V L A D I M I R S O R O K I N DER TAG DES OPRITSCHNIKS ROMAN Aus dem Russischen von Andreas Tretner
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V L A D I M I R S O R O K I N DER TAG DES OPRITSCHNIKS ROMAN Aus dem Russischen von Andreas Tretner
KIEPENHEUER
&
WITSCH
1. Auflage 2008 Titel der Originalausgabe: Den' opritschnika © 2006 by Vladimir Sorokin All rights reserved Aus dem Russischen von Andreas Tretner © 2008 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Der Übersetzung des Gedichts auf S. 160 liegt eine Majakowski-Nachdichtung von Hugo Huppert zugrunde. Umschlaggestaltung: Rudi Linn, Köln Umschlagmotiv: © Rudi Linn, Köln Autorenfoto: © gezett.de Gesetzt aus der Stempel Garamond und der Neuen Helvetica Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-462-03923-8
Maljuta Skuratow gewidmet
IMMER DERSELBE TRAUM: Ich gehe über ein Feld, so endlos groß, wie es sie nur in Russland gibt, sehe weiter vorn ein weißes Pferd, gehe darauf zu und ahne schon, dass es ein besonderes ist, ein Traum von einem Pferd, rassig, schnellfüßig, ein Zauberpferd; ich gehe schneller und kann es doch nicht einholen, lege noch einen Schritt zu, fange an zu rufen, zu schreien, denn auf einmal weiß ich, dieses Pferd ist mein Leben, mein Schicksal, mein Wohl und Wehe, ich brauche es wie die Luft zum Atmen - und ich renne, renne, renne hinter ihm her, während das Pferd ganz gemütlich wegläuft, ohne auf mich oder sonst wen achtzugeben, sich entfernt auf Nimmerwiedersehen, unwiderruflich, da läuft es und läuft und läuft...
Mein Faustkeil weckt mich: Erst ein Peitschenhieb, dann ein Schrei. Noch ein Hieb. Ein Stöhnen. Nach dem dritten Hieb ein Röcheln. Den Klingelton hat Pojarok in der Geheimen Kanzlei mitgeschnitten, als sie einen Wojewoden aus Fernost folterten. Musik, die einen Toten aufweckt. »Komjaga«, schnaufe ich, den kalten Faustkeil ans schlafwarme Ohr gelegt. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch. Korostylew am Apparat«, ertönt die Stimme des alten Sekretärs der Auswärtigen Kanzlei, und im nächsten Moment schwebt neben dem Gerät auch sein besorgtes Schnurrbartgesicht in der Luft. »Was willst du?« 7
»Ich darf Euch daran erinnern, dass heute Abend der Antrittsbesuch des albanischen Gesandten ansteht. Eine Zwölferkorona ist aufzubieten.« »Weiß ich doch«, brumme ich missmutig, obwohl es mir, ehrlich gesagt, entfallen war. »Dann entschuldigt die Störung. Ich tat meine Pflicht.« Ich lege den Faustkeil zurück auf den Nachttisch. Wie kommt ein Sekretär von der Auswärtigen dazu, mich zur Korona zu vergattern? Ach so, ja... Die Auswärtige richtet neuerdings das Handwaschungsritual aus. Das hatte ich ganz vergessen ... Mit noch geschlossenen Augen schwenke ich die Beine vom Bett, bewege den Schädel: Der brummt gewaltig vom gestrigen Abend. Ich taste nach dem Glöckchen und schüttele es. Höre, wie Fedka nebenan von der Pritsche hüpft, hin und her läuft, mit dem Geschirr klappert. Sitze da mit hängendem Kopf, der aufzuwachen sich noch weigert. Es ging wieder heiß her gestern. Und das, obwohl ich mir geschworen hatte, nurmehr mit den eigenen Leuten zu saufen und zu koksen, neunundneunzig bußfertige Verbeugungen habe ich in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale vollzogen deswegen und zum Heiligen Bonifazius gebetet. Einen Dreck hat's geholfen! Aber was soll man machen. Dem Staatsrat Kyrill Iwanowitsch kann ich den Wunsch nicht abschlagen. Er ist schlau. Für weise Ratschläge immer gut. Was ich, im Unterschied zu Pojarok und Siwolai, an Menschen zu schätzen weiß - wenn sie Grütze im Kopf haben. Den allweisen Reden Kyrill Iwanowitschs könnte ich ewig lauschen. Aber ohne Koks macht der nun mal den Mund nicht auf ... Fedka betritt den Raum. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch.« Ich schlage die Augen auf. 8
Vor mir steht Fedka mit dem Tablett. Zerknautscht, blöd dreinschauend - sein Morgengesicht. Auf dem Tablett die traditionelle Labung nach durchzechter Nacht: ein Becher heller Kwass, ein Gläschen Wodka und ein halber Becher Sauerkrautbrühe. Den leere ich als Erstes. Es kneift in der Nase und zieht die Kaumuskeln zusammen. Ich atme geräuschvoll aus und kippe den Wodka hinunter. Mir kommen die Tränen, Fedkas Visage verschwimmt. Nun fällt mir das meiste wieder ein: Wer ich bin, wo ich bin und wozu das. Ich warte noch einen Moment, ehe ich vorsichtig durchatme. Mit einem Schluck Kwass nachspüle. Ein Moment verstreicht, der Moment des Großen Innehaltens. Dann rülpse ich laut, aus tiefstem Inneren. Wische mir die Tränen aus den Augen. Und weiß auch den Rest. Fedka stellt das Tablett ab und kniet vor mir nieder, hält mir den angewinkelten Arm hin. Ich stütze mich auf, stemme mich hoch. Morgens riecht Fedka übler als abends. Das ist die Wahrheit seines Leibes, ihr entkommt man nicht. Da helfen auch keine Hiebe. Ich recke und strecke mich unter Ächzen, trete vor die Ikonenwand, entzünde das Lämpchen, knie nieder. Ich spreche das Morgengebet, verbeuge mich ein ums andere Mal. Fedka steht hinter mir, bekreuzigt sich gähnend. Als ich mit Beten fertig bin, erhebe ich mich, Fedka hilft mir. Ich gehe ins Badezimmer. Wasche das Gesicht mit dem bereitstehenden Brunnenwasser, auf dem Eisbröckchen schwimmen. Schaue in den Spiegel. Das Gesicht leicht aufgedunsen, die Nasenflügel blau geädert, das Haar zerrauft. Erstes Grau an den Schläfen. Ein bisschen früh für mein Alter. Aber das kommt von der Arbeit, so ist sie nun mal. Der Staatsdienst ist kein Honiglecken ... 9
Ich verrichte meine Notdurft und steige anschließend in den Jacuzzi, schalte das Programm ein und lege den Kopf auf die Nackenstütze, die warm und bequem ist. Mein Blick geht zu dem Gemälde an der Decke: Jungfrauen beim Kirschenpflücken im Garten. Das beruhigt. Ich betrachte die Mädchenfüße, die Körbe mit den reifen Kirschen. Die Wanne läuft voll, das Wasser braust und sprudelt mir um den Leib. Der Wodka von innen und die Luftblasen von außen wecken meine Lebensgeister. Nach einer Viertelstunde hört das Sprudeln auf. Ich bleibe noch einen Moment liegen, dann drücke ich den Knopf. Fedka erscheint mit einem Laken und dem Morgenmantel. Er hilft mir aus der Wanne, wickelt das Laken um mich, hängt mir den Mantel über. Ich gehe ins Esszimmer. Dort ist Tanjuschka schon dabei, das Frühstück aufzutragen. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich eine Verlautbarungsblase. »Nachrichten!«, sage ich vernehmlich. Die Blase flammt auf, die blau-weiß-rote Fahne unseres Vaterlandes mit dem goldenen doppelköpfigen Adler erscheint in ganzer Breite, es ertönen die Glocken vom Großen Iwan. Ich schlürfe Tee mit Himbeeren und erfahre, was es Neues gibt: Am Nordkaukasusabschnitt der Südmauer sind neuerlich Kanzleibeamte und Landverweser des Diebstahls überführt worden, die Rohrleitung Fernost bleibt abgeschottet, bis die Japaner uns mit einem Bittgesuch zu Kreuze kriechen, die Chinesen bauen ihre Siedlungen in Krasnojarsk und Nowosibirsk aus, der Gerichtsprozess gegen die Geldschneider aus dem Uralischen Schatzhof dauert an, die Tataren errichten zum Jubiläum des Gossudaren einen raffinierten Palast, die Schlauberger aus der Akademie für Heilkunde kommen mit den Arbeiten am 10
Alterungsgen gut voran, die berühmten Muromer Fiedler geben zwei Kremlkonzerte, Graf Trifon Bagrationowitsch Golyzin hat sein junges Weib erschlagen, für Januar sind auf dem Heumarkt im Hl. Petrograd keine öffentlichen Auspeitschungen vorgesehen, der Rubel ist gegenüber dem Yang wieder um eine halbe Kopeke gestiegen. Tanjuschka trägt Quarkkeulchen, gedämpfte Rüben in Honig und Kissel auf. Im Gegensatz zu Fedka ist Tanjuschka eine Wohltat für Aug und Nase. Ihre Röcke knistern angenehm. Der kräftige Tee und der Moosbeerenkissel treiben mir den nötigen Schweiß aus den Poren und bringen mich endgültig wieder auf die Beine. Tanjuschka reicht mir ein Handtuch, das sie eigenhändig bestickt hat. Ich reibe mein Gesicht ab, stehe vom Tisch auf, bekreuzige mich, danke dem Herrgott für das Mahl. Zeit, an die Arbeit zu gehen. Der Bartscherer Samson - ein Zugezogener - wartet schon in der Ankleidestube. Ich begebe mich dorthin. Der kleine, stämmige, wortkarge Mann platziert mich ehrerbietig vor dem Spiegel, massiert mir das Gesicht, reibt den Nacken mit Lavendelöl ein. Seine Hände sind mir, wie die aller aus seiner Zunft, unangenehm. Wobei ich grundsätzlich anderer Meinung bin als der Zyniker Mandelstam, wenn er sagt: »Macht ist so widerlich wie Hände von Barbieren.« Nein, Macht hat ihren Reiz, sie ist so verführerisch wie der Schoß einer jungfräulich zarten Goldstickerin. Anders die Hände eines Barbiers ... Nicht zu ändern, Weibern ist es untersagt, uns zu rasieren. Samson sprüht mir aus einem orangefarbenen Fläschchen mit der Aufschrift Dschingis Khan Schaum auf die Wangen, den er mit übertriebener Sorgfalt verschmiert, um nicht den schmalen, schö11
nen Kinnbart zu besudeln, greift nach der Klinge, zieht sie schwungvoll ein paarmal am Riemen ab, nimmt, sich auf die Unterlippe beißend, Maß und fängt an, das Weiß in geraden, gleichmäßigen Zügen wieder aus dem Gesicht zu schaben. Ich betrachte mich. Meine Wangen sind nicht mehr die allerfrischesten. In den letzten zwei Jahren habe ich ein halbes Pud abgenommen. Die Schatten unter den Augen sind zur Regel geworden. Wir alle leiden an chronischem Schlafmangel. Die letzte Nacht war keine Ausnahme. Samson legt das Rasiermesser zur Seite und greift zum elektrischen Apparat. Damit stutzt er geschickt das beilförmige Ende meines Bartes. »Guten Morgen, Komjaga!«, zwinkere ich mir selbst zu. Die unangenehmen Hände legen ein heißes, minzegetränktes Tuch auf mein Gesicht. Sorgsam fährt Samson damit über die Haut, reibt, bis mir die Röte in die Wangen schießt, dreht das Haarbüschel auf meinem rasierten Schädel ein, sprüht Lack und anschließend reichlich Goldpuder darüber, zuletzt kommt der schwere goldene Ring mit dem Glöckchen ohne Klöppel ins rechte Ohr. An diesem Ring erkennt man uns. Kein Gemeiner, ob Landvogt, Staatsbeamter, Strelitze, Duma-Bojare, Provinzadliger oder sonst ein Gesindel, würde es wagen, sich ein solches Glöckchen anzuhängen - nicht einmal zum Weihnachtsmaskenfest. Samson besprüht meinen Schädel mit Wildapfelessenz, verbeugt sich wortlos und geht hinaus - der Barbier hat seine Schuldigkeit getan. Sogleich erscheint Fedka, das Gesicht immer noch in Falten, aber wenigstens schon im frischen Hemd, mit geputzten Zähnen und gewaschenen Händen. Bereit, die Prozedur des Ankleidens an mir vorzunehmen. Ich lege die flache Hand an 12
das Schloss des Kleiderschranks. Das Schloss summt, ein rotes Lämpchen blinkt, die eichene Tür fährt zur Seite. Meine achtzehn Gewänder kommen zum Vorschein. Allmorgendlich ein erhebender Anblick. Heute ist ein normaler Werktag. Also Arbeitskleidung. »Für alle Tage«, sage ich zu Fedka. Er nimmt die passende Kluft aus dem Schrank und beginnt mich anzukleiden: zuerst das weiße, mit Kreuzstich verzierte Unterzeug, dann die rote, nach Russenart seitlich zu knöpfende Stehkragenbluse, die Jacke aus gold- und silberdurchwirktem Brokat mit Marderbesatz, dazu Pumphosen aus Samt und die saffianledernen roten Stiefel, mit Kupfer beschlagen. Über die Brokatjacke zieht mir Fedka zu guter Letzt den wattierten Kaftan aus grobem schwarzem Tuch, dessen Schöße weit hinunterreichen. Nach einem Blick in den Spiegel schließe ich den Schrank. Beim Betreten des Vorzimmers schaue ich auf die Uhr: 8:03. Die Zeit drängt. Im Vorzimmer warten die, die mir das Geleit geben wollen: meine alte Amme mit der Ikone des Heiligen Georg, des Wundertäters, Fedka mit Gürtel und Mütze. Letztere, aus schwarzem Samt mit Zobelbesatz, beeile ich mich aufzusetzen, lasse mir den breiten Ledergürtel umlegen. An ihm hängt ein Dolch in kupferner Scheide, rechts davon der Rebroff im hölzernen Halfter. Währenddessen schlägt die Amme das Kreuz über mir. »Andrjuschenka! Die Heilige Gottesmutter, der Heilige Nikola und alle Starzen von Optina mögen dir beistehen!«, ruft sie. Dabei wackelt ihr spitzes Kinn, die tränenden wasserblauen Augen schauen ergriffen. Ich bekreuzige mich und küsse die Ikone des Heiligen Georg. Die Amme schiebt mir das Gebet Wer unter dem 13
Schirm des Höchsten sitzet in die Tasche, das Nonnen des Neujungfrauenklosters in Gold auf eine schwarze Schleife gestickt haben. Ohne dieses Gebet fahre ich niemals zum Einsatz. »... und gewähre den Sieg über die Feinde«, brummelt Fedka und schlägt sein Kreuz. Aus der Tür zur guten Stube lugt Anastassija: rotweißer Sarafan, smaragdfarbene Augen, das blonde Haar über der rechten Schulter. Am tiefen Rot ihrer Wangen kann ich sehen, wie erregt sie ist. Die Augen niedergeschlagen, hat sie sich flink verbeugt, wobei die hohe Brust ins Schaukeln gekommen ist. Nun verschwindet sie wieder hinter dem schweren Eichenrahmen. Diese mädchenhafte Verbeugung erzeugt bei mir im Herzen sogleich eine hitzige Aufwallung. Erst vorgestern in der Dunkelheit des Dampfbades hat sie ihren Schoß für mich geöffnet, ward lebendig unter dem Liebesgeflüster an ihrem Ohr, schmiegte sich an mich in all ihrer jungfräulichen Glut, wisperte so voller Inbrunst, dass das Blut in den Adern kochte ... Doch die Arbeit geht vor. Und Arbeit gibt es heute wahrlich nicht zu knapp. Der albanische Gesandte hat mir gerade noch gefehlt. Ich trete hinaus in die Diele. Dort steht das ganze übrige Gesinde versammelt: Stallburschen, Hundeknecht, Koch und Beiköchin, Hausmeister, Wächter und Beschließerin. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch!«, rufen sie und verbeugen sich tief. Ich nicke ihnen im Vorbeigehen zu. Die Dielenbretter knarren. Die geschmiedete Tür wird mir aufgetan, ich trete hinaus auf den Hof. Der Tag verspricht sonnig zu werden, dazu eine knackige Kälte. Über Nacht hat es ein bisschen geschneit: Tannenbäume, Zaun und Wachturm sind wie gepudert. 14
Schnee ist immer gut! Er verhüllt die Scham der Erde. Und die Seele läutert sich. Gegen die Sonne anblinzelnd, lasse ich den Blick über den Hof schweifen: Speicher, Scheune, Schweinestall, Reitstall - alles gediegen und in Schuss. Der struppige Rüde zerrt an der Kette, die Windhunde im Zwinger hinter dem Haus winseln, im Stall kräht der Hahn. Der Hof ist sauber gefegt, Schneehaufen, akkurat wie Osterbrote. Am Tor steht mein Merin - rot wie mein Hemd, schnittig und blank. Die gläserne Kanzel blitzt in der Sonne. Daneben wartet Timocha, der Pferdeknecht, mit dem Hundekopf in der Hand. »Bitte um Euer Einverständnis, Andrej Danilowitsch«, sagt er mit einer Verbeugung. Dabei zeigt er mir den Kopf für den heutigen Tag vor: einen zottigen Wolfshund mit verdrehten Augen, Zunge bereift, kräftige gelbe Zähne. Kommt damit auf mich zu. »Ist gut. Mach schon!«, sage ich. Geschickt befestigt Timocha den Kopf am Stoßfänger meines Merins. An den Kofferraum kommt der Besen. Ich lege die Hand an das Türschloss, die gläserne Kanzel fährt nach oben. Ich nehme im schwarzen Leder des Liegesessels Platz. Gurte mich an. Starte den Motor. Die hölzernen Torflügel gehen vor mir auf. Ich fahre vom Hof, fege die schmale, schnurgerade Straße entlang, verschneiter alter Fichtenwald zu beiden Seiten. Solch eine Pracht! Ein guter Ort. Ich sehe mein Anwesen im Rückspiegel kleiner werden. Ein anständiges Haus, eines mit Seele. Ganze sieben Monate wohne ich hier, und mir kommt es so vor, als wäre ich hier geboren und aufgewachsen. Früher hat dieses Gut dem Kumpanen eines Geldschneiders aus dem Schatzhof mit Namen Stepan Ignatjewitsch Gorochow gehört. Als der während der Großen 15
Säuberungen in seiner Kanzlei in Ungnade fiel und nackent gemacht wurde, haben wir ihn uns vorgeknöpft. In dem heißen Sommer damals sind im Schatzhof viele Köpfe gerollt. Bobrow mit fünfen seiner Spießgesellen ist in einem eisernen Käfig durch Moskau gekarrt, dann ausgepeitscht und auf der Schädelstätte enthauptet worden. Das halbe Personal wurde der Stadt verwiesen und hinter den Ural verbracht. Es gab viel zu tun ... Dem Gorochow haben wir damals, wie es sich ziemte, zuerst die Visage in den Mist gedrückt, dann das Maul mit Banknoten ausgestopft und zugenäht, eine Kerze in den Arsch gesteckt; schließlich wurde er am Gutstor aufgeknüpft. An der Familie durften wir uns nicht vergreifen. Aber das Gut bekam ich überschrieben. Unser Gossudar ist gerecht. Und das ist gut so.
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KURVE NACH RECHTS.
Auffahrt auf den Rubljowy Trakt. Eine gute Straße, zehnspurig, zwei Ebenen. Ich wechsle auf die Spur ganz links, die rote. Sie ist uns vorbehalten. D e m Staat. Solange ich am Leben und in Staatsangelegenheiten unterwegs sein werde, ist es meine. Die anderen Autos, sowie sie den roten Merin eines Opritschniks sehen und den Hundekopf daran, machen Platz. Wie ein Pfeil schwirre ich durch die gute Landluft, gebe Gas. Ein Verkehrsposten grüßt ehrerbietig. »Radio Russ!«, kommandiere ich laut. Sogleich erfüllt eine sanfte Mädchenstimme das Innere meines Wagens. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch. Was möchtet Ihr hören?« Die Nachrichten kenne ich schon alle. Ein gutes Lied wäre das Richtige gegen den Kater. »Singt mir eins. Das von der Steppe und dem Adler.« »Kommt sofort.« Zügig setzen die Gusli ein, Schellen rasseln im Takt, ein silberhelles Glöckchen klingt, und das Lied hebt an: O du wilde Steppe mein, Freies weites Land, Fluren ohne Zaun und Rain, Endlos aufgespannt. Ist das nicht der stolze Aar, Der dort droben schwebt? Ist das nicht der Donkosak, Der die Peitsche hebt? 17
Der Rotbanner-Kremlchor singt. Ein kraftvoller, guter Gesang. So schmetternd, dass einem die Tränen kommen. Mein Merin fegt in Richtung Hauptstadt. Dörfer, Landgüter fliegen vorbei. Sonnenlicht gleißt auf den verschneiten Fichten. Die Seele wird entgiftet, rappelt sich, lechzt nach neuen Höhenflügen ... Adler, flieg nur nicht zu tief, Dass dich fängt ein Schuss! Gib, Kosak, dem Pferd die Sporen Nicht zu nah am Fluss! Gern wäre ich mit diesem Lied bis ganz nach Moskau hineingerollt, doch ein Anruf kommt dazwischen. Posocha ist dran. Seine geschniegelte Fresse erscheint im schillernden Rahmen. »Hol dich der ...«, brummle ich in meinen Bart und stelle das Lied ab. »Komjaga!« »Was gibt's?« »Schuld und Sühne!« »Was ist denn?« »Der Einsatz beim Edelmann war ein Schuss in den Ofen.« »Wieso?« »Wir haben die ganze Nacht versucht, ihm was unterzuschieben, er hat nicht angebissen.« »Seid ihr verrückt? Und wieso gibst du Schwachkopf nicht Bescheid?« »Wir haben bis zuletzt gehofft, dass es klappt, aber er ist einwandfrei abgeschirmt. Drei Schutzzonen.« »Weiß der Alte davon?« »Nö ... Sag du's ihm, Komjaga, ich hab Schiss. Er ist noch wegen der Kleingewerbetreibenden sauer auf 18
mich, da hab ich kalte Füße. Mach du es, dann verbeißt er sich nicht schon wieder in mich.« Ich rufe den Alten an. Sein breites, rotbärtiges Gesicht erscheint rechts vom Lenkrad. »Sei gegrüßt, Ältester.« »Komjaga! Grüß dich. Bist du bereit?« »Immer bereit, Ältester. Wenn's nach mir ginge ... Aber unser Trupp hat sich dämlich angestellt. Sie kriegen es nicht gebacken, eine Handhabe anzuzetteln bei dem Blaublütigen.« »Nicht mehr nötig«, sagt der Alte und gähnt. Sein kräftiges, tadelloses Gebiss ist zu sehen. »Den können wir ohne Vorwand abräumen. Der ist jetzt nackent. Aber der Familie wird kein Haar gekrümmt, hörst du?« »Aha. Alles klar«, sage ich und nicke, schalte den Alten ab und Posocha wieder zu. »Hast du's vernommen?« »Hab ich«, sagt er mit erleichtertem Grinsen. »Gott sei's gedankt!« »Bedank dich beim Alten, nicht beim lieben Gott.« »Schuld und Sühne!« »Und sieh zu, dass du pünktlich bist, Rumtreiber!« »Bin schon vor Ort.« Ich wechsele auf den Himmelfahrtstrakt, die H l . Hier steht der Wald noch höher als bei uns. Hundert] ährige Fichten, die haben viel mit angesehen. Die könnten was erzählen: von den Roten Wirren und den Weißen Wirren und den Grauen Wirren. Von Russlands Wiedergeburt. Dem Großen Wandel. Unsereins zerfällt zu Staub, entschwebt ins Jenseits, während die stolzen Fichten weiter dastehen werden und schaukeln mit ihren majestätischen Zweigen ... Aber sieh einer an, wie das Blatt sich gewendet hat bei dieser Persönlichkeit! Nun braucht es schon nicht 19
mal mehr eine Handhabe. Erst vorige Woche hat es mit Prosorowski das gleiche Ende genommen, jetzt mit dem da ... Unser Gossudar hat sich kräftig verbissen in die feinen Leute. Und das ist gut so. Wenn der Kopf einmal ab ist, braucht man um die Mütze nicht weinen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Und wer ausgeholt hat - der muss zuschlagen! Vor mir sehe ich noch zweie von uns mit ihren roten Merins. Ich hole auf und bremse ab. Wir fahren in Kolonne. Biegen einer nach dem anderen ab. Nun dauert es nicht mehr lange, bis wir auf das Tor eines Anwesens stoßen. Hier wohnt Iwan Iwanowitsch Kunizyn, der besagte. Acht unserer Fahrzeuge stehen schon davor. Posocha ist da, Chrul, Siwolai, Pogoda, Ochlop, Sjabel, Nagul und Kreplo. Durchweg die alte Garde. Nicht zufällig wird der Alte sie zu diesem Einsatz kommandiert haben. Und recht getan! Kunizyn ist eine harte Nuss. Die zu knacken, braucht es Routine. Ich stelle den Wagen ab, steige aus, öffne den Kofferraum und hole meinen Holzprügel hervor. Dann gehe ich zu meinen Leuten. Sie stehen da und warten auf einen Befehl. Der Alte ist nicht da, also hört alles auf mein Kommando. Kurze, sachliche Begrüßung. Ich nehme den Zaun in Augenschein. Eine Kette Strelitzen aus der Geheimen Kanzlei hat sich zu unserer Unterstützung aufgebaut, zieht sich rings um das Anwesen durch den Wald. Auf Befehl des Gossudaren ist es schon seit der Nacht umstellt. Auf dass kein listig Mäuslein entkomme und kein bissig Mücklein. Doch das Tor der Persönlichkeit hat es in sich. Pojarok schellt an der Pforte und ruft ein ums andere Mal: »Iwan Iwanowitsch, macht auf! Lasst uns im Guten ein!« 20
»Ohne Regierungsabgeordnete kommt ihr Schlagetots mir nicht auf den Hof!«, schallt es aus der Sprechanlage. »So wird es nur noch ärger, Iwan Iwanowitsch!« »Ärger kann's für mich nimmer werden, Halunke!« Wo er recht hat, hat er recht. Ärgeres geschähe nur in der Geheimen Kanzlei, und die bleibt Iwan Iwanowitsch erspart. Die Sache ist in unsere Hände gelegt. Meine Leute sind auf dem Sprung. Es ist Zeit. Ich trete vor das Tor. Die Opritschniki stehen still. Ich schlage mit dem Knüppel ein erstes Mal dagegen. »Wehe diesem Haus!« Dasselbe noch einmal. »Wehe diesem Haus!« Und ein dritter Schlag. »Wehe diesem Haus!« Nun kommt Bewegung in die Männer. »Schuld und Sühne! Dran und drauf!« »Dran und drauf! Dreck am Stecken!« »Sack und Asche! Dran und drauf! Hopp-hopp!« Ich klopfe Pojarok auf die Schulter: »Walte deines Amtes!« Siwolai und er machen sich am Tor zu schaffen, bringen eine Sprengladung an. Alle treten zurück, halten sich die Ohren zu. Ein Knall, und vom großen eichenen Tor kommen die Trümmer geflogen. Prügel voran, springen wir durch die Bresche. Dahinter erwartet uns die Wache des Hausherrn mit ihren Knüppeln. Feuerwaffen anzuwenden verbietet sich von selbst, die Strelitzen ringsum mit ihren Kaltfeuerkanonen hätten im Nu alles niedergemäht. Und ein Gesetz der Duma sieht vor, dass, wer von den Untergebenen sich mit einem Stock in der Hand dem Zugriff zu erwehren weiß, der Gnade des Gossudaren teilhaftig wird. 21
Wir dringen vor. Das Anwesen ist solide, mit einem geräumigen Hof. Platz zum Ausholen! Die Wachen und das Gesinde harren unser, mit Knüppeln bewaffnet, auf einen Haufen gedrängt. Sie haben drei Kettenhunde dabei, die auf uns losgehen wollen. Sich mit so einer Meute anzulegen, ist ein hartes Brot. Da braucht es ein planvolles Herangehen. Das Staatsamt im gewitzten Handstreich ausüben. Ich hebe den Arm. »Alle mal herhören! Euer Herr hat sowieso ausgespielt!« »Wissen wir!«, brüllt die Wache. »Euch werden wir trotzdem die Krallen zeigen!« »Moment! Lasst uns zwei Stellvertreter wählen! Obsiegt euer Mann, so könnt ihr ungeschoren abziehen mit all eurer Habe. Unterliegt er, so fällt alles an uns.« Die Wache überlegt. »Schlagt ein, solange wir es uns nicht anders überlegen!«, rät Siwolai ihnen zu. »Wenn erst Verstärkung eingetroffen ist, putzen wir euch weg, so oder so! Gegen die Opritschnina ist kein Kraut gewachsen!« Die anderen beratschlagen. »Na schön!«, heißt es dann. »Womit wird gekämpft?« »Mit Fäusten!«, antworte ich. Ein Duellant tritt aus der Meute hervor: so ein Hüne von Stallknecht mit Kürbisgesicht. Wirft den Schafspelz ab, zieht Handschuhe über, wischt sich den Rotz von der Nase. Für diesen Fall sind wir gewappnet: Pogoda wirft Siwolai seinen schwarzen Kaftan in die Arme, zieht sich die Marderfellmütze vom Kopf, legt die Brokatjacke ab, lässt die strammen, rotseiden umspannten Muskeln spielen und zwinkert mir zu, während er nach vorne tritt. Gegen Pogoda ist im Faustkampf selbst der wackere Maslo ein junger Spund. Pogoda ist nicht 22
groß, aber breit in den Schultern, von kernigem Knochenbau, wendig und flink. Einen Treffer in seine glatte Visage zu landen, ist schwer. Von ihm eine gelangt zu kriegen - mittenrein ins Weiche -, umso leichter. Mutwillig, die Augen spöttisch zusammengekniffen, schaut Pogoda seinem Widersacher entgegen, schwenkt die seidenglänzende Taille. »Na, was ist, Plumpsack! Bist du bereit für eine Tracht Prügel?« »Freu dich nicht zu früh, Opritschnik!« Die beiden Kämpfer umkreisen sich, schätzen einander ab. Ihre Kleidung, ihr Stand könnten unterschiedlicher nicht sein, sie dienen sehr verschiedenen Herren - und sind doch aus demselben russischen Holz geschnitzt. Zupackende Naturen, wie Russen nun einmal sind. Wir stellen uns im Kreis um die beiden auf, Seite an Seite mit den Bediensteten. Beim Faustkampf ist das normal. Da sind sich alle gleich, ob Bauer oder Adelsmann, Scherge oder Beamter. Die Faust hat das Sagen. Pogoda lacht, zwinkert dem Stallknecht zu, lässt seine strammen Muskeln spielen. Und der Kerl kann nicht länger an sich halten, kommt gesprungen, schwingt die bleischwere Faust. Pogoda duckt sich und setzt dem Stallknecht im selben Moment kurz und trocken eine in die Herzgrube. Der japst, hält aber stand. Pogoda tänzelt schon wieder um ihn herum, wiegt die Schultern wie eine züchtige Jungfer, zwinkert, zeigt seine rosa Zunge. Der Stallknecht mag solche Tänze nicht, er grunzt und holt wieder aus. Doch Pogoda kommt ihm zuvor: eine links ans Jochbein, eine rechts in die Rippen - zack! zack! -, dass es knackt. Der bleiernen Faust ist er dabei erneut ausgewichen. Der Stallknecht brüllt auf wie ein Bär, schwingt die Tatzen, von denen die 23
Handschuhe heruntersegeln. Es hilft ihm alles nichts: Er fängt schon wieder eine in den Magen, eine gegen den Rotzkolben: krach! Davon gerät der Bursche ins Straucheln, ein besoffener Tanzbär. Jetzt hat er beide Hände verschränkt, schwingt sie brüllend durch die frostklare Luft wie eine Axt - alles umsonst: Ploppplopp-plopp! prasseln Pogodas Fäuste auf ihn ein. Die Stallknechtvisage suppt schon, ein Auge ist blau, aus der Nase trieft es rot. Blutstropfen fliegen umher, funkelnd in der Wintersonne wie Rubine landen sie im zertrampelten Schnee. In der Meute verdüstern sich die Mienen. Meine Männer zwinkern einander zu. Der Stallknecht schwankt, schnieft durch die zerschlagene Nase, spuckt Zahnkrümel. Noch ein Hieb und noch einer. Der Bursche weicht zurück, fuchtelt wie ein Honigbär vor den aufgescheuchten Bienen. Und Pogoda lässt nicht locker: Noch eine! Und noch eine! Hart und zielsicher landen die Schläge des Opritschniks. Meine Männer stoßen Pfiffe aus, frohlocken. Ein letzter, verheerender Schlag, und der Stallknecht fällt um. Pogoda stellt ihm den schicken Stiefel auf die Brust, zieht das Messer aus der Scheide und fährt dem Liegenden damit schwungvoll einmal quer übers Gesicht - ritsch! So muss es sein. Als Lehre. Anders darf man mit ihnen jetzt nicht umspringen. Mit Blut geht alles wie geschmiert. Der Kampfgeist der Meute ist erloschen. Der Plumpsack hält sich die zersäbelte Visage, zwischen den Fingern spritzt das Blut hervor. Pogoda packt das Messer weg, rotzt auf den Besiegten. »Puh! Der blutet ja! Schöne Schweinerei!«, sagt er und zwinkert den Umstehenden zu. Der Spruch ist bekannt. Es ist unserer. Hat sich so eingebürgert. 24
Höchste Zeit, einen Punkt zu machen. Den Knüppel erhoben, rufe ich: »Auf die Knie, ihr Trampel!« In solchen Augenblicken sieht man, woran man ist. Oh, der Russe ist einfach unverwechselbar! Die Gesichter der verdutzten Meute! Einfache russische Gesichter. Ich liebe ihren Anblick in Momenten wie diesem, in der Stunde der Wahrheit. Sie sind ein Spiegel. Darin wir uns spiegeln. Wir und die liebe Sonne. Gottlob ist dieser Spiegel noch nicht stumpf geworden, nicht blind von der Zeit. Die Meute sinkt auf die Knie. Wir atmen auf. Im nächsten Moment ruft der Alte an. Er hat von seinem Moskauer Haus aus zugesehen. »Gut gemacht!« »Wir dienen dem russischen Vaterland, Ältester! Was wird aus dem Haus?« »Auf Abriss.« Auf Abriss? Das ist neu ... Bisher wurde ein kaltgestelltes Anwesen noch jedes Mal verschont und den eignen Leuten zugeführt. Das Gesinde wechselte zum neuen Herrn über. So war es auch bei mir. Wir blicken uns an. Der Alte lächelt und zeigt seine weißen Zähne. »Was zögert ihr noch? Das ist ein Befehl: dem Erdboden gleichmachen.« »Wird erledigt, Ältester!« Aha. Dem Erdboden gleich. Bedeutet: den roten Hahn aufs Dach. Das hat es lange nicht gegeben. Aber Befehl ist Befehl. Da wird nicht diskutiert. Ich kommandiere das Gesinde: »Jeder kann einen Sack voll Plunder mitnehmen! Ihr habt zwei Minuten Zeit!« Sie haben schnell begriffen, dass das Haus verloren ist. Sich am Riemen gerissen. Sind losgerannt, jeder in sein Kämmerchen, um das Nötigste zu greifen oder 25
auch nur das Erstbeste. Währenddessen behalten meine Leute das Haus im Blick. Gitter vor den Fenstern, eisenbeschlagene Türen, rote Backsteinwände. Alles sehr solide. Gutes, glattes Mauerwerk. Die Vorhänge vor die Fenster gezogen - bis auf einen Spalt, durch den flinke Augen spähen. Dort drinnen hinter den Gittern herrscht häusliche Geborgenheit. Das heißt, sie hat die längste Zeit geherrscht, hält nun den Atem an, zuckt in Todesangst ... Oh, wie wonniglich, in diese Geborgenheit hineinzustoßen, herauszukratzen von da das zuckende Etwas! Das Gesinde hat seinen Kram zusammengesucht, jeder einen Sack. Jetzt kommen sie geschlichen, demütig wie ein Häuflein Wanderprediger. Wir lassen sie zum Tor. Dort, an der Bresche, stehen die Strelitzen mit ihren Strahlenschusswaffen auf Wacht. Das Gesinde verlässt das Anwesen, schaut sich immer wieder um. Schaut nur, ihr Tölpel, uns soll es recht sein. Denn jetzt schlägt unsere Stunde. Wir umstellen das Haus, klopfen mit den Knüppeln an die Fenstergitter und gegen die Mauern: »Dran und drauf!« »Dran und drauf!« »Dran und drauf!« Sodann umschreiten wir es dreimal in Richtung des Sonnenlaufs: »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« Pojarok pappt seinen Sprengsatz an die schmiedeeiserne Tür. Wir treten zurück, legen die Handschuhe vor die Ohren. Die Ladung detoniert - und die Tür ist nicht mehr da. Allerdings ist dahinter noch eine, aus Holz. Siwolai holt den Schneidbrenner hervor. Die sir26
rende blaue Flamme, nicht dicker als eine Stricknadel, frisst sich wütend voran, und binnen kürzester Zeit kippt polternd ein Streifen aus dem Türblatt. Wir treten ein. Ganz ruhig. Zu viel Eile ist jetzt nicht mehr angebracht. Drinnen ist es still und friedlich. Ein schönes Haus hat dieser Edelmann, sehr behaglich. Das Gesellschaftszimmer ist ganz auf chinesische Art eingerichtet: Liegen, Teppiche, flache kleine Tische, mannshohe Vasen, Rollbilder, Drachen auf Seide und aus grünem Jadestein. Auch die Verlautbarungsblasen sind aus China: geschweifte Formen, in Ebenholz gefasst. Fernöstliche Düfte hängen in der Luft. Das ist die heutige Mode, was soll man machen. Über die breite, mit einem chinesischen Läufer ausgelegte Treppe steigen wir hinauf in den ersten Stock. Hier sind die Gerüche vertrauter: Es riecht nach Lampenöl, Hartholz, alten Büchern und Baldrian. Gediegene Wohnräume, die Wände aus Bohlen gefügt und sorgfältig kalfatert. Zierhandtücher, Ikonenschreine, Truhen und Kommoden, Samoware, gekachelte Öfen. Wir verteilen uns auf die Zimmer, durchsuchen sie. Keiner da. Ist die Laus etwa entwischt? Wir laufen umher, fahren mit den Knüppeln unter die Betten, durchstöbern die Wäsche, zertümmern die Kleiderschränke. Der Hausherr ist nirgends zu finden. »Er wird doch nicht durch den Schornstein entfleucht sein?«, brummt Posocha. »Vielleicht, dass das Haus einen Geheimgang hat«, meint Kreplo, während er mit seinem Knüppel in einer Kommode herumstochert. »Das Gelände ist von Strelitzen umstellt, wo soll er da hin?«, entgegne ich. Wir steigen hinauf ins Dachgeschoss. Es hat einen Wintergarten, einen Steingarten, eine Rieselwand, Er27
tüchtigungsgeräte, eine Sternwarte. Die haben sie jetzt alle ... Was ich überhaupt nicht verstehen kann. Astronomie hin, Astrologie her, das sind großartige Wissenschaften, aber was braucht es dazu ein Fernrohr? Damit lässt sich doch nichts orakeln! Die Nachfrage nach Fernrohren in der Hauptstadt ist einfach sagenhaft, es will einem nicht in den Kopf. Selbst der Alte hat sich so ein Ding auf sein Grundstück gestellt. Allerdings hat er nie Zeit durchzugucken. Posocha scheint meine Gedanken zu lesen. »Diese Bonzen und Geldschneider glotzen sich dumm und dämlich an ihren Sternen. Was sie dort nur zu finden glauben? Den Tod?« »Vielleicht den lieben Gott?«, witzelt Chrul und klopft dreimal mit dem Knüppel an den Stamm einer Palme. »Lästere nicht!«, weist die Stimme vom Alten ihn augenblicklich zurecht. »Entschuldige, Ältester«, sagt Chrul und schlägt hastig ein Kreuz. »Mich hat der Teufel geritten.« »Und wozu sucht ihr Toffel auf die altmodische Tour?«, hat der Alte noch etwas zu maulen. »Schaltet gefälligst den Spürhund ein!« Wir folgen der Anweisung. Surrend pegelt das Gerät sich ein und zeigt in Richtung Erdgeschoss. Wir gehen wieder nach unten. Die Suchmaschine führt uns zu den zwei chinesischen Vasen. Es sind hohe, bauchige Bodenvasen, sie überragen mich. Wir wechseln Blicke, zwinkern uns zu. Ich deute mit dem Kopf auf Chrul und Siwolai. Sie holen aus und lassen ihre Knüppel gegen die Vasen knallen. Das dünne Porzellan zerspringt wie die Schale von einem großen Drachenei. Und aus den Eiern schlüpfen - wie Castor und Pollux - die Kinder des Edelmanns! Purzeln über den Teppich und brül28
len los. Drei, vier ... sechs Bälger. Alle weißblond, eins kleiner als das andere. »Na, sieh einer an«, kichert der unsichtbare Alte. »Was der Gauner sich hat einfallen lassen!« »Scheint vor Angst übergeschnappt zu sein!«, meint Siwolai mit einem scheelen Blick auf die Kinder. Kein guter Blick ist das. Aber wir rühren die Kinder nicht an. Hätte der Befehl gelautet: Gewürm zertreten, dann ja. Aber so ... Unnötiges Blutvergießen ist nicht unsere Art. Die Männer fangen die quietschenden Kleinen wie Rebhühner ein, tragen sie unter die Arme geklemmt davon. Draußen ist schon Dorfvogt Awerjan Trofimytsch, das Hinkebein, mit seinem gelben Autobus vorgefahren. Der bringt die Kleinen in seinem Waisenhaus unter, wo er sie nicht verderben lässt, auf dass sie heranwachsen zu ehrbaren Bürgern unseres großmächtigen Vaterlandes. Auf Kindergebrüll beißen hochwohlgeborene Gattinnen an wie auf einen Köder: Auch Kunizyns Gemahlin hat es nicht ausgehalten und losgezetert in ihrem Unterschlupf. Ein Weiberherz ist nun mal kein Stein. Wir gehen dem Schrei nach - er kam aus der Küche. Wir lassen uns Zeit. Treten ein, schauen uns um. Eine schöne Küche hat dieser Iwan Iwanowitsch. Geräumig, eingerichtet mit allen Schikanen: Es gibt mehrere Anrichten, Herde, Regale aus Glas und aus Stahl für das Geschirr und die Gewürze, es gibt ausgetüftelte Röhren mit heißen und mit kalten Strahlen und anderem fremdländischem Heiteck-Heckmeck, verschlungene Absaugrohre, durchsichtige Kühlschränke, sogar mit Beleuchtung, Messer für jeden erdenklichen Zweck - und in aller Mitten einen großen, guten, weiß getünchten russischen Ofen. Daran hat Iwan Iwanowitsch recht getan. 29
Was wäre eine Tafel rechtgläubiger Menschen ohne eine Krautsuppe, ohne einen Grützbrei aus dem russischen Ofen? Lässt sich in einem Grill aus Übersee etwa eine genauso leckere Pirogge backen wie in unserer guten alten Ofenröhre? Milch dämpfen? Und was ist mit dem lieben Brot? Das russische Brot gehört in einem russischen Ofen gebacken - davon ist noch der ärmste Schlucker überzeugt. Das Ofenloch ist mit einer kupfernen Klappe verschlossen. Pojarok klopft mit dem Fingerknöchel dagegen: »Der graue Wolf ist da und hat euch Kuchen mitgebracht! Poch-poch-poch, wer steckt in dem Ofenloch?« Hinter der Klappe heult ein Weib und flucht ein Mann. Iwan Iwanowitsch grollt seiner Gemahlin, dass sie vorhin losgeschrien und sich verraten hat. Aber so ist das eben! Die Weiber sind am Herzen empfindlich, dafür lieben wir sie ja. Pojarok entfernt die Klappe. Meine Leute greifen nach Ofengabel und Feuerhaken, zerren damit den Adelsmann und seine Gemahlin ans Licht. Die zween, rußbeschmiert, sträuben sich. Dem Manne werden sogleich die Hände gefesselt und das Maul gestopft. Er wird bei den Armen gepackt, und ab mit ihm auf den Hof. Die Frau ... Die Frau soll uns zum Spaß gereichen. Das ziemt sich so. Die Männer binden sie auf die Anrichte, wo sonst das Fleisch aufgeschnitten wird. Ein hübsches Weib hat dieser Iwan Iwanowitsch: gut gebaut, mit einem Honigkuchengesicht, drall am Arsch und an den Titten, von hitzigem Blut ... Aber zuerst den Edelmann. Wir traben alle miteinander hinaus auf den Hof. Dort stehen schon Sjabel und Kreplo mit den Besen, 30
Nagul mit dem eingeseiften Strick und warten. An den Füßen wird der hohe Herr seinen letzten Weg von der Haustür zum Tor geschleift. Sjabel und Kreplo mit den Besen fegen hinter ihm die Schleifspur aus, denn ein Hochverräter darf keine Spuren hinterlassen. Nagul ist schon auf das Tor geklettert, bringt flugs das Seil an, Russlands Feinde aufzuknüpfen ist für ihn ein gewohntes Geschäft. Wir stellen uns unter dem Torbalken auf, heben den Edelmann auf unsere Arme. »Schuld und Sühne!« Einen Augenblick später baumelt Iwan Iwanowitsch in der Schlinge, zuckt, röchelt, schnauft, furzt seinen letzten Furz. Wir nehmen die Mützen ab und bekreuzigen uns. Setzen die Mützen wieder auf. Warten, bis der hohe Herr den Geist aufgegeben hat. Zu einem Drittel ist unser Werk getan. Als Nächstes die Frau. Wir kehren zurück ins Haus. »Lasst sie am Leben!«, mahnt uns, wie üblich, die Stimme des Alten. »Aber ja doch, Ältester!« £5 zu tun erquickt und befeuert uns. Daraus schöpfen wir Saft und Kraft, die Feinde des Russländischen Staates zu bezwingen. Gründlichkeit ist mithin geboten. Dem Ranghöchsten steht es zu, als Erster beizugehen und zu kommen. Wie es aussieht, bin ich das. Die frischgebackene Witwe windet sich und strampelt auf ihrem Tisch, schreit und stöhnt. Ich reiße ihr die Klamotten vom Leib: erst das Kleid, dann das vertrackt gefaltete Spitzenunterkleid. Pojarok und Siwolai knicken ihre weißen, glatten, wohlgepflegten Beine zur Seite, halten sie in der Schwebe. Für die Beine der Weiber hab ich was übrig, die Schenkelchen im Besonderen - und erst die Zehen! Die hier hat blasse kühle Schenkel, aber 31
Zehen, die zart und wohlgeformt sind, mit geputzten, rosa lackierten Nägeln. Ohnmächtig zucken die Beine unter den kräftigen Händen der Opritschniki, und die Zehlein, die kleinen, beben ganz sachte vor Angst und Anspannung, sträuben sich. Pojarok und Siwolai wissen um meine Schwäche: Schon schwebt die zarte Weibersohle nah vor meinem Mund, ich nehme die bebenden Zehlein zwischen die Lippen, während ich meinen nackten Schwan in ihren Schoß versenke. Welche Wonne! Wie ein quicklebendiges Ferkelchen, so zuckt und greint die Witwe am glühenden Spieß. Ich verbeiße mich in ihre Sohle. Sie kreischt auf, schlägt um sich auf ihrem Tisch. Während ich den Vogel zwitschern lasse, gründlich und unbeirrt. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, brummen die Opritschniki, halb abgewandt. Es zu tun ist wichtig. Es zu tun ist richtig. Es zu tun ist gut. Ohne das wäre so ein Zugriff nun eine halbe Sache ... Wie ein Ross ohne Reiter ... ohne Zügel ... ein Rösslein, das der Hafer sticht ... mein weißes Ross, mein schönes ... kluges ... Zauberross, mein ... Feuerross, mein ... zügelloses Zuckerross mit Zeckenstich ... mit Zuckerzecken-... Zuckerzecken-... Zuckerzecken-... Zuckerzangenzeckenzacken-zackzack-zazazacke-aaaaaa-a-a-a-hhch! Es ist ein gutes Gefühl, deinen Samen im Schoß von deines Feindes Weib zu hinterlassen. Des Feindes deines Vaterlands. Besser noch, als ihm den Kopf abzusäbeln. Die zarten Witwenzehen kommen mir aus dem Mund gerutscht. 32
Bunte Regenbogen schillern vor meinen Augen. Ich mache Platz für Posocha. Sein Gemächt mit der aufgenähten Flussperle ähnelt dem Streitkolben des Recken Ilja Muromez. Pu-uh ... Gut geheizt haben sie bei Iwan Iwanowitsch. Ich trete vor die Tür des Hauses, setze mich auf die Bank. Die Kinder sind schon weggeschafft. Von dem verprügelten und zerschlitzten Stallburschen sind nur ein paar Blutspritzer im Schnee geblieben. Die Strelitzen drängen sich neugierig um das Tor mit dem Gehenkten. Ich hole eine Packung Rodina hervor und rauche. Zwar stehe ich mit diesem vermaledeiten Laster auf Kriegsfuß, rauche höchstens noch sieben Zigaretten am Tag, aber es ganz sein zu lassen schaffe ich nicht. Ich wollte es mir von Vater Paissi wegbeten lassen, er hieß mich einen Bußkanon aufsagen - geholfen hat es nichts ... Ein eisiger Windhauch trägt den Rauch davon. Immer noch strahlt die Sonne, gleißt mit dem Schnee um die Wette. Ich mag den Winter. Der Frost reinigt den Kopf, lässt das Blut pulsieren. Zur Winterszeit kommt man in Russland mit Staatsangelegenheiten schneller zu Potte. Posocha tritt aus der Haustür: der Mund mit den wulstigen Lippen offenstehend, beinahe sabbernd, die Augen verhangen; der Mann hat Mühe, sein überreiztes puterrotes Gemächt in den Hosenstall zurückzustopfen. Steht da, Beine breit, und betut sich. Dabei rutscht ihm ein Buch unter der Jacke hervor. Ich greife danach, schlage es auf: Heimliche Märchen. Ich lese den Anfang: Es begab sich zu der Zeit, als es im Heiligen Russland noch keine Messer gab und die Männer das Fleisch mit ihren Schwänzen in Stücke hieben ... 33
Die Schwarte ist vollkommen zerlesen und so schmierig, dass man das Fett von den Seiten tropfen zu sehen meint. »Was liest du Schweinigel denn da?«, frage ich und klatsche ihm das Buch gegen die Stirn. »Wenn der Alte das sieht, bist du am längsten Opritschnik gewesen!« »Sieh's mir nach, Komjaga, der Teufel hat mich geritten«, brummt Posocha gleichmütig. »Du wandelst auf des Messers Schneide, Dummkopf, weißt du das? Das ist staatsfeindlicher Unflat. Solcher Bücher wegen hat die Kanzlei für Wort und Schrift ihre Säuberung abgekriegt. Hast du es etwa von da mitgehen lassen?« »Zu der Zeit bin ich noch gar nicht Opritschnik gewesen. Ich hab's im Haus von dem Wojewoden neulich stibitzt. Der Satan hat mir einen Rippenstoß gegeben.« »Bedenke, wir sind eine Schutzstaffel. Wir haben kühl im Kopf und rein im Herzen zu sein.« »Schon klar.« Posocha hebt die Mütze an und kratzt sich gelangweilt sein dunkles Haar. »Unser Gossudar duldet keine unzüchtigen Wörter.« »Weiß ich doch.« »Wenn du es weißt, warum verbrennst du die Schwarte dann nicht?« »Ich tu's, Komjaga, bei Gott, ich tu's, ich schwör's dir.« Er schlägt flüchtig ein Kreuz und steckt das Buch ein. Nagul und Ochlop kommen heraus. Bevor die Tür sich hinter ihnen schließt, höre ich die Witwe des Edelmanns drinnen stöhnen. »Ein hübsches Aas!«, spricht Ochlop, spuckt aus und schiebt sich die Pelzmütze in den Nacken. »Sie werden sie hoffentlich nicht totbürsten?«, frage ich und drücke die Zigarette an der Bank aus. 34
»Tun sie nicht, ist doch verboten!«, grinst der breitgesichtige Nagul und schnauzt in ein von liebevoller Hand umhäkeltes weißes Taschentuch. Bald darauf erscheint Sjabel. Wie immer nach solchem Kreisverkehr ist er aufgekratzt und gesprächig. Sjabel hat Hochschulbildung, genau wie ich. »Russlands Feinde kleinzukriegen macht richtig Spaß!«, brummt er, eine Packung filterlose Rodina hervorziehend. »Wie schon Dschingis Khan gesagt hat: Es gibt kein größeres Vergnügen auf Erden, als Feinde in den Staub zu zwingen, ihre Güter zu verwüsten, ihre Pferde zu reiten und ihre Frauen zu lieben. Ein weiser Mann!« Die Finger von Nagul, Ochlop und Sjabel fahren in die Zigarettenpackung. Ich hole mein edles Feuerzeug mit kalter Flamme hervor und gebe ihnen Feuer. »Alle springt ihr auf dieses Teufelskraut an. Wisst ihr nicht, dass der ewige Fluch der sieben heiligen Steine auf dem Tabak lastet?« »Klar wissen wir das, Komjaga«, lacht Nagul und reckt sich. »Ihr schmeichelt dem Satan, Männer. Der Teufel hat die Menschen das Tabakrauchen gelehrt, damit sie ihn beweihräuchern. Jede Zigarette ist Honig um den Bart des Geschwänzten!« »Mir hat ein abgefallener Priester gesagt: Wer Tabak raucht, ist behaucht vom göttlichen Geist«, widerspricht Ochlop. »Und bei uns im Kosakenregiment gab's einen Oberleutnant, der meinte immer: Geräuchertes Fleisch hält länger!«, seufzt Posocha und nimmt sich auch eine Zigarette. »Was seid ihr für elende Hornochsen! Unser Gossudar raucht nicht. Der Alte hat es sich abgewöhnt. Für 35
uns ziemte es sich erst recht, die Reinheit unserer Lungen und unserer Lippen hochzuhalten.« Schweigend rauchen sie und hören zu. Die Tür springt auf, heraus kommen die übrigen Männer mit der Frau im Schlepp. Sie haben sie, nackt und ohnmächtig, in ein Schaffell gewickelt. Ein Weib zu verschleißen ist für unsereins immer noch ein besonderer Auftrag. »Lebt sie noch?« »Daran ist selten wer gestorben!«, grinst Pogoda. »Ist doch nicht die Folterbank!« Ich nehme ihre schlaffe Hand. Der Puls ist noch da. »Gut. Werft sie ihrer Sippe vor die Tür.« »Wie üblich.« Sie wird davongetragen. Höchste Zeit, der Sache hier ein Ende zu machen. Die Opritschniki werfen lüsterne Blicke auf das Haus: Es ist reich, voll mit feinen Dingen. Aber nein, wenn ein Anwesen laut Verfügung unseres Gossudaren auf Abriss steht, darf nichts herausgetragen werden. Das ist Gesetz. Alles Hab und Gut geht an den roten Hahn des Gossudaren. Ich gebe Sjabel ein Zeichen, er ist bei uns der Feuerwerker. »Verrichte dein Werk!« Er zieht seinen Rebroff aus dem Holster, steckt einen flaschenförmigen Stutzen an den Lauf. Wir gehen auf Abstand zum Haus. Sjabel zielt auf ein Fenster und schießt. Die Scheibe klirrt. Wir treten noch weiter zurück. Stellen uns im Halbkreis auf, ziehen die Dolche blank, heben und senken sie in Richtung des feindlichen Gemäuers. »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« 36
Dann die Explosion. Aus den Fenstern stößt ein dicker Feuerschwall. Fetzen fliegen, Fensterrahmen und Gitter fallen in den Schnee. Das Anwesen hat Feuer gefangen. Der rote Hahn unseres Gossudaren ist eingekehrt. »Gut gemacht!« Das Gesicht des Alten schwebt im schillernden Rahmen vor uns in der scharfen Luft. »Schickt die Strelitzen nach Hause und kommt in die Kirche zum Dankgebet!« Ende gut, alles gut. Nach getaner Arbeit ist gut Beten. Wir gehen durch das Tor, machen einen Bogen um den Gehenkten. Draußen haben die Strelitzen zu tun, das Zeitungsvolk in Schach zu halten. Sie stehen da mit ihren Apparaten, wollen unbedingt den Brand ablichten. Das ist seit neuestem erlaubt. Mit der Nachrichtenkanzlei haben wir nach den denkwürdigen Novemberereignissen Abmachungen getroffen. Ich winke dem Kosakenhauptmann. Die Apparate richten sich auf den Brand, auf den Gehenkten. In jedem Haus, über jede Verlautbarungsblase werden die Rechtgläubigen sich von der Stärke unseres Gossudaren und seines Staates ein Bild machen können. Und verstehen, was das heißt: Schuld und Sühne! Getreu den Worten unseres Gossudaren, des großen Gebieters: »Recht und Ordnung! Darauf hat unser Heiliges Russland gebaut, als es aus der Grauen Asche erstand, und es wird immer darauf gründen.« Was die Wahrheit ist und nichts als die Heilige Wahrheit!
37
IN
DER
MARIA-HIMMELFAHRTS-KATHEDRALE
ist es
dunkel, warm und feierlich wie immer. Kerzen brennen, die goldenen Ikonenbeschläge glänzen, der Leuchter in der Hand des schmalschultrigen Popen Vater Juvenalius blakt, es tönt sein dünnes Stimmchen, der Bass des schwarzbärtigen dicken Diakons im Kliros hält dagegen. Wir stehen in gedrängten Reihen - die ganze Moskauer Opritschnina. Auch der Alte ist da und Jerocha, seine rechte Hand, sowie Mossol, die linke. Dazu die komplette alte Garde, zu der ich gehöre. Und der große Rumpf. Und die jungen Spunde. Nur der Gossudar fehlt. Montags gibt er uns eigentlich meistens die Ehre, verrichtet mit uns gemeinsam das Gebet. Doch heute ist unsere Sonne nicht da. Staatsangelegenheiten werden unseren Gossudaren in Atem halten. Falls er nicht gerade in seiner Hauskirche, der Mariä-Gewandniederlegung, für das Heilige Russland betet. Des Gossudaren Wille ist triftig und unergründlich. Und das ist gut so. Heute ist ein normaler Montag. Der Gottesdienst darum ein ganz gewöhnlicher. Epiphanias liegt hinter uns, da wir mit dem Schlitten über die Moskwa fuhren, das mitgeführte Kreuz in den Jordan, sprich: das Eisloch unter der silbernen, mit Fichtenwedeln umrankten Laube senkten, Babys getauft wurden, wir selber auch ein paarmal im eisigen Wasser untertauchten, Kanonen abfeuerten, das Haupt beugten vor dem Gossudaren und der Gossudarin, und hernach ward getafelt im Facettenpalast, mit der Kremlsuite und dem Engsten Kreis. Jetzt kommen bis zum Fest der Darstellung des 38
Herrn keine Feiertage mehr. Ein Werktag am anderen. Es gibt viel zu tun. »Gott stehe auf, dass seine Feinde zerstreut werden«, liest Vater Juvenalius. Wir schlagen das Kreuz und verneigen uns. Ich bete zu meiner Lieblingsikone: Spas Jaroje Oko, dem Erlöser mit dem Grimmigen Auge. Mein Blick hält dem Seinen, dem unverwandten, nicht stand. Furchtgebietend ist unser Erlöser, unerbittlich sein Gericht. Aus der rüden Strenge seiner Augen gewinne ich Kraft für den Kampf, befestige meine Gesinnung, erziehe meinen Charakter. Schüre den Hass auf die Feinde. Schärfe meinen Verstand. Auf dass die Widersacher des Herrn und unseres Gossudaren zerstreut werden. »Und gewähre uns den Sieg über die Feinde ...« Feinde gibt es sonder Zahl, das ist wohl wahr. Kaum dass Russland aus der Grauen Asche erstanden und zu sich gekommen war, kaum dass vor sechzehn Jahren Nikolai Platonowitsch, unseres Gossudaren lieber Vater, den ersten Stein zum Fundament der Westmauer gelegt und wir begonnen hatten, uns das äußere Fremde vom Halse zu halten und den inneren Schweinehund schon kamen die Feinde aus allen Ritzen gekrochen als ein giftiges, tausendfüßiges Geschmeiß. Fürwahr: Eine große Idee gebiert einen gewaltigen Widerstand. Feinde, äußere wie innere, hatte unser Staat zu allen Zeiten, doch nie zuvor hat sich der Kampf mit ihnen so zugespitzt wie in der Periode der Auferstehung des Heiligen Russland. Nicht wenige Köpfe sind in diesen sechzehn Jahren auf der Schädelstätte beim Kreml gerollt, nicht wenige Züge voll mit Staatsfeinden und ihrer Sippschaft hinter den Ural gedampft, nicht wenig rote Hähne haben auf den Dächern ach so hoher Her39
ren im Abendlicht gekräht, nicht wenige Wojewoden auf der Streckbank in der Geheimen Kanzlei gefurzt, nicht wenige anonyme Briefe sind im Postkasten der Abteilung Schuld und Sühne auf der Lubjanka gelandet, nicht wenigen Geldschneidern ward das Maul mit ihren schändlich gehorteten Scheinen gestopft, nicht wenige Sekretäre hat man gar heiß gebadet, nicht wenige fremdländische Gesandte mit den drei gelben Merins, den »Schandwagen«, aus der Stadt hinausbefördert, nicht wenige Zeitungsschreiber mit Entenfedern im Arsch vom Fernsehturm Ostankino gestürzt, nicht wenige aufwieglerische Federfuchser in der Moskwa ertränkt, nicht wenige Bojarenwitwen nackt und ohnmächtig im räudigen Schafspelz ihren Erzeugern vor die Tür geworfen ... Und jedes Mal, wenn ich mit einer Kerze in der Hand in dieser Kathedrale stehe, befällt mich derselbe heimliche, aberwitzige Gedanke: Was, wenn es uns nicht gäbe? Käme unser Herr und Gebieter denn auch so zurecht? Allein mit den Strelitzen, der Geheimen Kanzlei und dem Kremlwachregiment? Und während der Chor singt, gebe ich mir selbst leise flüsternd die Antwort: Nein!
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EIN ALLTÄGLICHES MITTAGESSEN im Weißen Palais. Wir sitzen an langen Tischen. Blankes Eichenholz. Die Diener tragen auf: Kwass von Zwieback, dicke Kohlsuppe, Roggenbrot, gesottenes Rind mit Lauch, Grützbrei. Beim Essen wird leise gesprochen, wir reden über das, was ansteht. Dabei kommen unsere tonlosen Glöckchen ins Schaukeln. Jeder Flügel der Opritschnina hat so sein Programm: Jemand hat in der Geheimen Kanzlei zu tun, der andere in der Gelehrtenkanzlei, noch wer in der Auswärtigen oder der Handelskanzlei. Bei mir liegt heute dreierlei an. Als Erstes muss ich mir die Gaukler und Faxenmacher vorknöpfen, ihre neue Nummer zum Festkonzert abnehmen. Als Zweites einen Stern auslöschen. Als Drittes in besonderer Angelegenheit die Wahrsagerin Praskowja zu Tobol aufsuchen. Ich sitze auf meinem angestammten Platz, dem vierten rechts vom Alten. Ein Ehrenplatz. Nur Schelet, Samosja und Jerocha sitzen noch näher zu ihm. Unser Ältester ist ein stattlicher, kräftiger Mann mit jugendlichen Gesichtszügen, obgleich vollständig ergrautem Haar. Es ist eine Freude, ihm beim Essen zuzusehen: wie ruhig er tafelt, wie gründlich. Der Alte ist unser Fundament, die Pfahlwurzel, auf ihm ruht die ganze Opritschnina. Ihm als Erstem hat der Gossudar die Sache seinerzeit anvertraut. Auf ihn konnte das Staatsoberhaupt sich in schweren, für Russland schicksalhaften Zeiten stützen. Das erste Glied in der eisernen Kette der Opritschnina war er. Bei ihm hakten die an41
deren Glieder sich ein, wurden zusammengeschmiedet, verschmolzen zum Großen Ring, bewehrt mit spitzen, nach außen gerichteten Dornen. Mit diesem Ring gelang es dem Gossudaren, das siechende, faulende, bröckelnde Land wieder an sich zu ziehen, den wunden, Blut und Wasser schwitzenden Bären. Und der Bär gesundete an Fleisch und Knochen, die Wunden verheilten, er setzte Fett an, die Krallen wuchsen. Weil wir ihn zur Ader gelassen, ihm das kranke, vom Feinde vergiftete Blut entzogen haben. Nun brüllt er wieder, der russische Bär, sodass die ganze Welt ihn hören kann. Nicht bloß in China und Europa, auch in Übersee lässt sein Gebrüll aufhorchen. Ich sehe den Faustkeil des Alten rot blinken. Bei Tisch wird nicht ferngesprochen. Alle Faustkeile sind ausgeschaltet. Das rote Lämpchen heißt: Der Gossudar hat ein Anliegen. Unser Alter hebt seinen dukatengoldenen Keil ans Ohr, er klirrt gegen das Glöckchen. »Zu Diensten, mein Gossudar.« Alles am Tisch verstummt sogleich. Nur der Alte spricht. »Jawohl, mein Gossudar. Verstanden ... Wir sind schon unterwegs, mein Gossudar.« Der Alte steht auf, ein schneller Blick geht über uns hinweg. »Wogul, Komjaga, Tjaglo, mitkommen.« Ah ja. Der Stimme des Alten höre ich an, das etwas passiert sein muss. Wir stehen auf, bekreuzigen uns und verlassen den Saal. Daran, wen der Alte ausgesucht hat, lässt sich erkennen, dass eine Gedankenarbeit bevorsteht. Alle vier haben wir Hochschulbildung. Wogul hat im Heiligen Petrograd Kämmerei studiert, Tjaglo in Nishni Nowgorod Bücherherstellung betrieben, und ich bin von Stufe drei der historischen Abteilung 42
der Moskauer Staatlichen Universität Michajlo Lomonossow zur Opritschnina gegangen. Aber was heißt gegangen! Zur Opritschnina geht man nicht. Die sucht man sich nicht aus. Sie ist es, die dich aussucht. Oder noch genauer - wie der Alte zu sagen pflegt, wenn er ein bisschen gesüffelt und geschnüffelt hat: »Zur Opritschnina wird man getragen wie von einer Welle.« Und wie das geht! Die Welle trägt dich, dass dir der Kopf davon schwirr wird, das Blut in den Adern wallt, rote Blitze vor den Augen zucken. Doch genauso schnell kann diese Welle dich auch wieder hinaustragen. Das geht ganz flott, und es ist unwiderruflich. Und ärger als der Tod. Aus der Opritschnina herauszufallen ist, als verlöre man beide Beine. Und wird den Rest seines Lebens nicht mehr gehen, sondern kriechen müssen ... Wir treten ins Freie. Vom Weißen Palais bis zum Roten Domizil des Gossudaren ist es ein Katzensprung. Doch der Alte biegt ab zu den Merins. Die Unterredung wird also nicht im Kreml sein. Wir steigen jeder in seinen Wagen. Der vom Alten ist ein Prachtstück: breit und flach, großäugig, dreifingerdicke Scheiben. Eine gute Arbeit der chinesischen Meister, ein Tezuode - so heißt bei ihnen, was wir Spezialanfertigung nennen. An der Stoßstange hängt der Kopf eines Schäferhundes, am Kofferraum der stählerne Besen. Der Alte lenkt den Wagen in Richtung Erlösertor. Wir fädeln uns hinter ihm ein. Fahren durch die Absperrung der Strelitzen zum Tor hinaus auf den Schönen Platz. Heute ist Markttag, die Stände nehmen fast den ganzen Platz in Beschlag. Die Marktschreier schreien, der Sbitenschenk pfeift, die Kaiaschbäcker brummen im Bass, die Chinesen gellen im hohen Singsang. Es herrscht frostiges Sonnenwetter, über Nacht hat es frisch geschneit. Frohsinn herrscht hier, wo unser Land seinen Mittelpunkt 43
hat, Beschwingtheit. Als Junge habe ich den Platz noch ganz anders gekannt, nämlich als den Roten: hart und streng, furchteinflößend, mit einem granitenen Klotz in der Mitten, worin die Leiche dessen lag, der einst die Roten Wirren angezettelt. An seiner Seite klebte ein Friedhof, da lagen die Spießgesellen begraben. Ein finsterer Anblick. Der liebe Vater unseres Gossudaren hat den Granitklotz wegräumen und die Leiche des schieläugigen Unruhestifters in der Erde verscharren lassen, auch der Friedhof kam weg. Anschließend befahl er, die Kremlmauern weiß zu tünchen. Und nun erst konnte der Mittelpunkt unseres Landes werden, was sein Name vorgibt, denn das alte russische Wort »krasny« bedeutete nicht »rot«, sondern »schön«. Und das ist gut so. Wir halten auf das Hotel Moskwa zu, fahren die Mochowaja entlang, am Nationalnaja vorbei, dem Bolschoi- und dem Maly-Theater, dem Metropolija, bis wir auf der Lubjanskaja Ploschtschad herauskommen. Dachte ich es mir doch, dass die Unterredung in der Geheimen Kanzlei stattfinden wird! Im Kreis fahren wir auf die andere Seite des Platzes, um das Maljuta-Skuratow-Denkmal herum. Da steht er, unser Ahnherr in Bronze, schneebepudert, klein und gebeugt, stämmig, mit langen Armen und diesem starren, durchdringenden Blick unter buschigen Brauen hervor ... Aus der Tiefe der Jahrhunderte blickt er zu uns nach Moskau herein, und sein staatsmännisches Auge zuckt nicht, da es herabschaut auf uns, die Erben des Gewaltigen Werks, das er und seine Opritschnina einst in Angriff nahmen ... Maljuta schaut und schweigt. Wir fahren an das linke Tor heran, der Alte hupt. Das Tor wird geöffnet, wir rollen in den Innenhof, stellen die Autos ab. Betreten die Geheime Kanzlei. 44
Jedes Mal, wenn ich unter ihre Gewölbe trete, den grauen Marmor mit den strengen Fackeln und Kreuzen, setzt mein Herz für einen Moment aus und klopft hernach anders. Besonders. Es ist der Herzschlag der Geheimen Sache. Die den Staat im Innersten zusammenhält. Ein wackerer Kosakenhauptmann in fescher himmelblauer Uniform empfängt uns, erweist die Ehrenbezeigung. Geleitet uns zu den Fahrstühlen, hinauf in die oberste Etage und bis zum Kabinett des Vorstehers der Geheimen Kanzlei, Fürst Terenti Bogdanowitsch Buturlin, ein enger Freund unseres Gossudaren. Wir treten ein: voran der Alte, wir hinterher. Buturlin begrüßt uns. Der Alte wechselt mit ihm einen Händedruck, wir machen eine tiefe Verbeugung. Buturlins Gesicht ist ernst. Er lädt den Alten ein, Platz zu nehmen, setzt sich ihm gegenüber. Wir nehmen hinter dem Alten Aufstellung. Das Gesicht des Vorstehers der Geheimen Kanzlei kann einen das Fürchten lehren. Terenti Bogdanowitsch mag keine Scherze. Er hält sich mit Vorliebe an sein schwieriges, verantwortungsvolles Werk: Verschwörungen aufdecken, Spione und Verräter aufgreifen, staatsfeindliche Umtriebe im Keim ersticken. Jetzt sitzt er schweigend da, den Blick auf uns gerichtet, lässt eine Bußkette aus Elfenbein durch die Finger gleiten. Dann spricht er, zwei Worte nur: »Ein Spottgedicht.« Der Alte sagt noch nichts, wartet ab. Auch wir stehen still und atmen nicht. Buturlin blickt uns forschend an, dann fügt er hinzu: »Auf die Familie des Gossudaren.« Der Alte fängt an, in seinem Ledersessel herumzurutschen, furcht die Stirn, knackt mit den kräftigen Fingern. Wir stehen hinter ihm wie vom Donner ge45
rührt. Buturlin gibt ein Kommando, worauf sich die Vorhänge vor die Fenster ziehen, es wird schummrig im Raum. N o c h ein Kommando erteilt der Vorsteher der Geheimen Kanzlei, und im Halbdunkel erscheinen schwebend die aus dem Russischen N e t z gezogenen Worte, glühen, schillern in der Dunkelheit: Ein wohlmeinender Anonymus DER WERWOLF IM FEUER Feuerwehr, Pfaffen, Geheimpolizisten Suchen verzweifelt nach Einem Vermissten, Suchen - per Funk, Steckbrief, Spürhund, was weiß ich Einen Herrn Grafen So um die dreißig, Mittelgroß, dunkelblond, Stolz und verschlossen. Nachtblauer Smoking Sitzt wie angegossen. Schwerer Brillantring Aus Gold, linke Hand, Ringkopf in Igelform. Sonst nichts bekannt. Stolz und verschlossen? Sind Grafen in Massen. Auch soll ein Smoking Nach Möglichkeit passen. Und was den Ring betrifft: Geld, drin zu schwimmen, 46
Ist eines Grafen Ureigne Bestimmung! Wer also ist's, Dass die Leute so hecheln? Was hat er ausgeheckt? Welches Verbrechen? Wen sucht ganz Moskau Mit Macht zu ergreifen? Hört, was die Spatzen Vom Dache so pfeifen! Fuhr einst fürbass Ein Graf Koks im Rolls-Royse, Hockt' wie ein Uhu im Edlen Gehäuse, Äugend und blinzelnd, Mit finstren Allüren, Schmallippig pfeifend Den Ritt der Walküren. Aber! Ein Feuer! Und auf dem Balkon Steht die Marquise VonY.! Unten vorm Haus Steh'n die Leute und gaffen Schadenfroh: »Recht geschieht's Denen, die raffen! Denen, die an sich zieh'n, Was letzten Endes UNS gehört! Diebesgut! Ätsch! Da verbrennt es!«
Der Graf aber handelt, Ohne zu säumen, Entsteigt dem Rolls-Royce Und den düsteren Träumen. Bietet dem Pöbel, Dem garst'gen, die Stirn, Klimmt übers Fallrohr, Zu retten die Dirn. Dritter Stock. Vierter Stock! Ohne zu zagen! Endlich der fünfte, wo Flammen schon schlagen. Bälde schon greifen sie Ohne Pardon Nach der Marquise auf dem Schönen Balkon! Gott! Dieser Anblick Ist großes Theater: Um die Marquise, nackt und fahl, Wabern Schwaden Bläulichen Rauchs, und Dazwischen die Lohe Wirft einen Schein auf Die Büste, die hohe ... Sehet den Grafen! Nicht faul unterdessen, Hat er zu springen Die Kühnheit besessen. Ist, Kopf voran, In ein Fenster geschnellt. Krrrach! 48
Regnet's Glas auf die Glotzende Welt. Da kracht's schon wieder! Bricht eine Tür! Der Graf bahnt den Weg sich Mit sichrem Gespür. Smoking zerrissen, Feuerschein rot, Publikum wispert: »So ein Idiot!« Dann ist der Retter am Ziel. Strafft das Rückgrat, Zieht die Marquise sanft An sein Chemisett. Wohl einer Dame, die Dermaßen Glück hat! Qualmwolken ballen sich. Es brennt das Parkett. Doch was ist das? Finger Bohr'n sich in Brüste? Froschlippen saugen Am milchweißen Bauch? ... Könnt' einer glauben, Der's besser nicht wüsste, Ein riesiger Phallus Zerteilte den Rauch! Wer unten stand, sah's mit Entgeistertem Blick: Der Graf hat die Dame Von hinten ge nommen.
Brust gegen Brüstung, Gestöhn und Gerammel, Bis Graf und Marquise gingen auf In den Flammen! ... Nun mischt in den Rauch sich Ein Brausen und Stäuben: Feuerwehr'n nah'n, bimmeln Ohrenbetäubend, Wachtmeister pfeifen, Die Gaffer, sie weichen. Schutzhelme blitzen sich Leuchtmorsezeichen. Schon schwärmen aus sie Wie kupferne Drohnen, Drehfeuerleitern Gleiten nach oben, Tollkühn, trotz Teflon mit Todesverachtung, Steigen die Männer In Feuers Umnachtung. Und: Wasser marsch! Auf Verderb und Gedeih! ... Spät kommt zum Hauptmann Der alte Lakai, Hängt ihm am Rocksaum Grad wie eine Klette: »Helft meiner Herrin! Oh! Ihr müsst sie retten!« »Herrin? Wieso? In dem Feuer war niemand!«, 50
Spricht barsch der Hauptmann Und nestelt am Riemen. »Wir haben die Brandstätte Streng inspiziert. Ihre Marquise wurde Nicht extrahiert!« Tränen vergießt der Lakai, rauft den Bart sich, Alles glotzt stumm auf Den schwarzen Balkon. Da jault ein Motor hoch Auf hundertachtzig! Mit jault ein Hund, stirbt Auf grauem Beton ... Jedermann zuckt, Starrt entgeistert ins Dunkel, Doch der Rolls-Royce, Er entkommt unerkannt. Löst sich in Luft auf ... Nur kurz so ein Funkeln: Igelig blitzt da Brillant an Brillant! Feuerwehr, Pfaffen, Geheimpolizisten Suchen verzweifelt nach Einem Vermissten, Suchen - per Funk, Steckbrief, Spürhund, was weiß ich Einen Herrn Grafen: So um die dreißig ...
Sie, meine werten Herren, die Sie unter Malachitsäulen sitzen, haben diesen Werwolf nicht zufällig gesehen? Die letzte Zeile erlischt. Das staatsfeindliche Poem löst sich in dunkle Luft auf. Die Vorhänge gehen hoch, Buturlin sitzt da und schweigt, die braunen Augen auf unseren Ältesten gerichtet. Der schaut sich nach uns um. Auf wen dieses Spottgedicht abzielt, ist sonnenklar. Ein Blick genügt, und wir sind uns einig. Der düstere Graf mit dem Brillantigel am Ring ist niemand anderes als Graf Andrej Wladimiro witsch Urussow, der Schwiegersohn unseres Gossudaren: Professor für Prozessrecht, Ordentliches Mitglied der Russländischen Akademie der Wissenschaften, Ehrenvorsitzender der Gelehrtenkanzlei, Vorsitzender des Russländischen Pferdebundes, Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Luftschifffahrt, Vorsitzender der Gesellschaft für den russischen Faustkampf, Busenfreund des Vorsitzenden der Kämmerei Ost, Besitzer des Südhafens, der Märkte Ismajlowski Rynok und Donskoi Rynok, der Baugenossenschaft »Moskauer Unternehmer«, der Moskauer Ziegelei, Mitinhaber der Westlichen Eisenbahnen. Und auch die Anspielung auf den Malachitsaal ist unzweideutig: Es handelt sich um einen neuen Saal, der, direkt unter dem Kremlkonzertsaal befindlich, als Erfrischungsraum für den Engsten Kreis und seine Vertrauten eingebaut wurde. Neu und deswegen neumodisch. Der Einbau des Malachitsaales hat zu einer Menge staatsfeindlicher Fragen angestiftet. O ja, es hat Gegner gegeben ... »Seid ihr Opritschniki nun im Bilde?«, fragt Buturlin. »Wir sind es«, antwortet der Alte. 52
»Fragt sich nur noch, wer der Verfasser ist.« »Die Laus entkommt uns nicht, keine Bange«, sagt der Alte und nickt. Dann fragt er, nachdenklich sein Kinnbärtchen zupfend: »Weiß der Gossudar davon?« »Aber ja!«, ertönt die majestätische Stimme, und wir ergehen uns in einer tiefen Verbeugung, bei der die rechte Hand das Parkett berührt. Inmitten des Kabinetts ist das Antlitz des Gossudaren erstanden. Aus dem Augenwinkel gewahre ich den goldschimmernden Rahmen rings um das geliebte schmale Gesicht mit dem brünetten Kinnbart und dem feinen Schnurrbart. Wir richten uns wieder auf. Der Gossudar mustert uns mit dem ausdrucksvollen, aufmerksamen, offenherzigen, eindringlichen Blick seiner graublauen Augen. Ein einmaliger Blick. Unverwechselbar. Ein Blick, für den ich, ohne zu zögern, mein Leben hingäbe. »Er hat es gelesen«, versetzt der Gossudar. »Pfiffig geschrieben, das Ding.« »Mein Gossudar, wir werden den Spottvogel finden, das versichere ich Euch«, verkündet Buturlin. »Daran zweifle ich nicht. Aber um ehrlich zu sein, Terenti Bogdanowitsch, nicht das ist es, was mich sorgt.« »Was ist es, mein Gossudar?« »Mich sorgt, mein Lieber, ob es nicht sein könnte, dass das, was in dem Poem steht, die Wahrheit ist.« »Was genau, mein Gossudar?« »Das Ganze.« Buturlin denkt nach. »Mein Gossudar, da bin ich im Moment überfragt. Erlaubt Ihr, zuvor einen Blick in die Annalen der Feuerwehrbehörde zu werfen?« »Dazu braucht es keine Annalen, Fürst!«, erwidert der Gossudar, seine klaren Augen durchschauen Butur53
lin ganz und gar. »Hinreichend wären die Aussagen dessen, der bei dem Vorfall zugegen war.« »Wen meint Ihr, mein Gossudar?« »Den Helden des Poems.« Buturlin stutzt, wechselt mit dem Alten einen Blick. Dessen breite Kiefer mahlen. »Mein Gossudar, Eure Familienangehörigen zu verhören sind wir nicht berechtigt«, gibt der Alte zu bedenken. »Ich will gar nicht, dass ihr irgendwen verhört. Ich will bloß wissen, ob das alles stimmt, was da geschrieben steht!« Wieder herrscht Schweigen im Kabinett. Nur das lichte Bild des Gossudaren flimmert in allen Regenbogenfarben. »Was ist, hat's euch die Sprache verschlagen?«, fragt der Gossudar lächelnd. »Muss ich erst wieder nachhelfen?« »Was wären wir ohne Euch, mein Gossudar!«, bestätigt der gewiefte Buturlin, den Kahlkopf neigend. »Na gut, wenn ihr meint«, seufzt der Gossudar. Holt tief Luft und ruft: »Andrej!« An die fünfzehn Sekunden vergehen, bis rechts neben dem Antlitz des Gossudaren ein kleines Bild im blauvioletten Rahmen erscheint: Graf Urussow. Sein übernächtigtes, schicksalsergebenes Gesicht lässt erkennen, dass er sich das Poem bereits angetan hat - zu wiederholten Malen. »Seid gegrüßt, Vater«, spricht der Graf und neigt den Kopf: dicker Schädel auf kurzem Hals, große Ohren, flache Stirn, grobe Gesichtszüge; das braune Haar ist am Scheitel schon licht. »Grüß dich, Schwiegersohn«, spricht der Gossudar, und seine graublauen Augen blicken ungerührt. »Hast 54
du gelesen, was da einer über dich zusammengereimt hat?« »Hab ich, Vater.« »Und? Verdammt gut geschrieben das Ganze, nicht wahr? Dabei jammern meine Schriftgelehrten immer, es gäbe bei uns keine guten Dichter!« Graf Urussow schweigt, beißt sich auf die schmalen Lippen. Sein Mund hat tatsächlich die Überbreite eines Froschmauls. »Nun sag doch mal, Andrej: Ist das alles wahr?« Den Blick gesenkt, schweigt der Graf, seufzt und schnieft, dann haucht er vorsichtig: »Es ist wahr, mein Gossudar.« Das bringt nun auch den Gossudaren ins Grübeln. Er grübelt mit gefurchter Stirn. Wir stehen und warten. »Soll das heißen, du stehst wahrhaftig drauf, bei Feuer zu pimpern?« »Jawohl, mein Gossudar«, sagt der Graf und nickt mit seinem schweren Kopf. »Na, sieh einer an ... Gerüchte darüber sind mir schon früher zu Ohren gekommen, aber ich habe es nicht glauben wollen. Ich dachte, es wären Verleumdungen deiner Neider. So einer also bist du ...« »Mein Gossudar, ich kann Euch alles erklären ...« »Wann hat das bei dir angefangen?« »Mein Gossudar, ich schwöre Euch bei allen Heiligen, beim Grabe meiner Mutter schwöre ich ...« »Untersteh dich zu schwören!«, sagt da der Gossudar - und zwar so, dass uns allen die Haare zu Berge stehen. Es ist kein Brüllen und kein Zähneknirschen, aber es wirkt wie glühende Zangen. Der Zorn des Gossudaren kann furchtbar sein. Und noch furchtbarer ist, dass unser Gebieter niemals die Stimme hebt. 55
Graf Urussow ist kein Hasenfuß, er ist Staatsmann, Hansdampf in allen Gassen, ein Millionär, wie er im Buche steht, und leidenschaftlicher Jäger, der aus Prinzip nur mit Hirschfänger auf Bärenjagd geht ... aber vor dieser Stimme erbleicht auch er wie ein Gymnasiast der Unterstufe vor dem Schuldirektor. »Erzähl mir lieber, wann du dich solchem Laster zum ersten Mal hingabst.« Der Graf leckt sich die trockenen Froschlippen. »Mein Gossudar, das hat ... ganz zufällig angefangen ... wie aus einem Zwang heraus. Obwohl ich, natürlich, selbst schuld bin ... ich ganz allein, das gebe ich zu ... Es ist eine Sünde, ich bitte um Vergebung ...« »Erzähl der Reihe nach.« »Gut. Ich erzähle alles. Ich werde nichts verheimlichen. Mit siebzehn war das ... Ich lief die Ordynka lang und sah auf einmal, da brennt ein Haus, und in dem Haus hab ich eine Frau schreien gehört. Die Feuerwehr war noch nicht da, Leute haben mir zu einem Fenster raufgeholfen, und ich bin da rein, um ihr zu helfen. Und wie sie sich mir so an die Brust warf ... Ich weiß nicht, mein Gossudar, was da mit mir passiert ist ... wie eine Art Umnachtung ... dabei war die Frau wahrlich keine Schönheit, im vorgerücktem Alter ... jedenfalls habe ich ... jedenfalls ...« »Ja?« »Ich hab sie jedenfalls dort vergewaltigt, mein Gossudar. Man hat uns im allerletzten Moment noch aus dem Feuer rausgezerrt. Ja, und nach diesem Vorfall war ich wie umgewandelt - ich konnte einfach an nichts anderes mehr denken. Vier Wochen später bin ich im Heiligen Petrograd, gehe über den Litejny ... und was sehe ich: Da brennt es schon wieder, im zweiten Stock. Meine Füße haben mich von ganz alleine die Treppe 56
raufgetragen, ich hab die Tür aufgebrochen - keine Ahnung, woher ich plötzlich die Kraft dazu hatte. Drinnen war eine Mutter mit Kind, das hielt sie gegen die Brust gepresst und stand brüllend am Fenster. Ich hab sie von hinten ... Beim nächsten Mal, noch ein halbes Jahr später, brannte in Samara der Schatzhof, da waren wir, mein seliger Vater und ich, zur Messe hingefahren, und deswegen ...« »Das genügt. Wo hat es beim letzten Mal gebrannt?« »Bei der Fürstin Bobrinskaja.« »Wie kommt dieser Reimeschmied dazu, eine russische Fürstin als Marquise zu titulieren?« »Keine Ahnung, mein Gossudar. Vielleicht hat er etwas gegen Russland.« »Verstehe. Und jetzt sag ehrlich: Hast du den Brand selbst gelegt?« Der Graf erstarrt wie von einer Schlange gebissen. Schlägt die Luchsaugen zu Boden. Schweigt. »Ich frage dich, ob du dieses Haus angesteckt hast?« Der Graf tut einen tiefen Seufzer. »Euch zu belügen, fiele mir schwer, mein Gossudar. Ich tat es.« Ein Weilchen schweigt der Gossudar. Dann spricht er: »Über dein Laster mag ich nicht richten - jeder von uns hat vor Gott Rechenschaft abzulegen. Aber die Brandstiftung verzeihe ich dir nicht. Verpiss dich!« Urussows Antlitz erlischt. Wir fünf sind wieder mit dem Gossudaren allein. Seine Stirn ist umwölkt. »Puh«, seufzt der Gossudar. »Und so einem Schwein habe ich meine Tochter anvertraut.« Wir sagen nichts. »Passen Sie auf, Fürst«, fährt der Gossudar fort, »das ist eine innerfamiliäre Angelegenheit. Darum kümmere ich mich selbst.« 57
»Ganz wie Ihr meint, Gossudar. Was machen wir mit dem Pasquillanten?« »Verfahrt mit ihm nach Recht und Gesetz. Obwohl ... Vielleicht doch lieber nicht. Das könnte eine ungute Neugier anstacheln. Sagt ihm einfach, er soll so etwas fürderhin nicht mehr schreiben.« »Zu Befehl, mein Gossudar.« »Ich danke für eure Bereitschaft.« »Wir dienen dem Vaterland!«, intonieren wir mit einer Verbeugung. Das Bild des Gossudaren verschwindet. Wir schauen uns erleichtert an. Buturlin läuft im Kabinett auf und ab. »Was für ein Drecksack, dieser Urussow«, stößt er kopfschüttelnd hervor. »Sich so eine Blöße zu geben!« »Bloß gut, dass nicht wir die Suppe auslöffeln müssen«, bemerkt der Alte, sich den Bart streichend. »Trotzdem wüsste man gern, wer der Verfasser ist.« »Das haben wir gleich«, sagt Buturlin, geht zum Schreibtisch, nimmt dahinter Platz. Dann kommandiert er: »Schriftsteller zu mir!« Im nächsten Augenblick schweben 128 Schriftstellergesichter im Raum: alle gleich braungerahmt und zu einem exakten großen Quadrat formiert. Darüber schweben drei größere Bilder: der graubärtige Vorsitzende der Schriftstellerkammer Pawel Olegow mit dem immergleichen Märtyrerausdruck im aufgedunsenen Gesicht und seine beiden noch mehr ergrauten, mürrischbedripst dreinschauenden Stellvertreter Anani Memser und Pawlo Bassinja. Der trübe Ausdruck in diesen drei Gesichtern deutet darauf hin, dass sie sich über die Tragweite der anstehenden Unterredung im Klaren sind. »Wir gehen dann mal, Terenti Bogdanowitsch«, sagt der Alte und streckt dem Fürsten die Hand hin. 58
»Schriftsteller - das ist Euer Fach.« »Alles Gute, Boris Borissowitsch!«, entgegnet Buturlin und legt seine Hand in die des Alten. Wir verbeugen uns zum Fürsten hin und folgen dem Alten nach draußen. In Begleitung desselben Hauptmanns wie vorhin laufen wir durch den Flur zurück zum Fahrstuhl. »Hör mal, Komjaga, wieso guckt dieser Olegow eigentlich immer so miesepetrig? Hat er Zahnschmerzen oder was?«, fragt mich der Alte. »Sagen wir, Seelenschmerzen, mein Ältester. Die Sorge um Russland ...« »Seelenschmerzen können nicht schaden«, nickt der Alte. »Was hat er denn geschrieben? Entschuldige die Frage, du weißt, ich bin kein Büchermensch.« »>Der russische Ofen im 20. Jahrhundert«. Ein dicker Wälzer. Ich hab ihn nicht bis zu Ende geschafft.« »Öfen lob ich mir«, sagt der Alte und seufzt. »Besonders, wenn gefüllte Piroggen in der Röhre liegen ... Wohin musst du jetzt?« »In den Kremlpalast.« »Ah ja!«, nickt er. »Sieh nur genau hin. Diese Hanswürste führen was Neues im Schilde ...« »Das kriegen wir raus, mein Ältester!«, sage ich und nicke zurück.
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DER KONZERTSAAL IM KREML hat mich immer begeistert. Schon als ich vor sechsundzwanzig Jahren das erste Mal mit meinen seligen Eltern hier war und »Schwanensee« sah, in der Pause Pfannkuchen mit rotem Kaviar futterte und aus der Kantine auf Papas Faustkeil meinen Freund Pascha anrief, in die riesige Toilette pinkeln ging, auf der Bühne die märchenhaften Ballerinen in ihren schneeweißen Tutus sah ... Und jetzt, da meine Schläfen vom ersten Raureif überzogen sind, ist es immer noch so. Ein vorzüglicher Saal! Alles an ihm strahlt Festlichkeit aus, für Staatsfeiertage wie gemacht, alles, wie es sein muss. Der Haken ist nur, dass auf der Bühne dieses gewaltigen Saales nicht immer die rechten Dinge vonstattengehen. Staatsfeindliche Umtriebe dringen selbst bis an diesen Ort vor. Aber dafür sind wir ja da, um für Ordnung zu sorgen und die Umtriebe im Keim zu ersticken. Wir sitzen im leeren Zuschauerraum. Rechts von mir der Spielleiter. Links der Aufsichtsführende aus der Geheimen Kanzlei. Vor mir Fürst Sobakin aus dem Engsten Kreis. Hinter mir der Tischvorsteher der Kulturkammer. Alles ernstzunehmende, dem Staate verbundene Männer. Auf dem Programm steht das Konzert zum bevorstehenden Festtag. Machtvoll hebt es an, mit brausenden Klängen: Das Lied vom Gossudaren lässt den halbdunklen Saal erbeben. Der Kremlchor macht seine Sache gut. In Russland hat man von jeher zu singen gewusst. Erst recht, wenn der Gesang von Herzen kommt. 60
Das Lied verklingt, die wackeren Barden in ihren hübsch bestickten Hemden verneigen sich, die Jungfern in Sarafan und Häubchen tun es ihnen nach. Auch die Weizengarben, regenbogenschillernd, neigen sich uns noch ein wenig mehr zu, auch die Weiden beugen sich noch tiefer über den wie geronnenen Fluss. Über allem eine naturecht strahlende Sonne, man ist geblendet. Das ist gut. Das wird befürwortet. Von uns allen. Der langmähnige Spielleiter ist zufrieden. Das nächste Lied handelt von Russland. Auch hier kommen keine Fragen auf. Ein starkes Stück, vielmals erprobt. Anschließend ein historisches Tafelbild: die Epoche Iwans III. Raue, schicksalsschwere Zeiten. Ein erbitterter Kampf ist entbrannt um das Heil des Russländischen Staates, der noch jung und ungefestigt ist, eben erst auf die Füße gekommen. Blitz und Donner wüten, die Krieger aus Iwans Heerscharen drängen durch die Bresche, der Metropolit erhebt das Kreuz, auf dem der Widerschein des Feuers flackert - das aufsässige Nowgorod, der Einheit Russlands widerstrebend, wird zur Räson gebracht, die Abtrünnigen fallen auf die Knie, doch ihr Großfürst Iwan Wassilewitsch lässt Gnade walten, sein Schwert rührt nur sachte an ihren schuldig geneigten Häuptern, da er spricht: »Kein Gegner bin ich euch, kein Todfeind. Bin Vater euch, Schutzherr und weiser Pate. Euch und dem ganzen Großen Russenreich.« Glocken tönen. Ein Regenbogen spannt sich über Nowgorod und ganz Russland. Vögel zwitschern am Himmel. Die Nowgoroder beugen das Knie, ihre Tränen sind Freudentränen. Ein gutes, ein wahres Stück. Nur sollte man die Krieger etwas breitschultriger aussuchen, und der Metropo61
lit könnte ruhig ein bisschen stattlicher sein. Auch gibt es im Hintergrund viel unnütze Zappelei. Und dass die Vögel so niedrig kreisen, lenkt die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ab. Der Spielleiter ist einverstanden mit unseren Bemerkungen, notiert sich etwas in seinen Block. Die nächste Nummer blättert eine traurige Seite unserer jüngeren Vergangenheit auf. Sie spielt in Moskau zu Zeiten der schlimmen Weißen Wirren, auf dem Platz mit den drei Bahnhöfen. Wir sehen das einfache Volk dort stehen, das die trüben Wogen der Geschichte aus seinen Häusern auf diesen Platz gespült haben, es ist gezwungen, für das Stück Brot, welches die schändlichen Machthaber ihm genommen, sein letztes Hab und Gut feilzubieten. Die Erinnerung aus frühen Kindertagen an diese schwärenden Zeiten, als der Weiße Abszess das Blut unseres Russischen Bären vergiftete, lebt noch in mir ... Da stehen sie auf dem Platz, Russlands Menschen, mit Teekesseln, Bratpfannen, Blusen und Haarwaschmitteln in Händen. Flüchtlinge, Leute, deren Behausung in Flammen aufgegangen ist, Legionen von Menschen, die das Leid nach Moskau verschlagen hat. Greise, Kriegsversehrte, Veteranen und Helden der Arbeit. Der Anblick dieser Menge weckt in mir tiefen Gram. Der Himmel ist trübe und verhangen. Aus dem Orchestergraben dringt traurige Musik. Und da auf einmal, gleich einem blassen Hoffnungsstrahl, eine kleine Szene inmitten der Bühne, die das finstere Bild erhellt: drei obdachlose, von der Welt verstoßene Kindlein, zwei Mädchen in löchrigen Kleidern und ein schmutzstarrender Knabe mit einem Plüschbären unterm Arm. Ein zaghafter Flötenton der Hoffnung wird wach, ja, man meint ihn regelrecht erwachen zu hören. Schwingt 62
sich bebend empor. Über dem finsteren, schwärenden Platz schwebt nun ein rührendes Kinderlied: Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören, Klingt wie Morgentau so rein, so silberhell. Eine Stimme, so verlockend, so betörend, Macht mich schwindlig wie ein Kinderkarussell. Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren! Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit! Dem klaren Quell Enteilt' ich schnell, Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit. Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören, Die mich ruft in eine wunderbare Welt. Sie ist streng zu mir, möcht' sie mich doch beschwören, Dass ich heut' das Feld für morgen schon bestell'. Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren! Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit! Dem klaren Quell Enteilt' ich schnell, Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit... Da rollen die Tränen von ganz allein. Bei meinem verkaterten Schädel ist das kein Wunder, aber Fürst Sobakin in all seiner Würde muss auch schon schniefen. Er hat eine große Familie mit vielen kleinen Enkelein. Der bullige Inspektor aus der Geheimen Kanzlei sitzt da wie aus Erz gegossen. Er hat Nerven aus Stahl, die halten alles aus. Der rundliche Tischvorsteher zieht die Schultern hoch, als fröstelte ihn, anscheinend hat auch er mit 63
den Tränen zu kämpfen. Das greift den dickfelligsten Leuten ans Herz. Großartig ... Nicht nur den Stolz auf unser Land hat der Gossudar in uns geweckt, auch das Mitgefühl mit seiner schweren Vergangenheit: Wie diese drei russischen Kinderchen dastehen und ihre Hände aus dem Gestern herüberrecken, aus diesem erniedrigten, gedemütigten Land! Und ach, wir können ihnen so gar nicht helfen ... Befürwortet. Als Nächstes dann: die Gegenwart. Das pralle Leben. Die Tänze der Völker, die das Große Russland eint, dargeboten vom Moissejew-Ensemble. Der leichtfüßige Tanz der Tataren und ein wilder Kosakenreigen mit blankgezogenem Säbel und eine Tambower Leineweber-Quadrille zur Taljanka und der Wechseltanz der Nishegoroder Bastgerber mit ihren Rasselpfeifen und ein tschetschenischer Rundtanz mit reichlich Gicksern und Juchzern und ein jakutischer Schellentanz und ein tschukotischer Fuchspelztanz und ein korjakischer Rentiertanz und ein kalmükischer Hammeltanz und ein jüdischer Fracktanz und ganz viele russische Tänze, russische Tänze bis zum Abwinken, wild, verwegen, übermütig, jeder macht mit, niemand bleibt außen vor. Ein legendäres Ensemble, keine Fragen offen. Die nächsten beiden Nummern - »Die fliegenden Balalaikas« und »Ein Mädchen eilt zum Stelldichein« gehören zum klassischen Repertoire, alles daran ist abgewogen, ausgefeilt und poliert. Eine einzige Augenweide! Man meint, beim Zusehen in einem Schlitten zu sitzen und eine Rodelbahn hinabzurodeln. Der Inspektor zollt Beifall. Wir auch. Die vom Gossudaren bestallten Künstler sind einfach famos! 64
Dann folgt ein kleiner literarischer Programmpunkt: »Sei gegrüßt, meine liebe Arina Rodionowna!« Eine schon etwas angestaubte Nummer, obendrein recht lang. Doch das Volk liebt sie, und auch der Gossudar schätzt sie sehr. Der Abteilungsleiter äußert den halbherzigen Vorschlag, einen jüngeren Puschkin aufzubieten - seit zehn, zwölf Jahren spielt immer derselbe Chapenski diese Rolle, der schon nicht mehr der Jüngste ist. Aber wir wissen, der Vorschlag wird nicht fruchten, denn Chapenski hat beim Gossudaren einen Stein im Brett. Der Spielleiter zuckt die Achseln, hebt bedauernd die Hände: »Das steht nicht in meiner Macht, meine Herren, bitte haben Sie Verständnis ...« Wir haben. Nun aber kommt die Hauptsache. Die Nummer aus aktuellem Anlass mit dem Titel »Ha! Von wegen!« Alle sind angespannt, rutschen nervös in ihren Sesseln herum. Auf der Bühne ist es finster, nur der Wind heult, und die Dombras und Balalaikas klimpern ein bisschen. Dann kriecht der Mond hinter den Wolken hervor, legt alles in ein funzliges Licht. In der Bühnenmitte erkennen wir das Westrohr Nr. 3. Das nämliche. Dessenthalben es die letzten anderthalb Jahre so viel Tamtam gab, so viele Sorgen und Scherereien. Im Halbdunkel schimmernd, zieht und windet sich das Rohr quer über die Bühne, durch russischen Wald und russisches Feld, bis es auf die Westmauer stößt und ein Absperrventil mit der Aufschrift GESCHLOSSEN. Dahinter geht das Rohr durch die Mauer und verliert sich in Richtung Westen. Oben auf der Mauer steht einer unserer Grenzschützer mit einer Strahlenkanone und schaut durch den Feldstecher nach drüben. Auf einmal geraten die Dombras und Balalaikas in Erregung, die Bässe schwellen unheildrohend - neben 65
dem Absperrventil sieht man einen Maulwurfshügel wachsen. Sekunden später kommt ein spitzmäuliger Diversant mit schwarzer Sonnenbrille aus dem Hügel gekrochen, späht in die Runde, schnüffelt herum, hüpft hoch, kriegt den Ventilschieber zu fassen, zerrt mit aller Kraft, nimmt seine riesigen Zähne zu Hilfe ... Gleich hat er es geschafft, gleich strömt das Gas! Aber da fährt ein schneidender Blitz von der Mauer herab, schneidet den Maulwurf mitten entzwei, dass die Maulwurfsgedärme hervorquellen und der eingeschleuste Gasdieb seinen Geist aufgibt. Licht flammt auf, drei wackere Grenzer kommen mit verwegenen Saltos und jungenhaften Pfiffen von der Mauer gesprungen. Der eine hält eine Ziehharmonika in Händen, der zweite eine Schellentrommel, der dritte ein Paar Holzlöffel. Ihre treuen, treffsicheren Kanonen haben sie über der Schulter hängen. Die tapferen Grenzer führen einen Tanz auf und singen dazu: Auf Geheiß des Gossudaren Ward der Hahn hier zugedreht... »Checken« wollten die Barbaren, Ob was anzuzapfen geht. Hat kein Aug' man auf die Diebe, Wachsen flugs aus Rohr und Tank Viele kleine Seitentriebe. Gern friert auch kein Cyberpunk! Doch wir zeigen es den Fexen. Bei Schmarotzern sehn wir rot. Hat sich was, Europa-Exxon! Klappe zu und Affe tot!
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Hat's der Maulwurf noch nicht über, Kriegt er es von uns gesteckt: Gasen wir ihm einen rüber, Dass der Westen dran verreckt! Bei diesen Worten hebelt einer der Grenzsoldaten das Ventil auf, die beiden anderen springen herzu, halten ihre Hinterteile an den Rohrstutzen und furzen. Mit düsterem Fauchen fährt der Jungmännerfurz durch das Rohr, durch die Mauer... Prompt hebt drüben ein großes Heulen und Wehklagen an. Der Schlussakkord erklingt, die drei springen behände auf das Rohr hinauf und schwenken triumphierend ihre Kanonen. Vorhang. Die hohen Herren im Publikum erwachen aus ihrer Andacht. Sie blicken zu Fürst Sobakin hinüber. Der zwirbelt seinen Schnurrbart und denkt nach. »Nun denn, meine Herren«, spricht er sodann. »Ihre Meinung?« Tischvorsteher: »Ich sehe ein deutliches Element von Schweinigelei. Ansonsten ist die Sache aktuell, und Pfiff hat sie auch.« Aufsichtsführender: »Erstens gefällt mir nicht, dass der feindliche Kundschafter getötet wird und nicht bei lebendigem Leibe ergriffen. Und zweitens frage ich mich, wieso es nur drei Grenzer sind? Eine Wache besteht aus zwölf Mann, soviel ich weiß. Also sollten da auch zwölf Mann auf der Bühne erscheinen. Dann fiele der Furz gleich viel kräftiger aus.« Ich: »Was die Truppenstärke betrifft, so schließe ich mich meinem Vorredner an. Die Nummer hat ihren Sinn, sie zielt auf einen aktuellen Anlass. Aber ein Element von Schweinigelei ist dabei. Und das, obwohl unser Gossudar bekanntlich ein Verfechter von Reinheit und Keuschheit auf der Bühne ist.« 67
Fürst Sobakin schweigt und nickt. Dann spricht er: »Sagen Sie, meine Herren, der Schwefelwasserstoff, den unsere vortrefflichen Krieger da furzen, der ist doch brennbar, oder nicht?« »Jawohl«, bestätigt der Aufsichtsführende. »Wenn es so ist, dann frage ich mich«, fährt der Fürst, immer noch seinen Bart zwirbelnd, fort, »warum Europa unsere Fürze überhaupt zu fürchten hat?« Oho! So gehört es sich für einen aus dem Engsten Kreis. Er stößt sogleich zum Kern der Sache vor. Mit einem russischen Furz lassen sich europäische Städte beheizen! Wir kommen ins Nachdenken. Und ich hadere mit meinem Verstand: nicht auf das Nächstliegende gekommen zu sein. Andererseits habe ich ja nur Geisteswissenschaften studiert. Der Spielleiter ist blass geworden, er hüstelt nervös. »Hm ja... Das ist in der Tat nicht ganz stimmig«, gibt der Aufsichtsführende zu und kratzt sich am Kinn. »Da hinkt die Vorlage ganz gewaltig!«, ereifert sich der Tischvorsteher und hebt den dicken Zeigefinger. »Wer hat das geschrieben?« Ein hagerer Mann in Tolstoibluse taucht aus der Tiefe des Zuschauerraums hervor. »Wie können Sie sich so eine Blöße geben, sagen Sie mal! Das Thema Gas ist doch nun wirklich nicht neu!«, geht der Tischvorsteher ihn an. »Bedaure sehr. Ich bringe das in Ordnung.« »Tu das, mein Bester«, sagt der Fürst und gähnt. »Aber denk dran, übermorgen ist Generalprobe!«, versetzt der Aufsichtsführende streng. »Das kriegen wir hin, keine Bange!« »Und noch eins«, fügt der Fürst an. »Da, wo ihr den Maulwurf mit dem Strahl massakriert und die Gedärme rausquellen - das ist ein bisschen zu viel des Guten.« 68
»Wie meinen, Euer Erlaucht?« »Die ganzen Därme. Zu viel Naturalismus ist nicht gut. Ein bisschen weniger Gekröse, wenn ich bitten darf, mein Lieber.« »Zu Befehl. Wird alles korrigiert.« »Und was ist mit der Schweinigelei?«, frage ich nach. Mich trifft ein kalter Seitenblick des Fürsten. »Davon kann keine Rede sein, Herr Opritschnik. Das ist der gesunde Humor unserer Armee, der den Strelitzen hilft, ihren harten Dienst an den entlegensten Grenzen der Heimat zu schultern!« Eine lakonische Feststellung. An ihr gibt es nichts zu deuteln. Der Fürst ist ein kluger Mann. Und was den Seitenblick angeht - er mag uns Opritschniki nicht leiden, das ist es. Was man ja verstehen kann: Wir treten dem Engsten Kreis beständig auf die Fersen, atmen ihm ins Genick. »Was haben wir noch?«, fragt der Fürst und zieht eine Nagelfeile hervor. »Die Arie des Iwan Sussanin.« Die kann man sich schenken. Ich stehe auf, verbeuge mich und gehe zum Ausgang. Plötzlich fasst mich jemand im Dunkeln beim Arm. »Herr Opritschnik, ich flehe Sie an!« Eine Frauenstimme. »Wer bist du?« »Hört mich an, ich bitte Euch!«, wispert es inbrünstig und stotternd. »Ich bin die Frau des verhafteten Sekretärs Korezki.« »Bojarenvettel! Verzieh dich!« »Ich flehe Euch an! Ich flehe Euch an!« Sie fällt vor mir auf die Knie, packt mich beim Stiefel. »Fort mit dir!« Ich stoße ihr den Stiefel vor die Brust. 69
Sie stürzt zu Boden. Im nächsten Moment greifen von hinten schon wieder irgendwelche heißen Frauenhände nach mir, es flüstert: »Andrej Danilowitsch, wir bitten Sie sehr!« Ich zücke den Dolch: »Weichet, ihr Huren!« Die mageren Hände zucken zurück. »Andrej Danilowitsch, ich bin keine Hure. Ich bin Uljana Kosiowa.« Oho! Die Primaballerina vom Bolschoi-Theater. Eine Favoritin des Gossudaren, von allen Odiles und Giselles die beste. Ich habe sie in der Dunkelheit nicht erkannt. Schaue genauer hin. Tatsächlich, sie ist es. Das Bojarenluder liegt derweil bäuchlings flach. Ich stecke den Dolch weg. »Meine Dame, womit kann ich dienen?« Die Kosiowa tritt an mich heran. Wie immer bei Ballerinen wirkt ihr Gesicht aus der Nähe weniger ansehnlich als auf der Bühne. Und sie ist ganz klein. »Andrej Danilowitsch!«, flüstert sie, aus den Augenwinkeln hinüberschielend zur im Halbdunkel liegenden Bühne, wo Iwan Sussanin im Schafspelz und mit Hirtenstock betulich seine Arie schmettert. »Ich ersuche Euch um Fürsprache, flehe Euch an bei allen Heiligen, bitte von Herzen ... Klawdija Lwowna ist die Patin meiner Kinder, meine beste und teuerste Freundin, ein reiner, aufrichtiger, gottesfürchtiger Mensch, wir haben gemeinsam die Schule für Waisenkinder errichtet, eine Fürsorgeanstalt, ein hübsches, großzügiges Haus, wo die Waisenkinder etwas lernen können, ich flehe Euch an, inständig, wir alle ... Klawdija Lwowna soll übermorgen in die Verbannung verschickt werden, es bleibt nur noch ein Tag, ich bitte Euch als Christenmenschen, als Mann, als Freund des Theaters, als Mensch von Kultur ... Andrej Danilowitsch, wir wären Euch auf ewig 70
in Dankbarkeit verbunden, schlössen Euch ein in unser tägliches Gebet, Euch und Eure Familie ...« »Ich habe keine Familie«, falle ich ihr ins Wort. Sie verstummt. Schaut mich an mit großen, feuchten Augen. »Meine Zeit ist gekommen!«, singt Sussanin und schlägt ein Kreuz. Die Bojarenwitwe sielt sich auf dem Boden herum. »Wieso kommen Sie als Favoritin der Gossudarenfamilie zu mir?« »Der Gossudar ist auf den Exvorsitzenden und alle seine Mitstreiter sehr schlecht zu sprechen. Eine Begnadigung kommt für ihn nicht in Frage. Sekretär Korezki hat diesen leidigen Brief an die Franzosen doch eigenhändig verfasst. Der Name Korezki ist für den Gossudaren ein rotes Tuch.« »Erst recht frage ich Sie, was ich da ausrichten soll.« »Andrej Danilowitsch! Die Opritschnina kann Wunder vollbringen.« »Die Opritschnina steht in Schuld und Sühne für unseren Gossudaren ein, meine Dame.« »Ihr zählt zu denen, die in diesem mächtigen Orden das Sagen haben.« »Verehrteste! Die Opritschnina ist eine Bruderschaft und kein Orden.« »Andrej Danilowitsch, ich bitte Euch! Erbarmt Euch einer unglücklichen Frau. Unter euren Männerfehden haben wir Frauen am meisten zu leiden. Dabei hängt von uns doch alles Leben auf Erden ab.« Ihre Stimme bebt. Die Bojarin am Boden schluchzt leise. Der Tischvorsteher äugt schon herüber zu uns. Was soll's. Dass unsereins um Fürsprache gebeten wird, kommt beinahe täglich vor. Doch dieser Korezki, Exvorsitzender der Gesellschaftskammer, und seine ganze Bande ... 71
Doppelzüngige Nattern allesamt! Mit denen will man lieber nichts zu tun haben. »Sagen Sie ihr, sie soll verschwinden«, befehle ich. Die Ballerina beugt sich über die Liegende. »Klawdija Lwowna, mein Liebes ...« Schluchzend verschwindet die Korezkaja im Dunklen. »Gehen wir ans Tageslicht«, sage ich und begebe mich zur Tür mit dem Leuchtschild Ausgang. Die Kosiowa kommt mir nachgeeilt. Wortlos verlassen wir das Gebäude durch die Dienstpforte.
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ICH TRETE HINAUS auf den Platz, gehe zu meinem Merin. Die Kosiowa kommt mir hinterher. Bei Tageslicht nimmt sich Russlands beste Giselle noch unschöner und zerbrechlicher aus. Ihr hageres Gesicht hält sie hinter einem edlen Fuchspelzkragen versteckt. Sie trägt einen engen, langen Rock aus schwarzer Seide, unter dem ein Paar spitze schwarze Stiefelchen mit Schlangenlederbesatz hervorsehen. Die Augen der Primaballerina sind schön: groß, grau und unstet. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, können wir uns auch in meinem Wagen unterhalten«, sagt sie und weist mit dem Kopf auf einen fliederblauen Cadillac. »Doch besser in meinem«, sage ich und deute auf den Merin, der gehorsam sein Glasdeck auffährt. Nicht einmal Steuereintreiber treffen ihre Absprachen heutzutage in fremden Autos. Kein noch so bekiffter Untersekretär aus der Handelskanzlei wird sich in einen fremden Wagen setzen und einen Schwarzbittsteller anhören. Ich nehme hinter dem Lenkrad Platz. Sie auf dem Beifahrersitz. Eine Rückbank hat der Merin nicht. »Fahren wir ein Stück, Uljana Sergejewna«, sage ich, starte den Motor und verlasse den für Staatsbedienstete reservierten Parkplatz. »Seit einer Woche reiße ich mir die Beine aus, Andrej Danilowitsch.« Sie holt eine Packung Damenzigaretten, Marke Rodina, hervor, und beginnt zu rauchen. »Die Sache ist wie verhext. Es will mir einfach nicht gelingen, meiner alten Jugendfreundin aus der Klemme 73
zu helfen. Dazu kommt, dass ich morgen Vorstellung habe.« »Ist sie Ihnen denn wirklich so viel wert?« »O ja. Ich habe sonst keine Freundinnen. Sie wissen doch, wie es zugeht in der Welt des Theaters ...« »Davon hat man gehört«, sage ich, während ich den Kreml durch die Borowizkije Worota verlasse und auf den Bolschoi Kamenny Most biege. Immer schön auf der roten Spur bleibend, gebe ich Gas. Die Kosiowa nimmt einen tiefen Zug und betrachtet den Kreml, von dessen weißen Zinnen sich der Schnee kaum abhebt. »Ich war sehr aufgeregt vor dem Treffen mit Ihnen, müssen Sie wissen.« »Wieso?« »Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein kann, Fürsprache für jemanden einzulegen.« »Da ist was dran.« »Und außerdem ... Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum: Mir träumte, dass an der Hauptkuppel der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale immer noch die schwarzen Bänder hängen, und der Gossudar trauert immer noch um seine erste Frau.« »Sie kannten Anastassija Fjodorowna?« »Nein. Damals war ich noch nicht Primaballerina.« Wir sind jetzt auf der Jakimanka. In diesem Teil der Stadt, Samoskworetschje, ist es wie immer voll und laut. »Darf ich denn auf Ihre Unterstützung rechnen?« »Versprechen kann ich es nicht. Aber ich könnte sehen, was sich machen lässt.« »Wie viel würde das kosten?« »Dafür gibt es feste Preise. Ein den Normalbürger betreffender Vorgang kostet gegenwärtig tausend Gold74
rubel. Bei Amtsleuten sind es dreitausend. Und wenn es um die Gesellschaftskammer geht ...« »Aber ich verlange ja nicht von Ihnen, dass Sie den ganzen Vorgang revidieren. Mir geht es nur um die Witwe!« Auf der Ordynka muss ich bremsen. Diese vielen Chinesen hier, mein Gott... »Andrej Danilowitsch! Lassen Sie mich nicht schmoren!« »Na gut ... weil Sie es sind: zwoeinhalb. Und ein Aquarium.« »Was für eins?« »Jedenfalls kein silbernes!«, sage ich lächelnd. »Bis wann?« »Wenn Ihre Freundin schon übermorgen verfrachtet werden soll, dann je schneller, desto besser.« »Also heute noch?« »Die Schlussfolgerung ist korrekt.« »Gut... Wenn es Ihnen nichts ausmacht: Würden Sie mich bitte nach Hause fahren? Meinen Wagen hole ich später nach ... Ich wohne in der Uliza Neshdanowoi.« Ich wende, düse zurück. »In welcher Währung möchten Sie das Geld haben, Andrej Danilowitsch?« »Möglichst in Goldrubeln, zweite Prägung.« »Gut. Ich denke, bis zum Abend habe ich es zusammen. Und was das Aquarium angeht... Nach goldenen Fischen zu angeln gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, wissen Sie. Wir Tänzerinnen verdienen weniger, als es den Anschein hat ... Aber Ljoscha Woronjanski hängt am Gold. Er ist ein guter Freund von mir. Von ihm kriege ich etwas.« Woronjanski ist erster Tenor am Bolschoi, das Volk himmelt ihn an. Sehr wahrscheinlich, dass er am Gold 75
nicht nur hängt, sondern auch darauf sitzt ... Schon wieder bin ich am Bolschoi Kamenny, fege auf der roten Spur über die Brücke. Links und rechts von mir dümpeln die Autos in endlosen Staus. Vorbei an der Nestor-Nationalbibliothek, der Wosdwishenka, der Universität. Ich biege ein in die berüchtigte Nikitskaja. Nach der dritten Säuberung in Folge ist es in dieser Straße still geworden. Selbst die Sbiten- und Kringelverkäufer gehen hier auf Zehenspitzen, preisen ihre Ware nur zaghaft an. Die Fenster der abgefackelten, noch nicht wieder instandgesetzten Wohnungen gähnen schwarz. Den Bürgern, diesem Pack, geht die Muffe. Recht so ... In der Neshdanowoi halte ich vor dem grauen Künstlerblock. Er ist von einer drei Meter hohen Backsteinmauer umgeben, darauf eine Lichtschranke. Die hat ihren Sinn. »Warten Sie auf mich, Andrej Danilowitsch«, sagt die Primaballerina, steigt aus und verschwindet im EingangIch rufe den Alten an. »Ältester, es gibt das Angebot, einen halben Vorgang abzukaufen.« »Wen?« »Den Sekretär Korezki.« »Wer?« »Die Kosiowa.« »Die Ballerina?« »Genau. Kriegen wir die Witwe abgezweigt?« »Könnte man versuchen. Aber da geht einiges an Prozenten ab. Wann kommt das Geld?« »Bis zum Abend will sie es auftreiben. Und außerdem habe ich das dumpfe Gefühl, Ältester ... dass sie mir gleich ein Aquarium rausbringt.« 76
»Na! Das wäre doch mal eine frohe Kunde«, sagt der Alte augenzwinkernd. »Sobald du's hast - in die Sauna damit!« »Klarer Fall!« Die Kosiowa lässt sich Zeit. Ich rauche eine Zigarette. Schalte das reine Teleradio ein. Hier lässt sich störungsfrei hören und sehen, was die Abtrünnigen unter unseren Mitbürgern nur des Nachts und mit größter Mühe einfangen können. Als Erstes drehe ich eine Runde im Untergrund, lande beim Programm »Freie Kommune«, wo sie die Liste der letzte Nacht Verhafteten durchgeben und von »wahren Hintergründen« im Fall Kunizyn faseln. Diese Schwachköpfe! Wen interessieren denn jetzt noch die »wahren Hintergründe«? ... »Radio Hoffnung« hat tagsüber Sendepause - die pennen, die Nachteulen. Desto munterer plappert es beim sibirischen »Freibeuter«, der Stimme der entlaufenen Sträflinge: »Auf Wunsch von Iwan, genannt Wanne Großfuß, der vorgestern den Abflug gemacht hat, bringen wir nun ein altes Sträflingslied!« Eine saftige Harmonika spielt, zu der eine verrauchte Jungmännerstimme zu singen anhebt: Es saßen und träumten von früher Zwei Knackis im scharfen Arrest. Bazillus, so nannt' man den einen, Den anderen schimpfte man Pest... Dieser »Freibeuter«, der da in Westsibirien herumhüpft wie ein Floh, ist schon zweimal dingfest gemacht worden - einmal durch die Geheime Kanzlei vor Ort und einmal durch uns. Der Kanzlei haben die Betreiber sich entzogen, von uns mit chinesischen Aquarien losgeeist. Während um das Lösegeld gefeilscht wurde, waren un77
sere Männer nicht untätig, renkten den drei Radiosprechern auf der Folterbank die Arme aus, und Siwolai schob der Sprecherin einen kleinen Bären in die Röhre. D o c h das Rückgrat des Senders blieb heil, ein Studio auf Kufen wurde angeschafft, und die Kettensträflinge konnten wieder auf Sendung gehen. Der Gossudar schert sich zum Glück nicht darum. Also sollen sie in Gottes N a m e n ihre Frongesänge in den Wind heulen. ... Alsbald war die Clique am Schluchzen, Es raunte die Kolyma: Im Winter, da türmte Bazillus, Im Frühling war Pest wieder da ... Ich schalte um ins Westfernsehen, wo die antirussischen Umtriebe ihren H e r d haben. Wie Ratten in der Senkgrube tummeln sich hier die feindlichen Stimmen: »Freiheit für Russland«, »Voice of America«, »Free Europe«, »Liberty«, »Deutsche Welle«, »Russland im Exil«, »Roma Russa«, »Das Russische Berlin«, »Russian Brighton Beach«, »Cote d'Azur Russe«. Ich entscheide mich für »Liberty«, den wütendsten Geiferer, und stoße sogleich auf taufrisches antirussisches Material: Im Studio hockt ein emigrierter Dichter, schmalbrüstige jüdische Brillenschlange, guter alter Bekannter von uns, mit einem zertrümmerten rechten Handgelenk als Andenken (Pojarok hatte während der Vernehmung seinen Fuß darauf stehen). Der Andersdenkende rückt mit der verkrüppelten H a n d seine altmodische Brille zurecht und deklamiert mit hysterisch bebender Falsettstimme: Ein Paragraph selbst für den Schlaf! Wo gerichtet wird, fallen Menschen! 78
»Mein Bruder - 's ist Zeit!« Für den Knast? Für den Ast? »Wir flieh'n und sind frei!« Vogelfrei! Ab, dawai! ... Judas! Mit einer Bewegung des kleinen Fingers klicke ich das liberale Mehlgesicht weg. Eklig seyen sie als wie Gewürm, das sich an Fäulnis und Aas besäufet. Das Teigige ist es, das sich Schlängelnde, das Unersättliche, das Blinde obendrein, was sie gemein macht mit dem verachteten Getier, und nur ihr beflissenes Mundwerk unterscheidet sie, welches mit stinkend Gift und Galle dermaßen um sich spritzet, dass nicht nur die Menschen drunter müssen leiden, nein, auch die von Gott geschaffene Welt wird besudelt, ihre heilige Schlichtheit und Reinheit beferkelt bis zum hintersten Horizont, bis ans Himmelsgebälk, mit der Schlangengicht ihres Hohnes und Spottes, ihrer Verachtung, ihrer Doppelzüngigkeit, ihres Zweifels, Misstrauens, Neides, ihrer Bosheit und Schamlosigkeit ... Auf »Freiheit für Russland« quengeln sie über die »geschurigelte Selbstbestimmung«, das altgläubige »Sonnenwärts« mokiert sich über die Käuflichkeit der Oberpriester in der R.O.K., das »Russische Paris« liest aus einem Buch von Jossaf Back mit dem Titel »Hysterisches Gestikulieren als Überlebensweise in Russland heute«, »Roma Russa« bringt jaulenden Affenjazz, das »Russische Berlin« ein ideologisches Wortgefecht zweier unversöhnlicher Emigrantenmonster, und auf »Voice of America« läuft das Programm »Russischer Tabuwortschatz im Exil« mit einer obszönen Nacherzählung des unsterblichen Romans »Verbrechen und Strafe«:
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Den satten Hieb mit der Scheißaxt hat die alte Fotze sauber auf den Scheitel gekriegt, sie war ja arschklein, das hat verdammt nochmal gepasst. Sie hat aufgejault wie angestochen und ist ratzbatz zusammengesackt, runter auf den Scheißfußboden, hat's grad noch fertig gekriegt, die verdorrte Mose, sich mit ihren abgewichsten Griffeln an die verkeimten Hurenzotteln zu fassen, das war's dann ... Gräulich und abscheulich - anders kann man es nicht nennen. Seit dem berühmten 37. Erlass des Gossudaren über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gebrauch unflätiger Schimpfwörter in öffentlichen wie privaten Räumen, unter ausdrücklicher A n d r o h u n g von Maßnahmen körperlicher Züchtigung, ergehen sich die Liberalen in Heulen und Zähneknirschen. Wohingegen das einfache Volk zu unserem Erstaunen dem 37. Erlass sogleich Verständnis entgegengebracht hat. N a c h einer Reihe von Schauprozessen, infolge derer auf den zentralen Plätzen der russländischen Städte die Streckbank zur A n w e n d u n g kam, der Ochsenziemer auf der Sennaja Ploschtschad pfiff und Schmerzensschreie über die Maneshnaja gellten, haben sich die Leute auf der Straße die garstigen, in alter Zeit von Fremden eingeschleppten und aufgenötigten Wörter verbissen. N u r die Intelligenzija mag sich nicht damit abfinden und fährt fort, mit giftigen Mutterflüchen um sich zu spucken: in Küchen, Schlafzimmern, Toiletten, Fahrstühlen, Abstellkammern, Hausfluren, Autos, wo sie geht und steht - mag einfach nicht lassen von diesem eklen Polypen am russischen Sprachleib, der Generationen von Landsleuten die Zunge vergiftet hat. U n d der sie80
che Westen findet an unseren Kellerlochschandmäulern seinen Spaß. Auf »Cote d'Azur Russe« schließlich wagt es ein dreister Ohrenbläser, die jüngste Verfügung des Gossudaren über die vierundzwanzigstündige Schließung des Rohrs Nr. 3 zu kritisieren. Den Herren Europäern scheint die Galle schön überzulaufen! Dutzende von Jahren haben sie unser Gas abgezapft, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, mit wie viel Aufopferung es unser fleißiges Volk aus den Tiefen holt. In Nizza ist es schon wieder kalt? Na, so was! Dann gibt's eben paarmal die Woche kalte Küche, meine Herren! Foie gras! Bon appetit! Da sind sie in China, scheint's, heller ... Die Faustkeilpeitsche knallt. Der Sekretär aus der Auswärtigen ist wieder dran. »Korostylew am Apparat. Andrej Danilowitsch, der Empfang des albanischen Gesandten ist auf morgen 14 Uhr verschoben.« »Habe verstanden!«, sage ich und schalte das Eulengesicht des Sekretärs ab. Bloß gut, denn für heute liegt auch so genug an. Bei der Entgegennahme fremdländischer Beglaubigungsurkunden durch den Gossudaren stehen wir Opritschniki neuerdings neben den Auswärtigen. Bisher war es so, dass wir den silbernen Kelch mit dem Wasser allein in Händen hielten, die Zwölferkorona aus Amtsleuten stand im Halbkreis um uns herum. Nach dem 17. August hat der Gossudar sich für eine Annäherung entschieden: Jetzt halten wir den Kelch selbander mit den Beamten. Der Alte und Shurawljow den Kelch, ich oder sonst jemand vom rechten Flügel das Handtuch, der Sekretär der Auswärtigen Kanzlei die Ellbogenstütze. Die Übrigen in Verbeugung auf dem Teppich. Sobald 81
der Gossudar den neuen Gesandten mit Handschlag begrüßt und die Urkunden entgegengenommen hat, wird von uns das Handwaschungsritual für den Gossudaren zelebriert. Dass man den Kanzleiratten nach den unseligen Augustereignissen dermaßen entgegenkommt, ist natürlich ärgerlich. Doch so will es unser Gossudar. Endlich taucht die Kosiowa wieder auf. Ich sehe es ihr an den Augen an: Sie hat es. Davon pocht sogleich das Blut in meinen Adern, Herzklopfen stellt sich ein. »Hier bitte, Andrej Danilowitsch!« Sie reicht mir eine Plastiktüte mit dem Aufdruck eines chinesischen Imbisslokals durchs Seitenfenster. »Das Geld kommt bis 18 Uhr. Ich rufe an.« Um Zurückhaltung bemüht, nicke ich, werfe die Tüte lässig auf den Beifahrersitz, schließe das Fenster. Die Kosiowa entfernt sich. Ich fahre los, biege auf die Twerskaja ein. Vor der Moskauer Stadtduma lenke ich den Wagen auf einen der roten Stellplätze für Staatskarossen. Fahre mit der Hand in die Tüte. Betaste die kühle, glatte Kugel. Umfasse sie zärtlich, schließe die Augen. Ein Aquarium! Wann habe ich das letzte Mal solch eine Herrlichkeit in der Hand gehalten? Es muss fast vier Tage her sein, eine halbe, grauenvolle Ewigkeit. Mit vor Erregung feuchten Fingern hole ich die Kugel aus der Tüte, lege sie auf die flache linke Hand: Da haben wir sie, die lieben goldenen Kleinen! Die Kugel ist durchsichtig, gefertigt aus edlem Material. Mit einer klaren Nährlösung gefüllt. Und darinnen schwimmen sieben winzige goldene Sterlette, kaum fünf Millimeter lang. Ich hebe die Kugel nahe vors Gesicht, um sie zu betrachten. Mikroskopisch kleine Fischlein! Göttliche Schöpfungen, bezaubernd schön! Blitzge82
scheite Leute haben euch erfunden, uns zur Freude. So klein seid ihr flinken goldenen Fischlein und doch so mächtig wie der Butt aus dem Märchen, der vor Zeiten den dummen russischen Iwans aus dem Volke Glück gebracht hat in Form von wunderfitzigen Schlössern, Zarentöchtern und Backöfen, die von selber backen. Das Glück aber, das ihr göttlichen Winzlinge beschert, ist unvergleichlich jedem Schloss, jedem Automatikofen und jeder holden, liebkosenden Weiblichkeit ... Ich spähe in die Kugel hinein. Schon mit bloßem Auge sehe ich, dass die Giselle mich nicht betrogen hat! Sieben goldne Sterlettchen sind in meiner Hand. Ich hole die Lupe hervor, sehe noch genauer hin: hervorragende Ware, offensichtlich chinesisches Fabrikat, kein ärmlicher Schund aus Amerika, von Holland ganz zu schweigen. Sie tummeln sich in ihrem Element, glänzen in der fahlen Moskauer Wintersonne. Einfach fabelhaft! Ich rufe den Alten an. Zeige die Kugel vor. »Alle Achtung, Komjaga!« Der Alte zwinkert mir zu und schnipst mit dem Finger gegen sein Ohrglöckchen, was als Beifallsbekundung gelten darf. »Wohin damit, Ältester?« »In die Sauna. Donskije Bani.« »Ich fliege!«, sage ich und bin schon dabei auszuparken.
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AUF DEM WEG IN DIE SAUNA überlege ich mir, wie ich die verbleibenden Aufgaben am besten auf den Rest des Tages verteile. Doch ich bin nicht bei der Sache, die Gedanken schweifen ab - neben mir planschen die goldenen Fischlein in der Kugel! Zähneknirschend zwinge ich mich, an meine Dienstpflichten zu denken. Beides dürfte noch zu schaffen sein: den Stern auszulöschen und zur Wahrsagerin zu fliegen. Auf der Donskaja ist viel Betrieb. Ich stelle das Gossudarenröhren an. Die Karossen erbeben von dem unhörbaren Ton, machen mir den Weg frei, steuern zum Straßenrand. Groß und gewaltig, dieses Röhren. Bricht sich Bahn wie ein Bulldozer. Ich drücke auf die Tube, rase dahin, als würde es brennen. Und ob es brennt! Der Goldene Sterlett wirkt stärker als jede Feuersbrunst! Was sage ich: stärker als ein Erdbeben! Vor dem gelben Gebäude der Donskije Bani komme ich zum Stehen. Neben dem Portal, bis zur Traufe aufragend, die Figur eines bärtigen Saunameisters mit wolligem Rotbart und zwei Rutenbesen in den muskulösen Händen. Besenwedelnd kneift der Riese alle dreißig Sekunden eines seiner mutwillig blickenden blauen Augen zu. Ich stopfe mir die Kugel mit den Fischlein unter den Kaftan, in die Innentasche meiner Jacke hinein, und betrete das Haus. Die Türhüter machen einen tiefen Diener. Der Alte hat unseren Saal bereits reservieren lassen. Ich lasse mir beim Ablegen des schwarzen Kaftans helfen und gehe durch den überwölbten Korridor nach hinten. Meine kupfernen Sohlenbeschläge klap84
pern über den Steinfußboden. Vor der Tür zu dem Saal wacht ein Aufpasser - Koljacha. Wir kennen ihn gut, er hütet regelmäßig unser spezielles Gemach. Kein Fremder gelangte je an dem tätowierten, breitschultrigen Hünen vorbei zu uns herein. »Grüß dich, Koljacha!«, sage ich. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch!«, erwidert er mit einer Verbeugung. »Ist schon wer da?« »Ihr seid der Erste.« Auch gut. So sichere ich mir den besten Platz. Koljacha lässt mich in den Saal ein. Der ist nicht groß, hat niedrige Decken. Dafür ist es hier gemütlich, eine intime Atmosphäre. In der Mitte des Raumes befindet sich ein kreisrundes Tauchbecken. Rechts liegt der Dampfraum. Er wird heute nicht gebraucht und ist daher geschlossen. Wir machen uns auf andere, raffiniertere Art Dampf. Für den müsste der Rutenbesen erst noch gefunden werden ... Rund um das Becken stehen, wie Blütenblätter angeordnet, die Liegestühle. Sieben an der Zahl. So viele, wie Fischlein in der gelobten Kugel sind. Ich ziehe sie aus der Tasche meiner Brokatjacke und setze mich auf eine Stuhlkante. Die Kugel liegt auf meiner Hand. Lustig flitzen die kleinen goldenen Sterlette, ganz in ihrem Element. Gar wunderhübsch sind sie, das sieht man ohne Lupe. Es muss ein außerordentlicher Verstand sein, der dieses Vergnügen ausgeheckt hat. Vielleicht gar kein Menschenverstand. Eigentlich kann es nur ein vom Thron des Herrn gestürzter Engel sein, dem solches in den Sinn kommt. Ich lasse das Ding auf meiner Handfläche hüpfen. Teures Vergnügen! Ein einziger solcher Ball übersteigt mein Monatsgehalt. Schade eigentlich, dass diese Zau85
berkugeln in unserem rechtgläubigen Land strengstens verboten sind. Und nicht nur hier. In Amerika kriegt man für Silberfischlein zehn Jahre aufgebrummt, für goldene das Dreifache. In China wird man gleich aufgeknüpft. Und im siechen Europa kommen derlei Bällchen gar nicht vor - die Cyberpunks dort schmeißen lieber ihre billigen Trips. Seit vier Jahren pflegt unsere Geheime Kanzlei die Fische abzufangen. Doch sie kommen trotzdem zu uns geschwommen, und zwar aus dem benachbarten China. Munter schlüpfen sie den Grenzern durch die Maschen. Und daran wird sich wohl nichts ändern ... Um ehrlich zu sein: Ich kann an diesen Fischlein durchaus nichts Staatsfeindliches finden. Für das einfache Volk sind sie außer Reichweite, die reichen und vornehmen Leute indessen sollten sich ein paar Schwächen leisten dürfen. Denn Schwäche ist nicht gleich Schwäche. Nikolai Platonowitsch, der Gossudarenvater, erließ seinerzeit die grandiose Verordnung »Über den Gebrauch geistig anregender und entspannender Wirkstoffe«. Darin wurden Koks, Meti und Gras ausdrücklich für den Allgemeingebrauch zugelassen. Sie fügen dem Staat keinen Schaden zu, leisten den Bürgern bei Arbeit und Erholung gute Dienste. In jeder Apotheke kann man ein Quäntchen Koks zum staatlich festgesetzten Preis von zwo Rubel fünfzig erwerben. Dort ist auch ein entsprechender Tresen vorhanden, wo der Werktätige vor Dienstbeginn oder in der Mittagspause eine Linie ziehen kann, um beschwingt an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und das Staatswohl Russlands nach Kräften zu befördern. Ebenso werden dort Spritzen mit anregendem Meti und Tütchen mit abregendem Gras feilgeboten. Letzteres freilich erst nach 17 Uhr. Wohingegen der andere Dreck: Harry, Trips, 86
Pilze und das alles, tatsächlich dazu angetan ist, das Volk zu vergiften, das Zeug schwächt das Mark und den Willen, verjubelt das Hirn und schadet so dem Staatswesen. Weswegen der Gebrauch auf dem gesamten Territorium Russlands verboten ist. Gut durchdacht ist das und weise entschieden. Nur diese Fischlein ... die sind besser als aller Koks und Harry zusammengenommen! Das ist, wie wenn ein Regenbogen den Himmel überspannt - plötzlich ist er da und erfreut, und irgendwann ist er wieder weg. Der Sterlettregenbogen macht keinen schweren Kopf und keinen Hänger. Von einem Tritt mit beschlagenem Stiefel springt die Tür auf. So betritt nur einer den Raum: der Alte. »Komjaga! Du schon hier?« »Wo sonst, Ältester!« Ich werfe dem Alten die Kugel zu. Er fängt sie auf. Hält sie gegen das Licht, kneift die Augen zusammen, schaut. »O ja! ... Passt.« Nach ihm kommen Schelet, Samosja, Jerocha, Mokry und Prawda herein. Des Alten rechte Hand, zur Gänze. Mit seiner linken schlägt der Alte andernorts über die Stränge. Daran tut er wohl - Linke und Rechte zu verheddern gehört sich in solchen Dingen nicht. Alle sind sie schon ein bisschen aufgekratzt. Wie auch nicht - die Fischlein zum Greifen nahe! Samosja hält die Fäuste geballt, seine kohlschwarzen Augen fliegen. Jerochas Zunge beult die breitknochigen Wangen, er knirscht leise mit den Zähnen. Mokry glubscht unter den buschigen Brauen hervor, als wollte er mich durchbohren. Das letzte Mal war er es, der die Fischlein besorgt hat. Und Prawda hat die ganze Zeit die Hand am Messer - eine Angewohnheit. Seine Faust ist ganz 87
weiß, so fest hält sie das Heft umklammert. Die Rechten in der Opritschnina sind alles Feuerköpfe. Beim geringsten Anlass schneiden sie auch dem eignen Mann die Kehle durch, ohne zu zögern. Der Alte zügelt seine Leute: Gemach! Gemach! Er legt die Kugel auf dem steinernen Fußboden ab und beginnt sich als Erster auszukleiden. Diener sind hierbei nicht schicklich - wir ziehen uns selbst aus und wieder an. Die Opritschniki werfen ihre Brokatjacken ab, reißen sich die Seidenhemden vom Leib und das Unterzeug. Als alle nackt sind, legt sich jeder in seinen Stuhl. Auch ich lasse mich, die Scham mit den Händen bedeckend, nieder, dabei packt mich schon der Schüttelfrost, doch ist es die reine Vorfreude: Die goldene Seligkeit steht bevor! Wie immer nimmt der Alte den Einstieg selbst in die Hand. Splitternackt hebt er jetzt die Kugel mit den Fischlein auf und ... kommt zu mir! Natürlich, ich bin ja heute der Beschaffer. Folglich die Nummer eins unter den sieben, das erste Fischlein geht an mich. Ich strecke dem Alten den linken Arm hin, balle die Hand ein paarmal zur Faust und öffne sie wieder, während die Finger der anderen den Unterarm abdrücken. Der Alte neigt sich über meine Armbeuge wie Jahwe, der Herr. Und legt die göttliche Kugel an meine schwellende Vene. Ich sehe, wie die Fischlein plötzlich stillstehen, nur einmal hin- und herschwappen mitsamt der Flüssigkeit, bis eines plötzlich auf meine gegen die Kugel gepresste Vene zuschießt, mit der klitzekleinen Schwanzflosse wedelt und sich durch das nachgiebige Glas in die Vene hineinbohrt. Zack! Sei gegrüßt, Goldfischlein, edles Tier! Der Alte geht zu Jerocha hinüber. Der ist auch schon so weit: Zittern, Zähneknirschen, geballte Faust, straff88
gepumpte Vene. Gottvater Jahwe mit nacktem Arsch beugt sich über ihn ... Doch meine Augen kehren sich längst anderwärts. Ich sehe die Vene an meinem linken Arm. Ich sehe sie ganz deutlich. In der blassen Beuge, aus der Mitte des prallen Venenstrangs, schaut ein winziger, millimeterkurzer Sterlettschwanz hervor. O göttlicher Moment, da das goldene Fischlein in die Blutbahn eintaucht! Ein Moment, allem Irdischen enthoben, vergleichbar allenfalls der Verzückung Adams, unseres Urahnen, in den Laubhütten des Paradieses, nachdem er von nie gesehenen Früchten gekostet, wie der Graubart Jahwe sie für ihn allein erschuf. Einmal noch zuckt der goldene Schwanz, und das Fischlein ist in mir verschwunden. Schwimmt den Blutstrom hinauf! Aus dem verbliebenen Löchlein schießt eine fadendünne rote Fontäne. Ich drücke die Vene zu, lege den Kopf zurück auf das weiche Kissen, schließe die Augen. Spüre, wie das goldene Fischlein in mir schwimmt, die Vene flussauf, wie in Mütterchen Wolga zur Frühlingszeit, auf dem Weg zum Laichen in den oberen Gründen. Hinan, hinan! Das goldne Fischlein kennt sein Ziel: Es will in mein Hirn. Das seiner harrt in großer Erwartung, auf dass es den himmlischen Laich empfange, den goldenen Kaviar vom Zauberstör! Schwimm, schwimm, du mein Goldfischlein, lass dich nicht aufhalten, schleudere den güldenen Laich mir ins müde Hirn, auf dass Welten aus den Eiern schlüpfen, große, ergreifende, phantastische Welten ... Auf dass mein Hirn aus dem Schlaf erwache. Mit trockenen Lippen beginne ich laut zu zählen: Eins. Zwei. Drei... 89
ACH, WAS SEHEN MEINE AUGEN, groß u n d k u l l e r r u n d ,
Meine Augelein, so rund und honiggelb, Äuglein honiggelb an meinem Hammerkopf, Meinem Hammerkopf, dem gar gewaltigen! Und der Kopf, mein Hu-ho-hammerkopf, Sitzt auf wackerem, auf li-lu-langem Hals, Einem Hals, der ellenlang und biegsam ist, Der geschuppt ist wie ein edler Schlangenleib. Und an meines Kopfes grüner Seit' Schaukeln noch sechs Köpfe, gleiche Köpfe hin und her, Schaukeln, schwingen, schlängeln, züngeln umeinand', Blinzeln sich mit hi-ha-honiggoldnen Äuglein zu. Sie beblinzeln sich, und sie beschnauben sich, Reihum rülpsen, rotzen, fauchen, husten sie. Klappen ihre roten Rachen munter auf und zu, Rachen, aufgesperrte, rot und wunderbar, Rosa Zahnfleisch, überall mit scharfen Zähnen drin. Aus dem Rachen wallt und wa-bra-ba-bert Rauch, Wallt ein ätzend Rauch und fährt ein Feuerstoß, Ein Gegrunz entfährt ihm und ein Mordsgebrüll. Dazu kommt, dass jeder Kopf auch seinen Namen hat, Einen Namen, der ihn ehrt und der ihn ziert: Und der erste Kopf, er ward geheißen Ältester, Und der zweite Kopf daneben nennt Komjaga sich, Und der dritte Kopf ist jener, welcher Schelet heißt, Und den vierten Kopf sprich mit Samosja an, Und der fünfte Kopf kann nur Jerocha sein, Weil der sechste Kopf den Namen Mokry trägt 90
Und der siebte Kopf schlussendlich Prawda ist. Doch das siebenköpf'ge Ganze heiß' Gorynytsch ich Ist ein feuerspeiend Lindwurm, ein verheerender! Und der Rumpf, der diese sieben Köpfe trägt, Er ist bullig, bri-bra-beit und in den Hüften fett, Und an diesem wuchtig breiten, fetten Rumpf Hängt ein Schwanz, ein schwerer Ringelschwanz, Und getragen wird der Rumpf, der makellose Rumpf, Von zwei Beinen, dick und dicker noch als dick, Von zwei Füßen, zäher noch als zäh, Krall'n sich tief ins Erdreich, in das bröcklige. Aus dem Rumpf, den Hüften aber - aufgepasst! Wachsen Schwingen. Zwei! Daran sind Flughäute! Und die Schwingen, diese kri-kra-kräftigen, Kräftig-sehnigen, zieht's in die Luft hinauf. Diese Flügelspanne! Dieser kühne Schwung! Federnd, knatternd, aufwärts strebend noch und noch, Von der Scholle reißend dich, der lieben, heimischen. Wir erheben uns über das weite Land, Das gesamte Land, das ganze russische. Und wir schweben hoch, im hohen Himmelsblau, Über Grenzen weg, egal, wohin - wohin wir woll'n. Also fragt einer, es fragt der siebte Kopf: »Wohin fliegen wir, wohin führt unser Weg?« Also fragt einer, es fragt der sechste Kopf: »Welche Gegend soll es, wird es heute sein?« Also fragt einer, es fragt der fünfte Kopf: »Ist der Weg, der unsrige, ist er denn weit?« Also fragt einer, es fragt der vierte Kopf: »Wohin wenden wir die flinken Flügel dieses Mal?« Also fragt einer, es fragt der dritte Kopf: 91
»Unsren Schwanz, das Ruder, drehen wir in welchen Wind?« Also fragt einer, es fragt der zweite Kopf: »Welch Gefilde fassen wir ins scharfe Auge nun?« Doch der erste Kopf, welcher der Leitkopf ist, Der Bestimmer, gibt zur Antwort Folgendes: »Heute fliegen wir einfach der Nase nach, Durch den blauen Himmel immer geradeaus, Gradenwegs dahin bis in ein fernes Land, In ein fernes Land, das reich und mächtig ist, Das sich hinterm Meer, dem Ozean, erstreckt, Sich da bläht und blüht und an sich selbst ergetzt und das Gold und Geld reichlich gescheffelt hat. In dem Land, dem fernen Land, da kann man Häuser seh'n, Grad wie Türme hat man Häuser eins am andern steh'n, Eins am andern, alle turmhoch, nadelspitz, Stechen gnadenlos den schönen blauen Himmel an. In den hohen, spitzen Häusern wohnen Menschen drin, Menschen ohne Scham und Ehr' und ohne Hemmungen, Frech und ehrlos sind sie, ohne Gottesfurcht, Ohne Gott leben die Menschen in den Tag hinein, Und sie suhlen sich in Sünden, ganz abscheulichen, Im abscheulichsten Exzess und haben Spaß daran. Was uns heilig ist, verlachen und verhöhnen sie, Hohn und Spott, das Gift der Niedertracht, versprühen sie Und umgeben sich mit gleisnerischem Teufelszeug. Auch auf Russland, unser Heiliges, da spucken sie, 92
Unser rechtgläubiges Land geht denen am Arsch vorbei, Was auf Erden recht und wahr ist, amüsiert sie nur, Gottes Namen in den Dreck zieh'n, ja, das können die. Ebendarum lassen wir jetzt alle Grenzen hinter uns, Darum fliegen wir am hohen blauen Himmel lang, Über Nachbarländer, Handelspartner, drüber weg, Über Hain und Flur und ausgedehnte Wälder weg, Über weite, endlos weite grüne Wiesen weg, Über Flüsse weg und Seen, spiegelglatte, weg, Über alte Metropolen, ganz Europa weg. Und dann geht die Reise los, geht sie erst richtig los, Denn nun segeln quer wir über Meer und Ozean, Übern Ozean zum fernen Land der Gottlosen.« Und so geht es: Flügel spreizen, weit, so weit es geht, Und den Schwanz geschickt in alle sieben Winde drehn, Dass der achte, schnelle schräg unter die Flügel greift, Schräg von vorn, denn dieser schnelle achte ist ein Gegenwind. Und wir haben uns dem Gegenwind schnell angepasst, Ihn gesattelt und bestiegen, einem Rappen gleich, Und auf ihm, dem muntren Wildfang, ritten wir davon, Ritten aus, dem Ziel entgegen, auf Gefahren zu ... Und so flogen wir dahin bis an den zehnten Tag, Und so flogen wir dahin bis an die zehnte Nacht. Heißt: zehn Tage-Nächte über nichts als glatter See, Über Wellenbergen, Wellentälern, Gischt und Sturmgebraus. Unsre Flügelhäute machten ganz allmählich schlapp, 93
Unsre Lindwurmköpfe, alle sieben, wurden schläfrig nun, Auch der Schwanz, das Ruder, lag nicht mehr so hart am Wind, Und die Krallenfüße schlenkerten am Bauch herum. Da auf einmal sahen wir im Meer, im Ozean, Eine Insel, festgefügt aus Stahl, ein Stelzenhaus, Dazu da, das Blut zu saugen von Jahrtausenden Aus dem Schoß der Mutter Erde, aus dem tiefen Schoß. Also fuhren wir im Sturzflug auf das Eisenhaus, Rissen ab das Dach, das eiserne, Fraßen auf die zwölf Verworfenen, Ihre Knochen haben wir ins Meer gespuckt. Darauf ruhten wir drei Tage und drei Nächte lang In dem Haus, das wir in Brand gesetzt die vierte Nacht, Um sodann den Weg nach Westen wiederaufzunehmen. Und noch einmal flogen wir bis an den zehnten Tag, Und noch einmal flogen wir bis an die zehnte Nacht. Heißt: zehn Tage-Nächte über nichts als glatter See, Über Wellenbergen, Wellentälern, Gischt und Sturmgebraus. Unsre Flügelhäute machten ganz allmählich schlapp, Unsre Lindwurmköpfe, alle sieben, wurden schläfrig nun, Auch der Schwanz, das Ruder, lag nicht mehr so hart am Wind, Und die Krallenfüße schlenkerten am Bauch herum. Da auf einmal sahen wir, im Meer, im Ozean, schwimmt ein Schiff, gigantisch, sechs Etagen hoch, 94
schwimmt gen Osten - irre, was für'n Riesenkahn! Aus dem gottverlassenen, dem Ketzerland. Führt an Bord nur Schrott, nur miese Schundware, Führt an Bord nur üble Gotteslästerer, Führt an Bord nur staatsfeindliche Schriftstücke, Führt an Bord satanisches Amüsement, Führt an Bord des Teufels schwüle Lustbarkeit, Führt an Bord nur Huren, Frettchen, Schneegänse. Unser Überfall auf dieses Schiff glich einem Wirbelwind. Sieben Köpfe stießen Feuer aus, Sieben Köpfe, sieben Mäuler auch, Brannten aus das ekle Kroppzeug, gnadenlos, Fraßen auf die Huren, Frettchen, Schneegänse. Darauf ruhten wir drei Tage und drei Nächte lang, In der vierten ging die Reise wieder los. Und noch einmal flogen wir bis an den zehnten Tag, Und noch einmal flogen wir bis an die zehnte Nacht. Da auf einmal lag es vor uns, das verfluchte Land! Und wir griffen sofort an, und zwar aus vollem Rohr, Sieben Köpfe war'n ein Feuersturm, Sieben Köpfe, sieben Mäuler auch, Bissen zu, schlangen die Höllenbrut, Hauten rein, spuckten hinterher die Knochen wieder aus, und weiter ging das große Sengen und Brennen, Morden und Brandschatzen, weg mit den Scheusalen, den niederträchtigen, weg mit den widerlichen Ausgeburten, den unverfrorenen Gotteslästerern, die nicht mehr wissen, was heilig und allmächtig ist auf Erden ausgebrannt gehört dieses Pack weggeätzt wie Aschmodais Gezücht wie Schaben wie stinkende Ratten ausmerzen das alles gnadenlos ausmerzen bis auf 95
den Grund die verdammten Bastarde abfackeln mit der Flamme des Reinen Redlichen Rechtschaffenen sengen sengen sengen und nach dem Einrammen der harten Glasscheibe die beim ersten Mal ganz bleibt beim zweiten Mal knackt beim dritten Mal zerspringt stecke ich den Kopf hinein in die schummrige Wohnung keiner zu sehen verkrochen haben sie sich vor dem Schwert Gottes die Schweine doch meine gelben Augen sehen in der Dunkelheit sehen gut sehen scharf ich entdecke den ersten einen Mann zweiundvierzig Jahre hat sich im Kleiderschrank versteckt ich fackele den Schrank ab mit breitem Strahl sehe zu wie der Schrank brennt doch der drinnen sitzt zuckt nicht mal in seiner Angst der Schrank brennt das Holz prasselt der aber hockt da und rührt sich nicht ich warte bis er es nicht mehr aushält die Tür aufstößt mit einem Schrei und ich ihm einen feinen Strahl mitten in den offenen Mund setze mein Flammenspieß ist verlässlich der Mann schluckt das Feuer mein Feuer und fällt um ich suche weiter zwei Mädchen sechs und sieben Jahre sind unters Bett gekrochen das Bett ist breit ich feuere eine Breitseite Bett brennt Kissen brennt Decke brennt sie kommen vorgesprungen rennen Richtung Tür ich schicke ihnen einen Flammenfächer hinterher sie fangen Feuer noch bevor sie an der Tür sind brennen sie lichterloh ich suche weiter nach dem Süßesten suche und finde die Frau dreißig Jahre blond schreckhaft hat sich ins Badezimmer verzogen in den Spalt zwischen Wand und Waschmaschine sitzt da im bloßen Hemd nackte Knie zusammengekrümmt vor Entsetzen starr schaut mich an mit großen Augen und ich lasse mir Zeit meine Nüstern saugen den Schlafgeruch ein ich rücke näher noch näher mein Blick ist zärtlich meine Nase berührt ihre Knie sachte schiebe ich sie auseinander weiter noch wei96
ter und jetzt jetzt stoße ich hinein in ihren Schoß den allerfeinsten Feuerstrahl meinen getreuen Spieß ganz dünn und spitz und scharf fülle ihren bebenden Schoß fülle ihn aus mit meinem Flammenspieß sie schreit es ist ein unmenschlicher Schrei und ich beginne sie mit meinem Flammenstrahl langsam zu ficken ncknckficknckfickfickfickfick
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UND DAS ERWACHEN ...
Wie Von-den-Toten-Auferstehen ist das. Als kehrte man in seinen alten, lange schon toten und verscharrten Körper zurück. Kein Verlangen, o nein! Ich hebe die bleischweren Lider und sehe mich nackt im Stuhl liegen. Rühre die Glieder, huste, setze mich auf. Mir ist heiß. Ich greife nach einer Flasche eisgekühltem Birkensaft, Marke Jessenin. Koljacha hat an alles gedacht. Der Saft gluckert durch die ausgedörrte Kehle. Auch die anderen rühren und räuspern sich. Es war gut. Fischlein sind immer gut. Von ihnen kann es keinen fiesen Hänger und kein schwarzes Loch geben. Das ist etwas anderes als dieser elende Harry. Die Jungs sind wach und husten sich die Kehle frei. Der Alte trinkt gierig Saft. Sein schweißbedecktes Gesicht ist blass. Nach den Fischlein muss man als Erstes ordentlich trinken: Als Zweites ordentlich rülpsen. Und als Drittes darüber reden, was der Einzelne so getrieben hat. Wir trinken und rülpsen. Dann besprechen wir unsere Erlebnisse. Das war bereits das achte Mal, dass wir uns alle miteinander in den Lindwurm Gorynytsch verwandelt haben. Fischlein sind Sache der Gemeinschaft, sie in Einsamkeit zu gebrauchen wäre das Dümmste, was man tun kann. Der Alte hat wie immer Wünsche übrig. »Dass ihr mich immer so antreiben müsst! Entweder man sengt, oder man frisst, wie es sich gehört. Immer diese Hetzerei von einem zum anderen. Da muss mehr Ruhe rein, mehr Ordnung.« 98
»Das bist immer du, Schelet, der die Hummeln kriegt«, sagt Jerocha hustend. »Nie geht es dir schnell genug, Mann.« »Ach, kommt!«, wehrt Schelet ab und räkelt sich. »War doch prima, oder etwa nicht? Das mit dem Schiff ganz besonders ... wie sie durch die Bullaugen gekrochen sind und ins Wasser gesprungen!« »Stimmt!«, nickt Mokry. »Aber in der Stadt fand ich es noch lustiger: wie wir den Siebenstrahlfächer aufgefahren haben, und die saßen winselnd in ihrem Wolkenkratzer ... scharf! Und unser Komjaga hat wieder den Vogel abgeschossen, was? Wie er sie rangenommen hat, diese Amerikanerin! Der Arsch hat ihr geraucht!« »Komjaga hat eben Einfälle! Nicht umsonst hat er studiert, Scheiße nochmal!«, lacht Prawda. Für den Fluch kriegt er vom Alten gleich eine aufs Maul. »Entschuldige, Ältester, mich hat der Teufel geritten«, sagt Prawda und zieht eine Flunsch. »Alles in allem gut gelaufen«, zieht der Alte Bilanz. »Korrekte Fischlein!« »Korrekt!«, erklären wir uns einverstanden. Dann kleiden wir uns an. Was die Goldsterlette noch auszeichnet, ist, dass man an ihnen keine Kräfte lässt, sondern im Gegenteil welche dazugewinnt. Es ist, als wäre man zur Kur gewesen, auf unserer sonnigen Krim. Als hätten wir draußen Ende September, und du kämest gerade aus Koktebel, wo du drei Wochen im goldenen Sand herumgelegen und deine diversen Glieder einer raffinierten tatarischen Massage unterzogen hast. Und nun scherst du dich wieder heim in die Metropole, und wie du in Wnukowo landest und dem Silbervogel entsteigst, die Moskauer Landluft tief in dich einsaugst und sie ein 99
Weilchen dort drinnen behältst - da geht es dir auf einmal so gut, da fühlst du dich so wohl in deiner Haut, so im Recht, Herr der Lage, verantwortlich - und du weißt, dein Leben ist im Lot, du hast Mumm und bist ein Teil der großen Sache, hast Partner, wackere Kerls, die auf dich warten, und zu tun gibt es genug, und die Feinde sind nicht weniger geworden, und der Gossudar ist gesund und bei Laune, und was die Hauptsache ist: Russland geht es prächtig, es ist reich, es ist riesig, es ist einig, und es ist immer noch da, hat sich nicht wegbewegt in den drei Wochen, im Gegenteil - die jahrhundertealten Wurzeln sind noch tiefer hineingewachsen in das Fleisch der Erde. Der Alte hat recht. Von den Fischlein kriegt man Lust aufs Leben und aufs Arbeiten - vom Harry kriegt man nur Lust auf neuen Stoff. Ich blicke auf die Uhr. Nur ganze dreiundvierzig Minuten bin ich als Lindwurm durch die Welt gehirscht und dabei ist mir, als wäre es ein ganzes Leben gewesen. Das, anstatt mich auszulaugen, neue Kraft freigesetzt hat für den Kampf gegen äußere und innere Feinde. Was die Fischlein angeht, bewegen mich so einige Fragen: Wenn sie uns, den Opritschniki, dermaßen guttun, wieso kann man sie dann nicht wenigstens für uns legalisieren - exklusiv? Nicht nur ein Mal hat der Alte in dieser Frage schon beim Gossudaren vorgefühlt, doch der ist unerschütterlich: Vor dem Gesetz seien alle gleich. Frisch und gleichsam verjüngt verlassen wir das Bad. Ein jeder steckt dem tätowierten Koljacha einen halben Rubel zu. Zufrieden dankt er es uns mit einer Verbeugung. Draußen ist es immer noch kalt, die Sonne, schon im Sinken, hat sich hinter Wolken verzogen. Höchste Zeit, frisch ans Werk zu gehen. Bei mir liegt als Nächstes ein 100
Sternensturz an. Eine wichtige Sache, eine Staatsangelegenheit. Ich setze mich in meinen Merin und wechsle hinüber auf die Schabolowka. Erkundige mich, ob alles bereit ist. Scheint so zu sein. Ich fingere nach Zigaretten - auf die Fischlein ist der Drang zu rauchen immer groß. Keine mehr da. Ich bremse vor einem Volkskiosk. Der Händler, rotgesichtig wie ein Schaubudenkasper, steckt den Kopf aus seinem Hüttchen. »Was wünschen der Herr Opritschnik?« »Zigaretten, bitte.« »Wir hätten Rodina mit Filter und Rodina ohne selbige.« »Mit Filter. Drei Schachteln.« »Bitte schön. Wohl bekomm's!« Anscheinend hat der Junge Humor. Während ich die Brieftasche hervorhole, betrachte ich die Auslagen. Das Standardsortiment eines Lebensmittelkiosks: eine Sorte Zigaretten (Rodina) und eine Sorte Papirossy (Rossija), eine Sorte Wodka und eine Sorte Korn, Bonbons der Sorte »Teddy Tolpatsch« und Bonbons der Sorte »Teddy am Nordpol«, Schwarzbrot und Weißbrot, Butter und Margarine, Apfelmarmelade und Pflaumenmarmelade, Fleisch mit und ohne Knochen, Vollmilch und gedämpfte Milch, Hühnereier und Wachteleier, Kochwurst und Räucherwurst, Kirschkompott und Birnenkompott. Und Russischer Käse. Es war eine gute Idee vom Gossudarenvater Nikolai Platonowitsch, Gott hab ihn selig, alle ausländischen Supermärkte abzuschaffen und durch russische Kaufmannsläden zu ersetzen. Und dass das Volk dort bei allem die Wahl zwischen dem einen und dem anderen hat. Eine kluge, eine weise Entscheidung. Unser gott101
erwähltes Volk soll zwischen zweierlei wählen dürfen, nicht zwischen drei- oder dreiunddreißigerlei. Diese begrenzte Auswahl verschafft ihm seine Seelenruhe, nährt in ihm die Gewissheit bezüglich des kommenden Tages, bewahrt es vor unnützer Geschäftigkeit, macht es folglich zufriedener. Mit einem solcherweise befriedeten Volk lassen sich große Dinge anstellen. In diesem Laden hier steht alles zum Besten, nur will mir eines nicht in den Kopf: Wieso gibt es von allem zwei, ganz wie in der Arche Noah, aber nur einen Käse, nämlich Russischen? Das geht über meinen logischen Verstand. Doch es ist nicht mein Bier, sondern das des Gossudaren. Der Gossudar kann das Volk vom Kreml herab besser sehen. Wir hier krauchen zu ebener Erde wie Ameisen, wiebeln hin und wiebeln her und sehen den Wald vor Bäumen nicht. Unser Gossudar hingegen sieht und hört alles. Und er weiß, was für wen gut ist. Ich zünde mir eine Zigarette an. Sogleich fasst mich ein Bauchladenverkäufer ins Visier. Gestutzter Kinnbart, geputzter Kaftan, geschniegelte Manieren. Er bietet Bücher feil. »Belieben der Herr Opritschnik die neuesten Neuerscheinungen der schöngeistigen russländischen Literatur zu erwerben?« Mit diesen Worten klappt er vor mir seinen dreiflügeligen Bauchladen auf. Der Buchhandel ist auch vereinheitlicht, sein Angebot vom Gossudaren für gut befunden und von der Kanzlei für Wort und Schrift bestätigt. Das gute Buch steht bei unseren Menschen hoch im Kurs. Auf der linken Klappe liegt die religiöse Literatur, auf der rechten die russische Klassik und in der Mitte das Neueste, was unsere lebenden Schriftsteller geschrieben haben. Als Erstes sehe ich die Neuerscheinungen der vaterländischen Prosa durch. Iwan Korobow: »Wei102
ße Birke«, Nikolai Woropajewski: »Die unsere Väter sind«, Isaak Epstejn: »Die Eroberung der Tundra«, Raschid Sametdinow: »Russland, du mein Vaterland«, Pawel Olegow: »Die Fluren von Nishni Nowgorod«, Sawwati Scharkunow: »An der Westwand auf Wacht«, Irodiada Denjushkina: »Freund meines Herzens«, Oksana Podrobskaja: »So leben die Kinder der neuen Chinesen«. All diese Autoren sind mir wohlbekannt. Sie haben einen guten Namen, erfreuen sich der Gunst des Gossudaren und des Volkes. Dann stutze ich, als ich in einer Ecke des Kastens Michail Schwellers »Lehrbuch des Tischlerhandwerks für Gemeindeschulen« entdecke. Darunter liegt ein Lehrbuch des Schlosserhandwerks vom selben Autor. »Was hat das denn hier zu suchen?« »Ach, wir haben hier ganz in der Nähe zwei Schulen, Herr Opritschnik. Da kommen die Eltern vorbei und kaufen das.« »Verstehe. Und was ist mit dem literarischen Nachwuchs?« »Die Debüts sind wie immer für das Frühjahr angekündigt, zur Osterbuchmesse.« Alles klar. Meine Augen wandern zur Abteilung Poesie hinüber. Pafnuti Sibirski: »Heimische Weiten«, Iwan Mamont-Bely: »Apfelblüte«, Antonina Iwanowa: »Russlands Söhne, ihr getreuen«, Pjotr Iwanow: »Die Schwemmwiese«, Issai Berstejn: »Dafür dank ich dir!«, Iwan Petrowski: »Leben und leben lassen«, Salman Bassajew: »Das Lied der tschetschenischen Berge«, Wladislaw Syrkow: »Der kleine Gossudar«. Ich greife nach dem letztgenannten Buch, schlage es auf. Ein Poem über die Kindheit des Gossudaren. Jugend und Erwachsenenalter hat der Dichter Syrkow bereits zuvor gebührend behandelt. Das Buch ist edel 103
Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie 104
du liefst, flink und fröhlich, ins Offne, du streiftest durch Wald und durch Feld, zur Schule du gingst »na Rubljowke«, du flüstertest: Du, meine Welt! du wolltest stets standhaft und rein sein, du frei zu sein absahst dem Wind, du glänztest im Zeugnis mit Einsen, du necktest manch liebreizend Kind, du umgingst mit Nagel und Hammer, im Turnen du stets warst ein Ass, du inniglich liebtest die Mama, du spurtest. Auf dich war Verlass! den Hund auf die Gasse du führtest, dein erstes Herbarium entstand, den Sturmwind im Ofen du hörtest, das Ruder du nahmst in die Hand, du Lenkdrachen bautest mit Wappen, du Möhren und Schwarzwurzel zogst, du rittest auf fügsamem Rappen,
Wie beim Vater im Flugzeug du flogst, Wie du eifrig Chinesisch studiertest, Wie du lerntest: »Guojia« heißt »der Staat«, Wie die Schießbuden du frequentiertest, Wie vom Zehner du sprangest im Bad ... Wie dich Russland berührt' - jene Saite, Wie die Brust ward auf einmal so weit, Wie das Leben es gut mit dir meinte, Wie sie anbrach zuletzt, deine Zeit...
Tatsächlich nicht schlecht. Wie immer bei Syrkow ein bisschen sehr gefühlsbetont, doch dafür plastisch und anschaulich, da hat der Händler recht. Das Buch muss ich haben - um es zuerst selber zu lesen und dann Posocha zu schenken, damit er es sich anstelle dieser schmuddeligen »Heimlichen Märchen« zu Gemüte führt. Vielleicht bringt das den Schwachkopf mal zur Besinnung ... »Wie viel?«, frage ich. »Drei Rubel für jedermann und zwoeinhalb für den Herrn Opritschnik.« Das ist nicht wenig. Aber die Lebensgeschichte des Gossudaren wäre nun wirklich die falsche Gelegenheit zum Sparen. Ich reiche dem Händler das Geld. Er nimmt es mit einer Verbeugung. Ich stecke das Buch ein, steige wieder in meinen Merin. Und gebe Gas.
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STERNE AUSLÖSCHEN ist kein Honiglecken, pflegt unser Alter zu sagen. Wie auch - handelt es sich doch um eine Staatsangelegenheit. Die noch dazu ein Gespür verlangt, eine besondere Herangehensweise. Mit einem Wort: Köpfchen. Demnach einen Fuchs als Vollstrecker. Der sich immer wieder etwas einfallen lassen muss. Das ist schon etwas anderes als Gutshäuser abfackeln ... Also wieder ins Stadtzentrum. Wieder die überfüllte Jakimanka entlang, auf der roten Spur. Kamenny Most - über die Brücke. Die Sonne lugt hinter den winterlichen Wolken hervor. Der Kreml erstrahlt in ihrem Licht. Wie gut, dass seine Mauern weiß sind, seit zwölf Jahren schon. Und anstelle der satanischen Fünfzacke die goldglänzenden doppelköpfigen Staatsadler auf den Türmen des Moskauer Kremls prangen. Bei schönem Wetter ist der Kreml eine Augenweide. Welch ein Glanz von ihm ausgeht! Der Russländische Regierungspalast blendet so, dass einem der Atem stockt. Weiß wie aus Zucker gegossen stehen die Türme und Mauern, von den Kuppeln ein goldenes Glühen, pfeilschlank ragt der Große Iwan in den Himmel, zur Kirche des Heiligen Johann mit der Leiter gehörig, von Blautannen wie von strengen Wächtern umstanden. Stolz und frei weht Russlands Flagge. Hier hinter den gezackten schneeweißen Mauern schlägt das Herz der russischen Erde, hier hat der Staat seinen Thron, Mutter Heimat ihren Brustkorb, ihr Sonnengeflecht. Für diese Zuckermauern, diese Doppeladler, diese Flagge, für die in der Erzengel-Michael-Kathedrale ruhenden Gebeine 106
der russländischen Herrscher, für Rjuriks Schwert, für die Mütze des Monomach, für die Zarenkanone und die Zarenglocke, für das Kopfsteinpflaster auf dem Schönen Platz, für die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale, für die Kreml türme, für all dies sein Leben hinzugeben fiele nicht schwer. Und hätte man ein zweites - mit Freuden gäbe man es hin für den Gossudaren. Mir stehen Tränen in den Augen ... Ich biege ein auf die Wosdwishenka. Der Faustkeil zwackt mich mit drei Peitschenhieben: Ein Aktivist von den "Wackeren Burschen rapportiert, es sei bei ihnen alles bereit zum Auslöschen. Möchte aber trotzdem noch Einzelheiten absprechen, bedenken, bebrüten und bekakeln ... Er ist von der Sache nicht überzeugt, das ist einmal klar. Deswegen komme ich ja gefahren zu dir, du Trantütchen! Der junge Graf Uchow aus dem Engsten Kreis führt die Truppe an, die dem Gossudaren persönlich untersteht. Mit vollem Namen heißt sie »Bund der wackeren russländischen Burschen im Namen des Guten«. Durch die Bank heißblütige junge Männer, rechte Kerle, die aber noch an die Kandare genommen werden müssen. Mit ihrer Führung wollte es irgendwie von Beginn an nicht klappen. Haben einfach kein Glück mit ihren Köpfen, die Jungs. Zum Davonlaufen ist das! Jedes Jahr tauscht der Gossudar den Kommandoführer bei ihnen aus, aber es kommt einfach keine Linie hinein. Rätselhaft, das Ganze. Wackelburschen nennen wir von der Opritschnina diese Pappenheimer insgeheim. Da läuft eine Menge schief bei denen, auwei... Aber dafür sind wir ja da, um zu helfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir unsere Erfahrung weitergeben können. Das Büro der Burschen kommt in Sicht, ein vornehm ausstaffierter Bau. Köpfe gibt es wenige bei ihnen, aber Geld im Überfluss, wie man sieht. Plötzlich noch ein 107
Anruf, und diesmal blinkt das rote Lämpchen. Dringliche Angelegenheit. Der Alte ist dran. »Komjaga, wo steckst du gerade?« »Bei den Wackelburschen, Ältester.« »Vergiss sie und düs' ab nach Orenburg. Unsere Leute haben sich dort mit den Zöllnern in den Haaren.« »Aber dafür ist der linke Flügel zuständig, Ältester, ich hab damit die längste Zeit zu tun gehabt.« »Tschapysch begräbt seine Mutter, Sery und Wosk sind im Kreml und reden Fraktur mit Graf Saweljew, und Samosja, der Blödmann, hat auf der Ostoshenka einen aus der Strelitzenkanzlei gerammt.« Auch das noch. »Baldochai?« »Auf Dienstreise in Amsterdam. Los, Komjaga, mach hin, du musst dort sein, bevor sie uns übern Tisch ziehen. Du warst beim Zoll, du kennst den Laden. Da klemmt ein Hunderttausender, großes Ding. Wenn das abkracht, ärgern wir uns schwarz. Die Zollfritzen haben uns schon genug geschröpft diesen Monat. Kläre die Sache!« »Schuld und Sühne, mein Ältester!« Na fein. Orenburg. Das heißt: an die Trasse. Mit der Trasse ist nicht zu spaßen. Um die rauft man sich bis aufs Blut. Ich rufe die Wackelburschen an und gebe bis zum Abend Entwarnung. »Bis zum großen Heulen bin ich wieder da!« Ich fahre zurück auf die Promenaden, überquere ein neues Mal den Kamenny Most und tauche von da in die Tunnelstraße Kalushskaja-2. Eine breite, glatte Fahrbahn. Ich hole das Letzte aus meinem Merin heraus, 260 Werst die Stunde. Nach achtzehn Minuten lange ich am Flughafen Wnukowo an. Stelle meinen Merin auf einem roten Parkplatz ab und betrete die Abferti108
gungshalle. Ein Mädchen in Aeroflot-Uniform - blau mit Schulterklappen und Silberstickerei, dazu weiße Kniestiefel und weiße Lederhandschuhe - nimmt mich in Empfang, geleitet mich zum Hochsicherheitskorridor. Ich lege meine rechte Hand an die quadratische Scheibe. Augenblicklich schwebt mein ganzes Leben vor uns in der mit Kiefernharzaroma geschwängerten Luft. Geburtsjahr, Dienstgrad, Wohnort, Familienstand, SozioIndex, Gewohnheiten, besondere Kennzeichen: Muttermale, Krankheiten, Psychosoma, Charakterkern, Vorlieben, Gebrechen, Abmessungen äußerer und innerer Organe. Das Mädchen schaut auf meine körperliche und seelische Visitenkarte, erkennt und vergleicht. Totale Durchschaubarkeit!, so der Wahlspruch unseres Gossudaren. Und außerdem: Wir sind ja zu Hause, unter uns, da muss sich keiner schämen. »Wohin soll die Reise gehen, Herr Opritschnik?«, fragt die Bedienstete. »Orenburg«, antworte ich. »Erste Klasse.« »Ihr Flugzeug startet in einundzwanzig Minuten. Das Ticket kostet zwölf Rubel. Die Flugzeit beträgt fünfzig Minuten. Wie möchten Sie bezahlen?« »In bar.« Bei der Opritschnina wird immer und überall nur noch mit klingender Münze bezahlt. »Welcher Prägung?« »Zweite.« »Fein.« Das Fräulein stellt mir das Ticket aus, indem sie mit ihren Leuchthandschuhen durch die Luft fährt. Ich reiche ihr das Geld: einen goldenen Zehner mit des Gossudaren edlem Profil und zwei einzelne Rubel dazu. Sie verschwinden in der Mattscheibe. »Ich darf bitten.« 109
Mit einer angedeuteten Verbeugung winkt sie mich in den Wartesaal für Fluggäste erster Klasse durch. Ich gehe hinein. Sogleich tritt ein Mann in weißer Papacha-Pelzmütze und weißer Kosakenuniform auf mich zu und erbietet sich mit einem tiefen Diener, mir den Mantel abzunehmen. Ich überlasse ihm den schwarzen Kaftan und die Mütze. In dem geräumigen Erste-Klasse-Saal halten sich nur wenige Fluggäste auf: zwei Kasachenfamilien in üppiger Tracht, vier stille Europäer, ein alter Chinese mit einem Knaben in Begleitung, ein Bojare mit drei Dienern, eine einzelne Dame und zwei angetrunkene, laut daherredende Kaufleute. Außer der Dame und den Chinesen sind alle mit Essen beschäftigt. Die Speisewirtschaft ist gut, ich habe hier schon mehrmals gegessen. Und nach den goldenen Fischlein stellt sich der Hunger ein. Ich nehme an einem Tisch Platz. Umgehend erscheint vor mir der gläserne Kellner, der aussieht wie Gogols unsterblichen Büchern entsprungen: pausbäckig, mit prallen roten Lippen, Kräusellocken und süßlichem Lächeln. »Was wünschen der Herr, womit kann ich dienen?« »Ich wünsche«, passe ich mich seinem Tonfall an, »ein Gläschen zu trinken und ein Häppchen dazu und noch etwas Leichtes hinterher.« »Korn mit Gold- und Silberflimmer, Kaviar aus Schanghai, gedörrter Störrücken nach Taiyuaner Art, Reizker, mariniert und in Sahne, Rindskopfsülze, Flusszander aus heimischen Gewässern, Guangdonger Schinken.« »Bring Silberkorn, Reizker in Sahne und Sülze. Was gibt's als Hauptgang Herzerwärmendes?« »Sterlettsuppe, Moskauer Borschtsch, Ente mit Rüben, Kaninchen mit Nudeln, Forelle auf Holzkohle gebacken, Rinderkotelett mit Kartoffeln.« 110
»Die Suppe. Und ein Glas süßen Kwass.« »Sehr wohl, der Herr.« Der Gläserne verschwindet. Mit ihm ließe sich über alles reden, selbst über Saturnsatelliten. Sein Speicher ist im Grunde grenzenlos. Einmal im Suff erdreistete ich mich, den Gläsernen in meinem Stammlokal nach der Formel für lebendgebärende Fasern zu fragen. Er hat sie mir genannt. Um hernach in aller Ausführlichkeit den technologischen Vorgang zu erläutern. Wenn unser Alter einen gehoben hat, stellt er dem Gläsernen am liebsten immer die eine Frage: Wie lange haben wir noch, bis die Sonne explodiert? Die Antwort erfolgt auf das Jahr genau. Jetzt aber habe ich gewiss keine Zeit, lose Reden zu führen - und außerdem Hunger. Im Handumdrehen taucht das Bestellte aus dem Tisch hervor. Solche fügsamen Tische haben sie hier. Der Wodka wird prinzipiell in Karaffen serviert. Ich kippe ein Gläschen, schiebe gesalzene Reizker in Sahne nach. Zum Wodka hat die Menschheit noch nichts Bessres erfunden. Dagegen verblassen selbst die Salzgürkchen meiner alten Gouvernante. Ich verspeise ein vorzügliches Stück Sülze mit Senf, leere ein Glas gesüßten Kwass und gehe zur Fischsuppe über. Bei ihr muss man sich bekanntlich Zeit lassen. Während ich esse, schaue ich ein bisschen in die Runde. Die Kaufleute sind dabei, die zweite Karaffe niederzumachen, schwätzen über irgendeinen »Drei-Stufen-Durchzug« und »1 OO-PS-Parakleten«, die sie in Moskau anscheinend an den Mann gebracht haben. Die Kasachen palavern etwas in ihrer Sprache, essen Kuchen und trinken Tee. Der Chinese und sein Junge kauen Mitgebrachtes aus der Tüte. Die Dame raucht selbstvergessen. Sowie ich mit der Suppe fertig bin, bestelle ich eine Tasse türkisch gebrauten Kaf111
fee, rauche eine Zigarette. Dabei rufe ich unsere Jungs an der Trasse an, um zu erfahren, worum es eigentlich geht. Potrochas Gesicht erscheint. Ich schalte um auf den Intimmodus. Potrochas Erläuterungen kommen wie aus der Pistole geschossen. »Zwölf Tieflader. Gehobene Schneiderei, Schanghai-Tirana. Wir haben uns ein bisschen aufgespielt, sie gleich hinterm Großen Tor gestoppt und auf die Filzbank dirigiert, aber die Versicherer haben sich quergestellt - die haben nach der alten Tabelle kassiert, einen neuen Vertrag zu basteln hatten sie keine Lust. Wir haben über die Kammer Druck gemacht, der Boss sagt, die hätten dort mit den Zöllnern ihr eignes linkes Ding laufen - wir wieder hin zu den Zöllnern, die spielen das gleiche Spiel, der Oberste deckt die Sache, der Sekretär hat den Schwanz eingezogen, kurz: In zwei Stunden wollen sie sie ziehen lassen.« »Ah ja«, sage ich und denke nach. In solchen Fällen muss man ein guter Schachspieler sein und absehen können, was passiert. Das hier ist kein einfacher Fall, aber nachzuvollziehen. Wenn der Sekretär aus der Zollkanzlei den Schwanz eingezogen hat, heißt das, die Chinesen haben einen luftleeren Korridor gekauft und den Vertrag gleich hinter dem Grenzposten neu aufgesetzt bekommen. Damit sind sie bei den Kasachen schon mal reibungslos durchgerutscht. Und selbstredend haben sich die Zöllner nur verzogen, um am Großen Westtor wieder aufzukreuzen. Hier kriegen die Chinesen den falschen Vertrag wieder abgenommen und werden regulär zur Kasse gebeten. Alsdann wird die Versicherungsurkunde geschreddert, und die dortige Kanzlei erstellt eine Vierstundennote. Zuletzt wird der Maulwurf begraben und ein sauberer Vertrag unterschrieben - worauf die zwölf Laster mit »gehobe112
ner Schneiderei« ins ferne Albanien entschweben. Und die Zöllner uns wieder einmal gelinkt haben. Ich überlege. Potrocha wartet. »Pass auf, Bursche. Du besorgst dir den Herzkasper, beraumst mit dem Sekretär eine Sachverhaltsklärung an, nimmst zu dem Treffen einen geschmierten Federfuchser mit und stellst ein paar von unseren Ärzten dazu. Einen getürkten Vertrag habt ihr dabei?« »Selbstverständlich. Für wann soll ich das Treffen ansetzen?« Ich blicke auf die Uhr. »In anderthalb Stunden.« »Gut.« »Und dem Sekretär kannst du schon mal stecken, dass er es mit mir zu tun kriegt.« »Alles klar.« Ich stecke den Faustkeil ein. Drücke die Zigarette aus. Die Landung ist schon bekanntgegeben. Ich halte die flache Hand vor die Tischplatte, danke dem Gläsernen für das Mahl und stiefele durch den zartrosa getünchten, nach Akazienblüten duftenden Korridor zum Flieger. Der ist nicht groß, aber bequem, eine Boeing-Izendi 797 - rundum chinesisch beschriftet, versteht sich: Wer die Boeing baut, darf sie auch anmalen. Ich gehe in die erste Klasse und setze mich. Außer mir sind noch drei Personen in der Kabine: der alte Chinese mit dem Knaben und die einzelne Dame. Alle drei Zeitungen, die bei uns erscheinen, liegen aus: die »Rus«, der »Kommersant« und die »Wosroshdenije«. Aber die Nachrichten kenne ich schon alle, und sowieso habe ich gerade keine Lust, vom Papier zu lesen. Der Flieger startet. Ich bestelle mir einen Tee, dazu einen alten Film: »Rette sich, wer kann!« Wenn ich zu einem Einsatz 113
fliege, gucke ich mir immer Filmkomödien von früher an, aus alter Gewohnheit. Die sind witzig, auch wenn sie aus Sowjetzeiten stammen. Die hier handelt zum Beispiel davon, dass Löwen und Tiger per Schiff befördert werden und unterwegs aus den Käfigen ausbrechen und die Leute erschrecken. Man guckt zu und denkt: Russen hat es damals, zu Zeiten der Roten Wirren, genauso gegeben, und sie hatten genauso ihren Spaß am Leben wie wir. Nur dass sie größtenteils Atheisten waren. Ich schiele zur Seite, um mitzukriegen, was die anderen gucken: Die Chinesen gucken die »Rebellen vom Liang Shan Po«, das war klar. Und die Dame ... oho, da staune ich aber: »Die Große Russische Mauer«. So wie die Dame aussieht, hätte ich diese Vorliebe nie für möglich gehalten. »Die Große Russische Mauer« ... An die zehn Jahre ist es her, dass unser großer Fjodor Lysy, genannt Yeti Fedi, diesen Film gedreht hat. Den bedeutendsten in der Geschichte des Wiedergeborenen Russland. Darin geht es um die Verschwörung zwischen der Auswärtigen Kanzlei und der Duma, die Errichtung der Großen Westmauer, den Kampf des Gossudaren, die Anfänge der Opritschnina und um Waluj und Sweroga, die zwei Helden, die damals auf der Datscha des schurkischen Ministers ihr Leben lassen mussten. Ein Fall, der unter der Überschrift »Filetieren und verkaufen« in die Annalen Russlands eingegangen ist. Was hat dieser Film für Aufregung verursacht, wie viel Streit, wie viele Fragen und Antworten heraufbeschworen! Wie viele Beulen seinetwegen Köpfe und Karossen abbekamen! Der Schauspieler, der den Gossudaren darstellt, ist anschließend ins Kloster gegangen. Es ist lange her, dass ich den Film zum letzten Mal gesehen habe. Doch ich kenne ihn immer noch auswendig - war er doch für uns Opritschniki beinahe eine Art Lehrfilm. 114
Vor mir in der blauen Blase die Gesichter des Außenministers und seines Helfershelfers, des Duma-Vorsitzenden. Sie hocken auf der Ministerdatscha und schmieden den furchtbaren Komplott zu Russlands Teilung. DUMA-VORSITZENDER: Gesetzt den Fall, wir reißen die Macht an uns. Was fangen wir mit Russland an, Sergej Iwanowitsch? MINISTER: Filetieren und verkaufen. VORSITZENDER: An wen? MINISTER: Den Osten an die Japaner, Sibirien an die Chinesen, den Kreis Krasnodar an die Ukrainer, den Altai an die Kasachen, das Gebiet Pskow an die Esten, Nowgorod an die Weißrussen - und das Mittelstück behalten wir. Alles ist gerüstet, Boris Petrowitsch. Das Personal ist rekrutiert und befindet sich an Ort und Stelle. (Vielsagende Pause, Kerzenschein) Schon morgen kann's losgehen. Was meinst du? VORSITZENDER (sich umblickend): Ein bisschen Bammel hab ich schon, Sergej Iwanowitsch ... MINISTER (fasst den Vorsitzenden um die Schultern, bläst ihm seinen heißen Atem ins Gesicht): Nur keine Angst! Wir beide zusammen werden Moskau ausnehmen! Hörst du? Moskau! (Schließt lüstern die Augen zu einem Spalt.) Überleg doch mal, mein Lieber! Ganz Moskau wird in unserer Hand sein! (Zeigt seine schwammige Handfläche vor.) Was ist nun? Unterschreibst du? Gleich darauf sieht man die Augen des Duma-Vorsitzenden in Großaufnahme. Erst fahrig und verschreckt 115
wie bei einem gehetzten Wolf - doch auf einmal glimmt darin ein boshafter Funken und wächst sich aus zu unbändiger Wut. Im selben Moment setzt eine düstere Musik ein, ein beängstigender Schatten legt sich von schräg hinten über die Szenerie, der Nachtwind bauscht die Gardine, die Kerze flackert, ein Hund bellt. Und in der Dunkelheit ballen sich die Fäuste des Vorsitzenden bebend zuerst vor Angst und dann aus Groll und Hass gegen den Russländischen Staat. VORSITZENDER (zähneknirschend): Ich unterschreibe alles! Lysy ist ein guter Regisseur. Nicht umsonst hat ihn der Gossudar gleich nach diesem Film zum Oberhaupt der Filmkanzlei gemacht. Aber die Dame dort drüben ... Sie sieht aus wie eine Adlige. Und für die müsste dieser Film ein rotes Tuch sein. Sie schaut in die Blase, als sähe sie gar nicht richtig hin. Wie hindurch. Mit kalter, teilnahmsloser Miene. Schön ist sie nicht gerade, aber von Rasse. Dass sie nicht im Armenhaus an der Nowaja Sloboda aufgewachsen ist, sieht man. Ich kann es mir nicht verkneifen und spreche sie an. »Gefällt Ihnen der Film denn, gnädige Frau?!« Sie wendet mir ihr gepflegtes Gesicht zu. »Er gefällt mir außerordentlich, Herr Opritschnik. Ist es Ihre dienstliche Pflicht, mich das zu fragen?« Bei diesem Konter zuckt kein Muskel in ihrem Gesicht. Sie ist kaltblütig wie eine Schlange. »Durchaus nicht«, pariere ich. »Mich wundert es nur, weil in dem Film so viel Blut fließt.« »Und Sie meinen, russische Frauen mögen das nicht?« »Frauen überhaupt. Und was die russischen angeht ...« 116
»Sie haben dafür gesorgt, Herr Opritschnik, dass die russischen Frauen den Anblick von Blut seit langem gewöhnt sind.« Das hat gesessen. So leicht kommt man ihr anscheinend nicht bei. »Mag schon sein, aber ... Ich denke trotzdem, es gibt angenehmere Filme für das weibliche Auge. In diesem da steckt so viel Leid.« »Jeder nach seinem Gusto, Herr Opritschnik. Sie entsinnen sich vielleicht der alten Romanze: Was tut es, ob ich leide oder lache ...« Sie nimmt sich ein bisschen viel heraus, finde ich. »Dann entschuldigen Sie. Ich hatte einfach nur so gefragt.« »Und ich habe einfach nur so geantwortet«, erwidert sie und dreht sich weg von mir, heftet ihren leidenschaftslosen Blick wieder auf die Blase. Der Fall interessiert mich nun doch. Ich lichte sie mit meinem Faustkeil ab und gebe unserem Sicherheitsdienst ein Signal, die Dame für mich aufzubereiten. Die Antwort kommt umgehend: Anastassija Petrowna Stein-Sotskaja, die Tochter des Duma-Sekretärs Sotski. Ach, du heiliger Strohsack! Das ist genau jener Sekretär, der mit dem Duma-Vorsitzenden damals den schändlichen Plan zur Aktion »Filetieren und verkaufen« ausgeheckt hat! In der heißen Zeit damals war ich noch nicht bei der Opritschnina, saß still in meiner Zollabteilung, mit alten Büchern und Edelmetallen beschäftigt... Aber nun weiß ich, warum sie sich diesen Film anschaut, so anschaut. Es ist ja ihre Familiengeschichte! Der Sekretär Sotski ist seinerzeit, wenn die Erinnerung mich nicht trügt, mit neun weiteren Rädelsführern auf dem Schönen Platz enthauptet worden ... 117
Auf meiner Blase gehen Tiger in Käfigen um, springen sowjetische Köchinnen durchs Bild, ich kriege kaum noch etwas davon mit. Neben mir sitzt ein Opfer des Russländischen Staates. Wie mag man mit dieser Frau umgesprungen sein? Nicht einmal von ihrem Namen hat sie gelassen, nur einen Doppelnamen draus gemacht. Aus Stolz. Ich ordere eine ausführliche Biographie: 32 Jahre alt, verheiratet mit dem Textilhändler Boris Stein, hat seinerzeit sechs Jahre mit der Mutter und dem jüngeren Bruder in der Verbannung gelebt. Später Jura studiert. Charakterkern: Fliehende Schwester 18. Linkshänderin. Schlüsselbeinbruch, anfällige Lunge, schlechte Zähne, zwei Fehlgeburten, beim dritten Mal einen Jungen zur Welt gebracht, wohnhaft zurzeit in Orenburg. Steckenpferde: Bogenschießen, Schachspielen, russische Romanzen zur Gitarre singen. Ich schalte meine Tiger ab, versuche zu dösen. Doch die Gedanken kommen von allein in den Kopf gekrochen: Da sitzt neben mir ein Mensch, der gekränkt ist bis ins Mark. Der einen tiefen Groll hegt - nicht nur auf uns, die Opritschniki, nein, ebenso auf den Gossudaren. Und diesem Menschen ist nicht mehr zu helfen. Dabei hat er einen Sohn großzuziehen, und wahrscheinlich haben Stein und sie donnerstags einen Salon, wo die Orenburger Intelligenzija zusammenkommt. Da singen sie Romanzen, trinken Tee mit Kirschkonfitüre, und anschließend führen sie Gespräche. Und man muss nicht Praskowja, die Wahrsagerin, sein, um zu ahnen, worum - und um wen - diese Gespräche sich drehen ... Solche Leute gibt es - nach allem, was war-zu Hunderttausenden. Rechnet man Kinder und Ehegatten mit ein, sind es Millionen. Das ist keine gering zu veranschlagende Kraft, man muss ihr Rechnung tragen. 118
Auch hier lohnt es vorauszudenken, Züge des Gegners abzusehen. Und dass man diese Leute aus ihrer vertrauten hauptstädtischen Umgebung ausgesiedelt und nach Orenburg oder Krasnodar gescheucht hat, ist kein Ausweg, keine Lösung. Kurz: Die Gnade unseres Gossudaren ist groß. Aber das ist wohl gut so ... Am Ende gelingt es mir doch noch, ein Weilchen zu schlummern. Im Traum habe ich etwas flüchtig auftauchen und wieder entwischen sehen. Das weiße Pferd war es nicht - es war viel kleiner, krümelig und traurig. Ich schrecke hoch, als die Landung angekündigt wird. Aus dem Augenwinkel schaue ich hinüber auf die Blase mit dem historischen Film: Der läuft auf seine Entscheidung zu, das Verhör in der Geheimen Kanzlei, auf der Streckbank, die glühenden Eisen und das wutverzerrte Gesicht des Ministers: »Ich hasse euch ... Wie ich euch hasse!« Darauf das Finale, die Schlussszene: wie der Gossudar, noch ein junger Mann, vor dem Hintergrund seiner vom Licht der aufgehenden Sonne überfluteten heimatlichen Landschaft stehend, den Ziegelstein - den ersten! - in der Hand hält und, gen Westen blickend, die geheiligten Worte spricht: »Die Große Russische Mauer!« Wir landen. Potrocha holt mich ab, ein junger Mann mit Stupsnase, roten Wangen und etwas zu viel Goldpuder im Schopf. Ich steige in seinen Merin, und wie immer kommt es mir vor, als wäre es mein eigener. Dejä vu. 119
Alle Opritschniki fahren die gleichen Wagen, in Moskau wie in Orenburg oder Oimjakon: 400-PS-Limousinen der gewissen Marke in kräftigem Tomatenrot. »Grüß dich, Potrocha.« »Grüß dich, Komjaga.« Wir duzen uns alle, die Opritschnina ist eine große Familie. Auch wenn ich anderthalbmal so alt bin wie Potrocha. »Wieso tut ihr euch so schwer beim Mäusefangen? Kaum ist Tschapysch mal weg, läuft bei euch alles quer.« »Mach halblang, Komjaga. Die Sache ist link. Sie haben einen Haken in der Kanzlei sitzen. Und Tschapysch stand sich mit der Kanzlei bis vor kurzem extrem gut. Ich bin für sie ein Niemand. Da muss eine Schulter her.« »Aber eine linke. Ich bin von der rechten!« »Das tut jetzt nichts zur Sache, Komjaga. Hauptsache, du hast das Siegel. Im Streitfall braucht es einen Opritschnik mit Vollmachten.« Das muss er mir nicht sagen. Ein Opritschnik mit Vollmachten hat das Siegel. Exakt zwölf Opritschniki gibt es, die das Siegel haben. Es steckt im linken Handteller, unter der Haut. Um es mir zu nehmen, muss man mir die Hand abhacken. »Hast du den Sekretär bestellt?« »Aber sicher! In fünfzehn Minuten beginnt die Klärung des Sachverhalts.« »Ärzte?« »Alles top.« »Na dann mal los.« Potrocha manövriert verwegen, ist im Nu durch das Flughafentor und auf dem Trakt, wo er richtig Gas gibt. Wir düsen davon - nicht nach Orenburg hinein, 120
berühmt für seine gehäkelten Schals und mandeläugigen russisch-chinesischen Schönheiten, sondern in die Gegenrichtung. Unterwegs setzt Potrocha mir den Fall bis ins Kleinste auseinander. Lang, lang ist es her, dass ich beim Zoll war! In dieser Zeit hat sich viel Neues getan. Manches davon hätten wir uns damals nicht vorstellen können. Zum Beispiel gibt es inzwischen gläserne Schwarzarbeiter. Ein geheimnisvoller Export von Leerräumen hat sich etabliert. Zurzeit steht in Sibirien subtropische Luft hoch im Kurs, wird in Größenordnungen abgesetzt. Ebenso irgendwelche Boxen mit eingerollten Wünschen aus dem Reich der Mitte. Rätselhaft! Zum Glück ist, was wir heute zu erledigen haben, von simplerer Art. In einer Viertelstunde ist Potrocha an der Trasse. Hier war ich bestimmt schon drei Jahre nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich sie zu Gesicht bekomme, stockt mir aufs Neue der Atem. Diese Trasse ist ein gewaltiges Ding! Sie nimmt in Guangzhou ihren Anfang, durchquert China, kriecht durch Kasachstan, stößt durch das Südtor in der Südmauer herein und zieht sich dann quer durch unser liebes Russland bis nach Brest. Und von dort geraden Weges nach Paris. »Guangzhou-Paris«, das ist schon was! Die Trasse wurde gebaut, nachdem sich die Produktion aller wichtigen Industriegüter mehr oder weniger komplett nach China verlagert hatte. Eine zehnspurige Autobahn plus vier unterirdische Schnellzuggleise. Rund um die Uhr brummen die Schwertransporter hier entlang, flitzen die Silberpfeile unter der Erde. Man kann sich kaum sattsehen daran. Wir kommen näher. Die Trasse ist dreifach eingezäunt und scharf bewacht, um Diversanten und durchgeknallte Cyber121
punks abzuhalten. Wir fahren auf das Gelände der Kläranlage. Ein schöner, großer Bau, ganz aus Glas, speziell auf die Bedürfnisse von Fernfahrern ausgerichtet. Es gibt hier einen Wintergarten mit Palmen, eine Sauna mit Schwimmbecken, chinesische Garküchen und russische Restaurants, Turnhallen, ein Freudenhaus mit kunstfertigen Nutten, Hotel, Kino, sogar eine Eisbahn, alles da. Potrocha und ich gehen auf direktem Wege in den Klärungsraum. Dort sitzen sie schon auf Kohlen: der Sekretär der Zollkanzlei, der von uns geschmierte Untersekretär, zwei aus der Versicherungskammer, ein Obmann aus der Verkehrskanzlei und zwei Vertreter der Chinesen. Wir setzen uns dazu und beginnen mit der Klärung. Ein chinesisches Teemädchen tritt ein, bereitet weißen Tee zur Belebung von Körper und Geist, schenkt jedem lächelnd ein. Der Zollsekretär sträubt sich derweil wie ein Büffel. »Der Track ist sauber, die Kasachen haben keine Einwände, der Vertrag ist wasserdicht und in Ordnung.« Klarer Fall: Der Sekretär hat sich für die ganze Kolonne bezahlen lassen, alle zwölf Lastzüge, freie Fahrt bis nach Brest. An uns ist es nun, die Chinesen aufzuhalten, damit sie die Frist der Wegeversicherung überziehen, und dann kommt unsere Prämie obendrauf. Sie beträgt drei Prozent, das weiß an der Trasse jeder Hund. Diese drei Prozent machen, dass die Kasse der Opritschnina immer gut gefüllt ist. Und nicht nur sie. Es reicht für alle Verwahrer von Recht und Gesetz, für jeden fällt etwas ab. Mit diesen drei Prozent sind vielerlei ordentliche Ausgaben abgedeckt. Und Ausgaben haben wir, die Diener des Gossudaren, jede Menge. Das sollte ein Zollsekretär, der selber in Yuan schwimmt, doch wohl einsehen können? 122
Der Verkehrsobmann ist einer von uns. Er fängt an aufzufahren. »Bei zwei Transportern ist die chinesische Plakette der technischen Durchsicht gefälscht. Wir benötigen eine Expertise.« Ein Chinese widerspricht: »Die Plakette ist in Ordnung, hier ist das Zertifikat.« Die Leuchthieroglyphen der Urkunde erscheinen vor uns in der Luft. Ein umgangssprachliches Chinesisch habe ich mir mit den Jahren zugelegt, ohne das käme man heutzutage nicht weit. Aber die Hieroglyphen sind für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Dafür ist Potrocha firm im Chinesischen, er hat das Protokoll über einen Austausch der zweiten Turbine ausgegraben, belichtet es mit seinem Aschenputtel. »Wo ist das Gütesiegel? Hersteller? Seriennummer?« »Fabrik >Rotes Paradies<, Shantou, 380-6754069.« Ah ja. Die Turbine ist sozusagen auf unserem Mist gewachsen. Da schlägt die Nummer mit der Plakette nicht an. Gar nicht so einfach heutzutage, an der Trasse zu arbeiten. Zu meiner Zeit waren diese Transporte bei Bedarf leicht aus dem Verkehr zu ziehen: Man stach ihnen ein Loch in den Reifen, hängte ihnen irgendetwas an, streute den Fahrern notfalls in der Garküche Hasch zwischen die Nudeln. Inzwischen wird da aufgepasst. Aber das macht nichts. Wir haben noch unser bewährtes altes Hausmittel. Die Xiaojie*, die den Tee serviert, ist zufällig auch geschmiert. »Meine Herren, ich erachte unser Gespräch für beendet«, spricht der Sekretär und greift sich im selben Moment ans Herz. Große Aufregung: Was hat er? * (chin.) Fräulein
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»Ein Herzanfall!« Na so was. Die Xiaojie errötet nicht mal. Verbeugt sich und schwebt mit ihrem Teetischchen davon. Die Ärzte treten auf den Plan und schaffen den Sekretär weg. Er stöhnt und ist ganz bleich. »Das wird schon wieder, Saweli Tichonowitsch!«, beruhigen wir ihn. Und ob das wieder wird. Die Chinesen erheben sich in dem Glauben, die Sache wäre geritzt. Aber nein, aber nein. Jetzt sind wir an der Reihe. Mit einer Steilvorlage an den geschmierten Untersekretär. »Herr Untersekretär, wir hätten da noch eine Frage. Könnte es sein, dass die Wegeversicherung rückdatiert ist?« »Was, wie? Wie kommen Sie darauf? Aber das haben wir gleich ...« Der Untersekretär stiert auf die Urkunde, richtet sein Aschenputtel darauf. »Stimmt! Die blaue Marke ist verwischt! Ach, ihr Halunken! Habt unseren vertrauensseligen alten Saweli an der Nase rumgeführt! Angeschmiert! Vergackeiert! Zuixing*!« Sieh an, was der Fall für eine Wendung nimmt. »Ganz unmöglich«, murmelt der Chinese. »Der Vertrag ist von beiden Grenzbehörden beglaubigt!« »Wenn der russländische Zollbeamte eine Unregelmäßigkeit entdeckt hat, müssen Expertise und Gegenexpertise erstellt werden«, antworte ich. »In Streitfällen wie diesem bin ich als Opritschnik mit Vollmachten befugt, unsere Seite zu vertreten.« Die Chinesen geraten in Panik: Dieses Verfahren frisst eine Unmenge Zeit, und die chinesische Versicherung läuft ab. Eine Verlängerung in die Wege zu leiten ist umständlicher, als eine Störrückenpastete * (chin.) Verbrechen 124
zuzubereiten. Hierfür brauchte es zunächst einmal eine Hygieneinspektion, eine nochmalige technische Durchsicht, dann ginge es von neuem zur Grenzkontrolle, und einen Sichtvermerk vom Kartellamt müssten sie sich auch noch besorgen. Bleibt also nur ein Ausweg. »Schließen Sie eine neue Versicherung ab, meine Herren.« Die Chinesen jaulen auf. Stoßen Drohungen aus. Ha, wem willst du denn drohen, Shabi:i" ? Versuch doch mal, dich bei irgendwem zu beschweren. »Eine russländische Versicherung ist der beste Schutz gegen Cyberpunks!«, schleimt der Obmann aus der Verkehrskanzlei. »Wo ist das Siegel?«, stoßen die Chinesen zähneknirschend hervor. Na, was dachtet ihr, wozu ich hier eingeflogen bin? Bitte schön: Meine linke Handfläche legt sich auf die Mattscheibe und zaubert das Kleine Staatssiegel hervor. Nun gibt es keine weiteren Fragen. Potrocha und ich, wir zwinkern uns zu: Die drei Prozent sind unser! Die Chinesen ziehen ab mit sauertöpfischen Mienen, der Untersekretär, der seines Amtes gewaltet hat wie geschmiert, haha, er geht seiner Wege. Wie alle anderen auch. Zurück bleiben Potrocha und ich. »Hab Dank, Komjaga!«, sagt Potrocha und schüttelt mir die Hand. »Schuld und Sühne, Potrocha!« Wir trinken unseren Tee aus und gehen an die frische Luft. Hier ist es kälter als in Moskau. Mit den Zöllnern haben wir Opritschniki einen alten Zwist. Kein Ende * (chin.) Arschloch 125
abzusehen. Und alles nur, weil die Zöllner dem Bruder des Gossudaren, Alexander Nikolajewitsch, unterstehen. Woran sich eben auf absehbare Zeit nichts ändern wird. Und dieser Alexander Nikolajewitsch kann unseren Alten auf den Tod nicht ausstehen. Zwischen den beiden muss irgendwas gewesen sein - dass nicht einmal der Gossudar es schafft, sie miteinander zu versöhnen. Da ist nichts zu machen - wie es war, so wird es bleiben, ein ewiger Krieg. »Ein bisschen Entspannung wäre jetzt das Richtige«, sagt Potrocha und fährt sich, die Zobelmütze in den Nacken schiebend, durch den goldenen Schopf. »Lass uns in die Sauna fahren. Da gibt es einen Masseur, der gut zupackt. Und zwei süße Guniangotschki* ...« Er holt seinen Faustkeil hervor und zeigt sie mir. Ich sehe zwei bezaubernde Chinesinnen vor mir in der Luft schweben: die eine nackt auf einem Büffel reitend, die andere nackt unter einem brausenden Wasserfall. »Na?«, fragt Potrocha verschwörerisch zwinkernd. »Du wirst es nicht bereuen. Die sind besser als eure Moskauerinnen. Ewige Jungfrauen!« Ich blicke auf die Uhr: 15:00. »Geht nicht, Potrocha. Ich muss heute noch nach Tobol und anschließend in Moskau einen Stern auslöschen.« »Wie du meinst. Dann also zum Flughafen?« »Genau.« Während er mich hinbringt, schaue ich in den Flugplan und buche. Beinahe gerate ich in ein einstündiges Loch, doch es gelingt mir, einen schon auf der Piste stehenden Flieger zurückzuhalten. Er wartet auf mich, klarer Fall. Ich verabschiede mich von Potrocha und be* Guniang (chin.): Mädchen 126
steige das Flugzeug der Linie Orenburg-Tobol, setze einen Ruf an Praskowjas Sicherheitsgarde ab, weise sie an, mich abzuholen. Dann setze ich die Kopfhörer auf, ordere Rimski-Korsakows »Scheherazade«, lausche. Darüber schlafe ich ein.
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mit sanfter Hand. »Herr Opritschnik! Wir sind schon gelandet.« Bestens. Ich trinke ein Glas Altai-Quell und verlasse das Flugzeug. Betrete das Rollband, das mich in die riesige Abfertigungshalle des Flughafens »Jermak Timofejewitsch« bringt. Ganz neu erbaut, von den Chinesen. Ich war schon dreimal hier. Immer in derselben Angelegenheit - bei der Wahrsagerin. Unter der riesigen Figur des Atamanen Jermak mit dem Leuchtschwert warten zwei Riesenbabys aus der Leibgarde der bedeutenden Prophetin auf mich. O b wohl einen Kopf größer als ich und in den Schultern doppelt so breit, nehmen sie sich neben Jermaks Granitstiefel aus wie zwei Feldmäuse in roten Kaftanen. Ich gehe auf sie zu. Sie verbeugen sich und bringen mich zu ihrem Auto. Vorher nehme ich schnell einen tiefen Zug der guten Toboler Luft. Hier ist es noch kälter als in Orenburg: zweiunddreißig Grad minus. So viel zur globalen Erderwärmung, von der sie im Ausland faseln. In Russland hat es noch richtig Frost und Schnee, meine Herren, da könnt ihr sicher sein. Man lädt mich in einen mächtigen chinesischen Jeep der Marke Zhu Bajie, die Stoßstange sieht aus wie ein Wildschweinrüssel. Diese Sorte Jeeps sieht man neuerdings überall in Sibirien herumfahren. Sie funktionieren zuverlässig, ohne Pannen, in Hitze wie bei strengem Frost. Die Sibirjaken sagen »Keiler« dazu. Zuerst fahren wir ein Stück Autobahn, dann eine schmalere Chaussee. Der Burschenführer aus Moskau meldet sich: Zur Auslöschung des Sterns sei alles EINE STEWARDESS WECKT MICH
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vorbereitet, das Konzert beginne um 20 Uhr. Gut zu wissen - aber ob ich pünktlich sein werde, steht noch dahin. Eine Weile zieht sich die Straße durch lockeren Wald, bevor sie in die dichte Taiga hineinstößt. Wir fahren schweigend. Ringsum schneebedeckte Kiefern, Tannen und Lärchen, dicht an dicht. Ein schöner Anblick. Aber die Sonne neigt sich schon dem Horizont zu. In einer knappen Stunde wird es dunkel. Wir sind ungefähr zehn Werst gefahren, als unser Zhu Bajie auf einen zugewehten Feldweg einbiegt. Mein hauptstadtgängiger Merin würde hier sofort steckenbleiben. Dem »Keiler« macht es nichts aus - die anderthalb Arschin hohen Räder kneten den Schnee wie ein Fleischwolf. Der chinesische Keiler wühlt sich durch den russischen Schnee. Werst für Werst dringen wir in die jahrhundertealte Taiga ein, bis sich auf einmal eine große Lichtung auftut. Wir sind da! Mitten auf der Fläche erhebt sich eine skurril anmutende Hausburg, gefügt aus uralten Kiefernstämmen, mit neckischen Türmchen, vergitterten Luken, geschnitzten Fensterverkleidungen, einem geschuppten Kupferblechdach, bunten Wetterfahnen und -hähnen obenauf. Umgeben ist das Haus von einer zehn Arschin hohen Palisade aus fetten, oben angespitzten Bohlen. Unüberwindlich für Mensch und Tier. Der steinerne Jermak vom Flugplatz hätte vielleicht eine Chance - aber auch nicht ohne sich die Granitklöten zu schrammen. Wir fahren auf das hölzerne Tor zu. Es ist breit, mit schmiedeeisernen Beschlägen. Auf ein Signal aus unserem Zhu Bajie hin, das weder zu hören noch zu sehen ist, gehen die Torflügel auf, und wir rollen auf den Hof des Anwesens. Im nächsten Augenblick ist der Wagen von chinesisch gekleideten Wächtern mit Schwertern 129
und Streitkolben umstellt. Sämtliche Hauswächter Praskowjas sind Kung-Fu-Meister aus China. Ich klettere aus dem »Keiler« und steige die paar Stufen bis unter das verschnörkelte Vordach, wo die wilden Tiere Sibiriens in geschnitzter Form versammelt sind, und zwar ausschließlich in Liebe und Harmonie. Unglaubliches gibt es da zu sehen: Der Luchs leckt dem Reh die Stirn, die Wölfe spielen mit den Wildschweinen, Fuchs und Hase küssen sich, und das Haselhuhn reitet auf dem Hermelin. Zwei Bären stützen die Säulen des Vorbaus. Ich trete ein. Drinnen ist alles ganz anders. Keine Schnitzereien, nichts Rustikales, nichts Russisches überhaupt. Glatte, nackte marmorverkleidete Wände, grün beleuchteter Steinfußboden, Ebenholzdecke. Brennende Leuchter, Duftkerzen. Von einer Granitwand ergießt sich ein Wasserfall, darunter ein Becken, in dem weiße Seerosen schwimmen. Lautlos treten die Diener der Wahrsagerin auf mich zu. Sie sind wie Schatten aus der Unterwelt: kühl ihre Hände, undurchdringlich die Gesichter. Zuerst nehmen sie mir die Pistole und den Faustkeil ab, dann Kaftan und Joppe, Mütze und Stiefel. In bloßem Hemd, Hosen und Ziegenwollsocken stehe ich nun da. Strecke die Arme nach hinten und bekomme von den lautlosen Dienern einen seidenen Kimono übergestreift. Die Stoffknöpfe werden geschlossen, an die Füße kommen weiche Pantoffeln. Diese Prozedur widerfährt hier einem jeden - selbst Grafen, Fürsten oder Würdenträger aus dem Engsten Kreis müssen den Kimono anziehen, bevor sie zur Wahrsagerin vorgelassen werden. Nun betrete ich die inneren Räumlichkeiten. Dort ist es wie immer: kein Mensch, kein Laut. Im Halbdunkel sind chinesische Vasen zu erkennen, Tierplastiken 130
aus Stein. Hieroglyphen schimmern an den Wänden, künden von Weisheit und Ewigkeit. Stimme eines Chinesen von hinten: »Die Meisterin erwartet Euch am Kamin.« Aha. Wieder einmal wird die Unterredung im Kaminsaal stattfinden. Praskowja liebt es, Gespräche am offenen Feuer zu führen. Oder liegt es nur daran, dass sie leicht friert? Ins Feuer zu blicken kann jedenfalls ein großes Vergnügen sein. Wie der Alte zu sagen pflegt, gibt es drei Dinge, an denen man sich nicht sattsehen kann: das Feuer, das Meer und wie andere arbeiten. Ich werde von den lautlosen Wächtern in den Kaminsaal geführt. Auch hier ist es schummrig und still. Nur das Holz im ausladenden Kamin lodert und knackt. Aber es sind nicht bloß Scheite, die da brennen, es sind auch Bücher. Bücher und Birkenholz - die altbekannte Mischung im Kamin der Wahrsagerin. Genauso neben dem Kamin: ein Stapel Holz, ein Stapel Bücher. Ich bin gespannt, was Praskowja diesmal den Flammen opfern wird. Beim letzten Mal waren es Gedichte. Ein Türklappen, ein Schlurfen. Sie ist da. Ich wende mich um. Die Wahrsagerin Praskowja auf ihren leuchtend blauen Krücken kommt, die dünnen Beine nachziehend, auf mich zu. Starre Heiterkeit in den Augen, die fest auf mich gerichtet sind. Schlurf, schlurf, machen ihre Füße auf dem Granitboden. Das ist ihr Klang. »Grüß dich, mein Täubchen.« »Sei gegrüßt, Praskowja Mamontowna.« Ihre Bewegungen sind zügig und elegant wie die einer Eisläuferin. Erst ganz nahe vor mir kommt sie zum Stehen. Ich sehe in ihr Gesicht. Es ist ungewöhnlich. So eines gibt es in Russland kein zweites Mal. Es ist weder weiblich noch männlich, weder alt noch jung, weder 131
traurig noch froh, weder böse noch gut. Nur ihre grünen Augen sind immer irgendwie heiter. Eine Heiterkeit, die uns Normalsterblichen unbegreiflich bleibt. Was dahinter steht, weiß der liebe Gott allein. »Gut gelandet?« »Jawohl, Praskowja Mamontowna.« »Setz dich.« Ich setze mich in den Sessel vor dem Kamin. Sie sinkt auf ihren Ebenholzstuhl. Nickt dem Diener zu. Der nimmt ein Buch vom Stapel und wirft es ins Feuer. »Wieder in der alten Angelegenheit?« »Der nämlichen.« »Das Alte, es ist wie ein im Wasser liegender Stein. Um ihn her schnellen die Fische durch das Nass, während drüber die Sturmvögel fliegen, in den Lüften sich wiegen, Vögel fein und weich, sind den Menschen gleich. Menschen drehen sich im Kreis, rückwärts zu gehen keiner weiß. Leben auf großem Fuß, reden nichts als Stuss, knicken aus den Hüften, ummauern sich mit Grüften, fahr'n in die Erde nieder, Weiber gebär'n sie wieder.« Sie verstummt und blickt ins Feuer. Ich sage nichts. Vor ihr stellt sich immer eine gewisse Schüchternheit ein. Nicht einmal vor dem Gossudaren spüre ich Hemmungen wie gegenüber Praskowja. »Hast du wieder Haare dabei?«
»Jawohl.« »Und ein Leibchen?« »Auch ein Leibchen hab ich mitgebracht, Praskowja Mamontowna.« »Mannes Leibchen, schneid ab ein Scheibchen! Kommt herum, bleibt nicht dumm, sieht gar so manches, wird lasch und ranzig, erholt sich beim Waschen, beim Trocknen, beim Bügeln, kann wieder lügen, schmiegt sich an den Leib, betöret das Weib.« 132
Sie schaut in den Kamin. Dort brennt »Der Idiot« von Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Er hat vom Rücken her Feuer gefangen, der Einband qualmt schon. Und wieder gibt die Wahrsagerin dem Diener ein Zeichen. Er wirft das nächste Buch in den Kamin: Diesmal ist es »Anna Karenina« von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Der schwere Band plumpst in die orangene Glut, liegt eine Weile, flammt dann mit einem Mal auf. Ich schaue gebannt. »Was guckst du so? Als ob du noch nie Bücher verbrannt hättest!« »Bei uns, Praskowja Mamontowna, werden nur schädliche Bücher den Flammen übergeben. Schamlose oder staatsfeindliche.« »Und die hier, meinst du, wären nützlich?« »Die russische Klassik ist staatstragend.« »Außer Fachbüchern sollte es überhaupt keine Bücher geben, mein Täubchen. Nur Bücher über das Zimmern, über das Ofensetzen, über das Häuserbauen, über das Stromlegen und über das Schiffebauen. Über das Fummeln und über das Frickeln, über das Weben und über das Beben, über das Gießen und über das Schießen, über das Krappen und über das Frappen, über das Ziegeln und über das Wiegeln.« Bloß keinen Streit mit ihr, ich sehe mich vor. Sie hat immer recht. Schnappt sie ein, bringt sie es fertig, dich im Genick zu packen und rauszuschmeißen. Ich aber habe eine wichtige Sache mit ihr zu bewerkstelligen. »Warum sagst du nichts?« »Was soll ich sagen?« »Erzähl mir, was sich bei euch in Moskau so abspielt.« Ich weiß, dass im Haus der Wahrsagerin weder Nachrichtenblasen noch Rundfunkgeräte vorkommen. 133
Dies ist das eine. Zum anderen weiß ich, dass sie uns Opritschniki nicht leiden mag. Womit sie ja nicht alleine steht. Und das ist gut so. »In Moskau ist das Leben trefflich, die Menschen leben im Wohlstand, keiner lehnt sich auf, eine neue Tunnelstraße vom Sawjolowoer Bahnhof nach Domodedowo ist im Bau ...« »Danach frage ich nicht, mein Täubchen«, fällt sie mir ins Wort. »Wie viele habt ihr heute umgebracht, sag? Du riechst mir nach frischem Blut.« »Einen Bojaren haben wir zerquetscht.« Sie blickt mich aufmerksam an. »Einen zerquetscht und zehne gemeuchelt. Blut ist nicht zu decken mit Blut. Blut zu Blut wird selten gut. Schwächelt und schwitzt, steht wieder auf. Heilt unterm Grind, gärt doch geschwind, bricht auf und platzt und schmatzt als neues Blut.« Dann starrt sie wieder in die Flammen. Aus ihr wird man nicht schlau: Beim letzten Mal, als sie hörte, dass die sechs Sekretäre der Handelskammer auf der Schädelstätte gestäupt worden waren, hat sie mich beinahe rausgeschmissen. Blutsauger, finstere!, hat sie gezischt. Beim vorletzten Mal wiederum, wie sie von der Hinrichtung des Wojewoden aus Fernost erfuhr, meinte sie, die Strafe wäre noch viel zu gering ... »Euer Gossudar ist eine weiße Birke. Und diese Birke trägt einen dürren Ast. Und auf dem Ast sitzt ein Geier, hackt dem lebendigen Eichhörnchen den Rücken rot, das Hörnchen knirscht mit den Zähnen. Wer ihm lauscht mit reinem Ohr, der hört zwei Worte aus dem Knirschen heraus: die Quelle das eine, der Osten das andere. Verstehst du, mein Lieber?« Ich schweige. Sie darf sich alles herausnehmen. Jetzt schlägt sie mir mit welker Hand an die Stirn. 134
»Denk nach!« Was gibt es da nachzudenken! Man kann denken, so viel man will, ein Sinn ist nicht herauszukriegen. »Was ist es, das zwischen die beiden Wörter passt?« »Ich weiß es nicht, Praskowja Mamontowna ... Eine Lücke vielleicht?« »Du bist nicht gescheit, mein Täubchen. Keine Lücke. Russland!« Da haben wir's. Russland ... Wenn es um Russland geht, schlage ich schnell die Augen nieder. Schaue ins Feuer. Dort brennen »Der Idiot« und »Anna Karenina«. Und alles, was recht ist: Sie brennen gut. Das lässt sich von Büchern im Allgemeinen sagen. Erst recht Manuskripte - die brennen wie Zunder. Ich habe schon viele Scheiterhaufen aus Manuskripten brennen sehen bei öffentlichen Gelegenheiten genau wie auf dem Hof der Geheimen Kanzlei. Die Schriftstellerkammer hat sogar selbst auf der Maneshnaja eine Verbrennung organisiert, sich von Staatsfeinden in ihren Reihen befreit und uns damit die Arbeit erleichtert. Eines kann ich sagen: In der Nähe von Bücherfeuern ist es immer irgendwie heimelig. Es sind Feuer, die wärmen. Am wärmsten ist es einmal vor achtzehn Jahren gewesen. Als das Volk auf dem Roten Platz seine Auslandspässe verbrannte. War das ein Feuerchen! Auf mich, der ich damals noch ein sehr junger Mann war, hat das großen Eindruck gemacht. Im Januar, bei strengstem Frost, folgten die Massen dem Aufruf des Gossudaren und kamen zum zentralen Platz des Landes geströmt, hatten ihre Pässe dabei und schmissen sie ins Feuer. Der Strom hörte nicht auf. Auch aus anderen Städten kamen sie gefahren, um sich des Erbes der Weißen Wirren zu entledigen. Und dem Gossudaren einen Eid zu schwören. Fast zwei Monate hindurch hat dieses Feuer gebrannt ... 135
Ich werfe einen Bück auf die Wahrsagerin. Ihre grünen Augen blicken starr ins Feuer, selbstvergessen. Wie eine ägyptische Mumie sitzt sie da. Doch die Arbeit drängt. Ich wage zu hüsteln. Es kommt Bewegung in sie. »Wann hast du zuletzt Milch getrunken?«, fragt sie mich. Ich versuche mich zu erinnern. »Vorgestern zum Frühstück. Aber pur nehme ich Milch nie zu mir, Praskowja Mamontowna. Immer nur im Kaffee.« »Trink keine Kuhmilch, hörst du? Iss Kuhbutter. Weißt du, warum?« Nichts weiß ich, verflixt nochmal. »Milch von der Kuh singt ohne Ruh: Übers Herze leg ich mich, böse Gifte sammle ich, zieh Wasser dazu, ruckedigu! Zum Kinde bet ich, dem Kalb wundertätig, vom Kalb nur die Knochen kommen gekrochen, Knöchelchen schlapp, klapperdiklapp, Knöchelchen bleich sterben sogleich, was fest war, erschlafft, geraubt ist die Kraft.« »Gut«, nicke ich ergeben, »dann trinke ich ab jetzt keine Milch mehr.« Sie nimmt meine Hand in die ihre, die knöchern und trotzdem weich ist. »Butter solltest du essen. Der Kuhbutter geht die Kraft nicht aus: Vom Schlagen tragen, vom Kreiseln beißen, vom Klumpen pumpen, vom Liegen kriegen. Leber wetzen, Fett ansetzen. Eingebaut unter die Haut, rein in den Schaft, mehret die Kraft.« Ich nicke noch einmal. Kuhbutter mag ich. Insbesondere auf ofenwarmem Weißbrot, mit ein paar Kügelchen Beluga-Kaviar obendrauf... »Jetzt sag schon, was du auf dem Herzen hast.« 136
Ich fasse mir unter das Hemd, ziehe den Beutel aus nachtblauer Seide mit den Initialen der Gossudarin hervor. Entnehme ihm ein fein besticktes Männerunterhemd und zwei in Papier gewickelte Locken: eine schwarze und eine rotblonde. Praskowja greift zuerst nach den Haaren. Legt sie sich auf die flache linke Hand, fährt mit einem Finger der anderen darüber hinweg, schaut, bewegt die Lippen. »Wie heißt er?« »Michail.« Sie flüstert etwas, über die Haarbüschel geneigt, vermengt sie miteinander, schließt die Faust darüber. Dann, im Befehlston: »Die Schale!« Diener, kaum voneinander zu unterscheiden, huschen hin und her, bringen eine Schale mit Zedernöl, stellen sie der Wahrsagerin auf die Knie. Sie wirft die Haare in das Ol, nimmt die Schale in ihre knochigen Hände, hebt sie vors Gesicht und beginnt: »Pappe-hafte-klebe dauerhaft und allezeit, Herz des wackren Michail, am Herz der Jungfer Tanjuschka. Pappe-hafte-klebe,pappe-hafte-klebe,pappe-hafte-klebe, pappe-hafte-klebe, pappe-hafte-klebe.« Schließlich nimmt Praskowja das Hemd des jungen Kremlgardeoffiziers Michail Jefimowitsch Skoblo zur Hand, taucht es in das Öl. Reicht den Dienern die Schüssel zurück. Und damit hat es sich. Die Wahrsagerin richtet ihre Augen wieder auf mich. »Sag der Gossudarin, heute im Morgengrauen wird Michails Herz mit dem ihren anbandeln.« »Hab Dank, Praskowja Mamontowna. Bezahlung wie üblich.« »Nein, sag ihr, sie soll mir kein Geld mehr schicken. Was soll ich damit anfangen? Sauer einlegen? Sie soll 137
mir Farnsamen schicken, baltischen Hering und Bücher. Meine habe ich schon alle verfeuert.« »Was für Bücher sollen es denn sein?«, frage ich. »Russische. Hauptsache russische ...« Ich nicke, stehe auf. Und fange an zu schwitzen: Für eine Nachfrage in eigener Sache wäre es jetzt der rechte Augenblick. Aber vor Praskowja lässt sich sowieso nichts verheimlichen. »Was zögerst du? Hast wohl selber noch ein Begehrchen?« »Stimmt, Praskowja Mamontowna.« »Lass gut sein, mein Falke. Bei dir steht alles zum Besten. Und ein Mädchen ist schwanger von dir ... Mach den Mund zu!« Ach du Schande. »Welches?« »Na, das mit dir in einem Haus wohnt.« Anastassija! Du liebe Güte. Dabei habe ich ihr doch die Pillen ... Wahrscheinlich hat sie heimlich ... dieses Miststück ... »Schon lange?« »Etwas über einen Monat. Es wird ein Junge.« Ich sage nichts, muss das erst einmal verdauen ... Nun ja. Kommt vor, so was. Lässt sich klären. »Oder wolltest du was Dienstliches wissen?« »Nun ja, ich ...« »Momentan ist alles im Lot bei dir. Aber Neider gibt es.« »Das weiß ich, Praskowja Mamontowna.« »Um so besser, wenn du's weißt. Sieh dich vor. Dein Auto geht kaputt nächste Woche. Und eine Krankheit wirst du dir an den Hals holen, keine schlimme. Außerdem kriegst du ein Loch ins Bein. Ins linke. Und Geld. Ein bisschen. Und eins in die Fresse. Aber nicht sehr.« 138
»Von wem?« »Deinem Chef.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Der Alte ist für mich wie ein leiblicher Vater. Heute züchtigt er mich, morgen krault er mich hinterm Ohr. Und was das Bein angeht ... Das kennen wir schon. »Das war's, mein Schatz. Du kannst jetzt gehen.« Das war's, aber doch noch nicht ganz. Eine Frage hätte ich noch. Die ich ihr noch nie gestellt habe, aber heute brennt sie mir auf den Nägeln. Die Stimmung ist danach. Ich nehme meinen Mut zusammen. »Ist noch was?«, fragt Praskowja und schaut mir in die Augen. »Was wird aus Russland?« Schweigen. Konzentrierter Blick. Ich warte mit klopfendem Herzen. »Nichts ...« Ich zucke zusammen, Praskowja schluckt. »... ist unmöglich.« Ich verbeuge mich so tief, dass meine rechte Hand den Steinfußboden berührt. Dann verlasse ich den Saal.
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DER RÜCKFLUG WAR LEIDLICH, auch wenn diesmal schon mehr Leute im Flugzeug saßen. Ich habe ein Jermak-Bier getrunken, gesalzene Erbsen geknabbert und mir einen Film über unsere tapferen Geldschneider aus der Kämmerei angesehen. Wie sie sich vor vier Jahren mit der China UnionPay in den Haaren hatten. Eine wilde Zeit war das! Einmal mehr versuchten die Chinesen, uns bei der Gurgel zu packen, doch es wurde nichts daraus. Unsere Kämmerei hat gegengehalten, eine neue Geldprägung war die Antwort. Das Funkeln muss man gesehen haben, das die neuen russischen Goldrubelchen in den Schlitzaugen hervorriefen! Diaodalian*! Beim Geld hört die Freundschaft bekanntlich auf. In Moskau ist es mittlerweile Abend. Während der Fahrt vom Flughafen Wnukowo in die Stadt höre ich feindliches Radio. Mein getreuer Merin kann den Schwedenfunk »Paradigma« empfangen, der eigens für unsere intellektuellen Gruftis gemacht ist. Ein leistungstarker Rundfunksender mit sieben Kanälen. Ich gehe sie durch. Heute läuft ein Jubiläumsprogramm: Der russische kulturelle Andergraund. Alles Sendungen, die zwanzig Jahre oder älter sind. Damit unsere greise Fünfte Kolonne, diese Brut, sich ein paar Tränen abdrücken kann. Auf Kanal 1 wird aus dem Buch eines gewissen Rykunin gelesen. »Wo Derrida dinierte«, heißt es und beschreibt bis ins Kleinste die Orte, an denen der West* obszöner chinesischer Fluch
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philosoph während seines Besuchs im postsowjetischen Moskau Nahrung zu sich genommen hat. Besonderen Raum scheint dabei das Kapitel »Was der Meister auf dem Teller zurückließ« einzunehmen. Kanal 2 bringt eine Sendung zum fünfundzwanzigj ährigen Jubiläum der Ausstellung »Achtung, Religion!«. Irgendeine Oma, die an der legendären Obskurantenorgie teilnahm, kriegt eine Medaille »Den Opfern der R.O.K.« angehängt und erzählt mit zittrigem Stimmchen von damals. Gerade salbadert sie von »bärtigen Barbaren in Talaren, die unsere herrliche, reine und aufrichtige Kunst in Klump schlugen«. Auf Kanal 3 diskutieren Wipperstein und Onufrijenko über das Klonen des Großen Morschen Romans als Genre, über den Zuckerburatino als Verhaltensmuster und über den medizinhermeneutischen Seitensprung. Auf Kanal 4 erörtert ein Igor P. Tichi in heiligem Ernst die »Negation der Negation der Negation der Negation« im Roman »Die neunte Frau« von A. Schestigorski. Auf Kanal 5 verbreitet sich Boruch Gross über Amerika als neues Unbewusstes von China und China als neues Unbewusstes von Russland, welches bis auf weiteres nur sein eigenes Unbewusstes sei. Kanal 6 widmet sich den Nachkommen des Hundemenschen, welcher zu Zeiten der Weißen Wirren ein berühmter »Künstler« war. Die Welpen jaulen dem Hörer etwas über die Befreiung des Körperdiskurses vor. Und schließlich Kanal 7 dieses Gossenradios, der wie immer der Dichtung des russischen Minimalismus und Komm-zapp-du-das-mal-weg-mus vorbehalten ist. Wsewolod Nekros rezitiert mit Dunkelmännerstimme seine hauptsächlich aus Räuspern und Krächzen nebst Füllwörtern bestehenden Verse. 141
Hü und hott Das ist der liebe Gott Hott und hü Das ist ein Dejä vu Piff paff puff Das ist der Puff, wie gesagt. Und das genügt dann auch. Tja. Was soll man dazu sagen. Von solchem Dreck, solchem Auswurf, so viel hohlem Schall nährt sich bei uns der intellektuelle Untergrund. Ekle Polypen am Leib unserer gesunden russischen Kunst. Minimalismus, Paradigma, Diskurs, Komm-zapp-du-das-mal-weg-mus ... wenn ich das schon höre! Von Kindesbeinen an sind diese Wörter mir geläufig. Aber was sie eigentlich bedeuten, ist mir bis heute ein Rätsel. Was hingegen die »Bojarin Morosowa« ist, habe ich als Fünfjähriger kapiert und weiß es bis heute. Diese ganze sogenannte moderne Kunst ist einen einzigen Pinselstrich unseres genialen Malers Surikow nicht wert. Wenn ich einmal Katzenjammer habe, Feinde mir auf den Pelz rücken, heimtückische Kreise ihre Schlingen um mich ziehen - dann genügt es, einen kurzen Abstecher in die Tretjakow-Galerie zu machen und vor das große Bild zu treten. Zu schauen. Den Schlitten mit der widerspenstigen Bojarin, wie er durch den russischen Schnee fegt, den rennenden Jungen, den feixenden Kutscher, den Narren, wie er die Hand mit den zwei gestreckten Fingern zum Kreuzzeichen erhebt ... Das alte Russland weht dich an von dieser Leinwand. Dass du den Alltag vergisst, allen Ärger, die ganze Hatz. Die Lungen atmen russische Luft. Mehr brauchst du nicht. Und das ist gut so ... Peitschenknallen. Die Primaballerina Kosiowa ruft an. 142
»Andrej Danilowitsch, ich hab das Geld zusam-. men.« Das ist eine gute Nachricht. Ich verabrede mich mit ihr sogleich vor der Nationalbibliothek, nehme das Ledersäckchen in Empfang. Prall gefüllt mit Goldrubeln erster Prägung. Die nehmen wir auch. Dann fahre ich weiter, die Mochowaja entlang. Da schau, gegenüber der Alten Universität soll offenbar jemand ausgepeitscht werden. Interessant. Ich bremse ab, steuere an den Straßenrand. Es ist dies der Ort, wo die Intelligenzija gezüchtigt wird. Während auf der Maneshnaja die Landverweser bluten müssen und auf der Schädelstätte die Kanzleibeamten. Strelitzen nehmen die Sache in ihren Garnisonen selbst in die Hand. Und sonstiges Gesindel wird auf der Smolenskaja, der Miusskaja, am Moshajski Trakt und auf dem Marktplatz in Jassenewo traktiert. Ich lasse das Seitenfenster herunter und rauche. Die Leute vor mir treten zur Seite, damit ich besser sehen kann. Wir Opritschniki werden im Volk respektiert. Oben auf dem Holzgerüst steht Schka Iwanow, der berühmte Büttel für die Moskauer Intelligenzija. Hier geht er manchen Montag seiner Arbeit nach. Das Volk kennt und verehrt ihn. Schka Iwanow ist ein kräftiger, untersetzter Mann mit heller Haut, mächtigem Brustkorb, Lockenkopf und runder Brille. Mit schallender Stimme verliest er das Urteil. Ich höre mit halbem Ohr hin, betrachte lieber die Leute ringsum. Ein Untersekretär Danilkow aus der Kanzlei für Wort und Schrift gehört gezüchtigt wegen »sträflicher Fahrlässigkeit«, so viel verstehe ich. Irgendeine Wichtigkeit wird er übersehen haben, falsch abgeschrieben, durcheinandergebracht und dann den Fehler vertuscht. Um das Gerüst drängen sich die Moskauer Intellektuellen, viele 143
Studenten und Gymnasiastinnen darunter. Schka Iwanow rollt die Urkunde mit dem Urteil ein und schiebt sie sich in die Tasche, dann stößt er einen Pfiff aus. Sein Gehilfe Michi »Gänsefüßchen« erscheint, ein schmalschultriger, kahlrasierter Lulatsch mit ewig spöttischem Gesichtsausdruck. Seinen Spitznamen hat er davon, dass er immerzu wie in Anführungsstrichen zu reden scheint, auch nach jedem Wort die Hände beiderseits des Kopfes die entsprechenden Häkchen in die Luft malen lässt, wobei er gar höchlich einem Männchen machenden grauen Feldhasen ähnelt. An einer Kette führt Michi den Delinquenten Danilkow hinter sich her, einen gewöhnlichen Untersekretär mit langer Nase, der sich bekreuzigt und etwas in seinen Bart murmelt. So laut, dass alle es hören, spricht Michi ihn an: »Pass nur auf, Landsmann, gleich heizen wir dir ein!« Dazu fingert er seine Gänsefüßchen. »Wir heizen dir so was von ein, da wird dir Hören und Sehen vergehen!« Gänsefüßchen. Höhnisches Lachen aus der Menge, Applaus. Die Studenten pfeifen. Die beiden Büttel ergreifen den Untersekretär und fesseln ihn. »Komm, leg dich fein hin, du kleines Stück Scheiße!«, ruft Schka und grient. Bütteln und Armeevorgesetzten ist es in Russland erlaubt, sich drastisch und unfein auszudrücken. In Anbetracht ihrer schweren Tätigkeit hat unser Gossudar für sie eine Ausnahme gemacht. Inzwischen liegt Danilkow gefesselt da, Michi setzt sich auf seine Beine, zieht ihm die Hosen runter. Den Narben nach zu urteilen, ist dieses Gesäß schon früher gepeitscht worden. Dem Untersekretär Danilkoa wird also nicht zum ersten Mal eingeheizt. Die Studenten pfeifen und johlen. 144
»So sieht's aus, Landsmann!«, sagt Michi. »Die schöngeistige Literatur ist kein Motorrad!« Schka schwingt die Knute und beginnt mit der Züchtigung. Und zwar so, dass zuzusehen eine Freude ist. Der Mann versteht sein Handwerk, er ist Büttel mit Herz und Seele. Verdient sich die Achtung des Volkes durch ordentliche Arbeit. Die Knute tanzt auf dem Arsch des Untersekretärs, ein Streich von links, einer von rechts, und wandert dabei immer weiter. Auf dem Arsch bildet sich ein akkurates Gitter ab. Danilkow winselt und jault, seine lange Nase färbt sich puterrot. Aber ich muss. Werfe meine Kippe einem Bettler zu und fahre wieder los. Zurück auf die Twerskaja und weiter. Mein Ziel ist der Konzertsaal auf dem Strastnoi Bulwar. Dort geht der Auftritt eines Sterns seinem Ende entgegen. Noch während der Fahrt rufe ich die »Wackelburschen« an und erfrage die Einzelheiten. Scheint alles bereit zu sein. Ich stelle den Wagen ab und gehe durch den Diensteingang in das Theater. Einer von den Burschen, untere Charge, empfängt mich, geleitet mich in den Saal. Ich setze mich ganz außen in die vierte Reihe. Auf der Bühne: der Stern. Die Berühmtheit. Saweli Iwanowitsch Artamonow, Volkserzähler, Bylinendichter und Barde. Artamoscha wird er liebevoll im Volk genannt. Grauhaarig, silberbärtig, mit kräftiger Statur und schönem Gesicht, wenngleich nicht mehr der Jüngste. In schwarzseidener Stehkragenbluse auf seinem unvermeidlichen Lindenholzbänkchen sitzend, in den Händen die unvermeidliche Säge. Artamoscha fährt mit dem Geigenbogen darüber hin, die Säge hebt sonderbar zart zu singen an, zieht das Publikum in den Bann. Und zum betörenden Wimmern dieses Instru145
ments trägt er im Sprechgesang, mit tiefer, bedächtiger Stimme, die nächste Strophe seiner Byline vor: Seht, da schleicht sich die Frau Füchsin an, achduwei, ach, An den Hundezwinger, den im Kreml, ran, achduwei, ach, Der gezimmert ist aus kapitalen Bohlen, achduwei, Der als Fenster hat nur klitzekleine Luken, achduwei, Und davor sind auch noch stramme Gitterstäbe, achduwei, Und die Türen, die aus Eichenholz, die dicken, achduwei, Sind mit kiloschweren Schlössern zugesperrt, achduwei, ach, ach, ach Was nun, was nun, mein liebes Huhn, mein Füchselein?... Artamoscha wirft seine weiße Mähne zurück, kneift die Augen zu einem Spalt zusammen, wiegt die stattlichen Schultern. Lässt die Säge singen. Die Leute im Saal hat er schon an seiner Angel. Fehlt nur noch ein brennendes Streichholz, dann stünde der Saal lichterloh in Flammen. In den ersten Reihen sitzen seine eingeschworenen Anhänger, schunkeln im Takt der Säge, summen mit. In der Saalmitte bricht irgendeine geistesgestörte Person in lautes Klagen aus. Weiter hinten wird geschluchzt und hin und wieder gekreischt, dazwischen macht jemand gehässige Bemerkungen. Ein schwieriges Publikum. Wie die Wackelburschen hier ihre Arbeit verrichten wollen, ist mir schleierhaft.
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Wie die Schlösser aufknibbeln, aufknubbeln, Mamatschi mein? Wie die Türen aufhebeln, aufhobeln, Babatschi mein? Durch die Luken durchflitschen, durchflutschen, mein Stöpseli? Unterm Pfosten wegpaddeln, wegbuddeln, mein Schöpseli? ... Aus den Augenwinkeln beobachte ich den Saal. Sehe, die Wackelbrüder haben sich in der Saalmitte platziert. In die ersten Reihen hat der A r t a m o n o w - K l u b sie nicht vorgelassen, das kann man sich denken. Wenn die Gesichter nicht täuschen, sind die Wackelburschen in großer Zahl erschienen. Anscheinend wollen sie durch Übermacht punkten, so wie sie es meistens machen. Hoffen wir, dass die Rechnung aufgeht ... Doch da hustet die Frau Füchsin einmal kurz nur, achduwei, Hat das Schlüsselchen, das goldne, ausgekotzt schon, achduwei, Und schließt auf damit das Schloss, das schwere, schwarze, achduwei, Und schon öffnet sich die Eichentüre, achduwei, hei, hei, hei Also reinspaziert, Frau Füchsin, in den Kremlhundezwinger, Zu den Rüden, die da schlafen ihren Rüdenschlaf ... Der Saal fängt an mitzusingen: Zu den Rüden! Zu den Rüden! Wildes Zappeln in den vorderen Reihen, von hinten tönen Schreie, Schluchzen, Wehklagen. Ein paar 147
Sitze neben mir schlägt eine Dicke in teuren Klamotten ein Kreuz, singt u n d wiegt sich. Artamoscha streicht die Säge, dabei lässt er den Kopf so weit nach hinten fallen, dass der Adamsapfel hervorsticht: Zu den Rüden, die da träumen ihren Rüdentraum, Zu den Rüden, den gepflegten, wohlgenährten, Zu den Rüden. Jung und juckelig! Und sie zwicket sie mit ihrem Hurenzwick, Tanzt den Zwickezwack vor denen, achduwei, Was für n garst'ger Zwickezwack ... N u n fehlt nicht mehr viel, und der Saal explodiert. Ich fühle mich wie auf einem Pulverfass. U n d die Wackelburschen, diese Hornochsen, sitzen da und tun nichts ... Wie die Rüden zucken, achduwei, Wie sie gucken, achduwei, hei, hei, hei... An dieser Stelle klappt Artamoscha die Augen auf und macht eine Kunstpause, lässt den kristallenen Blick durch den Zuschauerraum gehen. Seine Säge wimmert auf. Und sie stürzen sich auf die Frau Füchsin drauf! Und sie ficken sie in ihrem Zwinger, ab die Post! Zwischen all der Hundescheiße, jo! In dem Eck, dem stinkenden, jo! jo! Und es macht ihr Spaß! Bitte-bitte gleich nochmal! Ach, je öfter, desto besser! Weil, das wird mir nie zu viel! Euch krieg ich doch alle satt und froh! 148
Bin zu jedem Spaß bereit! Scham? Was ist das? Kenn ich nicht! Ach, ihr geilen Hunde ihr! Ach, ihr geilen Hunde ihr! Ach, ihr geilen Hunde ihr! Mit rauer Stimme hat Artamoscha es hinuntergebrüllt, die Säge kreischt. Der Moment ist da, der Saal explodiert. »Gebt's ihr, der Schlampe! Der schamlosen!«, gellt es aus den vorderen Reihen; die einen bekreuzigen sich und spucken aus, die anderen schreien ach und weh, viele stimmen ein: »Ach, ihr geilen Hunde ihr!« Und da endlich erhebt sich der Anführer der Wackeren Burschen mit Spitznamen Rüssel und schmeißt eine faule Tomate nach dem Sänger. Die Frucht prallt dem Barden gegen die Brust. Augenblicklich, wie ein Mann erhebt sich die übrige Wackelburschenschaft, die ganze Saalmitte, und lässt einen Tomatenhagel auf Artamoscha niedergehen. Sekunden später ist seine schwarze Bluse rot. Der Saal ächzt auf. Rüssel aber brüllt, und zwar so, dass er rot anläuft: »Un-verr-schä-ä-ämtheit-t-t-! Eine Verleumdung der Gossuda-r-r-rin ist das!!!« Und alle Wackelburschen im Chor: »Verleumdung! Rufmord! Rebellion! Schuld und Sühne!« Der Saal sitzt vor Schrecken starr. Auch ich wage nicht zu atmen. Artamoscha sitzt auf seinem Bänkchen, über und über mit Tomaten beklebt. Und plötzlich hebt er die Hand. Richtet sich auf. Ein Anblick, der die Wackelburschen wie auf Kommando verstummen lässt. Nur Rüssel macht noch den Versuch weiterzubrüllen, aber so vereinzelt, wie das klingt, spüre ich im selben Moment, dass die Aktion gescheitert ist. 149
»Da habt ihr sie, die Kremlhunde!«, sagt Artamoscha laut und vernehmlich und zeigt mit dem roten Finger in die Mitte des Saals. Worauf sich eine weitere Explosion ereignet, der ganze Saal stürzt sich auf die Wackelburschen, sie werden aufgemischt, verwamst nach Strich und Faden. Natürlich setzen sie sich zur Wehr, aber vergebens. Zu allem Unglück haben sich diese Idioten in die Mitte platziert und sitzen nun in der Falle. Von allen Seiten wird auf sie eingedroschen. Artamoscha steht derweil auf der Bühne, rot bespritzt wie der Heilige Georgi, der Drachentöter. Jetzt drängt auch die Dicke, die neben mir gesessen hat, kreischend ins Gemenge: »Geile Hunde! Geile Hunde!« Alles klar. Ich stehe auf und gehe raus.
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ES GEHT NICHT IMMER alles glatt. Nicht immer ist unsere schwere und verantwortungsvolle Arbeit von Erfolg gekrönt. Ich hätte den Schauplatz vorher inspizieren müssen, die Burschen instruieren, vorwarnen. Aber dazu war keine Zeit gewesen, ich musste an der Trasse die Kohlen aus dem Feuer holen. Das habe ich dem Alten zu meiner Rechtfertigung gesagt. Eigentlich wollte ich Rüssel noch eins auf den Rüssel geben, damit es ihm eine Lehre ist, aber dann hat er mir leidgetan - er hat auch so genug abbekommen. Den Volkszorn. Nun ja. Dieser Artamoscha ist gehörig abgedreht, er spielt mit dem Feuer. Treibt es auf die Spitze. Höchste Zeit, ihn auszulöschen. Dabei hat das Schwein einmal als ein wahrhafter Volksbarde angefangen. Zuerst sang er die kanonischen alten russischen Bylinen: vom Recken Ilja Muromez, von Buslai und Solowej Budimirowitsch. Damit hat er es im ganzen Neuen Russland zu Ruhm gebracht. Und nicht schlecht verdient dabei. Zwei Häuser gebaut. Gönner in den höchsten Kreisen gefunden. So hätte er seines Lebens froh sein können und die Zuneigung seines Volkes genießen, aber nein - ihn hat der Hafer gestochen. Artamoscha gefiel sich auf einmal als Sittenwächter. Und dies auch noch in Bezug auf unsere Gossudarin. In die Wolken verstiegen, sozusagen. Was nun unsere Gossudarin angeht - das ist eine andere Geschichte. Und die ist bitter. Bedenkt man es recht, mit dem Blick aufs große Ganze, hat unser Gossudar mit ihr keinen guten Griff getan. Wahrlich nicht! Der eine dunkle Fleck auf der 151
Weste des Neuen Russland ist die Gemahlin des Gossudaren. Und dieser Fleck lässt sich weder auswaschen noch zukleistern, noch sonstwie liquidieren. Man kann nur Geduld haben, warten und hoffen ... Schwirr-klatsch-stöhn. Das rote Lämpchen am Faustkeil blinkt. Die Gossudarin! Wenn man vom Teufel spricht ... Der Herrgott verzeihe mir. Immer ruft sie an, sobald ich an sie denke. Das ist geradezu mystisch! Ich bekreuzige mich und gehe ran. Melde mich, den Nacken in Ehrfurcht gebeugt: »Ich höre, meine Gossudarin.« Ihr dickliches, energisches Gesicht mit dem Schnurrbärtchen über den lüsternen roten Lippen erscheint. »Komjaga! Wo steckst du?« Eine Stimme wie aus tiefster Brust. An ihr kann man hören, dass unsere Mamma eben erst erwacht ist. Schöne Augen hat sie, schwarz, mit samtenen Wimpern. Und dieser Augen Glanz ist allzeit heftig! »Unterwegs in Moskau, meine Gossudarin.« »Warst du bei der Praskowja?« »Jawohl, meine Gossudarin. Alles ist ausgeführt.« »Wieso rapportierst du nicht?« »Verzeiht, Gossudarin, ich bin eben erst gelandet.« »Dann flieg mal wieder los. Zu mir, aber hurtig!« »Zu Befehl.« Also wieder in den Kreml. Ich biege auf die Mjasnizkaja. Hier staut sich alles - Feierabendverkehr, ganz normal. Ich schalte den Staatshyperton ein, und prompt entsteht vor meinem Merin mit dem Hundekopf ein Tunnel, durch den ich zielstrebig bis zur Lubjanskaja brause, dort aber bleibe ich stecken, ein Scheißstau, der Herrgott verzeih, nichts geht mehr, ich muss mich gedulden. 152
Feiner Schnee rieselt vom Himmel, bleibt auf den Karossen liegen. Bepudert steht auch unser bronzener Maljuta, von Sorgen gebeugt, blickt wie immer streng unter seinen buschigen Brauen hervor, auf uns herab. Zu seiner Zeit gab es noch keine Staus - es sei denn, bei ihm stauten sich U n m u t und Zorn, dass die Ader schwoll. Am Kinderkaufhaus hängt ein riesiger Schirm mit bewegter Werbung für flauschige Fußlappen der Marke Swjatogor: Ein lockiger Bursche sitzt auf der Ladentheke, ein bildhübsches Mädchen im Kopfputz beugt vor ihm das Knie, in den H ä n d e n einen ladenneuen Fußlappen. Eine Balalaika klimpert, eine Harmonika schluchzt, der junge Mann streckt dem Mädchen seinen nackten Fuß entgegen. Das Mädchen umwickelt ihn mit dem Fußlappen, schiebt den Stiefel darüber. Stimme: »Fußlappen der Handelsgenossenschaft Swjatogor. Ihr Fuß fühlt sich wie in der Wiege!« Schnitt, eine geflochtene Wiege ist zu sehen, darin der in den Lappen gewickelte Fuß, schaukelnd, heiapopeia ... Stimme des Mädchens: »Wie in der Wiege!« Das geht einem doch irgendwie ans H e r z ... Ich stelle das Teleradio Russ an, ordere »Eine Minute russische Poesie«. Ein etwas gereizt wirkender junger Mann deklamiert: Nebelumflort die Au Birke, wundgehackt Erde, schwarz und nackt Der Frühling ist spät Axt, schartig und grau Der Riss in der Birke blutet und klafft Über die Klinge rinnender Saft Zur Frühmesse lädt 153
Einer von den Nachwuchsdichtern. Hat was. Stimmungsvoll ... Nur wieso der Birkensaft zur Frühmesse laden soll, leuchtet mir nicht ein. Zur Frühmesse rufen die Glocken, und basta. Ein Stück weiter vorne bemerke ich einen Verkehrspolizisten im leuchtenden Mantel, ich rufe ihn über Funk. »Wachtmeister, räum mir mal den Weg frei!« Zu zweit - ich mit dem Hypersignal, er mit seiner Kelle - gelingt uns der Durchbruch. Ich steuere in Richtung Iljinka, drängele mich durch den Rybni und die Warwarka zum Schönen Platz, passiere das Erlösertor und fege hinüber zu dem Gebäude, wo die Gemächer der Gossudarin liegen. Überlasse das Auto den Türhütern in himbeerfarbenen Kaftanen, eile durch das granitene Portal. Wächter in goldbetressten Livrees halten mir die erste Tür auf, ich stürze in die mit rosa Marmor ausgekleidete Diele, stoppe vor einer zweiten Tür: ein mattleuchtendes Viereck, durch das man das Dahinterliegende sehen kann. Diese Tür ist eine einzige, von der Decke zum Fußboden reichende Lichtschranke. Zu beiden Seiten stehen Kremlgardeleutnants und sehen durch mich hindurch. Ich kontrolliere Geist und Atmung, bevor ich durch die Leuchttür trete. Diesem fetten Strahl bleibt nichts verborgen - nicht Waffen noch Gift, noch böse Hintergedanken. Ich betrete die Gemächer unserer Gossudarin. Ihre imposante Zofe empfängt mich. »Die Gossudarin erwartet Euch«, sagt sie mit einer Verbeugung und führt mich durch die geräumige Wohnung, eine endlose Kette von Zimmern und Sälen. Die Türen gehen geräuschlos von selbst auf. Gehen ebenso geräuschlos wieder zu. Endlich stehen wir vor dem fliederblauen Schlafgemach der Gossudarin. Ich trete ein. Vor mir auf dem breiten Bett liegt die Gemahlin 154
unseres Gossudaren. Ich mache einen tiefen, ausführlichen Diener. »Grüß dich, Mordbube.« So tituliert sie uns Opritschniki immer. Es ist nicht etwa abwertend gemeint, bloß humoristisch. »Heil Euch, meine Gossudarin, Tatjana Alexejewna.« Ich hebe den Blick. Unsere Gossudarin ruht auf ihrem Lager in einem Nachthemd aus violetter Seide, passend zum zartlila Farbton des Zimmers. Ihr schwarzes Haar ist ein bisschen zerrauft, fällt schwer auf die üppigen Schultern. Die Daunendecke ist zurückgeschlagen. Auf dem Bett liegen ein japanischer Fächer, chinesische Jadekugeln, die man mit Hilfe der Finger einer Hand umeinander kreisen lässt, ein goldner Faustkeil, das schlafende Windspiel Katerina und ein Buch von Darja Adaschkowa: »Die unseligen Möpse«. In den molligen weißen Händen hält unsere Gossudarin eine goldene, mit Brillantsplittern gesprenkelte Tabaksdose. Ihr entnimmt sie gerade eine Prise Schnupftabak und stopft sie sich ins Nasenloch. Erstarrt. Schaut mich an mit ihren feuchten schwarzen Augen. Und niest. So heftig, dass die lila Quasten am Deckenleuchter erzittern. »Boah, ich sterbe ...« Die Gossudarin lässt ihren Kopf nach hinten auf die vier Kissen fallen. Die Zofe kommt, wischt ihr die Nase mit einem Batisttüchlein und bringt ein Gläschen Kognak. Ohne den fängt für unsere Gossudarin der Morgen nicht an. Und bei ihr ist Morgen, wenn für andere Leute Abend ist. »Lass die Wanne ein, Tanja!« Die Zofe geht hinaus. Die Gossudarin beißt nach dem Kognak in einen Zitronenschnitz, streckt mir einen Arm hin. Ich greife danach, er ist schwer und schlaff. Auf mich gestützt, erhebt sie sich vom Bett. 155
Klatscht schwer in die Hände und nähert sich einer fliederfarbenen Tür. Die Tür geht auf. Unsere Gossudarin schwebt hinein. Sie ist groß und beleibt, eine stattliche Erscheinung. Der Herrgott hat nicht gespart an ihr mit feister, weißer Fülle. Im Schlafgemach stehend, blicke ich unserer gewaltigen Gossudarin hinterher. »Was stehst du rum, komm rein!« Gehorsam folge ich ihr in das großzügige Badezimmer aus weißem Marmor. Zwei andere Helferinnen sind hier beschäftigt, bereiten das Bad vor, öffnen den Champagner. Mit dem schlanken Glas in der Hand setzt die Gossudarin sich auf den Abort. So ist es bei ihr Sitte - als Erstes einen kleinen Kognak, dann wird zum Champagner übergegangen. Die Gossudarin erledigt ihr Geschäft und nippt dabei am Glas. Dann steht sie auf. »Spann mich nicht auf die Folter! Erzähle.« Dabei hebt sie ihre weißen Arme in die Höhe. Blitzschnell ziehen ihr die Gehilfinnen das Nachthemd vom Leib. Die Augen niederschlagend, erhasche ich wieder einmal einen Blick auf unsere Gossudarin und staune, wie füllig und bleich sie doch ist. Das gibt es nicht noch einmal ... Über ein paar marmorne Stufen steigt sie hinab in die gefüllte Wanne. Setzt sich nieder. »Alles ausgeführt wie befohlen, meine Gossudarin. Noch heute Nacht wird es geschehen, hat Praskowja gesagt. Sie hat das Nötige in die Wege geleitet.« Die Gossudarin schweigt. Trinkt einen Schluck Champagner. Seufzt. Seufzt so schwer, dass der Schaum in der Wanne in Schwingung gerät. »Heute Nacht?«, fragt sie zurück. »Meint sie, nach eurer Zeitrechnung?« »Sehr wohl, meine Gossudarin.« 156
»Das hieße nach meiner Zeitrechnung ... zu Mittag. Na schön.« Sie seufzt ein neues Mal. Trinkt ihr Glas leer. Bekommt ein neues gereicht. »Was will die Seherin dafür?« »Baltischen Hering, Farnsamen und Bücher.« »Bücher?« »Jawohl. Für den Kamin.« »Ach so ...« Es fällt ihr wieder ein. Die Oberzofe tritt, ohne anzuklopfen, ein. »Meine Gossudarin, die Kinder sind da.« »Schon? Dann lass sie reinkommen.« Die Zofe entfernt sich und kehrt mit den zehnjährigen Zwillingen Andrej und Agafja zurück. Die Zwillinge kommen gerannt, fliegen der Mutter entgegen. Die Gossudarin erhebt sich in der Wanne, barbußig, die kolossalen Brüste mit den Armen bedeckend, lässt sich von den Kindern auf die Wangen küssen. »Guten Morgen, Mammilein!« Sie umhalst die beiden, ohne das Champagnerglas abzustellen. »Guten Morgen, meine Lieben. Ich bin heute ein bisschen spät dran. Vielleicht können wir ja zusammen frühstücken?« »Mama! Wir haben doch schon zu Abend gegessen!«, ruft Andrej und klatscht mit der flachen Hand auf das Badewasser. »Na, das ist ja fein«, sagt sie und wischt sich die Schaumflocken aus dem Gesicht. »Mammi, ich hab im Guojie* gewonnen. Ich hab das Baojian** gefunden!« * (chin.) Staatsgrenze. Chinesisches 4-D-Game, das im Neuen Russland nach den Ereignissen vom November 2027 populär wurde. ** (chin.) Schwert 157
»Haohanzi*!«, sagt die Gossudarin und gibt ihrer Tochter einen Kuss. »Mingming**.« Unsere Gossudarin spricht doch ein recht altmodisches Chinesisch. »Hab ich schon lange-lange-lange gewonnen!«, ruft Andrej und bespritzt seine Schwester mit Wasser. »Shagua***!«, ruft die Schwester und spritzt zurück. »Agafja, Andrej, sagt mal«, die Gossudarin runzelt die Stirn und wölbt ihre schönen schwarzen Brauen, während sie sich, die Arme immer noch vor den Brüsten, wieder in die Wanne sinken lässt, »wo steckt denn Papa?« »Papa ist bei den Soldis!« Andrjuscha zieht seine Spielzeugpistole aus dem Holster, zielt damit auf mich. »Piu-piu!« Der rote Visierstrahl findet meine Stirn. Ich lächele. »Peng!«, macht Andrjuscha und betätigt den Abzug. Das Kügelchen trifft mich an der Nasenwurzel. Prallt ab. Ich schenke dem künftigen Erben des Russländischen Staatswesens mein Lächeln. »Wo ist der Gossudar?«, fragt die Gossudarin den in der Tür stehenden Erzieher. »In der Kriegskanzlei, meine Gossudarin. Heute feiert das Andreaskorps sein Jubiläum.« »Aha. Das heißt, wieder keiner da, um mit mir zu frühstücken«, seufzt die Gossudarin und greift sich vom goldenen Tablett ein neues Glas Champagner. »Na von mir aus, verschwindet jetzt alle ...« * (chin.) kluges Kind ** (chin.) wunderbar *** (chin.) Dummkopf 158
Gemeinsam mit den Kindern und der Dienerschaft begebe ich mich zur Tür. »Komjaga?« Ich drehe mich um. »Frühstücke du mit mir!« »Zu Befehl, meine Gossudarin.«
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ICH WARTE AUF DIE GOSSUDARIN im kleinen Speisezimmer. Mir wird eine unerhörte Ehre zuteil: von unserer Herrin zu Tisch gebeten zu werden. In der Regel frühstückt die Gossudarin zu Abend wenn nicht mit dem Gossudar, so mit jemandem aus dem Engsten Kreis - Gräfin Borissowa oder Fürstin Wolkowa. Mit ihren zahlreichen Gnadenbrotempfängerinnen pflegt sie lediglich zu vespern - und dies weit nach Mitternacht. Das Abendbrot schließlich nimmt unsere Gossudarin bei Sonnenaufgang zu sich. Ich sitze am Frühstückstisch, eingedeckt mit goldenem Geschirr und Kristall, geschmückt mit weißen Rosen. Vier Diener in smaragdgrün-silbernen Kaftanen stehen längs der Wände bereit. Vierzig Minuten sind verstrichen, die Gossudarin lässt immer noch auf sich warten. Sie braucht lange, ihre Morgentoilette hinter sich zu bringen. Ich sitze da und denke über unsere Herrin nach. Sie hat es aus mancherlei Gründen schwer. Nicht nur, weil sie eine Frau und deswegen schwach ist. Sondern auch aus Gründen des Blutes. Unsere Gossudarin ist zur Hälfte Jüdin. Dagegen lässt sich nichts machen. Allein schon deswegen werden auf sie so viele Schmähschriften verfasst und Gerüchte in die Welt gesetzt - in Moskau und darüber hinaus in ganz Russland. Was mich betrifft, so habe ich um Juden nie viel Aufhebens gemacht. Auch mein seliger Vater war kein Judenhasser. Ein Spruch von ihm war, dass jeder, der länger als zehn Jahre Geige spielt, ganz automatisch zum Juden wird. Auch unsere Mama, Friede ihrer Asche, 160
hat sich um die Juden nicht weiter geschert, wobei sie meinte, für unseren Staat wären weniger die echten Juden das Problem als die falschen, also die gebürtigen Russen, die sich von ihnen einspannen lassen. U n d mein Großvater, der Mathematiker, hat, als ich seinerzeit als Halbwüchsiger keine Lust z u m Deutschlernen zeigte, ein selbstverfasstes kleines Gedicht rezitiert, das eine Parodie auf ein bekanntes von Wladimir Majakowski war, und es ging so: Ja, war ich ein Jude, vor Alter schon krumm, nicht schont' ich die müden Knochen und lernte Deutsch, und einzig darum, weil Hitler deutsch gesprochen. Freilich nicht alle waren den Juden so wohlgesonnen wie meine lieben Verwandten. Es kam zu Vorfällen, hin und wieder wurde Judenblut auf russländischer Erde vergossen. Das zog sich und glomm vor sich hin bis z u m Erlass des Gossudaren »Über die rechtgläubigen Namen«, demzufolge russländische Bürger, die nicht rechtgläubig getauft sind, auch keine geheiligten N a m e n tragen dürfen, nur solche, die ihrer Nationalität entsprechen. Worauf aus einem Boris nicht selten ein Boruch wurde, aus Viktor ein Agvidor und aus Lew - Leib. So gelang es unserem allweisen Gossudaren, die jüdische Frage in Russland endgültig und unwiderruflich zu lösen. Die klugen Juden nahm er unter seine Fittiche, die d u m m e n verzogen sich von allein. U n d es hat sich schnell gezeigt, dass die Juden für das Russländische 161
Staatswesen überaus nützlich sind. Unersetzbar insbesondere in Finanzdingen, in Handel und Diplomatie. Aber bei der Gossudarin liegt der Fall anders. Da geht es nicht so sehr um die Judenfrage. Sondern um die Reinheit des Blutes. Wäre die Gossudarin Halbtatarin oder -tschetschenin, hätte sie das gleiche Problem. Woran es nichts zu rütteln gibt. Und das ist gut so ... Die weiße Tür geht auf, und Katerina kommt hereingewetzt. Sie beschnüffelt mich, blafft zweimal, niest, wie Hunde es tun, und springt auf ihren Sessel. Ich aber stehe auf, blicke durch den von erstarrten Wächtern flankierten Türrahmen. Höre, wie jemand festen, gemessenen Schrittes naht - und es erscheint, im Rauschen der tiefblauen Seide ihres Kleides, die Gossudarin in der Tür. Groß, breit, stattlich. Den eingeklappten Fächer in der kräftigen Hand. Das prächtige, üppige Haar frisiert, mit goldenen Kämmen festgesteckt, in denen kostbare Steine schillern. Um den Hals trägt die Gossudarin einen Samtring mit Padischah-Diamant, umschlossen von Saphiren. Ihr herrisches Gesicht ist gepudert, die sinnlichen Lippen sind geschminkt, und die tiefliegenden Augen unter den schwarzen Wimpern haben den gewohnten Glanz. »Setz dich!«, befiehlt sie mir mit einem Wink des Fächers und nimmt selbst im Sessel Platz, den ein Diener ihr herangerückt hat. Ich setze mich. Ein Diener bringt eine Seemuschelschale mit feingehacktem Taubenfleisch, setzt sie vor Katerina hin. Der Hund schlingt das Fleisch, während die Gossudarin ihm über den Rücken streicht. »Iss, mein Augenstern.« Die Diener bringen Rotwein im goldenen Krug, füllen das Glas der Gossudarin. Sie nimmt es in ihre große Hand. 162
»Womit willst du mit mir anstoßen?« »Womit Ihr befehlt, meine Gossudarin.« »Einem Opritschnik steht es an, Wodka zu trinken. Gießt ihm einen Wodka ein!« Ich bekomme einen Wodka im Kristallglas gereicht. Lautlos tragen die Diener verschiedene Vorspeisen auf: Beluga-Kaviar, Krebsschwänze, chinesische Pilze, japanische Buchweizennudeln auf Eis, weichgekochten Reis, eingelegtes Gemüse. Ich ergreife mein Schnapsglas, erhebe mich und sage in großer Erregung: »Auf Euer Wohl, meine Gusso-... Gossuda-darin.« Vor Erregung stammele ich. Zum ersten Mal im Leben sitze ich mit der Gossudarin an einem Tisch. »Setz dich«, sagt sie und winkt mit dem Fächer ab, dabei nippt sie am Wein. Ich kippe den Wodka und setze mich wieder. Sitze da wie ein Ölgötze. So viel Schüchternheit hatte ich mir gar nicht zugetraut. Nicht mal vor ihm, dem Gossudaren, benehme ich mich so bedripst wie hier. Und von den Opritschniki bin ich bestimmt nicht der Genierlichste ... Die Gossudarin gibt nicht weiter acht auf mich, fängt bedächtig an zu essen. »Was gibt's Neues in der Hauptstadt?«, fragt sie. Ich zucke die Achseln. »Eigentlich nichts Besonderes, meine Gossudarin.« »Und uneigentlich?« Ihre schwarzen Augen schauen mich an, nageln mich fest, ich kann ihnen nicht entrinnen. »Uneigentlich ... auch nichts weiter. Wir haben einen Edelmann zerquetscht - das höchstens.« »Kunizyn? Weiß ich schon. Hab ich gesehen.« Wahrscheinlich kriegt unsere Gossudarin, kaum dass sie aufgewacht ist, die Verlautbarungsblase vor die Nase gehalten. Wie auch sonst? Die Staatsgeschäfte ... 163
»Was noch?«, fragt sie, damit beschäftigt, BelugaKaviar auf einen gerösteten Kanten Kleiebrot zu streichen. »Ach eigentlich ... ich weiß nicht«, brummele ich. Wieder dieser Blick. »Und wieso habt ihr euch bei Artamoscha so blöd angestellt?« Aha, von daher weht der Wind. Das weiß sie also auch schon. Ich atme tief ein. »Das habe ich verbockt, meine Gossudarin.« »Na bloß gut, dass du es so siehst«, sagt sie mit liebenswürdigem Blick. »Hättest du es auf die Wackeren Burschen geschoben, ich hätte dich verdreschen lassen, damit du's weißt. Hier auf der Stelle.« »Verzeiht, meine Gossudarin. Ich war von anderen Dingen in Anspruch genommen und kam zu spät, um das Unheil noch abwenden zu können.« »Kommt vor«, sagt sie und beißt in ihr Kaviarbrot, trinkt Wein nach. »Iss!« Na Gott sei Dank. Zu essen ist in meiner Situation besser, als zu schweigen. Ich angele mir einen Krebsschwanz und befördere ihn in den Mund, schiebe ein Stück Brot hinterher. Die Gossudarin kaut, trinkt. Plötzlich aber ein nervöses Lachen. Sie stellt das Glas ab, hört auf zu kauen. Ich erstarre. Der Blick ihrer Augen wird durchdringend. »Sag mir, Komjaga, warum hassen die mich alle so?« Ich sauge Luft in die Lungen - und stoße sie wieder aus. Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Aber ihre Augen sehen nun ohnehin durch mich hindurch. »Schön, ich liebe junge Gardeleutnants. Na und? Was ist daran so schlimm?« Ihre schwarzen Augen füllen sich mit Tränen. Sie wischt sie mit dem Taschentuch aus. 164
Ich nehme allen Mut zusammen. »Meine Gossudarin, es handelt sich um eine Handvoll gehässiger Renegaten«, sage ich. Sie starrt mich an wie die Tigerin eine Maus. Ich bereue es, den Mund aufgemacht zu haben. »Eine Handvoll Renegaten, von wegen!«, faucht sie. »Unser ganzes barbarisches Volk hasst mich, du Idiot!« Ich verstehe ihr Leid. Unser Volk ist ein harter Brocken. Man hat zu knabbern daran. Aber ein anderes hat Gott uns nicht gegeben. Ich schweige. Die Gossudarin denkt nicht mehr ans Essen, sie presst das Ende des zusammengelegten Fächers gegen ihre Lippen. »Sie sind nur neidisch. Das macht ihre Unterwürfigkeit. Speichellecken, das können sie. Aber aufrichtig lieben können sie uns Mächtige nicht. Und sie werden es niemals lernen. Bei der erstbesten Gelegenheit reißen sie einen in Stücke.« Noch einmal wage ich den Versuch. »Meine Gossudarin, seid ganz unbesorgt. Wir drehen diesem Artamoscha den Hals um. Wir zerquetschen ihn wie eine Laus.« »Was hat Artamoscha damit zu tun!«, brüllt sie und schlägt mit dem Fächer auf den Tisch, erhebt sich schroff. Auch ich springe auf. »Bleib sitzen!« Ich setze mich wieder hin. Der Windhund knurrt mich an. Die Gossudarin rennt im Zimmer herum, ihr Kleid rauscht bedrohlich. »Artamoscha! Als ob es um den ginge! ...« Sie geht auf und ab, redet vor sich hin. Bleibt stehen, wirft den Fächer auf den Tisch. »Artamoscha, ha! ... Nein, es sind die Weiber von diesen Provinzadligen, denen ich ein Dorn im Auge bin 165
und die die Gottesnarren auf mich hetzen. Und die wieder sind es, die das Volk irremachen. Von den Bojarenweibern über die heiligen Narren weht der Wüstenwind der Rebellion ins Volk. Nikola Wolokolamski! Andrej Sagorjanski! Afoni Ostankinski! - Was verbreiten die über mich, he? Sag schon!« »Das sind stinkende Köter, meine Gossudarin, die ziehen durch die Kirchen und säen üble Gerüchte aus ... Aber der Gossudar hat untersagt, sie anzurühren. Sonst hätten wir sie längst ...« »Was sie über mich reden, frage ich dich!« »Ach ... Sie behaupten, Ihr würdet nachts Euern Leib mit Chinabalsam einschmieren und Euch in eine Hündin verwandeln ...« »... und den Rüden hinterherhecheln, stimmt's?« »Jawohl, meine Gossudarin.« »Was erzählst du mir dann von Artamoscha? Er plappert nur nach, was schon in der Welt ist! Artamoscha! ...« Sie läuft umher und stößt wütende Tiraden aus. Ihre Augen sprühen. Zwischendurch greift sie nach dem Glas, nimmt einen Schluck. »Herrje«, seufzt sie, »du hast mir ganz den Appetit verdorben. Na gut, hau ab jetzt...« Ich stehe auf, verbeuge mich, gehe rückwärts in Richtung Tür. »Warte!« Ihr ist etwas eingefallen. »Was wollte die Praskowja nochmal von mir haben?« »Baltischen Hering, Farnsamen und Bücher.« »Bücher. Na, dann komm mit. Ehe ich es vergesse ...« Die Gossudarin rauscht aus dem Speisezimmer, die Türen schwingen vor ihr auf. Ich eile hinterher. Wir gehen bis zur Bibliothek. Der Bibliothekar der Gossu166
darin, ein bemooster Brillenbär, springt auf von seinem Stuhl, verbeugt sich. »Was wünschen meine Gossudarin?« »Terenti, k o m m mit.« D e r Bibliothekar trippelt ihr nach. Die Gossudarin tritt vor die Regale. Von denen es viele gibt. Mit U n mengen von Büchern. Ich weiß, dass unsere Gossudarin gern vom Papier liest. Beileibe nicht nur »Die unseligen Möpse«. Sie ist belesen. Ihr Blick wandert über die Borde. »Hier! Das brennt bestimmt gut und lange.« Sie gibt dem Bibliothekar einen Fingerzeig. Er nimmt A n t o n Tschechows »Gesammelte Werke« vom Regal. »Die schickst du Praskowja«, trägt die Gossudarin ihrem Bibliothekar auf. »Zu Befehl!«, nickt er, mit den Büchern hantierend. »Das war's!«, spricht unsere Mamma und macht kehrt, verlässt das Bücherdepot auf kürzestem Wege. Ich eile ihr nach. Sie schwebt zurück in ihre Gemächer. Die vergoldeten Türen schwingen auf. Da rasseln auf einmal Schellen, unsichtbare Balalaikas klimpern, und ein paar kräftige Männerstimmen heben zu singen an: Mit der Latte Siebenzoll Hau mir straff die Hucke voll! Mächtige Latte! Ha! Hucke aus Watte! Ha! ... Unsere Gossudarin wird durch die Meute ihrer Gnadenbrotempfänger begrüßt. Freudengeheul und -gekreiselt, Verbeugungen. Sind das viele! U n d wer und was nicht alles dazugehört! Komiker sind darunter und gelehrte N o n n e n , Wanderbettler, Märchenerzäh167
ler, von der Wissenschaft aufgepumpte Muskelmänner, Zauberer, Masseure, Gespielen, ewige Kindsfrauen, elektrische Honigkuchenpferde ... »Guten Morgen, Mamma!«, verschmilzt das Geheul zum Chor. »Guten Morgen, Brüder und Schwestern im Geiste!«, sagt die Gossudarin lächelnd. Zwei greise Komiker - Pawluschka, der Igel, und Duga, der Waldgeist - springen auf sie zu, fassen jeder einen Arm, küssen ihr die Hände ab. »Ma-a-acht! Ma-a-acht!«, kräht der mondgesichtige Pawluschka in einem fort, »Nieder mit Ölropa! Hoch lebe Eugasia!«, krächzt der struppige Duga dazwischen. Die anderen tanzen Ringelreihen, ziehen um die Gossudarin einen Kreis. Und ich sehe: Ihr Gesicht ist gleich viel freundlicher, die Brauen zucken nicht mehr, die Augen sind ein bisschen abgekühlt. »Ach, was tätet ihr ohne mich, Brüder und Schwestern!« Ein Greinen ist die Antwort: »Das wäre schrecklich, Mamma! Oh, wie schre-e-cklich!« Die Gnadenbrotempfänger rutschen vor ihrer Mamma auf den Knien. Ich stehle mich zum Ausgang. Sie bemerkt es. »Komjaga!« Ich halte inne. Sie winkt den Schatzmeister heran, entnimmt ihrer Geldbörse eine Goldmünze, wirft sie mir zu. »Für die Mühe.« Ich fange sie auf, verbeuge mich und gehe.
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ABEND. ES SCHNEIT. Mein Merin fährt durch Moskau. Ich halte das Lenkrad, meine Faust presst die Goldmünze. Sie versengt mir die Haut wie eine glühende Kohle. Es ist kein Lohn, sondern ein Geschenk. Als Geld nicht der Rede wert - ein Tscherwonez, das sind zehn Rubel -, aber nicht mit tausend Rubeln aufzuwiegen für mich ... Unsere Gossudarin löst in mir jedes Mal einen Sturm von Gefühlen aus. Ihn zu beschreiben fällt schwer. Es ist, als prallten zwei Tsunami aufeinander: der eine aus Hass, der andere aus Liebe. Ich hasse unsere Mamma, weil sie den Gossudaren in Verruf bringt, den Glauben des Volkes an die Macht untergräbt. Ich liebe sie für ihren Charakter, ihre Kraft, ihre Konsequenz und Unbeirrbarkeit. Und ... ihrer weißen, zarten, üppigen, maßlosen, einzigartigen Brüste wegen, die zu Gesicht zu bekommen, aus den Augenwinkeln, mir zum Glück manchmal gelingt. Solche unverhofften abendlichen Offenbarungen sind einfach unvergleichlich. Diese Brust zu sehen, und sei es noch so schräg und flüchtig ... das ist das Größte, meine Herren! Dass die Gossudarin den Gardisten vor uns Opritschniki den Vorzug gibt, ist freilich zu bedauern. Und an dieser Vorliebe wird sich kaum etwas ändern. Sei's drum. Gott ist ihr Richter. Ich schaue auf die Uhr: 21:42. Heute ist Montag. Seit neun tafeln die Opritschniki, ich komme zu spät. Was nicht weiter schlimm ist. Immer montags und donnerstags versammeln wir uns im Wohnhaus vom Alten zum Abendessen. Das ist auf der Jakimanka: die ehemalige Villa des Kaufmanns 169
Igumnow, wo sich fast ein ganzes Jahrhundert lang der französische Botschafter eingenistet hatte. Nach den bekannten Ereignissen im Sommer des Jahres 2021, als der Gossudar den Botschafter, der der Anstiftung zur Rebellion überführt worden war, außer Landes wies und die Ernennungsurkunde persönlich, vor den Augen der Öffentlichkeit, zerriss, hat die Opritschnina das Haus in Beschlag genommen. Anstelle von staksigen Franzosenbeinen kann man dort heutzutage unseren geliebten Alten in seinen Saffianstulpen herumstiefeln sehen. Jeden Montag und jeden Donnerstag veranstaltet er für uns ein Essen. Dieses schöne Haus mit dem vielen Zierrat, das so sehr an Russlands alte Zeiten erinnert, ist wie eigens für den Alten gebaut. Es hatte lange darauf gewartet, von ihm bezogen zu werden. Bis der Tag kam. Und das ist nun gut so. Vor dem Haus ist schon alles rot von unseren Merins. Wie Marienkäferchen um ein Stück Zucker scharen sie sich um die Villa. Ich parke und steige aus, nähere mich dem verzierten Säulenportal. Die Türsteher des Alten, raue Gesellen, lasseh mich wortlos ein. Ich werfe den Dienern meinen Kaftan in die Arme und renne die Treppe hinauf, auf die große Tür zu. Dort stehen noch einmal zwei Hüter in Weiß. Mit einer Verbeugung ziehen sie die Türflügel vor mir auf - und lautes Stimmengewirr bricht über mich herein. Die Tafel dröhnt wie ein Bienenkorb! Davon ist jede Müdigkeit sogleich wie weggepustet. Der große Saal ist wie immer rappelvoll. Hier sitzt die ganze Moskauer Opritschnina beisammen. Die Kronleuchter strahlen, Kerzen brennen auf den Tischen. Goldschimmernde Haarschöpfe, schwingende Ohrglöckchen. Welche Freude! Ich trete näher mit einer tiefen Verbeugung, wie es sich für den Zuspätkommenden 170
geziemt. Dann begebe ich mich zu meinem Platz, nahe dem Alten. Die langen Tische sind so aufgestellt, dass sie allesamt auf den einen stoßen, an dem der Alte sitzt und mit ihm die beiden Flügel - der rechte und der linke. Ich setze mich auf meinen angestammten Stuhl - es ist der vierte zur Rechten, zwischen Schelet und Prawda. Der Alte zwinkert mir zu, während er in eine Pirogge beißt. Zu spät zu kommen gilt hier nicht als Frevel: Alle haben wir viel um die Ohren, manchmal zieht sich das hin bis nach Mitternacht. Ein Diener bringt mir eine Schale mit Wasser, ich wasche mir die Hände, trockne sie ab. Sieh an, gerade wird ein neuer Gang aufgetragen! Die Diener bringen gebratenen Truthahn herein. Auf den Tischen stehen derweil nur Brot und Sauerkraut. Unter der Woche mag der Alte keine Delikatessen auf dem Tisch haben. Zu trinken gibt es nur Kagor in Krügen, Kwass und Quellwasser. Wodka zu trinken ist hier an Wochentagen nicht üblich. Prawda gießt mir einen Becher süßen roten Kagorwein ein. »Na, was ist, Bruder Komjaga, gut geschuftet?« »Allerdings, Bruder Prawda.« Ich stoße mit ihm an und auch mit Schelet, leere den Becher in einem Zug. Dabei fällt mir ein, dass ich schon lange nichts Richtiges zu mir genommen habe. Bei der Gossudarin sind mir die Bissen vor Aufregung im Halse steckengeblieben. Der Hunger treibt den Wolf aus dem Busch. Wurde Zeit, wirklich allerhöchste Zeit, dass der Diener mir jetzt eine Platte mit Truthahn, Bratkartoffeln und gedämpften Rüben vor die Nase stellt. Ich angele mir einen Truthahnschenkel und schlage die Zähne hinein: sehr gut! Im Ofen vom Alten bestens geraten. Schelet nagt schmatzend an einem Flügel und sagt: »Nirgends isst man besser als bei unserem Alten!« 171
»Das ist die heilige Wahrheit«, rülpst Prawda. »Alles, was recht ist«, brumme ich und schlinge das saftige Truthahnfleisch. »Unser Alter füllt uns den Magen, heizt uns das Blut und rückt uns den Kopf zurecht, außerdem verdient man bei ihm gut.« Dabei schiele ich zu ihm hinüber. Er, als könnte er unseren Beifall spüren, blinzelt verlegen, langt dabei wie immer in aller Gemächlichkeit zu. Hinter ihm, unserem Vater, fühlen wir uns sicher wie hinter einer steinernen Mauer. Und das ist gut so. Während ich esse, lasse ich den Blick am Tisch vom Alten entlangschweifen. An den Schmalseiten, wo die Flügel der Opritschnina enden, sitzen üblicherweise ein paar Ehrengäste. So auch heute: zur Rechten der breitschultrige Metropolit Kolomenski mit dem weißbärtigen Paraxiliarchen der Dreikönigskathedrale in Jelochowo, der zehn Pud schwere Vorsitzende der Allrussischen Gesellschaft für Menschenrechte mit dem Abzeichen vom Erzengel-Michael-Bund am Revers, der ewig lächelnde Pater Hermogenes, was der Beichtvater der Gossudarin ist, irgendein Nachwuchsbeamter aus der Handelskammer, der Handelsattache der Ukraine Stefan Goloborodko und der Unternehmer Michail T. Porochowschtschikow, ein alter Freund vom Alten; zur Linken wie gewohnt der für die Opritschnina zuständige Oberarzt Pjotr Wachruschew mit seinem beständigen Assistenten Bao Zai, der einäugige Kommandeur des Kremlgarderegiments, eine stattliche Erscheinung, sodann der Volksliedsänger Tschurilo Wolodjewitsch, der ewig missmutige Losjuk aus der Geheimen Kanzlei, der Russische Meister im Faustkampf Schbanow, der mondgesichtige Vorsitzende des Rechnungshofes Sacharow, Wasja Ochlobystin, der Leibjäger des Alten, der Regiments172
kommandeur Goworow und der Chefbademeister im Kreml, Anton Mamona. Jetzt erhebt der Alte seinen Becher und steht auf. Der Lärm verebbt. »Auf die Gesundheit unseres Gossudaren!«, verkündet er mit schallender Stimme. »Auf die Gesundheit des Gossudaren!«, rufen wir, uns gleichfalls erhebend, den Becher in der Hand. Wir leeren ihn bis zum Grund. Kagor ist kein Champagner, der trinkt sich nicht so flott weg. Er zieht den Mund zusammen. Wir ächzen, wischen uns den Bart, nehmen wieder Platz. Und just in diesem Moment, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erscheint an der Decke des Saales der regenbogenschillernde Rahmen mit dem ach so vertrauten schmalen Gesicht, dem dunkelblonden Kinnbart. Unser Gossudar! »Seid bedankt, Opritschnikü«, tönt seine Stimme durch den Saal. »Es lebe unser Gossudar, er lebe hoch!«, brüllt der Alte. Wir stimmen ein in-ein-dreifaches: »Hoch! Hoch! Hoch!« »Dran und drauf!«, erwidert der Gossudar lächelnd. »Dran und drauf! Dran und drauf! Dran und drauf!«, braust es wie eine mächtige Woge durch den Saal. Den Kopf im Nacken, den Blick zu ihm erhoben, sitzen wir da. Unsere Sonne wartet, bis Ruhe eingekehrt ist. Dann erkundigt sie sich mit warmer Stimme und väterlichem Blick: »Wie war der Tag?« »Schuld und Sühne! Ein guter Tag! Gottlob, mein Gossudar!« Einen Moment lang sagt unser Gossudar nichts. Lässt seine klaren Augen über uns gehen. 173
»Über eure Arbeit weiß ich Bescheid. Ich danke euch für euren Dienst. Ich baue auf euch.« »Dran und drauf!«, brüllt der Alte. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, brüllen wir. Die Saaldecke vibriert von unseren Stimmen. Der Gossudar schaut von ihr herab. »Ich brauche euren Rat«, sagt er. Im Nu sind wir still. Das sieht unserem Gossudaren ähnlich: Er hört auf unsere Ratschläge. Darin liegt seine große Weisheit und ebenso eine große Natürlichkeit. Das ist der Grund, weshalb unser Staat unter seiner Führung zur Blüte treibt. Wir sitzen da mit angehaltenem Atem. Unsere Sonne zögert noch ein wenig. Dann sagt sie: »Es geht um die Leihverträge.« Ah ja. Alles klar. Der chinesische Hemmschuh. Ein altes Ärgernis. Gordischer Knoten. Wie oft hat der Gossudar sich schon angeschickt, ihn zu zerhauen, und immer waren es die eigenen Leute, die ihm in den Arm fielen. Aber so ganz die eigenen eben doch nicht. Fremdkörper. Wenn nicht überhaupt Ausländer. »Vor einer halben Stunde hatte ich eine Unterredung mit Zhou Shen Ming. Mein Freund und Herrscher im Reich der Mitte zeigt sich beunruhigt über die Situation der Chinesen in Westsibirien. Ihr wisst, nachdem ich die Belehnung der dortigen Landkreise durch die Bezirke per Dekret untersagt hatte, schien sich die Lage zu bessern. Aber leider nicht für lange. Nunmehr lassen die Chinesen sich nicht mehr über die Landkreise anheuern, sondern über Siedlungen ohne Land in Form sogenannter Tanhu*-Lehen mit betrieblicher Anforderung, damit unsere Vollzieher sie als Minijob* (chin.) Begünstigung 174
ber registrieren dürfen und nicht als Steuerzahler. Sie machen sich das Gesetz >Über die vier Lasten< zunutze, und unsere Amtsleute, das könnt ihr euch vorstellen, werden von ihnen bestochen und registrieren sie eben als Zeitarbeiter mit Sack und Pack, nicht abgabepflichtig. Zeitarbeiter sind aber nichts anderes als Minijobber, nur nach den neuen Richtlinien. Am Ende bebauen sie ihre Parzellen, entrichten aber nur Abgaben für Geringverdienende, weil ihre Frauen und Kinder als befristete Mitesser geführt werden. Folglich werden ihre Abgaben über diesen ganzen steuerbefreiten Zeitraum nicht halbiert, sondern zwei zu drei gesenkt. Was bedeutet, dass China Halbjahr für Halbjahr ein Drittel an Abgaben einbüßt. Und das Tanhu-Lehen ermöglicht den bei uns lebenden Chinesen, ihr Heimatland zu beschummeln. Eingedenk der Tatsache, dass 28 Millionen Chinesen in Westsibirien leben, kann ich die Besorgnis meines Freundes Zhou Shen Ming sehr gut nachvollziehen. Pro Halbjahr entgehen China fast drei Milliarden Yuan. Ich habe heute mit Zwetow und mit Silbermann gesprochen. Beide Minister raten mir, das Gesetz >Über die vier Lasten< abzuschaffen.« Der Gossudar verstummt. Darum also geht es! Wieder ist das Lastengesetz einem von den Amtsschimmeln quer im Hals steckengeblieben. Weil die Spitzbuben ihren Gewinn nicht teilen wollen! »Darum möchte ich meine liebe Opritschnina fragen, was sie zu dieser Angelegenheit meint.« Rumoren im Saal. Was wir dazu meinen, ist ja wohl klar! Jeder möchte etwas dazu sagen. Aber da hebt unser Ältester die Hand, und das Rumoren verebbt. »Mein Gossudar, unsere Herzen beben vor Zorn!«, spricht der Alte. »Das Tanhu-Lehen haben nicht die Chinesen sich ausgedacht. Während Ihr, mein Gossu175
dar, so gütig seid, für die Interessen des uns in Freundschaft verbundenen Reiches der Mitte einzustehen, knüpfen die Feinde in den Bezirken Westsibiriens ihre heimtückischen Netze. Zusammen mit dem rosa Minister und den Kanzleien, der Auswärtigen und der Zollkanzlei, haben sie dieses Lehen ausgeheckt!« »Jawohl! Sehr richtig! Schuld und Sühne!«, ruft es von allen Seiten. Netschai springt auf, einer vom Stamm, der mit der Auswärtigen Kanzlei so seine Erfahrungen hat. »Schuld und Sühne, mein Gossudar! Wie wir im vorigen Jahr die Säuberung der Auswärtigen Kanzlei durchführten, da hat der unverbesserliche Sekretär Stockman auf der Folterbank gestanden, Zwetow höchstpersönlich habe in der Duma für die Vier Lasten geworben und den Geschworenen Dampf gemacht. Da fragt man sich doch, mein Gossudar: Wieso war dieser Hundesohn so scharf auf die Vier Lasten, he?« Sterna springt auf. »Mein Gossudar, mir scheint, die Vier Lasten sind ein korrektes Gesetz. Nur eines daran verstehe ich nicht: wieso ausgerechnet vier? Wo kommt diese Zahl her? Es könnten doch genauso gut sechs sein? Oder acht?« Großes Palaver. »Wäge deine Worte, Sterna!« - »Nein, er hat recht!« - »Vier oder nicht vier, das ist gar nicht die Frage!« - »Aber darum geht es doch gerade!« Swirid erhebt sich, auch ein alter, erfahrener Opritschnik. »Mein Gossudar, was machte es, wenn in dem Gesetz da eine andere Ziffer stünde? Meinetwegen nicht vier Lasten hätte eine Chinesensippe zu erbringen, sondern ihrer acht? Würden sich die Abgaben desderwegen auf das Doppelte erhöhen? Nein! Und wieso nicht? Na, 176
weil sie sich nicht erhöhen dürften! Die Beamten täten es verhindern! So sieht's aus!« Neues Palaver. »Jawohl!« - »Ins Schwarze getroffen, Swirid!« »Nicht in China sitzt der Feind, sondern in den Kanzleien!« Hier kann ich nicht länger an mich halten. »Mein Gossudar! Die Vier Lasten sind ein korrektes Gesetz, aber es wird falsch hingebogen: Weil die Vollzieher nicht auf betriebliche Anforderungen aus sind, sondern auf schwarze Verschreibungen. Dafür kommt das Gesetz ihnen zupass!« Der rechte Flügel stimmt mir zu. »Richtig, Komjaga! Am Gesetz liegt es nicht!« Widerspruch vom linken Flügel. »Ach was, das hat nichts mit den Verschreibungen zu tun, das Gesetz ist der Haken!« Buben vom linken Flügel springt auf. »Der Chinese würde mit Leichtigkeit auch sechs Lasten schultern! Und Russland hätte was davon! Man muss das Gesetz umschreiben, mein Gossudar, die Abgaben müssen erhöht werden, dann kämen die nicht mehr drauf, sich anderweitig zu verdingen - die hätten gar nicht mehr die Zeit, den Rücken zu strecken!« Getöse. »Stimmt!« - »Stimmt überhaupt nicht!« Jetzt steht Potyka auf - jung noch, aber wenn es drauf ankommt, mit allen Wassern gewaschen. »Mein Gossudar, ich denke so: Käme es zu einer Steuererhöhung, sagen wir, auf sechs Lasten oder acht, dann könnten die Chinesen mit ihren großen Sippen drauf verfallen, sich zu teilen und zu zerdröseln, sie ließen sich zu je zweien oder dreien registrieren, um die Abgaben zu drücken. Und dann sehen sie zu, dass sie 177
sich verdingen - aber nicht mehr in Minijobs, sondern als ledige Mitesser. Dann erlaubt das Gesetz ihnen, die halbe Steuerlast an ihren Dienstherrn abzutreten. Der leistet zwei Steuern und ist von der dritten befreit, wenn er ein Haus baut, das wird er an die Chinesen verkaufen. Da ziehen die ein mit Sack und Pack und müssen Steuern zahlen. Und wenn so ein Chinese dann noch eins unserer Weiber ehelicht, dann bleibt die Abgabe im Lande, dann ist er nämlich Bürger von Russland!« Geraune und Gerede. Ein Schlaufuchs, dieser Potyka! Sieht den Dingen auf den Grund. Nicht umsonst hat er, bevor er zur Opritschnina kam, beim Zoll in Fernost gedient. Der Alte haut mit der Faust auf den Tisch, so entzückt ist er von dem Gehörten. Der Gossudar schweigt. Schaut freundlich von der Decke herab mit seinen graublauen Augen. Langsam kriegen wir uns wieder ein. Stille breitet sich aus im Saal. Und dann spricht der Gossudar. »Gut. Ich habe eure Meinungen in dieser Sache gehört. Freut mich immer wieder zu erleben, dass meine Opritschnina nicht auf den Kopf gefallen ist. Die Entscheidung zum Gesetz über die Fronen werde ich morgen fällen. Heute aber verfüge ich etwas anderes: Die Zollämter der Landkreise sind der Säuberung zu unterziehen.« Ein Begeisterungssturm bricht los. Gott sei Dank! Endlich geht es den westsibirischen Schnapphähnen an den Kragen! Wir springen auf, reißen das Messer aus der Scheide. »Dran und drauf! Säu-be-rung!«, rufen wir. »Dran und drauf! Säu-be-rung! Säu-be-rung!!« Mit Schwung stoßen wir unsere Messer in die Tische, klatschen in die Hände, dass die Kronleuchter zittern. 178
»Dran und drauf! Kehre, Besen!« »Dran und drauf! Kein Federlesen!« »Dran und drauf! Der Dreck muss weg!« »Ausmisten den Stall!« Das war der rollende Bass des Alten. »Ausmisten! Ausmisten!«, stimmen wir ein. Wir klatschen, bis die Handflächen brennen. Derweil ist das Antlitz des Gossudaren verschwunden. Der Alte hebt den Becher. »Es lebe unser Gossudar! Dran und drauf!« »Dran und drauf! Dran und drauf!« Wir trinken und setzen uns wieder. »Gott sei Dank, dass es für unsereins mal wieder was zu tun gibt!«, krächzt Schelet. »Wird auch Zeit!«, sage ich, während ich das Messer wegstecke. »In den Zollämtern wimmelt es nur so von Maden!«, ruft Prawda und schüttelt angewidert seinen goldenen Schopf. Wieder ist der Speisesaal von Stimmen erfüllt. Am Tisch vom Alten wird angeregt diskutiert. Der dicke Vorsitzende der Menschenrechtsgesellschaft schlägt die schwammigen Patschhände zusammen. »Meine Herren! Wie lange soll unser großes Russland noch vor China das Knie beugen und im Staub kriechen? Nicht anders als in den wirren Zeiten, da wir vor dem dreckigen Amerika zu Kreuze krochen, buckeln wir jetzt vor dem Reich der Mitte! Und unser Gossudar sorgt sich, die Chinesen könnten zu viel Steuern zahlen!« Tschurilo Wolodjewitsch stößt ins gleiche Hörn. »Recht hast du, Anton Bogdanytsch! Sie überschwemmen unser schönes Sibirien, und wir sollen uns 179
Gedanken über ihre Abgaben machen! Sollen sie ruhig noch mehr zahlen!« »Die Güte unseres Gossudaren kennt wirklich keine Grenzen«, sagt der Saunameister Mamona und wiegt das kahle Haupt. »Die Güte unseres Gossudaren ist Futter für die Hyänen an den Grenzen. Dieses räuberische Gesindel ist unersättlich!«, sagt der Paraxiliarch und streicht sich den Graubart. Unser Alter beißt von einem Truthahnschenkel ab und kaut, dabei hält er den Schenkel in die Höhe. »Was glaubt ihr, wo zum Beispiel das hier herkommt?« »Von drüben, Ältester!«, sagt Schelet und lacht. »Genau. Von drüben! Und nicht nur das Fleisch. Auch das Brot, das wir essen, kommt aus China.« »Und die Merins, die wir fahren!«, grinst Prawda. »Und die Boeings, in denen wir fliegen!«, wirft Porochowschtschikow ein. »Und die Gewehre, mit denen unser Gossudar auf Entenjagd zu gehen beliebt!«, nickt der Jäger. »Und die Betten, in denen wir Kinder machen!«, ruft Potyka vorlaut. »Und die Kloschüsseln, in die wir k... Auch aus China!«, füge ich hinzu. Alles lacht. Der Alte erhebt weise den Zeigefinger. »So ist es! Und da die Lage nun einmal so ist, gehört es sich, mit China Frieden und Freundschaft zu halten, anstatt herumzustänkern. Unser Gossudar ist weise und sieht der Sache auf den Grund. Und du, Anton Bogdanytsch, willst ein Staatsmann sein und führst so oberflächliche Reden!« »Ich finde ja nur, es ist kein Ruhmesblatt für unser edles Reich!«, sagt der Vorsitzende und wirft den Kopf 180
so ungestüm hin und her, dass sein Dreifachkinn wie Sülze schwabbelt. »Unser Reich vergeht schon nicht, keine Angst. Die Hauptsache ist, wie unser Gossudar sagt, dass jeder an seinem Platz dem Wohl des Vaterlandes dient! Stimmt's oder hab ich recht?« »Jawohl!«, bekräftigten wir. »Und wenn es so ist, dann möge Russland lange leben!« »Es lebe Russland! Dran und drauf! Hoch lebe Russland!« Wieder sind alle aufgesprungen. Die Becher fahren scheppernd zusammen. Wir sind noch am Trinken, da folgt schon der nächste Spruch. »Auf unseren Ältesten! Dran und drauf!« »Dran und drauf! Dran und drauf!« »Ein Hoch auf den geliebten! Heil dir, Ältester! Erfolg im Kampf gegen den Feind! Allzeit Mumm! Und ein scharfes Auge!« Wir trinken auf unseren Anführer. Der sitzt da und kaut, spült den Kagor mit Kwass nach. Zwinkert uns zu. Und hakt urplötzlich die beiden Zeigefinger ineinander. Saunafreuden! Hoho! Alle Wetter! Das Herz tut einen Sprung. Wach ich oder träum ich? Aber nein, es ist so: Der Alte hält die Zeigefinger verhakt und zwinkert in die Runde. Wen es angeht, der versteht das Zeichen. Das nenne ich eine Überraschung! Eigentlich ist Samstag Saunatag, und längst nicht jeder. Mein Herz klopft stürmisch, ich schaue Schelet und Prawda an: Auch sie sind bass erstaunt. Rutschen auf ihren Stühlen herum, ächzen, kratzen sich, zwirbeln die Bartenden. Posocha zwinkert mir zu und grient. 181
Alle Müdigkeit ist sogleich wieder verflogen. Es geht in die Sauna! Ich blicke auf die Uhr: 23:12. Noch achtundvierzig Minuten müssen wir uns gedulden. Kein Problem. Gemach, Komjaga! An der Geduld erkennt man den Mann. Und das ist gut so.
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DIE UHR IM SAAL schlägt Mitternacht. Die Abendtafel der Opritschnina ist aufgehoben. Alles erhebt sich. Mit mächtigem Organ dankt der Alte dem Herrgott für das Mahl. Wir schlagen das Kreuz und verbeugen uns. Dann begeben sich alle zum Ausgang. Das heißt: nicht alle. Die Nächsten - oder wie wir sie noch nennen: die Erlesenen - bleiben. Ich gehöre dazu. Das Herz schlägt vor Erwartung im Halse ... Wie sehr genieße ich dieses Vorgefühl! Im leer gewordenen Saal, in dem die Dienerschaft hin- und herhuscht, sind die beiden Flügel sitzen geblieben, dazu die Hellsten unter den Jüngeren, der hoffnungsvolle Nachwuchs: Ochlop, Potyka, Komol, Jolka, Awila, Obdul, Warjony und Igla. Wie handverlesen sitzen sie da: Milch und Blut, goldblonde Feuerköpfe. Nun steht der Alte auf und geht aus dem großen Saal in den kleinen hinüber. Wir ihm nach: erst der rechte Flügel, dann der linke, dann die Jungen. Die Diener schließen hinter uns die Tür. Der Alte geht zum Kamin mit den drei bronzenen Recken, zieht an Ilja Muromez' Streitkeule. Neben dem Kamin öffnet sich in der Wand ein Spalt. Der Alte steigt als Erster dort hinein, wir - streng nach Rangordnung - hinterdrein. Kaum bin ich drin, weitet mir der Badestubengeruch die Nüstern. Dieser Geruch macht mich schwindlig, das Blut pocht in den Schläfen wie mit kleinen Silberhämmern. Es geht in die Banja vom Alten! Wir steigen die schummrige Steintreppe hinab, tiefer und immer tiefer. Jeder Schritt dorthin ist ein Geschenk, ist pure Vorfreude. Dabei frage ich mich immer 183
noch, wie der Alte auf die Idee kommt, heute einen Saunaabend zu veranstalten? Die Freuden nehmen kein Ende! Erst der Genuss der goldenen Fischlein, und nun auch noch das: gemeinsam schwitzen. Licht flammt auf, die Tür zur Umkleide ist aufgegangen. Die drei persönlichen Bademeister des Alten begrüßen uns - Iwan, Sufar und Zao. Alle drei alt und erfahren genug, um Vertrauenspersonen zu sein. Dem Charakter nach verschieden, verschiedenen Blutes auch, und jeder packt anders zu. Gemein ist den dreien, dass jeder ein Gebrechen hat - Sufar und Zao sind stumm, Iwan ist taub. Das ist nicht nur für den Alten klüger, sondern auch für sie selbst: Die Bademeister der Opritschniki haben so einen bessren Schlaf und ein längeres Leben. Wir lassen uns nieder, legen die Kleider ab. Die Bademeister helfen ihrem Herrn beim Ausziehen. Währenddessen, um nicht unnötig Zeit zu verlieren, ergreift der Alte das Wort. »Zur Sache. Wer hat was zu berichten?« Die vom linken Flügel legen vor: Wosk und Sery haben den Kämmerern im Schatzhof endlich das unterirdische Kitai-Gorod abgeknöpft, die Baustelle ist jetzt komplett in unserer Hand. Netschai hat zwei Anzeigen gegen Graf Obolujew dabei, Buben das Geld für einen abgekauften Fall, Baldochai hat sich in Amsterdam von Rechts wegen mit der russischen Gemeinde angelegt und schwarze Verschreibungen mitgebracht, Samosja bittet um Geld in seinem persönlichen Schadensfall, er hat das Auto eines Strelitzen zu Klump gefahren. Ohne ein Wort des Vorwurfs gibt der Alte ihm fünfhundert Rubel in Gold. Wir vom rechten Flügel waren nicht ganz so tüchtig heute: Mokry hat sich mit den Händlern um den Ver184
gnügungspark Odinzowo gezofft, vorerst ergebnislos; Posocha war bei der amtlichen Folter einiger krimineller Luftschiffer aktiv zugegen; Schelet hat die Zeit in der Auswärtigen versessen, Jerocha ist wegen regulärer Gasgeschäfte nach Urengoi geflogen; Prawda hat Sicherheitszonen angelegt und einem Geächteten die Wohnung abgefackelt. Als Einziger habe ich Beute gemacht: »Hier, Ältester, sind zwoeinhalb. Die Kosiowa hat einen halben Fall abgekauft.« Der Alte nimmt das Säckchen entgegen, wägt es in der Hand, bindet es auf, zählt zehn Goldrubel ab und händigt sie mir aus, als zustehenden Anteil. Und zieht die Bilanz. »Ein einträglicher Tag.« Es gibt andere im Fahrtenbuch der Opritschnina: Festtage, üppige Tage, heiße Tage, aufwändige, abträgliche und fiese Tage, so nennen wir sie. Die Jungen sitzen dabei und lauschen, hier lernen sie was. Geld und Dokumente verschwinden in dem weißleuchtenden Quadrat im alten Mauerwerk. Derweil ziehen die Bademeister dem Alten die Hosen aus. Der Alte klatscht sich auf die nackten Knie. »Ich hab noch eine Neuigkeit für euch, meine Herren Opritschniki. Graf Urussow ist nackent.« Wir sitzen sprachlos da. »Nanu? Wie das??«, bekommt Baldochai als Erster den Mund auf. »Halt eben so«, sagt der Alte und kratzt sich die schweren neuen Klöten. »Auf Erlass des Gossudaren aus allen Ämtern entlassen, Konten gesperrt. Aber das ist noch nicht alles.« Der Kommandeur mustert uns mit gespanntem Blick. 185
»Anna Wassiljewna hat die Scheidung von Graf Urussow eingereicht.« Ach. Das ist einmal eine Neuigkeit. Die Tochter des Gossudaren! »Fick deine Mutter!«, entfährt es mir. Im nächsten Moment prallt die Faust des Alten von rechts gegen meinen Unterkiefer. »Hüte deine Zunge!« »Entschuldige, Ältester, der Teufel hat mich geritten, da ist mir das rausge...« »Fick deine, das kommt dich billiger!« »Du weißt doch, dass meine Mutter tot ist«, versuche ich Mitleid zu heischen. »Fick sie im Grab!« Ich reibe mir die geprellte Kinnlade und schweige. »Den Ungeist des Fluchens werde ich euch noch austreiben, verlasst euch drauf! Wer seine Lippen mit Mutterflüchen verunziert, wird bei der Opritschnina nicht alt!« Wir sitzen kleinlaut da. »Wo war ich stehengeblieben?«, fragt der Alte. »Ah ja, des Gossudaren Töchterlein soll die Scheidung eingereicht haben. Ich vermute, der Patriarch wird den Teufel tun, darauf einzugehen. Aber der Moskauer Metropolit vielleicht doch.« Vielleicht. Sehr wahrscheinlich sogar. Überhaupt kein Problem! Das Gefühl haben wir alle. Und dann wird Urussow ganz und gar nackent sein. Splitternackent, sozusagen. Wahrlich geschickt, wie unser Gossudar seine Innenpolitik einfädelt! Vom familiären Standpunkt aus hätte er das Schmähgedicht nicht weiter ernst nehmen müssen - was kann es ihm schon anhaben? Wenn man bedenkt, was Staatsfeinde im Untergrund so zusammenkritzeln ... Und es handelt sich ja doch - Schmach hin, 186
Verfehlung her - um seinen Schwiegersohn, den Gemahlen des geliebten Töchterleins! Betrachtet man das Ganze jedoch aus staatsmännischer Sicht, dann ist die Entscheidung genial. Ein Coup! Nicht umsonst spielt der Gossudar am liebsten Schach oder Stockschießen. Er hat seine Kombination viele Züge vorausberechnet. Hat im rechten Moment kräftig Schwung geholt und sein Wurfgerät gegen die Seinen geschleudert. Den gar zu protzigen Schwiegersohn aus dem Engsten Kreis herausgekickt. Und damit zum einen bewirkt, dass die Liebe des Volkes zu ihm sich verdoppelt und verdreifacht hat. Zum Zweiten seinen Engsten eingeschärft, nur ja nicht über die Stränge zu schlagen. Zum Dritten den Beamten den Rücken gestrafft: Seht her, so muss ein Staatsmann handeln! Und nicht zuletzt auch uns Opritschniki ein Zeichen der Ermunterung gegeben: Es gibt in Russland niemanden, der unantastbar ist. Es kann und darf ihn nicht geben. Und das ist gut so. Die beiden Flügel sitzen sich gegenüber, wiegen die Köpfe und schnalzen mit der Zunge: Tz-tz-tz! Urussow - nackent! Nicht zu fassen! Na, geschieht ihm recht. Ist Moskau auf der Nase rumgetanzt! Hat sich im Glanz des Gossudaren gesonnt ... Staub aufgewirbelt, Leute aufgemischt. Drei Rolls-Royce hat er gefahren ... Nein, wirklich, alles, was recht ist: drei RollsRoyce! Einen vergoldeten, einen versilberten und einen platinierten! »Und was wird er fürderhin fahren?«, fragt Jerocha. »Einen lahmen elektrischen Stuhl!«, erwidert Samosja. Alles grölt. »Und damit nicht genug der Neuigkeiten!«, sagt der Alte und erhebt sich - im Adamskostüm. Wir horchen auf. 187
»Urussow wird gleich hier sein. Er kommt in die Banja. Will mit uns schwitzen und um Beistand flehen.« Wer schon gestanden hat, setzt sich wieder hin. Das schlägt dem Fass den Boden aus! Urussow kommt zum Alten? Obgleich, nüchtern besehen: Wo sollte er auch sonst unterzukriechen versuchen - jetzt, wo er nackent ist? Aus dem Kreml hat ihn der Gossudar rausgeschmissen, die Geschäftspartner lassen ihn fallen wie eine heiße Kartoffel, die Beamten ebenso. Die Kirche wird ihn auch nicht in Schutz nehmen, der Unzucht wegen. Buturlin? Die beiden konnten sich noch nie riechen. Die Gossudarin? Wird von der Stieftochter wegen ihres »lasterhaften Lebenswandels« verachtet und hasst sie dafür - erst recht deren Gatten, selbst wenn er nun schon ein »Ex« ist. Nach China ist dem Grafen der Weg versperrt, weil Zhou Shen Ming ein Freund des Gossudaren ist, und ohne ihn geht gar nichts. Was bleibt dem Grafen also übrig? Soll er auf seinem Landgut sitzen und warten, bis wir mit unseren Besen anrollen? Drum hat er in seiner Verzweiflung beschlossen, dem Alten die Füße zu küssen. Goldrichtig! Ein Nackenter gehört in die Banja. »So sieht's aus im Freudenhaus«, fasst der Alte zusammen. »Und jetzt wird geschwitzt!« Der Alte geht voran ins Innere der Banja - wir, nackt allesamt wie Adam im Garten Eden, heften uns an seine Fersen. Die Banja vom Alten macht was her: eine Säulenhalle mit Gewölbedecke, Mosaikfußboden aus gediegenem Marmor, geräumiges Tauchbecken, bequeme Liegestühle. Aus dem Schwitzraum duftet es schon nach Hefe der Alte liebt Aufgüsse mit Kwass. Und schon kommt sein Kommando: »Rechter Flügel!« 188
In seiner Banja hat der Alte uneingeschränkt das Sagen. Wir streben in die Schwitzkammer. Dort wartet Meister Iwan in Filzkappe und Handschuhen, mit zwei Besen in Händen - einer aus Birken-, der andere aus Eichenruten. Und es beginnt der Ringelreigen: Wir strecken uns auf den Bänken aus, der taube Iwan gießt auf und geht sodann ächzend daran, die Opritschniki mit seinen Besen abzubläuen, zwischendurch gibt er - auffällig lauthals - seine Schnurren und Possen zum Besten. Ich liege mit geschlossenen Augen da. Atme den Dampf, harre ergeben meines Schicksals. Und muss nicht lange harren: Fitsch!, pitsch!, zischt es mir brennend über Rücken, Arsch und Beine. Iwan hat eine sagenhafte Ausdauer im Saunascharmützel - bevor ein Rücken nicht in helllichten Flammen steht, gibt er nicht auf. Doch übertreiben sollte man es damit hier beim Alten auch nicht, es warten ja noch andere Freuden. Bei deren Vorstellung mir selbst hier in der Schwitzkammer ein kalter Schauer durch die Lenden rieselt. Iwan peitscht sich eins und schwadroniert dabei: Erbsendreschen, Bohnenbrechen Hau'n und Stechen, Feinde schwächen! Europa trommeln wir den Marsch Auf des Opritschniks blankem Arsch! Oder: Mit Pfefferkraut und Fliegendreck Kriegt der Opritschnikhintern Zunder. Den Buckel bohnern wir mit Speck, Und Europa rutscht ihn runter!
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Iwans Sprüche sind alt, er selber ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Inzwischen ist in Europa kaum noch wer, der Russland den Buckel runterrutschen könnte. Geeignete Kandidaten sind jenseits der Westmauer nicht mehr zu rinden. Europa, Agenors entführtes Töchterlein, hat den Löffel abgegeben, dort krauchen nur noch ein paar arabische Cyberpunks durch die Ruinen, und denen geht Europa nun wirklich am Arsch vorbei ... Eichenlaub raschelt und zischelt über meinem Ohr, Birkenlaub kitzelt die Fußsohlen: »Fertig!« Ich krieche von der Pritsche, um sogleich in Sufars zupackende Hände zu geraten: Jetzt ist er an der Reihe. Packt mich, huckt mich auf wie einen Mehlsack, schleppt mich aus der Kammer. Und wirft mich ab aus vollem Lauf - ins kalte Becken. Puh, das zieht rein! ... Beim Alten ist wieder mal alles eins a: der Dampf brühheiß und das Wasser eisig. Es greift dir an die Knochen. Ein paar Schwimmzüge, und ich komme zu mir. Aber Sufar gönnt keine Atempause - zerrt mich hoch, schmeißt mich auf die Pritsche, springt mir auf den Rücken und fängt an, auf mir herumzusteigen, dass die Wirbel knacken. Tatarische Füße gehen auf einem russischen Rücken spazieren. Und zwar geschickt nichts geht kaputt dabei, nichts wird gequetscht. Wie gut, dass unser Gossudar es vermocht hat, all die Völker Russlands unter seinen mächtigen Fittichen zu vereinen: Tataren und Mordwinen und ... Baschkiren und ... Juden und ... Tschetschenen und ... Inguscheten und ... Tscherkessen und ... Tscheremissen und ... Ewenken und ... Jakuten und ... Karelier und ... Korjaken und ... Osseten und ... Tschuwaschen und ... Kalmücken und ... Burjaten und ... Udmurten und ... die Tschuktschen, diese Unschuldslämmer, und ... noch so viele, viele andere ... 190
Sufar schwappt Wasser über mich und reicht mich an Zao weiter. Und schon sitze ich, liege halb in der Waschbütte, schaue an die hübsch bemalte Decke und lasse mich vom Chinesen waschen. Seine flinken, weichen Hände gleiten über meinen Leib, reiben wohlriechenden Schaum in die Kopfhaut, gießen Duftöle über den Bauch, lassen die Finger über die Schenkel wandern, reiben die Waden. Keiner versteht eine Waschung so vorzunehmen wie der Chinese. Dort wissen sie mit dem menschlichen Körper umzugehen. Über mir an der Decke ist der Garten Eden dargestellt, mit Vögeln und allerlei Getier, das sämtlich Gottes Stimme hören kann. Der Mensch kommt in diesem Garten nicht vor - er ist noch nicht erschaffen. Das Paradies zu betrachten und dabei gewaschen zu werden ist angenehm. Etwas Langvergessnes regt sich in deiner Seele, unter dem Speck der Zeit... Zao spritzt Wasser auf mich aus einem Lindenholzkübel und hilft mir aufzustehen. Nach so einer chinesischen Waschung ist man rüstig und bereit. Ich gehe zurück in den Hauptraum. Hier finden sich allmählich die wieder ein, die das russisch-tatarisch-chinesische Fließband hinter sich haben. Mit blanken, rosigen Leibern fläzen sie in den Stühlen, süffeln nichtalkoholische Getränke und werfen sich träge Worte zu. Jetzt sind auch Schelet und Samosja fertig mit Schwitzen, und Mokry* macht seinem Namen alle Ehre, Wosk plumpst ächzend auf seine Liege, Jerocha schnauft dankbar und zufrieden, Tschapysch und Bubno schlürfen gierig Kwass in sich hinein und erwachen zu neuem Leben. So eine Banja eint doch gewaltig! Hier sind alle gleich - Rechte wie Linke, Alte wie Jun* (russ.) der Nasse 191
ge. Pitschnass und zerzaust die goldblonden Schöpfe, die Zungen lose: »Samosja, sag mal, wo bist du dem Obersten denn reingefahren?« »In die Seite gerauscht beim Abbiegen von der Ostoshenka. Die Strelitzensocke war zu feige, auszusteigen, stell dir vor. Hinterher kamen seine Leute mit dem Quadrat und der gläsernen Hand, der Schutzmann ist eingeknickt. Ich bin im Guten nicht durchgekommen, und mit dem Schläger fuchteln wollte ich nicht ...« »Brüder, auf der Marossejka hat 'ne neue Kneipe aufgemacht: das Ambrosia. Zwölf Sorten Kissel, Wodka an Lindenblütenknospen, Kaninchen mit Nudeln, und hübsche Sängerinnen haben sie auch ...« »Schon gehört? Zur Butterwoche will der Gossudar unsere Spitzensportler beschenken: Die Gewichtheber kriegen jeder einen wasserstoffbetriebenen Merin, die Stockschüzen ein fettärschiges Motorrad und die Bogenschützinnen einen lebendgebärenden Pelzmantel ...« »... jedenfalls, die Schweine hatten zugesperrt, einen Knallfrosch zu benutzen hatte unser Ältester verboten - das Haus stand nicht auf der Abschussliste. Gas und Kaltstrahl durften auch nicht sein. Also sind wir auf die alte Tour rein, von der drunterliegenden Wohnung aus: Guten Tag, tut uns leid, über Ihnen sitzt der Feind. Wir haben sie im Namen des Staates um Verständnis gebeten. Die ihre Koffer und die Ikonen gepackt und raus, wir ein Feuerchen gemacht, die Bande von unten angebohrt und ausgeräuchert. Gehofft hatten wir, dass sie aufsperren, aber nein, die sind aus dem Fenster. Der Alte hat sich die Niere am Zaun aufgespießt, der Jüngere hat mit Beinbruch überlebt und seine Aussagen gemacht ...« 192
»Was die Jelagina war, Awdotja Petrowna, die hat mit ihrem Riesenarsch Kloschüsseln zu Bruch gesessen. So wahr ich hier stehe! ...« »Jerocha, Jerocha ...« »Hä?« »... wo is mein Eiakocha ...« »Blödmann! Steck du lieber deine weg, die schleifen übern Fußboden ...« »Sag mal, Bubi, stimmt es, dass graue Einkünfte neuerdings in der Handelskammer die Runde drehen und von den Amtsleuten runtergeschnippelt werden?« »Nicht doch. Über die geh'n bloß die Zuschläge. Was grau ist, wird wie üblich von Untersekretären getätigt, die haben wir unter Kontrolle ...« »... Feind bleibt Feind! Den kriegst du nicht mit dem Schürhaken aus den Ritzen gekratzt!« »Wart's ab, Ochlop, bis der Herbst kommt. Dann kriegen wir sie alle.« »He, Kleiner, wo hast du dich stechen lassen?« »Im Nebukadnezar.« »Hübsch! ... Insonderheit die Drachen da unten ... Ich wollte rund ums Gewölle eine Herde wilder Pferde hinhaben, aber der Stecher hat sich gesträubt: Das stört die künstlerische Balangse, meint er.« »Da hat er recht, Bruder. Bei dem Gestrüpp, wenn man das machte, gab's blöde Zwischenräume. Da täten besser zwei Köpfe drüberpassen. Wie war's mit Zwetow und Silbermann?« »Ha, ha. Hat sich schon mal einer totgelacht ...« »Die neue Koslow schlägt härter durch als die Double Eagle. Geht durch zwei Ziegel dickes Mauerwerk und hat noch Wirkung beim Austritt. Bei der alten war bei anderthalb Sense. Dafür hat unsere einen fetteren Rückstoß.« 193
»Umso besser - das trainiert die rechte Hand.« »Würdest du, Bruder Mokry, mir einen Schluck Kwass reichen?« »Schluck' in Gottes Namen, Bruder Potyka.« »Freikauf, Freikauf, immer die Leier ... Was zum Teufel soll ich da bohren. Du kriegst da eh keinen Fuß in die Tür, höchstens ein Loch in den Pelz.« »Weh und ach! Bruder Jerocha liebt mich nicht!« »Ich hau dir gleich eine aufs Auge, du Grapscher!« »Habt ihr gehört, warum unser Gossudar Rohr Nummer drei dichtgemacht hat? Weil die Knallköppe im Westen mal wieder keinen Chäteau Lafitte an den Hof geliefert haben! Nicht mal einen halben Waggon pro Jahr kriegen die auf die Reihe!« »Wer trinkt denn dort auch noch Wein? Die Cyberpunks trinken doch alle Kefir!« Der Alte ist wie immer als Letzter schwitzen gegangen. Die Bademeister lassen seinen kräftigen Körper durch ihre Hände gehen, dann bringen sie ihn. Wir greifen unserem Alten unter die Arme. »Wünsche wohl geschwitzt zu haben, Ältester!« »Bis ins Mark!« »Besser war's bis in die Marquise!« »Wohl bekomm's!« »Der Kreislauf freut sich!« Der Körper des Alten glüht vor Hitze. »Och, Heilige Muttergottes!«, stöhnt er. »Her mit dem Kwass!« Von allen Seiten recken sich dem geliebten Anführer die silbernen Becher entgegen. »Trink, Vater!« Der verhangene Blick des Alten wandert von einem zum anderen. Er trifft die Wahl. »Wosk!« 194
Wosk reicht dem Alten seinen Becher. Klar, heute sind die Linken in der Vorhand. Verdientermaßen. Sie haben Kasse gemacht. Der Alte leert den Becher Honigkwass, japst nach Luft, rülpst. Wieder macht sein Blick die Runde. Wir stehen still. Der Alte wartet noch einen Moment, kneift ein Auge zu. Und spricht es aus, das lang Ersehnte: »Piep, piep, piep!« Das Licht geht aus. Im nächsten Moment schiebt sich aus der Marmorwand eine leuchtende Hand voller Pillen. Und wie zum Heiligen Abendmahl nach vollzogener Beichte stehen wir demütig vor der lichten Hand Schlange. Einer nach dem anderen tritt vor sie hin, empfängt seine Pille, legt sie sich unter die Zunge, tritt zurück. Jetzt bin ich an der Reihe. Nehme die Pille entgegen, die äußerlich ganz unscheinbar ist. Stecke sie in den Mund - und schon beginnen die Finger zu zittern, schon werden die Knie weich, das Herz, es schlägt wie ein fleißiger Hammer, und das Blut klopft in den Schläfen wie die Opritschniki gegen das Tor des Bojaren. Meine Zunge umschließt die bebende Pille, wie eine Wolke den Tempel auf des Hügels Mitte umhüllt. Die Pille zergeht, schmilzt süß an der Zungenwurzel, im Speichelfluss, der sie so mächtig umspült wie der Jordanstrom zur Frühlingsschmelze. Das Herz, es pocht, der Atem überschlägt sich, die Fingerspitzen werden kalt, die Augen sehen schärfer im Dämmerlicht. Und endlich geschieht es: Das Blut stößt ins Gemächt. Ich senke den Blick. Gewahre die Schwellung. Da steht es auf, mein Gerät, das jüngst sanierte: zwei Knorpelimplantate, Hyperglasfiberspitze, Reliefüberzug, Fleischmuskulatur mit beweglicher Tätowierung. Hebt sich gleichwie der Rüssel eines sibirischen Mammuts. Und unter dem gewaltig erstehenden Gemächt beginnen 195
die massigen Klöten in purpurnem Licht zu erglühen. Nicht nur bei mir. Das Leuchten stellt sich ein bei allen, die der Gabe der Strahlehand teilhaftig geworden, sie leuchten wie die Glühwürmchen in den Stubben zur Sommersonnenwende. Die Klöten der Opritschniki geben Licht! Bei jedem leuchten sie anders, auf eigene Art: beim rechten Flügel zwischen scharlach- und purpurrot, beim linken zwischen hellblau und violett, bei den Jungen in allen möglichen Grüntönen. Die Klöten unseres Alten wiederum erstrahlen in einem ganz besonderen, einzigartigen Licht: Goldgelb sind die seinen! In alledem liegt die gewaltige Kraft der Bruderschaft, die den Namen Opritschnina trägt, verborgen. Chinesische Ärzte, kunstfertige Meister ihres Fachs, haben uns neue Testikel eingesetzt. Auf dass von ihnen, den Mannesliebe Begehrenden, ein Licht ausgehe. Die Kraft hierzu erwächst ihnen aus dem aufstrebenden Gemächt. Und solange dieses Licht am Leuchten ist, sind wir, die Opritschniki, am Leben. Wir sinken in brüderliche Umarmung. Kräftige Arme umschlingen kräftige Leiber. Wir küssen einander auf den Mund. Küssen uns schweigend, männlich, ohne weibische Zärtlichkeit. Das Küssen entfacht in uns die Leidenschaft, küssend heißen wir einander willkommen. Geschäftig eilen die Bademeister mit Tonkrügen voll Chinabalsam zwischen uns einher - stumm, schattengleich, bei ihnen leuchtet ja nichts. Wir greifen den zähen, würzigen Schmant mit der hohlen Hand, schmieren ihn uns auf das Gemächt. »Dran und drauf!«, brüllt der Alte. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, schmettern wir zurück. Der Alte macht den Anfang. Steht auf, zieht Wosk zu sich heran. Dieser setzt sein Gemächt an des Alten 196
Spundloch, schiebt es hinein. Der Alte ächzt vor Vergnügen, fletscht in der Dunkelheit das weiße Gebiss. Wosk wird von Schelet umarmt und bekommt sein gesalbtes Hörn eingepflanzt. Ein Grunzen aus Wosks tiefstem Innern ist die Antwort. Schelet wird von Sery bedient, Sery von Samosja, Samosja von Baldochai, Baldochai von Mokry, Mokry von Netschai, und nun ist es an mir, meinen klebrigen Pfahl in Netschai einzurammen. Meine linke Hand umfasst den linksflügligen Bruder, während ich mit der rechten das Gemächt auf Netschais Kimme dirigiere. Sein Spundloch ist weit. Ich treibe ihm das Gemächt so tief hinein, dass meine Schenkel gegen seine roten Nüsse klatschen. Netschai tut keinen Mucks. Er ist es gewohnt, als alter Opritschnik. Ich greife ihn fester, ziehe ihn so eng an mich, dass meine Bartstoppeln ihn kitzeln. Hinter mir nimmt Buben schon Maß. Ich spüre seinen bebenden Kolben an meiner Kimme. Er ist so massiv, dass ohne Nachdruck nichts zu machen ist. Buben stößelt, treibt sein dickköpfiges Ding Stück für Stück in mich hinein. Bis ans Gedärm reicht das Gerät, treibt ein tiefes Stöhnen aus mir hervor. Ich stöhne in Netschais Ohr. Buben ächzt an meinem, hält mich mit strammen Armen umfangen. Ich kann den, der bei ihm einfährt, nicht sehen, dem Ächzen nach muss es ein mächtiges Teil sein. Geringere sind unter uns ja auch gar nicht zu finden - allen haben die Chinesen das Gemächt aufgezäumt, umgebaut, befestigt. Groß genug, um einander zu erquicken, groß genug auch, um Russlands Feinde damit zu strafen. Allmählich verknüpft und verkeilt sich die Moskauer Opritschnina zur berühmten Kette. Vielstimmiges Grunzen und Ächzen hinter meinem Rücken. Die Regel der Bruderschaft besagt, dass linker und rechter Flügel abwechselnd einfädeln und erst dann die Jung197
fuchse andocken. So ist es beim Alten Sitte. Und das ist gut so ... An der Art, wie gebrüllt und gehechelt wird, ersehe ich, dass die Jugend ins Geschehen eingegriffen hat. »Nur keine Scheu, Grünschnäbel!«, ermuntert sie der Alte. Die Jungs strengen sich an, stemmen einander die engen Tuben auf. Die Schattenbademeister gehen zur Hand, korrgieren hier etwas, helfen da ein bisschen nach. Ein Aufbrüllen des Vorletzten, ein Ächzen des Letzten - und die Kette ist komplett. Hat Gestalt angenommen. Wir hören auf zu zappeln. »Dran und drauf!«, brüllt der Alte. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, kommt donnernd die Antwort. Der Alte hat einen ersten Schritt getan. Und wir alle rücken ihm, dem Kopf der Raupe, nach. Es geht in Richtung Wasserbecken. Das groß genug für alle ist. Und sich nun mit warmem Wasser füllt anstelle vom kalten. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, brüllen wir in inniger Umarmung und bewegen uns im Passgang vorwärts. So folgen wir dem Alten Schritt um Schritt. Tritt um Tritt. Im Tausendfüßlerschritt. Dabei leuchten unsere Klöten, und die Kolben in den Spundlöchern beben. »Dran und drauf! Dran und drauf!« Wir betreten das Becken. Das Wasser sprudelt um uns herum. Der Alte versinkt darin erst bis zu den Klöten, dann bis zur Hüfte, dann bis zur Brust. Die Raupe marschiert ins Becken. Nimmt Aufstellung. Nun ist es an der Zeit zu schweigen. Die Armmuskeln sind angespannt, der Atem der Jungen geht schnaufend, dumpfes Gurgeln, leises Ächzen. Es schlägt die 198
Stunde süßer Fron. Da einer den anderen zu buttern hat. Und so geschieht es. Bis das Wasser um uns in Bewegung kommt, Wogen schlägt, über den Beckenrand flutet. Bis zuletzt das lang ersehnte Beben durch die Kette rollt. »Drra-a-n-n-n! ... Und dra-a-a-a-a-a-a-...« Das Gewölbe dröhnt und vibriert. Im Becken ein Seebeben der Stärke neun. »...-a-a-a-a-a-a-a-a-...« Ich brülle Netschai ins Ohr und Buben mir: »... -a-a-a-a-ah-... -uffff!« Lieber Gott, lass uns unsterblich sein.
ES IST UNBESCHREIBLICH. Wie das Göttliche nun einmal ist. In geradezu paradiesischer Seligkeit ruhen die Opritschniki nach der Kopulation auf ihren gepolsterten Liegestühlen. Das Licht ist wieder angegangen, auf dem Boden stehen Kübel mit Sekt. Fichtennadelduft, Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2. Unser Alter mag es, nach dem Kopulieren russische Klassik zu hören. Wir liegen entspannt. Die Lichter in den Klöten erlöschen. Wir trinken schweigend, Atem schöpfend. Das mit der Kette war wirklich eine gescheite Idee vom Alten. Vorher haben wir uns immer paarweise zusammengetan, wodurch ein gefährlicher Keim der Zersetzung in die Opritschnina getragen wurde. Jetzt ist paarweisen Vergnügungen ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben. So wie wir unsere Arbeit gemeinsam voranbringen, so frönen wir gemeinsam der Lust. Die Pillen helfen uns dabei. Und das Schlaue daran ist, dass die jungen Opritschniki stets am Ende der Kette rammeln. Schlau aus zweierlei Gründen: Erstens erlangen die jungen Männer auf diese Weise automatisch ihren Platz in unserer Hierarchie, und zweitens sind so, indem der Samenfluss vom Ende der Kette zur Spitze hin erfolgt, der ewige Kreislauf des Lebens und die fortwährende Erneuerung sehr schön symbolisiert: Die Jungen erweisen den Alten ihren Respekt und führen ihnen zugleich Nährstoffe zu. Darauf bauen wir. Und das ist gut so. Sekt aus Sezuan zu süffeln und zu spüren, wie der gesunde Opritschnik-Samen von den Mastdarmwänden 200
aufgesogen wird - das ist himmlisch ... Gesundheit ist in unserem gefahrvollen Leben ein hohes Gut. Ich für mein Teil kümmere mich darum: gehe zweimal pro Woche zum Stockschießen, außerdem schwimmen, trinke Ahornsaft mit Walderdbeermark, esse gekeimte Farnsamen und achte auf richtiges Atmen. Auch die anderen Opritschniki ertüchtigen ihren Körper. Dem Alten wird von oben gemeldet, Graf Urussow sei erschienen. Die Bademeister teilen Laken aus. Wir verhüllen die erloschene Scham und strecken uns wieder aus. Dann erscheint der Graf in der Tür zur Umkleide. Das Laken drapiert wie eine römische Toga. Der Graf ist weißhäutig, untersetzt, jedoch mit dünnen Beinen. Großer Kopf auf kurzem Hals. Wie immer mit mürrischer Miene. Doch etwas an dem bekannten Gesicht ist neu, und es hat sich bereits eingegraben. Wir blicken ihm stumm entgegen, als wäre er ein Gespenst: Bisher hatte man den Mann nur im Frack oder aber im golddurchwirkten Kaftan zu sehen bekommen. »Heil euch, ihr Herren Opritschniki!«, versetzt der Graf mit tonloser Stimme. »Heil, heil, Herr Graf!«, antworten wir nachlässig und durcheinander. Der Alte, auf seiner Liege thronend, antwortet gar nicht. Des Grafen unfrohe Augen brauchen eine Weile, ehe sie ihn finden. »Guten Tag, Boris Borissowitsch«, spricht der Grafund knickt in den Hüften ein. Uns sacken die Kinnladen nach unten. Das ist ein starkes Stück! Graf Urussow, der ach so allmächtige, unnahbare, macht vor unserem Alten einen Bückling! Da fallen einem doch gleich die alten Römer ein: sie transit gloria mundi. 201
»Sei gegrüßt, Graf!«, sagt der Alte und hat es nicht eilig, sich zu erheben. Erwidert die Verbeugung, legt die Hände vorm Bauch übereinander und schaut den Grafen schweigend an. Er überragt ihn um Kopfeslänge. »Ich dachte, ich besuche dich mal«, bricht Urussow das Schweigen. »Ich störe doch nicht?« »Gäste sind immer willkommen«, spricht der Alte. »Dampf ist auch noch da.« »Nein-nein, ich bin kein großer Saunagänger. Ich hätte nur dringend etwas mit dir zu bereden. Die Sache duldet keinen Aufschub. Könnten wir vielleicht unter vier Augen ...?« »Nicht doch, Graf, vor meinen Opritschniki habe ich keine Geheimnisse!«, erwidert der Alte und gibt den Bademeistern ein Zeichen. »Ein Gläschen Sekt?« Der Graf schiebt finster die Unterlippe nach vorn und äugt wie ein Wolf zu uns herüber. Er ist ja auch einer. Ein gehetzter. Zao serviert. Der Alte nimmt das schlanke Glas und leert es in einem Zug, stellt es zurück auf das Tablett und atmet geräuschvoll aus, wischt sich den Schnauzbart. Urussow nippt an seinem, als wäre es der Schierlingsbecher. »Wir hören, mein lieber Andrej Wladimirowitsch!«, versetzt der Alte mit mächtiger Stimme und sinkt zurück in seinen Liegestuhl. »Aber lass dich nieder, nur keine Umstände!« Der Graf setzt sich seitlich auf den Rand eines Stuhls, verschränkt die Hände. »Du bist über meine Situation im Bilde, Boris Borissowitsch?« »Das bin ich.« »Ich bin geächtet.« »Soll vorkommen«, nickt der Alte. 202
»Auf wie lange Zeit, vermag ich einstweilen nicht zu sagen. Wobei ich hoffe, dass der Gossudar mir früher oder später verzeihen wird.« »Unser Gossudar ist gnädig«, sagt der Alte und nickt noch einmal. »Ich hätte einen Vorschlag zu machen. Meine Konten sind auf Geheiß des Gossudaren eingefroren, sämtlicher Besitz in Handel und Gewerbe ist beschlagnahmt, aber mein Privateigentum hat der Gossudar mir gelassen.« »Da kannst du von Glück reden!«, sagt der Alte und rülpst sich die chinesische Kohlensäure aus dem Leib. Der Graf schaut auf seine gepflegten Fingernägel, dreht am Brillantigelring, lässt einen Moment verstreichen. Dann spricht er weiter. »Ich besitze ein Landgut in der Nähe von Moskau, eines im Bezirk Perejaslawl und eines in Diwnogorje bei Woronesh. Außerdem noch das Haus auf der Pjatnizkaja, das du ja kennst ...« »Wohl wahr«, seufzt der Alte. »Ja, also, dieses Haus würde ich der Opritschnina übereignen, Boris Borissowitsch.« Stille. Der Alte schweigt, Urussow sagt auch nichts mehr. Uns Übrigen hat es genauso die Sprache verschlagen. Zao mit der angebrochenen Flasche Sezuan-Sekt steht wie eine Salzsäule. Urussows Haus auf der Pjatnizkaja ... Haus ist ein höchst unpassender Ausdruck dafür: Es ist ein Palast! Mit Säulen aus gebändertem Marmor, Vasen und Skulpturen auf dem Dach, durchbrochenen Gittern, Zerberussen mit Hellebarden, steinernen Löwen. Im Inneren bin ich nie gewesen, doch darf man vermuten, dass der Luxus dort noch größer ist als an der Fassade. Im Empfangszimmer habe Urus203
sow einen gläsernen Fußboden, heißt es, mit einem Haifischbecken darunter. Die Haie getigert. Mit einem Wort: raffiniert! »Das Haus auf der Pjatnizkaja, soso«, sagt der Alte und verengt die Augen zu einem Spalt. »Wie kommen wir zu einem solch großzügigen Geschenk?« »Es ist kein Geschenk. Ich verstehe uns als Geschäftspartner. Ihr kriegt mein Haus, und ich genieße euren Schutz. Wenn der Bannfluch eines Tages aufgehoben ist, werde ich mich noch erkenntlicher zeigen. Ohne zu knausern.« »Ein ernstzunehmender Vorschlag«, sagt der Alte, die Augen immer noch zusammengekniffen. »Er wäre zu diskutieren. Wer möchte etwas dazu sagen?«, fragt er mit einem Blick zu uns in die Runde. Der erfahrene Wosk hebt die Hand. »Nein, zuerst würde ich gerne die Jüngeren hören«, sagt der Alte und schaut sich um. »Was haltet ihr davon?« Es meldet sich der zungenfertige Potyka. »Wenn Ihr erlaubt, Ältester ...« »Sprich, Potyka!« »Mit Verlaub, ich meine, es ziemt sich für uns nicht, einem toten Mann Schutz zu gewähren. Denn einem toten Mann kann es egal sein, ob er beschützt wird oder nicht. Er braucht keinen Schutz, er braucht einen Deckel auf den Sarg.« Eine schwere Stille hängt im Raum. Grabesstille. Das Gesicht des Grafen verfärbt sich grün. Der Alte gibt einen schmatzenden Laut von sich. »Da hast du es, Graf! Und bedenke, so spricht die Jugend von heute. Was erst eingefleischte Opritschniki von deinem Vorschlag halten, kannst du dir vielleicht denken?« 204
Der Graf leckt sich über die fahl gewordenen Lippen. »Hör zu, Boris. Du und ich, wir sind keine Kinder mehr. Toter Mann und Deckel auf den Sarg, was soll das Gerede? Ich habe den Zorn des Gossudaren auf mich gezogen, gut, aber das wird nicht ewig so sein! Der Gossudar weiß doch genau, wie viel ich für Russland getan habe! Lass ein Jahr vergehen, und er wird mir vergeben! Und ihr habt einen guten Schnitt gemacht!« Der Alte runzelt die Stirn. »Du meinst, er wird dir vergeben?« »Da bin ich mir sicher.« »Und ihr, Opritschniki, wie seht ihr das? Wird der Gossudar dem Grafen vergeben oder nicht?« »Niema-a-als!«, antworten wir im Chor. Der Alte hebt die kräftigen Hände. »Wie du siehst, Graf ...« »Jetzt pass mal auf!« Der Graf ist aufgesprungen. »Schluss mit der Afferei! Mir ist nicht nach Scherzen zumute! Ich habe fast alles verloren. Aber bei Gott: Eines Tages werde ich alles wiederkriegen! Alles!« Seufzend steht der Alte auf, Iwan stützt ihn. »Du bist mir ein rechter Hiob, Graf. >Eines Tages werde ich alles wiederkriegen !< Nichts kriegst du wieder. Und weißt du, warum? Weil du deine privaten Gelüste über das Wohl des Staates gestellt hast, darum!« »Hüte deine Zunge, Boris!« »Ich denke nicht daran«, sagt der Alte und tritt nahe vor den Grafen. »Was glaubst du, weswegen der Gossudar dir zürnt? Weil du am liebsten fickst, wenn es brennt? Weil du seine Tochter mit Schande bedeckst? Nein. Nicht deswegen! Du hast Staatsvermögen angesteckt und ruiniert. Hast also eine Handlung wider den 205
Staat begangen. Und wider den obersten Staatsherrn. Den Gossudaren.« »Das Haus gehört der Bobrinskaja selbst! Was hat der Gossudar damit zu schaffen?!« »Er hat damit zu schaffen, Schwachkopf, dass wir alle Kinder des Gossudaren sind, und all unser Hab und Gut gehört ihm! Das ganze Land ist seines! Wusstest du das etwa nicht? Du scheinst nicht viel gelernt zu haben in deinem Leben, Andrej Wladimirowitsch! Du warst des Gossudaren Schwiegersohn, und jetzt bist du ein Meuterer. Und nicht bloß das. Du bist ein Schwein. Ein stinkendes Aas.« In den Augen des Grafen entflammt die kalte Wut. »Wie bitte? Was sagst du Drecksack da ...« Der Alte steckt zwei Finger in den Mund und stößt einen gellenden Pfiff aus. Wie auf Kommando stürzen sich mehrere junge Männer auf den Grafen, halten ihn fest. »Ins Becken mit ihm!«, befiehlt der Alte. Die Opritschniki reißen dem Grafen das Laken vom Leib und schleudern ihn ins Becken. Als der Graf wieder auftaucht, spuckt er Wasser. »Ich will eine Antwort haben, ihr Hunde!«, brüllt er. »Eine ordentliche Antwort! ...« Im nächsten Moment blitzen Messer in den Händen der Jungen. Nanu? Mir geht ein Licht auf. Ist der Graf geliefert? Zum Abstich freigegeben? Aber wieso weiß ich nichts davon? Die jungen Männer mit ihren Messern stellen sich am Beckenrand auf. »Dran und drauf!«, brüllt der Alte. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, brüllen die Jungen. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, fallen wir Übrigen ein. 206
»Tod den Feinden Russlands!«, tönt des Alten Ruf. »Tod! Tod! Tod!«, skandieren wir. Der Graf schwimmt zum Beckenrand, greift nach der marmornen Einfassung. Doch auf der anderen Seite hat Komol schon ausgeholt: Wie ein Blitz fliegt das Messer, bohrt sich in des Grafen Krummrücken bis ans Heft. Dem wutentbrannten Mann entfährt ein gellender Schrei. Als Nächster schwingt Ochlop den Arm: Das Messer fliegt, dringt knapp neben dem ersten ein. Nun werfen Jolka und Awila ihre Messer - auch sie haben genau gezielt, treffen den nackenten Grafen in den Rücken. Der immer noch schnaubt vor Wut, so gar nicht einverstanden ist mit alledem. Wie viel Gift und Groll sich da angesammelt hat in diesem Stinktier! Eines nach dem anderen fliegen die Messer der jungen Schar. Und alle finden sie ihr Ziel. Das Messerwerfen scheinen die Jungen ordentlich geübt zu haben. Wir von der alten Garde ziehen den Nahkampf vor. Der Graf hat aufgehört zu schnauben, röchelt bloß noch, treibt im Wasser wie eine Seemine. »Alles wiederkriegen, dass ich nicht lache!« Der Alte grient, nimmt ein Glas vom Tablett und trinkt. Durch den Körper des Grafen gehen die letzten Zuckungen, dann rührt er sich nicht mehr. Leben ist Schicksal. »Rauf mit ihm!«, befiehlt der Alte den Bademeistern. »Und Wasserwechsel.« Die Bademeister zerren Urussows Leiche aus dem Becken, nehmen ihm das Halskettchen mit dem goldenen Kreuz ab und den berühmten Igelring, reichen beides dem Alten. Spielerisch lässt der Alte auf seinem Handteller tanzen, was von dem einst so mächtigen Grafen übrig ist. »Tja. So schnell kann es gehen.«
Die Leiche wird hinausgetragen. Der Alte gibt Swirid das goldene Kreuz. »Das gibst du morgen in der Kirche ab«, trägt er ihm auf. Den Ring steckt er sich an den kleinen Finger. »Schwitzbad beendet. Raus hier. Alles nach oben!«
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DIE STANDUHR hat halb drei geschlagen. Wir sitzen im gekachelten Gesellschaftszimmer. Nur noch fünf Mann hat der Alte zur Nachmitternachtsrunde geladen: Potyka, Wosk, Baldochai, Jerocha und mich. Nach dem Killen hat es unseren Alten nach ein bisschen Koks zum Wodka gelüstet. Wir sitzen rund um den Tisch aus rotem Granit. Auf ihm ein Teller mit weißen Linien, eine Kerze und eine Karaffe Wodka. Jerocha erhitzt den Teller über der Flamme, trocknet den Koks so ein bisschen von unten an. Der Alte ist schon gut drauf. Und wenn er richtig gut drauf ist, hält er uns hochtrabende Reden. Davon hat unser liebes Alterchen drei auf Lager: eine auf den Gossudaren, eine auf seine verstorbene Mama und eine auf den christlichen Glauben. Heute ist der Glauben dran. »Wahrscheinlich fragt ihr euch, meine lieben, teuren Toffel, wozu haben wir eigentlich diese Mauer gebaut? Wozu haben wir uns eingemauert, wozu die Reisepässe verbrannt, wozu die Ständeordnung wieder eingeführt, wozu die schlauen Maschinen auf kyrillische Buchstaben umgemodelt? Nur um einen guten Schnitt zu machen? Nur um Ordnung zu schaffen? Nur um unsere Ruhe zu haben? Aus Liebe zur Tradition? Damit die alten Benimmbücher wieder greifen? Um was Großes, Schönes aufzubauen? Für anständige Häuser? Saffianlederstiefel, mit denen sich alles schön feststampfen und niedertrampeln lässt? Für alles, was treu, redlich und gediegen ist, auf dass es bei uns seinen Platz hat, ja? Für die Macht des Staates, auf dass er sei wie ... ja nun, wie eine Säule aus Tamarindenholz, die in den 209
Himmel reicht? Auf dass er das Firmament trage mitsamt den Sternen allen, halleluja, man glaubt es kaum, auf dass die Sterne funkeln, ihr Schniefnasen, ihr ausgestopften Wölfe, auf dass der Mond scheint, auf dass euch ein warmer Wind in den Arsch bläst, immer schön rein und bloß nicht wieder raus, heisa trallala? Damit es der Arsch in den Samthosen schön warm hat? Und der Kopf unter der Zobelfellmütze schön gemütlich, nicht wahr? Damit ihr Schniefnasenwölfe es einfach habt? Nicht nach der Lüge leben müsst, wie es mal geheißen hat? Euch im Rudel bewegt, schön zügig, schön Kopf an Kopf, heilige Mutter, immer der Nase nach, den Leitwölfen gehorchend, das Korn einbringend zur rechten Zeit, den Bruder durchfütternd, Frau und Kinder liebend, nicht wahr, nicht wahr?« Der Alte hält inne, zieht sich eine gute Prise vom weißen Koks ins Nasenloch, kippt einen Wodka hinterher. Wir tun es ihm nach. »Ja nun, meine lieben Toffel, damit ihr's wisst: Nicht dafür haben wir das alles gemacht, nicht dafür. Sondern um den Glauben Christi hochheilig und unbefleckt zu halten, nicht wahr. Denn einzig wir, die Rechtgläubigen, haben die Kirche als den Leib Christi auf Erden reingehalten, die alleinige, all-einige, heilige, apostolische, unfehlbare Kirche, nicht wahr. Denn nach dem Zweiten Konzil von Nizäa preisen einzig wir noch den Herrn auf die rechte Art, die rechtgläubige, und das Recht, den Herrn auf rechte Art zu preisen, kann uns keiner nehmen, nicht wahr. Denn wir sind nicht abgerückt von der All-Einheit, von den heiligen Ikonen, von der Gottesgebärerin, vom Glauben der Väter, von der Ursprünglichen Dreifaltigkeit, dem Heilig Geist, dem Herrn, dem Lebendigmacher, der ausgeht vom Vater, der angebetet und verherrlicht wird mit dem Vater und dem Sohn, der 210
gesprochen hat durch die Propheten, nicht wahr. Denn wir haben alles Gottlose von uns gewiesen, Manichäismus und Monotheletismus und Monophysitismus, nicht wahr. Denn wem die Kirche nicht Mutter ist, dem kann der liebe Gott auch nicht Vater sein, nicht wahr. Denn Gott geht seiner Natur nach über jeglichen Verstand, nicht wahr. Denn alle frommen, rechtgläubigen Männer sind Nachkommen von Peter dem Großen, nicht wahr. Denn Fegefeuer ist nicht, nur Himmel und Hölle, nicht wahr. Denn der Mensch ist zum Sterben geboren, und also sündigt er, nicht wahr. Denn Gott ist das Licht, nicht wahr. Denn der Erlöser kam herab als Mensch, damit wir Wolfsschniefnasen miteinander zu Göttern werden, nicht wahr. Und ebendarum hat unser Gossudar die Große Mauer gebaut, um uns zu scheiden von Unflat und Unglauben, von den elenden Cyberpunks, den Sodomiten und Katholiken und Melancholiken und Buddhisten und Sadisten und Satanisten und Marxisten und Megaonanisten und Faschisten und Pluralisten und Atheisten, denen allen! Denn der Glaube, ihr Wolfsschniefnasen, ist kein Portemonnaie! Kein Plüschkaftan! Kein Eichenholzknüttel! Was ist der Glaube also dann? Der Glaube, meine Töffelöffel, ist ein Brunnen, ein Quell reinen Wassers, so klar und rein und still und unscheinbar und kräftig und reichlich wie sonst gar nix! Habt ihr verstanden? Oder muss ich das Ganze nochmal sagen?« »Wir haben verstanden, Ältester«, antworten wir, so wie üblich. »Na, wenn ihr's verstanden habt, dann ist es ja gut.« Der Alte bekreuzigt sich. Wir bekreuzigen uns. Koksen, trinken, aufatmen. Auf einmal aber lässt Jerocha ein beleidigtes Schnauben hören. 211
»Was hast du?«, spricht der Alte ihn an. »Nimm's mir nicht krumm, Ältester, wenn ich dir ein Widerwort gebe.« »Nur zu.« »Ich finde es schnöde.« »Was findest du schnöde, Bruder Jerocha?« »Dass du dir den Schmarotzerring so einfach an den Finger gesteckt hast.« Jerocha spricht unverblümt. Der Alte guckt ihn scharf an. Dann ruft er laut: »Trofim!« Der Diener des Alten erscheint. »Was wünschen der Herr?« »Die Axt!« »Zu Befehl.« Wir sitzen da und gucken uns an. Der Alte guckt auch und gibt sich Mühe, nicht zu grienen. Trofim kommt mit der Axt. Der Alte nimmt den Igelring vom kleinen Finger und legt ihn auf die granitene Tischplatte. »Mach!« Das knappe Wort reicht, dass der getreue Trofim kapiert: Er holt aus und haut die Axt mit der stumpfen Seite auf den Ring. Die Diamantensplitter fliegen nach allen Seiten. »Hoho, so ist es gut!«, lacht der Alte. Wir lachen mit. Das sieht unserem Alten ähnlich! Dafür lieben und behüten wir ihn, dafür halten wir ihm die Treue. Er pustet den Diamantenstaub vom Tisch. »Was sperrt ihr das Maul auf? Linien ziehen!« Potyka übernimmt es, den Koks zu portionieren. Mir liegt die Frage auf der Zunge, wieso es die Jungen waren, die sich den Grafen vorgenommen haben, und wir, die alte Garde, wussten von nichts. Haben wir nicht mehr das volle Vertrauen? Sind wir abgemeldet? Aber 212
ich halte mich zurück: Die Sache ist noch zu frisch, um daran zu rühren. Irgendwann hinterher werd' ich beim Alten einmal vorstellig werden deswegen. N u n hat auch Baldochai eine Frage. »Sag mal, Ältester, wer hat n u n eigentlich dieses Spottgedicht verzapft?« »Der Reimeschmied Filka.« »Filka? Wer ist das denn?« »Ein begabter Bursche. Wird in Zukunft für uns arbeiten«, sagt der Alte, beugt sich nach vorn und schnupft durch sein Elfenbeinröhrchen eine Linie. »Er hat auch schon was Hübsches auf den Gossudaren geschrieben. Wollt ihr's hören? Klingle mal an bei ihm, Trofim!« Trofim wählt die Nummer, nach kurzer Zeit erscheint vor uns ein verschlafenes, erschrockenes Brillengesicht. »Pennst du schon?«, fragt der Alte, nachdem er sein Gläschen gekippt hat. »Wo denken Sie hin, Boris Borissowitsch ...«, brummelt der Reimeschmied. »Na, dann trag uns doch mal deine Widmung an den Gossudaren vor.« Der Dichter rückt die Brille zurecht, räuspert sich und deklamiert ausdrucksvoll: Mit uns, doch Größrem vorbehalten, Wohnt hinter Mauern, fensterlos, Ein Mensch und doch kein Mensch - ein Walten, Eine Bestimmung, erdengroß. Was vor ihm man zu tun versäumte, Durch ihn allein ward es gesühnt, Er ist, was nur den Kühnsten träumte, Was keiner sich zu sein erkühnt'.
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Doch ist er dabei Mensch geblieben, Und wenn sein Schuss vom Ansitz knallt, Wo man den Wolf ihm zugetrieben: Das letzte Wort behält der Wald. »Na! H a t er doch gut hingekriegt, der H u n d e s o h n , oder nicht?«, ruft der Alte und haut mit der Faust auf den Tisch. »Doch, doch«, erklären wir uns einverstanden. »Gut. Penn weiter, Filka!«, sagt der Alte und schaltet ihn ab. Worauf er unversehens mit tiefer Stimme zu singen anhebt. Vereint im Leid, im Kampf verschwo-o-o-ren, Steh'n wir für unser Land auf Wa-a-acht! Komm, lass ein Loch ins Bein dir bo-o-o-ohren, Bevor wir ziehen in die dunkle Na-a-a-cht! Ich hatte gehofft, darum herumzukommen heute. Vielleicht, dass der Alte schon vorher genug haben würde? Aber nein, unser Kommandeur ist unerbittlich: Koksen mit Wodka, das läuft bei ihm aufs Anbohren hinaus. Na gut - wenn es denn sein muss. Ist ja nicht das erste Mal. Trofim ist p r o m p t zur Stelle mit der roten Schachtel, klappt sie auf: Darin liegen, wie Revolver zum Duell, kleine rote Bohrmaschinen. Mit hauchdünnen Bohrern aus lebendgebärenden Diamanten. D e m Alten wird sein fieses Lieblingsspiel eingefallen sein, als er den Brillantring vor sich zerplatzen sah. Trofim teilt die Maschinen aus. »Alles hört auf mein Kommando«, stammelt der Alte, schon deutlich beschwipst und benebelt. »Eins, zwei, drei!« 214
Wir stecken die Bohrmaschinen unter den Tisch, schalten ein, und jeder versucht, auf Anhieb irgendein Bein zu treffen. Zustoßen darf man nur einmal. Trifft man daneben, hat man Pech. Mir scheint, ich habe Wosk angebohrt, und bei mir, an meinem linken Bein, dürfte sich der Alte persönlich zu schaffen machen. Das Bohren beginnt. »Dran und drauf!« »Dran und drauf!« »Zieh! Zieh! Zieh!« Aushalten, aushalten, aushalten. Die Bohrer gehen durch das Fleisch wie das Messer durch die Butter, stoßen im Nu auf den Knochen. Aushalten, aushalten, aushalten! Mit zusammengebissenen Zähnen sitzen wir da, schauen einander in die Augen und halten aus. »Tief! Tief! Tief!« Wir. Halten. Durch. Die Mückenbohrer fressen sich bis ins Knochenmark. Potyka wird als Erster schwach. »A-a-a-a-argh!«, brüllt er. »Abbrechen!«, kommandiert der Alte. Gemeint sind die Bohrer. Wir brechen sie ab. Die Enden bleiben in den Beinen stecken. Potyka hat verloren: Winselnd, mit schmerzverzerrtem Gesicht, sitzt er da und hält sich das Knie. Standhaftigkeit - das ist es, was die Jungen bei der alten Garde noch zu lernen haben. »Wachruschew!«, brüllt der Alte. Es erscheint der Arzt der Opritschnina, Pjotr Semjonowitsch Wachruschew, ein schweigsamer Mann, mit zweien seiner Assistenten. Sie ziehen die abgebrochenen Diamantbohrer, die wirklich hauchdünn sind, kaum stärker als ein Frauenhaar, aus unseren Beinen, kleben Pflaster darüber, spritzen Medikamente. Der Alte kippt seinen Dienern in die Arme, haut ihnen da215
bei noch eins in die Fresse, grölt Lieder, lacht und furzt. Potyka als der Verlierer im Spiel muss den Inhalt seines Geldbeutels in den Kessel der Opritschnina leeren: ein paar Hunderter in Banknoten und fünfzig in Gold. »Ende gut, alles gut!«, bellt der Alte. »Die Kutscher!« Diener packen mich bei den Armen und tragen mich hinaus.
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EIN CHAUFFEUR IM STAATSDIENST fährt mich in meinem Merin nach Hause. Ich liege im Sessel, schlafe halb. Moskau bei Nacht huscht an mir vorüber. Lichter. Dann vor den Toren die finstere Nacht. Bäume wie Dächer. Tannenbaumdächer aus Dachtannenbäumen. Im Pulverschnee. Schön, wenn man nach einem vollwertigen Arbeitstag das raue Moskau verlassen und aufs heimische Land hinausfahren kann. Moskau ade sagen. Denn Moskau ist für ganz Russland der Kopf. Und in dem Kopf steckt das Gehirn. Das wird müde zur Nacht. Und singt im Schlaf. In dem Gesang ist Bewegung: Das kontrahiert... expandiert ... extrahiert ... extra hier ... Spannung, bis dass die Schädel zittern. Viele Millionen Volt und Ampere erzeugen die nötige Dimension. Da wohnen die Energieärzte. Da leuchten die Atomziegel. Pfeifen und formieren sich. Schmieren ineinander. Das klebt fest, das hält hunderttausend Jahre. Daraus ist der Mensch gemacht. Molekülhäuser, Mauerwerk, dreiziegeldick, wenn nicht vier. Wenn nicht achtundachtzig. Wer hat mehr? Das wird das Verhör ergeben. Überall Häuser hinter mächtigen Zäunen, alle überwacht. Staatsfeindliche Wesen, dickschädelige Nissen, im Schmutze geboren, zum Tode verdammt. Die Staatskessel brodeln. Fett, Fett, Fett tropft aus den selig Entschlafenen, fließt ab in die Kälte. Geschmolzenes Menschenfett aus eisernem Kessel, randvoll, überlaufend, das läuft und läuft und läuft und läuft. Es strömt das Fett ohn' Unterlass. Erstarrt im strengen Frost. Erstarrt, wird hart, härter als hart. Perlmutt! Welch schöne Skulptur. Welch edle, unvergleichliche, unübertreffliche. Pracht 217
und Herrlichkeit. Die Schönheit der Fettskulptur ist göttlich und unbeschreiblich. Rosa Perlmuttfett, zart und kühl. Die Brüste der Gossudarin sind gegossen aus dem Fett ihrer Untertanen. Maßlos groß sind die Brüste unserer Gossudarin! Hängen über uns im tiefen Blau. Unabsehbar! Man möchte näher heran, hinfliegen im pfeilschnellen chinesischen Aeroplan, im wütenden Abfangjäger unserer Feinde, sie mit den Lippen berühren, sich anschmiegen, die Wange anpressen, fest anpressen und anfrieren auf ewig, damit diese Krüppel mich nicht losreißen, keiner wird mich losreißen von den Brüsten der Gossudarin, nicht mal mit glühendem Eisen, nicht mit dem Messer abschneiden, nicht mit dem Brecheisen abstemmen, nicht mit den Knochen abbrechen, die knacken laut, und das Fleisch, es platzt, mein Fleisch, vergänglich verweslich, mein arm Fleisch, denn du hast nicht Lust zum Opffer, ich wolt dir es sonst wol geben, nur nicht mein geplatztes Fleisch, Ehre sei dir in der Höhe, allzeit und in Ewigkeit, Mamma vom Weißen Fette!
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»WAS IST EUCH, mein Lieber, mein Verehrtester?! Andrej Danilowitsch!« Ich schlage die Augen auf. Der Schein der Nachtlampe fällt auf das verheulte Gesicht meiner Anastassija. In der Hand hält sie ein Salmiakfläschchen. Schiebt es mir unter die Nase. Ich stoße es weg, verziehe das Gesicht, muss niesen. »He, was soll das ...« Sie schaut mich groß an. »Warum tut Ihr Euch bloß so was an? Warum achtet Ihr nicht auf Eure Gesundheit?« Ich rege die Glieder, doch mich aufzurichten fehlt die Kraft. Eine dunkle Erinnerung befällt mich: Hat das Mädel mir nicht irgendwas eingebrockt? Mir fällt nicht ein, was ... Ich habe Durst. »Gib zu trinken!« Sie bringt eine Kelle hellen Kwass. Die trinke ich leer. Sinke erschöpft zurück in die Kissen. Jetzt erst mal rülpsen, das ist das Wichtigste. Ich tue es. Gleich ist mir leichter. »Wie spät ist es?« »Halb fünf.« »In der Früh?« »In der Früh, Andrej Danilowitsch.« »Ich hab also noch gar nicht geschlafen?« »Man hat Euch bewusstlos gebracht.« »Wo ist Fedka?« »Hier bin ich, Andrej Danilowitsch.« Fedkas mürrisches Gesicht taucht neben der Bettkante auf. 219
»Hat wer angerufen?« »Nein, niemand.« »Was gibt's Neues im Haus?« »Die Amme hat sich am Weißkäse verdorben, hat Galle gespuckt. Tanka möchte am Mittwoch freihaben, dass sie zur Taufe zu ihrer Familie kann. Im Badezimmer tropft die Nadeldusche wieder, ich hab schon wen übers Netz bestellt. Und der Hundekopf für morgen müsste abgesegnet werden, Andrej Danilowitsch. Den von heute haben die Krähen zerpickt. Ich hätte zwei zur Hand: einen frischen kaukasischen Schäferhund und eine Bordeaux-Dogge, gefrostet, bei >Raureif< im Angebot. Soll ich sie bringen?« »Hat Zeit bis morgen. Verschwinde jetzt.« Fedka zieht ab. Anastassija löscht die Nachtlampe, entkleidet sich in der Dunkelheit, schlägt ein Kreuz, murmelt das Gebet zur Nacht und schlüpft zu mir unter die Decke. Rückt näher mit ihrem warmen nackten Leib, entfernt das goldene Glöckchen aus meinem Ohrläppchen, legt es auf den Nachttisch. »Erlaubt Ihr, Euch zärtliche Liebe zu schenken?« »Hat Zeit bis morgen«, brumme ich und senke die bleiernen Lider. »Wie der Herr meinen«, seufzt sie in mein Ohr, streicht mir über die Stirn. Da war doch was. Irgendwas Ungutes hat sie angestellt. Irgendeine Heimlichkeit. Aber was? Irgendwo war heute die Rede davon. Bei wem bin ich gewesen? Beim Alten. Bei den Wackelbrüdern. Bei der Gossudarin. Wo noch? Vergessen. »Du hast mir nicht zufällig was gestohlen, he?« »Gütiger Gott, was sagt Ihr da, Andrej Danilowitsch! Herrgott im Himmel!« Sie schluchzt auf. »Nastilein, bei wem bin ich heute gewesen, sag!« 220
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich wart Ihr bei irgendeinem Liebchen in der Hauptstadt den Samen abschlagen. Drum bin ich schon nicht mehr genehm! Ach-ach, umsonst verhöhnt Ihr ein ehrbares Mädchen ...« Sie schluchzt. Obwohl ich die bleischweren Glieder kaum rühren kann, versuche ich, sie zu umarmen. »Mach halblang, Dummerchen, ich war in Staatsdingen unterwegs, hab mein Leben riskiert für die Sache ...« »Gott mög's Euch vergelten und ein hundertjähriges Leben schenken«, murmelt sie brav, aber verschnupft. Schluchzt in die Dunkelheit. Ein hundertjähriges Leben. Ob nun hundert Jahre oder weniger, ein Stück zu leben habe ich noch. Leben und leben lassen - den einen oder anderen ... Mein Leben ist aufregend, aufreibend, aufopferungsvoll. Ein Leben in Verantwortung. Dienst an der großen Sache. Man muss sein Leben leben, allen Lumpen zum Trotz, Russland zu Nutz und Frommen... Mein weißes Pferdchen, halt ein ... lauf nicht weg ... Wo willst du hin, mein liebes ... schönes ... mein Zuckerpferdchen du ... Pferde leben, Menschen leben ... und wie sie leben! ... Die Opritschnina, die ganze getreue Opritschnina ... Solange die Opritschnina lebt, so lange ist Russland nicht verloren. Und das ist gut so.