Kriminalroman
_____________________________________
Als Ernst Katzer in einer kleinen Stadt Westdeutschlands aus dem ...
35 downloads
450 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Kriminalroman
_____________________________________
Als Ernst Katzer in einer kleinen Stadt Westdeutschlands aus dem Gefängnis entlassen wird, hat er kaum mehr als zwanzig Mark in der Tasche. Keine Arbeit, keine Bleibe. Keine Chance. Eine Garage bietet ersten Unterschlupf. Im Auto ist es warm, die Polster sind bequem. Das Risiko, entdeckt und vom Besitzer verjagt oder angezeigt zu werden, Zählt im Augenblick nicht. In diesem Versteck wird Ernst Kratzer Beobachter eines Verbrechens. Als er die Zusammenhänge durchschaut, plant der Schriftsteller Rainer Grünthal schon die Beseitigung seines Mitwissers. Für den Außenseiter Katzer kommt jede Hilfe zu spät. Aber gerade die Umstände dieses Todes sind für Kommissar Proskow von der Mordkommission der letzte Beweis, daß hier mit unvorstellbarer Skrupellosigkeit ein Gewaltverbrechen begangen wurde. Er läßt den Mörder in eine Falle gehen, die dieser selbst gelegt hatte.
Bernd Diksen Der Verlierer zahlt _____________________________________
Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage · 1971 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/3/71 · ES 8 C Lektor: Gisela Bentzien Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM*
1. „Sie sind nicht mehr bei der Sache“, stellte Wenckmann freundlich tadelnd fest. Er schob seinen letzten Läufer quer über das ganze Schachbrett bis unmittelbar neben den gegnerischen König und sagte selbstgefällig: „Schach, mein Lieber! Schach – und matt!“ Dann lehnte er sich im Rollstuhl zurück, überprüfte vorsorglich noch einmal den Stand seiner Dame, ohne deren Unantastbarkeit seine Mattansage reiner Wunschtraum bliebe, legte beruhigt die Fingerspitzen gegeneinander und sah seinen Partner mit dem etwas lächerlichen Stolz eines alten Mannes an. Rainer Grünthal starrte scheinbar ungläubig auf das Schachbrett, registrierte die Richtigkeit der Feststellung des alten Polizeibeamten und dachte seit Minuten das gleiche: Der Pfiff! Er hatte den verdammten Pfiff nicht einkalkuliert. Er hatte nur noch zwei, höchstens drei Wochen Zeit. Und nun dieser Pfiff. Laut, dumpf, warnend, drohend, der Warnruf eines Dieseltriebwagens der Bundesbahn vor einem unbeschrankten Bahnübergang. Und der alte Schwätzer Wenckmann mußte ihn hören können. Wochentags, sonntags, jeden Abend, immer. Auch mittwochs. In vierzehn Tagen oder in drei Wochen ebenso wie heute. Und das durfte er nicht. „Na, na“, brachte sich Wenckmann in Erinnerung und musterte über die zusammengelegten Fingerspitzen hinweg seinen Schachpartner, „gönnen Sie einem alten Mann auch mal einen kleinen Triumph.“ Grünthal hob abwesend den Kopf. Er war ein gutaussehender Mann Mitte der Vierzig, mit kaum ergrautem 7
blondem Haar, war stets peinlich sauber rasiert und duftete gleichmäßig nach Palmolive. Sein gepflegtes Äußeres verlieh ihm den Ruf bürgerlicher Wohlhabenheit. Besonders sympathisch wirkten seine hellblauen Augen. Nicht ganz paßte zu diesem Gesamteindruck eine schlecht verheilte Narbe am Kinn, die rotwulstig die Symmetrie des Gesichts störte. Er pflegte sie als Kriegserinnerung auszugeben, obwohl sie von einem ganz gewöhnlichen Fahrradunfall stammte. „Pfiff da nicht eben jemand?“ Auch seine Stimme war angenehm anzuhören. Wenckmann lächelte, zahnarm und mitleidig. Warum nur fragten manche Leute nach Dingen, die sie bei einiger Aufmerksamkeit bequem selbst herausfinden konnten? Dazu mußte man nicht unbedingt – wie er – Kriminalbeamter gewesen sein. Er bildete sich mit zunehmendem Alter immer mehr auf seine Beobachtungsgabe ein. So holte er nun häufig an Nachbarn und Bekannten nach, was ihm während seiner Dienstzeit auf Grund mäßiger Fähigkeiten versagt geblieben war. „Aber, aber …“, krächzte er leutselig. „Mein lieber Freund! Der Pfiff eben …“ Er schielte vorsorglich auf die wuchtige Büfettuhr, die auf einer altmodischen Anrichte hinter Grünthal stand, und war sich erst dann seiner Sache sicher. „Das war natürlich der ‚Heideexpreß‘! Übrigens auch heute wieder vorbildlich pünktlich.“ Jeden Abend käme er pünktlich zweiundzwanzig Uhr zwölf. Sofern er nicht Verspätung habe, natürlich. Aber das käme, soviel müsse man zur Ehre der Bundesbahn schon zugeben, höchst selten vor. In der guten Jahreszeit, wozu man trotz des regnerischen Novemberwetters auch den heutigen Abend zählen müsse, so gut wie überhaupt 8
nicht. „Und außerdem haben wir heute auch noch Westwind.“ „So, Westwind.“ Grünthal stierte angestrengt auf das Schachbrett, als suche er verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Rettung seines schwarzen Königs. Aber da gab es, bei der heimtückisch gelungenen Absicherung der weißen Dame, nichts zu suchen und erst recht nichts mehr zu finden. Einen kurzen Augenblick überkam ihn ein unangenehmes Gefühl, und er erhob sich, um dieses Gefühl abzuschütteln. Wenckmann deutete die knappe Antwort falsch. „Sie dürfen meinen Beobachtungen ruhig vertrauen, lieber Freund“, versicherte er vorwurfsvoll. „Schließlich ist eine gute Beobachtungsgabe gerade in meinem Beruf eine wesentliche Vorbedingung, nicht wahr? Und der Heideexpreß …“ Wieder stockte er, weil ihm für weitere Begründungen keine beeindruckenden Fachausdrücke einfallen wollten. „Nun ja, man hört ihn eben nur bei Westwind, ist ja logisch, nicht wahr? Und Sie dürfen sicher sein, daß es dann in Kürze regnen wird, auch wenn die Wetterkarte aus Frankfurt Sonnenschein verspricht.“ „So“, wiederholte Grünthal. Er lächelte Wenckmann mit einer gewissen Anerkennung zu und dachte, daß der alte Narr wohl recht haben wird. „Fangen wir die Revanche noch an?“ „Ja, gern!“ Aber nach zehn Minuten schweigenden Spiels fand Wenckmann, daß Grünthal noch unaufmerksamer als vorher war. In die Genugtuung über einen möglichen zweiten Sieg, was bisher noch nicht vorgekommen war, mischte sich allmählich Sorge, daß diese wohltuenden Schachabende zu Ende gehen könnten. „Bedrückt Sie irgend etwas?“ Rainer Grünthal blickte meisterhaft verwundert auf. 9
„Mich? Aber wie kommen Sie darauf? Nein, nein, es ist nur …“ Wenckmann nickte verständnisvoll. Frau Grünthal erwartete, wenn auch erst in einem halben Jahr, ein Kindchen. Nach fünfjähriger Ehe. Man konnte die Freude der Grünthals durchaus verstehen, und wie man wußte, freute sich Rainer Grünthal ganz besonders. Nur, war da nicht ein merkwürdiges Gerücht aufgekommen? Peinliche Geschichte. Blieb nur zu hoffen, daß es wirklich nur ein Gerücht war. Das Spiel schleppte sich noch eine Viertelstunde hin, dann sagte Grünthal, was er jeden Mittwochabend um diese Zeit zu sagen pflegte: „Wie ich sehe, wird es Zeit für mich.“ „Und ich muß mich bedanken“, plapperte Wenckmann gehorsam die darauf fällige Antwort. Fast automatisch zog er dabei seine altmodische Taschenuhr aus der Westentasche, ließ sie aufspringen, hielt sie ans Ohr und stellte resignierend fest, was er seit Monaten wußte. „Sie will eben nicht mehr. Das ist fast wie mit unsereinem, die Knochen wollen nicht mehr, nichts will mehr so richtig.“ Er steckte die Uhr seufzend wieder ein und sagte, eigentlich mehr zu sich selbst: „Wenn ich nur wüßte, wer solche alten Uhren repariert.“ „Niemand“, erklärte Grünthal kurz. Das fehlte noch, dachte er ärgerlich. Diese alte Taschenuhr war ebenso wichtig wie die alte Büfettuhr, besonders weil ihr das Glas fehlte. Wichtig war, daß keine andere Uhr ging. „Und außerdem“, sagte er lächelnd, „Sie überleben uns alle noch, mein lieber Kommissar.“ Wenckmann überhörte bereitwillig die Kälte des Tonfalles, weil seiner Eitelkeit die Anrede Kommissar besonders schmeichelte. Er hatte diesen Dienstrang nie besessen. 10
Während Rainer Grünthal noch die Figuren in das grün ausgeschlagene Kästchen legte, dirigierte Wenckmann seinen Rollstuhl ins angrenzende Schlafzimmer und begann sich zu entkleiden. Nachdem Grünthal das Schachspiel unter einen Rauchtisch geschoben hatte, öffnete er noch das Oberlicht des Fensters, wünschte freundlich gute Nacht, schloß rücksichtsvoll leise die Tür zum Schlafzimmer, löschte die Deckenleuchte und verließ die Wohnung. Wie immer nahm er den Wohnungstürschlüssel mit nach draußen, verschloß hier geräuschvoll und verließ das Haus. Genau wie immer tastete er sich die wenigen Schritte um die Hausecke und tauchte in der Dunkelheit unter. Mühelos schob er den Schlüssel durch einen der Luftschlitze des Fensterladens, hörte den klirrenden Laut des Aufpralls und wandte sich ab. Aber er blieb noch einige Sekunden in der nächtlichen Dunkelheit des Hausgiebels stehen. Wenckmanns Wohnung befand sich am Ende einer langen Zeile von einstöckigen Reihenhäusern, deren Bewohner zum überwiegenden Teil Arbeiterfamilien waren, die um diese späte Stunde längst schliefen. Besonders günstig empfand Grünthal den Umstand, daß stadteinwärts, in Richtung seiner eigenen Wohnung, ein Stück Wald den Ansturm der Baulustigen überstanden hatte. Das Stück Mischwald verhinderte, daß die ohnehin etwas zu spärliche Straßenbeleuchtung diese Giebelwand erreichte. Geräuschlos verließ Grünthal das Vorgärtchen, sah gewohnheitsmäßig auf die Armbanduhr, obwohl er seit Monaten wußte, daß er bis zu seinem Haus genau sechseinhalb Minuten brauchte, und trat den Heimweg an. 11
Sein Einfamilienhaus stand in der nächsten Querstraße, und er hätte die sechseinhalb Minuten auf die Hälfte reduzieren können, würde er einen Pfad benutzen, der sich durch das Wäldchen schlängelte. Aber seit einiger Zeit erzählte man sich, daß im Wäldchen jemand überfallen worden sei, und seither vermieden die Anwohner, den Pfad nach Einbruch der Dunkelheit zu benutzen. Und niemand wußte, daß Grünthal selbst für dieses Gerücht von einem angeblichen Überfall gesorgt hatte. Er hatte bis jetzt an alles gedacht. Aber nun dieser Pfiff. Pünktlich jeden Abend, wie der alte Schwätzer Wenckmann versichert hatte. Wie war dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen? Nur bei Westwind, hatte Wenckmann behauptet. Blieb vorerst nur übrig, sich ab sofort für die Wettervorhersage zu interessieren. Grünthal war so in Gedanken, daß er vergaß, vor seiner Haustür die Zeit zu kontrollieren. Als er im geräumigen Flur stand und im Haus alles still blieb, nickte er zufriedener vor sich hin. Doch schon in der Tür zum Wohnzimmer verzog er ärgerlich das Gesicht. Auf der Couch, außerhalb des Lichtkegels einer Stehlampe, lag unter einer rotkarierten Wolldecke seine Frau und schlief. Grünthal betrachtete ihr Gesicht, das durch die langen dunklen Haare im Dämmerlicht einen überraschenden Reiz hatte. Ein unbestimmtes Gefühl, eine Art Mitleid, ließ ihn kurz zögern. Dann trat er entschlossen an die Couch. Sein Gesichtsausdruck verriet nur noch die vertrauliche Zärtlichkeit des liebenden Ehemannes, als er sich rücksichtsvoll auf die Couchkante setzte und seine Frau weckte. „Liebes“, sagte er leicht vorwurfsvoll, „aber warum gehst du denn nicht zu Bett?“ 12
Beate Grünthal lächelte verschlafen. Sie richtete sich etwas auf, legte einen Arm auf die Schulter ihres Mannes und flüsterte: „Ich wollte mit dir zusammen … ich habe auf dich gewartet.“ „Dummchen“, murmelte Grünthal, während er an ihrem Gesicht vorbei die Schreibmaschine auf dem beiseite gerückten Couchtisch musterte. Er schob die Frau leicht von sich, offenbar nur, um ihr in die Augen sehen zu können. „Du hast doch nicht zuviel gearbeitet?“ „Nein, nein“, wehrte sie eilig ab. „Außerdem mußte Herr Hillmann heute früher als sonst gehen. Gleich nach neun Uhr.“ „So?“ Grünthal zog für den Bruchteil einer Sekunde die Augenbrauen zusammen. Dann drückte er die Frau wieder an sich. „Na, das ist doch schön, nicht?“ Sie nickte bereitwillig und sah ihm nach, als er an die Hausbar trat und sich etwas Weinbrand einschenkte. „Aber nun sei brav und geh schlafen.“ „Und du? Ich dachte …“ „Ich komme dann schon nach. Ich muß unbedingt noch einige Notizen machen.“ Er sah ihr nach, das Glas nachlässig zwischen zwei Fingern, wie sie still gehorchte; jetzt war kein Mitleid mehr in seinen Augen. Zwei, höchstens drei Wochen noch, dachte er.
13
2. Als sich das graue Eisentor hinter ihm schloß, stand Ernst Katzer zum erstenmal seit acht Monaten wieder auf einer Straße. Einen Augenblick schien ihm, als sei es gestern gewesen, so genau stimmte der Eindruck von der Stadt mit jenem trüben Märztag überein, als man ihn verhaftet hatte. Katzer ging die wenigen Schritte bis zum ausgedehnten Marktplatz mit jenem eigenartigen Gefühl, in ein neues und besseres Leben zu treten. Aber schon nach wenigen Minuten kam die Wirklichkeit, und die war naß, kalt, und sie war irgendwie fremd. Er blieb vor einem Schaufenster stehen. Er sah kaum, was an modischen Neuheiten der Schuhbranche angeboten wurde, er sah sich. Es geht eigentlich, überlegte er schwerfällig. Die braune Hose hatte sogar eine Bügelfalte, die hohen Wildlederschuhe waren zwar fleckig und glänzten hier und dort, aber sie waren ganz. Nur die Joppe paßte nicht mehr, sie ließ sich nicht schließen. Die Arbeit in der Gefängnisküche, anfangs ein erstrebter Posten, hier war die Quittung dafür: Er hatte mit knapp dreißig Jahren einen Bauch. Auch das Gesicht war voller geworden, die kurze Nase schien noch kleiner, flacher geworden zu sein. Vollmond, dachte er, der reinste Vollmond. Nur die Haare waren so geblieben, dicht und etwas rötlich, gescheitelt, wie ihm das immer bei John Kennedy als Merkmal einer richtigen Persönlichkeit imponiert hatte. Er betrachtete nun doch die ausgestellten Schuhe, und die dafür geforderten Preise drängten automatisch sein dringendstes Problem in den Vordergrund. Der Verdienst 14
von fast sieben Monaten Küchenarbeit betrug ganze achtundzwanzig Mark und sieben Pfennige. Und das war seine ganze Barschaft. Aber noch lebte die so oft ausgemalte Hoffnung auf ein anderes Leben, wenigstens ein Rest davon. In seiner Tasche steckte ein Zettel mit der Adresse eines Betonwerkes, in dem er sich auf Fürsprache der Gefängnisverwaltung um Arbeit bemühen sollte. Die Hoffnung verdichtete sich plötzlich zur Gewißheit, daß es klappen würde. Hastig wandte er sich ab, er glaubte, sich beeilen zu müssen. Man hatte ihm die Richtung zum Betonwerk beschrieben, es sollte weit draußen vor der Stadt liegen. Beflügelt von der Hoffnung auf ein kleines bißchen Glück, marschierte er los, entschlossen, sich auf keinen Fall nach dem verfluchten Gefängnis umzusehen. Aber dann wurden die Schritte zögernder, er blieb mitten im Passantenstrom stecken, ließ sich anrempeln und sich schließlich an die Schaufensterscheibe eines Uhrengeschäftes pressen. Er suchte sein Zellenfenster, fand aber verwundert, daß das dreistöckige Gefängnisgebäude von außen anders aussah, ganz anders. Fremder und ungemütlicher, als man es als Insasse empfand. Ein seltsames Gefühl wanderte irgendwie durch seinen Körper und versickerte im Magen. Er grübelte, was das zu bedeuten hatte. Der Weg zum Betonwerk, sosehr er sich auch in die Länge zog, erschien ihm dennoch in dem Augenblick kurz, als er die Portalkräne, die Kiesberge, Hallen und lagernde Betonfertigteile sah. Er nahm sich fest vor, schnurstracks durch das offene Maschendrahttor zu Herrn Ingenieur Nagelschmitt zu marschieren, an den er sich wenden sollte – und ging 15
dann doch am Tor vorbei weiter. Er ging eiliger, getrieben von der peinlichen Überlegung, man grinse hinter allen Fenstern des Bürogebäudes über die Feigheit eines kleinen Ganoven. Ernst Katzer stoppte erst vor einem Buswartehäuschen, zündete sich eine Zigarette an und sah zurück zum Betonwerk. Seine Gewißheit von vorhin kam ihm jetzt geradezu lächerlich vor; er war sicher, daß man ihn nicht einstellen würde. „Wollen wir doch mal sehen“, murmelte er unwillkürlich laut vor sich hin. Er versuchte sich selbst Mut zu machen und marschierte den Weg zurück. Wollen wir doch mal sehen, verbiß er sich in eine Wurstigkeit hinein, die seine Unsicherheit übertünchen sollte. Vorm Tor schnipste er die Zigarettenkippe gespielt forsch bis mitten auf die Straße, spürte den drängenden Wunsch, auch diesmal einfach weiterzugehen, und schwenkte dann doch gehorsam in die Einfahrt hinein. Halb trieb ihn die Hoffnung, daß es doch klappen müßte, halb das Verlangen nach Bestätigung seiner skeptischen Überzeugung. Er fragte sich zum Ingenieur Nagelschmitt durch, hatte aber jedesmal das ekelhafte Gefühl, man glotzte ihm höhnisch oder kopfschüttelnd nach. Und dann stand er im Vorzimmer des Herrn Ingenieurs, in einem wunderschönen, hellen, warmen Büroraum, und die Reste der geborgten Tapferkeit zerschmolzen vor den irrsinnig lockenden Schenkeln der dunkelhaarigen Sekretärin in Mini. Sie saß mit dem Profil zu ihm an einem flachen Maschinentisch, und Ernst Katzer stierte hilflos auf die Schenkel, immer nur auf die Schenkel, und die Zimmerwärme schien wie ein Federbett über sie und ihn zu fallen. 16
„Sie wünschen?“ Dreimal mußte die Sekretärin ihre Frage wiederholen, ehe Katzer halbwegs in die Wirklichkeit zurückfand. „Herrn Nagelschmitt …“, sagte er heiser, „es ist … wegen Arbeit ist es … man hat mich empfohlen …“ „Ach, Sie sind das!“ Die Sekretärin nickte, sie wußte Bescheid. Sie beugte sich rückwärts zur Sprechanlage auf dem Schreibtisch, und Katzer versank erneut unter dem Federbett der Zimmerwärme und seiner Gefühle. Er begriff erst wieder, als die Sekretärin aufstand und zur Seitentür wies. „Herr Nagelschmitt erwartet Sie“, sagte sie durchaus freundlich. Katzer hätte ein gewisses Mitgefühl heraushören können, und er hätte allein an der Tatsache, daß ihn eine hochbezahlte Sekretärin von attraktivem Aussehen zur Tür geleitete, Verständnis für seine Lage erkennen müssen. Ingenieur Nagelschmitt nickte knapp vom Schreibtisch herüber, auf dem er ein Zettelchen vor sich hin und her schob. „Sie sind Herr Katzer?“ Ernst Katzer riß sich zusammen, er nickte heftig. Und auf einmal war wieder die Hoffnung da. Der glatzköpfige Mann sah harmlos aus. Und war nicht auch die Sekretärin recht freundlich gewesen? „Sie sind heute entlassen worden?“ „Ja“, sagte Katzer gehorsam. „Sie sollen sich ja gut geführt haben … Weshalb hatten Sie eigentlich …?“ Katzer machte sich steif. Als wenn du das nicht wüßtest, dachte er mißtrauisch. Er antwortete nicht. „Hören Sie, Herr Katzer! Ich muß schließlich vorm Chef Ihre Einstellung rechtfertigen. Und nun bitte: weshalb?“ „Ein – ein Eigentumsdelikt“, sagte Katzer gezwungen. 17
„So, auf deutsch: Sie haben geklaut!“ Katzer begriff, vorerst noch verschwommen, daß Nagelschmitt eine Art Schau mit ihm abzog. Er fühlte mehr, als er wußte, daß die Sekretärin mithörte, in ihm schoß eine nicht zu bremsende Wut hoch. Aber er schwieg verbissen, wartete. „Ja“, begann der Ingenieur heimtückisch, „nun ja, kann ja mal vorkommen. Nur, sehen Sie, wer garantiert mir, daß Sie nicht auch hier …?“ „Sie wollen mich also nicht nehmen?“ Die Frage nahm die Antwort vorweg. Nagelschmitt ließ das Zettelchen, auf dem Katzers Personalien standen, langsam über die Schreibtischkante in den Papierkorb flattern. „Ich glaube nicht.“ „Dann“, würgte Katzer, hilflos vor Wut, „dann lecken Sie mich doch …“ „Raus!“ Nagelschmitt schrie nicht, er sprang nicht auf, es klang fast gelangweilt. Und genau diese Haltung ließ Katzer mutlos werden. Er war nicht einmal wert, daß man sich über ihn aufregte. Ernst Katzer fror jämmerlich in seiner offenen Joppe. In den Nieselregen mischten sich nun auch noch große Schneeflocken. Bis gegen achtzehn Uhr trödelte er planlos durch die Innenstadt, besah sich Auslagen, hatte Wünsche, Träume und einmal beinahe Glück, als er neben einer düsteren Toreinfahrt auf einer schwarzen Tafel las: Transportarbeiter dringend gesucht. Leider war Bedingung, daß er ganz in der Nähe wohnte, da man ihn Tag und Nacht erreichen müsse. Seine Strafe nahm man nicht wichtig. Ernst Katzer hatte weder in dieser Stadt noch irgend18
wo anders eine Wohnung. Er war mehr oder weniger zufällig auf einer albernen Flucht hier verhaftet worden, und nun war er eben hier. Und mit achtundzwanzig Mark konnte man sich eventuell einmal richtig besaufen, um sich anschließend vor den nächsten Zug zu schmeißen. Ein Zimmer konnte man damit nicht mieten. Jedes hübsche Mädchen erinnerte ihn an die aufregende Sekretärin. Er versuchte Anschluß zu gewinnen, aber es schien, als trage er, für ihn selbst unsichtbar, einen warnenden Aufdruck. Und als selbst ältere Frauen höchstens ein müdes Lächeln für ihn übrig hatten, dachte er bitter an die zahllosen Abenteuer mit Frauen, von denen so mancher Zellengefährte geschwärmt hatte. Jetzt wußte er, das war alles Schwindel. Schwindel war es, weil es einfach keine Wunder gab. Nein, es gab keine, trotz der lange Monate aufgespeicherten Zuversicht, trotz brennender Wünsche. Und wie hatte er sich alles ausgemalt, manchmal bescheiden, oft ausschweifend, denn immer hatten seine erträumten Bekanntschaften im Bett geendet. Auch dieser Abend endete im Bett. Es stand in einem flachen Saal zwischen zwanzig anderen, dürftiges und einziges Mobiliar für Gäste der „Herberge zur Heimat“, wie sich anmaßend und hochstaplerisch das städtische Asyl für Obdachlose nannte. Die hundertmal gewaschenen Wolldecken hielten nicht mehr warm, dafür stanken sie nach Schweiß, Kohlsuppe und Desinfektionsmittel und waren in jeder Dimension zu kurz. Katzer konnte lange nicht einschlafen. Es war alles so anders gekommen, als er es sich ausgemalt hatte, ekelhaft anders und dazu so, wie er es manchmal befürchtet hatte. Und nun lag er hier, zwischen zwanzig anderen Gestran19
deten, und starrte schon seit Minuten auf die schmutzigen Füße des Menschen schräg gegenüber, die aus der kurzen Wolldecke herausragten. Es ekelte ihn, als er sich vorstellte, daß unter seinen Decken vergangene Nacht der Mann da drüben geschlafen haben könnte. Angewidert schwenkte er die Decken herum, bis ihm der Widersinn zum Bewußtsein kam. Wer wollte wissen, wo gestern oben oder unten bei den Decken gewesen war? Schließlich legte er sie quer, zog die Beine fast bis zum Kinn an und schlief frierend ein. Nach drei Tagen fragte er nirgends mehr nach Arbeit, trottete mit anderen ziellos durch die Straßen, hoffte zwar weiter, aber er begriff die Sinnlosigkeit des Wartens. Er sehnte sich heftig nach dem Knast; nach der Geborgenheit, der Sauberkeit, dem regelmäßigen Essen und Schlafen. Er sehnte sich jetzt mitunter heftiger hinein, als er sich monatelang hinaus gesehnt hatte. Am zehnten Tag besaß er nicht mehr das Geld für die Übernachtung im Asyl, der Hunger begann. Er übernachtete auf Schrottplätzen, in verrosteten Autokarosserien, auf verdreckten Sitzpolstern. Er stank nun selbst, dachte längst nicht mehr abfällig über die schmutzigen Füße anderer und wußte nur absolut sicher: Er kam nicht mehr heraus. Am dreizehnten Tag beherrschte ihn der Hunger ganz. Quälend wurde die Sehnsucht nach dem, was für so viele Menschen Selbstverständlichkeit war: Essen, Trinken, ein Bett, ein Dach, Wärme. Er war entschlossen, selbst für den Preis einer Straftat ein Minimum menschlichen Daseins zu ergattern.
20
3. Gegen fünf Uhr nachmittags wanderte Rainer Grünthal unruhig im Wohnzimmer umher, blieb abwesend bald hier und bald dort stehen, nahm Gegenstände in die Hand, ohne scheinbar zu erfassen, was er in die Hand nahm. Seine Frau, die ihn seit Minuten mitfühlend beobachtete, legte endlich die Tageszeitung neben sich auf das Geschirr, das noch vom Kaffeetrinken auf dem Couchtisch stand, richtete sich im Sessel auf und fragte zurückhaltend: „Kann ich dir irgendwie helfen?“ Grünthal sah sie zunächst gespielt verständnislos an, lächelte dann begütigend, beugte sich zu ihr herab, strich ihr zärtlich über das glatt herabhängende Haar, obwohl er diese Madonnentracht abscheulich fand. „Bedrückt dich etwas?“ „Aber nein!“ wehrte er ab. Er seufzte verstohlen und ließ sich schwer in den Sessel ihr gegenüber fallen. Beate Grünthal sah ihn stumm an, mit jener liebevollen Mütterlichkeit, die ihm seit Jahren verhaßt war. Sie wartete einfach, still, bescheiden, aber doch irgendwie mahnend. „Eigentlich hast du recht“, begann er zögernd. „Schließlich bist du ja eine Frau.“ Sie lächelte, verliebt wie in den ersten Tagen. Ihr Mann lächelte zurück, tat noch etwas unentschlossen und sah wie verlegen an ihr vorbei zum Fenster hinaus in den Garten. „Mir fehlt wieder mal ein durchschlagender Anfang, weißt du? Das Thema habe ich natürlich völlig fest in der Hand … Nur eben der Anfang …“ Nun lächelte er ihr doch wieder zu. „Eine Liebesgeschichte. 21
Aber eben mal etwas anderes, weißt du? Also hör mal zu … Nimm mal an, eine Frau, die ihren Mann betrogen hat, erwartet nun ein Kind. Was meinst du: Würde diese Frau jetzt noch glücklich sein können?“ Beate Grünthal schüttelte heftig den Kopf. Irgendwie berührte sie der Gedanke seltsam, aber das mochte wohl an ihrem Zustand liegen. Unwillkürlich legte sie beide Hände auf ihren Leib. „Was also würde sie tun?“ fuhr Grünthal fort. „Ich weiß es noch nicht genau, habe es aber in der Geschichte so konzipiert, daß sie freiwillig aus dem Leben scheidet. So neu ist solch Entschluß zwar nicht, aber trotzdem: Ich finde einfach keine passenden Formulierungen für einen Abschiedsbrief dieser Frau. Und dann: Würde sie darin erwähnen, daß sie ein Kind von einem anderen erwartet? Oder würde sie das nicht? Ich weiß es einfach nicht.“ Seine Frau sah ihn versonnen an. Sie fühlte keine Gefahr, sie war eher glücklich. Es war eigentlich das erstemal, daß ihr Mann sie um Rat fragte, sie hatte immer abseits gestanden, wenn es um seine Arbeit ging. In ihrer lebhaften Phantasie rückte sie selbst an die Stelle dieser geplanten Romanfigur. Sie sah sich vor einem leeren Briefbogen, sah sich die ersten Sätze schreiben, und sie brauchte Sekunden, um sich auf die Frage ihres Mannes zu konzentrieren. Würde eine Frau gerade diesen Grund mitschreiben? Mußte sie das nicht sogar? Wenn sie ihren Mann noch liebte, ganz gewiß. Sie würde doch ihren Mann nicht in ewiger Ungewißheit zurücklassen. Beate Grünthal, nun fast ganz an die Stelle jener Romanfigur gerückt, sah in ihrer Vorstellung ihren Mann ruhelos durch das Haus wandern, sah ihn abwesend am Fenster stehen, sah ihn, mit ihrem Bild in der Hand, mit 22
einer einzigen Frage beschäftigt: Warum nur hat sie das getan? „Ich glaube“, sagte sie dann leise, „sie würde es tun.“ „Ja?“ Grünthal schien nicht restlos überzeugt zu sein. „Vielleicht hast du recht … ja, bestimmt sogar! Nur … ich kann mich einfach nicht … Aber du, könntest du nicht …? Doch, du kannst! Hier, nimm Papier und einen Stift, schreib es doch bitte auf!“ Er beugte sich zu ihr, streichelte ihr Haar, lächelte aufmunternd und reichte ihr einen Filzstift. „Möchtest du nicht etwas trinken?“ Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, füllte er ein Glas Cherry ein, stellte es neben den Briefbogen auf den Tisch und ging rücksichtsvoll leise aus dem Zimmer. Er hatte keine Mühe, seine Genugtuung darüber zu verbergen, daß diese Frau – er nannte sie bei sich nie anders – einfältig genug war, auch diesen unerhört wichtigen Beitrag für seine Pläne zu leisten. Sie hatte auch den für längere Niederschriften kaum geeigneten Filzstift ohne Argwohn genommen, obwohl sich ein Bleistift für einige flüchtige Zeilen viel besser eignete. Aber dieser Filzstift zwang sie, schön groß und deutlich zu schreiben, und er wirkte für einen Abschiedsbrief entschieden echter als ein Zehnpfennigbleistift. Und nicht zuletzt ließ sich das Alter einer solchen Niederschrift ganz einwandfrei nachprüfen, falls es überhaupt dazu kam. Während seines scheinbar ziellosen Hin und Her betrat Grünthal auch die angebaute Garage. Er musterte seinen funkelnagelneuen BMW, und in sein Gesicht trat so etwas wie Bedauern. Keineswegs zufällig entsicherte er das eiserne Garagenfenster neben der Stahlblechtür, die zum Garten hin23
ausführte. Er prüfte sorgfältig, ob es sich unhörbar öffnen und schließen ließ, und fand alles in Ordnung. Er wußte, daß seine Frau manchmal abends kontrollierte, ob alle Türen verschlossen waren. Und die hintere Garagentür war zusätzlich durch einen Riegel zu sichern, der jetzt allerdings zurückgeschoben war. Eine Viertelstunde war vergangen, als Rainer Grünthal wieder das Wohnzimmer betrat. Seine Frau sah ihm erwartungsvoll entgegen. Vor ihr lag ein vollgeschriebenes Blatt, der Filzstift lag ordentlich parallel daneben. Grünthal nickte ihr anerkennend zu; die Zeilen enthielten genau, was sie aussagen sollten. Mehr noch, Beate hatte, ganz im Bann ihrer Phantasie, mit ihrem Vornamen unterschrieben. „Wunderbar“, sagte er aufrichtig, küßte sie flüchtig auf den gehaßten Madonnenscheitel und brachte das kostbare Schriftstück nach nebenan in sein kleines Arbeitszimmer, wo er es zwischen den Seiten eines alten Schulatlas versteckte. Als er ihr wieder gegenübersaß, zog er einen bunten Reiseprospekt aus der Brusttasche und legte ihn bedeutungsvoll vor Beate hin. „Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Vier Wochen Mallorca, was hältst du davon?“ Seine Frau sah ihn glücklich an, und er schwelgte pausenlos von den Vorzügen eines Sommers im Winter, von Sonne, Meer und Palmen, als habe er den ganzen Prospekt auswendig gelernt. Dann griff er erneut in die Brusttasche und legte zwei längliche Papierstreifen quer auf den Prospekt. „Und hier sind die Flugkarten! Am Samstag geht’s ab!“ Ehe sie ihrer Freude Ausdruck geben konnte, fragte er besorgt: „Aber ob ich da nicht etwas unüberlegt gehan24
delt habe? Ich meine … ihr werdet doch hoffentlich heute Abend fertig?“ Seine Frau sprang so unvermittelt auf, daß Grünthal nach hinten rückte. „Wir fahren nach Mallorca!“ flüsterte sie glücklich, fiel ihrem Mann um den Hals, löste sich wieder von ihm und erklärte kategorisch: „Wir müssen fertig werden, basta! Werde ich dem Herrn Hillmann schon beibringen.“ Hoffentlich, dachte Grünthal, aber er war ziemlich zuversichtlich. Dieser Köder Mallorca, so teuer die Buchung auch war, war sein Geld wert. Der Spielraum von drei Wochen hatte sich auf zwei reduziert. Seine intensive Beschäftigung mit den Wetterberichten hatte das zwingend ergeben. Die Meteorologen rechneten mit einem frühen Winter, über dem nördlichen Atlantik zogen sich ausgedehnte Tiefdruckgebiete zusammen. Schnee lag in der Luft – und kein Westwind wehte! Einen Augenblick erheiterte ihn der Gedanke, daß sein perfekter Plan fast am Westwind gescheitert wäre. Die Regelung dieser Angelegenheit aber hatte nun das Wetter selbst übernommen: es wehte ein ebenso heftiger wie kalter Nordostwind. Natürlich hieß das alles nicht, daß er seine Pläne aufgegeben hätte, wäre es beim Westwind geblieben. Aber er verabscheute es, unter Zeitdruck neue Varianten ausdenken zu müssen, von den Schwierigkeiten im Fall des Triebwagens ganz abgesehen. Er küßte sie und schob sie von seinem Schoß. „Dann kann ich also beruhigt gehen?“ „Aber natürlich – der arme Herr Wenckmann wird sowieso untröstlich sein, wenn er vier Wochen auf seinen Schachabend verzichten muß.“ „Das bedrückt mich auch etwas“, stimmte Grünthal bedauernd zu, während er zur Flurgarderobe ging. Er 25
hatte seinen dunklen Herbstmantel schon übergezogen, als er noch einen Beweis seiner Zuneigung lieferte. „Wenn ihr heute zum Abschluß kommt, wäre das nicht ein Grund zum Feiern? Weißt du was, ich hole zwei Flaschen guten Wein aus dem Keller. Wenn’s nicht recht vorwärtsgehen will, ein Schlückchen zwischendurch schafft mitunter Wunder.“ „Du bist so nett zu mir.“ „Bin ich das?“ Rainer Grünthal horchte den Worten unwillkürlich nach und stieg in den Keller hinab. Er ergriff zwei Flaschen, die ihre stanniolverzierten Hälse neben anderen aus einer Kiste herausreckten. Niemand sah den beiden Flaschen an, daß sie heute schon einmal geöffnet gewesen waren. Seine Fürsorge ging so weit, daß er die Flaschen mit einem Handtuch gründlich entstaubte, ehe er sie in den Küchenkühlschrank stellte. Der Abschied war die übliche Zeremonie, aber Grünthal schien heute in Geberlaune zu sein. „Und noch etwas, weil ja aller guten Dinge drei sein sollen: Bitte Herrn Hillmann, unter allen Umständen auf mich zu warten. Ich glaube, ich habe eine wunderbare Neuigkeit für ihn.“ „Oh, da wird er sich aber freuen. Und wann kommst du?“ „Wie immer, Liebling.“ Als Grünthal die Haustür am Kugelgriff zuzog, wußte er, daß er auch die lange vorbereitete Schlinge zugezogen hatte. Ernst Katzer wußte weder, wie spät es war, noch, wie lange er schon in den Außenbezirken der Stadt herumirrte. Begriffen aber hatte er, daß es ein wesentlicher Unterschied war, ob man sich etwas Verbotenes vornahm oder 26
ob man es durchführte. Eine dumpfe Wut auf sich selbst hatte ihn erfaßt. Zwar schien er insofern Glück zu haben, als ihm bis jetzt noch keine Polizeistreife begegnet war, aber das lag nur daran, daß auch Polizisten lieber in beleuchteten Straßen patrouillierten, als wie er hinter Gärten und auf holprigen Feldwegen herumzustolpern. Sosehr er sich vor sich selbst rechtfertigte, daß ihn offenbar ein unbewußter Rest Anstand von einem lohnenden Einbruch abhielt, es war gewöhnliche Feigheit. Schon zweimal hatte er Zäune überstiegen, einmal sogar schon mit einem Dietrich eine Hintertür zu öffnen versucht, er war immer wieder umgekehrt. Er war einfach nicht der Kerl dafür, er hätte nicht allein gehen sollen. Die Wut steigerte sich zum Haß auf jene, die in den Häusern waren, hinter deren Gärten er entlangschlich. Fast überall drang Licht nach außen, durch Rollläden, durch zartgewebte Gardinen und manchmal dämmrig durch vorgezogene Überstoffe. Ernst Katzer stand jetzt hinter einem Haus, dessen eines Fenster solch dämmriges Licht durchscheinen ließ. Er fand es ganz natürlich, daß dieses Licht seinen Haß regelrecht anstachelte. Was konnte da alles im spärlichen Licht vorgehen? Was? Für ihn gab es nur eine Erklärung: Da drin vergnügten sich zwei, Männlein und Weiblein. Fraßen, soffen und wälzten sich bei leiser Musik auf einer Couch. Diese Vorstellung zwang ihn förmlich über den niedrigen Gartenzaun. Noch einmal zögerte er, als er an der Stahlblechtür zu einer Garage stand, dann spielte er eine Art KatzerRoulett. Kam er ohne Schwierigkeiten hinein, und fand er zum Abwarten auf günstige Gelegenheit ein warmes Plätzchen, war alles entschieden. Wenn nicht, dann … 27
Aber das wußte er selbst nicht. Die Stahlblechtür hatte ein Sicherheitsschloß, und diese komplizierten Schlösser überstiegen seine Fähigkeiten. Aus, dachte er. Aber mit diesem „Aus“ stürmten Hunger, Kälte, der nächste Tag und eigentlich seine ganze Zukunft mit wahrer Wucht in sein Bewußtsein. Er spürte plötzlich eine ekelhafte Schwäche, lehnte sich haltsuchend an die grobverputzte Wand, taumelte einen Schritt zur Seite – und dann geschah das, was ihn doch noch an Wunder glauben ließ. Die Hand, die fahrig auf glatten Fensterscheiben Halt suchte, tauchte ins Nichts, das Fenster war offen. Der Magen krampfte sich vor Schreck und Erlösung zusammen, er stand einige Sekunden und lauschte in das Garagendunkel hinein. Es blieb alles still. Allein von der Aussicht auf Erfolg fühlte Katzer sich etwas gestärkt. Lautlos kroch er durch das Fenster. Es war eine reine Reflexhandlung, daß er das Fenster nicht nur wieder zuzog, sondern auch den Wirbel bediente. Dann erst spürte er die wohltuende Wärme im Raum, in die lauernde Furcht vor Entdeckung mischte sich so etwas wie Dankbarkeit. Er begann sich im Finsteren vorwärts zu tasten und stieß nach wenigen Schritten auf das glattlackierte Heck eines Personenwagens. Vorsichtig tastete er sich an der Seitenfront weiter, streifte mit einer Hüfte warme Zentralheizungsrippen und erfaßte schließlich den Druckverschluß der Autotürklinke. Die Tür war unverschlossen, ein mäßiger Druck, ein Zug, das Licht im Wageninnern flammte auf. Katzer ließ vor Schreck die Tür wieder zufallen, erschrak wegen des dumpfmetallischen Geräusches und duckte sich hastig. Auch jetzt rührte sich nichts. Dennoch wartete er fast 28
fünf Minuten, ehe er die Tür erneut öffnete. Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung musterte er die Garage, sein vorläufiges Quartier. Außer zwei abgefahrenen Reifen, die an der weißgetünchten Wand lehnten, einem verölten Wagenheber und einem verschlossenen Wandschränkchen sah er nichts von Bedeutung. Erst dann fiel sein suchender Blick auf die Seitentür, offensichtlich die Verbindung zum Haus. Auch diese Tür war unverschlossen. Katzer öffnete sie einen Spalt. Er glaubte leise Musik zu hören und dachte grimmig: Na, bitte! Wußte ich’s doch. Dann kroch er in den BMW, sah den Zündschlüssel stecken und spürte eine Art Besitzerstolz, wie er ihn bisher nie gekannt hatte. Im Seitenfach fand er eine angebrochene Kekspackung und im Handschuhfach drei Villinger-Stumpen. Er verschlang die Kekse, zündete sich dann einen der Stumpen an und fühlte sich merkwürdig froh. Er stellte keinerlei Überlegungen an, wie wenig der Mensch zum Glücklichsein eigentlich brauchte, sondern spielte längst mit dem Gedanken, einfach den Wagen zu stehlen. Daß er es nicht tat, hatte verschiedene Ursachen. Er spürte wieder die Erschöpfung der letzten Tage, sah an der Autouhr, daß es erst halb zehn war, und dachte auch an die noch unerforschten Weidegründe im Hause selbst. Dann schlief er auf den Frontsitzen ein. „Hansi ist heute aber mächtig aufgekratzt.“ Der alte Wenckmann sagte es als Entschuldigung für sein unproduktives Spielen, aber es klang nicht böse. Hansi war ein munterer Wellensittich, ein Geschenk Grünthals. An sich hatte Wenckmann für Tiere nie eine besondere Vorliebe gehabt, aber zu seiner eigenen Ver29
wunderung hatte er sich überraschend schnell an dieses Kerlchen gewöhnt. „Er soll Ihnen die einsamen Stunden ein wenig beleben“, hatte Rainer Grünthal gesagt. Heute Abend trillerte „Hansi“ besonders lustig, vor allem wohl deshalb, weil Grünthal in den häufigen Pausen, während Wenckmann über durchschlagende Züge grübelte, immer wieder an den Käfig neben dem alten Büfett trat und Hansi neckte. Grünthal hatte es heute so einzurichten gewußt, daß Wenckmann mit dem Rücken zur Uhr saß. Das war nicht schwierig gewesen, dafür aber enorm wichtig. Der alte Herr, durch Grünthals konzentriertes Spiel weitgehend an das Brett gefesselt, merkte überhaupt nicht, daß dieser den Minutenzeiger der alten Uhr bei jeder Unterhaltung mit Hansi weiterschob. Zehn Minuten nach zehn flötete Grünthal besonders laut und versuchte, das trillernde Pfeifen des Vogels nachzuahmen. „Sie machen mich ganz nervös“, klagte Wenckmann. „Vielleicht hält er mich für einen passenden Partner.“ Fünfzehn Minuten nach zehn stellte er seine Bemühungen ein. Die Anspannung der letzten halben Stunde machte einer launigen Gleichmütigkeit Platz. Die alte Uhr ging inzwischen genau vierzig Minuten vor, es blieben nur noch fünf Minuten, dann mußte er gehen. Eine Schrecksekunde hatte Rainer Grünthal noch zu überstehen. „Was denn, so spät schon?“ sagte Wenckmann verwundert, als Grünthal seinen Aufbruch vorbereitete. „Sagten Sie nicht, auf die gute alte deutsche Qualitätsarbeit sei stets Verlaß?“ Er deutete gezwungen lächelnd auf die Büfettuhr. 30
Wenckmann zog wie immer seine alte Taschenuhr aus der Weste, hielt sie sinnlos ans Ohr und steckte sie wieder ein. „Da haben wir ja heute nicht einmal die erste Partie geschafft“, murmelte er noch verwundert, dann dirigierte er seinen Rollstuhl ins Schlafzimmer. „Betrachten Sie sich als Sieger“, rief ihm Grünthal nach. „Das fehlte noch! Wir spielen die Partie nächste Woche weiter!“ „Wie Sie wünschen“, gab Grünthal höflich zurück, während er über den Käfig des Wellensittichs eine verblichene Tischdecke legte. Dann wünschte er wie immer eine gute Nacht, schloß die Verbindungstür und verließ die Wohnung. Obwohl die Gefahr, gesehen zu werden, nur gering war, wie er aus langen Beobachtungen wußte, schob er sich vorsichtig aus der Haustür. Die Straße war menschenleer, dennoch vermied er jedes Geräusch beim Abschließen der Haustür, huschte unhörbar die wenigen Schritte bis in die schützende Dunkelheit der Stirnwand, wo er den Schlüssel auf übliche Weise ins Hausinnere zurückbeförderte. Gleich darauf eilte er, mit angespannten Sinnen auf den kaum erkennbaren Pfad achtend, quer durch das Wäldchen seinem Haus zu. Als jemand die hintere Garagentür aufschloß, erwachte Ernst Katzer mit jenem Gefühl aus Hoffnung, Frage und Furcht, wie sie jeder Häftling empfand, wenn die Zellentür außerhalb der Regel geöffnet wurde. Er war blitzschnell wach, und er begriff ebenso blitzschnell, daß er nicht im Gefängnis, sondern in einem fremden Auto lag. Er hob vorsichtig den Kopf, konnte 31
aber nichts sehen als den dunklen Schatten eines Mannes, der sich wenige Augenblicke gegen die etwas hellere Nacht abhob. Während Katzer nur noch die Angst vor Entdeckung beherrschte, verdunkelte nun der Schatten einen Teil des Fensters. Es sah aus, als blicke der Mann aus dem Fenster, aber Katzer spürte förmlich, daß der Unbekannte über irgend etwas stutzte. Dann löste sich der Schatten wieder. Sekundenlang tappten leise Schritte, und Katzer begriff aus wenigen Geräuschen, daß der Unbekannte durch die Seitentür im Haus verschwunden war. Sein Herz klopfte so ungestüm, daß er meinte, der Wagen wiege sich in seiner weichen Federung gleichmäßig mit. Auch die Gedanken schienen aus der Spur zu geraten. Was hatte das zu bedeuten? Jemand war gekommen, klar. Aber wer? Und wozu? Der Hausherr? Konkurrenz? Konnte er hier so einfach liegenbleiben und abwarten? Den Kopf noch immer lauschend erhoben, zwang er sich zur Ruhe. Zwar hatte er sich noch vor zwei Stunden in die Geborgenheit der Zelle zurückgesehnt, jetzt, mit ein paar Keksen im Magen, halbwegs bequem in anheimelnder Wärme, mit der noch immer bestehenden Hoffnung auf lohnende Diebesbeute, jetzt war die Sachlage gründlich verändert. Vor zwei Stunden? Wie spät war es eigentlich? Er schaltete die Armaturenbeleuchtung ein, es war fünf Minuten vor halb elf, falls die Uhr richtig ging. Demnach hockte er noch keine Stunde hier im Wagen. Halb elf? Um diese späte Abendstunde stieg doch kein halbwegs vernünftiger „Kollege“ ein? Und schlich auch noch gleich in die Wohnung! Also doch der Hausherr? 32
Oder – Katzer grinste anzüglich vor sich hin – etwa der Hausfreund? Er wußte nicht warum, aber er hatte plötzlich das bestimmte Gefühl, daß ihm hier im Wagen keine Gefahr drohte. Wieder sah er nach der Uhrzeit, es waren ganze zwei Minuten vergangen. Er legte sich endlich wieder auf die Polster zurück und überlegte. Der Mann war ohne Licht von einer Tür zur anderen gegangen, er mußte den Weg genau kennen. Am Fenster hatte der Mann sich gewundert, daß es verschlossen gewesen war. Also hatte er gewußt, daß es vorher nicht verriegelt gewesen war. Wer außer dem Hausherrn konnte das wissen? Er war so beruhigt, daß er wieder in seine Lieblingsträumerei versank, jener in langen Monaten fast zur Wahnvorstellung gewordene Traum, der stets im Bett endete. Als der Unbekannte acht Minuten nach seinem Eintreffen das Haus auf dem gleichen Weg durch die hintere Garagentür wieder verließ, schlief Ernst Katzer schon.
33
4. Dreiundzwanzig Uhr acht drückte Brandmeister Woltersdorf auf den Knopf der Alarmglocke. Genau neunundvierzig Sekunden später raste er im ersten Feuerwehreinsatzwagen mit gellender Notsirene aus dem Depot und nahm Kurs auf die Hardenbergstraße zweiundzwanzig. Wieder einundzwanzig Minuten darauf drehte Kriminalmeister Stengel den Lautstärkeregler seines Kofferradios gereizt auf leise. Vorsichtshalber sogar auf ganz leise. Der Mensch, der ihn da so beharrlich mitten in der Nacht am Telefon verlangte, konnte ebenso der oberste Chef wie sein Vorgesetzter, Kommissar Proskow, sein. Und leider teilten beide seine Schwärmerei für melodisch-sentimentale Schlager absolut nicht. Stengel dachte noch an Belindas Hausboot, als er der wortreichen Erklärung des Brandmeisters Woltersdorf lauschte, und wurde erst aufmerksam, als er von einem Doppelselbstmord hörte. „Natürlich komme ich.“ Er legte den Hörer zurück, schaltete das Kofferradio ganz ab, überlegte noch einen Augenblick, ob er nicht doch lieber den Kommissar anrufen sollte, unterließ es dann aber. Erstens war Proskow bei nächtlichen Störungen noch ungemütlicher als gewöhnlich, und zweitens, was war das schon groß, Selbstmord? Automatisch ordnete er noch die Entsendung eines Teams der Spurensicherung an, dann fuhr er, nun doch etwas in Eifer geraten, eilig nach der Hardenbergstraße. Woltersdorf empfing ihn inmitten einer Schar neugieriger Nachbarn und zufälliger Passanten. Er schien vor 34
allem froh zu sein, einem fragewütigen Mann entkommen zu können, der, langmähnig und bebrillt, unentwegt mit einem Stenogrammblock herumfuchtelte. Natürlich sind die verdammten Presseheinis wieder mal früher an Ort und Stelle als unsereiner, dachte der Kriminalist ärgerlich und zog den Brandmeister einfach am Rockärmel mit sich fort, in das Grundstück hinein. „Was war eigentlich los?“ „Gasexplosion“, erklärte Woltersdorf. Dann deutete er verstohlen auf den knallroten Mannschaftswagen, der unmittelbar hinter der Toreinfahrt zur Garage stand. Stengel sah auf dem Beifahrersitz einen Mann teilnahmslos vor sich hin starren, den linken Arm verkrampft gegen die Brust gepreßt. „Das ist Herr Grünthal“, flüsterte Woltersdorf mitleidig. „Er kam kurz nach elf Uhr nach Hause, betrat sein Haus, knipste das Flurlicht an und wurde im gleichen Augenblick durch die Explosion fast wieder aus dem Haus geschleudert.“ „Also …“ „Gasexplosion in Folge Kurzschlusses“, unterbrach Woltersdorf wie in Sorge, der junge Kriminalbeamte käme von selbst auf die Ursache der Katastrophe. „Und das lassen Sie lieber“, fügte er streng hinzu, als sich Stengel ganz in Gedanken eine Zigarette anzünden wollte. „Wir haben es mit Gas zu tun!“ „Verzeihung“, murmelte Stengel gehorsam und steckte die Zigarette einfach in die Manteltasche. „Natürlich haben wir die Gaszufuhr inzwischen abgeriegelt“, schränkte Woltersdorf bereitwillig ein. Stengel nickte zustimmend, während er hinter dem Brandmeister drei Stufen hochstieg. Jetzt roch er auch den typischen Geruch ausgeströmten Gases, obwohl über 35
allem der Gestank versengter Stoffe lagerte. Schon im Flur wiesen herabgefallener Putz und Risse in den Wänden auf eine Explosion hin. Einen Augenblick dachte Stengel ironisch, daß die hauptsächlichsten Schäden wohl die Feuerwehr angerichtet hatte. Den Fußbodenlinoleum bedeckte ein schmieriger Mischmasch aus herabgelaufenen Wandfarben, Straßendreck und Kalkmörtel. In der durch den Explosionsdruck aus der Verankerung gerissenen Wohnzimmertür blieb der Kriminalist unwillkürlich stehen. In einem unbeschreiblichen Durcheinander angekohlter Sessel, Scherben, umgestürzter Möbel, zerfetzter Gardinen und der üblichen Ziergegenstände sah er betreten die beiden Opfer. Die Frau lag, völlig durchnäßt, lang ausgestreckt auf der seltsamerweise fast unbeschädigten Couch unter dem zertrümmerten Fenster. Stengel wußte instinktiv, daß man sie erst nach den Rettungsarbeiten hochgelegt haben mußte. Das andere Opfer, ein schwarzhaariger Mann in Norwegerpullover, lag noch da, wie ihn die Explosion hingeschleudert hatte: Er lag zusammengekrümmt auf der linken Seite auf dem Fußboden, und die geschlossenen Augen sagten ihm, daß der Mann tot gewesen sein mußte, als das Unglück passierte. Neben dem Toten kniete auf einem verschmutzten Kissen Dr. Grönland, der Stengel nur flüchtig bekannt war. Der Arzt trug unter seinem grauen Kamelhaarmantel einen Smoking und hatte graue Wildlederhandschuhe über die Hände gestreift. Stengel wartete eine knappe Minute, dann richtete sich der Arzt auf, klopfte sich die Handschuhe ab und musterte den jungen Kriminalbeamten durch seine randlose Brille. 36
„Nichts zu machen“, hüstelte er, wischte sich fahrig über die Knie und verabschiedete sich mit der trockenen Bemerkung; „Kein Fall für mich. Ich bin Internist.“ Stengel sah ihm nach und dachte, ohne den Toten anzusehen: Hätte ihn wenigstens auch ein bißchen bequemer zurechtlegen können. Dann schüttelte er das unbehagliche Gefühl ab und wandte sich an Woltersdorf: „Sie sprachen am Telefon von einem hinterlassenen Brief?“ Woltersdorf machte so hastig auf dem Absatz kehrt, daß Stengel das Gefühl hatte, auch dem Brandmeister gehe der Anblick der Toten auf die Nerven. „Den hat Herr Grünthal.“ Als sie gemeinsam aus der flachen Veranda traten, versperrten ihnen die Männer von der Spurensicherung, allen voran der Fotograf, den Ausgang. „Was Besonderes?“ Der Fotograf sah aus, als wollte er jeden Moment einschlafen. „Das Übliche“, gab Stengel, über das saloppe Betragen verärgert, zurück. Darauf wälzte der Fotograf seinen Kaugummi gelangweilt im Mund und murmelte, während er an Stengel vorbeistakte: „Wo die Feuerwehr mit C-Rohren reingehalten hat, ist Spurensicherung reine Zeitverschwendung.“ Rainer Grünthal hockte noch immer abwesend auf dem Beifahrersitz des Mannschaftswagens. Es schien, als habe er sich noch keinen Millimeter bewegt. Niemand sah ihm etwas anderes an als tiefen Schmerz, ja stummes Nichtbegreifenkönnen. Stengel drückte die Türklinke ganz vorsichtig nach unten, öffnete ebenso rücksichtsvoll, murmelte etwas von aufrichtiger Anteilnahme und fragte erst dann bescheiden 37
nach dem Brief. Grünthal sah ihn weder an, noch schien er zu begreifen, daß da jemand eine Frage stellte. Fast wie unter Zwang tastete er dennoch in die rechte Seitentasche seines Mantels und reichte, ohne den Kopf zu wenden, einen vielfach zusammengefalteten Briefbogen heraus. Stengel begriff den Schmerz des Herrn Grünthal – er hatte nicht nur eine Frau auf tragische Weise verloren, sondern auch noch ein werdendes Kind, dessen Erzeuger er nicht war. Und diese fatale Wahrheit hatte er erst durch ebendiesen Brief erfahren. „Herr Grünthal“, sagte er nun leise, „Sie werden verstehen … diesen Brief hier … Sie bekommen ihn aber umgehend zurück!“ Grünthal nickte schwach, wieder ohne den Kopf zu wenden. Kriminalmeister Stengel machte eine unschlüssige Handbewegung. In diesem Moment brüllte im Innern des Wagens jemand unbeherrscht los: „Macht doch bloß den Laden auf – oder ich kotze euch auf die Hosen!“ Die Seitentür klappte auf, aus dem schwach beleuchteten Wageninnern quälte sich zuerst ein dicklicher Polizist in Uniform, ihm folgte wesentlich behender Ernst Katzer. Ohne auf die Umstehenden zu achten, stürzte er zum Wagenheck, lehnte sich gegen das Aufbaublech und erbrach sich ungeniert. Stengel schüttelte verständnislos den Kopf. Dieser Bursche da, daß der überhaupt schon wieder frei war? Aber dann überlegte er, es mußte gut acht Monate her sein, seit er selbst ihn zunächst vorläufig festgenommen hatte. Aber wie kam der zerlumpte Kerl in den Feuerwehrwagen? 38
„Was soll das bedeuten?“ wandte sich Stengel an Brandmeister Woltersdorf. „Entschuldigen Sie, hab’ ich glatt vergessen. Den haben wir hier aufgegabelt. Kann noch von Glück reden. Ja, stellen Sie sich vor, der Bursche lümmelte sich doch in Herrn Grünthals Pkw! In der Garage! War schon halb besinnungslos, als wir ihn fanden. Wahrscheinlich ist Gas in die Garage gedrungen, nicht viel, sonst wäre sie mit in die Luft geflogen, aber eben doch genug, um den Kerl langsam einschlafen zu lassen.“ „So“, sagte Stengel bedeutsam; er war für einen Augenblick albern genug, in Ernst Katzer den Urheber der ganzen Affäre zu sehen. Aber wie sollte der eindeutige Abschiedsbrief dazu passen? Immerhin brachte ihn der kurze Gedankensprung auf die Notwendigkeit, nach Schriftproben der Beate Grünthal zu suchen. Schließlich mußte er am Morgen dem Kommissar Bericht erstatten. Und der Gedanke an Kommissar Proskow veranlaßte ihn auch dazu, sich doch noch etwas mehr umzusehen. Zunächst aber stand da dieser Katzer. Stengel musterte ihn nicht eben mitfühlend, als der Mann sich nun umdrehte und sich mit dem Joppenärmel über die Kinnpartie scheuerte. „Was hatten wir eigentlich hier zu suchen?“ Katzer zuckte die Achseln. Ihm brummte der Schädel; was wollte der Affe von ihm? Er begriff selbst kaum, was um ihn herum geschehen war. „Bißchen flotter“, schnauzte Stengel übereifrig. „Dies hier ist ein Privatgrundstück – hatten Sie nicht wegen Diebstahls gebrummt?“ „Hab’ ich“, gab Katzer gezwungen zu. „Und was wollen Sie noch?“ „Was Sie hier auf dem Grundstück suchen, will ich 39
wissen! Wenn ich mir das eigentlich auch an zwei Finger abzählen kann.“ „Na, dann zählen Sie doch!“ Katzer hustete gequält und lehnte sich erschöpft gegen den Wagen. Aber als Stengel, aufgebracht von der Frechheit, unwillkürlich den Arm hob, als wollte er zu einem Schlag ausholen, schrie Katzer unvermittelt los: „An zwei Fingern! Hier“, er krempelte fahrig seine leeren Hosentaschen um, „sehen Sie was? Nicht mal ’n Taschentuch! Mensch, ich habe nichts gestohlen, nichts geklaut, ich wollte bloß … den Arsch habe ich mir gewärmt!“ Und er wußte selbst nicht, wie leicht und chronologisch ihm all sein Jammer über die Lippen kam. Ja, entlassen hatten sie ihn, was sollten sie auch sonst mit ihm anfangen? Und da hielten sie sich schon für halbe Engel. Aber dann? Was dann? Kümmerte sich dann noch jemand darum? Achtundzwanzig Mark! Keine Arbeit, kein Zuhause, kein Geld, Hunger, schiefe Blicke, Kälte, noch mehr Hunger. „Und andere heizen sogar ihre Garagen, damit’s Lackmöbel nicht friert!“ Der Kriminalist war weit davon entfernt, etwa Mitleid zu haben. Die Welt war nun einmal so, und er fand sie ganz in Ordnung. Er kannte weder Hunger, noch konnte er die Trostlosigkeit nachempfinden. „Na, schön, Sie wollten nicht einbrechen, nicht stehlen, sich bloß aufwärmen. Wie sind Sie dann eigentlich in die Garage hineingekommen?“ „Durchs Fenster, war ja offen.“ „Und das haben Sie natürlich von weitem und in stockfinsterer Nacht gesehen, wie?“ Ernst Katzer sackte plötzlich zusammen, fiel auf das Trittbrett und nahm den Kopf in beide Hände. „Ich weiß nicht.“ Er war im Augenblick sogar überzeugt, daß er 40
nichts als ein trocknes Plätzchen gesucht hatte. „Man hat mich halb vergiftet, da drin sollen zwei Menschen gestorben sein, und Sie interessieren sich bloß dafür, ob ich kalte Füße hatte oder nicht.“ „Ist mein Beruf“, erklärte Stengel ungerührt. „Na, dann steigen Sie man wieder ein. Irgend etwas werden Sie schon ausgefressen haben. Und falls es Sie tröstet, unsere Zellen sind auch geheizt.“ Rainer Grünthal hatte bis zu diesem Augenblick vollkommen unbeteiligt im Polster gelehnt, versunken in Trauer und Verzweiflung. Niemand der Umstehenden ahnte im geringsten, daß er hellwach auf jedes Wort achtete. Fast fühlte er so etwas wie echte Trauer, aber sie galt nicht den Toten im Haus. Er betrauerte sich selbst. Schuld aber war dieser so überraschend und gänzlich unprogrammgemäß aufgetauchte Mann. Bis dahin hatte alles reibungslos funktioniert, wie das nach halbjähriger Vorbereitungszeit auch funktionieren mußte. Kein schwacher Punkt war bisher aufgetaucht. Vorausschauend geplant, tausendfach überprüft, jede nur denkbare Möglichkeit einkalkuliert, es war fast schade, daß man niemanden über die eigene Genialität aufklären durfte. Selbst der steifbeinige Bundesbahnbeamte von schräg gegenüber, der nicht immer pünktlich seinem Heim zustrebte, war heute Nacht auf die Minute richtig gekommen, hatte ihn ins Haus gehen sehen, die Explosion gehört und sofort die Feuerwehr alarmiert, wie man das richtig vorausgesehen hatte. Und das, obwohl man wegen eines lächerlichen Streites seit Monaten nicht mehr miteinander sprach. Aber nun stand dieser Mistkerl da, dreckig, ungepflegt, vielleicht sogar verlaust. Keine Frage, daß der 41
einen Einbruch geplant hatte. Was war das, Zufall oder etwa eine Art höhere Gerechtigkeit? Unsinn, nur keine Panik, wenn auch schnell gehandelt werden mußte. Läuse oder nicht, der Bursche durfte nicht bei der Polizei landen. Gewiß, jetzt war er noch durcheinander, begriff höchstens einen Bruchteil von dem, was hier passiert war. Aber … das war es ja! Morgen schon konnte er sich an mehr erinnern, mochte sich Fragen stellen, Zusammenhänge ahnen. Das Fenster zum Beispiel – was war, wenn dieser Lausekerl ihn vor dreiundzwanzig Uhr gesehen oder nur gehört hatte? Sosehr Grünthal auch überstürztes Handeln unter Zwang verabscheute, jetzt mußte er handeln. Schnell und nahtlos in das bisherige Geschehen eingefügt. Es war eine bittere und leider bisher mitleidig belächelte Wahrheit, daß man alles einplanen, dirigieren, beeinflussen und sich nutzbar machen konnte, alles, nur einen albernen Zufall nicht. Und was anders als Zufall war es, das diesen Mann ausgerechnet heute und bei ihm hatte einsteigen lassen? Ein lächerlicher, ein verfluchter Zufall. Kriminalmeister Stengel stürzte hilfsbereit einen Schritt vor, als Herr Grünthal mit unterdrücktem Stöhnen vom Sitz kletterte. „Mich friert“, flüsterte Grünthal verloren und versuchte ungeschickt, seine Mantelrevers umzuklappen. „Eine Decke, na los!“ befahl Stengel barsch dem dicken Polizisten, der mit solcher Diensteifrigkeit dem Befehl nachkam, als sei er froh, auch mal etwas zu tun zu bekommen. Grünthal ließ sich die Decke umlegen, dann drehte er sich langsam zu Katzer um, der noch immer neben dem Einstieg stand, und betrachtete ihn stumm. „Verschwinden Sie!“ Stengel sah Katzer drohend an. 42
Was stand der Kerl hier noch herum? Allein der Anblick mußte Herrn Grünthal widerwärtig sein, ganz zu schweigen von dem naheliegenden Gedanken, daß Katzer ihn hatte bestehlen wollen. „Einen Augenblick, bitte“, mischte sich, für Stengel unbegreiflich, Herr Grünthal ein. Er hob anklagend seine leicht geschwollene linke Hand, ließ sie wieder sinken und sagte matt: „Verzeihen Sie, es ist so viel passiert … Entsetzliches. Vielleicht, wenn ich Sie sehr bitte … tun Sie ihm nichts.“ Stengel zog verwundert die Augenbrauen hoch. Wußte der Mann in seiner Erschütterung überhaupt, was er redete? Einem fast auf frischer Tat ertappten Einbrecher nichts tun? „Mich friert“, wiederholte Grünthal anklagend, starrte traurig an Stengel vorbei und flüsterte vor sich hin: „Und dann das Haus … die Leere … der Gedanke, daß …“ Diesmal kapierte Stengel schneller. Herr Grünthal hatte offenbar nicht nur Angst vorm Alleinsein, er handelte wohl auch im Zwang, irgend jemanden helfen zu wollen. „Vielleicht wäre es besser, Sie siedelten vorübergehend in ein Hotel über? Oder zu Bekannten? Denn leider wird noch eine Stunde vergehen, bis … nun ja, bis wir fertig sind.“ „Ich danke für Ihr Verständnis“, sagte Grünthal angemessen leise. „Aber, ich … ich möchte jetzt nicht fort. Und vielleicht … wenn doch dieser Herr hier ohnehin nicht weiß, wo er bleiben soll?“ „Was denn, Sie wollen ihn doch nicht etwa hierbehalten?“ Grünthal wagte ein dünnes, trauriges Lächeln. „Wenn er mag?“ Der Kriminalist schüttelte bedenklich den Kopf. Dieser Katzer war immerhin unbefugt hier eingestiegen, klarer 43
Fall, daß er mehr geplant hatte als ein harmloses Nickerchen. „Nun ja“, gab er schließlich widerstrebend nach, „strenggenommen liegt nichts Schwerwiegendes gegen ihn vor. Vorausgesetzt, Sie stellen keinen Strafantrag.“ Als Grünthal eine Geste des Verzichts andeutete, entschloß sich Stengel: „Also gut, meinetwegen. Aber ich muß Sie vorsorglich warnen!“ Herr Grünthal nickte nur müde vor sich hin. Stengel zog den staunenden Katzer am obersten Joppenknopf dicht an sich heran. „Sie haben’s ja gehört, Freundchen! Ich will mich hier nicht näher auslassen, aber ich warne auch Sie. Höre ich nur das leiseste Gerücht – aus der Traum!“ Er sah sich um, und dabei fiel ihm noch ein, was man als Lorbeerblatt für die Polizei anheften konnte: „Ich habe Ihr Klagelied gehört, Katzer. Bitte, vielleicht haben Sie jetzt Ihre Chance. Sie suchen doch Arbeit – hier können Sie sich in den nächsten Tagen sehr nützlich machen. Aber wie gesagt, sollte nur für Sie persönlich dabei Nutzen herausspringen, dann …“ Er schubste Ernst Katzer, der nichts als unruhige Verständnislosigkeit zeigte, leicht von sich, gab dem Brandmeister einen Wink, ihm zu folgen, und marschierte zurück ins Haus.
44
5. Kommissar Hubert Proskow kam am Morgen zwei Stunden später zum Dienst, eine Disziplinlosigkeit, die ihn seit einiger Zeit nicht mehr sonderlich berührte. Er war ein massiger Mensch, schon knapp über sechzig Jahre alt, und kaum jemand kannte ihn anders als in Loden. Ohne je auf Mode Rücksicht genommen zu haben, hatte er eine Zeitlang durch röhrenenge Hosen ausgesprochen modisch gewirkt, wenn er auch in den gleichen Hosen in den dreißiger Jahren ähnlich modern ausgesehen hatte. Sein Gesicht, so spöttelte man hinter seinem Rücken, sähe aus wie das Hans Mosers, wenn der eine besonders krötige Rolle hatte spielen müssen. Auch sonst ließen jüngere Kollegen nur wenig gute Züge an Proskow gelten, man erkannte lediglich an, daß der alte Kommissar hartnäckig sein konnte wie ein abgewiesener Liebhaber. Seit vor einigen Jahren seine Frau gestorben war, hatte er sich angewöhnt, seine private Zeitrechnung mit ihrem Todestag zu verbinden. Fragte ihn jemand nach einem Vorkommnis, das nach diesem Todestag lag, so begann er umständlich zu rechnen: „Das muß so ungefähr zweieinhalb Jahre nach dem Tod meiner Frau gewesen sein …“ Die gelegentliche, mehr aus Höflichkeit als aus echter Sorge gestellte Frage, wie es ihm denn so gehe, pflegte er mürrisch mit der Floskel zu beantworten: „Ich verlottere langsam.“ Ohne mehr als einen verdrießlichen Morgengruß zu knurren, quälte er sich aus dem Mantel, hängte ihn achtlos über Stengels Nylonkutte und latschte widerstrebend hinter seinen Schreibtisch. Obwohl er es nie aussprach, er 45
haßte dieses Amtszimmer, haßte die Luft darin und ganz besonders die gipsverzierte Decke, die noch aus einer Zeit stammte, als Stuck und Schnörkel als Attribute einer gehobenen Lebensführung galten. Er haßte dieses Zimmer und konnte sich doch ein Leben ohne die Arbeit darin kaum noch vorstellen. Ohne Rücksichtnahme auf den strebsamen Stengel, den er starrsinnig Stange nannte und höchstens in ausgewogener Gemütsverfassung auch einmal Stengel-Stange, ließ er die rechte Rolljalousie herunterrasseln, stellte eine halbvolle Flasche Schinkenhäger auf die Platte und setzte sich erst dann. Fast herausfordernd musterte er seinen jungen Kollegen, sah dessen freundlich-hinterhältiges Grinsen und führte die Flasche zum Mund. Als er sie nach einem kräftigen Zug wieder absetzte, hob Stengel seinerseits eine volle Milchflasche zum Mund und trank sie, ohne abzusetzen, halb leer. Damit war die allmorgendliche Zeremonie beendet, die Proskow für eine Art Lebensnotwendigkeit, Stengel dagegen für einen Bekehrungsversuch hielt. Als Stengel sich nun tatendurstig vorbeugte, um seinen Bericht über die Geschehnisse der Nacht loszuwerden, knurrte der Kommissar bösartig: „Wenn in deinen nächsten Sätzen das Wort Eier fallen sollte, schmeiße ich dir deine eigene Milchflasche an den Schädel!“ Proskow starrte auf einen Aktenstapel, der allmählich beängstigende Höhe annahm. Und obenauf lag der „Faule-Eier-Fall“, wie er ihn nannte. Schlimm daran war nicht so sehr die Geschichte an sich, sondern der Wirbel, den der Leidtragende darum verursachte. Man hatte vor gut einer Woche den Lastzug des Eiergroßhändlers Krampa einige hundert Meter von der Fernstraße entfernt im 46
Walde gefunden. Nach Angaben des Fahrers hatte der den Lastzug mitsamt seiner Ladung dänischer Eier vor der Raststätte „Im Kühlen Grund“ abgestellt. Er sei müde gewesen, was man nach der langen Fahrt von der Grenze her durchaus glauben durfte. Eine Stunde später, als der Fahrer gestärkt die restlichen dreißig Kilometer in Angriff nehmen wollte, fand er den Lastzug nicht mehr. Dafür hatte ihn ein Förster gefunden, sozusagen als gigantisches Rührei. Wer immer in der Ladung etwas gesucht hatte, er mußte seine Enttäuschung über vergebliche Mühe an den Eiern ausgelassen haben. Merkwürdig blieb nur, daß Herr Krampa steif und fest behauptet, es fehle eine Kiste. Zu allem Überfluß war dieser Herr Krampa Landtagsabgeordneter der CDU und leitete daraus ein Recht auf bevorzugte Bedienung ab. Obendrein hatte er Schererei mit der Versicherung, die vorerst jede Ersatzleistung verweigerte, da ja offensichtlich kein gewöhnlicher Unfall vorlag. Und nun bombardierte dieser Herr Krampa fast stündlich jeden erreichbaren Beamten telefonisch mit Verwünschungen, Verdächtigungen und Drohungen. „Wie wär’s zur Abwechslung mal mit Selbstmord?“ begann Stengel nun freundlich. „Bitte“, brummte Proskow gleichmütig, „deinen Revolver wirst du ja finden.“ Auch dazu schmunzelte Stengel bereitwillig, zuckelte nochmals an seiner Milchflasche und begann dann sachlicher über die nächtliche Tragödie zu berichten. „Also Doppelselbstmord, Herr Kommissar!“ Proskow blinzelte zunächst nur müde. „Wenn man unseren Politikern und Wirtschaftsführern sowie den Zeitungen glauben darf, geht es uns so gut wie nie zuvor. Warum allerdings jährlich fast fünf47
zehntausend Deutsche Selbstmord begehen, weiß dann wohl bloß der liebe Gott.“ Stengel gähnte, weniger aus Protest gegen Proskows Betrachtungen als aus Müdigkeit. Er hatte eine betriebsame Nacht hinter sich, hatte obendrein wegen des „Alten“ schon zwei Stunden länger warten müssen; ihn zog es ins Bett oder wenigstens an die frische Luft. „Und wo ist der Brief?“ fragte Proskow keineswegs interessierter. Ihn ärgerte, daß ausgerechnet sein junger Mann Nachtdienst gehabt hatte und deshalb auch dieser „Mist“ automatisch an ihm hängenbleiben würde. Er nahm den Brief mit spitzen Fingern, schob den Packen Fotografien, die Stengel gleich mit hinüberreichte, neben den unbequemen Aktenstapel und las geduldig. Er las einmal, las zweimal, einen Widerspruch oder sonst Ungewöhnliches fand auch er nicht. „Weiter“, verlangte er schließlich. „Sie meinen die Fingerabdrücke?“ vergewisserte sich Stengel. „Nein, den Tintenhersteller!“ Stengel quälte sich auch dazu ein Lächeln ab. „Das ist mit Filzstift geschrieben“, korrigierte er. „Also die Abdrücke … da sind zunächst natürlich die der Frau Grünthal, dann Herrn Grünthals, ferner Woltersdorfs, dann meine – und nun auch noch Ihre. Alles in bester Ordnung, würde ich sagen.“ „Sag’s leise“, meinte Proskow, aber mehr reflektorisch. Da hatte also eine Frau ihr Leben freiwillig beendet, weil sie sich mit einem anderen Mann eingelassen hatte, die Folge war eine Schwangerschaft. Verheimlichen läßt sich das nur in billigen Liebesschwarten, wo der Herr Graf erst nach vollzogener Geburt vor Freude fassungslos ist. 48
Auch dieser Grünthal muß sich gefreut haben; die Frau, wahrscheinlich labil, erlag dem drückenden Schuldgefühl ihm gegenüber … Proskow sah kaum auf. „Ich vermisse zum Beispiel die Fingerabdrücke des männlichen Opfers … Was wissen wir eigentlich über diesen Mann?“ Stengel kratzte sich am Kopf, ehe er antwortete: „Ja, sehen Sie, der Mann macht eigentlich den Selbstmord verständlich. Nicht so sehr seinen eigenen als vielmehr Frau Grünthals. Ein gewisser Klaus Hillmann, arbeitete zuletzt als Tankwart bei der Esso. Soviel ich in der kurzen Zeit über ihn erfahren konnte, tauchte er erst vor einem knappen Jahr hier auf, und zwar mit gültigen Reisepapieren, ausgestellt in Toronto, also Kanada.“ „Was, ein Ausländer? Und warum die Betonung auf gültig?“ „Nein, nein, Deutscher ist er schon. Oder noch, hat sich jedenfalls nie naturalisieren lassen. Nach seinen Papieren ist er einundvierzig Jahre alt, ledig, ohne erlernten Beruf. Ja, und gültig deshalb mit Betonung, weil er neunzehnhundertsiebenundvierzig illegal nach Kanada auswanderte.“ Er seufzte, als wäre Auswanderung schon immer sein Traum gewesen. „Möchte wissen, wie der damals, kurz nach dem Krieg, das Kunststück fertiggebracht hat, als Deutscher illegal nach Kanada zu kommen. So scharf, wie die Siegermächte damals waren? Wollte ja mancher gern aus gewissen Gründen möglichst weit fort, nicht?“ Proskow ging darauf nicht ein. „Und wieso macht das nun den Selbstmord verständlicher?“ Stengel kratzte sich erneut am Kopf. „Nun ja, wie das nun so ist, hier bei uns. Eine Dame aus sogenannten besseren Kreisen und ein gewöhnlicher Tankwart?“ 49
„Reicht mir“, stoppte Proskow. „Haben Sie wenigstens eine Obduktion veranlaßt?“ „Selbstverständlich! Soll ich gleich mal …?“ Stengel griff nach dem Hörer, wartete aber erst Proskows ausdrückliche Bestätigung ab, ehe er sich mit dem Gerichtsmediziner verbinden ließ. Als er nach knapp einer Minute den Hörer wieder auflegte, meinte er vorsichtig: „Vorerst nur oberflächlich, Herr Kommissar, aber die fehlenden Fingerabdrücke Hillmanns scheinen ihre Erklärung zu finden.“ Der Kommissar tat ihm nicht den Gefallen, nun Neugier zu zeigen. „Todesursache“, sagte Stengel etwas lauter, „sei mit Sicherheit CO, also Kohlenoxidvergiftung. Das konnte man sich übrigens nach Lage der Dinge an den Fingern abzählen …“ Er verstummte unwillkürlich, er hatte in diesem Fall, wenn auch mehr indirekt, schon mal etwas an zwei Fingern abzählen wollen. „Zählen Sie weiter“, sagte nun auch Proskow, fast genau wie in der Nacht dieser Katzer. Den zu erwähnen, notierte Stengel bei sich, durfte er übrigens auch nicht vergessen. „Ja, also CO … Nun hat man aber auch bei beiden nicht unerhebliche Spuren eines Barbiturates festgestellt, vermutlich Veronal oder ein ähnliches Schlafmittel, dazu Alkohol. Damit liegt der Schluß nahe, daß Hillmann gar nichts von seinem ‚Glück‘ ahnte, sondern erst eingeschläfert wurde. Dann wäre es allerdings Mord mit anschließendem Selbstmord der Täterin. Oder, auch das wäre möglich, sie waren beide zwar entschlossen, aber zu feige. Nun“, schloß er selbstgefällig, „die meisten Selbstmorde werden ja bekanntlich unter Einfluß von Alkohol oder sonstigen Rauschmitteln begangen.“ 50
Er war mit seinen Ausführungen recht zufrieden und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Dann aber fiel ihm auf, daß er sich eben selbst widersprochen hatte. Er beugte sich hastig wieder vor, um dem Kommissar zuvorzukommen, denn daß der diesen Widerspruch überhören konnte, hielt er für einen Wunschtraum. „Das heißt, um nochmals auf die fehlenden Fingerabdrücke hinzuweisen, sicherer ist wohl, daß Frau Grünthal ohne Hillmanns Wissen gehandelt hat. Vermutlich schrieb sie den Brief, ehe er bei ihr eintraf. Vielleicht auch haßte sie diesen Mann inzwischen, also eine Art Vergeltung, vielleicht auch nur verirrte Gefühle, religiöser Irrglaube oder so.“ „Oder so! Diese Jugend! Immer vorschnell im Urteil, überhastet im Handeln. Natürlich, kann alles stimmen, was du da faselst, mein Sohn. Wenn du erst mal länger in diesen Dschungel hineingerochen hast, wirst du möglicherweise in Behandlung von Kohlenoxidvergiftungen auch vorsichtiger werden. Hoffentlich“, knurrte er abschließend. „Aber Chef! Hier ist doch alles klar! Wir finden zwei Tote, gasvergiftet, ein Motiv, annähernd klassisch, einen – wie Schriftproben ergeben haben – unbestreitbar von Hand der Toten verfaßten Abschiedsbrief. Wir haben einen ahnungslosen Ehemann, der völlig unbefangen das Flurlicht anschaltet und im gleichen Augenblick vom Explosionsdruck bis halb vor die Haustür gefegt wird. Obendrein haben wir dafür einen Zeugen, einen Bahnbeamten – wollen wir doch eine fast alltägliche Geschichte nicht dramatisieren!“ „Ahnungslos, sagst du? Wo kam er denn eigentlich her, der Herr Grünthal? Oder weißt du das etwa nicht?“ Kriminalmeister Stengel wurde allmählich wütend. „Ich habe ja nachts nicht geschlafen. Natürlich weiß ich 51
das! Er kam, wie jeden Mittwochabend, von einem Herrn Wenckmann, übrigens ehemaliger Kriminalbeamter, jetzt pensioniert. Der wird Ihnen doch wohl vertrauenswürdig genug sein?“ Proskow brummte abfällig. Er kannte Wenckmann zur Genüge, viel Staat war mit dem nicht zu machen gewesen. Immerhin aber, nach der Uhr würde er sich wohl heute noch richten können. Stengel deutete Proskows Brummen richtig und tat, als interessierte ihn nun überhaupt nichts mehr. „Trink einen Schluck Milch“, riet ihm Proskow, und er schien tatsächlich etwas belustigt zu sein. „Und nun hör mal zu. Vorsicht bei Kohlenoxidvergiftungen, sagte ich. Denn bei keiner anderen Todesursache ist die Zahl der unaufgeklärten Fälle so hoch wie gerade hier, verstanden? Die Grenzen zwischen Unfall, Selbstmord oder Mord lassen sich, im Verhältnis zu anderen Todesarten, zu leicht verwischen.“ „Aber wer soll denn hier einen Mord begangen haben?“ „Wer?“ Der Kommissar zuckte uninteressiert die Achseln, angelte seinen Schinkenhäger aus dem Fach, trank mit geschlossenen Augen einen Schluck, den Stengel sehr beachtlich fand, und erhob sich mühsam. „Wer? Wie immer jemand, der den Nutzen davon hat, wer sonst?“ „Damit kann ich nicht dienen“, sagte Stengel, „damit kann wahrscheinlich keiner dienen. Niemand hat … das heißt, etwa doch dieser Katzer?“ Proskow, auf dem Weg zum Kleiderhaken, blieb nicht einmal stehen. Während er sich schnaufend in den Mantel zwängte, fragte er knapp: „Katzer? Wer ist das?“ Stengel erzählte von der Episode am Rande. Er vergaß 52
auch nicht Grünthals Angebot zu erwähnen. „Dieser Katzer hat unverdientes Schwein gehabt.“ „Man sollte dem Erfinder des Schlagers, daß Milch müde Männer munter macht, ein Denkmal setzen“, brubbelte der Kommissar. „War doch schon recht ordentlich eben … Wie nämlich wollte man diesen Herrn Katzer und die letzten Zeilen der Frau Grünthal – unzweifelhaft echt, wie ich hörte – in Einklang bringen?“ Dann wollte er ohne Gruß das Zimmer verlassen. „Ja aber … ich hatte Nachtdienst! Und ich bin …“ Stengel hatte gehofft, sich zu Hause ausschlafen zu können. „Und wenn jemand nach Ihnen fragt?“ „Flüstere jedem Neugierigen heimlich ins Ohr, ich wäre zum Frisör.“ „Soll ich das auch Herrn Krampa sagen?“ Der Kommissar riskierte eine Art Grimasse, die nur genaue Kenner Proskowscher Heiterkeitsausbrüche als Lächeln deuten konnten. „Dem Rühreiabgeordneten sagst du natürlich, ich sei bei der Überfahrt nach Kopenhagen vom Fährschiff gerutscht und beinahe ersoffen.“
53
6. Kriminalmeister Stengel würde sich wahrscheinlich selbst belobigt haben, hätte er zu erfahren bekommen, was Ernst Katzer im Moment des Erwachens dachte. Schwein gehabt, dachte er nämlich. Er, ein halb Verzweifelter, schien doch tatsächlich wenigstens einmal Glück zu haben. Und wenn das Glück vorerst auch nur in einem sauberen Bett, einem Mansardenzimmer mit schrägen Wänden und leidlicher Geborgenheit bestand, irgendwie saß das Glücksgefühl tiefer. Von unten hörte er hin und wieder Schritte, und diese Schritte waren es auch, die ihn die Festung Bett räumen ließen. Das Gefühl leidlicher Geborgenheit ließ die bisher nur auf Essen, Trinken, Schlafen ausgerichteten Gedanken merkwürdig rasch in die genormten Gleise des Alltags zurückfinden. Es ließ sogar Spielraum, über die neueste Wendung im Leben eingehend nachzudenken. Während er sich anzog, versuchte er schon zu raten, was einen Menschen wie diesen Herrn Grünthal wohl bewogen haben mochte, einen fast auf frischer Tat ertappten Dieb wie einen Gast aufzunehmen. War es nur, wie dieser lange Kripomensch gemeint hatte, der einleuchtende Umstand, daß hier eine billige Arbeitskraft für Aufräumungsarbeiten dringend gebraucht wurde? Mußte der Herr Grünthal nicht genau wissen, daß ein Katzer nicht nur aus Versehen in den BMW geraten war? Oder war es doch Mitleid, geboren unter dem Druck einer familiären Katastrophe? Ernst Katzer wunderte sich bald selbst darüber, wie schnell und ohne Komplikationen der Umschwung von tiefster Not zu einer Art gehobener Lebensführung von54
statten ging. Mochte es Mitleid sein, Berechnung oder einfach einer jener unbegreiflichen Einfälle wohlhabender Leute, wesentlich war die Realität. Und die sah vielversprechend aus, gemessen am gestrigen Tiefstand. Der Umschwung war so vollkommen, daß er erst noch das Zimmer einer flüchtigen Durchsuchung unterzog, ehe er zögernd nach unten ging. Der veraltete Kleiderschrank hing voll von gebrauchter Kleidung, für einen halb zerlumpten Burschen wie ihn ein durchaus erfreulicher Anblick. Daß ihn ein gewisses Schamgefühl überkam, empfand er ebenso natürlich wie überflüssig. Etwas überhastet verließ er das Zimmer und stieg leise die Treppe hinunter. Aber es war schon wieder Berechnung, daß er lediglich in Hose und schmuddeligem Pullover ging, die Joppe lag oben. Falls den Hausherrn schon jetzt der eigene Einfall reute, mußte man auf alle Fälle erst wieder nach oben. Und dort stand der gefüllte Kleiderschrank. Mit jeder Stufe nach unten wuchsen zwei Gefühle. Zum ersten das Unbehagen, sich jetzt einer Entscheidung stellen zu müssen. Die alte Feigheit bremste die Schritte, während das andere Gefühl dem genau entgegenwirkte: Katzer spürte einen unverschämten Hunger. Rainer Grünthal, der in der offenen Verbindungstür zur Garage stand, tat zunächst, als sei er in Gedanken weit weg. Er hatte mit Befriedigung registriert, daß dem BMW nicht das geringste passiert war, obwohl auch das einkalkuliert gewesen war. Nun, um so besser. Als er sich nun umdrehte, schien er Katzer noch immer nicht zu bemerken, ja, er schien sich nicht einmal an seinen Gast zu erinnern. Er trug noch immer den gleichen Anzug wie in der Nacht, war unrasiert und wirkte schon dadurch ungepflegt. Jeder Nachbar würde allein an die55
sem außergewöhnlichen Aufzug erkennen, wie schwer ihn das Unglück getroffen hatte. Geistesabwesend schlurfte er nun bis an die herausgerissene Wohnzimmertür, stierte traurig in die Überreste einstiger Wohnlichkeit, wandte sich wieder ab und tat, als bemerkte er nun erst den wartenden Katzer. „Ach, Sie …“, murmelte er unbestimmt, nickte ihm unbeteiligt zu und schlurfte weiter bis zur Küchentür. „Sie werden Hunger haben, nicht wahr?“ fragte er dann etwas munterer und winkte dem Wartenden einladend zu. Ernst Katzer gehorchte eilfertig, vornehmlich aus Hunger, aber auch, um nur ja nichts verkehrt zu machen. „Hoffentlich haben wir noch etwas im Haus“, hörte er Grünthal vor sich hin murmeln, während er den Kühlschrank öffnete. Katzer spähte neugierig über die Schulter des Hausherrn und atmete hörbar durch. Allein die gestapelten Konserven reichten für drei Tage, und die aufgeklebten bunten Bilderchen versprachen Genüsse, wie er sie seit langem nicht mehr kannte. Er würde sich vollstopfen, so gut es ging, ein satter Magen wurde noch immer mit den Widerwärtigkeiten des Lebens besser fertig. Und als Herr Grünthal jetzt sagte, daß leider kaum noch Brot oder Brötchen vorhanden seien, hielt er es für seine selbstverständliche Pflicht, hilfreich einzuspringen. „Oh, da hole ich eben schnell Brot. Oder Brötchen.“ „Das werden Sie nicht tun!“ Katzer zuckte betreten die Schultern, wenn er auch keineswegs begriff, was er nun eigentlich verkehrt gemacht hatte. Brötchen holen, dachte Grünthal grimmig. Das fehlte noch, daß der Bursche spazierenging, mit diesem oder 56
jenem quasselte und sich über Dinge ausließ, die er selbst noch nicht geordnet hatte. War er vielleicht stundenlang unruhig im Haus umhergewandert, nur um sich an den Trümmern seiner Wohnung zu ergötzen? Gewiß, es hatte sich als unnötig erwiesen, aber solange man nicht wußte, woran man mit dem Kerl war, mußte er unter ständiger Kontrolle bleiben. Einen Augenblick erheiterte ihn der Gedanke fast, daß er wegen einiger Brötchen in Kalamitäten geraten sollte, und zugleich verwünschte er seine eigene Bequemlichkeit. Die Küche war ausschließlich Beates Revier gewesen. Schließlich aber fand er im Küchenschrank einen ganzen Stapel abgepackten Landbrotes, und er murmelte, schmerzlich und ergriffen: „Sie war immer so vorsorglich.“ Hoffentlich hatte sie auch anständigen Kaffee auf Vorrat, dachte Katzer grob, aber das war mehr eine Art stiller Revanche für die unverständliche Schärfe eben. Und dieser Herr Grünthal schien Gedanken lesen zu können. Er nestelte den Tauchsieder, der merkwürdigerweise noch immer an seinem Platz hing, von der Wand und erklärte: „Ein Kaffee dürfte uns auch nichts schaden, was meinen Sie?“ Als der Duft des gebrühten Kaffees durch den Raum zog, fühlte sich Ernst Katzer trotz der Unordnung irgendwie zu Hause. So, ganz genau so, hatte es immer bei Mutter gerochen. Zu Hause! Mein Gott, wie lange war das her? Seit die Mutter tot war, hatte er kein Zuhause mehr gehabt. Und nun verursachte das bißchen Kaffeeduft ein Heimwehgefühl, das irgendwie im Magen saß. Er sah die Mutter wieder neben dem Küchenherd sitzen, klein und 57
alt, in der Hand die geblümte Kaffeetasse. Er sah das abgescheuerte Sofa, an der die altmodischen Fransen seit dem Tag fehlten, da er sie als Kind abgeschnitten hatte. Er sah die zerschnittene Wachstuchdecke auf dem Küchentisch, und er erinnerte sich gerade jetzt an die ewig halb offenstehende linke Küchenschranktür. Mindestens fünfzigmal hatte er das Schloß reparieren sollen und es doch nie geschafft. Eine Kleinigkeit wäre es gewesen, eine ganz verdammte Kleinigkeit … „Da kommt doch jemand?“ sagte plötzlich Herr Grünthal, und nun hörte auch Ernst Katzer, daß draußen die Scherben der zersplitterten Flurtürscheibe klirrten. Kommissar Proskow begrüßte Herrn Grünthal im Flur mit der ihm eigenen Art, etwas mürrisch, mit einigen unumgänglichen Formeln, aber doch mit einem gewissen Mitgefühl. Die wenigen Schritte von der Veranda bis hierher, durch Scherben, feuchten Schmutz und im typischen Geruch verkohlter Bezugsstoffe, hatten den von Stengel geschilderten Eindruck nachhaltig bestätigt. „Es tut mir leid“, begann er stereotyp und stellte sich vor. „Ich verstehe zwar nicht … aber bitte, tun Sie Ihre Pflicht.“ Der Hausherr deutete matt auf die herausgerissene Tür. „Dort drin“, murmelte er gepreßt, „dort drin …“ Proskow schob sich an Grünthal vorbei und stellte sich mitten in den Türrahmen. Das Zimmer sah noch genauso aus, wie es in der Nacht fotografiert worden war. Auf dem Weg hierher hatte er sich jene Fragen längst zurechtgelegt, die noch einer Klärung bedurften. Er wandte sich um, aber Rainer Grünthal verschwand eben in einem Zimmer, aus dem leises Geschirrklirren drang. Gleichmütig ging er dem Hausherrn nach. 58
Ernst Katzer erhob sich unwillkürlich, als die massige Gestalt des Kommissars auf der Schwelle stand. Er erhob sich um so eilfertiger, als er im Gefängnis häufig von dem Mann in Loden hatte reden hören. Man hatte wenig Gutes an ihm gelassen, allerdings schien man ihm in Häftlingskreisen mehr zuzutrauen als die hiesige Polizeibehörde. „Bleiben Sie schon sitzen“, sagte Proskow. Er hatte nichts gegen diesen Katzer, er kannte ihn lediglich aus Stengels Bericht. Er gehörte auch nicht zu jenen, die einem Vorbestraften ewig mißtrauten. Er wußte zu gut, daß die Behörden ihren Prozentsatz Schuld hatten, wenn ein Vorbestrafter wieder rückfällig wurde. Und wie er die Vollzugsbehörde kannte, hatten sie auch diesen jungen Mann mit einigen Spargroschen in ein Leben hinein entlassen, dem solche labilen Charaktere schon vorher nicht gewachsen gewesen waren, geschweige denn jetzt. „Vielleicht einen Kaffee, Herr Kommissar?“ fragte Ernst Katzer unsicher, aber sofort wurde ihm bewußt, daß er erstens hier gar nichts anzubieten hatte und zweitens schon gar nicht einem Kommissar Proskow. Er sah sich hilfesuchend nach Grünthal um, aber der schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Rainer Grünthal wartete längst auf die Fragen des Kommissars. Er hatte vorausgesehen, daß es nicht bei der ersten Untersuchung bleiben würde. Und eigentlich erst von dieser Minute an, mit dem Erscheinen des ihm flüchtig bekannten Kommissars, begann die entscheidende Phase. Bis jetzt, das wußte er genau, war erst eine Art Ouvertüre über die Bühne gegangen. Grünthal glaubte auch die erste Frage zu kennen. Man hatte mit Sicherheit die Spuren des Schlafmittels entdeckt, ganz natürlich, daß man sich jetzt für die Flüssig59
keit interessieren mußte, die damit versetzt gewesen war. Der schlaksige Beamte von heute Nacht hatte dem noch keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch kam Proskows erste Frage ganz anders. „Sagen Sie, Herr Grünthal, kannten Sie eigentlich diesen Herrn Hillmann näher?“ Grünthals erste Reaktion war zunächst nur Ärger. Mit einem bezeichnenden Blick auf den noch immer unruhigen Katzer fragte er leise: „Müssen wir das hier …?“ Proskow gab ihm recht und ging langsam voraus in das verwüstete Wohnzimmer. Sein Blick glitt zur Decke, vom Putz war nicht viel übriggeblieben. Er sah, daß die Decke noch mit Leichtbauplatten gearbeitet war, und schloß daraus auf das ungefähre Alter des Hauses. „Um die Frage zu wiederholen“, brummte er dann, während er den Wert eines umgestürzten Fernsehgerätes taxierte, „kannten Sie ihn?“ „Nun ja, gesehen habe ich ihn wohl hin und wieder. Auf der Straße. Er soll ja, wie ich in der Nacht hörte, hier irgendwo in der Nähe gewohnt haben. Nur, wenn Sie etwa meinen, ob ich … nein, davon wußte ich nichts.“ Kommissar Proskow wandte sich rasch um; der Mann sah angemessen unglücklich aus. Nun ja, wie sollte man bei einem derartig bösen Erwachen auch anders aussehen? Fast tat es ihm nun leid, die nächste Frage zu stellen. Immerhin war sie von einiger Wichtigkeit, die Frage nämlich, wo Herr Grünthal eigentlich den Abschiedsbrief seiner Frau gefunden hatte. Ausgeschlossen, daß er hier, beispielsweise auf dem Tischchen dort, gelegen hatte. Hier hatte die Feuerwehr gehaust, hier hatte es Feuer, Wasser, Dreck gegeben. Und der Brief war, sah man von den Spuren schmutziger Hände ab, sauber gewesen. „Der Brief?“ Rainer Grünthal hob langsam den Kopf. 60
Ohne sich vom Fleck zu rühren, deutete er müde auf eine Tür, die die Explosion fast unversehrt überstanden hatte. „Dort drin, auf meinem Schreibtisch.“ Kommissar Proskow stakte die wenigen Schritte durch den Schutt, zerrte die klemmende Tür auf und stand in einem kleinen, bis zur halben Höhe getäfeltem Zimmer, in dem ein Schreibtisch und eine Bücherwand dominierten. Der Raum war, sah man von einigen Rissen in der Trennwand zum Wohnzimmer ab, vollkommen unbeschädigt. Falls man hier überhaupt noch von Glück reden konnte, so war zum Glück die Druckwelle der Explosion in Richtung zum Flur gegangen. Proskow preßte die Tür wieder zu und zollte im stillen seinem Mitarbeiter eine gewisse Anerkennung. Die einfachste Erklärung, daß nämlich der Brief deshalb nebenan gelegen hatte, damit er nicht beschädigt wurde, war blanker Unsinn. Es hätte bedeutet, daß die Selbstmörder mit der Explosion gerechnet hatten. Auch Selbstmörder stimmte nicht mehr, Stengel dürfte mit seiner Vermutung recht gehabt haben. Hillmann war wohl ahnungslos in den Tod gegangen, besser gesagt, mitgenommen worden. Und der Brief hatte deshalb nebenan gelegen, damit er ahnungslos blieb. „Tja, so geht das manchmal zu.“ Herr Grünthal nickte schwach. „Ich hätte sie nicht so oft allein lassen dürfen.“ „Sie pflegten jeden Mittwochabend auszugehen?“ schwenkte Proskow zwangsläufig auf die Linie ein, auf der Grünthal ihn haben wollte. Der Hausherr sah anklagend zur Zimmerdecke. „Jeden Mittwoch, richtig. Zu Herrn Wenckmann. Schach spielen, Sie kennen sicher Herrn Wenckmann?“ 61
„Ich kann mich nur nicht erinnern, wo er wohnt.“ „Gar nicht weit von hier. Danziger Weg Nummer siebzehn.“ Grünthal wies irgendwo in Richtung durch das zertrümmerte Fenster und flüsterte, von der Erinnerung gepackt: „Gar nicht weit … und doch viel zu weit.“ Der Kommissar nickte mit einer gewissen Anteilnahme. Dem Mann da mochte die halbe Welt eingestürzt sein. Wenn er auch Stengel gegenüber eine Art dienstlicher Skepsis demonstriert hatte, bis jetzt sprach alles für die Bestätigung eines ebenso bedauerlichen wie außergewöhnlichen Unglücksfalles. Und Selbstmord war hierzulande nicht selten genug, als daß man darin etwas Außergewöhnliches sehen mußte. Als Proskow wieder den Flur betrat, lehnte Ernst Katzer am Treppengeländer, nahm aber sofort eine gewisse respektvollere Haltung an. Der Kommissar überlegte sich allen Ernstes, ob das nun noch eine Folge der Haftzeit oder aber eine Art Achtung vor ihm war. Katzer fragte eifrig: „Herr Kommissar, ich würde gern … ich meine, ein bißchen Ordnung machen könnte doch nicht schaden?“ „Machen Sie sich ruhig etwas nützlich“, wiederholte Proskow fast wörtlich Stengels Ansicht. Grünthal stand teilnahmslos dabei. „Ich weiß nicht, Herr Kommissar … Und die Versicherung? Müßte die nicht erst den Schaden aufnehmen?“ „Ich fürchte, Herr Grünthal, daß Sie auch damit kein Glück haben werden. Sie wird sich natürlich mit uns in Verbindung setzen, nur, sehen Sie, es war ja kein Unfall, nicht wahr?“ Er verschwieg mit erstaunlichem Takt, daß es eigentlich auch kein einfacher Selbstmord gewesen war. „Tut mir leid.“ 62
„Ich habe mir das schon gedacht“, seufzte Grünthal, und auch dieses Eingeständnis sprach für ihn. Er spürte sehr wohl, daß auch der Kommissar ihn mit einem gewissen Mitgefühl behandelte. „Da wäre noch eine Kleinigkeit“, sagte Proskow. „Wir fanden bei Herrn Hillmann außer dem Personalausweis nichts als ein Taschentuch und einigen Kleinkram. Keine Geldbörse, keinen Hausschlüssel, und außerdem war er nur mit Hose und Pullover bekleidet. Hatte er keinen Mantel bei sich?“ Rainer Grünthal wandte den Blick gehorsam zur Flurgarderobe, von der nur die fest in der Wand verankerten Teile erhalten geblieben waren. „Dort hängt allerdings ein Mantel, der mir nicht gehört. Der helle Trenchcoat.“ Er machte eine hilflose Bewegung dazu und stierte mit einer stillen Wut auf das Kleidungsstück. In den Taschen des noch feuchten Mantels fand Proskow lediglich ein Schlüsselbund mit drei Schlüsseln. Der Kommissar vergewisserte sich nochmals: „Das ist also nicht Ihr Mantel, Herr Grünthal?“ Als Rainer Grünthal den Kopf schüttelte, sah Proskow Katzer an. Wenn es auch unwahrscheinlich war, theoretisch konnte auch ihm der Mantel gehören. Grünthal tröstete sich später noch oft damit, daß er mit diesem Mantel keinen Fehler begangen hatte. Er hätte ihn ebensowenig verschwinden lassen, wie er ihn hätte verleugnen können. Hillmann war fast immer mit diesem Mantel gekommen, mehr als ein Zeuge konnten ihn auch am Abend der Explosion damit gesehen haben. Und vor allem, es hatte überhaupt keinen zwingenden Grund gegeben, sich irgendwie darüber Gedanken zu machen. Kommissar Proskow registrierte zunächst nur mit 63
Verwunderung, daß Ernst Katzer bei der an sich belanglosen Frage merkwürdig nachdenklich Herrn Grünthal anstarrte. Er schien sich krampfhaft um eine Erinnerung zu bemühen. Grünthal ließ sich zwar nichts anmerken, aber er vermochte für Sekunden nicht, dem Blick Katzers auszuweichen. Und nur er begriff sofort, daß Katzer in diesem Moment anfing nachzudenken. Aber Katzer war noch weit entfernt, einen bestimmten Verdacht zu hegen, ja überhaupt nur argwöhnisch zu werden. Er dachte lediglich an jenen dunklen Schatten, der in der Nacht die Garage passiert hatte. Ein dunkler Schatten aber konnte, zumal gegen den Nachthimmel abgezeichnet, nicht von einem so hellen Mantel herrühren, wie er dort am Haken hing. Der Kommissar nahm mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck den Mantel an sich, rollte ihn zusammen und klemmte ihn unter den Arm. Dann verabschiedete er sich und stapfte aus dem Haus. Er ging nicht weit, nur bis zur nächsten Telefonzelle. Aber er telefonierte nicht, er zog sein Notizbuch aus der Brusttasche und begann Notizen zu machen. Seit einiger Zeit ließ ihn das Gedächtnis hin und wieder im Stich, und er haßte es, wie eine vergeßliche Sekretärin dauernd Notizen zu machen. Obwohl er es nicht einmal vor sich selbst zugab, er schämte sich tatsächlich. Nach der ersten Notiz, die sich auf eine Überprüfung jener Verteilerdose im Wohnzimmer bezog, deren lockere Drähte den Kurzschluß und die folgende Explosion ausgelöst haben mußten, versank er in mürrisches Dahinbrüten. Vor ihm, auf dem aufgeklappten Fernsprechverzeichnis, lag der feuchte Knäuel des hellen Mantels. Ob dieser Katzer vielleicht nur so komisch reagiert hatte, 64
weil er den Mantel eventuell schon als sein Eigentum sah, geschenkt von einem Mann, der jede Erinnerung an den Nebenbuhler hassen mußte? Aber hatte Katzer nicht eher nachdenklich ausgesehen? Grüblerisch, als suche er eine ganz bestimmte Erinnerung? Hätte er, falls er gehofft hatte, den Mantel behalten zu können, nicht verärgert reagieren müssen? Oder wenigstens verwundert? Kommissar Proskow wußte genau, daß er kein Protokoll unterschreiben würde, wenn er nicht die volle Überzeugung hatte, daß auch nicht eine Spur von Mißtrauen blieb. Und der Funke war da, ein Fünkchen nur, das lächerlicherweise von einem feuchten Bündel ausging. Das zwang ihn nun sogar, diesen alten Querkopf Wenckmann aufzusuchen. Als er, den Mantel wieder unter dem Arm, gegen den Wind losmarschierte, war er wütend, daß er vor einer Stunde den Wagen zurückgeschickt hatte. Mit fast kindischem Starrsinn vermied er, zu Grünthals Haus hinzusehen, während er daran vorbeimarschierte. Verdeckt von einem Vorhang, stand Rainer Grünthal am Fenster. Er sah, daß der Kommissar jetzt genau das tat, was er von ihm auch erwartete.
65
7. Kommissar Proskow hatte Wenckmann seit Jahren nicht mehr gesehen, und er war vom Verfall des ehemaligen Kollegen ehrlich überrascht. Der alte Pensionär hockte greisenhaft in seinem Rollstuhl, auf den mit einer Wolldecke geschützten Knien ein verwaschenes Holztablett, und stocherte lustlos in einer Suppenschüssel. Nebenan, in der Küche, rumorte die Aufwartefrau, die sich täglich für zwei Stunden um den Alten kümmerte. Die Begrüßung war wie früher, kurz und frostig. Proskow legte seinen Hut neben den Wellensittichkäfig, und er erinnerte sich einer Bemerkung Wenckmanns, daß sich der Hut auf seinem Schädel wie ein Fingerhut auf dem Daumen eines Fleischers ausnehme. „Wollte schon immer mal vorbeikommen.“ Er wußte, daß er log, und das machte ihn einen Augenblick unsicher. Aber er war nie gut mit Wenckmann ausgekommen. Wenckmann war ein Streber gewesen, einer jener rechthaberischer Menschen, die schon deshalb häufig irrten, weil sie die Ansichten anderer nicht gelten lassen wollten. „Wie nett!“ Wenckmann schob angewidert das Tablett auf den Tisch, wischte sich mit einem schmuddeligen Handtuch über die unrasierte Kinnpartie und lehnte sich zurück. „Aber warten Sie’s ab – wird auch Ihnen mal so gehen, ausrangiert und schon vergessen.“ „Wahrscheinlich“, gab Proskow brummig zu. Sehr wahrscheinlich sogar. Auch er würde im Alter allein sein, war es jetzt schon. Und auch er würde in einem Zimmer hausen, in abgestandener Luft, die nach altem Mann roch, würde unzufrieden sein und eigentlich nur noch auf 66
den Tod warten. „Setzen Sie sich wenigstens!“ Aggressiv und mit der vollen Absicht, den Kommissar zu verletzen, fügte er hinzu: „Schnaps habe ich aber nicht.“ Proskow setzte sich schwerfällig an den Tisch, stützte den Kopf auf die rechte Faust und zog mit der anderen Hand eine flache Taschenflasche aus dem Mantel. „Ich habe ein ausreichendes Einkommen.“ Der alte Narr wollte ihn verletzen, bitte schön, ihm machten solche Sticheleien längst nichts mehr aus. „Noch, noch haben Sie.“ Für Sekunden, während Proskow sich ganz seinem Schluck Schinkenhäger hingab, horchte Wenckmann diesem „Noch“ nach. So war das – noch war man jung, noch hatte man Arbeit, noch lebte man zufrieden, noch hatte man Gehalt, und noch saß man im Rollstuhl. Noch. Er verscheuchte den Gedanken und rettete sich in den Angriff. „Besuchen ist ja Quatsch, nicht? Reden Sie schon, was wollen Sie von mir, Herr Proskow?“ Er vermied starrsinnig die Anrede Kommissar. „Ich fühle mich heute miserabel. Das Wetter … und dann noch das scheußliche Unglück …“ „Ja“, murmelte Proskow zustimmend, „das Unglück. Und wie das so geht, die Geschichte ist auf meinem Schreibtisch gelandet.“ Er sah sich dabei im Zimmer um, fand den Eindruck trostlos, war aber ehrlich genug zuzugeben, daß es bei ihm zu Hause auch nicht viel gemütlicher aussah. Die Frau fehlte, dachte er, und ihm fiel ein, daß er nicht einmal wußte, ob Wenckmann eigentlich verheiratet gewesen, verwitwet oder ewiger Junggeselle war. Wenckmann setzte sich unwillkürlich steil aufrecht. 67
„Auf Ihrem Schreibtisch? Ein gewöhnlicher Unglücksfall?“ „So ganz gewöhnlich ist er vielleicht nicht.“ Proskow setzte dem Alten auseinander, daß er die ganze Sache schon deshalb überprüfen müsse, weil er nun mal mit seinem Namen für die Richtigkeit der Untersuchung verantwortlich zeichne. „Und ich möchte den Mist recht schnell loswerden“, fügte er grob hinzu. „Mist? Ein scheußliches Unglück nennen Sie Mist?“ „Was wissen Sie eigentlich darüber?“ „Ich weiß nicht mehr, als sie …“, dabei nickte er zur Küche hin, wo inzwischen eine verdächtige Stille herrschte, „als sie mir erzählt hat. Und das ist nicht viel. Eine Gasexplosion und … scheußlich!“ „Und zwei Tote.“ „Scheußlich“, wiederholte Wenckmann eigensinnig. „Da kommt man ahnungslos zu Hause an, betritt das Haus und hat zwei Sekunden später noch Glück, daß man überhaupt noch lebt. Und dann auch noch so etwas … Sie wissen doch Bescheid?“ „Nein.“ Proskow blinzelte müde dem Wellensittich zu, der sich lautlos auf seinem Holzring hin- und herschaukelte. Wenckmann geriet ins Schwatzen. Endlich einmal schien dieser Proskow weniger zu wissen als er selbst. „Also das war so, daß man schon seit einiger Zeit munkelte, Frau Grünthal habe ein Verhältnis mit einem Ausländer. Verstehen Sie? Mit einem Ausländer! Und dazu noch die Sache mit dem Nachwuchs – Herr Grünthal hat sich ja so darauf gefreut! Aber vielleicht ist es gut, daß ihm das erspart geblieben ist. Stellen Sie sich vor, jetzt am Sonnabend wollte er mit seiner Frau nach Mallorca fliegen.“ 68
„Mallorca?“ „Das wissen Sie nicht?“ Proskow überhörte keineswegs die offene Schadenfreude, aber die Gefühle Wenckmanns ließen ihn kalt. Ihn ärgerte mehr Stengels als seine eigene Nachlässigkeit. „Mein lieber Wenckmann“, sagte er deshalb etwas herablassend, „zu Beginn einer Untersuchung weiß man selten viel. Ein Unglück hat irgendwie und irgendwo seine Ursache. Zum Beispiel könnte es sich auch um Fahrlässigkeit handeln. Etwa in der Art, daß Herr Grünthal vor seinem Gang hierher vergessen hatte, die Gashähne ordentlich zu regulieren.“ Er verschwieg, daß sowohl der Abschiedsbrief als auch die Schlafmittel eine solche Möglichkeit ausschlossen, Wenckmann war nicht mehr Kollege, er war höchstens Zeuge, vielleicht sogar Partei. Der Alte griff vor Erregung in die Speichen seiner Rollstuhlräder. „Am liebsten möchten Sie Herrn Grünthal wohl einsperren?“ Proskow erhob sich, drehte sich schwerfällig nach seinem Hut um und preßte ihn auf den Schädel. „Tun Sie mir den Gefallen, und werden Sie nicht kindisch. Ich habe heute schon mehr als sonst geredet. Wollen Sie mir nun ein paar Fragen beantworten, oder soll ich Sie lieber vorladen?“ „Entschuldigen Sie“, sagte Wenckmann gequält. „Ich sehe ja ein … ich wollte Ihnen keine Schwierigkeiten machen.“ Mochte Proskow sein, wie er wollte, jeder hatte seine Eigenart, aber schließlich tat er auch nur seine Pflicht. Proskow gefiel der plötzliche Umschwung nun auch wieder nicht. Man mußte wohl sehr alt und sehr verlassen sein, wenn man sich wie Wenckmann benahm. 69
„Mich interessiert ja auch nur, wann Herr Grünthal gestern kam und wann er wieder ging.“ „Da ist nicht viel zu berichten. Herr Grünthal kam wie immer, also um sieben Uhr. Und auch wie immer spielten wir Schach – gestern übrigens nur eine einzige Partie, und die noch nicht einmal zu Ende. Ein gutes Spiel, ein ausgewogen starkes Spiel …“ „Wie immer“, unterbrach Proskow, „was heißt das, wie immer?“ „Das heißt, daß wir seit rund einem Jahr jeden Mittwochabend Schach spielen. Und zwar ganz korrekt von sieben Uhr bis drei Viertel elf.“ „Sie kennen Herrn Grünthal schon länger?“ „Seit wir Schach spielen, das heißt … eigentlich lernten wir uns kennen, als Herr Grünthal damals kam, um sich einen Rat von mir zu erbitten.“ „Rat?“ Proskow hatte Mühe, nicht hinzuzufügen: Rat, von Ihnen? „Jawohl! Er kam zu mir!“ Der alte Beamte klopfte sich eitel auf die Brust. Proskow hatte das peinliche Empfinden, es klänge hohl, so als hockte von Wenckmann nur noch das leere Skelett im Rollstuhl. „Er kam eines Nachmittags, um sich in einer Frage polizeilichen Charakters beraten zu lassen“, fuhr Wenckmann geschraubt fort. „Er brauchte es für eine Erzählung. Herr Grünthal schreibt ja viel, nur ist er zu bescheiden, damit Reklame zu treiben.“ Dieser Stengel ist ein Idiot! Ein Klugscheißer! Wegen dessen Nachlässigkeit saß er hier und wußte von nichts. „Das wußten Sie also auch nicht!“ Es sah aus, als wollte Wenckmann aufgeregt aus dem Rollstuhl klettern. „Wirklich, ich muß mich schon sehr wundern, Herr Proskow!“ 70
„Erzählen Sie trotzdem weiter.“ „Da ist nicht mehr viel zu erzählen. Seit damals, als wir unsere gemeinsame Vorliebe für das königliche Spiel entdeckten, kommen wir eben regelmäßig hier zusammen. Also auch gestern. Und wie immer ging Herr Grünthal sieben Minuten vor elf Uhr. Er liebt es, pünktlich um elf zu Hause zu sein.“ Der Kommissar verglich inzwischen die alte Büfettuhr mit seiner Armbanduhr. Kein Zweifel, das Prunkstück da ging auf die Minute genau. Trotzdem und eigentlich nur aus der alten Erfahrung, daß Uhrzeiten meist eine entscheidende Rolle spielen, vergewisserte er sich: „Richtete er sich nach der Uhr dort?“ „Ja! Alte deutsche Wertarbeit, geht auf die Sekunde genau.“ Es war die übliche Gedankenverbindung, daß er automatisch seine Taschenuhr aus der Weste holte, sie ans Ohr hielt und sie anklagend dem Kommissar entgegenhielt. „Das ist zwar auch alte deutsche Wertarbeit, aber wohl doch zu alte. Will nicht mehr, hat ausgedient – wie ich.“ Proskow zuckte träge die Achseln. Einesteils war es ihm egal, ob dieser Grünthal Schach oder Fußball-Toto spielte, andererseits tat ihm der alte Mann etwas leid. Vielleicht sogar würde auch er sich, um der Einsamkeit des Alters ein Schnippchen zu schlagen, einen Wellensittich ins Zimmer stellen, wie jenen dort. Wenckmann, der noch immer auf eine tröstende Antwort wartete, bemerkte das Interesse Proskows am Wellensittich. „Ja, auch der ‚Hansi‘ ist ein Geschenk von Herrn Grünthal. Ich habe ihn zwar erst eine gute Woche – oder sind es schon zwei? –, aber ich möchte ihn schon jetzt nicht mehr missen.“ Der Kommissar nickte dem Alten im Rollstuhl zu und 71
rüstete sich zum Gehen. Er reichte ihm aber auch jetzt nicht die Hand. Die blau geäderten, knochigen Hände flößten ihm Widerwillen ein. Er tippte sich an den Hut, klemmte sich den zusammengerollten Mantel, den er gleich neben der Zimmertür auf den Fußboden gelegt hatte, wieder unter den Arm und murmelte, als Wenckmann seinen Rollstuhl in Bewegung setzte, er werde schon allein finden. Dennoch quälte sich Wenckmann in einem zweiten Anlauf über die Türschwelle. Proskow stieg die vier Betonstufen zur Haustür hinunter und freute sich am meisten auf die frische Luft. Eher neugierig als aus Höflichkeit drehte er sich nochmals um, als er die Haustür schon einen Spalt geöffnet hatte. Oben, am Treppenanfang, stand der Rollstuhl, aus dem ihm ein verkniffenes Greisengesicht nachstarrte. Oben, vier Stufen höher, weiter konnte Wenckmann nicht. Weiter nicht, faßte der Gedanke in Proskows Gehirn Platz, weiter nicht. Also auch nachts nicht, das Hindernis konnte Wenckmann nicht ohne fremde Hilfe bewältigen. Wie aber verschloß er die Haustür? „Wie schließen Sie eigentlich Ihre Haustür zu?“ „Gar nicht. Sie wird nur mittwochs abgeschlossen. Herr Grünthal meint, wenigstens einmal in der Woche müsse ‚Ordnung herrschen‘. Während ich schon in aller Ruhe zu Bett gehe, verschließt er die Haustür und wirft den Schlüssel anschließend durch den Luftschlitz des Fensterladens, und schon habe ich ihn wieder. Das Fenster, wenigstens das Oberlicht, steht natürlich nachts offen.“ „Da ist es aber morgens immer hübsch ausgekühlt.“ Er mochte Kälte nicht, besonders im Zimmer nicht. Ihm war ein durchgeschwitztes Hemd zehnmal lieber als jenes 72
verdammte Frösteln, das unaufhaltsam durch die Hosenbeine körperaufwärts kroch und sich wie ein Ausschlag ausbreitete. Als er nun, nochmals an den Hut tippend, aus dem Haus trat, empfing ihn ein Flockenwirbel, der wild im scharfen Wind durch die Luft torkelte. Proskow zerrte schnaufend den Mantelkragen hoch und versenkte die Hände in die Manteltaschen, als er sich gegen den Wind stemmte. Nach einigen Metern drehte er sich um und war absolut sicher, daß ihn Wenckmann durch das Stirnfenster des Wohnzimmers beobachtete. Dieser so außerordentlich gelobte Herr Grünthal schob also den Schlüssel durch den Fensterladen wieder ins Haus zurück … Dem alten Herrn mochte diese Lösung eines für ihn nicht unerheblichen Problems imponieren. Und natürlich sagte Wenckmann, ein ehemaliger Kollege, unbedingt die Wahrheit. Er wußte zu gut, was von Aussagen abhängen konnte, und kein Kriminalbeamter, pensioniert oder nicht, konnte je seine Bindungen zum Beruf lösen. Folglich kam Grünthal jeden Mittwoch Punkt neunzehn Uhr und ging ebenso pünktlich sieben Minuten vor dreiundzwanzig Uhr. Jeden Mittwoch und damit auch gestern. Er richtete sich nach der Büfettuhr, und die ging noch jetzt auf die Minute genau. Er war auch, ein Zeuge hatte das nachdrücklichst untermauert, genau um elf zu Hause angekommen – allein die Zeitangaben stimmten auf die Sekunde, von den übrigen Tatsachen, zum Beispiel dem Brief, dem Schlafmittel, der exakt feststehenden Uhrzeit der Explosion ganz abgesehen. Es stimmte alles haargenau, nirgends konnte der leiseste Zweifel angemeldet werden. Selbst der allmählich 73
lästig werdende Mantel unter dem rechten Arm brauchte nichts zu bedeuten haben. Und was sollte es schon bedeuten, wenn ein Katzer große Augen machte? Der riß wahrscheinlich auch die Augen auf, wenn man ihm ein paar neue Socken versprach. Es stimmte alles, grübelte Proskow mißmutig, während er nun weiterstapfte. Eigentlich war das ein Grund zur Beruhigung, wenn nicht gar zur Freude. Man konnte wenigstens diesen „Mist“ schleunigst vom Schreibtisch wedeln. Und doch beruhigte Proskow der Gedanke nicht. Ihm mißfiel einfach, daß alles minutiös zu stimmen schien. Einen minutiösen Ablauf gewisser Aktionen konnte man planen. Was aber sollte geplant gewesen sein? Dem stand die Explosion entgegen, es sei denn, sie wäre der einzige Zufall dabei gewesen. Aber bei so viel Planung wäre ein derartig eklatanter Fehler wiederum auch nicht unterlaufen. Eigentlich waren es noch immer die gleichen Zweifel, der gleiche Gewissenskonflikt eines verantwortungsbewußten Beamten, die Proskows nächste Schritte bestimmten. Mochten sie ihn für stur halten oder gar für einen ewigen Besserwisser – er unterschrieb nichts, wovon er nicht überzeugt war. Auch kein Protokoll über eine Gasexplosion, bei der kein Widerspruch aufgetaucht war, jedenfalls kein als solcher erkennbarer.
74
8. Rainer Grünthal hatte für Minuten mit dem Wunsch gekämpft, dem Kommissar heimlich zu folgen, um sich zu überzeugen, ob er auch wirklich zu Wenckmann ging. Er kannte den Wert seines Alibis, es war auch durch einen noch fähigeren Kriminalisten als Proskow kaum zu erschüttern. Seit Minuten hatte Grünthal schweigend am Küchenfenster gestanden, nun ging er, ohne Katzer anzusehen, auf den Flur hinaus. Er lehnte sich an die geborstene Wohnzimmerwand und starrte auf den Garderobenständer, an dem nur noch sein dunkler Mantel, Beates Dreivierteljacke und ihr Regenschirm hingen. Noch immer lastete der abscheuliche Geruch im Haus, er verursachte Grünthal allmählich Übelkeit. Irgendwie fühlte er sich leer, ausgebrannter als sein Wohnzimmer. Bis jetzt hatte er sich davor gehütet, bewußt an seine Frau zu denken, ausgerechnet der Regenschirm lenkte die Gedanken auf sie. Plötzlich war auch die Erinnerung an die Nacht da, als sie tot und naß und fremd auf der Couch gelegen hatte. An Hillmann dachte er ohne jede Regung. Ein lediger Tankwart, nach dem kaum ein Hahn krähen würde. In der Küche scharrte Katzer mit einem Stuhl. Sofort konzentrierten sich Grünthals Gedanken wieder auf das, womit er jetzt fertig zu werden hatte. Dort hing der schwarze Mantel. Bedeutete Katzers Reaktion vorhin, daß er ihn in diesem Mantel gesehen hatte? Es war doch dunkle Nacht gewesen, und er hatte keinerlei Licht gemacht, weil er jeden Schritt kannte. Katzer wollte geschlafen haben … Und wenn nicht, was dann? Was hatte 75
er dann gesehen? Einen Schatten, mehr nicht. Was aber dachte er jetzt über diesen Schatten? Dachte er überhaupt? Ganz gleich, ob Katzer wegen des Trenchcoats Zusammenhänge ahnte oder nicht, man durfte nichts dem Selbstlauf überlassen, man mußte so handeln, als sei dieser Katzer eine Gefahr. Aber hier schon lag das größte Problem. Grünthal haßte überstürztes Handeln, nicht genau durchdachte Pläne. Ein winziger Zwischenfall konnte zu entscheidenden Konsequenzen zwingen. Das war einfach eine Ergänzung der Erkenntnis, daß ein Verbrechen oftmals das nächste schon im Keim mit sich trug. Er empfand auch keine Reue, und er belächelte die Ansicht, daß man nach einer solchen Tat kaum mehr seine innere Ruhe finden könnte. Er fühlte sich jetzt nur erschöpft. Es war danach, einfach danach. In der Küche klapperte jetzt Geschirr. Grünthal löste sich von der Wand und erwartete, einfach so vor sich hin dösend, den unbequemen Gast. Ernst Katzer, keineswegs schon die Gefahr, die Grünthal in ihm sehen mußte, tauchte zögernd im Flur auf. Noch immer bewegte ihn die Frage, was mit ihm geschehen würde. Und doch – wenn man auch nie so recht wußte, was diesen wohlhabenden Leuten alles so einfiel –, er fühlte sich schon sicherer. Er hätte nicht zu erklären gewußt, woher dieses Gefühl kam, er hatte es eben. Dieser Herr Grünthal schenkte ihm bisher nicht mehr Aufmerksamkeit, als er auch jedem Handwerker schenken würde, eher sogar noch weniger, Er fragte nichts, nicht nach Alter, nicht nach Woher, Wohin. Auch nicht, und gerade das empfand Ernst Katzer als besonders bezeichnend, nach seiner jüngsten Vergangenheit. Schmerz 76
hin, Verzweiflung her – Neugier war eine sehr menschliche Eigenschaft, die auch über Schmerz zu triumphieren pflegte. Er selbst hatte sich bei der Beerdigung seiner Mutter noch am Friedhofstor nach dem Resultat des letzten Spiels seiner Fußball-Lieblingsmannschaft, des SV Alsenborn, erkundigt. Blieb nur die Möglichkeit, daß Herr Grünthal eben doch nur einen billigen Arbeiter brauchte. Und als hätte Grünthal Katzers Gedanken mitlesen können, fragte er unvermittelt: „Verstehen Sie etwas davon?“ Er wies auf die herausgerissene Tür. „Mit etwas Werkzeug …“ „Vielleicht sollten wir damit anfangen?“ Scheinbar unentschlossen deutete der Hausherr in das Innere des Wohnzimmers. „Schrecklich sieht das aus.“ „Man muß“, verfiel Katzer in einen philosophischen Trost, „im Leben mit allem fertig werden können.“ „Da haben Sie recht“, bestätigte Rainer Grünthal langsam und hatte Mühe, weiter in das Trümmerfeld zu starren.
77
9. Das Schneetreiben wurde immer heftiger, und Kommissar Proskow überlegte allen Ernstes, ob ihn etwa das Wetter hindern wolle, sein nächstes Ziel zu erreichen. Das verhaßte Frösteln kreiste um den ganzen Brustkorb, in einer Art Serpentine von oben nach unten. Nasse Füße verschlechterten seine Laune vollends, dazu brauchte es nicht die Feststellung, daß er eigentlich nur in einem großen Bogen um Ödland und Obstplantagen herumstiefelte. Schließlich stand er vor einem Gelände, das zunächst schon durch die Höhe des Maschendrahtzaunes auffiel. Er hatte die doppelte Höhe eines Normalzaunes und erinnerte den Kommissar an einen sorgfältig abgeschirmten Rüstungsbetrieb. Doch konnte von Sicherheitsmaßnahmen hier keine Rede sein. Es fehlte nicht nur der alles krönende Stacheldraht als oberer Abschluß, auch das zweiflügelige Tor aus verzogenen Winkeleisenrahmen stand halb offen. Das ganze Grundstück wirkte ausgesprochen leblos, trotz der zwei mächtigen Kastanien vor einem flachen Wohnhaus, aus dessen Schornstein dichter Rauch quoll, der sich eiligst mit Schnee und Wind mischte. Etwas zur Linken stand ein D-Zug-Wagen, ohne Räder natürlich, und Proskow überlegte mit grimmigem Humor, ob es sich um einen Waggon erster oder zweiter Klasse, um Raucher oder Nichtraucher handelte. Vollends griesgrämig wurde Proskow, als er trotz des dichten Schneevorhangs weiter hinten eine graugestrichene Baracke entdeckte, deren Fensteranordnung den Sinn des hohen Zaunes enthüllte – hier mußte früher eine Hühnerfarm gewesen sein. 78
Das erinnerte ihn automatisch an die mysteriöse Eiergeschichte. Auch dieser Krempel lag noch auf seinem Schreibtisch herum, und der Teufel mochte wissen, ob sich da einer in einem himmelschreienden Racheakt gefallen hatte oder ob ganz etwas anderes dahintersteckte. Lebensmittelschiebungen allerdings waren schon lange unmodern, seit die EWG-Landwirtschaftspolitik abwechselnd zwischen Butter-, Fleisch-, Obst- und sonstigen Bergen hin und her taumelte. „Schnee räumen könnten die hier auch mal“, nörgelte Proskow vor sich hin, als er seine Schuhe vor der verwitterten Haustür notdürftig säuberte. Die Tür war unverschlossen. Im Haus empfing ihn Totenstille. Proskow räusperte sich laut, horchte. „Hallo! Verdammt, ist denn hier niemand?“ Als sich noch immer nichts rührte, stieß er eine Tür nach der anderen auf, sah in ein altmodisch, aber heimisch eingerichtetes Schlafzimmer, dann in eine riesige, eiskalte Küche und endlich in ein dämmriges Wohnzimmer. Neben einem Ungetüm von grünem Kachelofen saß in einem alten Lehnstuhl ein Mensch und rührte sich nicht. Auch dieses Zimmer war mit veralteten Möbeln ausgestattet, und das milderte Proskows miese Laune erheblich. Wieder fühlte er sich an seine Frau erinnert, die dieses Zimmer hier ganz ohne Frage gemütlich gefunden hätte. Und schon deshalb fand er es auch. Leise tappte er über den schon recht abgetretenen Teppich, umging einen wuchtigen runden Ausziehtisch und war froh, als er, dicht vor dem Ruhenden, die leisen Atemzüge vernahm. Dieser Mann hier schlief. Proskow musterte ihn in aller Ruhe. Er mochte die 79
Sechzig erreicht haben, der kleine Spitzbart war vollständig grau wie auch die spärlichen Kopfhaare. Er wirkte im ganzen etwas kindlich harmlos, was an der zierlichen Figur liegen mochte. Ganz besonders aber wohl an den märchenhaft großen Latschen aus gepreßtem Filz. Er lächelte freundlich, als ihn Proskow wachgerüttelt hatte, sah aus blauen Augen auf den massigen Menschen im Lodenmantel, richtete sich auf und entschuldigte sich: „Verzeihen Sie, ich muß wohl eingeschlafen sein.“ „Ich muß mich entschuldigen. Mein Name ist Proskow, Kommissar der hiesigen Kriminalpolizei.“ Der Alte erhob sich zu seiner vollen Größe, reichte nun Proskow ungefähr bis an die Schulter und sagte zuvorkommend: „Degner, Alfons Degner.“ Und dann etwas überflüssig, aber unvermindert freundlich lächelnd: „Und Sie sind von der Polizei?“ „Richtig, Herr Degner.“ Proskow bestätigte das ohne Ironie, der Mann kam ihm wie ein weltfremder Gelehrter vor, ein außergewöhnlich harmloses Gemüt, was schon die unverschlossene Haustür bewies. „Aber beunruhigen Sie sich nicht, mein Besuch gilt einzig dem Herrn Hillmann. Er wohnte doch bei Ihnen?“ „Wohnte? Wieso wohnte? Wenn ich mich recht erinnere, war zwischen Herrn Hillmann und mir von einer Kündigung nie die Rede. Ergo – er wohnt noch immer hier. Richtiger gesagt, er wohnt hinten.“ „Es tut mir leid. Herr Hillmann verstarb heute Nacht an den Folgen eines Unfalls.“ Herr Degner legte ganz sacht den Kopf in den Nacken, der kleine Spitzbart zitterte aufgeregt. „Ja, aber … ja aber …“ Dann setzte er sich steif in den Sessel zurück. „Oh, das tut mir aber leid.“ „Er war ein angenehmer Mieter?“ 80
„Aber sehr. Ein ruhiger, sparsamer, fleißiger und zurückhaltender Mensch.“ Es täte ihm wahrhaftig leid, wiederholte er, bewies aber gleich darauf, daß er nicht ganz so weltfremd war, wie Proskow ihn eingestuft hatte. „Und nun wollen Sie sicher seine Wohnung sehen, nicht wahr?“ Er erhob sich, ging in den kalten Flur voraus, nahm einen schwarzen Mantel mit Pelzkragen vom Garderobenhaken, setzte sich korrekt einen ebenfalls schwarzen Hut auf und vertauschte die Filzschuhriesen gegen ein Paar zierlicher Stiefeletten. Fehlt bloß noch der Regenschirm, dachte Proskow und folgte dem Männchen, das schnurstracks auf den alten Waggon zustrebte. „Sieht ein bißchen nach Slum aus, nicht wahr, Herr Kommissar? Aber Sie müssen wissen, Herrn Hillmann – und er ist wirklich tot? – war gerade die Abgeschiedenheit willkommen. Und wirklich, von innen ist es weitaus gemütlicher, glauben Sie nur!“ Dann blieb er stehen, überblickte mit einer gewissen Wehmut die Einöde und seufzte: „Früher, wissen Sie, früher tummelten sich hier Tausende von Hühnern, vornehmlich … ach, ich weiß nicht mehr, wie sich die Rasse nannte. Nun ja, damals unterhielt mein Sohn hier die Hühnerfarm. Der Eierausstoß war enorm!“ Ihm schien die der Industrie entlehnte Formulierung Eierausstoß sehr zu imponieren, so eifrig nickte er dazu. Proskow verzog angewidert das Gesicht. Schon wieder Eier! „Haben Sie denn Herrn Hillmanns Schlüssel?“ Der Kommissar drückte Herrn Degner das im Mantel gefundene Schlüsselbund in die Hand. Seine hinterhältige Hoffnung, es handele sich bei diesen Schlüsseln nicht um Hillmanns, enttäuschte Degner, als er mit dem primi81
tivsten der drei Schlüssel die Tür öffnete. Wie bei einem richtigen Schnellzug betraten sie zunächst einen Vorraum mit Toilette. Aber als Herr Degner die Schiebetür öffnete, mußte auch Proskow anerkennen: Man konnte sich wohl auch in einem ausrangierten Schnellzugwagen heimisch fühlen. Dieser hier jedenfalls war wirklich nett eingerichtet, und durch die Herausnahme aller Sitze und Trennwände wirkte er bedeutend größer. „Hier war früher unser Büro“, erklärte Degner mit leiser Wehmut, während er sich umständlich die Füße reinigte. „Bißchen kühl, finden Sie nicht?“ Proskow schwieg. Er liebte es, den ersten Eindruck gesammelt aufzunehmen, und konnte sich noch Wochen später an fast jede Einzelheit erinnern. Der langgestreckte Raum, dem die vielen Fenster die Großzügigkeit eines Terrassencafés verliehen, war peinlich sauber aufgeräumt. Auffallend waren ganze Stapel von Zeitschriften und Büchern auf einem Büroschreibtisch, der sicher noch aus der Ära Hühnerfarm stammte. Alles andere, vom Bett über den Kachelofen bis zur Leseecke, hätte ebensogut in jeder anderen Einzimmerwohnung stehen können. „Nun ist er also tot. Kommt so ein Mensch nach zweiundzwanzig Jahren endlich nach Hause, in die Heimat – und kaum ist er richtig da, muß er sterben. Traurig, traurig“, seufzte das Männchen aufrichtig und sagte, mehr zu sich selbst: „Er hatte sicher tüchtiges Heimweh dort drüben. Aber, wer hätte das nicht in der Fremde?“ „Hatte er keine Bekannten?“ erkundigte sich der Kommissar. „Besuchte ihn hier niemand?“ Degner schüttelte sehr bestimmt den Kopf. „Nicht, daß ich wüßte. Nein, nein, er lebte sehr zurückgezogen. Er war ziemlich wortkarg, verschlossen, mitunter bis zur 82
Unhöflichkeit Dabei hätte es doch nahegelegen, daß wir beide einen innigen persönlichen Kontakt gefunden hätten. Aber nein, er blieb lieber allein. Er war schon ein seltsamer Mensch. Wie ich schon sagte: schweigsam, als habe die Unendlichkeit kanadischer Wälder auf ihn abgefärbt. Sie wissen doch, daß er all die Jahre drüben als Holzfäller gearbeitet hat?“ Der Kommissar wußte es zwar nicht, aber er nickte zustimmend. Diese Tätigkeit deckte sich so vollkommen mit dem landläufigen Schema von Kanadaauswanderern, daß ihm Hillmann wie ein guter Bekannter vorkam. „Und Sie wissen natürlich auch, warum er neunzehnhundertsiebenundvierzig plötzlich auswanderte? Besser gesagt, warum er aus Deutschland flüchtete?“ „Wären Sie von der Polizei sehr enttäuscht, wenn ich das verneine?“ Herr Degner blickte den Kommissar treuherzig an, ein bißchen Spott funkelte in den unschuldigen Kinderaugen. „Natürlich nicht. Ich weiß es ja auch nur, weil Herr Hillmann – übrigens sprach er seinen Namen stets mit englischem Akzent – es mir selbst erzählt hat. Das war gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft, solche Gesprächigkeit hat sich nie wiederholt … Ja, also er mußte schnell weg, damals. Er hatte wohl einer kleinen Bande jugendlicher Burschen angehört, die Militärmagazine plünderte. Wo sonst gab es damals auch etwas zu holen? Und bei einem dieser Überfälle verletzte er einen Wachposten, glaubte sich erkannt und verschwand überhastet. Nun ja, inzwischen ist die Geschichte längst verjährt, aber das wissen Sie ja besser als ich. Heute kräht kein Hahn mehr nach solchen Affären, zweifelhaft, ob überhaupt je einer danach gekräht hat.“ Kommissar Proskow stand noch immer neben der Tür, 83
sah sich weiter um und hörte zu. Noch war kein Wort darüber gefallen, was das Verhältnis Hillmanns zu Grünthal berührte. Degner, im Gefühl, daß seine Erläuterungen bereitwillige Ohren fanden, geriet unversehens ins Melancholische. „Es ist wohl immer schwer zu ertragen, wenn man fort muß, aus der vertrauten Atmosphäre herausgerissen wird. Ins Ausland zu fahren mit der Gewißheit, daß man nach Belieben wieder heimwärts kann, ist nicht mehr als eine Urlaubsreise. Aber weg zu müssen und zu wissen, daß man nicht zurück kann, das muß scheußlich sein. Man denkt, grübelt und schuftet, um zu vergessen, und schafft es doch nicht. Vielleicht hat auch Herr Hillmann manchen Abend irgendwo in diesen riesigen Wäldern gesessen, nie heimisch geworden, immer voll Sehnsucht … scheußlich, nicht?“ Proskow sann einen Moment diesen Überlegungen nach. Und als habe Degner Proskows Gedanken mitverfolgen können, murmelte er mitfühlend: „Und am Ende bleibt nichts, als Tankwart bei der Esso zu werden. Ein verpfuschtes Leben.“ Dann aber lächelte er wiederum freundlich und entschuldigte sich, als habe er zuviel gewagt. „Wenn man älter wird, denkt man über viele Dinge anders. Oder noch besser gesagt, man fängt überhaupt erst an zu denken.“ Proskow nickte bereitwillig auch dazu. Um nicht zu weit abzuschweifen, fragte er: „Ging Herr Hillmann oft fort? Ich meine, hatte er vielleicht irgendwo eine nahe Bekannte? Sie verstehen doch?“ „Natürlich verstehe ich.“ Degner lächelte gleichbleibend freundlich. „Aber ich fürchte, ich muß Sie da ent84
täuschen. Er ging zwar oft und sehr unregelmäßig, häufig auch nachts, aber das hing mit seiner Arbeit zusammen. Und wenn er keinen Dienst hatte, war er hier, las viel … Sie sehen ja, überall Bücher. Sicher wollte er nachholen, was er so lange entbehren mußte. Und Bücher sind schon gute Freunde. Sogar wissenschaftliche Bücher finden Sie hier, sehen Sie?“ Sie waren inzwischen an den Büroschreibtisch getreten, und Degner deutete, fast etwas stolz auf die Solidität seines Mieters, auf einige Hefte. „Und hier, sogar Broschüren über deutsche Rechtschreibung! Nun ja, seine Sprachkenntnisse waren etwas verschüttet, man hörte deutlich ausländischen Akzent, wenn ich natürlich auch nicht weiß, ob es sich dabei um ausgesprochen kanadischen handelte.“ Als Degner eine der Broschüren in die Hand nehmen wollte, forderte Proskow: „Berühren Sie lieber nichts.“ Der alte Herr zuckte zurück, die blauen Kinderaugen richteten sich aufmerksam auf den Kommissar. „Sagten Sie nicht, es wäre ein Unfall gewesen?“ Proskow war einen Augenblick überrascht. Von wegen harmloses Gemüt! Das Männchen mit dem treuen Blick konnte ganz schön flink und logisch denken. „Ein Unfall, ja. Und zwar ein Explosionsunglück.“ „Um Gottes willen! Etwa … die Tankstelle?“ Proskows Überraschung wich einer Regung berechtigten Mißtrauens. Es war befremdlich, daß jemand so gar keine Ahnung von den lokalen Ereignissen haben sollte. Ganz abgesehen davon, daß eine Detonation kilometerweit zu hören war. Wieder schien Degner die Gedanken seines Gegenüber genau zu ahnen. „Wissen Sie, seit mein Sohn mit seiner Familie nach 85
Kiel verzogen ist, kümmere ich mich kaum noch um die Geschehnisse dieser Stadt.“ „Warum sind Sie eigentlich hier geblieben?“ fragte Proskow, immer noch mißtrauisch. Und nun blinzelten die blauen Augen listig. „Sehr einfach, Herr Kommissar. Immerhin stellt dieses Grundstück ja einen gewissen Wert dar, nicht wahr? Und eines Tages wird sich zwangsläufig die Industrie dafür interessieren, und ich wohne hier.“ Proskow fand endgültig, daß Herr Degner im Gegensatz zu seinem Aussehen eher gerissen als harmlos war. Die Überlegung, die er eben angestellt hatte, war logisch. Ein verlassenes Grundstück brachte zwar auch Geld, aber ein bewohntes versprach höheren Gewinn. Etwas widerwillig klärte er schließlich Degner über die Vorfälle bei Grünthals auf, soweit sie sich auf die Explosion bezogen. „Kennen Sie eigentlich Herrn Grünthal?“ „O doch!“ Der kleine Mann trippelte bereitwillig an eins der vielen Fenster, zog die Gardine zurück und plauderte unbekümmert drauflos: „Das heißt, kennen ist natürlich übertrieben. Aber ich kannte Herrn Kuhlmann recht gut, von früheren Billardabenden, den Schwiegervater Herrn Grünthals. Mein Gott … es ist ziemlich verwüstet, sagen Sie? Wenn das der arme Herr Kuhlmann noch erlebt hätte! Das Häuschen war sein ganzer Stolz. Das ist nun mal so, wenn man als kleiner Beamter ein halbes Leben eisern spart, um später ein Häuschen zu haben, nicht wahr? Dort, sehen Sie?“ Er deutete auf eine Reihe Spitzgiebeldächer, die sich, etwa dreihundert Meter entfernt, undeutlich im Schneefall hinter kahlen Obstbäumen abzeichneten. 86
Proskow starrte einige Sekunden stumm aus dem Fenster. „Sie haben mir sehr geholfen“, erklärte er dann unvermittelt. „Ich verstehe“, sagte Herr Degner artig und verabschiedete sich. Gleich darauf sah ihn Proskow trotz des böigen Windes leichtfüßig seinem Haus zustreben. Der Kommissar starrte dem Männchen mit sehr gemischten Gefühlen nach, bis es um die Hausecke verschwand. Knapp eine Viertelstunde später versiegelte er mißmutig die Waggontüren. Er hatte nichts entdecken können, was irgendwie im Zusammenhang mit Grünthals stehen konnte. Wenn er auch nicht wußte, was er erwartet hatte, dieses Nichts enttäuschte ihn. Kriminalmeister Stengel lag mit dem Gesicht auf beiden angewinkelten Armen, die er auf der Schreibmaschine aufgestützt hatte, und schlief. Die langen Beine ragten unter dem Schreibtisch weit ins Zimmer hinein. Der Kommissar, mit einem seltenen Verlangen nach einem Scherzchen, stieg über die Beinbarriere, umging den Schreibtisch bis zur Fensterseite, bückte sich nach einer halbleeren Milchflasche und brüllte Stengel direkt ins Ohr: „Wach auf! Die Milch ist sauer!“ Stengel fuhr hoch, das Haar hing ihm in die Stirn, auf der rechten Backe war das Faltenmuster seines Jackenärmels säuberlich zu sehen, und glotzte verschwommen auf seinen Chef. Es kam ihm keineswegs in den Sinn, sich etwa wegen der paar Minuten Schlaf zu entschuldigen. Vorerst nur halbwach, war das erste, was er feststellte, ein schaler Geschmack im Munde. Er griff nach der Milchflasche wie nach einem Rettungsanker. 87
Dann erhob er sich ächzend, streckte sich, ordnete sein Haar flüchtig und erkundigte sich frech: „Habe ich jetzt endlich Feierabend?“ „Das kommt darauf an.“ „Und worauf, wenn ich mal fragen darf?“ „Ob du nur geschlafen hast.“ „In gewissen Intervallen immer“, erklärte Stengel ungeniert. „Hin und wieder hat mich diese wahnsinnsfördernde Erfindung davon abgehalten.“ Er deutete auf das Telefon, setzte sich auf die Schreibtischkante und griff nach einigen losen Blättern. „Der endgültige Befund, Herr Kommissar. Im Grunde eine Bestätigung des vorläufigen. Beide waren durch Barbiturate betäubt, Exitus trat absolut sicher durch Kohlenoxidvergiftung ein. Zum Zeitpunkt der Explosion waren also beide schon tot, allerdings nicht vor zweiundzwanzig Uhr.“ Stengel ließ sich von der Tischkante gleiten und legte den ersten Bogen schön säuberlich mitten auf Proskows Schreibtisch, obwohl er ihn einfach dem Kommissar hätte in die Hand drücken können. „Das war Nummer eins, Nummer zwei ist schon deshalb bemerkenswert, weil unsere lieben Freunde heute Nacht ausnahmsweise einmal up to date waren.“ Er mochte die Kriminaltechniker wegen ihrer Überheblichkeit nicht ausstehen. „Kann aber auch sein, daß im Hause Grünthal keine schwierigen Probleme zu bewältigen waren. Demnach also entströmte das Gas dem zusätzlich zur Zentralheizung im Wohnzimmer angeschlossenen Gasheizofen. Der Ofen“, fügte er mit einem Seitenblick zum aufhorchenden Proskow sofort hinzu, „steht übrigens nicht erst seit gestern, sondern seit über einem Jahr. Da nun sowohl Herr Hillmann als auch Frau Grünthal an den 88
Folgen der Vergiftungen starben, kann die Explosion logisch nicht auf ihr Konto gehen. Auch die Techniker vertreten den Standpunkt, daß Herr Grünthal, als er das Flurlicht einschaltete, die Explosion auslöste. Nur das ‚Wie‘ war also zu klären, und man hat es geklärt. Das Flurlicht nämlich erhält seinen Strom aus einer Abzweigdose im Wohnzimmer. Und diese Dose ist die Wurzel allen Übels, zumindest des zweiten. Einwandfrei ist erwiesen, daß einige Drähte nicht mehr fest verschraubt waren. Es muß darin schon seit einiger Zeit geknistert haben, darauf deuten verkohlte Ränder der Isolierung hin. Das hätte im Normalfall zu Kurzschlüssen führen können und hat es auch in diesem Fall. Der an sich winzige elektrische Funke genügte vollauf, die angesammelte Gasmenge zur Explosion zu bringen.“ Stengel legte auch diesen Bogen säuberlich auf den Schreibtisch des Kommissars. „Und somit hätte sich alles auf ganz natürliche Art geklärt, wie vermutet.“ Natürliche Art, dachte Proskow. Ganz natürlich, wenn ein Ehemann nach Hause kommt und ihm die Bude um die Ohren fliegt. Höchst natürlich, daß im Haus zwei Tote liegen. Und doch, es paßte alles so wunderbar zusammen wie die einzelnen Bauelemente eines Wochenendhauses aus dem Typenbaukasten. Nur war für ihn noch immer die Frage, ob so wunderbar oder zu wunderbar. Herr Grünthal war wie seit Monaten pünktlich von Wenckmann gekommen, theoretisch konnte auch ein Außenstehender diese Beobachtungen gemacht und genutzt haben, wenn – der Brief nicht wäre. Und da war ja auch noch mehr. Der Bahnbeamte zum Beispiel, die Klatschereien über Frau Grünthal, die Schwangerschaft und was dergleichen mehr war. Es gab eigentlich keinen Punkt, der weitere 89
Beschäftigung mit dem Fall gerechtfertigt hätte. Keinen – bis vielleicht auf die eine Sekunde, in der sich dieser Katzer über irgend etwas gewundert hatte. Einen Grund mußte er gehabt haben. Aber welchen? Kannten sich Grünthal und Katzer etwa schon länger? War er Werkzeug gewesen? Ohne freilich zu wissen, daß eine Explosion auf der Tagesordnung stand? Aber welcher normale Mensch legte sich in ein Auto schlafen? Oder welcher Mensch schaltete jenen Stromkreis ein, der eine Explosion auslösen mußte? Und vor allem, daran führte kaum ein Weg vorbei, Grünthals Alibi war nicht zu erschüttern. Wenckmann, bei aller Verschrobenheit, würde sich nicht zum Komplicen eines Verbrechers hergeben. Wenckmann hatte nicht einmal Zweifel; er gab einfach an, wovon er überzeugt war. Er würde seine Aussagen sogar bereitwillig beschwören, weil es wahrscheinlich wirklich sieben Minuten vor elf gewesen war, als Grünthal aufbrach. Was also sollte es noch? Proskow wußte, verfolgte er jetzt noch die Sache weiter, würde er sich ziemlichen Ärger mit dem Chef einhandeln. Es gab nicht nur täglich neue Arbeit, es gab auch unerledigte Fälle genug. Und doch hatte schon oft eine Sekunde, ein unbedachtes Wort den Lauf der Dinge entscheidend verändert. Kommissar Proskow beschloß, ebenfalls in einer Sekunde, daß ihm eine Sekunde reichen würde. Stengel, der inzwischen seinen Schreibtisch flüchtig aufgeräumt hatte, glaubte an einen bösen Witz, als Proskow sagte: „Laß den Blödsinn da! Wir haben noch ein paar andere Kleinigkeiten.“ „Das … das wird doch wohl nicht Ihr Ernst sein?“ Stengels Verärgerung war schon deshalb aufrichtig, weil 90
er meinte, die verhaßte Arbeit des Protokollierens käme auf ihn zu. „Die ganze Nacht und den halben Tag hat man sich um die Ohren geschlagen – ich werde mich noch mal bei der Gewerkschaft beschweren! Schließlich verlangen auch lange Knochen nach Ruhe, nicht bloß alte.“ Proskow legte das Schlüsselbund aus Hillmanns Mantel klirrend auf die Tischplatte. „Hier, einer davon paßt für ein Schnellzugabteil. Der Wagen steht auf dem Grundstück Degner. Fische vorher noch den Abschiedsbrief aus deinen Akten und nimm ihn mit. Mich interessiert nicht nur, ob ihn tatsächlich Frau Grünthal geschrieben hat … ich weiß, ich weiß“, wehrte er ab, als Stengel bemerken wollte, daß er ja schon auf Echtheit geprüft sei. „Ich wünsche unmißverständlich zu wissen, ob das Brieflein nicht älter sein kann als zwei Tage.“ Es war ein keineswegs neuer Trick, daß man einen Brief älteren Datums für gewisse Zwecke präparierte. „Das traue ich, bei allem Respekt, unserem Fachmann bei seinen begrenzten Möglichkeiten denn doch nicht zu.“ „Dann schicke ihn meinetwegen zur Landeskriminalpolizei. Oder gleich nach Wiesbaden, mir völlig egal. Wichtig ist das Ergebnis, verstanden?“ „Aber wozu, zum Teufel, soll das denn alles gut sein?“ Zum Teufel? Proskow horchte dem Wort einige Sekunden nach. „Gar nicht so schlecht, mein Junge. Vielleicht geht es wirklich um einen Teufel?“
91
10. Obwohl der Nachmittag im Haus scheinbar alltäglich verlaufen war, sah man von Hammerschlägen und ähnlichen Baugeräuschen ab, keimte in Ernst Katzer ganz allmählich das sonderbare Gefühl, er sei auf eine vorerst noch unerklärliche Art in eine neuartige Gefangenschaft geraten. Sie war in nichts mit einer regulären Haft vergleichbar, aber er begriff gegen Abend, daß er unter Kontrolle stand. Einen Grund mußte Herrn Grünthals Verhalten schließlich haben. Noch unterzog sich Katzer nicht der Mühe langwieriger und doch naheliegender Kombinationen. Er begriff lediglich, und das auch nur aus seinem Gefühl ewigen Mißtrauens gegen die nach seiner Ansicht ungerechte Welt, daß er für den Hausherrn wohl eine Gefahr bedeuten mußte. Grünthal wich ihm kaum von der Seite. Aber genau das mußte Katzers Aufmerksamkeit herausfordern, wie es überhaupt Grünthals übertriebene Vorsicht war, die alle folgenden Ereignisse beschleunigte. Hatte Ernst Katzer noch am Morgen Herrn Grünthals schroffes Verhalten als den Ausdruck mangelnden Vertrauens betrachtet, so hatte er sich gleich nach Mittag darüber gewundert, daß Grünthal seiner bescheidenen Bitte nach ein paar Zigaretten zwar zustimmte, ihn aber wiederum nicht gehen ließ. Statt dessen hatte er eins der Kinder losgeschickt, die draußen gafften. Zwei Stunden später hingegen war in Katzers Handeln bereits Berechnung gewesen. Bauarbeiten verursachen Durst, und Wasser eignet sich am besten zum Waschen; so ähnlich hatte Katzer sein Verlangen auf ein 92
Bier umschrieben. Grünthal hatte auch dies verstanden – und wiederum ein Kind mit Tasche und Geld losgeschickt. Es hätte dann später gar nicht mehr des albernen Tricks bedurft, ihn in der abgeschlossenen Garage den Couchtisch notdürftig leimen zu lassen, während zwei Mann vom Überlandwerk die Stromleitungen wieder reparierten. Er begriff, daß er ferngehalten werden sollte, um mit niemandem Verbindung aufzunehmen. Nur über den Grund wurde er sich noch nicht klar, aber er witterte eine Chance, die mit jeder weiteren Flasche Bier stetig zu wachsen schien. Es war zu einem Teil auch der durch Gerstensaft genährte Mut, der ihn schließlich die waghalsige Probe aufs Exempel machen ließ. Er entdeckte in einer Handtasche der Toten neben Spiegelscherben und Resten eines Fläschchens einen Zwanzigmarkschein. Und obwohl Herr Grünthal kaum zwei Schritt entfernt stand und die wenigen nicht zu Bruch gegangenen Gläser aus der Hausbar auf Sprünge untersuchte, steckte Ernst Katzer den Geldschein einfach in die Hosentasche. Einen Augenblick fühlte er so etwas wie Scham. Er machte sich steif und erwartete Grünthals Reaktion. Jetzt feuert er mich, dachte er, und er hätte es gern rückgängig gemacht – aber nichts geschah. Einige Sekunden herrschte völlige Stille. Dann hielt es Katzer nicht mehr aus. Er drehte sich langsam zu Grünthal um. Dessen Augen verrieten nichts von seinen Gedanken. Er hatte sich immer meisterhaft zu beherrschen oder zu verstellen gewußt. Er hatte Liebe geheuchelt, wo er Haß, zumindest aber Abneigung empfand. Er hatte Begeisterung gespielt, wenn es um Berechnung ging. Auch jetzt 93
nahm er nur betont gleichmütig das nächste Glas und hielt es gegen das Licht. Noch ehe er es in den gefüllten Scherbeneimer fallen ließ, erkannte Katzer, daß Grünthal Theater spielte. Er sah den Sprung im Glas aus drei Meter Entfernung. „Machen wir Feierabend“, sagte Grünthal kühl und blickte sich im Zimmer um. Die Tür, von Katzer halbwegs ordentlich repariert, ließ sich wieder schließen. Schutt und Schmutz waren beseitigt, die versengten Bezugsstoffe der noch brauchbaren Sitzmöbel notdürftig durch übergelegte Wolldecken ersetzt. Aber noch immer schwebte der üble Geruch im Zimmer. Ihn fröstelte. Das Zimmer blieb verödet, nicht nur wegen Kälte, Geruch und Flickwerk. Plötzlich fehlte Beate, ihre so gehaßte Fürsorglichkeit, das Gefühl, zu Hause zu sein. „Besonders salonfähig sehe ich gerade nicht mehr aus“, platzte plötzlich Katzers Stimme in Grünthals Erinnerungen hinein. Etwas ungläubig wandte Rainer Grünthal den Kopf langsam zur Tür hin, wo Katzer stand und an seiner Hose herumzerrte, als wollte er eine Bügelfalte hineinzaubern. „Aus ’m Leim geht sie auch“, kicherte er, noch etwas verlegen, und wies auf eine geplatzte Naht unterhalb des linken Knies. Grünthal sah zugleich die schiefgetretenen Schuhe, sah die zahlreichen Schmutz- und Schmierflecken, die Löcher in Hose und Pullover. Er nickte, und doch stieg eine dumpfe Wut in ihm hoch. Jetzt hatte er also die berühmte Laus im Pelz. Aber auch jetzt machte er sich nichts vor – er selbst hatte die zugespitzte Situation herausgefordert. Der andere mußte aus seinem Verhalten zwangsläufig Schlüsse ziehen, die er gerade nicht ziehen sollte. 94
Es war das erstemal, daß ihn diese Wut ankam. Er hatte einen Fehler begangen, er würde ihn korrigieren. Und er mußte ihn schnell korrigieren, ehe Katzer eine Art Herrschaft über ihn erlangte. „Vielleicht paßt Ihnen etwas aus meinen Beständen?“ sagte er beherrscht. „Gehen wir nach oben.“ Zehn Minuten später drehte sich Ernst Katzer zufrieden vor dem Schrankspiegel um die eigene Achse. Er trug jetzt eine fast neue Manchesterhose, dazu ein rotkariertes Buschhemd, eine dunkelbraune Strickjacke und ein Paar Halbschuhe. „Sehe ich nicht schneidig aus?“ „Es geht“, bestätigte Grünthal trocken, während er seinen Schrank verschloß. Er wollte den Schlüssel abziehen, ließ ihn dann aber doch stecken. „Gehen wir, Sie werden ja sicher Hunger haben.“ „Nicht zu knapp.“ Die Sache fing an, ausgezeichnet zu laufen, und es lag wohl an ihm, die Richtung zu bestimmen. In der Küche dann, dem einzigen zur Zeit geheizten Raum, blieb Ernst Katzer vorm Kühlschrank stehen. Er gehörte zu jenen Menschen, die wohl auf Alkohol verzichten konnten, deren Verlangen sich aber bis zur Sucht steigerte, wenn sie die ersten Flaschen Bier hinter sich hatten. „Haben wir eigentlich keinen Schnaps im Haus?“ fragte er in einem Ton, den er für weltmännisch hielt. Es war nicht so sehr die Frechheit der Frage, es war die plumpe Vertraulichkeit, die endgültig Grünthals Illusion zerstörte, dieser Katzer sei ein mäßiger Gegner. Der Mann würde ihn erpressen. Das war mehr, als er so schnell vorausgesehen hatte; es war eine grobe Unterschätzung. Es bedeutete, daß Katzer sich viel zu schnell 95
der Macht bewußt geworden war, die ihm ein lächerlicher Zufall in die Hand gespielt hatte. Aber es bedeutete auch eine gewisse Frist. Dieser Mann würde, wollte er nicht überhastet das Boot anbohren, in dem er saß, vorerst eine Art Verbündeter sein müssen. Wie lange diese Frist dauerte, das allerdings durfte nicht Katzer entscheiden. „Ich würde mich erst einmal waschen“, antwortete Grünthal. Geschützt von Dunkelheit und noch immer wirbelndem Schneesturm, stand draußen seit einigen Minuten Kommissar Proskow. Die Hände in den Taschen des Lodenmantels, den Kragen hochgeschlagen, wirkte er wie ein Einbrecher, den noch Licht im Hause zur Untätigkeit verdammte. Obwohl er kein Wort der Unterhaltung drinnen verstehen konnte, las er aus den Gesichtern der beiden, daß sich ihr Verhältnis zueinander befremdlich verändert hatte. Diesen Eindruck verstärkte noch Katzers Kleidung, die zweifelsohne aus Grünthals Besitz stammte. Daraus ließ sich nicht nur auf einen längeren Aufenthalt Katzers im Hause schließen, es warf auch automatisch die ewige Frage auf, warum. Die harmloseste und zugleich naheliegende Erklärung war natürlich, daß Katzer eine Aufpolierung seines Äußeren unbedingt vertragen hatte. Aber hatte diese Einsicht allein Grünthal bewogen? Proskows Mißtrauen war sofort wieder erwacht. Obwohl ihn schon das verdammte Frösteln überfallen hatte, stand er weiter draußen und starrte böse in die erleuchtete Küche. Mißtrauen konnte fruchtbarer Nährboden sein, aber es war kein Argument. Er hatte den ganzen Rest des Tages mit Nachforschungen über die Privatsphäre Grünthals verbracht. 96
Es hatte sich nichts gefunden, was auch nur annähernd nach einem Motiv aussah, im Gegenteil. Frau Grünthal hatte weder Privatvermögen besessen, noch stand irgendwo eine lohnende Erbschaft in Aussicht. Selbst das Haus lohnte kein Verbrechen. Es gehörte durch die Heirat ohnehin so gut wie ihrem Mann, vom jetzigen Zustand ganz abgesehen. Wie er die Baupolizei kannte, fanden die bei gründlicher Prüfung allerhand Schäden, die kostenaufwendig zu reparieren waren. Versicherung? Glatter Fehlschlag. Keine hohe Lebensversicherung für Beate Grünthal, nicht einmal Rainer Grünthal selbst war lebensversichert. Grünthals Privatvermögen verdiente kaum die Bezeichnung Vermögen, was waren heutzutage schon zehntausend Mark? Ganz zu schweigen davon, daß es ohnehin sein Geld war. Blieb nur rasende Eifersucht, was aber hieß, das Grünthal sehr wohl seinen Nebenbuhler gekannt hatte. Dem widersprach aber wiederum sein sonstiges Verhalten. Wer buchte schon teure Ferienplätze für sich und seine Frau nach Mallorca, wenn er wußte, daß diese Frau den Start der Maschine nicht mehr erleben würde? Wenn das auch noch ein berechnender Trick gewesen sein konnte, wie sollte aber bei diesem Tatmotiv ein Abschiedsbrief zustande gekommen sein? Durch Drohung, Gewalt? Alles möglich, nur, Grünthal war drei Viertel sieben zu Wenckmann aufgebrochen, seine Frau hätte jederzeit Hilfe holen können. Und nun blieb als Ansatzpunkt für weitere Kombinationen nur noch Katzer. Dieser Katzer, der sich eben da drin am Spülstein wusch, nicht besonders gründlich, den Hals vergaß er ganz und gar. Der Rettungsanker Katzer, der als einziger mehr wissen konnte, weil er nachweislich 97
zur Zeit des Todes der beiden innerhalb des Hauses gewesen war. Katzer hatte ausgesagt, durch das hintere Garagenfenster eingestiegen zu sein. Vor einer Viertelstunde hatte auch Proskow davorgestanden, beim Blick zurück über die Gärten hatte er sich an seinen Weg von Wenckmann zu Degner erinnert. Hinter Grünthals Garten verlief ein Feldweg. Er hatte ihn trotz des hohen Schnees verfolgt, war auf das Wäldchen gestoßen, und ganze vier Minuten später hätte er an Wenckmanns Wohnzimmerfenster klopfen können. Ohne Rücksicht darauf, daß er deutliche Fußspuren hinterließ, stapfte Proskow nun an der Hinterfront des Hauses entlang, umging die angebaute Garage und stieg die drei Stufen der Veranda hoch. Die Haustür war verschlossen, aber die Klingel funktionierte wieder. Wie es seine Gewohnheit war, läutete der Kommissar ausdauernd, bis er aus Geräuschen hörte, daß jemand kam. Er sah durch die Milchglasscheibe gleich zwei Schatten auftauchen; es wunderte ihn merkwürdigerweise nicht. „Guten Abend.“ Er klopfte sich den Schnee von Mantel, Hut und Schuhen ab und schob sich zwischen beiden Männern hindurch. „Entschuldigen Sie die späte Störung.“ Rainer Grünthal murmelte, daß der Herr Kommissar keine Ursache habe, während er längst über den Zweck des unerwarteten Besuchs grübelte. Proskow ließ ihn nicht im unklaren. „Eigentlich“, erklärte er, ohne freilich Ernst Katzer anzusehen, „hätte ich mit dem da etwas zu bereden.“ „Gehn wir in die Küche“, lärmte Katzer aufgekratzt. Er fühlte keinerlei Gefahr, der Bulle da konnte ihm 98
gestohlen bleiben. „Da isses wenigstens bißchen gemütlich. Weil’s warm is.“ Proskow nickte zustimmend, sah aber unentwegt den Hausherrn an. In der Küche allerdings hatte er für Sekunden Mühe, seine bekannte stoische Ruhe zu bewahren, als Katzer ihm forsch einen Weinbrand anbot. Im allgemeinen war es ihm egal, wenn jemand auf seine Gewohnheit anspielte. Diese Anbiederung empfand er wie eine Ohrfeige. „Sie scheinen sich hier sehr wohl zu fühlen, wie?“ „Kunststück! Meinen Sie, daß es in Ihrer Pension hinterm Amtsgericht gemütlicher wäre?“ Er goß mit aufdringlichfrechem Grinsen einen doppelten Weinbrand hinunter, wischte sich mit rustikaler Selbstverständlichkeit mit dem Jackenärmel über die Mundpartie und fragte hochtrabend: „Was kann ich für Herrn Kommissar tun?“ Der Kommissar brauchte noch Sekunden, ehe er wieder in seinen Umgangston zurückfand. „Da ist nur eine Frage aufgetaucht. Die Frage nämlich, ob Sie nicht eigentlich den Gasgeruch hätten bemerken müssen. Erstens wollen wir immer alles genau wissen, das kennen Sie ja aus eigener Erfahrung, und zweitens saßen Sie immerhin nebenan in der Garage.“ Ernst Katzer fuhr sich mit der Hand über die Kennedyfrisur. Was sollte das jetzt mit dem Gasgeruch? „Was habe ich denn mit der Sache zu tun?“ „Hier frage ich, alter Freund! – Sie haben nichts bemerkt? Weder Gasgeruch noch sonst irgend etwas?“ Dabei sah er wie unbeteiligt auf Grünthal, der einen winzigen Augenblick seinen eigenen Herzschlag überlaut hörte. Obwohl er meisterlich unbefangen dem Kommissar ins Auge blickte, hämmerte eine einzige Frage in 99
ihm: Was sollte das? Die Frage war doch nicht nur eine Frage schlechthin? Dar Doppelsinn war nicht nur unüberhörbar, er mahnte auch zur äußersten Vorsicht. Katzer seinerseits starrte ebenfalls Grünthal an. Langsam, ganz langsam, aber doch viel zu rasch für Proskow, begriff auch er die Zweideutigkeit der Frage. Aber ebenso schnell begriff er auch, daß der Kommissar sicherlich nur auf den Busch klopfte. Dieser komische Lodenonkel wußte nichts, der suchte nur, der ahnte vielleicht irgendwas. Aber auch das war schon alarmierend genug. Alarm hieß soviel wie Gefahr. Nur, und das war vorerst fast heiter, es hieß nicht Gefahr für ihn. „Mann“, lärmte er los, „Gasgeruch! Ausgerechnet ich soll was gerochen haben?“ Er erfaßte erst hinterher, daß auch das jetzt doppelsinnig gewesen war. „Fragen Sie doch mal den Jüngling aus Ihrem Verein, der hier nachts den dicken Willem markiert hat! Mich, Herr Kommissar, mich haben sie schlafend und schon ein bißchen tot aus ’m Auto geschleift. Schlafend! Und wer schläft, der sündigt nicht bloß nicht, der hört und sieht auch nischt.“ Proskow hörte kaum noch hin. Er hatte begriffen, daß Ernst Katzer nicht bereit war, irgendeine Information zu geben. Das aber hieß unzweifelhaft, daß es solche Informationen geben mußte. Es war ihm auch klar, daß Katzer diesen Preis für seinen weiteren Aufenthalt im Haus zahlte. Was aber wußte er? Denn was auch immer zwischen diesen beiden Männern vorgegangen war und noch vorging – es mußte seinen Ursprung in jener knappen Stunde haben, die zwischen Katzers Eindringen in die Garage und seinem Einschlafen lag. Fest stand, daß Katzer tatsächlich halb bewußtlos geborgen worden war. Es mußte irgend etwas geben, das vor elf, also vor der Explosion, 100
passiert war. Aber was? Während all dieser Überlegungen ließ der Kommissar keinen Blick von Grünthal. Der hatte das abscheuliche Gefühl, als hielten ihn Proskows Augen fest. Gleichzeitig aber spürte er eine gewisse Erleichterung. Katzer schien entschlossen zu sein, vorerst gegen die Polizei Front zu beziehen. Nur lauerte auch darin wieder die Bestätigung dafür, daß Katzer seine Machtposition erkannt haben mußte. Proskow, in der dumpfen und ihn bestürzenden Ahnung, daß er hier gegen eine ihm unerklärliche Allianz anrannte, ließ sich ohne rechten Sinn von Grünthal durch die Räume des Erdgeschosses führen, starrte hier, überlegte dort, einen vernünftigen Grund für längeres Verbleiben fand er nicht. Mit einigen belanglosen Bemerkungen über die Schäden verabschiedete er sich schließlich. Rainer Grünthal, im Versteck der dunklen Veranda, sah ihn hinter dem Vorhang der unentwegt wirbelnden Schneeflocken durch den Vorgarten stapfen. Unbeteiligt registrierte er, daß der Kommissar vom Plattenweg abkam und längst über die vom Schnee verdeckten Blumenrabatten stolperte. Er lächelte, böse und überheblich. Der da, mochte er auch noch so mißtrauisch sein, würde keinen schwachen Punkt entdecken. Mochte er sogar dahinterkommen, daß ein Teil der Lösung dieser Schachaufgabe auf der Hinterseite seines Grundstücks lag – die Fußspuren Proskows waren frisch genug, die er auf dem Weg um das Haus herum hinterlassen hatte –, Wenckmann als Zeuge im Rücken war soviel wert wie die Zusage der Bundesbank auf langfristige Kredite bei einer geplanten Firmenerweiterung. Der da, der mochte schnüffeln, knurren, kombi101
nieren, wüten oder drohen, eine Gefahr war er noch längst nicht. Und bis er eine Gefahr werden konnte, galt es, das Gesetz des Handelns zu beachten. Nein, die Gefahr lag woanders. Sie hockte da drinnen in der Küche, soff wahrscheinlich, voller Stolz auf ein bißchen Intelligenz, und würde wohl auch morgen die unfreiwillige Gastfreundschaft in ähnlicher Weise ausnutzen. Nun, mochte er. Immer zu, mein Junge! Fühl dich ganz wie zu Hause. Der Kommissar war längst verschwunden, da stand Grünthal noch immer am Verandafenster und starrte in den Schnee. Der Schnee! Diese weiße, weiche Pracht, das Leichentuch der Natur. Sanft, weich, leicht wie Daunen. Die Assoziation war so zwingend, daß sich die lange gesuchte Lösung wie von selbst anbot. Man mußte sich also erneut für den Wetterbericht interessieren. Der Westwind, vor Tagen noch verhaßt, wehte wieder unvermindert, brachte Schneemassen. Er wehte diesmal für ihn. Als Grünthal schließlich zurück in die Küche ging, lächelte er vor sich hin. Es war gut, daß der Kommissar den Katzer halb betrunken gesehen hatte. Sehr gut sogar.
102
11. Am Morgen, als Proskow bemerkenswert pünktlich zum Dienstbeginn marschierte, zogen Schneepflüge durch die Straßen, schippten verantwortungsbewußte Hausbesitzer oder Hausverwalter die weiße Pracht von den Gehsteigen. Noch ahnte oder glaubte niemand, daß Schneepflüge in den nächsten vier Monaten zum Straßenbild gehören würden. Als der Kommissar so unverschämt pünktlich in das Dienstzimmer polterte, hatte Kriminalmeister Stengel noch genügend Geistesgegenwart, sein Kofferradio auszuschalten. Proskow blinzelte schläfrig, als er den Lodenmantel an seinen Haken hängte. Wenn er auch kein Verständnis für das neumodische Geheule und Gedudel aufbringen konnte, so konnte er doch junge Leute verstehen. Auch er hatte damals am Charleston Gefallen gefunden. „Unser Häuptling hat schon zweimal dringend nach Ihnen verlangt. Am frühen Morgen!“ „Mich interessiert ganz etwas anderes.“ „Falls Sie die Fingerabdrücke im Schnellzugwagen meinen, Herr Kommissar: reine Zeitverschwendung. Dieser Hillmann muß offenbar nie Besuche empfangen haben. Übrigens, ich weiß nicht, ob Sie es übersehen haben oder nicht, aber wir haben sein Sparbuch gefunden. Gemessen an der kurzen Zeit, die er hier lebte, war er ein außerordentlich sparsamer Mensch. Wir haben es natürlich erst einmal sichergestellt.“ Proskow war nicht sonderlich enttäuscht. Es hätte ihn geradezu verwundert, wenn irgend etwas nicht mehr so wunderbar gepaßt hätte. Wenn hier tatsächlich ein 103
Verbrechen geschehen war, so war dem Organisator bisher nicht der geringste Fehler unterlaufen. Stengel sah mit einiger Verblüffung, daß der Kommissar trotz der enttäuschenden Nachricht vor sich hin lächelte. Das war besorgniserregend. Wenn Kommissar Proskow lächelte, konnte etwas nicht stimmen. Und vor allem, der Kommissar lächelte mit einer stillen Bösartigkeit, als sei er besonders glücklich. Proskow wußte, es gab kein perfektes Verbrechen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß nur noch die Hälfte aller Verbrechen aufgeklärt werden konnte. Diese Unterbilanz hatte ihre Ursachen; eine war die anschwellende Kriminalität an sich. Warum das so war, und warum die einzusetzenden Machtmittel nicht mehr ausreichten – auch darüber war man sich im klaren, wenn man es auch schweigend überging. Aber wer so lange wie er bei der Verbrechensbekämpfung mitwirkte, konnte gar nicht anders, als gewisse Schönheitsfehler zu entdecken. Zu oft standen mächtige Personen oder ganze Gruppen hinter einem Verbrechen. Man ließ besser die Finger davon, der mögliche Erfolg stand in gar keinem Verhältnis zu den Scherereien, die man sich damit einhandeln konnte. Aber Proskow glaubte nicht, daß hinter Grünthal mehr stecken konnte. Grünthal war Einzelgänger. Wenn auch seine Vermutungen allmählich zu einer fixen Idee zu werden drohten, die bisher bekannten Tatsachen ließen sich nicht negieren. „Was ist mit dem Brief?“ erkundigte er sich. „Nichts“, erklärte Stengel uninteressiert. „Ich hab’ ihn natürlich ’rübergeschafft, aber das ist bis jetzt auch alles.“ Proskow verzichtete auf eine Zurechtweisung. Dieser Abschiedsbrief! Mochte man jede Einzelheit unanfecht104
bar planen können, einen handschriftlichen Brief konnte man beim heutigen Stand der Kriminaltechnik nicht mehr gefahrlos fälschen. Selbst nach jahrelanger Übung vermochte man nicht, fremde Schriftzüge so fehlerlos nachzuahmen, daß sie einer wissenschaftlichen Prüfung standhielten. Und selbst ein Bundespräsident Lübke war nicht zuletzt daran gescheitert, daß man die Echtheit seiner Unterschriften auf belastenden Dokumenten nachgewiesen hatte. Blieb nur die Chance, falls sich die Schrift einwandfrei identifizieren ließ, daß der Brief älter war. Und wenn nicht? Was dann? Und noch immer: Was war das Motiv? Um Geld konnte es doch diesmal nicht gehen, Frau Grünthal hatte nichts zu vererben, und Hillmanns Sparbuch lohnte erst recht kein Verbrechen, abgesehen davon, daß man es sichergestellt hatte. War es doch Eifersucht gewesen? Dafür sprach immer wieder die Tatsache, daß auch der heimliche Liebhaber tot war, sozusagen in einem Aufwasch. Aber auch dazu paßte der Brief nicht. „Du besorgst mir umgehend die Strafakte dieses Herrn Katzer. Und“, er wühlte oberflächlich im Aktenstapel auf seinem Schreibtisch, „wo ist eigentlich unser Material über Grünthal? Ich sehe es nirgends.“ Stengel spielte mit seinem Frühstücksei eine Art Billard. „Die hat der Chef heute früh angefordert. Aber da Sie ja ohnehin zur Kommandozentrale müssen …“ Er hob mit einer Art des Bedauerns die Schultern und guckte den Kommissar freimütig an. Wenn der oberste Chef sich in eine Ermittlungsangelegenheit einschaltete, bedeutete das selten eine Auszeichnung. 105
Ernst Katzer wälzte sich seit über einer Stunde unruhig im Bett. In einer Art Selbsthypnose hielt er eigensinnig die Augen geschlossen, erneut einschlafen konnte er trotzdem nicht. Er zahlte den üblichen Preis für übermäßigen Alkoholgenuß: einen Kater. In seiner Erinnerung fehlte zumindest jene Zeitspanne, in der er die Küche verlassen hatte und zu Bett gegangen war. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, daß er Dinge gesagt haben konnte, die er jetzt für unwahrscheinlich halten mußte. Dabei wußte er ganz genau, warum er heute morgen besonders unglücklich war. Er hatte begriffen, daß er in mehr hineingeschlittert war als in eine kurze Spanne relativ sorgenfreien Lebens. Der verlorene Sohn da unten hatte sich gestern Abend gar keine Mühe mehr gegeben, einen schmerzgeprüften Hinterbliebenen zu mimen. Er hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken, er hatte fast liebenswürdig geplaudert. Und doch, Katzer hatte es mehr gefühlt als bewußt empfunden, die Liebenswürdigkeit war ebensowenig echt wie der Schmerz in der Unglücksnacht. Nein, dieser Herr Grünthal war kein mitleidiger Menschenfreund, er war eher das Gegenteil. Und es bedurfte gar keiner großartigen Kombinationen, um endlich dahinterzukommen, daß Grünthals Verhalten irgendwie von den Ereignissen hier im Haus diktiert wurde. Aber genau dieser Punkt seiner Überlegungen bereitete Ernst Katzer erhebliche Kopfschmerzen. Die Schlußfolgerung nämlich war ebenso aufregend wie bedeutungsvoll. Vorsicht, redete er in sich hinein, ganz vorsichtig, alter Schwede. Wenn das da unten kein Selbstmord gewesen ist, hatte es logisch auch kein Unglück gegeben. Und – 106
das war das Aufregende – er lebte hier vielleicht ganz alltäglich mit einem Mörder zusammen. Einfach nicht zu fassen, mit einem Mörder! Türmen, dachte Katzer unruhig, türmen wäre das gescheiteste. Merkwürdig war bloß, daß Herr Grünthal sich so verdammt sorglos gab. Und das konnte er eigentlich auch, oder? Sonst hätte doch der brummige Lodenkommissar längst sein Gebet gemurmelt, im Namen des Gesetzes und so. Nehmen wir mal an, Grünthal ist der Schatten gewesen, der kurz nach zehn durch die Garage geschlichen war. Logisch eigentlich, wer sonst? Bloß, Hut ab, alter Junge, wie hatte der das gedreht? So gescheit gedeichselt, daß nicht einmal der Lodenonkel dahinterkam? Schade, daß die keine Belohnung ausgesetzt hatten. Kleine Fünftausend …? Wäre endlich mal ein warmer Regen. Und das wiederum war für Ernst Katzer der bedeutungsvolle Aspekt. Die zwanzig Mark in der Hosentasche waren zwar ganz hübsch, vor drei Tagen wären sie sogar ein Vermögen gewesen. Jetzt waren sie ein Dreck. Hauptkommissar Vinker galt als seriöser Beamter, dessen ganzer Ehrgeiz darin bestand, Leiter der Polizeibehörde dieser Stadt zu sein. Er pflegte auch unumwunden zuzugeben, daß er lieber hier der erste Mann sei als irgendwo in einer Großstadt einer unter vielen. Sein Bürozimmer war, sah man von der Größe und einer gepolsterten Sitzecke ab, keineswegs pompöser eingerichtet als die anderen Diensträume auch. Die gleiche, etwas verstaubte Nüchternheit, die gleichen Stuckdecken, die gleichen Möbelstücke. Einzig ein länglicher Glasschrank wirkte besonders auf Besucher irgendwie erregend. 107
In den einzelnen Fächern hatte Vinker eine Art privates Kriminalmuseum angeordnet. Tatwerkzeuge und Beweisstücke von Verbrechen, die unter seiner Führungsperiode in dieser Stadt aufgeklärt worden sind, sofern sie nicht vom Landeskriminalamt angefordert wurden. Er galt übrigens nicht nur als seriös, er wirkte auch so. Dazu verhalf ihm eine gewisse steife Kühle ebenso wie seine stets korrekte Kleidung. Auch das streng gescheitelte Haar unterstrich den durchaus beabsichtigten Eindruck noch. Als Proskow eintrat, nickte Vinker freundlich und wies einladend auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Aber setzen Sie sich doch!“ Sie kannten sich seit Kriegsende, rieben sich hier und da, verstanden sich trotzdem meist, weil einer die Gewohnheiten des anderen zwar nicht begrüßte, sie aber doch in Kauf nahm. Nur gegen Proskows Taschenflasche pflegte Vinker zu protestieren, und Proskow unterließ es auch meist, in Gegenwart Vinkers zu trinken. „Machen wir es wie immer ohne Umschweife, lieber Proskow“, begann Vinker, während er sich umwandte und von einem Regal die Mappe mit den wenigen Protokollen der Angelegenheit Grünthal nahm, „ich wurde noch gestern Abend vom Labor informiert, daß Sie einen bestimmten Brief genauestens untersucht haben wollen. Stimmt etwas nicht?“ Proskow zuckte die Achseln, als interessiere ihn die Sache nicht übermäßig. „Die übliche Routine“, murmelte er. Vinker sah ihn aufmerksam an. „Lieber Proskow“, wiederholte er gleichmäßig freundlich, „wir kennen uns ja immerhin über zwanzig Jahre, nicht wahr? Gemessen am Lauf der Weltgeschichte ist das herzlich wenig, aber 108
im Leben zweier Menschen doch recht viel. Dieser Brief ist bereits auf die Echtheit der Schriftzüge überprüft worden. Und darum: Was soll eine erneute Prüfung?“ „Weiß ich noch nicht.“ Proskow wurde, wie oft in Gesprächen mit Vorgesetzten, halsstarrig und unhöflich. Vinker blätterte aufreizend ruhig in der Akte. „Ich konnte hier nichts Verdächtiges registrieren.“ „Ich auch nicht.“ „Was also soll’s?“ Vinker blieb weiterhin gelassen. „Zugegeben, eine ebenso traurige wie denkwürdige Angelegenheit, aber ein bißchen Vertrauen müssen Sie schon in die Fähigkeiten unseres Experten für Gasunfälle setzen. Außerdem kam Herr Grünthal von unserem ehemaligen Kollegen Wenckmann, hat also ein Alibi. Denn, darin stimme ich mit Ihnen völlig überein, trotz der augenscheinlichen Klarheit sind Sie jeder Möglichkeit nachgegangen. Mit dem Ergebnis, daß sich nicht einmal ein Schönheitsfehler finden läßt.“ „Das ist es ja gerade“, fuhr Proskow auf. Vinker schwieg einige Sekunden nachdenklich. „Ich verstehe … gewiß, so kann man die Dinge auch betrachten. Aber man kann sie auch auf den Kopf stellen, nicht wahr? Es ist doch ziemlich verwegen, Zweifel gerade damit zu begründen, daß es keinen Grund zum Zweifeln gibt. Zwar“, und nun lächelte Vinker sogar, „fürchte ich, daß Sie sich nicht beirren lassen werden und noch mehr Zeit und Mühe zu investieren gedenken, aber Sie kennen meine Vorschriften so gut wie ich. Wenn der Unfall kein Unfall und der Selbstmord kein Selbstmord war, bleibt ja nur Mord, nicht wahr? Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, müßten wir dann die Mordkommission der Landesbehörde einschalten. Aber wie gesagt, das wissen Sie ja.“ 109
Als Proskow darauf nichts antwortete, fuhr er belehrend fort: „Das hieße aber auch, daß Sie einen Beweis für Ihre Theorie – so darf ich es doch nennen? – vorlegen müssen. Gefühl oder Überzeugung gelten ja nichts, nicht wahr? Aber nun bedenken Sie die Erfolgsaussichten. Ich bin nicht gerade kleinlich oder gar ängstlich, nur, wie sehen die Tatsachen aus? Grob gesagt und sehr vereinfacht: Eine Frau, die ihren Ehemann betrogen hat, begeht mit ihrem Geliebten Selbstmord. Einen spektakulären, wie es scheint, aber das wurde er ja erst, als durch einen unglücklichen Zufall eine Gasexplosion dazukam. Fakt bleibt trotzdem nur, daß eine Frau mit ihrem Geliebten aus dem Leben schied, wenn man auch das Schicksal des Geliebten eigentlich nur bedauern kann.“ „Das hilft ihm nichts mehr“, murrte Proskow streitsüchtig. „Natürlich nicht“, stimmte Vinker ruhig zu. „Immerhin, ich habe mich ein wenig nach ihm erkundigt. Ich glaube allerdings, er hätte damals gar nicht flüchten müssen. Es ist nie eine Strafanzeige gegen ihn erstattet worden. Natürlich“, schränkte er zögernd ein, „vielleicht hat die Militärpolizei nach ihm gesucht, aber darüber wissen wir leider nichts.“ Als der Kommissar darauf nichts erwiderte, fuhr er versöhnlich fort: „Sie wissen, ich toleriere fast jeden Standpunkt, vorausgesetzt, er verträgt sich mit unseren Interessen. Ich habe auch nichts dagegen, daß Sie denken, was Sie wollen, bitte sehr … aber, kehren wir lieber zum Thema zurück. Wenn ich Ihre Gedanken richtig interpretiere, so mißfällt Ihnen gerade, daß jede Einzelheit im Fall des Selbstmordes übereinstimmt. Ist das nicht auch Widersinn?“ 110
Proskow schob nur die Unterlippe vor. Es stimmte eigentlich, auch das war Widersinn. „Na, sehen Sie“, sagte Vinker zufrieden. „Schließen Sie die Untersuchungen ab – oder bringen Sie mir einen Beweis, daß es nicht mit rechten Dingen zuging. Bitte, ich schalte sofort die Mordkommission ein. Bis dahin aber … Wie weit sind die Nachforschungen in der Eiergeschichte gediehen? Dieser Herr Krampa macht auch mich allmählich nervös.“ „Kriminalmeister Stengel ist gerade dabei …“, murrte Proskow. „Aus Hannover kam da eine vielleicht ganz interessante Nachricht. Aber die kennen Sie ja auch.“ „Natürlich, natürlich“, bestätigte Vinker und überraschte Proskow mit einem Vorschlag. „Am besten, Sie informieren sich an Ort und Stelle, lieber Proskow. Ja, vielleicht sollten Sie bei der Gelegenheit gleich diesen Brief im Landeskriminalamt vorlegen. Was meinen Sie?“ „Ich soll nach Hannover“, sagte Proskow, mehr zu sich selbst. Während Vinker hoffte, daß eine schnelle Bestätigung der Echtheit des Briefes, die der Pertograph im hauptstädtischen Institut mühelos nachweisen konnte, den halsstarrigen Proskow bekehren würde, dachte Proskow an die Adresse eines Päckchens, das er gestern Abend auf Grünthals Schreibtisch gesehen hatte. „Sie können heute noch fahren.“ „Morgen genügt auch“, schlug Proskow vor. „Ist ja großartig.“ Als Proskow über den Flur zurück in sein Zimmer ging, dachte er: Was war eigentlich großartig daran, wenn er morgen die paar Kilometer nach Hannover reiste? 111
„Die Akte Katzer“, empfing ihn Stengel. Aber schon im Tonfall lag sein Urteil über Katzer. „Ein Würstchen, ein kleines Würstchen.“ Proskow konnte sich kaum noch erinnern, ob er Ernst Katzer eigentlich damals gesehen hatte oder nicht, als ihn Stengel auf ein Fahndungsersuchen hin hier verhaftet hatte. Mehr als Zufall war Stengels Fang ohnehin nicht gewesen. Der Kommissar las die wenigen Blätter in drei Minuten durch. Was ihm vor allem wichtig erschien, ging auch aus den Protokollen und richterlichen Vernehmungen nicht hervor. Niemand hatte sich dafür interessiert, ob Katzer schon früher einmal hier gewesen war. Wozu hätte man auch danach fragen sollen? Es stand aber außer Frage, daß Grünthal etwas mit Katzer verbinden mußte, was sie zu Bundesgenossen stempelte. Und Proskow konnte sich nicht helfen, die Ursache dieser Abhängigkeit mußte in den Vorfällen im Haus liegen, aber das ließ sich nicht beweisen. Und hier ging es um den Beweis, daß es mehr als nur ein trauriges Unglück gewesen sein könnte. Wenn auch die wissenschaftliche Kriminalistik, wenn auch einzigartige Geräte vom Elektronenbeschleuniger über Solargraphen und Elektronenmikroskopen und Spektralanalysen die einstmals vorrangige Kombinationsgabe zum Teil ersetzt hatten, Fragen machten noch immer die Tätigkeit des Kriminalbeamten aus. Wenn es wie hier nicht um Tatspuren ging, nicht um Fingerabdrücke, nicht um Lackspuren, Blutgruppen, eben greifbare Spuren ging, nützte die ganze Wissenschaft nicht viel. Proskow unterschätzte keinesfalls den stetig wachsenden Wert der Kriminaltechnik. Aber er hatte nur einen Brief, einen wunderbar zum Geschehen passenden Brief, 112
und der, das wußte er plötzlich mit aller Deutlichkeit, würde so echt sein wie eine Zehnpfennigbriefmarke. „Ein Schuß in den Ofen, Herr Kommissar?“ Stengel deutete die leichte Verzagtheit auf Proskows Gesicht richtig. Er lehnte wieder einmal in voller Länge hinter seinem Schreibtisch, spielte mit einem Gummilineal und fand die augenblickliche Situation durchaus erträglich. Die Affäre Grünthal nahm den Alten so stark in Anspruch, daß er zur Zeit eine Art Bummelstreik absolvieren konnte. Proskow blickte erstaunt auf, hatte eine besonders bissige Bemerkung auf der Zunge, sagte aber zu Stengels Verblüffung eher sanft: „Ins Hausboot, lieber Stengel, ein Schuß in Belindas Hausboot.“ „Soll ich die Akte in die Registratur zurückschaffen?“ erbot er sich in seiner Verwirrung. Außerdem schien höchste Vorsicht geboten; wenn der Chef sarkastisch wurde, war er meist glücklich. „Später“, meinte Proskow. Die Akte half ihm, gemessen an der investierten Hoffnung, einen feuchten Dreck. Oder doch nicht? Dieser Fuchs Grünthal hatte, davon war er inzwischen restlos überzeugt, Regie geführt. Schön, dem Mann schien tatsächlich nicht der kleinste Fehler unterlaufen zu sein. Aber wie sollte dann seine Vermutung wegen Katzers Abhängigkeit dazu passen? Die beiden konnten sich gar nicht von früher kennen! Ein derartig umsichtiger Mensch, sofern man überhaupt noch von einem Menschen reden durfte, hätte unbedingt einkalkuliert, daß die Polizei in einer möglichen Bekanntschaft zwischen ihnen einen Haken gefunden hätte. „Ein kleiner Fisch“, machte sich Stengel bemerkbar, als müsse er nun erst wieder einmal seine Arbeitswilligkeit 113
beweisen. „Mauste damals, vor einem Jahr, eine Brieftasche aus einem Mantel in einem unverschlossenen Pkw und dachte vielleicht noch, wunder was er für eine Tat vollbracht hatte.“ Proskow sah seinen Langen eine Weile mitleidig an. „Hätte er den Besitzer des Autos niederschlagen und dann den Wagen aufbrechen sollen? Im übrigen behauptete Katzer, wie ich eben las, er habe die Brieftasche vor dem Wagen gefunden.“ „Vielleicht aber haben Sie die Aussage des Geschädigten übersehen, Chef? Der nämlich gab an, daß er zwar den fraglichen Mantel eigentlich habe mitnehmen wollen, als er ausstieg, ihn dann aber doch ins Polster zurücklegte. Katzer dürfte das Manöver beobachtet haben, wobei er leider übersah, daß auch er beobachtet wurde.“ Proskow nickte grimmig vor sich hin. „Natürlich! Auch bei dir wird man schon deshalb glaubwürdiger, wenn man nur einen ansprechenden Wagen besitzt.“ „Jedenfalls hatte Katzer die tausend Mark aus der Brieftasche, gestohlen bleibt gestohlen, und gebrummt bleibt auch gebrummt“, verteidigte Stengel seinen Standpunkt. „Mit seinen paar Monaten war er noch gut bedient. Der Richter war verständnisvoll genug, und er hat auch die Formulierung des Verteidigers akzeptiert, wonach Katzer eine Art Opfer der Reklame gewesen sei. Der Bursche hatte auf Teilzahlung gekauft wie ein Wahnsinniger, dann freilich die Raten nicht einhalten können und sich eben mit fremdem Geld helfen wollen.“ Kommissar. Proskow musterte den Langen mit einer gewissen Zuneigung. Irgendwie fühlte er das Bedürfnis, mit jemanden über sein Problem zu sprechen, nicht immer ewig alles mit sich selbst auszufechten. 114
„Verrate mir bloß mal, warum der Grünthal sich jetzt einen solchen Klotz ans Bein gebunden hat?“ „Das werde ich wohl nie begreifen“, seufzte Stengel. „Ich hätte den Katzer doch gleich noch in der Nacht festnehmen sollen. Kann er höchstens seiner Oma erzählen, daß er nichts als schlafen wollte. Einen guten Stich wollte der machen, was sonst?“ „Wollte? Der sah mir eher aus, als mußte er, wenn er nicht verrecken wollte. Aber ich habe das ekelhafte Gefühl, daß er nur einen Umweg gemacht hat.“ „Wenn’s danach geht“, meinte Stengel philosophisch, „so machen wir alle Umwege. Wir sollten uns ruhig vom nächsten Autobus überfahren lassen, irgendwann sind wir ja sowieso dran.“ „Du bist ein Idiot“, beschwichtigte ihn Proskow gemütlich. „Oder glaubst du etwa, daß ein Grünthal aus lauter Nächstenliebe handelt? Warum sollte er? Dennoch hat er diesen Katzer bei sich aufgenommen. Warum aber, wenn wir ihm keine Nächstenliebe glauben? Zwingt ihn etwas dazu? Und wenn ja, was? Ich kann mir nicht helfen, aber Katzer sollte sich besser als Gefangener denn als Gast betrachten.“ „Der goldene Käfig“, spottete Stengel. „Vernickelt“, berichtigte Proskow, „höchstens vernickelt, aber auch das dürfte reichen, einen Katzer zu blenden. Ist ja nur ein kleiner Fisch, wie du sagst. Er hat doch weder den nötigen Verstand noch die charakterlichen Voraussetzungen für einen typischen Verbrecher. Aber ich glaube, er weiß etwas, jedenfalls sieht es ganz danach aus. Was aber noch schlimmer ist, er überschätzt seine eigene Kraft und unterschätzt noch krasser die seines Gegners, von dessen Intellekt ganz zu schweigen.“ 115
Stengel ließ sich unwillkürlich von Proskows Überlegungen mitreißen. Mochte der alte Querkopf auch vielleicht starrsinnig einer fixen Idee nachjagen, logisch waren seine Ausführungen. Logisch freilich nur, was die Theorie an sich betraf. Auch er folgerte logisch. „Sie meinen Erpressung?“ „So ähnlich.“ „Immer ein riskantes Vergnügen, Herr Kommissar. Aber wie wär’s, wenn wir den Katzer einfach aus seinem ‚Nickelkäfig‘ herausholten?“ „Wahrscheinlich vernünftig. Nur wird er, falls ich keinem Phantom nachspüre, nicht freiwillig kommen. Und Herr Grünthal wird uns lächelnd auf seine Gastfreundschaft hinweisen. Die beiden scheinen vorläufig eine Art Allianz zu bilden, jeder aus verschiedenen Beweggründen, vielleicht eher eine bessere Zwangsehe.“ „Na, schön, warten wir doch einfach ab, wie sich die Sache entwickelt.“ „Ich muß irgend etwas finden, was diesen Grünthal zur Bewegung zwingt. Nach meiner Theorie …“ Er verstummte, ging langsam zum Garderobenhaken und murmelte vor sich hin: „Das müßte eigentlich auch noch überprüft werden.“ Der Fußmarsch zum Güterbahnhof bedeutete, das stellte sich schon nach einem Viertel des Weges heraus, nasse Füße. Der Schnee verdeckte die meisten über die ganze Ladestraße verteilten Unebenheiten. Obendrein enthielten diese tückischen Senken einen schwarzen Schlamm, als sei man hier in ein Kohlenrevier geraten. Obersekretär Wirth war ein kleiner, glatzköpfiger Beamter, der den Kommissar im ersten Augenblick ein wenig an Stengel erinnerte, so grundverschieden die beiden 116
auch von der Figur her waren. Aber auch Herr Wirth hielt die Beine unter dem Schreibtisch steif ausgestreckt. Proskow blickte sich aus alter Gewohnheit kurz um. Eigentlich fiel ihm nur der Geruch auf. Es roch nach Getreide, nach Büro und nach alten Kartoffelsäcken. Außerdem mußten, gemessen an den Riesenstapeln, die Hälfte aller im Umlauf befindlichen Frachtbriefe der Bundesbahn ausgerechnet in diesem Dienstraum gelandet sein. „Kriminalpolizei?“ Herr Wirth war eher erstaunt als etwa besorgt. „Worum handelt es sich?“ Herr Wirth erhob sich und trat zwei Schritte zur Seite. Er hatte ein steifes Bein. „Zunächst eine Frage. Sie haben immer um die gleiche Zeit Feierabend?“ „Allerdings, wenn auch abwechselnd eine Woche mittags und eine Woche spätabends. Ich arbeite in Schichten … aber … Ach, Sie kommen wegen …?“ Er sprach es nicht aus, aber Proskow nickte ihm zu. „Richtig. Erzählen Sie mal, wie war das vorgestern? Sie waren doch Zeuge der Explosion?“ Der Beamte, offenbar doch erleichtert, nickte ebenfalls. „Ja, natürlich! Mir ist sogar heute noch, als hätte ich den Luftzug verspürt.“ Sehr eifrig schilderte er, was Proskow in groben Zügen schon von Stengel wußte. „An sich ein bedauerlicher Fall.“ Der Kommissar überhörte nicht, daß dieses Bedauern nicht echt war. „Und Sie sahen auch Herrn Grünthal kommen?“ „Wissen Sie, wenn man sich häufiger um diese späte Zeit sieht, erkennt man sich wohl schon am Gang, an der ganzen Haltung. Vielleicht ahnt man es auch mehr, als man es mit Sicherheit weiß, ist wohl auch ein bißchen 117
Quiz dabei, ist er’s oder ist er’s nicht … doch, doch, sofern ich Spätschicht habe, sehe ich Herrn Grünthal eigentlich jeden Mittwochabend.“ Keine Frage, dieser Zeuge bestätigte und ergänzte die Aussagen Wenckmanns in vortrefflicher Weise. Was aber war es gewesen, Zufall oder Absicht? „Sie kennen Herrn Grünthal näher?“ „O ja. Schließlich wohnen wir seit rund fünf Jahren, als Herr Grünthal die Beate heiratete, einander gegenüber. Nur, nun ja, in letzter Zeit … Aber seine Frau war unverändert nett und freundlich.“ „Wie fanden Sie die Ehe?“ „Sehr gut, würde ich sagen. Wirklich, er war, vor allem in jüngster Zeit, sehr besorgt und rücksichtsvoll. Gewiß, es hatte eine Krisenzeit gegeben, aber das ist ja eigentlich normal. Wenn man zwei, drei Jahre verheiratet ist, merkt man erst, daß doch nicht alles so läuft, wie man gehofft hat, nicht wahr? Aber entweder gewöhnt man sich dann doch aneinander, oder man trennt sich eben.“ Herr Wirth, der noch immer neben seinem Schreibtisch stand, seufzte verstohlen. Er sprach wohl aus Erfahrung, fühlte sich als Opfer der Gewöhnung. Proskow verbarg eine leichte Enttäuschung. Bis jetzt hatte er wenig von Wert erfahren. „Und wie stehen Sie zueinander? Sie und Herr Grünthal?“ Herr Wirth zögerte einen Augenblick, entschloß sich aber doch zur Wahrheit: „Um es rundheraus zu sagen, wir hatten Krach. Wie das oft ist, wegen einer Lappalie. Wegen meiner Hühner nämlich.“ Er sah den Kommissar bedeutungsvoll an und nickte eifrig, als Proskow hilfeflehend nach oben blickte. Hühner, dachte er, schon wieder Hühner! Fehlt bloß 118
noch, daß er jetzt von Eiern anfängt! Herr Wirth schien froh zu sein, daß das klingelnde Telefon ihn am Weitersprechen hinderte. Er stelzte um seinen Schreibtisch herum, gab einige höfliche Auskünfte über zwei Waggons Holzladungen, die in wenigen Minuten zur Entladung bereitstünden, und meinte dann entschuldigend: „Vielleicht hatte er ja recht. Weiß man, ob man sich bei ähnlicher Sachlage nicht auch aufgeregt hätte? Es ist schon ärgerlich, wenn fremdes Viehzeug in den Beeten herumscharrt.“ Nach einigen belanglosen Sätzen verabschiedete sich Proskow. Aber auf dem Weg zur Tür fragte er noch: „Übrigens, Sie sprachen von Ihrer Schicht, Herr Wirth. Am Mittwoch müssen Sie Spätdienst gehabt haben, wie sonst hätten Sie Herrn Grünthal gesehen. Und heute ist erst Freitag, und zwar Vormittag.“ „Überstunden“, erklärte Obersekretär Wirth tief seufzend, „sehen Sie sich doch um – wir ersticken in Papierkram.“ „Gehen Sie eigentlich immer zu Fuß nach Hause? Ich meine, weil Sie stets so pünktlich anzukommen pflegen.“ Herr Wirth straffte sich und forschte mit dem Mißtrauen des Körperbehinderten: „Trauen Sie mir das nicht zu?“ „Doch, doch“, versicherte Proskow und ging endgültig. Er stapfte weitaus zufriedener den Weg über die Ladestraße zurück, als er ihn hingegangen war. Einmal von Argwohn gegen Grünthal gepackt, war für ihn kaum noch eine Frage, daß auch der Bahnbeamte eine geschickt gezogene Figur in dessen Schachspiel darstellen könnte.
119
12. Grünthal empfand sein Verhältnis zu Katzer immer widerwärtiger. Obwohl Ernst Katzer ohne Murren jeder Anweisung gehorchte, fühlte Grünthal doch seine Abhängigkeit von einem „Landstreicher“. Denn mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Katzer sich kommandieren ließ, bediente er sich auch selbst, spielte er den Vertrauten, einen Partner. Dieses Wort beschäftigte Grünthal stundenlang, es ließ ihn einfach nicht mehr los. Ein Partner, das war eine Art zweites Ich. Das mochte Vorteile haben, wenn es sich um gleichberechtigte Beziehungen handelte, in diesem besonderen Fall war es fatal. Bis jetzt gestattete diese Partnerschaft lediglich, daß er sich nicht mehr zu einer den traurigen Umständen eigentlich angepaßten Leidensmiene zwingen mußte. Wie ein Unbeteiligter sah Grünthal, daß Katzer schon seit drei Tagen mehr trank, als für einen kühlen Verstand gut sein konnte. Bisher hatten beide wie auf stilles Übereinkommen vermieden, über die aktuellste Frage zu sprechen, von gelegentlichen Beratungen über Beseitigung der Schäden abgesehen. Gegen Abend, den das trübe Wetter schon zeitig ankündigte, saßen sich beide im Wohnzimmer gegenüber. Der Glaser hatte die großen Fensterscheiben eingesetzt, und weil die Gaszufuhr noch immer gesperrt war, spendeten zwei elektrische Heizkörper so viel Wärme, daß man leidlich gemütlich sitzen konnte, Rainer Grünthal war entschlossen, das immer unerträglicher werdende Versteckspiel durch geschickte Fragen endlich zu beenden, Er mußte unbedingt wissen, wie 120
gefährlich der Mann werden konnte, wieviel Zeit ihm noch blieb. Er unterschätzte sein Gegenüber wenigstens in einem Punkt nicht – ein ehemaliger Strafgefangener mußte ganz zwangsläufig in kriminellen Dingen kombinieren können. Ernst Katzer hingegen hing ganz anderen Problemen nach. Gedanken, die jene Wünsche umfaßten, die ihn seit Monaten bewegten. Wünsche, die im Bett endeten. „Ich werde heute Abend mal ’n bißchen ausgehen“, erklärte er frisch drauflos. Grünthal zuckte ganz leicht zusammen, war aber doch recht zufrieden, um die schwierige Einleitung herumgekommen zu sein. „So.“ Er bestätigte lediglich, daß er zuhörte. Katzer versuchte im Gesicht des gut drei Meter entfernt Sitzenden mehr zu lesen, aber Grünthal interessierte sich vorerst nur für seine Fingernägel. Katzer füllte sich hastig einen Weinbrand ein, trank, hüstelte und gab sich forscher. „Ich muß nämlich mal was für meine Gesundheit tun.“ „Halten Sie Alkohol für gesundheitsfördernd?“ Grünthal stellte sich begriffsstutzig, reizte Katzer ganz bewußt. „Ich weiß schon, Sie sehen lieber, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste.“ „Genau.“ „Und warum eigentlich?“ „Vielleicht fürchte ich mich allein?“ „Na, dann fürchten Sie sich man. Ich jedenfalls gehe, wenn’s mir paßt. Als wenn mich jemand halten könnte!“ „Aber wollen wir uns doch nicht streiten. Hier fehlt es Ihnen an nichts, warum also bleiben Sie vorläufig nicht noch?“ 121
„Und wie lange ist das, vorläufig?“ „Das liegt bei Ihnen. Wenn Sie wollen, vielleicht eine Woche, vielleicht auch länger, eben wie Sie wollen. Und machen Sie sich und mir doch nichts vor, es ging Ihnen doch selten so gut wie hier bei mir.“ Mit zielstrebiger Hinterhältigkeit sagte er nach einigen Sekunden des Abwartens: „Ich wäre großzügig genug, Ihnen sogar noch ein ausreichendes Taschengeld mitzugeben, damit Sie nicht gleich wieder …“ Wie Grünthal vorausgesehen hatte, schnappte Katzer nach dem Köder. Taschengeld? Das könnte dem so passen, paar Pfennige ’rausrücken. Nee, mein Junge, damit ist Ernst Katzer nicht zufrieden. „Und wenn ich damit nicht zufrieden wäre?“ fragte er lauernd. Er kam sich dabei ungeheuer gescheit vor und klärte doch nur endgültig die Fronten. Grünthal lächelte im Schutz der Dämmerung böse vor sich hin. „Wie soll ich das verstehen?“ fragte er gespielt erstaunt. „Das wissen Sie schon.“ Katzer versuchte, die herablassende Kühle seines Gegenübers nachzuahmen. Er war nicht dumm genug, in Grünthals Angebot nicht die Bestätigung seiner Überlegungen zu erkennen. Wer gab denn freiwillig Geld für nichts und wieder nichts? Keine Frage, Herr Grünthal mußte mehr Dreck an den Sohlen haben als jener Mann in der „Herberge zur Heimat“, dem er – Gott, wie lange lag das schon zurück – gegenübergelegen hatte. Und im Schwung seiner scheinbaren Macht trumpfte Katzer auf: „Ich will Ihnen nämlich mal was sagen, Sie … Sie! Wenn Sie denken, ich bin dämlich … hier stimmt nämlich was nicht, mit dem komischen Unglück. Ich“, er klopfte sich großartig an die Brust, „ich könnte Sie ja mal 122
fragen, wer eigentlich kurz nach zehn hinten durch die Garage geschlichen ist! Mit ’m dunklen Mantel! Und nicht etwa mit dem Ding, das der Halbkanadier da anhatte. Oder woll’n Sie mir vielleicht erzählen, der sei mit zwei Mänteln gekommen? Nee, was?“ Und plötzlich, mit einer Art alkoholischer Klarsicht, wie er meinte, wußte er: Er saß hier einem richtigen Mörder gegenüber. Hinter dieser Erkenntnis steckte keinerlei Beweiskraft, aber so und nicht anders mußte es einfach sein. In der Haftanstalt hatte er zwei Mörder kennengelernt. Keiner von ihnen hatte etwa ausgesehen, wie er sich einen Mörder vorgestellt hatte. Einer von ihnen, zwar noch in Untersuchungshaft, hatte ihn immer an seinen Klassenlehrer erinnert, ein korrekter Herr, Brillenträger, höflich und sehr gebildet. Soviel wußte nun auch Ernst Katzer inzwischen: Gutes Aussehen hindert nicht am Schlechtsein und umgedreht. Der Gedanke, Grünthal sei ein Mörder oder zumindest der geistige Urheber eines schweren Verbrechens, berührte ihn eigentlich nur komisch, nicht einmal peinlich oder schrecklich, einfach komisch. Tolles Ding, wahrhaftig. Und dieser Kerl wollte ihn mit einem Taschengeld abspeisen? „Na?“ drängte er jetzt. „Hat Sie wohl umgehauen, was?“ „Sie belustigen mich“, meinte Grünthal leichthin. „Außerdem sollten Sie wohl doch etwas mäßiger im Alkoholverbrauch sein. Mitunter sieht man weiße Mäuse.“ „Sie fühlen sich wohl ganz sicher, was?“ „Warum sollte ich nicht? Ich weiß gar nicht, wovon Sie da eigentlich faseln. Offenbar bilden Sie sich irgend etwas ein.“ „So?“ Katzer wurde bei so viel Kaltschnäuzigkeit bei123
nahe wütend. „Und wenn ich der Polizei, dem Lodenonkel beispielsweise, von meinen Einbildungen erzähle, was machen Sie dann?“ „Kichern“, sagte Grünthal und kicherte auch. Katzer stierte verwirrt auf sein Gegenüber, von dem er gerade noch die Umrisse erkennen konnte. Mein lieber Mann, der war vielleicht abgebrüht! Aber der konnte doch erzählen, was er wollte, der hatte die Hände bis zu den Ellenbogen in der Tinte. Bloß, wie hatte der das Ding gedreht? Raffiniertes Schwein, hatte sogar Zeugen, daß er erst Punkt dreiundzwanzig Uhr nach Hause gekommen war! „Sie sollten lieber schlafen gehen“, bemerkte Grünthal spöttisch, als Katzer noch immer schwieg. „Ausgehen will ich“, sagte Ernst Katzer bockig. Wütend angelte er nach der halbleeren Schnapsflasche, goß die Hälfte neben sein Glas, und fauchte: „Und damit Sie’s endlich begreifen – ich brauche ’ne Frau! Über acht Monate hatte ich nischt, man kommt sich ja vor wie ’n katholischer Pastor. Man weiß schon gar nicht mehr, wie das ist.“ „So?“ fragte Grünthal gelangweilt, obwohl er nun mit einem Problem konfrontiert wurde, an das er noch mit keiner Silbe gedacht hatte. „Und nun passen Sie mal auf“, fuhr er erstmals schärfer fort, „allmählich werden Sie unverschämt. Vergessen Sie bitte nicht den bemerkenswerten Umstand, daß ich Sie, abgerissen und halb verhungert, hier aufgenommen habe, als Sie kurz vor der Wiederholung Ihres jüngsten Lebensabschnittes standen. Im allgemeinen erntet man dafür doch eher Dankbarkeit.“ Obwohl der darauf fällige Einwand vorausberechenbar war, erwartete ihn Grünthal mit einem gewissen Verlan124
gen. Katzer durfte in seiner Beschränktheit ruhig selbst eine Art moralischer Berechtigung für sein späteres Tun liefern. „Ich kann Sie übrigens immer noch anzeigen“, fuhr er fort. „Mir könnte zum Beispiel dies oder jenes fehlen, nicht wahr? Denn an Ihre Version, wonach Sie lediglich ein warmes Plätzchen bei mir suchten, würde wohl nicht einmal der von Ihnen zitierte katholische Pastor glauben.“ Katzer lachte laut auf. „Sie mich? Mann! Sie mich anzeigen! Was glauben Sie wohl, was dann passiert? Dann bohnern wir nämlich beide Zellenfußböden!“ „Genügt“, sagte Grünthal zufrieden. „Aber lassen wir das, bleiben wir beim Thema. Ihnen fehlt eine Frau. Schön, ich habe auch dafür Verständnis. Aber bis morgen Abend werden Sie es wohl noch aushalten?“ „Was denn …“, stotterte Katzer, „Sie wollen doch nicht etwa …?“ „Warum nicht?“ Katzer merkte vor Erregung kaum noch den Hohn. „Für meine Gäste pflege ich mich stets anzustrengen. Morgen Abend also … sagen wir um acht?“ Katzers Phantasie gaukelte ihm schon die aufregendsten Bilder vor. Er hatte Mühe, wenigstens noch etwas großsprecherisch seine letzte Forderung dazu anzumelden. „Aber nicht irgend so ’ne mickrige Ziege, Chef! Da muß was dran sein …“ „Natürlich“, stimmte Grünthal zu und schaltete überraschend das Licht der Stehlampe an. Er sah einen freudig erregten Katzer, der vor lauter Begeisterung gleich die Schnapsflasche ansetzte. Taumelnd, die Flasche in der Linken, trat er auf Grünthal zu und krakeelte: „Mann, du bist ’ne Wucht!“ 125
Fahrig angelte er Grünthals rechte Hand, drückte sie kameradschaftlich und bewies seine völlige Fehleinschätzung der Realität mit den Worten: „Alter Kumpel!“ Rainer Grünthal störte weniger die verschwörerische Anbiederung als der Händedruck. Er löste sich hastig von Katzer und trat zur Seite. Der nickte ihm aufmunternd zu, drehte sich um und wankte, noch immer die Flasche in einer Hand, aus dem Zimmer. Grünthal sah ihm mit unbewegtem Gesicht nach, hörte, wie Katzer in der Toilette verschwand, und begann das Ergebnis der letzten halben Stunde zu überdenken. Keine Frage, er war in das ewig rotierende Riesenrad der Erpressung geraten. Und er wußte zu gut, daß einmalige Abfindungen nicht halfen. Ein eventuelles Abkommen hielt mit Sicherheit nicht länger, als die Abfindungssumme reichte. Heute war es eine Frau, morgen konnte es das Auto sein; es hatte keinen Sinn, sich da Illusionen zu machen. Mochte dieser Katzer auch noch vorsichtig oder auch einfach tölpelhaft sein, in seiner alkoholischen Aufladung konnte er überraschend gefährlich werden. „Lodenonkel“ hatte er den Kommissar getauft. So treffend das war, dieser Kommissar Proskow paßte ihm überhaupt nicht. An ihm würde er sich die Zähne ausbeißen, nicht aber an einem Katzer. Die ersten Warnzeichen gab es, Proskow hatte noch nicht aufgegeben. Und er schien auch begriffen zu haben, daß der Weg über Katzer führen konnte. Einen Moment haderte er noch mit dem vertrackten Zufall, der ihm diesen Katzer ins Haus gebracht hatte. Aber er sah kühl die Sinnlosigkeit ein. Er mußte mit den Tatsachen rechnen, wenn sie auch aus einem noch so lächerlichen Zufall resultierten. Eine Frau will er haben, grübelte Grünthal. Bitte, 126
konnte er haben. Sosehr ihn anfangs dieser Wunsch irritiert hatte, bei geschickter Regie konnte das die Lösung werden. Rainer Grünthal trat an das Fenster, öffnete einen der Seitenflügel und spürte befriedigt den kalten Luftzug im Gesicht. Der frühe Winter war sein Bundesgenosse, und die Meteorologen prophezeiten einen außerordentlich treuen Bundesgenossen.
127
13. Mit der Fahrt nach Hannover plante Kommissar Proskow schon einen Schritt, der etwas über Grünthals vorausberechneten Maßnahmen der Gegenseite hinausging. Und noch mehr wäre Grünthal beunruhigt gewesen, hätte er gewußt, daß es ausgerechnet die Perfektion seiner Pläne war, die Proskow noch hartnäckiger als gewöhnlich forschen ließ. Der Kommissar machte scheinbar etwas ebenso Widersinniges wie in diesem Fall Logisches: Er suchte nicht mehr nach Lücken in diesen Plänen, er tat das Gegenteil. Als Folge dieser Überlegungen stapfte Proskow gegen Abend noch einmal hinaus zur verwaisten Hühnerfarm. Und es war in gewissem Sinn das Federvieh des Herrn Wirth, das ihn dazu veranlaßte. Dieser Grünthal, umsichtiger Organisator, könnte sogar die Kleinigkeit beachtet haben, daß die Aussage eines verfeindeten Nachbarn glaubwürdiger war als die eines befreundeten. Hatte er sich dann aber im Fall der ehelichen Untreue seiner Frau nur auf bloße Gerüchte verlassen, von der Beweiskraft des leicht romantischen Abschiedsbriefes abgesehen? Ein Gerücht konnte man selbst in Umlauf bringen, böswillige Mitmenschen, die solche Klatschereien mit Begeisterung aufgriffen, gab es genug. Merkwürdig auch, daß sich ein heimliches Liebespaar nur ein paar Mittwochabendstunden getroffen haben sollte. Eine Liebe auf Sparflamme sozusagen. Als Proskow den Weg in das Grundstück nahm, mußte er schon durch beträchtliche Verwehungen stampfen. Zwar schneite es jetzt kaum noch, dafür aber war der Wind stärker geworden. Mit einer Art grimmigen Humors 128
dachte er daran, daß er möglicherweise morgen den verödeten Schnellzugwagen wegen zu hoher Verwehungen gar nicht mehr erklimmen könnte. Er mußte eine ganze Weile gegen das verwitterte Holz der Haustür hämmern, ehe innen endlich leise schlurfende Schritte zu hören waren. Hätte Herr Degner nicht schon genügend Beweise für sein keineswegs so harmloses Gemüt geliefert, Proskow würde ihn erneut für ein naiv-kindliches Wesen gehalten haben. Der einsame Hausherr forschte weder durch die noch geschlossene Haustür, wer da so spät Einlaß begehrte, noch bewies er den geringsten Argwohn. Er öffnete ohne weiteres, stand selbst im hellen Flurlicht und mußte in die Dunkelheit starren. „Klopfen Sie mir nicht die letzte Farbe vom Holz“, sagte er freundlich, und Proskow meinte ein unterdrücktes Kichern zu hören. „Sie sollten sich einen zuverlässigen Hund halten“, entgegnete der Kommissar etwas verdutzt. Das Kerlchen hatte eine sonderbare Art von Humor. Offenbar wunderte Degner sich über gar nichts mehr. Und das, obwohl seine Ruhe seit gestern schon öfter gestört worden sein dürfte als sonst in einem ganzen Monat. Schließlich hatte auch Stengel hier herumgeschnüffelt, und der war nicht immer feinfühlig. „Sie entschuldigen die späte Störung“, begann Proskow, während Herr Degner die Haustür wieder schloß. „Machen Sie sich keine Sorge“, wehrte Degner ab, obwohl er ganz so aussah, als habe ihn Proskow wieder bei einem Nickerchen gestört. Das Männchen schleppte einen hellgrün geblümten Bademantel mit sich herum, der sogar seine Riesenlatschen verdeckte. 129
Eigentlich, so fand Proskow, fehlte ihm nur noch eine Zipfelmütze, um ihn vollends an Lehrer Lämpel aus dem Buschalbum zu erinnern, eine gebogene Tabakspfeife trug er nämlich in der rechten Hand. „Eigentlich wollte ich ja nochmals nach hinten“, fügte er erklärend hinzu, folgte aber doch ins dämmrige Wohnzimmer. Es schien zu stimmen, Herr Degner hatte wohl ein bißchen geschlafen. Auf dem Tischchen neben dem Kachelofen standen ein leerer Abendbrotteller, eine Kanne, und es roch stark nach Pfefferminztee. „Was beschäftigt uns denn, Herr Kommissar?“ fragte Degner und stellte höflich die geöffnete Zigarrenkiste vor Proskow auf. „Immer noch die gleiche Angelegenheit. Aber ob Sie mir helfen können?“ Herr Degner blickte aus blauen Augen vorwurfsvoll auf. Anscheinend meinte er in Proskows Frage die Anklage zu sehen, er habe seine Bürgerpflichten nur unvollkommen erfüllt. „Es tut mir wirklich leid, ganz gewiß, aber sehen Sie, ich lebe sehr zurückgezogen, ganz für mich – mir hat die Welt nicht mehr viel zu sagen. Und ich“, dabei lächelte er listig, „habe ihr nichts zu sagen.“ Vielleicht, überlegte Proskow einige Sekunden, sollte man die ganze Sache wirklich so sehen. Still für sich bleiben, sich einen Dreck um andere kümmern, über nichts aufregen, nichts zu dicht an sich heranlassen. Aber zugleich wußte er, daß er selbst das nicht konnte, und es war auch höchst zweifelhaft, ob das Männchen da in seinem Ohrensessel aufrichtig meinte, was es sagte. „Jaja“, plapperte Degner freundlich weiter, „helfen möchte ich schon, aber wie? Ich frage mich ja schon dauernd, wieso eigentlich der arme Herr Hillmann nachts in Herrn Grünthals Haus sterben konnte? Was hat er 130
denn da gesucht?“ Proskow blinzelte irritiert. „Sprachen wir nicht gestern schon darüber? Sie hatten ein Verhältnis miteinander!“ „Mit der Beate? Tttt … Hätte ich der Beate gar nicht zugetraut. Wirklich nicht.“ „Ach ja, Sie kannten Sie ja von früher … Wieso eigentlich: nicht zugetraut?“ Herr Degner schüttelte bekümmert den Kopf, als sei die Welt nun noch schlechter geworden. „Diese Frauen, nicht zu begreifen! Und ausgerechnet die Beate … tttt! Erst sollte sie den Grünthal nicht, dafür wollte sie um so hartnäckiger, jetzt will sie ihn wieder nicht … das heißt, wollte ihn nicht. Wer soll das begreifen?“ „Wieso sollte sie nicht?“ „Nun ja, der Herr Kuhlmann, der war dagegen. Sehr sogar. Er hatte nur die eine Tochter, hatte ihr eine sehr gute Ausbildung als Sekretärin zuteil werden lassen, und am Ende stellte sich heraus, daß die Beate weiter nichts wollte als den berühmten eigenen Herd, einen Ehemann und daß sie sich für hausfrauliche Pflichten mehr interessierte als für ein berufliches Fortkommen. Aber sie war ja diesem Herrn Grünthal geradezu hörig – den oder keinen.“ Als Proskow dazu nur gedankenverloren nickte, plauderte Degner zufrieden weiter: „Und schon deshalb war Herr Kuhlmann betrübt. Ganz zu schweigen von der … Die damalige Tätigkeit Herrn Grünthals störte ihn außerdem empfindlich.“ „Womit befaßte er sich denn damals?“ „Vertreter war er!“ „Eine Landplage, gewiß“, stimmte Proskow zu. „Gewiß, Herr Kommissar“, pflichtete Degner seinerseits bei. „Aber ob das die richtige Partie für eine Beam131
tentochter war? Vergessen Sie bitte nicht, die Beate hatte Hochschulbildung! Und entweder ist es Veranlagung, oder … vielleicht stimmen die Lehrpläne an Hochschulen nicht?“ „Ich sehe keinen Zusammenhang“, nuschelte Proskow. „Nun, Herr Kommissar, ich meinte, was nützt eine kostspielige Hochschule, wenn das Resultat eine, Verzeihung, eine dämliche Gans ist?“ Auch dazu lächelte Herr Degner freundlich, worüber sich Proskow aber nicht mehr wunderte. Wenn je ein Interessent für dieses Grundstück an das Männlein da geraten sollte, er würde so sauber auf’s Kreuz gelegt werden, daß er es erst nach einem halben Jahr merkte. „Und das war unsere Beate wohl“, fuhr Degner gemütlich fort. „Trautes Heim und Glück allein, eigener Herd ist Goldes wert – sicher eine vorzügliche Hausfrau, leider wohl auch mit dem manchmal beschränkten Horizont solcher Frauen. Aber als Herr Grünthal dann plötzlich ein Romanheft eigener Produktion präsentieren konnte, begann sogar Herr Kuhlmann zu schwanken. Wie er dazu gekommen ist, der Herr Grünthal, das weiß der Himmel. Das heißt … ich kann es mir schon denken.“ „Denken Sie laut.“ Proskow war verärgert, die Umschweifigkeit des Männchens fiel ihm allmählich auf die Nerven. Degner war mehr erstaunt als beleidigt. „Also, wie Herr Grünthal daraufgekommen sein könnte. Das ist höchst einfach. Er war damals Vertreter eines Lesezirkels. Und wenn er nur die Hälfte aller Liebesgeschichten in diesen Zeitschriften gelesen hat, konnte er auch selbst eines Tages den Versuch unternehmen, eine ähnliche zu schreiben.“ „Möglich“, gab der Kommissar zu, „aber ganz ohne 132
Talent geht das wohl auch nicht so einfach.“ „Talent?“ Der Alte kicherte nun wirklich, als sei er höchst belustigt. „Lieber Herr Kommissar! Vielleicht reichen dafür schon etwas Ausdauer und ein gutes Gedächtnis – vor fast hundert Jahren hat doch so etwas schon die ‚Gartenlaube‘ gedruckt.“ Proskow schielte das Männchen kritisch an. „Sie meinen doch nicht etwa, Herr Grünthal hätte einfach …?“ Das Thema schien Degner außerordentlich zu belustigen, er kicherte noch immer. „Abgeschrieben, meinen Sie? Das weiß ich nicht, und ich will auch um Gottes willen nichts Derartiges gesagt haben.“ „Mhm“, brummte Proskow, es konnte ebenso Zustimmung wie Zweifel bedeuten. „Um aber unseren Ausgangspunkt nicht zu verlieren, Herr Kuhlmann also gab dann seinen Segen?“ „So in etwa“, meinte Herr Degner ernsthaft. „Es ist jedenfalls anzunehmen, wenn er auch noch während der Verlobungszeit an seiner Angina pectoris verstarb.“ Er nickte etwas trübsinnig vor sich hin und seufzte: „So ist das nun einmal, Herr Kuhlmann hat gespart, ein Häuschen gebaut – für sich, für die Beate –, und nun hat’s der Herr Grünthal … tttt.“ „Übrigens“, hakte Proskow schnell ein, „hat Herr Grünthal Sie gelegentlich besucht?“ „Mich?“ Degners Kinderaugen blickten geradezu empört. „Oder Ihren Mieter?“ „Aber nein doch, ich …“ „Dann kam aber sicher Frau Grünthal zu Ihnen, nicht wahr?“ Herr Degner strich sich freundlich lächelnd über seinen Spitzbart, blinzelte verschmitzt und sagte zu 133
Proskows Verblüffung: „Was doch solch ein Unfall der Kriminalpolizei Kopfzerbrechen bereitet … tttt …“ Der Kommissar erhob sich verärgert. Das Männchen schien sich über ihn lustig machen zu wollen. Aber Degner sah ihn so unschuldig an, daß seine Verärgerung verebbte. „Herr Hillmann empfing also keinerlei Besuche“, resümierte er. „Sagte ich doch gestern schon“, klagte Herr Degner vorwurfsvoll, als sei er es leid, sich dauernd wiederholen zu müssen. „Ich hätte ja gar nichts dagegen gehabt. Auch nicht gegen Damenbesuche. Was ist das schon, ein Mensch allein …“ Er verstummte plötzlich, irgendwie klangen seine eigenen Gefühle mit. „Nein, nein“, fuhr er etwas nervös fort, „er war immer allein. Gewiß, hin und wieder kam ein Arbeitskollege, aber dann auch nur, wenn Herr Hillmann außer Turnus an der Tankstelle gebraucht wurde. Ein Bote gewissermaßen.“ Proskow schwieg einige Sekunden nachdenklich, ehe er sich ohne Übergang mit der Bemerkung verabschiedete, er wolle nochmals nach hinten gehen. Herr Degner begleitete ihn höflich bis zur Haustür, wünschte artig einen glücklichen Heimweg und hielt den Kommissar dann doch noch mit der Bemerkung fest: „Da ist übrigens heute ein Brief für Herrn Hillmann gekommen. Warten Sie, ich hole ihn!“ Er huschte in seinem langen Mantel durch den Flur, verschwand wieder im Wohnzimmer und kam, einen länglichen Brief in beiden Händen, eilig zurückgetrippelt. Kommissar Proskow nahm den Brief schweigend an sich, sah kurz auf die fremdländischen Briefmarken, buchstabierte den Absender und prüfte nebenbei, ob der Umschlag noch ungeöffnet war. Es wunderte ihn gar 134
nicht, daß Herr Degner gerade diese Prüfung freundlich nickend begutachtete. „Bekam er oft Post?“ fragte er mit gewisser Hoffnung. „Nein … und wenn, dann auch nur solche“, sagte Herr Degner und blinzelte wieder unschuldig. „Aus Kanada.“ Proskow stapfte mißmutig um das Haus herum; dieser spitzbärtige Opa hatte ihm die Laune vollends verdorben. Im Eisenbahnwaggon mußte er mit Hilfe eines Streichholzes den Lichtschalter suchen. „Stange ist ein Loddersack“, brubbelte er, als er im Licht der Deckenleuchte feststellte, daß der Raum nicht mehr halb so ordentlich wie vor Stengels Besuch aussah. Obwohl es nach Degners Auskünften kaum noch Sinn hatte, durchwühlte Proskow fast eine Stunde lang sämtliche Bücher und Zeitschriften, um irgendwo den Beweis für ein Verhältnis Hillmanns mit Frau Grünthal zu finden. Ihm schwebte, in Erinnerung an die eigene Jugendzeit, ein regelrechter Liebesbrief vor. Immerhin gab es Menschen, die ihre Gefühle weitaus besser zu Papier bringen konnten, als sie jemandem direkt zu offenbaren. Und theoretisch bestand die Möglichkeit, daß ein solcher Brief auf dem Umweg über die Arbeitsstelle seinen Empfänger gefunden hatte. Dagegen wiederum sprach, daß Hillmann eine Abneigung gegen Schriftkram gehabt haben könnte; Holzfäller kamen wohl besser mit Äxten als mit Federhaltern zurecht. Er fand nichts, von einem leeren Umschlag abgesehen, der den gleichen Absender trug wie jener Brief, den ihm Degner gegeben hatte. Absender war ein gewisser Denis O’Shelly, wahrscheinlich Nachfahre eines Irländers. Nun, den Mann konnte man zur Not ausfindig machen, wenn es sich als dringend erweisen sollte. Und so saß er schließlich trotz der Kälte am Schreib135
tisch, auf dem früher Geschäfte mit Masthähnchen und Hühnereiern abgewickelt worden waren. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und seinem Tirolerhut sah er eher wie ein hintergangener Liebhaber bei der Suche nach Beweisen aus als ein Kriminalkommissar. In diesem Umschlag von Mr. O’Shelly steckten Kassenbelege, Quittungen und knappe Notizen, die fast durchweg Abkürzungen waren. Bemerkenswert fand der Kommissar lediglich, daß Hillmann sogar auf deutliche Datumsangaben auf den einzelnen Quittungen geachtet hatte. Proskow mühte sich geraume Zeit, die Abkürzungen nach herkömmlichen Regeln zu ergänzen, und seine Enttäuschung wuchs von Minute zu Minute. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als er schließlich im Taschenkalender die Datumsangaben überprüfte. Mit wenigen Ausnahmen waren alle diese Käufe an einem Mittwoch getätigt worden, und mittwochs pflegte Hillmann zu Beate Grünthal zu gehen. Mit solchen kleinen Aufmerksamkeiten, die für diese Beträge gekauft worden waren. Hier und da Blumen, Konfekt, einmal auch Parfüm. Niedergeschlagen hockte der Kommissar vor dieser seltenen Buchhaltung. Wer heftete schon derartige Belege ab? Dieser Hillmann mußte ein äußerst gewissenhafter Mensch gewesen sein, ein überdurchschnittlich zuverlässiger Arbeiter, wenn er ihm jetzt auch vorkam wie ein Buchhalter der Liebe. Entscheidend aber blieb, daß auch diese ungewöhnliche Buchhaltung Grünthal entlastete. Die ersten Belege stammten aus dem späten Frühjahr, und über einen solchen langen Zeitraum konnte auch ein Grünthal nicht vorgesorgt haben. Zumal, und davon hatte sich Proskow an Hand anderer Schriftstücke schon überzeugt, die 136
Randnotizen einwandfrei von Hillmann stammten, wenn auch dazu das Urteil eines Sachverständigen einzuholen war. Nun, er fuhr morgen ohnehin zum Landeskriminalamt. Dort konnte er es sich bestätigen lassen. Aber damit wurde zwangsläufig die ursprüngliche Version eines Mordes mit anschließendem Selbstmord wieder aktuell. Es schien tatsächlich Beziehungen zwischen Frau Grünthal und Hillmann gegeben zu haben. Halb in Gedanken sortierte Proskow schließlich die Belege nach der Art der Ware, addierte die verausgabten Summen und errechnete ganze zweiundneunzig Mark., Ganz so toll konnte die Liebe auch nicht gewesen sein, dachte er mit gewisser Schadenfreude. Nun ja, immerhin war Hillmann ein äußerst sparsamer Mensch gewesen, auch das paßte überein. Auch zwei schmale Kassenstreifen, wie sie jede Registrierkasse ausspie, sagten ihm zunächst nichts, obwohl sie durch das Fehlen der üblichen Bemerkung etwas aus dem Rahmen fielen. Für jeweils drei Mark und neunzig Pfennige konnte Hillmann alles mögliche gekauft haben. Nun doch sehr mit diesen beiden Bons beschäftigt, fiel ihm auf, daß beide wahrscheinlich aus der gleichen Kasse stammten. Und es war eigentlich nur der Umstand, daß eine offene Frage auftauchte, daß Proskow nun unbedingt wissen wollte, was für drei Mark und neunzig Pfennige gekauft worden war. Als er wenig später, den Umschlag mit allen Belegen einer registrierten Liebschaft in der Brusttasche, den weiten Weg zurück antrat, lächelte er vor sich hin. Stengel würde ihn für verrückt erklären, wenn er seinen neuen Auftrag erhielt. 137
Kriminalmeister Stengel, der mit seiner Mutter im dritten Stock eines wuchtigen Neubaublocks wohnte, reagierte auch prompt sauer auf den Besuch. Der Kommissar kam zu selten, als daß sein Assistent darin eine Auszeichnung erkennen konnte. Er wußte nicht, das Proskow eben wegen der Mutter fast jeden privaten Kontakt mit Stengel ängstlich mied. Sie war ihm einfach zu aufdringlich, zu besorgt, und sie lebte ganz offensichtlich im Glauben, daß man nur den Vorgesetzten mit Freundlichkeiten überschwemmen mußte, um den Sohn schneller vorwärtszubringen. Stengel betrachtete sich die Kassenbons, sah aber nichts als die üblichen, leicht verwischten blauen Zahlen. „Du sollst feststellen, ob beide aus der gleichen Kasse stammen.“ „Das ist kein Problem“, erklärte Stengel erlöst. „Ist ja auch nicht alles.“ Proskow beobachtete verärgert Stengels Mutter, die laut und scheinbar unbeteiligt mit Kaffeetassen klirrte. Keine Frage, in wenigen Minuten würde sie ihn mit der frommen Lüge überraschen, daß man just zufällig habe ein Tässchen trinken wollen und er nun natürlich eine mittrinken müsse. Er wartete, bis sie aus dem Zimmer ging, wobei sie noch eine Art verschwörerischen Blick auf ihn verschwendete. „Ich bin sicher, daß beide aus demselben Laden stammen. Aber eben diesen Laden möchte ich gern haben, klar?“ Stengel nickte ingrimmig dazu; da war er ja, der Pferdefuß. Ahnungsvoll fragte er: „Was denn … ich soll doch nicht etwa Laden für Laden abklappern, bis ich den richtigen habe?“ „Weißt du was Besseres? Aber das ist immer noch nicht alles.“ 138
„Na, gute Nacht!“ stöhnte Stengel und sah sich hilfesuchend nach der Tür um, ob nicht wenigstens der Kaffee kam. „Ich würd’s am Tage machen“, brummte Proskow, „und zwar deshalb, weil ich bis morgen Abend das Resultat wünsche.“ „Ich werde mich überschlagen“, versprach Stengel. „Wird auch nötig sein, mein Junge. Ich möchte nämlich auch noch gern wissen, was da jeweils für drei Mark neunzig gekauft wurde.“ „Warum können Sie mich eigentlich nicht leiden, Herr Kommissar?“ Stengel blickte seinen Chef theatralisch an. „Ich weiß nicht, wieviel Geschäfte unsere Stadt hat, dreihundert schätze ich aber. Und wenn ich Glück habe, erwische ich den richtigen Laden als zweihundertneunundneunzigsten. Wieviel Handelsartikel es gibt, für die man nur oder mindestens drei Mark neunzig auf die Platte knallen muß, daran Wage ich gar nicht zu denken.“ „Ein bißchen Glück gehört schon dazu“, gab Proskow bereitwillig zu. „Zu unserem Beruf wie eigentlich überall.“ „Vielleicht finde ich eine hilfsbereite Seele im Amt“, dachte Stengel laut und hoffnungsschwanger vor sich hin. Dreihundert Läden abklappern, du lieber Himmel!
139
14. Als Proskow am nächsten Vormittag den Hauptbahnhof Hannover verließ, zwang ihn eine zweistündige Zugverspätung zur Eile. Ganz von den komplizierten Fragen seiner Aufgabe eingefangen, war ihm erst im Zug zum Bewußtsein gekommen, daß heute Sonnabend war. Er war, als er den Umweg über das Landeskriminalamt hinter sich hatte, in ziemlicher Sorge, überhaupt noch jemanden beim Simson-Verlag anzutreffen. Ob es Sinn haben würde? Er machte sich keine großen Hoffnungen. Der SimsonVerlag, die Anschrift jenes Einschreibens, das er auf Grünthals Schreibtisch gesehen hatte, war vorerst nichts weiter als einer der Wege, der nach seinem Rom führen konnte. Freilich auch zu einem erneuten Waterloo. Er fand den Verlag in einem zwölfgeschossigen Hochhaus und war, als er den Fahrstuhl im neunten Stock verließ, zunächst einigermaßen enttäuscht. Er hatte noch nie einen Buchverlag gesehen, in seinen Vorstellungen spukte die hektische Atmosphäre einer Zeitungsdruckerei. Aber hier rannten keine Redakteure mit druckfeuchten Fahnen, hier stampften keine Rotationsmaschinen, hier war kein Lärm. Hier war ein langer Korridor, Türen mit unpersönlichen Nummern und Grabesstille. Es fehlte auch der oft strapazierte, meist übernervöse Chefredakteur, aber dafür gab es einen Cheflektor. Als Proskow im Zimmer des Cheflektors stand, fröstelte ihn, obwohl der Raum überheizt war. Der Mann hinter einem überladenen Schreibtisch war ein hemdsärmeliger Fleischkoloß, der sich ganz dem Genuß eines surrenden Tischventilators hingab, und das mitten im Winter. 140
„Was gibt’s?“ polterte er unhöflich und stemmte die Arme in die Hüftgegend, als Proskow durch Hochziehen der Augenbrauen eine gewisse Heiterkeit andeutete. Und obwohl er es eigentlich hatte vermeiden wollen, angelte Proskow nun doch seine Dienstmarke aus der Tasche. „Kriminalpolizei. Ich interessiere mich für einen gewissen Herrn Rainer Grünthal.“ „Aha! Der Senkrechtstarter!“ Dazu blinzelte der Riese durchtrieben. „Zimmer dreihundertvierzehn!“ „Danke.“ Der Kommissar nickte sparsam und wandte sich zur Tür um, als der Cheflektor hinter ihm her donnerte: „Grünthal? Stopp mal – wieso interessiert sich die Kripo für ihn, he?“ „Nicht die Kripo“, erwiderte Proskow und lächelte verkniffen, „ich interessiere mich rein privat für ihn.“ „Sie sind ja ein ganz gerissener Kunde. Trotzdem Zimmer dreihundertvierzehn.“ Auf dem Weg über den scheinbar endlosen Flur wunderte sich Proskow über zweierlei. Zum ersten über den Ausdruck Senkrechtstarter. Das deutete unzweifelhaft darauf hin, daß Rainer Grünthal eine Leuchte der Literatur zu werden versprach. Eine Vorstellung, die ihm absolut nicht ins Konzept passen wollte. Der zweite Grund seiner Verwunderung, das listige Blinzeln des hemdsärmeligen Hünen, klärte sich von selbst: Die Tür zum Zimmer Nummer dreihundertvierzehn war verschlossen. Proskow klapperte verärgert weitere vier Türen ab, ehe er Glück hatte. Doppeltes sogar, denn der Mann im fünften Zimmer zog sich eben seinen Mantel an. Er sah den Besucher durch seine randlose Brille ausgesprochen freundlich an und wirkte ebenso unbeholfen wie intelligent. Proskow war ziemlich sicher, daß der 141
Mensch da einen Nagel erst nach zehn vergeblichen Versuchen in die Wand schlagen konnte. Wie er seinen Mantel anzog, das war allein schon sehenswert. Während er zerrte und zottelte, hielt er unentwegt seine pralle Aktentasche je nach Erfordernis in der linken oder rechten Hand, statt sie einfach abzustellen. „Fräulein Tassil?“ fragte er verwundert. „Ja, hat man Ihnen denn nicht gesagt, daß sie schon die ganze Woche Urlaub hat?“ Proskow nickte mürrisch, während er noch unschlüssig den anhaltenden Bemühungen beim Mantelanziehen zusah. Er dachte: Ein Kriminalbeamter ohne die Macht des Apparates hinter sich ist eigentlich ein ganz hilfloses Bündel. „Aber“, tröstete ihn der Bebrillte, und er war immer noch nicht mit seiner Garderobe fertig, „wenn es dringend ist, ich fahre ohnehin an ihrer Wohnung vorbei. Das heißt“, er schaute besorgt aus dem Fenster, „wenn meine mäßigen Fahrkünste für solche Strapazen ausreichen.“ „Ich bin ja bei Ihnen.“ „Na, dann gehen wir“, verkündete der Mann tapfer, aber Kommissar Proskow schüttelte verzweifelt den Kopf und deutete auf die Füße des Hilfsbereiten. „Ach so, ja, danke“, entschuldigte er sich eifrig und vertauschte seine bequemen Lederpantoffeln gegen derbe Straßenschuhe. Und dann dauerte es doch noch über eine Viertelstunde, ehe sie endlich den langen Korridor verlassen konnten. Für diese Zeit war der Lektor im Zimmer seines nächsten Chefs verschwunden. Proskow, der ungeduldig auf dem Flur hin- und herpendelte, hörte durch die Tür allerdings nur das dröhnende Organ des Hünen. Falls sein hilfsbereiter Bekannter etwa einen Wunsch hatte vortragen wollen, hätte er ihn besser schriftlich eingereicht. 142
Als sie endlich das Hochhaus verließen und einen fast neuen Fiat bestiegen, wunderte sich Proskow gar nicht mehr, daß der Anlasser drei-, viermal widerwillig knarrte, dann aber verstummte. „Ich glaube, die Batterie ist leer“, meinte der Bebrillte ganz verwundert. „Glaube ich auch.“ Proskow kletterte wieder aus dem Wagen und sagte kurz angebunden: „Dann gehen wir eben zu Fuß!“ „Zu Fuß, aber natürlich!“ Es hörte sich an, als sei das eine ganz neuartige und erstaunliche Methode, von einem Fleck zum anderen zu kommen. „Ist es weit?“ erkundigte er sich vorsichtshalber, weil ihm bei diesem Gefährten nichts mehr unmöglich erschien. „Weit? Ich weiß nicht recht – vielleicht eine kleine Stunde?“ Um diese Zeit pilgerte Kriminalmeister Stengel noch einigermaßen optimistisch und elastisch von Geschäft zu Geschäft. Bei sich trug er ein recht umfangreiches Notizbuch, in dem er jedes Geschäft sorgsam notierte, welches er schon besucht hatte. Sein Optimismus schien durchaus begründet, von bisher siebzehn überprüften Läden fielen allein sechs deshalb aus, weil sie noch nicht über moderne Registrierkassen verfügten. Weitere vier Quittungsstreifen konnte er schon nach flüchtiger Prüfung mit der Lupe gesondert einstecken, weil die Zahlentypen nicht mit seinen Mustern übereinstimmten. Trotzdem dachte er mit gewisser Sorge daran, daß ihm die Kaufhäuser und Etagengeschäfte noch bevorstanden. Seine Aufgabe mochte relativ einfach sein, solange es sich um kleinere Geschäfte handelte, sogenannte Famili143
enbetriebe. Jeder Inhaber konnte nach Belieben drei Mark und neunzig Pfennige in das Zählwerk seiner eigenen Kasse speichern, ohne den Gegenwert in Münzen einzuzahlen. Ebenso logisch aber war, daß eine Angestellte nicht ohne weiteres ähnlich verfahren durfte. Und so strich Stengel in Ahnung kommender Schwierigkeiten etwas kleinlauter an der Fensterfront des Karstadt-Kaufhauses entlang, bedauerte sich selbst einen Moment und verschwand schließlich durch die ewig ruhelosen Schwingtüren. Obwohl er sich sagte, daß er besser gleich den Direktor um Unterstützung bitten sollte, zückte er doch, wenigstens versuchsweise, seine Marke an der ersten besten Kasse und brachte seine Wünsche vor. Daß er diesen Versuch ausgerechnet bei einer bildhübschen Angestellten ansetzte, verstand sich bei ihm von selbst. „Drei Mark neunzig? Wie, bloß tippen?“ fragte sie erstaunt. „Richtig“, meinte Stengel. „Ich brauche nur den Bon.“ „Bitte, wenn Sie mir das Geld geben? Oder kaufen Sie meinetwegen etwas zu dem Preis. Aber sonst – ausgeschlossen!“ „Das kann man doch zurückbuchen?“ „Kann man, gewiß. Aber da kennen Sie unseren Geschäftsführer schlecht“, flüsterte sie. Stengel suchte sich den Geschäftsführer. Der lächelte zunächst gezwungen freundlich, wurde aber doch recht umgänglich, als der Kriminalist sein Anliegen erklärte. „Nun, das läßt sich natürlich machen.“ Er führte Stengel persönlich von Kasse zu Kasse. Und Stengel fand, daß jetzt sogar der Kommissar mit ihm ganz zufrieden sein würde. „Waren zum Preis von drei Mark neunzig? Du lieber 144
Gott, da können Sie alles mögliche haben – vom Büstenhalter über Füllfederhalter bis zum Rasierpinsel!“ Dennoch, Stengel war bestrebt, die scheinbar unlösbare Aufgabe zu bewältigen. Mochte Proskow vielleicht einem Phantom nachjagen, er hatte Stengel nicht einmal verraten, welchem Beweis seine Mühen eigentlich dienten, irgendwie tat ihm der einsame Kommissar leid. Und ein bißchen bewunderte er ihn auch. Sicherlich wäre es auch für ihn einfacher gewesen, hätte er irgendeinen Anhaltspunkt gehabt, worauf er sein besonderes Augenmerk richten sollte. Aber wahrscheinlich wußte das Proskow selbst nicht. In einem Milch- und Käsegeschäft, wo er seinen Besuch mit einem halben Liter Milch würzte, kam ihm die Erkenntnis, daß sein Betätigungsfeld noch weitaus ausgedehnter werden konnte. Hatte nicht jede bessere Kneipe heutzutage auch schon eine Registrierkasse? Einen ersten, empfindlichen Stoß erhielt Stengels Selbstbewußtsein in einem von außen unscheinbaren Papierladen. Im überraschend großzügig und übersichtlich eingerichteten Verkaufsraum standen hinter dem geschmackvollen Ladentisch zwei Frauen. Eine ältere, sehr freundlich wirkende Dame und ein junges Ding, rothaarig und sommersprossig, das den Schlagerfan Stengel sofort an Rita Pavone erinnerte. Freundliches Aussehen hindert nicht an ablehnender Haltung. „Sie müssen das verstehen“, entschuldigte sich die Ältere, „wir sind nur Personal. Und der Chef kommt erst gegen Abend zurück. Ich hätte Ihnen ja gern geholfen, aber …“ Unbestimmtes Achselzucken, immer noch lächelnd, dazu ein herablassender Blick auf die Rothaarige. „Aber, Sie hätten doch einen Zeugen“, drängte Sten145
gel, ebenfalls mit einem Blick auf die Rothaarige. „Es tut mir leid, Herr …“ „Stengel.“ Die Sommersprossige kicherte. „Was gibt’s da zu lachen?“ Er wurde rot. „Stengel, das hört sich so blumig an“, gab die Kleine keß zurück. Und eigentlich war es das so unverschämt langgezogene „u“, daß Kriminalmeister Stengel etwas tat, wozu er sich später noch beglückwünschen sollte. Um nicht nochmals dem frechen Ding zu begegnen, kaufte er einen Kugelschreiber, zwei Bleistifte, einen Radiergummi und Briefumschläge, ließ die letzten fehlenden fünf Pfennige großzügig aufrunden, zahlte seine drei Mark neunzig und ging – mit einem letzten wütenden Blick auf die Rothaarige. Gegen Mittag entschloß er sich zu einem weiteren, außerordentlich gescheiten Schritt. Er beschloß, sich mit den bisher eingesammelten Kassenstreifen ins Labor zu verkrümeln. Hatte man Schwein, konnte man sich den größeren Rest der Rennerei sparen.
146
15. Kommissar Proskow fand, daß Fräulein Tassil die einzige normale Person des Simson-Verlages war. Zwar mochte sie die Vierzig bereits überschritten haben, aber dennoch hatte sie das sogenannte gewisse Etwas, von dem Proskow absolut nicht wußte, was es nun eigentlich war. Er fand einfach, sie habe es. Und das trotz unzweifelhaft blondierter Haare, trotz Gebrauchs von Lippenstift und wohl auch Schminke, Dinge, die ihm sonst zuwider waren. Er fühlte sich ausgesprochen wohl, so wohl, daß er bereitwillig seinen Lodenmantel ablegte, sich Kaffee vorsetzen ließ und vorerst nichts tat, als der Frau zuzusehen. Die Wohnung bestand lediglich aus einem großen Zimmer, einer abgeteilten Kochnische und dem Bad. Aber wie das Zimmer eingerichtet war und wie sich das „späte Mädchen“ darin bewegte, das alles gefiel ihm. Sogar eine gewisse Anhäufung alten Trödels, wie er zur Zeit sehr in Mode war, stieß ihn nicht ab. Sie glich in keiner Weise seiner verstorbenen Frau und gefiel ihm trotzdem. Und genau das empfand er als das Merkwürdige. Bis jetzt hatte er jede andere Frau mit ihr verglichen, und bisher war immer sie Siegerin geblieben. Und nun fühlte er sich hier wohl, empfand darüber Unruhe und Freude zugleich, wenn er sich auch im stillen einen alten Esel nannte. Er empfand ganz einfach Zuneigung, ein Gefühl, daß er mit seiner Frau beerdigt glaubte. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit verzichtete er auch auf alle hinterhältigen Fragen, auf jeden Umweg. Als sie, mehr um ihm den Anfang zu erleichtern, lediglich rekapitulierte, daß er sich für Herrn Grünthal interes147
siere, sagte er, wenn auch seltsam höflich: „Ich halte Herrn Grünthal für einen ungewöhnlich kaltblütigen Mörder.“ Es klang etwas theatralisch, was ihn einen Augenblick verärgerte. Auch Frau Tassil schien das so zu empfinden. Sie hielt einige Herzschläge lang die zum Nachschenken erhobene Kaffeekanne in der Schwebe, sah den Kommissar nachdenklich an, goß erst noch Proskows Tasse voll und sagte dann, sehr langsam, aber sehr bestimmt: „Ich glaube, da irren Sie.“ Proskow registrierte erstaunt soviel Entschiedenheit. „Wie können Sie das so zuversichtlich sagen?“ Sie lächelte, reichte ihm eine gefüllte Keksdose und blieb gleichmäßig heiter. „Sie vergessen doch nicht, daß ich über einem Manuskript von Herrn Grünthal sitze?“ „Ich sehe da keine direkte Verbindung, gnädige Frau.“ Der Kommissar horchte dieser Anrede nach. Nicht nur, weil er sie überhaupt gebrauchte, was ohnehin im Jahr höchstens einmal vorkam, sondern weil er auch taktvoll das „Fräulein“ vermied. „Das liegt, so paradox es vielleicht klingt, ein bißchen an Ihrem Beruf, meinen Sie nicht? Als Mensch, der jede Situation auf Tatsachen, Fakten, eben Nachweisbares orientieren muß, können Sie eigentlich gar nicht anders, glaube ich. Ein Verbrechen paßt einfach nicht zu einem Menschen, der ein wirklich gutes Buch vorlegen kann.“ „Wenn ich recht verstehe, so hat Herr Grünthal außerordentlich menschlich oder meinetwegen human geschrieben?“ „Richtig, Herr Proskow!“ Auch sie vermied das amtliche Kommissar, als wollte sie unterstreichen, daß sie sich ganz privat zu unterhalten wünsche. „Herrn Grünthals Manuskript verspricht, und das betone ich 148
ganz ohne Übertreibung, ein ausgesprochener Bestseller zu werden.“ „Der Senkrechtstarter“, murmelte Proskow enttäuscht vor sich hin. „Sie haben also schon mit Doktor Heine gesprochen?“ „Ja.“ Proskow lächelte etwas mühsam. Bis jetzt sah es aus, als werde der einzige Erfolg seiner Reise sein, diese Frau Tassil kennengelernt zu haben. Menschlich geschrieben, Bestseller! „Im übrigen“, plauderte Fräulein Tassil weiter, „ist Senkrechtstarter auch treffend formuliert … nein, nein … offen gesagt, bis vor einem guten halben Jahr hätte wohl niemand für einen Herrn Grünthal ein Pfund Makulatur gegeben.“ „Dann kennen Sie ihn noch nicht lange?“ „Nein, aber wir haben uns natürlich ein bißchen erkundigt, Sie verstehen das doch? Und auch im persönlichen Gespräch habe ich versucht, mir ein Bild zu machen. Gewiß, man muß da einige Vorbehalte gelten lassen, nicht unbedingt jedes Wort glauben. Aber ich sehe andererseits auch keinen Grund, Herrn Grünthals Schilderungen seines Lebenslaufes zu sehr in Zweifel zu setzen. Viel Aufregendes ist ohnehin nicht dabei. Eigentlich das Übliche, abgesehen von einer abgebrochenen Mechanikerlehre. Aber das sind typische Merkmale der Nachkriegswirren. Er hatte keine Eltern mehr, mußte leben. Und so hat er sich eben durchgeschlagen, immer auf der Suche nach jenem Weg, der nach oben führt, den ja jeder sucht, nicht wahr? Was uns, als Verlag, am meisten interessiert, waren natürlich seine literarischen Versuche. Und für einen Autodidakten hat er sich zumindest sehr bemüht.“ „Aber viel von Wert ist dabei wohl nicht entstanden.“ 149
„Groschenhefte werden heute gedruckt, morgen gelesen und übermorgen vergessen. Und das ist auch gut so.“ „Sie zählen derartige Erzeugnisse nicht zur Literatur?“ Sie sah ihn mitleidig lächelnd an. „Lieber Herr Proskow! Ich nehme meinen Beruf unbedingt so ernst wie Sie den ihren. Für mich sind das nicht mehr als notwendige Übel, wie es für die Verfasser im günstigsten Fall Schreibübungen sein können. Aber wie Sie sehen, auch Herr Grünthal ist diesen Weg gegangen. Mit großer Aussicht auf Erfolg. Dabei“, und nun lächelte sie stärker, als ahne sie die kommende Reaktion des Kommissars im voraus, „hätte Herr Grünthal unter Umständen auch in der kürzeren Erzählform Chancen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Kriminalerzählung. Wie ich einem seiner Versuche auf dem Gebiet entnehmen konnte, scheint er logisch denken zu können.“ Proskow horchte sofort auf. „Das interessiert mich.“ Frau Tassil schien belustigt zu sein. „Obwohl es naheliegt, so ist doch auch hier von der Theorie zur Praxis ein weiter Weg. Vielleicht“, schränkte sie ein, und sie erwärmte sich immer mehr, „könnte aus einem Krimischreiber durchaus ein Verbrecher werden, aber wahrscheinlich ist es doch nicht. Was ist denn der Krimi heutzutage noch? Auf den Publikumsgeschmack einer breiten Masse angelegt, ganz abgesehen davon, daß dieser Geschmack auch erst künstlich erzeugt wurde. Er ist eigentlich nur noch auf das Verbrechen, auf die Technik des Mordens wie der Aufklärung orientiert. Je gruseliger und abstoßender, um so besser. Im Grunde ist es nicht mehr als eine Reisebeschreibung, in der es von Überraschungen wimmelt. Daß es auch um Menschen geht, wird dabei meist völlig übersehen.“ „Sie haben Vorbehalte gegen meinen Beruf?“ fragte 150
Proskow etwas albern. „Aber nicht doch, im Gegenteil“, protestierte sie lebhaft. „Ich meine nur, daß man die Möglichkeiten, die der Kriminalroman unzweifelhaft bietet, besser nutzen sollte. Würde man zum Beispiel die vielfach geschichteten Probleme unserer Zeit darin verwerten, was natürlich sehr viel Geschick verlangt, so würden diese Probleme der sogenannten breiten Masse viel eher und besser verständlich als nach Anhören einer stundenlangen Rede des Bundeskanzlers zum gleichen Thema.“ Proskow fühlte sich ausgesprochen wohl. Er saß zusammengesunken in seinem Sessel und lauschte den Argumenten der Frau. Sie plauderte für seine Begriffe ungeheuer gescheit über eine Thematik, die ihn eigentlich sehr interessierte, obwohl er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Sie sprach mit Anteilnahme, und er spürte, daß sie so, genau so, auch reden würde, wenn sie mit dem fetten Riesen sprach. „Sehen Sie“, fuhr sie fort, auch glücklich über den dankbaren Zuhörer, der mehr Gefühle bewahrt hatte, als es in seinem Beruf vielleicht üblich war, „Sie werden doch am besten wissen, daß die Hauptschuld an der Kriminalität schlechthin in dem Unterschied zwischen Arm und Reich liegt. Aber den Reichen erscheint diese Kriminalität noch immer als das kleinere Übel, denn was wäre natürlicher, als diesen Unterschied zu beseitigen? Das ist, wenn auch scheinbar zusammenhanglos, so ähnlich wie mit Indiens heiligen Kühen – obwohl soundso viel Menschen täglich verhungern, denkt niemand ernstlich daran, diese Tiere zu melken oder gar zu schlachten. Aber … wir schweifen ja zu weit ab, nicht wahr?“ „Ein bißchen schon“, gestand Proskow zahm. „Vielleicht auch nicht, Herr Proskow! Sehen Sie, der 151
Rainer Grünthal – auch er tut etwas grundsätzlich Richtiges, vom Standpunkt unserer Gesellschaftsordnung gesehen. Natürlich ist auch bei ihm, und daran kann einfach niemand vorbeigehen, das Ost-West-Verhältnis zentrales Thema. Es ist eben entscheidend, wie man es anpackt.“ „Sie legen sich ja mächtig für ihn ins Zeug“, brubbelte Proskow, aber es klang behaglich. „Nicht für ihn, ich bitte Sie! Aber ich bemühe mich natürlich, objektiv zu sein. Spielend lernen, sagt man ja immer als Motto für Kinder, nicht wahr? Man gibt Kindern zum Beispiel einen Steckbaukasten, und sie lernen ganz automatisch und obendrein noch mit Freude, daß man beim Bauen Fugen versetzen muß, wenn die Sache halten soll. Und so ähnlich müssen Sie das mit der Literatur betrachten.“ Proskow fühlte sich immer wohler, er wurde regelrecht schläfrig. Es war eine durchaus angenehme Schläfrigkeit, er blinzelte zufrieden und wünschte vorerst nur, daß die Frau weiterplaudern möge. Er blieb, völlig im Gegensatz zu seinem ursprünglichen Vorhaben, fast fünf Stunden. „Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal vorbeikommen“, sagte Frau Tassil zum Abschied. Sie sagte es ganz ohne konventionelle Höflichkeit, es war nicht die übliche Floskel. Proskow wußte, daß sie es meinte, wie sie es sagte. In ihrem und seinem Alter legte man keinen Wert mehr auf lange Umwege. In diesem Alter und mit dieser Lebenserfahrung nicht, man hatte weniger Zeit als junge Menschen. „Habe ich Ihnen helfen können?“ fragte sie noch, als der Kommissar schon in der Wohnungstür stand. „Mir? Ich weiß nicht … wohl eher Herrn Grünthal.“ Und wenn es auch nur Trost sein sollte, Aufmunterung 152
oder Entschädigung, es gab dem Kommissar noch lange zu denken: Frau Tassil sagte, und sie wirkte irgendwie nachdenklich dabei: „Man erzählt sich, daß auch Goethe, der große Mann der Feder, gesagt haben soll, es gäbe kein Verbrechen, das er sich selbst nicht auch zutrauen würde.“
153
16. Ernst Katzer durchlebte während des Tages eine ganze Skala ebenso verschiedenartiger wie aufregender Gefühle. Aufgestanden war er mit einem widerwärtigen Schuldgefühl, voller Unruhe hatte er die Minuten bis zur Begegnung mit Grünthal immer wieder hinausgezögert. Sosehr er gestern Abend in Schwung gewesen war, heute, bei Tageslicht, sah plötzlich alles ganz anders aus. Mit ehrlicher Erleichterung hatte er dann registriert, daß Grünthal ganz wie sonst war. Wie sonst, das hieß freilich nur, soweit er ihn kannte. Aber schon das nahm Katzer bereitwillig als gutes Omen. Mit keiner Silbe knüpfte Grünthal an das doch recht ungewöhnliche Gespräch vom Abend an, mit der gleichen unpersönlichen Freundlichkeit erteilte er Aufträge, fragte hier, bestimmte dort. Sie führten wieder zusammen Reparaturen aus, aßen gemeinsam, Rede und Gegenrede vom Abend wurden nicht erwähnt. Und doch wußte Katzer ganz genau, welche Forderungen er gestellt und welches Versprechen Grünthal gegeben hatte. Obwohl er sich ängstlich hütete, vor sich selbst aufrichtig zu sein, so wußte er doch genau, daß er eine handfeste Erpressung eingeleitet hatte. Er wartete den ganzen Tag, daß Grünthal von sich aus Hilfestellung gab, aber er wartete vergebens. Dieser verdammte Grünthal, undurchsichtig wie Milchglas. Mit welcher Gelassenheit der die schweren Anschuldigungen hingenommen hatte? Ein aalglatter Hund, ließ ihn hier so zappeln! Warum der ihn eigentlich nicht längst auf die Straße gesetzt hatte …? Aber das war die gefährlichste und zugleich beunruhi154
gendste Seite der Geschichte. Man konnte die Geschehnisse der letzten Tage, soweit sie ihn selbst betrafen, drehen, wenden oder ganz und gar umkrempeln, ausweichen konnte man den Schlußfolgerungen nicht. Und diese Schlußfolgerungen trieben ihn bei Eintritt der Dämmerung in den Keller. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, heute dem Alkohol auszuweichen, fühlte er sich magnetisch zu den lagernden Weinflaschen hingezogen. Wieder verfluchte er seine Feigheit, seine Unfähigkeit, auf ihn zukommende Entscheidungen wenigstens mit äußerlicher Ruhe abzuwarten, er brauchte einfach die trügerische Stärke des Alkohols. Als er eine halbe Flasche Liebfrauenmilch schon geleert hatte, fiel sein Blick auf ein Spinnennetz. Gegen das Licht der verstaubten Glühbirne hoben sich die einzelnen Fäden plastisch ab, und aus dem Bodensatz mäßigen Schulwissens wußte Katzer, daß irgendwo im Verborgenen die Spinne saß und auf Beute lauerte. Zum erstenmal eigentlich begriff er die Gefahr, in der er sich befand. Vielleicht war der Faden, an dem sein Leben hing, noch etwas stärker als jene Spinnenfäden dort, vielleicht aber war er auch noch dünner. Angst und der Versuch, solchen Gedanken zu entkommen, ließen ihn in einer knappen halben Stunde auch noch die zweite Flasche leeren. Als er sich rülpsend erhob, hatte er nicht nur seine Fassung zurückerobert, er fiel geradezu ins nächste Extrem. Hatte ihm eben noch gewöhnliche Furcht beherrscht, bildete er sich nun überlegene Stärke ein, die er für Festigkeit hielt und die nichts war als die übliche Flucht nach vorn. Er fühlte sich so stark, daß er auf dem Flur Grünthal einfach anrempelte. „Ich wette, Mister“, grölte er und lachte übertrieben selbstsicher, „Sie haben unser kleines 155
Abkommen von gestern glatt vergessen!“ „Ich habe nichts vergessen“, antwortete Grünthal kühl, wenn auch über die Frechheit leicht betroffen, und wollte Katzer zur Seite schieben. Einige Sekunden standen sich beide dicht gegenüber, sahen sich an, jeder mit der Überzeugung, der andere sei der Unterlegene. Aber während Grünthal lediglich sachlich überdachte, daß die Situation allmählich unerträglich wurde, legte Katzer die Nachgiebigkeit seines Gegenübers zu seinen Gunsten aus. Ein Mann, der auf alle Wünsche eingehen mußte, hatte alles zu verlieren. Und das waren die geläufigen Spielregeln – wer verlor, mußte zahlen. „Wir haben keinen Schnaps im Haus, wußten Sie das?“ fragte er frech. „Das labbrige Zeug da unten …“ „Sie irren“, sagt Grünthal, weiterhin gelassen. „Im Besenschrank hängt eine Aktentasche voll, für heute wird es wohl reichen.“ „Übrigens, Chef … wann?“ Rainer Grünthal verzog angewidert den Mund. „Um acht, wie besprochen“, sagte er und wandte sich ab. Dieses Schwein da brauchte nicht einmal zu ahnen, wie widerwärtig ihm das Arrangement war. Widerwärtig, obendrein nicht ganz ungefährlich und doch notwendig, Teil des nächsten Schrittes. Sicher, es war nicht schwer gewesen, eine geeignete „Dame“ aufzutreiben, Mangel herrschte in der Branche nicht. Die Eingeladene durfte später keinerlei verdächtige Aussagen machen können, für sie mußte es eins der üblichen Geschäfte bleiben. Lange hatte er geschwankt, ob er sie heimlich ins Haus einlassen sollte, etwa durch die hintere Garagentür, oder ganz offiziell. Abgesehen von den Klatschereien, 156
daß er sich schon zweifelhafte Bekanntschaften suchte, wo doch die eigene Frau noch nicht einmal unter der Erde war, hatte er sich dann doch für den hinteren Eingang entschieden. Es ließ sich später besser begründen. Nun ja, sie würde gegen acht Uhr an die Stahlblechtür klopfen. Uninteressant, ob sie dem Geschmack dieses Kerls entsprach. Wichtig war nur gewesen, daß sie irgendwo außerhalb der Stadt wohnte. Trotzdem sah auch Grünthal dem Abend, ja der ganzen Nacht mit wachsender Sorge entgegen. Es gab da ein Risiko, das er nicht steuern konnte. War der Prahlhans Katzer gescheit genug, gewisse Dinge für sich zu behalten? Als Kommissar Proskow gegen Abend seine kalte Wohnung betrat, überfiel ihn die Erinnerung an Frau Tassil mit einer Eindringlichkeit, die ihn betroffen machte. Mit ganz anderen Augen als noch am Morgen musterte er das Wohnzimmer, in dem noch jedes Möbelstück so stand wie an jenem Tage, als die Frau gestorben war. Es war wohl vor allem die Kälte, die ihn alles schärfer sehen ließ, aber es war nicht die Kälte allein. Er empfand die abgestandene Altertümlichkeit ebenso wie die Unordnung, weil sich der Vergleich mit einer anderen Wohnung aufdrängte. Noch in Hut und Mantel heizte er den Kachelofen an und stellte, worüber er, der so sparsam war, sich freilich etwas amüsierte, sämtliche elektrischen Heizkörper dazu. Es sah aus, als wollte er den Kachelofen elektrisch unterstützen. Dann, in der Küche, ekelte ihn alles an. Er sah den mit schmutzigem Geschirr und leeren Konservendosen übersäten Küchentisch, die leeren Schnapsgläser, Essenreste von vor Tagen. Fast fluchtartig stürmte er ins Wohnzim157
mer zurück und ließ sich schwer hinter seinen Schreibtisch fallen. Während er sich einen Steinhäger einschenkte, fiel sein Blick auf das Bild seiner Frau, die ihn mit vorwurfsvoller Strenge anzusehen schien. Er betrachtete sie, auch beim Trinken, und wunderte sich eigentlich kaum, daß sie ihm heute anders vorkommen wollte. Weiter weg, ohne Schleier. Daneben stand das Bild des Sohnes Harald, der heute auch schon vierzig Jahre alt wäre. Der Einzige! Schneidig wie er aussah, in schmucker Matrosenuniform, die langen Mützenbänder über eine Schulter nach vorn gelegt. Vielleicht waren es gerade diese Bänder gewesen, sicher auch die ganze schmucke Uniform, die weiten Hosenbeine, die gelockt hatten. Vielleicht auch nur die merkwürdige Tatsache, daß Mädchen auf eben diese dunkle Uniform besonders „sprangen“. Dieser dumme Junge, dachte Proskow mit trauriger Wut, könnte jetzt über vierzig sein, vielleicht Kriminalbeamter, vielleicht auch ganz etwas anderes, wenn er nicht als Achtzehnjähriger gestorben wäre. Und nun saß er ganz allein hier, bloß weil der Junge im letzten Schuljahr geschrieben hatte: Liebe Kriegsmarine. Eine Anrede auf einer offenen Postkarte, über die man noch lange Zeit gelacht hatte. Liebe Kriegsmarine, als wenn die Kriegsmarine ein netter alter Onkel oder eine freundliche Tante gewesen war. Fast unmerklich verfiel er in eine befremdliche Mutlosigkeit, und er wußte nur nicht, ob sie aus der Trostlosigkeit seiner Einsamkeit, aus dem Alter schlechthin oder nur aus den augenblicklichen Niederlagen in seiner Arbeit resultierte. Der Kommissar hatte, noch ehe er aus Hannover ab158
fuhr, im Landeskriminalamt angerufen, ohne Hoffnung freilich, und hatte zu seiner Verwunderung den erstaunlich schnellen Zwischenbescheid erhalten, daß der vorgelegte Brief mit Sicherheit jüngeren Datums sei. Eine endgültige Beurteilung erhalte er auf dem üblichen Dienstweg. Aber Proskow wußte mit Sicherheit: Der verdammte Wisch würde echt sein. So einfach war diesem Grünthal nicht beizukommen, falls ihm überhaupt beizukommen war. Mit übertriebener Empfindlichkeit stellte er sich sogar vor, daß Herr Grünthal seine Freude an den krampfhaften Bemühungen seines Gegners haben könnte. Hinzu kam ein unbestimmtes Schuldgefühl, weil er Vinkers Anweisung ignoriert und sich nicht um die idiotische Eiergeschichte gekümmert hatte. Vinker würde das umgehend erfahren, würde wahrscheinlich nur höflich oder jovial auf bestimmte Dienstvorschriften hinweisen, vergessen würde er den Ungehorsam nicht. Es sei denn, Proskow konnte im Fall Grünthal Erfolge vorweisen. Aber er konnte eben nicht, er ging im Kreis, der mehr einer Ellipse glich, und er schien gerade auf dem Weg zum entferntesten Punkt zu sein. So nett dieses Fräulein Tassil – seltsamer Name übrigens – auch gewesen war, geholfen hatte sie tatsächlich eher dem Grünthal. Es mochte durchaus stimmen, daß ein geübter Lektor aus einem Manuskript auf die Charakterstärken des Verfassers schließen konnte. Sicher war auch das nicht, wie eigentlich überhaupt nichts mehr sicher schien. Unbewußt trank er unterdessen Steinhäger um Steinhäger, spürte aber nichts als eine bleierne Müdigkeit. Schwerfällig erhob er sich, stampfte unsicher zum Sofa hinüber und hockte sich verdrossen in seine Stammecke. Düster starrte er noch einige Minuten bald hier, bald 159
dorthin, sah das vor vierzehn Tagen gebrauchte Fieberthermometer zwischen seinen Papieren herumliegen und verspürte für Sekunden sogar den Wunsch, wenigstens die Hosen und Hemden aufzuräumen, die unordentlich über einem der hochlehnigen Stühle hingen. Er schlief schon halb, als scharfes Klingeln in sein Bewußtsein drang. Träge griff er nach dem Telefonhörer, horchte mit geschlossenen Augen und ließ den Hörer einfach neben sich auf ein Kissen plumpsen, als er nichts als das Freizeichen vernahm. Schließlich begriff er, daß jemand an der Wohnungstür sein mußte. Als er sich ächzend aufraffte, ärgerte er sich nicht so sehr über die Störung als darüber, daß er auf eine Sache hereingefallen war, die man schon tausendmal als Filmgag strapaziert hatte. Stengel sah sofort, daß der Kommissar angetrunken war. Seine Zuversicht, daß er nach ebenso strapaziöser wie erfolgreicher Tätigkeit seinen Vorgesetzten würde zufriedenstellen können, geriet ins Schwimmen. „Die Stengel-Stange“, sagte Proskow unsicher und irgendwie enttäuscht, als hätte er angenehmeren Besuch erwartet. Stengel lächelte verlegen. Mochte Proskow ihn titulieren, wie er wollte. „Ich kann ja auch Montag, zum Dienstbeginn, meine paar Sätze murmeln.“ „Quatsch.“ Proskow bemühte sich, aufrecht und gelassen zur Sofaecke zurückzukehren. Stengel schlenderte hinter ihm her. Während er sich vorsorglich in die Nähe der Heizkörper setzte, musterte er ungeniert die Unordnung und fischte umständlich die beiden Kassenstreifen aus der Brusttasche. Er hielt sie eine ganze Zeit wie Eintrittskarten zum Abreißen vor sich hin und wartete, daß 160
der Kommissar darauf reagierte. Aber Proskow stierte nur abwesend vor sich hin auf das Teppichmuster. Kriminalmeister Stengel fühlte sich einen Augenblick ungerecht behandelt. Es war ärgerlich, daß er nicht wenigstens ein bißchen seine Fähigkeiten würde herausstreichen können, nichts von seinem Ärger und seinen Umwegen zu berichten brauchte. Wenn er es auch nicht zugab, er hatte es ganz gern, wenn man ihn hin und wieder lobte. Und er war gerannt, erstens, weil Wochenende war und die Geschäfte kürzere Öffnungszeiten hatten, und zweitens, um ja nicht ohne Erfolg dazustehen. Und er hatte Glück gehabt. „Die Dinger“, begann er schließlich gereizt, „kamen aus der Registrierkasse eines Schreibwarengeschäftes. Sie kennen den Laden sicher, schräg gegenüber der Schraubenfabrik. Gehört einem Herrn Freytag, der Laden.“ „Trinken wir einen“, bestimmte Proskow überraschend, und obwohl sich Stengel aus Alkohol wenig und aus Steinhäger gleich gar nichts machte, widersprach er nicht. Er ließ sich ebenso den zweiten, dritten und vierten aufdrängen, dann aber schnurrte er seinen Bericht herunter. „Und stellen Sie sich vor, Chef, in diesem Laden war so ein junges Ding, das konnte sich daran erinnern, was der Hillmann gekauft hatte. Allerdings mußte ich ihr erst dessen Foto unter ihre Sommersprossennase halten. Sie hatte wohl ’n Auge auf ihn, na, meinetwegen … jedenfalls behauptet sie, der Hillmann habe ganz gewöhnliches Schreibpapier gekauft. Durchschlagpapier“, ergänzte er noch. „Ich hab’s gehört.“ Proskow zeigte keine rechte Anteilnahme. Er wunderte sich eigentlich mehr darüber, 161
wieso er trotz erheblichen Alkoholkonsums noch ziemlich nüchtern blieb. Einzige Wirkung war bisher nur, daß Gegenstände, Dinge, Gedanken irgendwie in wohltuende Entfernung gerückt waren. Auch Stengel, obwohl nur zwei Meter entfernt, gemessen an den Fußspitzen der ewig lang ausgestreckten Beine, schien ein ganzes Haus weiter zu sitzen und durch Glas mit ihm zu sprechen. „Zwei Packen, Chef“, sagte nun der ferne Stengel, und als biete er seine Packen zum Verkauf an: „Schönes, zartes Durchschlagpapier, je Paket tausend Blatt, macht zusammen zweitausend. Würde mir bis ins Rentenalter reichen.“ Stengel entfernte sich weiter, als zöge er nun auch noch ins übernächste Haus um. Zweitausend, das war eine beeindruckende Zahl, eine riesige Entfernung. Zweitausend Blatt Durchschlagpapier aber war nichts als scheußliche Arbeitsüberlastung, denn was machte man anders damit, als ellenlange Protokolle in sechsfacher Ausfertigung zu tippen? Zweitausend Blatt geteilt durch sechs … scheußliche Vorstellung. Durchschlagpapier! Stengel, dieser hingelümmelte Telegrafenmast, brachte das Kunststück fertig – ohne aufzustehen –, vom übernächsten Haus direkt bis in diese Wohnung umzuziehen, rückte näher und näher, glitt durch riesige Scheiben, ohne sie zu zertrümmern, saß einfach vor ihm und spielte mit zwei lächerlichen Papierstreifen. Durchschlagpapier! Was machte man mit zweitausend Blatt, dachte Proskow hilflos und schon mit der Furcht, ein Gedanke, der da eben anklang, könnte schon wieder verklingen. Dieser Gedanke, der so ungeheuer wichtig war, der die bisherige Front eigentlich nur unmerklich, aber doch sonderbar einleuchtend verschob. 162
„Was macht … man mit …“, flüsterte er vor sich hin. „Memoiren schreiben“, lästerte Stengel. Er beugte sich beunruhigt vor. Was war denn mit dem alten Dickschädel? Sah aus, als wollte er aus seiner Plüschecke kippen. „Soll ich uns einen Kaffee brauen?“ „Stengelchen“, sagte Proskow, während er sich steif aufrichtete, „Mann Gottes, heiliger Wenzel von Prag! Schreiben! Warum bin ich bloß nicht früher …“ Stengel wunderte sich, daß der eben noch halb ohnmächtige Proskow nun auch noch lächelte, gar nicht böse wie sonst, wenn auch nicht unbedingt fröhlich. Der Kommissar lächelte irgendwie erlöst. Proskows Gedanken, vom Alkohol noch etwas schwerfällig und eigensinnig, parierten wieder, tasteten sich aus der scheinbar endlosen Ellipse zurück. Auch die Logik, unterstützt von uralten Erfahrungen, war anscheinend vor Fehlern nicht sicher – es war gar nicht um Beate Grünthal gegangen, es mußte um diesen Klaus Hillmann gegangen sein. Wer war dieser Mann nun wirklich gewesen? Nichts als ein Heimkehrer, den das Heimweh getrieben hatte? Einer, der vielleicht Abend für Abend vor seiner Blockhütte – denn mit Blockhütte irgendwo in unendlicher Weite stellte man sich ja einen kanadischen Holzfäller vor – gesessen und in die Sterne gestiert hatte? Was hatte dieser Hillmann für Vorstellungen von seiner Heimat gehabt, was für Pläne, welche Wünsche? War ihm Hauptsache gewesen, endlich wieder zu Hause zu sein, war das die ganze Vorstellung von Glück gewesen? Und wie hatte dieses nette Fräulein Tassil doch so verwunderlich bestimmt gesagt? Human, menschlich geschrieben. War nicht einem Einsamen eher Humanität zuzutrauen als einem Vertreter, der ohnehin mit allen 163
erdenkbaren Tricks operieren mußte, wenn er sich behaupten wollte? Fast automatisch faßte Proskow in die Brusttasche des Lodenmantels und zog den noch immer geschlossenen Brief heraus. „Stengelchen“, bat er dann fast mild, „du mußt mir helfen!“ „Aber …“ Stengel war verblüfft, der Kommissar bat ihn, befahl nicht, knurrte nicht, schnauzte nicht. „Aber selbstverständlich doch, Herr Kommissar! Immer!“ Trotz aller Rührung, an der auch die ungewohnten Steinhäger nicht schuldlos waren, sah er doch mißtrauisch auf den Brief in Proskows Hand. Wenn nicht alles täuschte, bedeutete das die Fortsetzung der Rennerei. „Stengel“, wiederholte Proskow heiser, „krame alles aus, was über diesen Hillmann in Erfahrung zu bringen ist. Wann gekommen, wo inzwischen gewesen, mögliche Bekannte, vergiß die Arbeitsstelle nicht, hätten wir uns überhaupt schon längst drum kümmern müssen. Ja, und dann, hier … der Brief! Reichen deine Englischkenntnisse aus? Versuch’s, einen Dritten hätte ich nicht gern dabei. Achte besonders auf mögliche Hinweise, ob Hillmann irgendwelche Pläne hatte. Manchmal bespricht man so etwas doch mit seinem Freund. Alles klar?“ „Ja, aber …“ „Morgen, morgen!“ Proskow wehrte hastig ab. „Ich erkläre dir alles morgen. Jetzt muß ich erst noch … Verdammt, morgen ist ja Sonntag! Egal, du kommst früh her!“ „Schön, aber …“ Es war fast der alte Proskow, der nun knurrte: „Hör zu, unser lieber Kollege Vinker würde jetzt ebenso sachlich wie bedeutungsvoll daran erinnern, daß Gehorsam 164
die erste Pflicht eines Polizeibeamten ist.“ „Ich geh’ ja schon“, maulte Stengel ernüchtert. Und wenn er sich auch noch auf der Straße über die anhaltende Geheimniskrämerei ergrimmte, empfand er doch wachsende Hochachtung vor seinem Kommissar, während er sich gegen den eisigen Wind stemmte. Diese Alten hatten eine Ausdauer! Als Proskow ungeduldig klopfend die einzelnen Fensterladen bearbeitete, schimpfte der alte Wenckmann drinnen aufgebracht. „Ich bin’s, Proskow! Ich muß Sie unbedingt sprechen!“ Drinnen polterte es noch eine ganze Weile, ehe Wenckmann den Fensterladen des Wohnzimmers einen Spalt öffnete und den Hausschlüssel einfach in den Schnee vor Proskows Füße fallen ließ. Als dann der Kommissar schnaufend im überheizten Zimmer stand, bekannte er halbwegs aufrichtig: „Es tut mir leid“, und er half Wenckmann, einen alten Bademantel über die eingefallenen Schultern zu hängen. „Aber Sie kennen das ja noch, nicht wahr? Ich will Sie auch nicht über Gebühr aufhalten, aber ich muß Sie bitten, mir nochmals den Mittwochabend zu schildern.“ Wenckmann begriff überhaupt nicht, wozu in aller Welt das gut sein sollte. Aber er fühlte, daß Proskow in jener Verfassung war, in der ein guter Kriminalist keine Ruhe mehr kannte. Schließlich meinte er, Proskow solle lieber fragen. Er wisse, daß Fragen zielstrebiger seien, und er sei ja kein Verdächtiger, den man mit ausgefuchsten hinterhältigen Fragen in Widersprüche verwickeln müsse. „Oder etwa doch?“ fügte er hinzu. 165
Proskow stutzte einen Moment, auch diese Möglichkeit wäre eine Lösung. „Wie Sie wollen“, sagte er dann, „und um es kurz zu machen, mich interessiert vor allem die Uhrzeit, als Herr Grünthal Sie verließ.“ „Aber das wissen Sie doch.“ Wenckmann war jetzt sehr aufmerksam. „Er ging sieben Minuten vor elf, wie immer.“ „Nach der Uhr dort?“ Gehorsam sah Wenckmann zur Büfettuhr, die ehrwürdig und zuverlässig auf der polierten Platte thronte, faßte gleichzeitig zur Westentasche, aber die Hand blieb diesmal leer. „Ja doch, sagte ich doch alles schon.“ „Und Sie hatten keine Vergleichsmöglichkeit?“ Der Alte im Rollstuhl kniff beide Augen ein. Proskow erinnerte sich, daß dies früher ein sicheres Zeichen dafür gewesen war, daß Wenckmann Probleme wälzte. Und Wenckmann begriff durchaus, wohin der Kommissar mit seiner Frage zielte. Theoretisch konnte natürlich Grünthal an dieser Uhr manipuliert haben, allein schon wegen des fehlenden Glases hätte das keine Schwierigkeiten bereitet. Kindisch glücklich, daß er noch kombinieren konnte, erklärte er streitsüchtig: „Und ich kann schwören, daß die Uhr am Morgen auf die Minute genau ging, Herr Proskow!“ Proskow nickte vor sich hin – selbstverständlich konnte Wenckmann das beschwören, weil es ganz einfach die Wahrheit sein mußte. Der Alte fühlte sich unbehaglich. Wie, wenn Herr Grünthal ihn wirklich nur als Deckung benutzt hatte? Einen glaubwürdigeren Zeugen als einen in Ehren pensionierten ehemaligen Kriminalbeamten konnte man sich 166
kaum denken. Trotzig stemmte er sich gegen den Gedanken, sein sympathischer Schachpartner könnte unter Umständen ein gewöhnlicher Verbrecher sein. „Nein, nein“, beharrte er störrisch, mehr über diese bedrohliche Version als über den Kommissar verärgert, „das ist doch purer Unsinn! Die Uhr ging doch wirklich genau. Dann müßte er ja … wie will er denn nochmals ins Zimmer gekommen sein? Mit einem Nachschlüssel? Wäre ja möglich, zugegeben, aber ich habe, wie ja wohl alle alten Menschen, einen leichten Schlaf. Ich hätte jedes Geräusch unbedingt gehört!“ „Und wenn“, sagte Proskow langsam, „er gar nicht mehr ins Haus zurück brauchte? Denken Sie an diese überaus freundliche Geste, Ihnen Unbequemlichkeiten zu ersparen und den Schlüssel durch den Luftschlitz im Fensterladen ins Hausinnere zu befördern.“ Der alte Wenckmann blickte zaudernd zum geschlossenen Fensterladen, das Oberlicht stand auch jetzt einen Spalt offen. Der Blick aus rotgeränderten Augen wanderte zaghaft zur gleichmäßig tickenden Uhr – die Entfernung betrug anderthalb, höchstens zwei Meter. „Aber er hatte doch nichts bei sich. Und überhaupt, wozu sollte er denn um Himmels willen …?“ „Für ein unerschütterliches Alibi muß man sich schon etwas einfallen lassen, lieber Wenckmann. Ein Alibi dafür, daß er zur Zeit, als seine Frau und Herr Hillmann starben, noch bei Ihnen saß und schwarze oder weiße Bauern opferte. Nehmen wir an, er gewann nur eine halbe Stunde. Zeit genug, zum Beispiel einen Gashahn aufzudrehen, durch Schlafmittel schon Betäubte mit Kohlenoxid zu vergiften, um später – wie immer – pünktlich und höchst unverdächtig nach Hause zu kommen. Er wird gesehen, und auch Sie wollen 167
ja bereitwillig beschwören, daß er erst kurz vor dreiundzwanzig Uhr ging.“ „Ja, aber … die Gasexplosion, Proskow! Die Explosion hätte ihn doch …“ Das klang, als ob Wenckmann sich an den bewußten Strohhalm klammerte. „Falls nicht auch das eingeplant war, was mir aber denn doch zu verwegen erscheinen will. Es war wohl nur ein unglücklicher Zufall.“ Als Wenckmanns zerfurchtes Gesicht Skepsis zeigte, sagte er etwas barsch: „Ich weiß, Zufälle sind nur für uns reserviert. Aber …“ Ein aufblitzender Gedanke ließ ihn stocken. „Oder doch nicht Zufall? Gewiß, ein bemerkenswertes Risiko, aber vielleicht riskiert unser Grünthal mit Verstand, wie? Ja, warum eigentlich nicht? Schließlich kann man auch eine in einer bestimmten Zeit ausströmende Gasmenge berechnen, man kann sie sogar regulieren, wenn auch ein Risiko bleibt. Daß die Verteilerdose im Wohnzimmer defekt war, dürfte er ohnehin gewußt haben. – Die Frage“, setzte er seinen Gedanken nach kurzer Pause fort, „wäre dann eigentlich nur, ob ihn die Gegebenheiten erst auf die Idee gebracht haben oder ob er diese Gegebenheiten zur Durchführung seines Planes erst schuf. Die alte Streitfrage also, wer eher da war, das Ei oder die Henne.“ Wenckmann nickte trübe und beeindruckt vor sich hin, die logische Schlußfolgerung, daß auch er eine der geschaffenen Gegebenheiten sein könnte, kränkte ihn merklich. Und so war es weniger Widerspruch als Hilfsbereitschaft, wenn er einwarf: „Ich weiß trotzdem nicht, hätte man ihn denn nicht sehen können? Wenn er schon so gerissen sein soll, trotzdem brauchte er einige Minuten bis nach Hause, und ganz menschenleer sind die Straßen doch wohl auch nachts nicht?“ 168
„Kleinigkeit. Sie vergessen den Pfad durchs Wäldchen, gleich hinter Ihrem Haus.“ Wenckmann schien wieder Hoffnung zu schöpfen. „Aber da traut sich doch seit dem Überfall kein Mensch mehr durch!“ „Überfall?“ Proskow sah den Alten skeptisch an, ihm war von einem Überfall hier draußen nichts bekannt. „Woher haben Sie Ihre Information?“ „Von Herrn Grünthal“, gestand er kleinlaut und wußte selbst, daß der Wert seines Einwandes damit gleich Null wurde. Proskows Geste bedeutete: Na bitte! Gewiß, alles erfuhr auch er nicht, dazu gab es zu viele Ressorts, zuviel Kriminalität. Aber ebensogut konnte Grünthals Regie auch dieses Detail aus Vorsorge arrangiert haben. Der Überfall wurde erfunden, um jede mögliche Begegnung mit einem Menschen auszuschließen, die nächtliche Unsicherheit nahm ohnehin beängstigende Formen an. Und vor allem: auch das paßte zu Grünthal. Und in diesem Augenblick begriff der Kommissar auch die Rolle Ernst Katzers. Der hatte sich, nach eigenen Angaben, bereits vor zweiundzwanzig Uhr in der Garage aufgehalten. Wenn aber Grünthal, vorausgesetzt, er hätte den Waldweg benutzt, sein Haus durch die Garage betreten hatte, mußte ihn Katzer gesehen, zumindest gehört haben. Fast wie von selbst ergab sich nun auch, warum Katzer den hellen Mantel so erstaunt gemustert hatte. In diesem Moment, als Proskow den Mantel ins Gespräch gebracht hatte, konnte Katzer begriffen haben, daß irgend etwas nicht stimmte. Leicht zu erraten, daß er einen Mann gesehen haben mußte, der eben diesen hellen Mantel nicht getragen hatte. 169
Während seiner Überlegungen ertönte der Warnruf eines Dieseltriebwagens, der überlaut und volltönend die beklemmende Stille zerriß. Zuerst hörte er ihn nur, wie man eben alltägliche Geräusche aufnahm, während das Gehirn fast von allein den Ursprung des Geräusches entschlüsselte. Ruckartig aber stierte er dann auf die wuchtige Uhr – es war drei Minuten vor elf. „Hören Sie“, wandte er sich rau an den zusammengesunkenen Alten, „der Triebwagen, Mensch! Oder haben Sie nichts gehört?“ „Natürlich habe ich!“ Wenckmann fummelte erneut sinnlos am Schlafanzug nach seiner Taschenuhr und sagte verwundert: „Hat aber tüchtig Verspätung heute, fast eine dreiviertel Stunde. Jaja, das Wetter, auch nicht so einfach für die Bundesbahn.“ Proskow reagierte gar nicht darauf. „Verspätung. Er hat Verspätung … und wann kommt er genau?“ „Zwölf nach zehn.“ „Und … hören Sie den Pfiff öfter?“ „Öfter? Immer!“ „Also auch am Mittwoch!“ „Mittwoch?“ Wenckmann blickte auf die Büfettuhr. „Ich glaube nicht, ich kann mich nicht erinnern … aber sicher war kein Westwind.“ „Westwind?“ Sofort wurde Wenckmann lebhafter und erging sich weitschweifig in seinen Beobachtungen, die eigentlich nur eine natürliche Folge ewigen Alleinseins waren. Proskow unterbrach ihn dennoch nicht, und er wurde beinahe heiter, als Wenckmann ohne Argwohn bekannte, daß er Herrn Grünthal vor einiger Zeit einen ganz ähnlichen Vortrag gehalten habe. Aber noch während er redete, begriff er die Bedeutung der höflichen Interessiertheit, 170
die Grünthal damals gezeigt hatte. Er zog unwillkürlich den Kopf ein, als er unsicher in Proskows Gesicht nach der Reaktion forschte. „Merkwürdig, wie?“ Proskow sagte es fast behaglich, obwohl der ehemalige Kollege eigentlich eine derbe Lektion verdient hätte. „Selbst Ihnen wird ja nun klar, daß so eine Sirene ganz vorzüglich zum Zeitvergleich geeignet ist. Sie werden verstehen, daß ich auch jetzt, mitten in der Nacht, jedes Wort über dieses Gespräch interessant finde.“ Wenckmann kroch tiefer in den alten Bademantel, als friere ihn trotz der Zimmerwärme. Es verdroß ihn, ausgerechnet vor Proskow zugeben zu müssen, daß er sich hatte übertölpeln lassen, wenn er auch noch immer zweifelte. Es verdroß ihn mehr als Grünthals mögliche Heimtücke. Heiser schilderte er das Gespräch um die meteorologischen Vorbedingungen, die den Pfiff hörbar machten. Nun argwöhnisch geworden, fand er selbst, daß Grünthals Interesse daran größer gewesen war, als es die Thematik eigentlich vertrug. Proskow notierte sich nur eine einzige Frage, die er dick unterstrich: Welche Windrichtung herrschte am Mittwoch zwischen zehn und elf Uhr abends? Als sei es nun genug der nächtlichen Ruhestörung, piepste plötzlich in seinem abgedeckten Käfig der Wellensittich eine Art Protest. Proskow schob das Notizbuch in die Tasche. „Und das liebe Tierchen da, das hat Ihnen der aufmerksame und so überaus freundliche Herr Grünthal natürlich erst nach diesem Gespräch geschenkt, oder irre ich mich da? Damit Sie nicht so allein sind, Sie Ärmster!“ 171
Wenckmann blickte erbittert auf den Käfig. Wahrhaftig, auch dieses Sache paßte zu gut. Wie doch auf einmal alles so ganz anders aussah, ging man von einem anderen Standpunkt aus! „Ich weiß bald überhaupt nicht mehr, woran ich bin“, klagte er. Dann entsann er sich doch noch eines Arguments, das ihm noch ein Rettungsanker sein konnte. „Ich hörte aber doch, seine Frau habe einen eindeutigen Abschiedsbrief hinterlassen?“ Proskows Gesicht verdüsterte sich. „Ist er denn gefälscht?“ erkundigte sich Wenckmann. „Glaube nicht“, versetzte Proskow mürrisch. Schlimm genug, daß ihm der verdammte Wisch noch immer Kopfzerbrechen bereitete, der ehemalige Kollege nahm ihm ganz einfach jenes Gefühl eines dringend notwendigen Triumphs, das ihn vorwärtstreiben sollte. Wenckmanns Hoffnungsbarometer schnellte sofort wieder in die Flöhe. „Na, was wollen Sie dann eigentlich? Wie soll sich denn das zusammenreimen? Meinen Sie, er hätte seine Frau gezwungen? Wann denn? Als er, immer nach Ihrer Theorie, heimkam, lag sie ja schon ohne Besinnung. Und hätte er sie vorher genötigt, ehe er hierherkam, wäre ihr doch genügend Zeit geblieben, sich einzurichten. So arglos kann doch kein Mensch sein, daß er dann etwa geduldig wartet?“ Proskow zuckte die Achseln. Die abgestandene Luft im Zimmer weckte in ihm plötzlich ein Verlangen nach dem eisigen Wind. Er ließ sich wie Grünthal den Hausschlüssel aushändigen und ging einfach. Der alte Mann im Rollstuhl starrte ihm verkniffen nach. Er würde lange nicht einschlafen können, weiter zwischen Schuld und Unschuld abwägen. Er wünschte, die Kombinationen Proskows möchten wie Seifenblasen 172
platzen. Er durfte sich nicht wie ein Anfänger übertölpelt haben lassen. „Und die Uhr ging doch richtig“, murmelte er sich selbst Trost zu, als Proskow den Schlüssel durch den Fensterladen schob.
173
17. Kriminalmeister Stengel zog am Sonntagmorgen verwundert die Augenbrauen in die Höhe, als er gegen halb neun Proskows Wohnung betrat. Das Wohnzimmer wirkte ungewöhnlich gemütlich, was wohl an der behaglichen Wärme lag, die der wuchtige Kachelofen freudig spendete. Dann erst sah er, daß der Kommissar aufgeräumt hatte. Daraus schloß er, nicht zu Unrecht, daß es bergauf ging. Daß dies wiederum mit der leidigen Geschichte Grünthal im Zusammenhang stehen mußte, verstand sich für ihn von selbst. Die Nachricht, die er jetzt brachte, war kaum dazu angetan, daß Tempo der Bergauffahrt zu beschleunigen. Er zog umständlich einen gefalteten Briefbogen aus der Brusttasche, an den er den Originalbrief aus Kanada mit einer Büroklammer angeheftet hatte, und reichte ihn dem Kommissar. „Mehr war mit meinen mäßigen Kenntnissen nicht zu schaffen“, entschuldigte er sich. „Trotz Langenscheidt und bestem Willen, Chef. Der Teufel mag wissen, was für ein Pidgin die dahinten in ihren Wäldern plappern. Außerdem möchte ich behaupten, daß der Mister Denis O’Shelly trotz seines für unsere Ohren so hübschen Namens nicht unbedingt der Klassenerste in der Schule gewesen sein kann.“ Der Kommissar überflog die Übersetzung, schien aber nicht so sehr enttäuscht, wie Stengel es vermutet hatte. „Deine Fähigkeiten auf dem Sektor Fremdsprachen mögen ja wirklich nicht erschütternd sein, aber immerhin – und abgesehen davon, daß wir wohl doch noch eine Kapazität werden bemühen müssen –, was mag der Shelly 174
hier mit der Frage gemeint haben, ob Hillmann noch immer seinen einstigen Plan verfolge?“ „Keine Ahnung, vielleicht wollte er hier eine Tankstelle kaufen? Oder eine Kneipe?“ „Vielleicht“, sagte Proskow nachdenklich, „vielleicht aber auch nicht?“ Wenn er sich jetzt nicht festrennen wollte, mußte er Stengel einweihen. Er rekonstruierte, wie sich später herausstellen sollte, das Verbrechen mit nahezu perfekter Kombinationsgabe; er übersah eigentlich nur, daß Grünthal auch noch Zeit gefunden hatte, einen Umweg zum Wohnwaggon Hillmanns zu machen. Stengel, ein mustergültig aufmerksamer Zuhörer, fand natürlich schwache Stellen. „Ich weiß nicht, Chef“, sagte er vorsichtig, „hört sich sehr gut an, nur … wo ist eine einzige Stelle, an der man einhaken könnte? Wenn Grünthal sich dermaßen abgesichert hätte, wäre das geradezu ein Phänomen. Und dann noch dieser verdammte Brief …“ „Weiß ich auch, Mensch! Diese idiotische Klippe macht mir den meisten Kummer. Aber das war ja schon oft so, daß scheinbar schwierigste Probleme so kinderleicht zu lösen sind, daß man sich noch tagelang für seine eigene Blödheit ohrfeigen möchte.“ „Trotzdem“, beharrte Stengel, „wie nun weiter?“ „Ganz einfach, wir müssen Grünthal irgendwie aus der Ruhe bringen, ihn wie einen Hasen aufstöbern. Oder wie einen trägen Wachhund, immer mit einem Stock ‚ksch, ksch‘ machen. Mal schnappt das Biest schon zu. Er hat nicht den kleinsten Fehler gemacht, also zwingen wir ihn, nachträglich einen zu fabrizieren, klar?“ „Nicht ganz, Chef.“ „Aus der Ruhe bringen, sagte ich. Und zwar ganz einfach, du wirst ihn überwachen. Und das nicht etwa diskret, sondern im Gegenteil auffällig. Am besten, du 175
parkst einfach vor seinem Haus … du bist doch nicht etwa zu Fuß?“ „Sehe ich so aus?“ „Weiß Gott nicht.“ Proskow hielt das Gespräch für beendet. „Es ist ziemlich kühl draußen, so ’n Blechgehäuse ist da nicht sehr ideal, Chef. Wie wär’s denn, wenn ich dem verfeindeten Nachbarn, dem Bahnbeamten Wirth, mit einem längeren Besuch auf die Nerven ginge?“ „Gut! Telefon wird er ja haben.“ Proskow schob seinen Mitarbeiter in Richtung Wohnungstür, aber Stengel glaubte noch einwenden zu müssen, daß man doch eigentlich auch Grünthals Telefon überwachen sollte. „Wozu? Erstens müssen wir einen solchen Antrag begründen, was wir nicht im gewünschten Umfang könnten, und zweitens ist Grünthal Einzelgänger. Mit wem sollte der Dinge besprechen, die uns interessieren?“ Rainer Grünthal hatte zunächst nur überheblich gelächelt, als er den Kriminalbeamten zu Herrn Wirth hatte hineingehen sehen. Der Lange hatte sich sehr ungeschickt angestellt, falls er unauffällig hatte sein wollen. Aber schon nach einigen Minuten erschien ihm der Besuch bei dem steifbeinigen Nachbarn, zumal an einem Sonntag, doch etwas merkwürdig. Und als der Kriminalist auch nach einer Stunde noch nicht wieder auftauchte, dämmerte es ihm. Die Aktion konnte nur bedeuten, daß der Kommissar noch immer hinter ihm her war, hinter ihm oder hinter Katzer. Jetzt erst, als die hiesige, nicht sonderlich für ernst genommene Kriminalpolizei, verkörpert durch diesen Lodenonkel, anders und vor allem bedeutend hartnäckiger reagierte, als vorauszusehen war, bemächtigte sich 176
Grünthals eine merkliche Unruhe. Er fing an, hinter allem, was dieser Proskow tat oder unterließ, zielstrebiges Forschen zu vermuten. Er hatte ein Boot bestiegen, mit festem, genau abgestecktem und navigiertem Ziel, das Boot schwamm noch immer, und doch hatte er das scheußliche Gefühl, es triebe einem unbekannten Strand entgegen. Irgendwie schien sich die Perfektion seines Verbrechens gegen ihn zu richten, er war in eine Art freiwillige Isolation geschlittert. Er konnte weder zu Wenckmann gehen, noch konnte er freundlich plaudernd bei Herrn Wirth erscheinen, um sich nach der Richtung zu erkundigen, in die sich dieser verdammte Proskow vortastete. Noch weniger aber gefiel ihm der Gedanke, daß er selbst sich als Stümper erwiesen haben sollte. Grünthal glaubte, und das durchaus mit einiger Berechtigung, daß ausgerechnet die Anwesenheit Katzers den Kommissar hatte stutzig werden lassen. Die Frage, die sich Proskow gestellt haben mußte, erschien ihm plötzlich so klar, als liefe sie in Leuchtschrift über das Haus dieses Bahnbeamten. Die Frage nämlich, was ihn, den Herrn Grünthal, bewogen haben könnte, einen Dreckskerl wie diesen Katzer aufzunehmen, zu bewirten, ihm Freiheiten zu gestatten, anstatt ihn umgehend hinauszuwerfen. Und was bisher zwar vorsorglich einkalkuliert war, jetzt wurde es unumgängliche Notwendigkeit. Ein Mann wie Katzer würde, wenn es um den Kopf ging, noch dazu um den Kopf eines anderen, nicht den schweigsamen Helden spielen. Besser, ja notwendig, man half nach, man brachte ihn zum Schweigen. Bis heute hatte er immer noch auf eine andere Lösung gehofft, obwohl es gar keine andere gab. Logik und Überlegung ließ keinen anderen Ausweg. Aber da waren 177
zwei Dinge, die ihn hatten zögern lassen, obwohl die Vorbereitungen längst liefen. Da war die Eile, zu der ihn Proskow zwang, und da war die Tatsache, daß ihm der Tod eines Katzer nicht den geringsten Nutzen brachte. Nutzen dahin interpretiert, daß man davon profitierte. Der Tod eines Katzer entsprang nicht berechnender Überlegung, er würde das Resultat einer Zwangshandlung sein. Es war Selbstbetrug gewesen, mit dem Gedanken zu spielen, Ernst Katzer tatsächlich zu einem Partner zu machen, in dem er ihn als Verbündeten einbaute, ihn sozusagen erpreßte. Nun, er hatte vorgesorgt. Zwischen zwei Möglichkeiten schwanken hieß nicht, sich nicht auf das Ärgste vorzubereiten. Und er war kein Sadist, der sich am Katz-und-Maus-Spiel ergötzen konnte. Er war ein berechnender, intelligenter Mensch, der Chancen und Aussichten abzuwägen verstand und sich dann entschloß. Aber auch ein Mensch, der nach einem gefaßten Entschluß nicht mehr zögerte. Und als in diesem Augenblick draußen ein schwarzer Opel-Kapitän hielt, lächelte Rainer Grünthal doch wieder. Der dicke Herr, der da eben etwas mühsam aus dem Opel kletterte, war nichts als eine unbedeutende Figur in diesem neuen Schachspiel. Man stellte offenbar etwas dar in dieser Stadt, wenn ein so bekannter Mann wie der Makler Kröger, alleiniger Inhaber der Firma ImmobilienKröger, am Sonntagmorgen persönlich einen Interessenten für ein luxuriöses Wochenendhaus aufsuchte. Ob man je an einen späteren Kauf ernsthaft dachte, blieb vorerst dahingestellt, wenn es auch vorteilhaft wäre, in nicht zu ferner Zukunft die Stadt zu verlassen. Aber vorläufig war das Vermögen noch zu beschränkt, als daß man es sinnlos verpulvern konnte. Es würde wachsen, ganz von 178
selbst, für lange Zeit ganz wie von selbst. Und es hatte nur zwei Tote gekostet. Leider aber würde es noch einen dritten kosten müssen. Während der kurzatmige Herr Kröger zigarrenrauchend den halb zugewehten Weg zum Haus entlangstapfte, war Rainer Grünthal ausgesprochen zuversichtlich. Es war ja alles so einfach. Selbst ein Katzer, eigentlich nur noch ein Toter auf einer Art Hochzeitsreise, hatte so viel Verstand bewiesen, daß er zwar vor diesem anrüchigen Fräulein Ruth allerhand geschwafelt und geprahlt, aber keine Silbe über seine Vermutungen verloren hatte. Ein wenig fühlte er sich von der Erinnerung an die vergangene Nacht peinlich berührt, dann ging er öffnen. „Sie beschämen mich. Wirklich, ich hätte doch auch zu Ihnen kommen können. Zumal …“, er zögerte etwas und beglückwünschte sich dann doch zu seiner Ergänzung: „Sie müssen wissen, mein Mädchen für alles, Chauffeur, Gärtner und Diener in einem, hatte gestern seinen ersten freien Tag. Nun ja, und nun schläft er noch.“ Kriminalmeister Stengel gab sofort die Wagennummer an Kommissar Proskow durch. Er saß in der guten Stube der Familie Wirth, die ihn zwar erstaunt, aber doch hilfsbereit eingelassen hatte. Und obwohl Stengel, wenn auch mehr aus Höflichkeit, gegen soviel Umstände protestiert hatte, war er doch heilfroh, daß Frau Wirth ihm einen elektrischen Heizkörper an das Fenster gestellt hatte. Seine Haupttätigkeit bestand indessen darin, hin und wieder den Skalenknopf seines Kofferradios zu drehen. Er blieb auch ruhig sitzen, als Herr Grünthal eine halbe Stunde später seinen Gast höflich bis zum Wagen geleitete. 179
Einige Zeit vertrieb er sich dann die Langeweile damit, durch ein Fernglas zu beobachten, wie heftiger Wind feine Schneeschleier vor sich her trieb, die Grünthals Fußspuren schon nach kurzer Zeit wieder verwehten. Gegen Mittag erschienen Grünthal und Katzer vor dem Haus. Der Kriminalist richtete sich erwartungsvoll auf, er wurde sogar etwas unruhig, als beide um die Gartenecke außer Sichtweite verschwanden. Aber als sie, mit Schneeschiebern bewaffnet, wieder auftauchten, atmete er auf. Stengel reckte sich, gähnte herzhaft, angelte aus der Seitentasche seines über der Stuhllehne hängenden Mantels sein Stullenpäckchen, wickelte es lustlos auf, zog die Nase kraus und wickelte die Stullen wieder ein. Er erhob sich steif, warf einen schiefen Blick auf die schneeschiebenden Männer und begann eine Wanderung rings um den Wohnzimmertisch. Nach vier Umkreisungen hielt er vor seinem auf dem Fußboden stehenden Kofferempfänger an. Obwohl der Apparat einwandfrei spielte, faßte er nach der ausgezogenen Steckantenne. Er hielt sie einige Sekunden fest, sein nachdenklicher Blick glitt den schlanken Metallschaft hoch und wieder herunter. Sehr in Gedanken, begann er erneut die Wanderung um den alten, eichenen Ausziehtisch. Neben dem Radio blieb er doch wieder stehen, sah zum Fenster hinaus auf die beiden Schneeschipper, und wieder betrachtete er sich die Stahlantenne. Zwei Meter, überlegte er, zwei Meter lang … zwei Meter! Wieder wandte er sich ab, drehte sich nach der Antenne um, packte sie nochmals und versuchte sie zu biegen. „Verdammt stabil.“ Er war von dieser Feststellung 180
ebenso beglückt wie beunruhigt. Er hatte einfach Hemmungen; wieso sollte er etwas Entscheidendes entdecken? „Man müßte …“, und schon ergriff er den Apparat. Wie eine Schrotflinte nahm er ihn in Brusthöhe und zielte mit der Antennenspitze auf die Steckdose neben dem Lichtschalter. Er traf nicht nur genau mitten auf die Halteschraube – die Antenne hielt auch einigem Druck stand. Hastig griff er zum Telefon; Proskow meldete sich sofort. „Chef! Ich …“ „Na, was ist denn?“ „Chef … mein Radio!“ „Ist es endlich kaputt?“ „Nicht doch – die Antenne, Chef! Damit zum Beispiel könnte man bequem durch ein Luftloch im Fensterladen stochern. Stabil genug ist sie auf jeden Fall!“ Der Kommissar schwieg einige Sekunden, dann brummte er anerkennend: „Nicht übel, mein Junge. Wenn auch nur eine Möglichkeit, trotzdem, gut überlegt!“ „Mir wär’ lieber, ich könnte hier das Feld räumen, Chef! Heute ist schließlich Sonntag!“ Wieder zögerte Proskow. „Warte bis zur Dunkelheit“, gab er schließlich nach. „Und morgen bleib besser draußen. Gehe auf und ab oder setze dich in den Wagen – vergiß nicht, Grünthal soll dich ruhig sehen!“ Am Montag gegen fünfzehn Uhr, als Stengels einzige Sorge nur noch in der Überlegung bestand, wie er seinen vom Schnee halb zugewehten Wagen wieder flottbekommen sollte, verließ zu seiner Überraschung Grünthal das Haus. Während er an dem Auto vorbeiging, schlug er 181
den Mantelkragen hoch und tat, als bemerke er seinen Bewacher nicht. Der elegante Herr Grünthal marschierte zielstrebig in Richtung der Innenstadt, wandte sich weder um, noch schien er sich im geringsten um seinen Verfolger zu kümmern, der ihm zu Fuß folgte. Stengel hatte das niederträchtige Gefühl, daß er weniger einen Auftrag erfüllte, sondern eher einem Wunsch Grünthals nachgab. Eine halbe Stunde später tauchte Stengel bei Proskow auf. „An Anordnungen halten wir uns wohl überhaupt nicht mehr?“ sagte der Kommissar mürrisch. „Aber immer, Chef“, behauptete Stengel. „Herr Grünthal beliebte nämlich auszugehen. Und wissen Sie, wohin?“ „Kann sein, daß ich das von dir erfahre.“ „Auch richtig, Chef. Er wanderte nämlich schnurstracks zur Sparkasse. Und was meinen Sie, was er dort machte?“ „Sich über dich amüsieren.“ „Das wohl auch. Aber damit allein hat er sich nicht begnügt. Er hob nämlich außerdem sein gesamtes Vermögen bis auf eine niedliche Mark ab. Wie finden Sie das?“ Proskow antwortete nicht. Wozu brauchte Grünthal plötzlich so viel Geld? Immerhin, der gestrige Besuch des Immobilienhändlers konnte bedeuten, daß Grünthal ein anderes Haus kaufen wollte. Nur, Grünthals Vermögen betrug nicht einmal ganze zehntausend Mark. Dafür bekam man nichts, was einigermaßen nach einem Haus aussah. Er konnte natürlich sein jetziges mit in Zahlung geben, aber welchen Wert hatte das nach der Explosion noch? Oder ob er einfach verschwinden wollte, der Herr Grünthal? 182
Aber eben weil es um Grünthal ging, konnte die ganze Sache einen ganz anderen Sinn haben. Mochte der Teufel wissen, was er da nun wieder ausheckte. „Stengel“, sagte er nun und erhob sich unruhig, „die Sache gefällt mir herzlich wenig. Trotzdem, lassen wir die Spielerei mit der Überwachung.“ „Ein blendender Einfall“, versicherte Stengel eilig. „Abwarten.“ Hätte Grünthal den Makler nicht schon vor der Überwachung eingeladen, man könnte darin ein Zeichen von Nervosität sehen. Und dann, gesetzt den Fall, Grünthal wollte wirklich die Stadt verlassen, was würde dann eigentlich aus Katzer? Wollte er den Kerl etwa mitnehmen? Und wenn, warum und wozu?
183
18. Es schien, Ernst Katzer empfand das mit dem abnehmenden Tag immer stärker, als habe sich Herr Grünthal nun endgültig mit seiner Gegenwart im Haus abgefunden. Aber es war die Erfüllung jener hartnäckigen und wilden Traumvorstellungen langer Gefängnisnächte, die Katzers unruhige Wachsamkeit, sein sprunghaftes Mißtrauen überraschend einschläferten. Zwei Abende lang hatte er genossen, was jene Träume ihm vorgegaukelt hatten, und nun wartete er schon ungeduldig auf die kommende Nacht. Auch Herr Grünthal war heute umgänglicher, nicht von jener kühlen Neutralität, die so verdammt unsicher machte, weil man nicht wußte, wie man diese Kälte mit den gewährten Freizügigkeiten in Einklang bringen sollte. Heute Abend saß man sich nicht nur in bequemen Sesseln gegenüber, man plauderte nicht nur wie zwei rechtschaffene Bürger, Herr Grünthal machte sogar etwas, was man bisher noch nicht gesehen hatte, er trank ein Gläschen mit. Das mochte natürlich daran liegen, daß es nicht den billigen Fusel gab wie sonst, sondern echten Asbach Uralt. Irgendwie hatte man das Gefühl, nun in gehobene Gesellschaft aufgestiegen zu sein. Nein, Herr Grünthal war eigentlich entschieden netter, als er bisher vorgetäuscht hatte. Ein launiger Gesellschafter, wie man so etwas hatte nennen hören, wenn eben bloß nicht im Hintergrund jene verdammte Frage lauerte, ob er nun seine eigene Frau und den „Nebenbuhler“ so elegant um die Ecke gebracht hatte oder nicht. Besser, man dachte schnell wieder weg. 184
Und überhaupt, hatte man das nötig, sich den Kopf zu zerbrechen, wo doch alles so wunderbar lief, besser, als man es zu träumen gewagt hatte? Wenn man sich nicht zu dämlich anstellte, war alles tatsächlich so einfach, wie man es gelegentlich in Filmen gesehen und natürlich bezweifelt hatte. Da wurden in knapp neunzig Minuten aus armen Schluckern Millionäre, völliger Blödsinn. Und doch, was war er selbst vor einer Woche gewesen? Sich über ein paar Kekse und drei Villinger-Stumpen zu freuen, nicht zu fassen … Heute gelang sogar das, was einen fast wütend gemacht hatte, weil man Herrn Grünthal nicht mit der Schilderung gewisser Details nächtlicher Beziehungen hatte kommen können, heute hörte er bereitwillig zu. „Hoffentlich überlegt sie sich’s noch“, seufzte Ernst Katzer. „Sie wußte nämlich noch nicht genau, ob sie kommt oder nicht.“ Grünthal hob bedauernd, aber mit einem gewissen Wohlwollen die Schultern. „Ich fürchte“, sagte er dann, „Sie machen sich vergebliche Hoffnungen. Sie kommt heute bestimmt nicht.“ Er war sofort wieder der unnahbare Hausherr. „Wird doch nicht Ihr Ernst sein, Chef?“ Herr Grünthal, nun wieder ganz der alte, antwortete: „Sie sollten mich so weit kennen, daß ich genau das sage, was ich meine. Mithin – Fräulein Ruth kommt heute nicht. Und dann sollten Sie mich nicht immer Chef nennen. Ich finde, das klingt unangenehm nach Komplicenschaft.“ Ernst Katzer merkte verwundert, daß sie nun doch genau bei jenem Thema waren, das ihm so wenig behagte. Aber er war nicht nur zu naiv, darin die Absicht seines Gegenübers zu erkennen, er überschätzte sich auch schon 185
wieder. „Vielleicht“, krähte er anzüglich, „sind wir tatsächlich welche, was?“ Grünthal tat verärgert. „Ich kann mich nicht erinnern, außer Hausarbeiten etwas mit Ihnen gemeinsam unternommen zu haben.“ „Na und? Was nich is, kann noch werden, Chef!“ erklärte Katzer großspurig. Aber dann kam er starrsinnig auf sein Lieblingsthema zurück. „Chef … ich möchte doch gern mein nacktes Häschen wiederhaben!“ „Verständlich“, gab Grünthal, nun wieder freundlicher, zu. „Nun ja, wenn es unbedingt sein muß, so werden Sie sich aber wohl auf den Weg zu ihr begeben müssen.“ Er sollte zu ihr gehen? Was war denn nun kaputt? Der wollte ihn nicht nur fortlassen, der schickte ihn geradezu! Wollte der ihn so ganz elegant abservieren? Aufpassen, alter Junge! Dieses Leben war so angenehm, daß man nicht ohne Widerstand darauf verzichtete. „Ist was passiert?“ Er goß sich vorsorglich erst mal einen Asbach ein. „Was soll passiert sein?“ „Na ja, Chef! Ich hab’s doch gemerkt, daß Sie mich lieber gern in der Nähe hatten. Und nun auf einmal?“ „Muß da etwas passiert sein?“ Wieder war es Grünthals überhebliches Lächeln, seine fatale Sicherheit, die Katzers Reaktion bestimmte. „So nicht, Chef“, sagte er laut, wenn auch schon mit einiger Mühe, „Sie können mich ja nicht ganz und gar für dumm verkaufen. Sie alter Schwede, Sie haben nämlich einen ganzen Haufen Dreck an den Sohlen. Das sage ich Ihnen als Fachmann!“ „Und worin soll der Dreck, wie Sie sich so freimütig auszudrücken belieben, bestehen?“ 186
Ich mach’ ’n Fehler, dachte Katzer, ich sollte lieber die Schnauze halten. Aber noch während er sich klarzuwerden versuchte, rissen ihn Ärger und vor allem der Alkohol fort. „Weil ich an Ihr Märchen vom Selbstmord nicht glaube!“ „Interessant“, sagte Grünthal fast vergnügt, „kein Selbstmord also. Was aber sonst?“ „Als wenn’s da noch große Auswahl gäbe! Bleibt bloß … Mord!“ „Ausgezeichnet! Also Mord, gut, und weiter?“ „Dann …“ Verflucht noch mal, der aalglatte Hund reagierte wieder ganz anders, als man sich das vorgestellt hatte. Warum stritt der nicht, wie sich das bei so einer verfluchten Geschichte wie von selbst gehörte? Mann, ist das ’ne Type … „Was dann?“ „Dann … dann … Herrgott, dann wären Sie ein Mörder, is doch logisch?“ „Ausgezeichnet“, lobte Grünthal. „Nehmen wir mal an, es stimmt. Wie dann weiter?“ „Weiter?“ Der macht mich noch ganz irre. Weiter! Wieso wie weiter? Was war dann, wenn es wirklich stimmte? Was änderte das? Gar nichts, einen Dreck. Oder doch nicht? Klar, ändern würde sich was. Eine Gewißheit war ganz etwas anderes als ein Verdacht, leuchtet doch jedem ein. Was mach’ ich jetzt? ‚Nehmen wir an, es stimmt’, quatscht der da so einfach vor sich hin. Stimmt’s nun, oder spinnt der bloß? Aber der sah gar nicht wie ein Spinner aus … „Blödes Thema.“ Ernst Katzer lachte verlegen. Besser, man bekam keine Gewißheit. Alles würde sich dann ändern. Aber es sollte so bleiben. „Und überhaupt, Chef, die Bullen hätten Sie doch schon längst 187
am Arsch, wenn … na ja. Trinken wir lieber einen.“ „Oh“, sagte Grünthal leichthin, „was das anbetrifft, das ist eine reine Frage der Intelligenz, mein lieber Freund.“ Ernst Katzer spürte auf einmal eine regelrechte Wut auf Grünthal. „Sie mit Ihrer blöden Intelligenz, Mensch! Aber ganz so gescheit haben Sie sich doch nicht angestellt – mich zum Beispiel haben Sie glatt übersehen.“ Als täte ihm seine Heftigkeit sofort wieder leid, setzte er etwas gönnerhaft hinzu: „Aber wenn schon, Chef, dann haben Sie’s verflucht gerissen angekurbelt. Das ist direkt Klasse.“ „Nehmen wir an, es war so“, sagte Rainer Grünthal langsam, „dann wäre mir ein leider nicht einkalkulierbarer Zufall dazwischengeraten. Nämlich der, daß Sie ausgerechnet an jenem Abend in meiner Garage landen mußten. Ein sonderbarer Zufall, wo es doch genügend andere Garagen gibt, nicht wahr?“ „Aha“, höhnte Katzer aufgebracht, „der berühmte Zufall! Am Ende haben Sie dann Ihre Frau bloß aus Zufall umgebracht, was?“ „Keineswegs“, gestand Grünthal lächelnd. „Nehmen Sie ruhig an, sie wäre mir im Weg gewesen, eine Art Hindernis.“ „Und der Mann?“ „Auch“, sagte Grünthal lakonisch, mit dem bisherigen Gesprächsverlauf durchaus zufrieden. Die Würfel waren gefallen. Er konnte nicht mehr zurück. Er schien sogar, als regelten sich auch diesmal gewisse Widerwärtigkeiten wie von selbst, ähnlich wie vor einer Woche. Auch dieser Aufpasser von der Kripo war verschwunden. Das Wetter würde ihn an zuviel Diensteifrigkeit hindern. Dieses Wetter, das so vorzüglich in den Plan paßte. Man konnte 188
fast an einen Pakt mit dem Wettergott glauben, so exakt stellten sich die benötigten Bedingungen ein, wie schon einmal, als der Wind sich bereitwillig gedreht hatte. Er lauschte mit Genugtuung dem heulenden Westwind, der unaufhörlich Schneemassen durch die Straßen jagte, wirbelnd um Hausecken tobte; eine Art gigantisches Orchester für ein Begräbnis. Ernst Katzer, ewig unentschlossen und zwischen Verstand und Gefühl schwankend, wollte nun plötzlich mehr wissen. „Dann waren Sie das also doch, der durch die Garage schlich, nicht?“ Grünthal sah ihn neugierig an, nickte etwas eitel und gab nach kurzem Zögern zu: „Genau! Nur muß Ihnen entgangen sein, daß ich sie auf dem gleichen Weg wieder verlassen habe.“ „Wozu ’n das?“ „Aber, aber! Noch nie etwas von einem Alibi gehört? Na also! Ein gutes, unerschütterliches Alibi ist weitaus besser als zehn Rechtsanwälte. Und welch eine Freude zu sehen, wie sich jemand an einem solchen vorzüglichen Alibi die letzten Zahne ausbeißt.“ „Na, na!“ „Zum Beispiel eins, bei dem eine Uhrzeit die Hauptrolle spielt, obwohl die Zeit gar nicht stimmt.“ „Wie ’n das? Den Schwindel merkt doch die Straßenbahn sogar.“ „Sie irren, junger Freund. Man kann bekanntlich Uhren verstellen, nicht wahr? Zum Beispiel während einer Schachpartie. Wesentlich ist nur, daß man die gleiche Uhr ganz unauffällig wieder auf mitteleuropäische Zeit bringt. Durch einen Spalt im Fensterladen, mit Hilfe einer ausziehbaren Autoradioantenne.“ 189
Katzer gab einen Laut von sich, der ebenso Anerkennung wie Unglaube ausdrücken konnte. „Aber daß Ihnen dann die Villa hier bald um die Ohren geflogen ist, das war ’ne Panne, was?“ „Aber keineswegs! Nein, nein, auch das hatte alles seine Richtigkeit, von den Vorteilen gar nicht zu reden. Zum Beispiel lassen sich nach einem durch rücksichtslose Feuerwehrmänner gelöschten Brand kaum noch Spuren sichern. Und ich, sah ich nicht geradezu bedauernswert aus? Dieser Schicksalsschlag, entsetzlich, nicht wahr? Die liebe, gute Frau tot, der künftige Stammhalter auch und ein lästiger Nebenbuhler, der gar keiner war, noch dazu … Und dann noch diese schreckliche Explosion, durch die der bedauernswerte Gatte noch bemitleidenswerter wird, ist er doch auch nur mit knapper Not dem Tod entronnen … Die Idee ist, das müssen Sie zugeben, doch durchaus originell, nicht wahr?“ Wie redete denn der? Der quasselte hier so munter, als erzähle er vom letzten Sängerfest in der Lüneburger Heide. Wenn ich bloß nicht schon wieder halb besoffen wäre! Der spinnt doch! Originell nennt der das, du lieber Gott! „Verstehe bloß nicht, warum …“ „Aber, aber!“ Herr Grünthal lächelte unentwegt. „Sehen Sie, dieser Herr Hillmann! Ein armseliges Würstchen, aber ein Genie. Und da kommt solch ein Mensch daher, setzt sich hin und verfaßt einen Roman, daß man an seinen eigenen Fähigkeiten zu zweifeln beginnt. Man möchte gar nicht glauben, daß er nur Holzfäller war. Ein wunderbares Buch, ganz entzückend, wird kolossales Aufsehen erregen.“ Ernst Katzer stierte trunken auf den lächelnden Mann im Sessel gegenüber, begriff aber merkwürdig rasch. 190
„Und Sie haben’s ihm geklaut!“ „Na, fabelhaft!“ Grünthal gefiel sich immer mehr in seinem Zynismus. „Wobei ich natürlich gegen den harten Ausdruck klauen protestieren muß. Denn was ist das schon, einem Waldläufer die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten zu zeigen? Nennen Sie es lieber Schicksal oder höhere Gerechtigkeit, und ich wäre lediglich der verlängerte Arm der Gerechtigkeit gewesen und obendrein ein zuverlässiger Arm. Kommt der Mensch daher und will Fachleute beschämen! Das wäre genau, als wenn Sie plötzlich Innenminister werden sollten.“ Katzer kam sich vor, als lausche er einem Hörspiel im Radio und nicht der Schilderung eines Verbrechers. „Jaja, lieber Freund, so war das. Das Schicksal führte ihn zu mir, gab ihm die Auflage, sich beim Tanken an mich zu wenden. Er hatte gehört, daß ich in jener Branche tätig bin, in die er sich einschleichen wollte. Ich war anfangs keineswegs entzückt über seinen ungeschickt vorgetragenen Wunsch, durchaus nicht. Schließlich suchte er jemanden, der ihm sein Geschmarkel in flüssiges Deutsch überträgt. Ein wahrhafter Esel, der liebe Hillmann. Selbstverständlich erkannte ich schon nach den ersten Seiten den fast unglaublichen Wert seiner Arbeit. Ein Esel, aber ein genialer Esel. Es kommt ganz gewiß nur alle zehn Jahre vor, daß Menschen wie dieser Hillmann kometenhaft aufsteigen können. Unverdientermaßen, denn wo ist bei einem Naturtalent das Verdienst? Eine Million erben ist schließlich auch kein Verdienst, wenn natürlich auch wunderbar … können Sie mir noch folgen?“ „Klar, Chef“, bestätigte Katzer und öffnete zur Bestätigung die Augen, die ihm seit Minuten immer wieder zufielen. Und um seine Reaktionsfähigkeit zu beweisen, 191
fragte er gemacht munter: „Verstehe bloß nicht, was das nun alles mit … mit Ihrer Frau zu tun hat?“ Grünthal blickte einen Moment prüfend seinen unfreiwilligen Beichtvater an. So betrunken, wie er gefälligst zu sein hatte, schien er wohl doch noch nicht zu sein. Nun, das ließ sich natürlich ändern. „Eine sehr berechtigte Frage“, meinte er dann, nachdem er vorsorglich Katzers Glas nachgefüllt hatte. „Aber ich sagte ja schon, daß sie nicht einer plötzlichen Laune zum Opfer fiel. Sehen Sie, leider war sie eine jener treusorgenden Gattinnen, gewissenhaft, überaus besorgt, aber bar jeder Phantasie, mit Ausnahme einer einzigen Gelegenheit, als sie einen bestimmten Brief schrieb …“ Er stockte einige Sekunden und bedachte ernsthaft, daß er eigentlich in Wahrheit nie ausprobiert hatte, ob sie nun wirklich so ganz und gar phantasielos gewesen war. „Nun ja, dafür aber war sie früher eine durchaus begabte Sekretärin gewesen, schrieb fließend und viel besser als ich Maschine, beherrschte, wahrscheinlich auch besser als ich, unsere Muttersprache, war also geradezu prädestiniert, diesem Herrn Hillmann in uneigennütziger Weise zu helfen, nicht wahr? Eine vorzügliche Idee auch das, wie Sie zugeben müssen. Vor allem, wenn Sie bedenken, daß ich jeweils meinen regelmäßigen Schachabend hatte, wenn Hillmann und meine Frau arbeiteten. Eine völlig logische Entwicklung, daß die lieben Nachbarn alsbald von einem Verhältnis hinter meinem Rücken munkelten, was natürlich der Zweck des Arrangements war. Es lief hervorragend. Der schüchterne und äußerst diskrete Herr Hillmann brachte also seine Seiten, die man mit viel Geduld korrigierte. Meine liebe, gute Frau machte eifrig Notizen, arbeitete bis zum nächsten Mittwoch alles säuberlich auf – und ich hatte weiter nichts zu tun, 192
als Abend für Abend Seite um Seite abzuschreiben, mit kleinen Änderungen mitunter. Selbstverständlich hatte ich Hillmann meine Dienste für den Tag angeboten, da sein Werk beendet sein würde, womit ich zugleich verhinderte, daß er das tat, was ich inzwischen längst eingerührt hatte. Ich bin ja vom Fach, schickte also die ersten hundert Seiten zu einem Verlag, bekam wie erwartet einen großzügigen Vertrag und dazu die ersehnte Vorauszahlung, wovon wir jetzt übrigens so harmonisch leben. Wie gesagt, die Sache lief hervorragend. Leider aber mußte sie spätestens an jenem Tag ihr ‚Ende finden, da Herr Hillmann den letzten Punkt hinter seine Arbeit setzte. Und ebenso leider hätte meine Frau so gar kein Verständnis für meinen Akt ausgleichender Gerechtigkeit aufgebracht.“ Ernst Katzer, der die Zusammenhänge zu seiner eigenen Verwunderung ganz gut begriff, starrte eher mit einer Art staunender Neugier als mit Abscheu auf Grünthal. Ein Schwein, ein wahrhaftes Schwein, dieser Schicksalsspieler gegen Bargeld. Dagegen war er ein sanfter Engel. Aber so geht das hier, Fürsten in Lumpen und Loden – und Gauner im Frack. Die Sorte da lebte einen herrlichen Tag, unbeschwert und rücksichtslos, und unsereiner vergreift sich mal an einer herumliegenden Brieftasche und ist für den Rest seines Lebens abgestempelt wie ’n Luftpostbrief. Na ja, die ganze Welt war sowieso beschissen eingerichtet. Sah man sich den Mann da an, wie er so im Sessel saß, mit dem treuen Blick … saß da, plauderte mit Vergnügen und war, das stand ja nun fest, ein selten rabiater Kerl. Und so was lebte! Und wie das lebte! Ankotzen müßte man das Schwein. Kotzen wie damals, als sie ihn aus dem Auto gezerrt hatten. Und dann die Polizei! Die stellte sich wieder mal oberdußlich 193
an. Bei ihm, ja, da waren sie flink gewesen, kein bißchen dußlich. Na ja, war ja ganz gut, daß sie jetzt nicht zu gescheit waren, schließlich lebte man dadurch ganz gut. Aber eine Schweinerei ist es doch … Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß Grünthal gegen sämtliche Regeln verstoßen hatte. Wieso erzählte der ihm eigentlich den ganzen Schwindel? Und wieso lächelte er ihn nun auch noch an? Schien sich nun, nach seiner Generalbeichte, noch wohler zu fühlen. Ulkiger Knabe; saß da, strahlte und hatte ohne Hemmungen die eigene Frau und einen wildfremden Mann getötet. Grünthal brauchte die Gedanken Katzers weder zu erraten noch zu erforschen. Er wußte, daß Katzer jetzt genau da sein mußte, wo er ihn haben wollte. Er beugte sich etwas vor und begann, zum Schein leicht verlegen: „Ich glaube, Sie fragen sich nun, warum ich Ihnen das alles so freimütig berichtet habe, nicht wahr? Ja, wie soll ich mich ausdrücken … sagen wir so: Ob es mir nun recht ist oder nicht, auch uns hat das Schicksal zusammengeführt, verschweißt, möchte ich sogar erweitern. Und wie Sie richtig bemerkten, ich hatte ein wachsames Auge auf Sie. Aber ich habe keine Lust, ewig den Aufpasser zu spielen, obwohl, das muß ich anerkennen, Sie sich relativ vernünftig benommen haben. Dadurch ist mein Vertrauen immerhin so weit gestiegen, daß ich Sie ohne Aufsicht lassen konnte. Es hätte ja leicht sein können, daß Sie meine Abwesenheit nicht in meinem Sinn nutzten, beispielsweise um einem ‚Lodenonkel‘ – ein hübscher Ausdruck übrigens, mein Kompliment – gewisse Beobachtungen zu hinterbringen. Nun, zwar haben wir den Herrn noch immer im Nacken, aber wir brauchen ihn kaum zu fürchten, solange Sie sich vernünftig verhalten.“ 194
„Hoho!“ grölte Katzer dazwischen. „Ich kann immer noch …“ „Nun“, wehrte Grünthal leichthin ab, „das werden Sie uns doch nicht antun? Ich betone, uns! Und natürlich habe ich mich auch gegen die von Ihnen so unbedacht geäußerte Möglichkeit nach Kräften gesichert, lieber Freund. Vergessen Sie nicht, daß wir unter uns sind, also ohne Zeugen. Selbst eine wortgetreue Schilderung unserer Unterhaltung könnte mein vorzüglich aufgebautes Alibi nicht wesentlich erschüttern. Leider aber haben Sie auch noch eine Kleinigkeit übersehen, nämlich die Tatsache, daß Sie mit mir in einem Boot sitzen. Stellen Sie sich vor, bei dem von Ihnen soeben angedrohten Fall würde ich als Gegenmaßnahme – oder meinetwegen als Revanche – von Ihrer Mittäterschaft berichten. Protestieren Sie ruhig, aber bedenken Sie dabei gewisse Vorbehalte gegen Ihre Vergangenheit, von deren Berechtigung mal ganz abgesehen. Denn selbstverständlich kann ich Sie Tage vorher engagiert haben, Sie könnten zum Beispiel einen Gashahn geöffnet haben, falls Sie mein Alibi nicht schon vergessen haben sollten. Ich war, das muß der Zeuge Wenckmann sogar beschwören, zur Tatzeit bei ihm. Wenn ich ferner sagen würde, daß ich Sie mit zehntausend Mark für Ihre Hilfsbereitschaft honoriert hätte – Ihre Chancen ständen mäßig.“ „Zehntausend?“ lallte Katzer, sofort etwas munter. „Wenn ich die bloß hätte!“ „Nun“, sagte Grünthal langsam und faßte auffällig nach der Brusttasche, „darüber ließe sich doch reden.“ Ernst Katzer schien einen Augenblick fast nüchtern zu sein, als er gierig auf das beeindruckende Geldbündel starrte, mit dem Grünthal vor seinem Gesicht hin und her wedelte, als fächele er sich frische Luft zu. 195
„Geben Sie her!“ verlangte er heiser und taumelte hoch. „Aber, aber“, wehrte Grünthal belustigt ab, „natürlich sollen Sie es haben, aber doch nicht jetzt!“ „Jetzt … jenau …“ „Überlegen Sie doch mal in Ruhe“, beschwichtigte ihn Grünthal gelangweilt. „Wie ich Sie kenne, wird es Sie heute doch noch zu dem – zugegeben – niedlichen Ruthchen ziehen, nicht wahr? Und was wollen Sie bei der mit so viel Geld?“ „Ich weiß ja nicht mal, wo sie wohnt, die Kleine“, maulte Katzer, obwohl er sich nur widerwillig auf dieses Gleis lenken ließ. „Zehntausend Piepen, du lieber Himmel!“ „Nun, nun, auch das läßt sich regeln. Und überhaupt, wollen wir doch ab heute ganz aufrichtig zueinander sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich selbst würde es auch begrüßen, wenn Sie heute Abend außer Haus wären. Was liegt da näher, als Ruthchen zu besuchen? Angenehmes mit Nützlichem zu verbinden? Auch ich erwarte einen Gast … nein, nein, keine Frau, rein geschäftlich. Wissen Sie was?“ Er sah prüfend auf die Uhr, fand die zehnte Abendstunde durchaus geeignet und erhob sich. „Ich bringe Sie einfach ein Stück, einverstanden? Allerdings, aber das konnte ja vorher niemand bedenken, wohnt Fräulein Ruth nicht in der Stadt, sondern in Niederstetten, das sind etwa zwei Kilometer Fußmarsch.“ Während dieser Erklärung war Grünthal an das Fenster getreten, gab sich besorgt, als er durch die Gardine nach draußen sah, und meinte zögernd: „Das Wetter ist nicht sehr ideal für einen solchen Spaziergang … ich weiß nicht recht.“ Ernst Katzer rappelte sich taumelig auf, stand breitbeinig vor seinem Sessel, glotzte auf Grünthals Rücken. 196
Was sabbelte der da? Als ob er nicht mehr geradeaus laufen könnte! Ein Katzer lief auch noch nach zwei Flaschen von dem Zeug da bei Regen durch die Elbe. Pinkel, blöder! „Aber“, verlangte er starrsinnig, „den Zaster, den kriege ich gleich morgen?“ „So wahr ich hier stehe“, versetzte Grünthal gemessen. Er lächelte den Betrunkenen zuversichtlich an und bewies seine Großzügigkeit mit weiteren Angeboten. „Wissen Sie was? Nehmen Sie sich einen anständigen Anzug von mir, dazu einen Mantel und festes Schuhwerk, und wir gehen gemeinsam, wenigstens bis zur Landstraße. Wir können nämlich den Weg abkürzen, wenn wir gleich hinten durch den Gatten gehen. Trinken Sie noch einen, stecken Sie sich noch eine Flasche als Proviant ein, und dann: viel Spaß.“ Er schob ihn aus dem Zimmer, geleitete ihn in sein Schlafzimmer und ließ Katzer in seinen Anzügen kramen, während er selbst die Straße nach einem möglichen Beobachter absuchte. Eine Viertelstunde später verließen beide das Haus durch die hintere Garagentür. Katzer murmelte noch etwas von Autofahren, ließ sich aber doch auf den zugewehten Gartenweg dirigieren. Und es sah wie selbstverständlich aus, daß Grünthal die tiefen Fußspuren des vor ihm durch den Schnee stapfenden Katzers nutzte, wenn er auch notgedrungen einer Schlangenlinie folgen mußte. Am Türchen, über das man wegen zu hoher Verwehungen klettern mußte, vergewisserte sich Ernst Katzer nochmals, während Grünthal ihn mühsam und schwer atmend im Gleichgewicht zu halten versuchte: „Aber Chef, die Zehntausend … gleich morgen früh?“ 197
„Pst“, zischelte Grünthal hastig. „Ja doch! Sie haben es ja schon so gut wie in der Tasche.“ Fast zur gleichen Zeit stürmte auch Stengel durch die Straßen, auf Proskows Wohnung zu. Ein Auto zu benutzen war völlig witzlos geworden, und er verfluchte Wetter, Arbeit, Polizei, den Kommissar und vor allem den aufgeblasenen Herrn Krampa. Auf den schimpfte er noch mit der ganzen Überzeugungskraft seiner Jugend, während er unentwegt rings um Proskows Wohnzimmertisch stakte. Der Kommissar saß trotz der späten Stunde ausgehfertig in seiner Sofaecke und hörte mit einem Gesichtsausdruck zu, als zweifle er an Stengels Verstand. „Falls Krampa nur die Hälfte seiner Drohungen gegen Sie realisiert, werden Sie noch wegen ein paar Rühreiern vorzeitig in Pension gehen, Herr Kommissar!“ „Möglich. Aber bestimmt nicht wegen eines Eierkopfes. Zum Beispiel wegen einem, der offenbar meine Privatwohnung mit meinem Dienstzimmer verwechselt. Meinst du nicht, daß dein Quark bis morgen Zeit gehabt hätte? Wie bist du überhaupt zu so später Stunde an den Eierfritzen geraten?“ „Hatte ich nicht den Auftrag, mich an der EssoTankstelle umzuhorchen? Und da sich dieser Krampa natürlich einen Chauffeur leisten kann, kreuzte er da auf. Mag sich doch der Fahrer plagen …“ „Entweder höre ich jetzt etwas Gescheites über Hillmann, oder ich schmeiße dich ’raus.“ „Dann fliege ich auf jeden Fall.“ Stengel lümmelte sich in die andere Sofaecke. „Er war nämlich ganz und gar unbeliebt, der Herr Holzfäller. Und zwar deshalb, weil er den Mund nur aufmachte, wenn er mal ausspu198
cken mußte. Soll schweigsam gewesen sein wie seine Pitchpines und Zirbelkiefern, die er da in Kanada gefällt hat. Bemerkenswert wäre vielleicht, daß Hillmann vor einiger Zeit einmal gedroht haben soll, er werde für die Entlassung solcher Scheißkerle von Kollegen sorgen, wenn er es erst geschafft habe.“ „Was geschafft?“ „Weiß nicht … aber vielleicht wollte er tatsächlich die Tankstelle eines Tages kaufen oder wenigstens pachten. Was sonst wollte er schaffen? Die Kollegen deuteten so etwas an – Hillmann habe sich häufig Notizen gemacht, als wollte er eine Art Sündenregister anlegen.“ „Soso, Notizen!“ Der Kommissar stand unwillkürlich auf und begann eine unruhige Wanderung. Notizen! Sündenregister war natürlich Unsinn, wenn auch vom Standpunkt der Kollegen noch verständlich. Hillmann war verschwiegen gewesen, hatte mit niemandem über seinen Plan gesprochen. Vielleicht, um sich nicht lächerlich zu machen, vielleicht aus Veranlagung, vielleicht auch aus kühler Überlegung heraus. Und Notizen mußten für einen Schriftsteller, auch für einen werdenden, ebenso wichtig sein wie für einen Börsenspekulanten die Notierung der Aktienkurse. „Ich weiß, was Sie denken“, meldete sich Stengel unvermittelt. „Aber ich weiß nicht, ob das nicht ein bißchen lächerlich ist. Das riecht mir irgendwie nach einem schlechten Film, in dem ein ehrgeiziger Literatenjüngling unverdrossen in der Straßenbahn oder in der Stehbierkneipe jeden Witz notiert.“ Proskow hörte kaum hin. Gewiß, einen Beweis für seine Theorie, daß nicht Grünthal, sondern Hillmann der Verfasser jenes mit so viel Vorschußlorbeeren bedachten Romans war, hatte er noch längst nicht. Aber war es nicht eine ge199
wisse Bestätigung dieses Verdachtes? Ein Sündenregister, mit dessen Hilfe man später unbeliebte Kollegen strafen konnte, paßte doch überhaupt nicht zu einem schweigsamen Holzfäller. Beunruhigend aber wurden die Überlegungen, bezog man Katzer in diese Sachlage ein. Und aus diesen Gedanken heraus sagte er langsam: „Wir hätten ihn doch längst da ’rausholen sollen.“ „Von wem reden Sie denn jetzt?“ fragte Stengel verdutzt. „Von Katzer.“ „Dem scheint’s doch prächtig zu gefallen.“ „Noch, mein Junge.“ Stengel gähnte herzhaft und schlug vor: „Holen wir ihn eben einfach. Aber doch hoffentlich nicht gleich?“ Der Kommissar überging den Einwand. „Haben wir nämlich recht, dann verdankt Katzer seinen derzeitigen Lebensstandard nur dem Umstand, daß er die bekannte Laus im Pelz ist. Versetzen wir uns weiter in Grünthal hinein, so bleibt ihm nicht viel Auswahl. Entweder hat er Katzer ewig am Hals, oder er muß ihn loswerden. Stimmte aber unsere bisherige Ansicht, daß Grünthal auf seine Frau zielte, so lebt Katzer relativ sicher. Ein Mörder, der aus purer Eifersucht tötete, schreckt meist vor einem Verbrechen an Menschen, die ihm nichts bedeuten, zurück. Ging es aber um Hillmann, und das scheint mir nun so gut wie sicher, dann ging es um das ewige Motiv Geld, um viel Geld. Und für Geld bringt man eben heutzutage Menschen um, ganz und gar solche, die man nicht einmal kennt, zu denen man in keiner Verbindung steht.“ „Wozu lange reden, wir schnappen uns den ‚Hasen‘. Einen Grund für eine kleine Verhaftung finden wir in jedem Regal bei uns.“ 200
„Das schon“, sagte Proskow zögernd; er dachte an Vinker. Der würde nach spätestens zwei Stunden von Katzers Einlieferung unterrichtet sein und dann, mit Recht, auf den Grund für die Verhaftung bestehen. Gewiß, lange konnte er einer direkten Konfrontation mit ihm ohnehin nicht mehr ausweichen, und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Es war kein ersprießliches Arbeiten, mußte man dauernd dem Chef aus dem Weg gehen. „Na, gut“, entschloß er sich dann doch, „laß dir was einfallen. Meinetwegen bei Nacht, so mit leiser Musik. Bringe mir morgen früh, aber nicht erst zum Frühstück, irgendeinen unaufgeklärten Fall, den Katzer ausgefressen haben könnte. Aber Vorsicht, bringe mir ja keine Akte, an der ein Kollege herumbastelt! Mir reicht der Ärger schon so.“ „Geht klar, Chef.“ Stengel erhob sich, obwohl er keineswegs von der Dringlichkeit einer Schutzhaft für Katzer überzeugt war. Aber das lag weniger an mangelnder Einsicht als an einer Art anerzogener Verachtung oder zumindest Gleichgültigkeit gegen Vorbestrafte.
201
19. Der Kommissar meinte, eben erst eingeschlafen zu sein, als ihn das Telefon weckte. Dennoch war er sofort wach, griff zum Hörer, blinzelte gleichzeitig auf seine auf dem Nachttisch liegende Taschenuhr und nickte anerkennend vor sich hin. Es war halb sechs. „Chef?“ Die Stimme Stengels klang befremdlich erregt. „Chef, wissen Sie, was passiert ist?“ „Keine Ahnung.“ Proskow gähnte. „Stellen Sie sich vor – eben rief mich Grünthal an. Das heißt, nicht mich direkt; aber die Wache hat mich sofort mit ihm verbunden, weil sie mich schon gesehen hatte. Katzer soll verschwunden sein!“ Proskow hielt unwillkürlich den Hörer einen halben Meter von sich, kratzte sich mit der anderen Hand die Brust, hustete, nahm den Hörer wieder ans Ohr. „Verschwunden? Was heißt das, verschwunden!“ „Katzer ist abgehauen! Irgendwann in der Nacht, in Grünthals bestem Anzug, bestem Mantel – und mit allem Geld, das Grünthal erst gestern abgehoben hat!“ „Wohin denn?“ fragte Proskow, ärgerte sich über seine alberne Frage und schnauzte: „Tanze umgehend hier an, verstanden?“ Verschwunden! Wieso war Katzer verschwunden? Himmelhund, verdammter! Klaute dem Grünthal das gesamte Vermögen und machte sich aus dem Staub! Während er sich ankleidete, empfand er fast eine Art Enttäuschung, als hätte Katzer ihm persönlich einen Streich gespielt. Was fiel dem Menschen ein, einfach alles über den Haufen zu werfen? Der Kerl schien tatsächlich geahnt zu haben, daß er ihn heute aus seinem 202
Parasitendasein holen wollte. Rainer Grünthal, dem sie gegen halb sieben gegenüberstanden, wirkte abgespannt, als sei er übermüdet. Proskow war schadenfroh genug, um insgeheim zu wünschen, daß Grünthal ein böses Erwachen gehabt haben möge. „Das haben Sie nun davon“, kritisierte Stengel, als Grünthal sie in das obere Stockwerk in die Dachkammer führte, und auch bei ihm schwang Schadenfreude mit. Aber er habe ja von Anfang an gewarnt, ob Herr Grünthal sich erinnere? Grünthal nickte nur etwas unruhig zu Stengels Belehrungen, er beobachtete verstohlen den schweigsamen Kommissar, der mürrisch auf die von Katzer hinterlassene Unordnung blickte. Katzer mußte es entweder sehr eilig gehabt haben, oder er legte keinen Wert auf halbwegs zivilisierte Abgänge. Seine Kleidungsstücke lagen malerisch verstreut auf Fußboden, Stühlen und dem Bett herum. Der Kommissar überlegte seit Minuten, wovor er bisher eigentlich bewußt ausgewichen war. Gewiß, Katzer konnte die Gelegenheit genutzt haben, er konnte durchaus selbst seine gefahrvolle Lage erkannt haben. Es konnte aber auch sein, daß genau das einen halben Tag zu früh eingetreten war, was man befürchtet hatte. Auch Verbrecher waren in ihren Handlungen den Gesetzen der Logik unterworfen. Nur, es sah wieder einmal alles so verdammt normal aus. „Na“, knurrte er schließlich Grünthal an, „erzählen Sie mal.“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen, Herr Kommissar“, sagte Grünthal unlustig. „Er ist fort, heimlich und niederträchtig, wie er sich eingeschlichen hatte. Und das, nach203
dem wir uns gestern Abend, so gegen halb elf, in gewisser Harmonie getrennt hatten. Ein bißchen fröhlich war er ja, Gott, Sie wissen ja, für Alkohol hatte er eine unglückliche Schwäche. Nun ja, andererseits, nach achtmonatiger Abstinenz, weiß man, ob man selbst nicht auch …“ „War er sehr betrunken?“ „Wie soll ich sagen, man sah es ihm eigentlich selten an, wissen Sie? Aber ich glaube doch, daß er nur angetrunken war. Wie sonst hätte er noch so zielstrebig handeln können? Allerdings, eine fast volle Flasche Asbach ließ er auch noch mitgehen, vielleicht eine Art Reiseproviant?“ „Das Zeug bekommt man unterwegs überall.“ „Möglich, gewiß“, stimmte Grünthal bereitwillig zu, „nur, vielleicht nicht da, wohin er sich gewendet hat?“ Proskow sah mißtrauisch auf. „Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden, aber da Sie es ohnehin erfahren werden … nun ja, es gab da ein Mädchen.“ „Gehen wir nach unten“, bestimmte Proskow fröstelnd, als interessiere ihn kein Mädchen. Aber während er dicht hinter Grünthal die Treppe hinunterpolterte, fragte er barsch: „Woher kannte Katzer eigentlich ein Mädchen?“ Grünthal blieb mitten auf der Treppe stehen, bemerkte zu seinem Verdruß zu spät, daß er nun wie ein Unterlegener nach oben reden mußte, und gestand verlegen: „Das ist es ja, das Peinliche … aber ich kann doch mit Ihrer Diskretion rechnen, nicht wahr?“ Geschickt nutzte er die winzige Pause, die letzten Stufen nach unten zu steigen. „Danke“, sagte er, obwohl Proskow keine Zustimmung geäußert hatte. „Nun ja, Sie kennen das Gerede mancher Nachbarn, nicht wahr? Ja, 204
also … ich nämlich hatte mir das Mädchen eingeladen. Ungewöhnlich, werden Sie glauben, aber manchmal sucht man eben Vergessen, eine Art Betäubung vielleicht, ich weiß auch nicht recht. Jedenfalls kam sie, sie heißt übrigens mit Vornamen Ruth, zur verabredeten Zeit durch den hinteren Eingang, aber dann … nun ja, aber dann empfand ich doch Scham. Wegen …“, er senkte die Stimme zum Flüstern, „wegen Beate, Sie verstehen schon.“ In dieser Sekunde wußte der Kommissar ganz sicher, daß Katzer so gut verschwunden war, wie es Herrn Grünthal in den Plan paßte. Der Mann hatte sich nie und nimmer geschämt, die Heuchelei war entschieden zu dick aufgetragen. Sie wäre echt gewesen, hätte Frau Grünthal ihrem Leben tatsächlich freiwillig ein Ende gesetzt. „Weiter“, verlangte Proskow so ungewöhnlich mild, daß Stengel vom anderen Ende des Flurs verwundert herübersah. Auch Grünthal spürte das Mißtrauen, er lächelte etwas verkrampft und parierte aufbrausend: „Sie glauben mir nicht, nein? Aber bitte, Sie brauchen ja nur das Mädchen zu befragen! Oder den Katzer!“ „Aha, Katzer ‚opferte‘ sich also, wenn ich recht begreife?“ „Und offenbar nicht schlecht“, höhnte Grünthal, „sie kam nämlich auch am nächsten Abend, am Sonntag, gleich noch einmal. Und zwar gegen meinen Willen, Herr Kommissar!“ „Aber gestern kam sie nicht?“ „Das war ihr Glück“, behauptete Grünthal, „ich hätte sie nämlich einfach hinausgeworfen. Schließlich habe ich hier kein öffentliches Haus.“ „Und nun glauben Sie also, die Sehnsucht hat Katzer zu ihr getrieben?“ 205
Grünthal hatte sich wieder gefangen. Er lächelte ironisch. „Darauf sollten Sie nichts geben, Herr Kommissar. Ich halte es lediglich für möglich. Sie werden doch einsehen, daß man sich, als der Bestohlene, Gedanken über den Verbleib seines Geldes macht.“ „Bitte, bitte“, gab Proskow in gleichem Tonfall zurück. „Woher wußte Katzer eigentlich, daß Sie so viel Bargeld im Hause hatten? Und wo bewahrten Sie es auf?“ „In meinem Schreibtisch natürlich.“ „Ist es nicht leichtsinnig, so viel Geld im Haus zu haben?“ „Da muß ich Ihnen, nach der letzten trüben Erfahrung, allerdings vollkommen recht geben. Nur, Herr Kommissar, ich hatte es nicht hier, um die Charakterstärke des Herrn Katzer zu prüfen, sondern weil ich es heute noch anlegen wollte. Für ein Häuschen“, setzte er ohne Aufforderung hinzu. Proskow nickte auch dazu. Es war keine Frage, dieser Grünthal würde auf jeden Einwand eine vorzüglich abgestimmte Antwort parat haben, alles würde sich logisch erklären lassen. „Wissen Sie vielleicht zufällig, wo dieses Fräulein Ruth wohnt?“ „Wenn ich nicht irre, in Niederstetten.“ Du irrst sicher nicht, dachte Proskow erbittert. Denn auch das, diese vage Antwort, war wohldurchdacht. Sie ließ alles schön offen, damit legte man sich nicht fest, aber man hatte eine Richtung gewiesen, die mit Sicherheit ins Leere, zugleich aber auch ins Ziel führte, das lag nur am Standpunkt. „Nur noch eine Frage“, sagte er dann, als Grünthal die kurze Pause nutzte, um ins Wohnzimmer zu treten. „Katzer 206
nahm Teile Ihrer Kleidung an sich. Gewöhnlich bewahrt man Anzüge, Mäntel und so weiter im Schlafzimmer auf. Schliefen Sie heute Nacht nicht in Ihrem Bett?“ „Sie glauben mir also noch immer nicht“, unterbrach Grünthal beleidigt. „Nicht genug, daß man sich bestehlen lassen muß, man erntet auch noch Mißtrauen. Weiß denn ich, wie er es angestellt haben mag? Natürlich hing alles ordentlich im Schrank, bis auf die Schuhe. Ich kann mir das nicht anders erklären, als daß Katzer die Sachen bereits im Laufe des Nachmittags zur Seite geschafft haben muß, Gelegenheit dazu hätte sich genug gefunden. Und auch Sie, Herr Kommissar, pflegen doch wohl nicht vorm Schlafengehen Ihre Hemden und Anzüge zu zählen?“ „Ich nicht, nein, aber ich lade mir ja auch keine zweifelhaften Dauergäste ins Haus.“ Darauf schwieg Grünthal und trat, als habe ihn der Vorwurf getroffen, an das Wohnzimmerfenster. Wieder folgte ihm Proskow, und wieder hatte er jenes blödsinnige Gefühl, als gehorche er einem fremden Willen. Über die Schulter Grünthals hinweg sah er in den tief verschneiten Garten, in dem niederstämmige Obstbäume wie Sträucher wirkten. Der heftige Wind schuf hinter jeder natürlichen Erhöhung elegant geschwungene Schneedünen, vom Weg zur niedrigen Gartenpforte war kaum noch etwas zu erkennen. Kaum, dachte Proskow grimmig, wenn nicht jene undeutliche Fußspur wäre, die merkwürdig krumm zum Türchen führte. Zwar hatte der Wind die tiefen Eindrücke eiligst mit frischem Schnee zu füllen versucht, als kränke ihn der grobe Eingriff in sein Werk, aber der Weg eines Menschen war noch abzulesen. Der Teufel mochte wissen, wieviel Zeit nötig war, um bei den jeweils herrschenden Windbedingungen etwa einen halben Meter 207
tiefe Fußspuren wieder zu füllen. „Wann waren Sie das letztemal im Garten?“ fragte er, obwohl er sich sofort darüber ärgerte. Er hatte das sichere Gefühl, daß er genau diese Spur sehen und sich nach ihr erkundigen sollte. „Ich?“ Grünthal schien aus tiefen Gedanken aufzuschrecken. „Ja, wieso … das weiß ich nicht … Oder doch, ja! Vorgestern, als wir Schnee geschoben hatten. Eine ganz unnütze Arbeit, wie man sieht.“ Der Kommissar wandte sich wortlos ab, tippte sich flüchtig an den Hut und polterte rücksichtslos laut zur Veranda. Ohne sich umzudrehen, schnauzte er den Langen an, er möge sich von „dem da“ eine Beschreibung der gestohlenen Kleidungsstücke geben lassen und dann schleunigst zum Auto kommen. Als Stengel wenig später in den Wagen kletterte, saß Proskow griesgrämig im Polster, die Augen halb geschlossen, in einer Hand eine zugeschraubte Taschenflasche, und dämmerte vor sich hin. „Und wie nun weiter, Chef?“ „Nach Niederstetten, was sonst?“ Stengel kratzte sich besorgt am Kopf. „Ich habe nur die traurige Vorahnung, daß wir unserem Wägelchen da ein bißchen viel zumuten.“ „Dann besorge meinetwegen einen Panzer von der Bundeswehr!“ knurrte der Kommissar und verlangte krötig, Stengel möge endlich das Vehikel in Bewegung bringen, damit die lausige Heizung etwas Wärme spende. Stengel mußte in den nächsten Minuten seine ganze Fahrkunst aufbieten, um das Verkehrschaos der Stadtstraßen zu meistern. Nach scheinbar endloser Rutschpartie, die wegen eines entgegenkommenden Schneepfluges beinahe im Schau208
fenster eines Bäckerladens geendet hätte, erreichten sie endlich die Landstraße nach Niederstetten. „Na, so was!“ staunte Stengel. Er deutete auf die von hochgewachsenen Birken eingefaßte Straße. „Hier ist sogar während der Nacht ein Schneepflug in Aktion gewesen!“ „Und das wundert dich? In Niederstettens ländlicher Idylle wohnt schließlich ein Teil unserer städtischen Prominenz, und denen haben wir gefälligst alle Strapazen zu ersparen. Ja“, setzte er höhnisch hinzu, obwohl auch dies mehr seiner Wut über Grünthal entsprang, „wenn in dem Nest bloß ein Altersheim oder so etwas wäre, würde vielleicht ein Hubschrauber ein paar Pfefferkuchen abwerfen.“ Zu beiden Seiten der Straße türmten sich endlose Schneewälle, über deren Kämme der noch immer heftige Wind Schneeschleier wehte, die sich an den Füßen der Wälle schon wieder zu neuen Verwehungen massierten. Etwa dreihundert Meter vor dem Dorf, von dem man eigentlich nur den Kirchturm sah, der ähnlich verloren wirkte wie der letzte sichtbare Mast eines untergehenden Schiffes, bog die Straße rechtwinklig nach Westen ab. „Aus, Chef!“ meinte Stengel lakonisch. Vor ihnen lag eine wellige Schneewüste, aus der sich hier und da noch Wagenspuren abhoben. Aber der ungehindert aus westlicher Richtung anstürmende Wind fand keinen Widerstand, konnte fast spielerisch sein in der Nacht zerstörtes Werk wieder aufbauen. „Aussteigen“, befahl Proskow und kletterte steif aus dem Wagen. Stengel zog den Zündschlüssel ab, öffnete die Tür und schwenkte seine langen Beine nach draußen, hielt aber die Füße anklagend in die Höhe. Proskow lächelte grillig. „Jaja, solche Halbschuhchen 209
sind ja vielleicht modern, praktisch sind sie im Augenblick nicht.“ Stengel sprang nun gerade besonders elastisch aus dem Wagen und verschloß ihn. „Hannemann, geh du voran, du hast die längsten Stiefel an!“ „Halbschuhe“, korrigierte Stengel besorgt. „Dafür aber sind deine Beine etwas länger. Ehe da der Bauch feucht wird, dauert es ein Weilchen. Und nun marschiere endlich ab! Aber nicht mit deinen Riesenschritten, ich bin kein Dreispringer.“ „Ob wir dieses Fräulein Ruth überhaupt finden?“ fragte Stengel, nachdem er sich zögernd in Bewegung gesetzt hatte. „Natürlich kann sie in ‚Geschäften‘ unterwegs sein. Aber, und das wäre eigentlich logisch, sie kann auch mit Katzer über alle Berge sein. Wozu sonst sollte er sich auf eine so strapaziöse Fußwanderung begeben haben? Mit einem solchen Haufen Geld in der Tasche hätte er in jeder beliebigen anderen Stadt sämtliche Affen tanzen lassen können. Wenn er auch kein großes Licht ist, soviel weiß auch ein Katzer, daß wir ihn spätestens heute morgen bei dieser Ruth suchen werden. Nee, nee, mein Junge, wir tauschen hier bloß eine Grippe gegen die ungemein erquickende Gewißheit ein, daß Herrn Grünthals Planung unübertrefflich ist. Oder daß wir zu dämlich sind, auch möglich.“ Stengel stampfte weiter Löcher in die Schneedecke, blieb aber plötzlich stehen, ein Bein schon vorgesetzt, und versuchte den Oberkörper nach hinten zu drehen. „Ob Grünthal nicht einfach Katzer mit den Piepen abgeschoben hat?“ Proskow, gezwungenermaßen ebenfalls im Schritt verharrend, schüttelte mitleidig den Kopf. „Abgescho210
ben! Unterschätze bloß Grünthal nicht immer! Wozu sollte er denn solche Operation an die große Glocke gehängt haben? Damit wir Katzer suchen, finden und ausquetschen können, wie?“ „War ja bloß eine Frage“, räsonierte Stengel. „Auf jeden Fall nahm er den Verlust von immerhin fast zehntausend Mark recht gelassen hin.“ „Das hast du nun wieder fein gesagt“, lobte ihn der Kommissar ernsthaft. Als sie erst drei Stunden später, wobei die meiste Zeit das Wenden des Wagens auf der verwehten Landstraße in Anspruch genommen hatte, wieder das Stadtgebiet erreichten, bat der Kommissar Stengel, zum Bahnhof zu fahren. Der kneift vorm Alten, dachte er zunächst. Als sie dann im Bahnhofsrestaurant an einem der Stehtische lehnten und Proskow schweigsam den vierten Steinhäger trank, korrigierte Stengel sich: Durst hat er. Er schob das unter anderem auf das negative Ergebnis ihres Besuches in Niederstetten. Falls man der schwarzhaarigen Ruth glauben durfte, hatte Katzer sich nicht sehen lassen. Immerhin, das wäre ein vernünftiger Zug gewesen. Aber der Kommissar schien überzeugt zu sein, daß Katzer gar nicht hatte ankommen sollen und auch nicht können. Er hatte sich ein bißchen ulkig angestellt, der Herr Kommissar, als sie den Wagen wieder erreicht hatten. Dagestanden hatte er, stumm auf die unendliche Schneewüste gestarrt, als sei er von der fast feierlichen Stille beeindruckt. Aber Proskow war kein Naturschwärmer, erst recht nicht, wenn er nasse Füße hatte. Und nun standen sie hier, inmitten einer ewig unruhigen Menschenmenge, in Rauchschwaden und Stimmen211
gewirr, gestoßen und gedrängelt. Wenigstens die Bundesbahn konnte aus der chaotischen Straßenverkehrssituation einen gewissen Nutzen ziehen, wenn auch das fraglich blieb. Die Zugverspätungen erreichten phantastische Zeiten, der Güterverkehr, hauptsächliche Einnahmequelle jedes Schienenverkehrs, lag in den letzten Zügen, falls man so sagen durfte. „Bleiben wir noch lange?“ erkundigte Stengel sich endlich. Der Kommissar bewegte den Kopf sehr sparsam hin und her. Es konnte eine Antwort sein, ebensogut konnte ihn auch bloß der Hemdkragen drücken. Stengel nahm es als Antwort. „Warum gehen wir dann nicht?“ „Wir suchen“, antwortete Proskow knapp, fügte aber dann erklärend hinzu, „einen Weg nämlich.“ „Und das ausgerechnet auf dem Bahnhof?“ „Du wirst ihn gleich verlassen, mein Junge.“ „Und Sie?“ Der Kommissar hob sein Glas, winkte dem Kellner und sagte gelassen: „Ich fahre nach Hannover.“ „Wozu das? Was wollen Sie um Himmels willen ausgerechnet jetzt in Hannover?“ „Ein nettes Fräulein besuchen.“ „Na“, sagte Stengel, „das hätten Sie ja auch in Niederstetten haben können, Chef! Hübsch ist sie doch, die Ruth – wenn sie vielleicht auch ebenso hübsch gelogen hat.“ „Warum sollte sie?“ „Haben Sie schon mal überlegt, daß sie mit Grünthal unter einer Decke stecken könnte?“ Der Kommissar lächelte gezwungen. „Mit Katzer, Stengelchen, unter der Bettdecke nämlich. Ich will nur noch Milch oder Joghurt trinken, wenn diese Ruth mehr als ein Bauer in Grünthals neuestem Schachspiel war. 212
Oder, falls du das treffender findest, ein Springer.“ „Und worin soll ihre Funktion bestanden haben?“ „In der Tatsache, daß sie außerhalb der Stadt wohnt.“ Stengel wiegte den Kopf skeptisch hin und her, ehe er sich zögernd Proskows Überzeugung anschloß. „Sie meinen also, daß unser Katzer nicht getürmt, sondern tot ist?“ „Sieh mal aus dem Fenster – schöner, weißer Schnee. In unvorstellbaren Mengen. Das ideale Leichentuch, was? Viel Schnee und äußerst haltbar in diesem merkwürdigen Winter. Konserviert Leichen und zehntausend Mark in Scheinen.“ „So verrückt kann doch kein Mensch sein, Chef!“ „Du unterschätzt Grünthal noch immer, mein Junge. Die zehntausend Mark hat Katzer so sicher bei sich, wie du größer als ein Meter siebzig bist.“ „Einsvierundneunzig.“ Stengel war fast beleidigt, daß man ihn zu den Zwergen rechnen könnte. „Aber zehntausend Mark ist eine Menge Geld, Chef.“ „Na und? Dieser Herr Grünthal riskiert mit Risiko und mit Verstand. Und das noch obendrein ohne große Gefahr für sein Geld.“ „Ich weiß nicht – eine verflucht seltsame Sparkasse für meine Begriffe. Und wenn er den Diebstahl nur vorgetäuscht hätte?“ fragte Stengel hartnäckig, der sich den Wahnsinn eines derartigen Geldopfers absolut nicht vorstellen konnte. „Du bist ein Esel“, schlußfolgerte Proskow trocken. „Irgendwie habe ich mir angewöhnt, Herrn Grünthals Gedanken mit- oder wenigstens nachzudenken. Für mich ist völlig klar, daß Katzer Grünthals besten Anzug und Mantel, dessen Schuhe und sicher auch noch ein Hemd von ihm trägt. Er wird ebenso eine Flasche Asbach Uralt 213
bei sich haben wie das Geld. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.“ Als Stengel seinen Vorgesetzten nach wie vor skeptisch anschaute, setzte der Kommissar ungewöhnlich gesprächig hinzu : „Du hast doch selbst festgestellt, daß Grünthal der Verlust seines Geldes nicht sonderlich zu schmerzen scheint. Das könnte natürlich heißen, daß er es noch hat, wenn es sich eben nicht um Grünthal handelte. Er hat das Geld gewissermaßen nur auf Eis gelegt. Irgendwann findet man Katzer, und sei es erst beim nächsten Tauwetter. Einen toten Katzer, und Tote geben nur selten noch Geld aus. Also hat er dann noch alles bis auf den letzten Pfennig bei sich.“ „Und wenn ihn ein Spitzbube findet?“ warf Stengel ein und sah mit höchster Verwunderung, daß den Kommissar diese Möglichkeit ungemein zu erheitern schien. Proskow lachte geradezu fröhlich, was an sich schon eine Sensation war. „Auch das hast du fein gesagt, sehr fein sogar. Fände Katzer nämlich ein solcher Spitzbube, wäre das Geld natürlich futsch, wenigstens vorerst, und Grünthal darf machtlos zusehen. Erschüttern aber würde ihn auch das keineswegs, er bucht es gewissermaßen auf Unkosten, weil sein Konto in absehbarer Zeit anschwellen wird wie ein ausgetrocknetes Wadi in der libyschen Wüste zur Regenzeit. Nee, nee, mein Junge, jedes Wort der Aussage Grünthals wird stimmen, bis auf gewisse Feinheiten, die wir leider nicht werden nachweisen können. Beispielsweise die, daß Katzer nicht allein in Richtung Niederstetten lostorkelte, wo er dann leider unterwegs verstarb.“ „Sondern?“ „Leicht zu erraten. Vergiß das Wetter nicht, und vergiß auch seinen Zustand nicht. Ein bedauerlicher, ja 214
tragischer Unfall. Betrunkene sind schon oft erfroren, eine ganz natürliche Sache. Vielleicht ziert seine Stirn noch eine kleine Beule, vielleicht auch eine Hautabschürfung, aber auch dann werden die Gerichtsmediziner nur feststellen, daß eventuelle Borkenreste darin genau von jener Birke stammen, zu deren Füßen er erfroren ist. Und niemand, ich wiederhole, niemand wird Herrn Grünthal das Geringste nachweisen können. Beachte nur den wohldurchdachten Plan im Hinblick auf das Geld. Er hat es nicht einfach abgehoben, er hat auch einen Zeugen, daß er dieses Geld vernünftig anzulegen gedachte. Ein cleverer Bursche, ohne Frage.“ „Und warum fahren Sie nun nach Hannover?“ kam Stengel wieder zum Ausgangspunkt zurück. Obwohl Proskow im Augenblick den Kopf gesenkt hielt, bemerkte Stengel erneut jenes unerklärliche Lächeln. „Stengelchen“, sagte er dann sanft, „du mußt jeden Gedanken zu Ende bringen, allerdings jedes Schema vermeiden. Die Null-acht-fünfzehn-Fiktion gibt es nur im Roman, besonders bei Mordfällen. Immerhin, zweimal gab es heute recht ordentliche Ansätze. Wenn ihn ein Spitzbube findet, sagtest du doch, nicht? Und wenn dir nun, wenn ich dir deine nächsten Aufgaben gebe, nicht das berühmte Licht aufgeht, beantrage ich deine Versetzung auf den abgelegensten Landjägerposten, der in ganz Niedersachsen zu finden ist. Informiere dich umgehend, ob die Kameraden von der Hundestaffel einen sogenannten Leichenhund besitzen. Zweitens: Erkundige dich bei den Kollegen vom Straßendienst, ob sie heute Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Die erfrischend präzisen Angaben meines Freundes Grünthal haben auch ihr Gutes.“ 215
Stengel wagte etwas zaudernd eine Vermutung. „Wir wollen doch nicht etwa Spitzbube spielen?“ „Wunderbar! Stengelchen, ich sehe schon, du bleibst mir erhalten.“ „Hoffentlich wird Ihre ganze Fahrerei nicht witzlos“, murmelte Stengel zum Abschied. „Oller Miesmacher“, knurrte Proskow hinter ihm her, aber Stengel fand, daß der Alte ausgewogen friedlich war, eine ganz und gar neuartige Entdeckung. Als der Kommissar gegen Mitternacht seinen Korridor betrat, fand er auf dem Fußboden einen von Stengel unter der Tür durchgeschobenen Zettel. „Nach Möglichkeit noch vor Dienstbeginn anrufen.“ Proskow zuckte die Achseln, ging aber doch sofort zum Telefon. Er wußte, daß Stengel seinen Apparat nachts stets neben dem Bett hatte, und wunderte sich nicht, daß die Verbindung sofort da war. „Sind Sie’s, Herr Kommissar?“ „Wer sonst? Was gibt es so Dringendes?“ „Völlige Pleite, Chef! Der Grünthal hat inzwischen offiziell Anzeige gegen Katzer erstattet. Und prompt hat Vinker den Kommissar Wimmer mit der Untersuchung beauftragt, obwohl der vor lauter Diebstahlsanzeigen kaum noch weiß, ob er Männchen oder Weibchen ist. Wir, Herr Kommissar, wir sollen uns nun endgültig mit Krampas Eiern befassen … Lachen Sie nicht, so hat er sich wörtlich ausgedrückt.“ „Und deshalb läßt du dich mitten in der Nacht wecken?“ „Ja. Was machen wir nun?“ „Weiter“, brummte Proskow und legte auf. 216
20. Der Postbote hatte außer den Tageszeitungen und drei Rechnungen verschiedener Firmen auch einen Brief des Simson-Verlages gebracht. Rainer Grünthal betrachtete diesen Brief mit besonderem Wohlwollen, schlenderte, das Frottierhandtuch vom Rasieren noch über der Schulter und stark nach Palmolive duftend, in die Küche Zurück. Irgendwie hatte er sich angewöhnt, in der freundlich-hellen Küche zu verweilen, er wußte selbst nicht, wieso das so war. Ehe er vor allem jenen erwarteten Brief näher betrachtete, brachte er das Handtuch ins Bad zurück und begann den Morgenkaffee vorzubereiten. Mit der gleichen peinlichen Korrektheit, wie er alles zu tun pflegte, maß er die benötigten Bohnen mit einem Maßlöffelchen ab, ließ die elektrische Mühle schnurren und wandte sich erst wieder der Post zu, als aromatischer Kaffeeduft durch die Küche zog. Aber auch jetzt beging er einen frommen Selbstbetrug, um die Vorfreude zu steigern. Er glaubte zu wissen, was in jenem Brief stand. Vorerst widmete er sich den Tageszeitungen. Erst dann öffnete er Rechnung um Rechnung, überprüfte pedantisch die Aufstellungen über Kosten und verbrauchtes Material und fand an ihnen nichts auszusetzen als die Preise. Nun, die Entwicklung ging nach oben, dachte er ohne Arg, auch bei ihm, wie man anzunehmen berechtigt war. Mit einer Art feierlicher Zeremonie schlitzte er endlich den einzigen Brief auf, der ihn wirklich interessierte. Er hatte vor Tagen den Schluß des Manuskriptes eingesandt, und falls es sich nicht nur um eine Eingangsbestätigung handelte, konnte es nur um einige Fragen betreffs des 217
weiteren Verfahrens gehen, oder aber man kündigte schon die Annahmeerklärung an. Zwar wäre letzteres recht flink gegangen, aber das hieß zugleich, daß die nächste Zahlung in fünfstelliger Zahl fällig wurde. Und das war, nach dieser unplanmäßigen Aktion mit dem Katzer, durchaus zu begrüßen. Aber: hoher Einsatz garantierte hohen Gewinn. Der Gewinn im Einsatz Katzer hieß seine eigene Unschuld, hieß Freiheit, hieß die ganze Zukunft, Und gerade die war ihm mehr als zehntausend Mark wert, zumal die gesetzte Summe vorerst nur eingefroren war. Noch während er den Bogen umständlich entfaltete, erheiterte er sich an der Formulierung vom Einfrieren, dann aber gefror ihm das eigene Lächeln. Er las hastig, legte eine kurze Pause ein, in der ihm die freundliche Küche plötzlich merkwürdig düster erschien, dann las er nochmals Wort für Wort, einen Irrtum suchend. „Dieses Schwein!“ flüsterte er dann fassungslos. Dieses Schwein. Er knüllte den Brief zusammen und schob ihn über die Küchentischkante. Wie unter Zwang erhob er sich dann, wanderte sinnlos über den Flur, stand in der Tür zur Garage und stierte angewidert auf den glänzenden Lack des neuen BMW. Erbittert knallte er die Tür zu, als er sich seltsam verzerrt, ein unwahrscheinlich breitgewalzter Gnom, im gewölbten Blech sah. „Ruhe“, kommandierte er sich schließlich selbst, „nur Ruhe!“ Nur nicht die Nerven verlieren, jetzt auf keinen Fall unüberlegt handeln. Wie ein Unbeteiligter, mit einem gehörigen Abstand zum Tagesgeschehen, ging er zurück in die Küche, bückte sich nach dem Brief, glättete ihn und faltete ihn zusammen, ohne ihn nochmals zu lesen. 218
Nun war also doch das passiert, was er als die einzige offene Frage des großen Spiels nicht genau kalkulieren konnte. Dieses Stückchen Hasard, gegen das man sich zwar so gut wie möglich abgesichert hatte, das aber eben doch nicht völlig unter Kontrolle zu bringen gewesen war. Aber es gab keinen Zweifel, es stand in diesem scheußlichen Brief, der kühl war, vielleicht sogar schon kalt, auf Distanz. Nichts mehr von der alten Herzlichkeit, man spürte förmlich die Vereisung der Fronten. Dann aber stockte er in seinen Überlegungen. Wie eigentlich war das möglich gewesen? Hatte er nicht, auch diesen Verlauf einkalkulierend, wertvolle Minuten jener Spanne Zeit geopfert, um den Umweg über Hillmanns Waggon zu machen? Nur um das fast fertige Manuskript an sich zu nehmen? Und war es nicht längst verbrannt, schon wegen der verräterischen Schreibmaschinentypen? Beate hatte, das wußte er mit absoluter Sicherheit, ohne Durchschläge gearbeitet. Ein Ratschlag, den er selbst erteilt hatte. Worauf also gründete sich das Verhalten des Verlages? Es gab nur eine Lösung – dieser Hillmann mußte in aller Heimlichkeit, die an Heimtücke grenzte, ebenfalls einen Teil des Manuskriptes angeboten haben, den größten Teil sogar. Nur, konnte das überhaupt stimmen? Hatte er, nachdem der ganze Trubel der Unglücksnacht abgeklungen war, Katzer längst oben in seinem Bett geschlafen hatte, nicht nochmals den Weg zum Waggon angetreten? Hatte er auch nur einen Brief jenes anderen Verlages gefunden, der nun plötzlich auch ein Manuskript besitzen wollte? „Bedauern wir, eine Klärung der Sach- und Rechtslage abwarten zu müssen. Auf Grund unserer Voranzeige beim Börsenverein des Buchhandels ging uns ein Protest 219
des auch Ihnen nicht unbekannten Hamburger Verlages zu, wonach sie ein Buch von gleicher Thematik und merkwürdigen Übereinstimmungen mit unserem Vorhaben in Arbeit haben. Sie werden Verständnis aufbringen, daß wir …“ und so weiter. Ein kanadischer Wolf im Schafpelz, dieser Hillmann, der seinen Namen wie „Hirlmen“ ausgesprochen hatte. Ein vorgeblich bescheidener, fast schüchterner Mensch – und hatte sich nun sozusagen postum als durchtriebener Schurke entpuppt. Wäre der Anlaß nicht so gemein, man konnte eine gewisse Genugtuung über die Bestätigung einer uralten Weisheit empfinden, daß die Katze das Mausen nicht läßt. Einen kurzen Augenblick bedauerte er, daß er diesem Katzer gar nichts von Hillmanns verbrecherischem Vorleben erzählt hatte, was die ausgleichende Gerechtigkeit noch notwendiger gemacht hätte, dann konzentrierten sich die Gedanken wieder auf die Gegenwart. Er würde reisen müssen, er mußte denen im Verlag beibringen, daß man hier ein schändliches Spiel gegen ihn in Szene gesetzt hatte, daß man ihn spitzbübisch um seine Karriere betrog. Mit Toten mußte man doch fertig werden können? Daran konnte weder der Simson-Verlag noch der in Hamburg rütteln, nur er, Rainer Grünthal, konnte das vollständige Manuskript aufweisen. Und kein Hillmann, schon gar nicht ein toter, konnte die Anklage entkräften, daß man ihn ganz niederträchtig bestohlen hatte. Nicht genug, daß sich ein Hergelaufener an seine Frau herangewagt hatte, auch die Früchte langer Arbeit des hintergangenen Ehemannes hatte er an sich zu reißen gewußt. Soweit in seinen Überlegungen, richtete sich Grünthal am Gerüst seiner Planung auf. Ein Toter konnte sich 220
nicht verteidigen, und übersehen hatte er im Waggon kaum etwas. Nicht einmal jenes Schreibheft, in dem Hillmann seine Belege abgeheftet hatte. Sehr erheiternd der Gedanke, daß auch Kommissar Proskow vielleicht krampfhaft im Wörterbuch geblättert hatte, um den Sinn der Sammlung zu begreifen. Doch eine Sorge bekam nun Gewicht. Was sich ursprünglich als besonders wirkungsvoll angeboten hatte, jetzt entwickelte es sich zu einem Bumerang. Fünftausend, dachte er unruhig, wären auch ausreichend gewesen. Aber, auch das hatte man sauber abgewogen, welcher Dieb, der heimlich seinen Wohltäter verließ, hätte sich mit der Hälfte des baren Geldes begnügt? Nein, nein, es war schon richtig gewesen, ein überzeugendes Motiv für eine niederträchtige Flucht anzubieten. Dieser Schnüffler Proskow hätte mit Recht an einem solchen Edelmut Katzers gezweifelt. Dennoch, jetzt saß er ohne Geld da. Die Barschaft mochte noch eine, höchstens zwei Wochen reichen, länger auf keinen Fall. Nein, nicht einmal so lange. Die Rechnungen mußten beglichen werden, eine Bitte um Stundung würde unweigerlich jene Handwerker zur beschleunigten Einsendung ihrer Forderungen reizen, die sich bisher Zeit gelassen hatten. Geschäftsleute hatten ein feines Empfinden in Gelddingen. Nein, nein, bezahlt mußte werden. Man konnte leider nicht mehr den Verlag drängen, man mußte vorerst einen gut formulierten, hoheitsvoll protestierenden Brief abschicken, sich gegen die Unterstellungen mit Nachdruck verwahren und im übrigen abwarten. Nur jetzt nichts überhasten, keinen Fehler sich einschleichen lassen. „Die müssen Katzer finden“, murmelte er schließlich halblaut vor sich hin. Zehntausend Mark waren vollauf 221
genug, die unerwartete Verzögerung in aller Ruhe zu überstehen. Leider ließ ihn diesmal der Wettergott im Stich, von Tauwetter konnte in nächster Zeit wohl keine Rede sein. Schade auch, daß man nichts zu verkaufen hatte, jedenfalls nichts von größerem Wert. Auch nicht den neuen Wagen, der, die Zufälligkeit der Explosion unterstreichend, die Schlacht vollkommen unbeschädigt überlebt hatte; der übliche Teilzahlungskauf. Auch die zweite Rate dafür, wurde bald fällig. Und was das Haus betraf, da würde die Prognose des Maklers stimmen. Trotz aller Technisierung des Lebens, trotz elektronischer Geister, der Aberglaube wucherte wie eh und je. Kein Mensch, so meinte Herr Kröger, würde so ohne weiteres ein Haus kaufen, in dem vor kurzem zwei Menschen eines plötzlichen Todes gestorben waren. Gewiß, höchst albern, aber da war nichts zu machen. Der Makler, freilich nur Randfigur im Spiel, mußte auch noch informiert werden, daß man leider wegen der Schändlichkeit des „Dieners“ auf die Besichtigung des Wochenendhäuschens verzichten müsse. Der rettende Gedanke setzte sich fest. Katzer hatte gefälligst gefunden zu werden. Und logisch gesehen, der Wunsch eines Bestohlenen, die Suche nach Dieb und Diebesbeute zu forcieren, war doch durchaus natürlich. Wer verzichtete wegen Saumseligkeit oder gar Unfähigkeit der örtlichen Polizeiorgane auf zehntausend Mark? Man durfte nur auch hierbei nichts überstürzen, man mußte noch einen, besser sogar zwei Tage warten, ehe man vorsichtige Zweifel an der Tüchtigkeit des mit dem Fall beauftragten Kriminalbeamten anmeldete. Jawohl, zwei Tage Geduld, und man konnte zunächst in dieser Angelegenheit aktiv werden. 222
Damit beschloß Grünthal genau das, was Kommissar Proskow als Ergebnis seiner Reise nach Hannover wünschte. Das Gefühl, nunmehr seinen Gegner fest im Griff zu haben, hatte sich zur Gewißheit verdichtet, als man nach mehrstündiger Suche in eiskalter Winternacht den toten Ernst Katzer gefunden hatte. Mehr noch war es die Tatsache, daß die Obduktion genau jene Todesart bestätigt hatte, die dem Kommissar als einzig mögliche erschienen war. Das hatte er schon gewußt, als er im Schein starker Batterielampen auf den Toten in seinem Schneegrab gestarrt hatte. Katzer hatte dagelegen wie schlafend, die Beine angezogen, einen Arm als eine Art Kopfkissen unter dem Kopf. Es waren keine Spuren einer Gewaltanwendung entdeckt worden. Katzer war einfach in Volltrunkenheit eingeschlafen und erfroren. Auch sein Grab schien völlig der Gegebenheit jener Nacht zu entsprechen, da er gestorben war. Es war eine flache Mulde im Straßengraben, zu Füßen einer stämmigen Birke, zusätzlich abgedeckt durch den Schneewall, den der Winterdienst entlang der Chaussee aufgetürmt hatte. Es hatte den Kommissar fast befriedigt, daß der tote Katzer tatsächlich Grünthals Kleidung getragen hatte, daß auch eine halbvolle Flasche Asbach Uralt nicht fehlte und erst recht nicht die zehntausend Mark. Grünthals Angaben stimmten wieder einmal vorzüglich überein, und Proskow entdeckte endgültig, daß man dessen Handlungen mit einiger Sicherheit vorausbestimmen konnte. Der Kommissar hatte den Fundort der Leiche unauffällig markieren lassen, ihn zusätzlich in eine genaue Karte eingetragen und dann alle Spuren beseitigen lassen. Katzer war in aller Stille abtransportiert worden, und am 223
folgenden Morgen hatte der anhaltende Wind jede Spur der nächtlichen Bergungsarbeit verweht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hauptkommissar Vinker noch mit einiger Sorge den Verlauf der Geschehnisse verfolgt, nachdem er nur zögernd den Schritten des Kommissars zugestimmt hatte. Das Auffinden der Leiche, noch dazu in Übereinstimmung mit Proskows Prognose, bewog ihn aber doch, dem Kommissar nun völlig freie Hand zu lassen. Und so bestand von nun an Proskows Haupttätigkeit im geduldigen Warten. Stengel machte die an Fatalismus grenzende Geduld des Kommissars allmählich nervös. „Und wenn er nun selbst nachts zu seinem Privatfriedhof schleicht, um die eigene Sparkasse zu plündern?“ Proskow wiegte zweifelnd den Kopf. „Gewiß, die Möglichkeit ist drin. Aber das kostet die angestrebte Glaubwürdigkeit. Kein Mensch weiß, wann der verdammte Schnee tauen wird, und so ist er ganz auf den Zufall angewiesen. Aber ich würde mich gar nicht wundern, wenn er uns einen harmloslogischen Tip über Katzers Verbleib geben würde. Trotzdem … wenn er sich bis zur Dunkelheit nicht gemeldet hat, richten wir eine Patrouille auf der Straße nach Niederstetten ein, um ihm die Suppe versalzen zu können. Vergiß nicht, daß er unsere vorerst einzige Chance zerdeppert, wenn er etwa das Verschwinden Katzers und vor allem des Geldes spitzkriegt.“ Der Tag verging Stunde um Stunde, und der Kommissar besprach schon mit Stengel die geplante Patrouille, als das Telefon klingelte. „Ach, Sie sind’s, Herr Grünthal“, sagte Proskow knurrig wie eh und je. „Wieder was passiert?“ 224
„Da sei Gott vor.“ Grünthal lachte, als erheitere ihn der Gedanke ungemein. Nein, nein, zum Glück nicht, ihm reiche es nun wahrhaftig mit den Aufregungen. Aber, wie das nun mal so sei, wer den Schaden habe, brauche selten für den Spott zu sorgen, nicht wahr? Nun ja, es sei eine rechte Eselei gewesen, einen Kandidaten wie den Katzer ins Haus zu nehmen, er begreife sich heute selbst nicht mehr. Ob man eigentlich etwas über den Verbleib des Burschen eruiert habe? „Keine Spur“, log Proskow und zwinkerte dem mithörenden Stengel zu. „Die Bundesrepublik ist doch ziemlich groß, und mit annähernd zehntausend Mark kann man bei einigem Geschick schon ein Weilchen untertauchen. Wir sind natürlich bestrebt, aber leider, leider.“ Keine Frage, der Herr Kommissar werde schon sein möglichstes tun, unterstrich Grünthal sein Vertrauen zur örtlichen Polizei. Nur … vielleicht sei es albern, aber er halte es doch für seine Pflicht, einen Umstand zu erwähnen, der ihm erst eben zu denken gegeben habe. „Ist also doch etwas passiert?“ Aber nein doch, versicherte Grünthal eifrig. Er habe lediglich in Katzers Bett eine leere Schnapsflasche gefunden. Und eben das gebe ihm zu denken. „Verstehe ich nicht“, sagte Proskow, ohne große Neugier zu zeigen, „er trank doch gern, wie Sie sagten.“ Schon, schon, aber der Herr Kommissar werde sich erinnern, daß er am Morgen nach Katzers Verschwinden ja geglaubt habe, der Bursche sei nicht mehr als höchstens angetrunken gewesen. Nun aber halte er doch für möglich, daß er eventuell volltrunken gewesen sei. „Na und? Wo steckt der Wert solcher Überlegung?“ Ob denn der Herr Kommissar nicht begreife? Gehe man nämlich davon aus, daß sich Katzer tatsächlich zu 225
der Dame Ruth hingezogen gefühlt habe, und bedenke man ferner die unwirtlichen Wetterverhältnisse jener Nacht, so müsse man sich doch fragen, ob ein derartig Betrunkener zu solcher physischen Leistung überhaupt fähig sei, nicht wahr? „Aha“, heuchelte Proskow Anerkennung, „das wäre wirklich zu bedenken.“ Nicht wahr? Man wolle es ja um Gottes willen nicht hoffen, und er sei ja auch nicht rachsüchtig, aber vielleicht läge der arme Kerl irgendwo da draußen in Schnee und Kälte? Eine grausige Vorstellung, gewiß, aber er werde den Gedanken nun einmal nicht mehr los, ihn friere geradezu dabei. Proskow bedankte sich für den Hinweis, versprach eventuelle Nachforschungen in dieser Richtung, wenn er auch eigentlich wenig Zeit habe, und legte auf. „Na?“ sagte er zu Stengel. Hatte der Alte doch recht behalten; die Alten hatten eben doch noch ihre Qualitäten. Mochte natürlich sein, daß solche Fälle wie dieser hier besser in ihre Erfahrungswelt paßten. Sie wurden selten, solche Verbrechen. Heutzutage machte sich kaum noch jemand so viel Mühe und heckte aufwendige Pläne aus. Heute wurde geschossen, rücksichtslos und ohne Hemmungen, und darauf hatte man sich einzurichten. „Und wie nun weiter?“ „Zappeln lassen, was sonst? Das eben, das war die äußerste Grenze dessen, was er riskieren durfte. Vor morgen Abend rühren wir uns auf keinen Fall.“ Um die vierte Morgenstunde des übernächsten Tages quälte sich eine kleine Autokarawane, bestehend aus drei Personenwagen und einem Sanitätsfahrzeug, durch die Schneefurchen und Verwehungen auf der Landstraße nach Niederstetten, Die Karawane scheiterte schein226
bar nach knapp dreihundert Metern an den Straßenverhältnissen. Die Fahrzeuge stoppten, Scheinwerfer erloschen, hier und da klappte ein Wagenschlag, dann war Stille. Spärlich funkelten vereinzelte Sterne durch zerrissene Wolkenbilder, eiskalt jagte böiger Westwind über die flache Landschaft. Gespenstisch bewegten sich vier dunkle Schatten hin und her, verteilten sich weit auseinander und begannen mit Schippen zu hantieren. „Dieser verdammte Westwind“, schimpfte Stengel. Ein heftiger Windstoß hatte die Schneelast von einigen Zweigen der Birke, an deren Fuß er mit Proskow Schnee schaufelte, ihm genau in das Genick gestreut. Proskow schaufelte schweigend weiter, aber das Wort Westwind hakte sich fest. Irgendwie war der ganze Fall Grünthal davon beeinflußt. Westwind war nötig gewesen, um einem an den Rollstuhl gefesselten Zeugen keine Vergleichsmöglichkeit zu lassen. Westwind hatte auch das Seinige getan, damit Katzer unauffällig und beinahe natürlich verschwinden konnte. Grünthal hatte nicht voraussehen können, daß ihm ein Schneepflug noch extra dienen würde, hatte sich auf die Verbindung von Pulverschnee und Westwind verlassen müssen. Der Kommissar stützte sich auf den Schippenstiel und sah nachdenklich in das angefangene Loch zu seinen Füßen. „Der verdammte Westwind, richtig, mein Junge. An diesem eisigen Lüftchen ist zum Beispiel ein Klaus Hillmann gestorben, obwohl der Mann doch eigentlich ein bißchen der gerühmten und gefürchteten kanadischen Härte angenommen haben müßte. Aber er hat es anscheinend nicht für möglich gehalten – oder sich vor lauter Freude über seine Heimkehr keine Gedanken darüber gemacht –, daß der Westwind bei uns selbst im Sommer 227
kälter ist als zur Winterzeit in Kanadas Wäldern. Zu rau das Klima hier, mein Junge.“ Stengel deutete trotz der Dunkelheit mit der Fußspitze auf das Loch. „Könnte man eigentlich auch auf unseren Katzer anwenden, Chef.“ „Auch nicht schlecht“, stimmte Proskow ernsthaft zu. „Hat ihn auch nicht vertragen, den Westwind. Zwar wollte er liebend gern mit hochgepustet werden, ist aber leider in einen Wirbel geraten. War ein bißchen südliche Strömung dabei, weißt du? In ihm, meine ich. Bißchen zu sanft, ein harmloses Lüftchen sozusagen.“ „Und wie ordnen wir Grünthal in die Wetterkarte ein?“ Der Kommissar bemerkte zwar den leisen Spott, sah aber gutgelaunt darüber hinweg. „Dem bekommt das Klima ausgezeichnet. Na, heute wird ihn eine Polarströmung an den Ernst des Lebens erinnern.“ „Hoffentlich.“ Stengel war noch skeptisch. Von da an verstummte jedes Gespräch. Nur hin und wieder starrte Proskow prüfend stadteinwärts, wo drei Polizisten in Uniform vielleicht mißmutig, aber doch fleißig an drei weiteren Schneelöchern schaufelten, zwar auch jeweils zu Füßen einer Birke, aber doch auf der anderen Straßenseite. Gegen halb sieben, als man mit Hilfe eines der Personenwagen noch einige deutliche Reifenspuren angelegt hatte, befahl Proskow: „Los geht’s! Wir haben alles durchgesprochen.“
228
21. Rainer Grünthal lag noch im Bett, zwar wach, aber mit einem unbehaglichen Gefühl. Er starrte abwesend an die Zimmerdecke, der Blick verfolgte die Zickzacklinien der zahlreichen Risse im weißgekalkten Deckenputz, und grübelte über den Traum, von dem ihm nur eine Szene im Gedächtnis haftengeblieben war. Ein lächerlicher, ein blödsinniger Traum, der in gar keiner Beziehung zu irgendeiner Phase seiner Gedanken oder gar seines Lebens stand. Er hatte eine Schüssel Wasser aus dem Bad holen wollen, um sich waschen zu können. War das schon völliger Blödsinn, weil er eine solche Handlung weder jemals vorgehabt noch nötig hatte, so war die Ursache des Scheiterns dieses Vorhabens geradezu absurd. Im Bad hatte eine alte, fremde Frau gesessen, eine weißhaarige Oma, die er auch noch nie gesehen hatte, und ihm, dem Hausherrn, das Betreten des Bades verboten. Trotz aller Intelligenz nicht frei von Aberglauben, überlegte er allen Ernstes, welche Schwierigkeiten dieser Traum ankündigen konnte. War es eine Warnung, eine Mahnung? Hatte man etwas übersehen oder verkehrt angefaßt? Und wenn, was dann? Hatte man das Boot nicht wieder auf richtigen Kurs gebracht, nachdem man beinahe ein heimtückisches Riff gerammt hätte? Als in diesem Augenblick unten jäh das Telefon klingelte, wußte er, daß jetzt etwas passieren würde. Er sprang fast hastig aus dem Bett, trat sogar, was ihm sonst zuwider war, die Kappen der Hausschuhe nieder und eilte hinunter. Die Hand, die zum Hörer griff, zögerte wie von selbst, aber dann gab er sich einen Ruck. 229
Es war besser, man kannte die Dinge, die auf einen zukamen. „Herr Grünthal? Hier ist Stengel, Kriminalpolizei. Wir haben da etwas für Sie.“ Grünthal wunderte sich eine Sekunde, daß er genau gewußt hatte, daß nur die Polizei ihn anrufen konnte, dann sagte er gepreßt: „Ja, ich höre.“ „Wir haben Katzer gefunden!“ Dieses scheußliche alte Weib hatte also überhaupt nichts zu bedeuten. „Na, wunderbar, ich gratuliere.“ „Danke, danke“, sagte Stengel leichthin. „Ihre Überlegung, alle Achtung. Freilich war es weniger unser Verdienst als – wie schon oft – ein toller Zufall. Ein Auto, das von der Straße nach Niederstetten in die aufgeschobenen Schneewälle rutschte, hat ihn entdeckt, das heißt, der Fahrer natürlich. Wie das so geht, wissen Sie, der Mann wollte mit aller Gewalt wieder flott werden, wühlte natürlich nur immer tiefer hinein, ja, und dann fanden die Räder plötzlich einen gewissen Widerstand auf Kleidungsstücken.“ „Entsetzlich.“ „Nun ja, wie man’s nimmt. Das heißt …“ Jetzt, dachte Grünthal, jetzt! Warum zögerte dieser lange Affe? Hatten sie etwas entdeckt, die Schnüffler? Aber er hatte doch keinen Fehler begangen? Ein kleiner Stoß, eine knappe Minute, und Katzer war unter Schnee begraben gewesen. Und hatte er nicht noch aus sicherer Entfernung beobachtet, daß ein Schneepflug einen ordentlichen Grabhügel geschaffen hatte? „Hören Sie noch?“ erkundigte sich Stengel. „Sie hatten doch angegeben, daß Katzer Ihr gesamtes Barvermögen gestohlen hatte, nicht wahr?“ Was sollte diese Frage? Und ob Katzer das Geld bei 230
sich gehabt hatte! Er selbst hatte ihm, nachdem er noch mit einiger Mühe die klammen Finger des bereits tief Schlafenden auf die äußeren Scheine gedrückt hatte, das ganze Bündel in die linke Brusttasche seines besten Anzugs geschoben. „Wir haben keinen Pfennig bei ihm entdeckt.“ Er hörte die niederschmetternde Botschaft wie aus weiter Ferne. „Keinen Pfennig“, echote er automatisch. Keinen Pfennig! Ja, aber, das war doch völlig … zum Teufel, wo sollte das Geld denn geblieben sein? Das war doch ein niederträchtiger Witz, daß sich Katzer etwa nochmals aufgerappelt haben sollte? „Was wollen Sie damit sagen?“ schrie er in die Muschel. „Nichts als Sie mit den Tatsachen bekannt machen. Ich hole Sie in zehn Minuten ab.“ Das also war es gewesen, dachte Grünthal steif. Dieses verdammte alte Weib! Die Sparkasse hatte nicht funktioniert. Aber, lieber Gott, wieso eigentlich nicht? Das gab es doch gar nicht, er selbst hatte doch … und er brauchte es doch dringend … Ein Autofahrer hatte den Toten gefunden? Ein Autofahrer? Herrgott, das war’s! Na, dem würde er was erzählen! Daß er nicht gleich daraufgekommen war? Natürlich, wenn man einen Toten fand, suchte man doch bestimmt nach dessen Papieren. Grünthal lächelte bei der Vorstellung, wie dieser Autofahrer plötzlich einen Batzen Geld in der Hand gehabt haben mochte. Die Versuchung war ja eigentlich auch groß, zugegeben. Immerhin, wie bewies er, daß das Geld ihm gehörte? Aber auch das durfte doch kein Problem sein? Da war 231
seine eigene Anzeige, und da mußten ja auch auf einigen Scheinen seine Fingerabdrücke sein. Beweis genug, daß er jenes Geld in den Händen gehalten hatte. Als Kriminalmeister Stengel draußen hupte, verließ ein äußerlich vollkommen gelassener Grünthal das Haus. Fast würdevoll stieg er in den auffallend lackierten Wagen. Ebenso gelassen gab er sich, als Stengel augenscheinlich Mühe hatte, den Motor zu starten. Als Stengel endlich anfuhr, fragte Grünthal betont harmlos: „Ist der Mann noch da?“ „Welcher Mann?“ „Der Katzer gefunden hat.“ „Keine Ahnung, kann sein, aber ich weiß es wahrhaftig nicht.“ Grünthal fand diese Antwort bezeichnend für die Arbeit der hiesigen Polizei. Die waren tatsächlich imstande und ließen den Burschen einfach laufen. Zustände waren das, unbegreiflich. Dagegen war das, was er beim Einbiegen in die Landstraße bemerkte, nun wieder recht vernünftig. Verkehrspolizei in Lederkleidung hatte die Straße abgeriegelt, obwohl eigentlich nur noch Verrückte mit einem Personenwagen reisten. Trotzdem gut, der Mann konnte jedenfalls nicht so einfach mit seinem Geld türmen. „Übrigens, wer war der Mann?“ „Ein Arzt“, erklärte Stengel instruktionsgemäß. „Wer sonst sollte auf die wahnsinnige Idee kommen, bei dem Hundewetter und mitten in der Nacht nach Niederstetten zu fahren? Bei den Straßenverhältnissen, ich bitte Sie! Nee, nee, das verlangt man nur von Ärzten. Und von uns natürlich. Wir müssen sowieso bei jedem Dreck ’raus.“ Grünthal hatte Mühe, seine Gelassenheit aufrechtzuerhalten. Ein Arzt? Stahlen Ärzte Geld von Leichen? Und, 232
Herrgott, was war denn nun schon wieder? Stengel fluchte undeutlich, und erst jetzt begriff Grünthal, daß der Motor offensichtlich schon wieder streikte. Der Wagen lief nur noch ruckweise. Er sah nicht, daß Stengel mit dem rechten Fuß einen eigens für diese kurze Fahrt eingebauten Kontakt neben dem Gaspedal bediente, der die Stromzufuhr in gewünschten Abständen unterbrach. Sogar darauf hatte der Kommissar vorsorglich geachtet. Grünthal war clever genug, etwaige Manipulationen mit dem Zündschlüssel als solche zu erkennen. „Will nicht mehr“, sagte Stengel trocken, als der Wagen endgültig steckenblieb. Rainer Grünthal erfaßte die Feststellung nur im Unterbewußtsein. Vor ihm, im Dämmerlicht des trüben Wintermorgens, noch über hundert Meter entfernt, standen in schiefer Ordnung Personenwagen, ein Krankentransporter, aber eine Menschenseele ließ sich nicht entdecken. Vermutlich hockten die Herren Polizeibeamten in den geheizten Fahrzeugen und kümmerten sich einen Dreck um seine zehntausend Mark. Krampfhaft bemüht, eine Ursache für das Nichtvorhandensein des Geldes zu finden, kam ihm die einzig mögliche Erklärung, falls sich nicht doch der Herr Doktor daran vergriffen hatte. Er stieg hastig aus dem Wagen. „Gehen Sie ruhig voraus.“ Stengel hatte Mühe, das möglichst gleichmütig zu sagen. „Ich schau mal nach dem Motor.“ Grünthal stemmte sich gegen den eisigen Wind und lief unsicher los. Das mußte es sein! Entweder hatte der Arzt den Leichnam so fahrlässig behandelt, daß das Geld aus der Brusttasche rutschen konnte, oder aber, und das erschien ihm weitaus natürlicher, diese Polizeitrottel … 233
Das aber bedeutete, daß sein Geld irgendwo im Schnee verscharrt lag, achtlos zertrampelt, zerknautscht, zerknittert. Zehntausend Mark! Man mußte unbedingt sofort eine genaue Untersuchung des Fundortes … Da war ja die Birke auch schon, jene seltsam verästelte, die er sich wohlweislich als Orientierungszeichen gemerkt hatte. Aus Birkenholz machte man seit eh und je Grabkreuze. Ernst Katzer konnte eigentlich stolz sein, er hatte eine ganze Birke für sich gehabt, nicht nur zwei gekreuzte Knüppel. In der Furche der sorgsam angelegten Wagenspur stolperte er auf die Schneegrube zu, erreichte schwer atmend den Rand und begriff blitzschnell. Aber zu spät. Der Kommissar lag lang ausgestreckt im Schnee und lächelte sein böses Lächeln. „Sie … Sie werden sich … erkälten“, sagte Grünthal mühsam, während die Gedanken schon die Folgen seiner unvorstellbaren Naivität abtasteten. Proskow erhob sich schwerfällig. „Ich hätte gern eine Erklärung, warum Sie, ohne sich zu befragen, genau zu dieser Stelle liefen, an der nun wirklich der tote Katzer gefunden wurde. Wo ich doch eigens für Sie noch drei andere ‚Grabstätten‘ habe anlegen lassen. Können Sie das?“ Rainer Grünthal sah noch einen Moment wie gebannt den unbeholfenen Bemühungen des Kommissars zu, der bei seinem Versuch, aus der Grube zu steigen, immer wieder im lockeren Schnee versank, dann wandte er sich, intensiv um Desinteresse bemüht, ab. „Sachte!“ Stengel stand inzwischen dicht hinter Grünthal. Während der Kommissar sich den Schnee abklopfte, als gäbe es nichts Wichtigeres für ihn, sagte er: „Paß 234
hübsch auf, Stengelchen!“ Grünthal ließ sich vorerst ohne Widerstand zum Wagen führen, saß eingekeilt zwischen einem Uniformierten und dem Kommissar und wunderte sich auch nicht, daß der eben noch bockige Motor nun wieder ausgezeichnet lief. Er begriff – und er fand es lediglich seltsam, daß ihm ausgerechnet jetzt diese Überlegung kam –, warum sich ein erfolgloser Erfinder hin und wieder das Leben genommen hatte. Dennoch, es mußte einen Ausweg geben. Er war kindisch in eine Falle getappt, der verdammte „Lodenonkel“ erwartete eine glaubwürdige Erklärung, man mußte sich also eine einfallen lassen, allerdings leider unter Zeitdruck. Und den haßte er. „Sie werden mir gar nichts beweisen können“, begehrte Grünthal verbissen auf, als der Wagen vorm Amt stoppte. Er versuchte krampfhaft, seine Handschellen vor einigen neugierigen Straßenpassanten zu verstecken, und beeilte sich, die Stufen zum Eingang schnell hinter sich zu bringen. „Sie werden mir nichts beweisen“, keuchte er. „Na, na, lieber Freund! Ich weiß, Sie verlassen sich auf ihr famoses Alibi, sicher auch auf den Abschiedsbrief; durchaus nicht übel gemacht, wenn Ihnen an meiner Anerkennung etwas liegen sollte. Aber gewisse, nicht immer exakt vorausberechenbare Details enthält wohl jede Kalkulation. Vergessen Sie auch nicht, daß Sie sich die Polizei, also einen relativ mächtigen Staatsapparat, als Gegner ausgesucht haben. Natürlich haben wir zu vielen Staaten dieser schönen Erde Kontakte, wenn diese auch nicht immer zufriedenstellend sind. Trotzdem ist es uns ein leichtes, zum Beispiel einen gewissen Denis O’Shelly in Kanadas Wäldern aufzuspüren.“ Bluff, dachte Grünthal instinktiv und sagte hochmütig: 235
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ „Und ob Sie das wissen! Das ist der Mann, der jüngst Herrn Hillmann, seinen ehemaligen Freund, zur Vollendung seines Romans beglückwünschte.“ „Von wegen ‚seines Romans‘!“ Grünthals Erregung war echt. Er blickte dabei unbehaglich auf einen Brief, den der Kommissar lässig hin- und herschwenkte. „Ein Holzfäller und ein Roman, lächerlich! Richtiger ist, daß er mir meinen gestohlen haben muß, und zwar Seite für Seite!“ „Wie das?“ „Wie schon! Jeden Mittwoch zum Beispiel, wenn er meine Frau besuchte.“ „So?“ Der Kommissar schüttelte, scheinbar betrübt über solche Verwerflichkeit, den Kopf. „Eine Gemeinheit, nicht wahr? Zumal er das ja nur mit Wissen und Mithilfe Ihrer Frau bewerkstelligen konnte.“ „Sie sagen es“, murmelte Grünthal vorsichtig. „Und schied sie nicht vor lauter Scham, Reue und Liebe zu Ihnen aus dem Leben?“ „So stand es in ihrem letzten Brief zu lesen.“ „Richtig“, bestätigte Proskow langsam. Er stand jetzt dicht hinter Grünthal. „Sauber gedreht übrigens, die Sache mit diesem Brief. Aber darüber reden wir später. Jetzt nämlich interessiert mich weitaus mehr, warum Ihre angeblich freiwillig aus dem Leben geschiedene, von schweren Gewissensbissen geplagte Frau nicht eine Silbe von dieser Gemeinheit erwähnt hat. Warum sollte sie eine solche Niederträchtigkeit gegen den angeblich noch immer geliebten Mann unerwähnt gelassen haben?“ Grünthal zuckte die Achseln. „Wer kennt sich schon in Frauen aus?“ „Sie zum Beispiel“, gab der Kommissar zurück. „In 236
Ihrer eigenen ganz gewiß. Wie gesagt, ich weiß nicht, unter welchen Vorspiegelungen Sie Ihre Frau zum Verfassen eines solchen Briefes überredet haben, sicher aber ist, daß selbst das naivste Frauchen gestutzt hätte, wenn sie etwas von einem gestohlenen Manuskript hätte schreiben sollen. Das ging also schon nicht. Noch wichtiger aber ist, daß Sie überhaupt kein Wort davon erwähnen durften.“ „Da bin ich aber gespannt …“ „Weil ich dann sofort gewußt hätte, um welchen Einsatz es Ihnen gegangen war!“ Während dieser Auseinandersetzung hatten sie das obere Stockwerk erreicht. Stengel, der schweigend bis ins Dienstzimmer hinterhergetrottet war, spürte einen allmählich wachsenden Groll. Der Kommissar war ihm einfach zu gelassen, zu sachlich, jetzt, wo er doch seinen Triumph hatte. Einen sauer verdienten Triumph, an den kaum ein Mensch hatte glauben wollen. Es fiel dem jungen Kriminalmeister gar nicht auf, daß er innerhalb einer Woche eine Schwenkung um hundertachtzig Grad vollzogen hatte. Noch vor acht Tagen hatte er es als eine Art Pflicht angesehen, sich gleich vielen anderen Kollegen über den alten Kommissar lustig zu machen. In dieser Sekunde freute sich Kommissar Proskow über die Hilfe, die ihm sein junger Mitarbeiter bei diesem Fall gewesen war. Er lächelte, als er Stengel aufforderte: „Nimm sie ihm ab!“ Stengel löste die Handschellen von Grünthals Handgelenken, knallte einen Stuhl hart neben ihn und schrie ihn an: „Setzen Sie sich, Sie … Sie Wetterfrosch, Sie!“ „Sie werden mir nichts beweisen können“, murmelte 237
Grünthal auch jetzt beschwörend, aber es klang schon kläglicher. „Jetzt haben wir Zeit“, brummte Proskow gemütlich und trank ohne Rücksicht auf Grünthal einen besonders kräftigen Schluck Steinhäger. Während er die Flasche wieder verschraubte und im Schreibtisch verstaute, tadelte er Stengel: „Wetterfrosch klingt zwar nicht übel, aber der Herr Grünthal wäre mir auf dem Posten denn doch zu gefährlich. Man kann“, fuhr er fort, eigentlich an beide Zuhörer gerichtet, „Wetter so und so nutzen, zum Guten wie zum Bösen. Und falls es ein Trost ist, am Wetter ist schon manches gescheitert. Die Entdeckung des Seeweges nach Indien durch Kolumbus ebenso wie Napoleons Rußlandfeldzug, die vorjährige Weinernte und hin und wieder ein Satellitenstart. Man redet sich dann gewöhnlich so schön auf höhere Gewalt heraus. Jetzt aber“, wandte er sich endgültig an Grünthal, „sprechen wir über niedere Gewalten. Über Ihre, Grünthal!“ Und nun glaubte Stengel doch ein bißchen Triumph mitschwingen zu hören.
238