibt viele, die bereit sind, dir zu helfen, wenn 263
du anders werden willst“, hatte Henny gesagt. Der Wachtmeister löste die Handfessel. „Setzen Sie sich jetzt“, sagte er mit leiser Ungeduld. „Ja.“ Kischkoweit wandte den Blick vom Zuschauerraum. Aber er hatte in der letzten Reihe noch Hauptmann Hypko entdeckt. Er ist gekommen, dachte er erleichtert. Er ist immer da, wenn man ihn braucht. Dieser Hypko! Der Hauptmann. Mein Freund.
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