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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Bahre, Jens Der stumme Richter
Kriminalroman
Ein Man...
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Bahre, Jens Der stumme Richter
Kriminalroman
Ein Mann beseitigt seine Frau und glaubt – da er es raffiniert begonnen hat – weiterhin wie bisher als geachteter Bürger in der Gemeinschaft bestehen zu können. Aber vermag er mit seinem Verbrechen zu leben, es vielleicht sogar zu vergessen? Oder sieht er seine Umgebung plötzlich anders, weil er meint, andere sähen den anderen in ihm? Die vom Mörder zurechtgebastelte Zuversicht soll sich bald als Selbstbetrug erweisen. Ein stummer Richter ist allgegenwärtig.
Jens Bahre
Der stumme Richter Psychogramm eines Mörders
Verlag Das Neue Berlin
ERSTER TEIL
Der Junge verschnaufte einen Moment. Lachend und übermütig warf er einen Blick hinunter auf die Straße, wo das kleine Mädchen stand und ihn ängstlich beobachtete. Der Dreizehnjährige war stolz auf seine Kletterfähigkeiten. Diesen Baum kannte er wie seine Westentasche. Schon seit Jahren zog es ihn jeden Frühherbst hierher, um Apfelernte zu halten. Seit die neue Umgehungsstraße gebaut worden war, stand der Apfelbaum herrenlos am Rand der modernen Chaussee. Die Straßenbauer mußten Mitleid mit ihm gehabt haben, oder es war einer unter ihnen, der Apfelbäume mochte, so wie der Junge auch. „Gleich kannst du auffangen“, rief er dem Mädchen zu. Dann zog er sich geschickt Ast um Ast weiter empor. Das Mädchen lehnte sich auf den Lenker seines Fahrrades und verfolgte jede seiner Bewegungen. Sie bewunderte den Freund. Wie mutig er ist, dachte sie. Als der Junge den richtigen Ast erreicht hatte, setzte er sich auf ihn und schob sich vorsichtig – sein Gleichgewicht ausbalancierend – Stück um Stück vorwärts. 6
Endlich hatte er sich so weit hinausgewagt, daß er den Apfel, den er für sie ausgesucht hatte, greifen konnte. Er pflückte ihn ab und begutachtete ihn einen Augenblick lang. Das Mädchen hielt das Fahrrad mit einer Hand. Mit der anderen fing es den Apfel auf, den er ihm zuwarf. Kraftvoll biß es hinein. Er sah ihr von seinem luftigen Sitz zu dabei. Dann machte er sich daran, weitere Äpfel zu pflücken und sie in sein Hemd zu stopfen. Das Mädchen aß den Apfel und blickte von Zeit zu Zeit wieder zu ihm hoch. Der Junge war noch immer eifrig beschäftigt, den Baum zu plündern. Nachher werden wir uns im Dorf irgendwo auf eine Bank setzen und so viele Äpfel essen, bis wir nicht mehr können, dachte sie voller Vorfreude. Sie schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr elegante Bögen und Schleifen auf der Chaussee. Mehrere heruntergefallene, überreife Äpfel dienten ihr als Slalomstrecke. Sie pfiff ein Liedchen. „Hej, Gela, fahr meine Maschine nicht kaputt“, warnte der Junge. „Ach was“, rief sie, „außerdem kann ich viel, viel besser radfahren als du.“ Weder das Mädchen auf der Straße noch der Junge auf dem Baum bemerkten den PKW, der mit hoher Geschwindigkeit aus der Kurve kam. Das Mädchen konzentrierte sich auf die Äpfel. Sie hatte den einen nur knapp umrundet. Den nächsten schaffst du nicht, wenn du nicht mehr Schwung hast, dachte sie. Sie stieg aus dem Sattel und trat kräftig in die Pedale. Dann riß sie den Lenker herum und nahm Anlauf. Im gleichen Augenblick quietschten die Bremsen. Der Junge im Apfelbaum fuhr erschreckt hoch, fast hätte er dabei die Balance verloren. Die Ereignisse, die sich jetzt in Bruchteilen von Sekunden dort unten abspielten, verfolgte er, ohne sie begreifen zu können. 7
Er sah, wie das Auto bremste, wie es sich auf der Chaussee quer stellte und auf das Mädchen zuschoß. Er sah auch, daß die Freundin im letzten Augenblick den Kopf herumriß und mit schreckgeweiteten Augen das Auto erfaßte. Dann der Aufprall. Ein dumpfes Geräusch, das den Jungen auf seinem Ast erstarren ließ. Er sah, wie das Mädchen vom hinteren Kotflügel des Wagens erfaßt und vom Fahrrad geschleudert wurde. Es schlug einige Meter weiter gegen den Stamm des Baumes, auf dem der Junge saß. Er vermeinte das Erzittern bis in die Äste gespürt zu haben, so stark war die Erschütterung durch den Stoß. Er sah das kleine Mädchen unten liegen. Sie lag nur wenige Meter unter ihm und bewegte sich nicht. Sie hatte eine so unnatürliche Haltung, daß ihn ein plötzliches Entsetzen befiel. Er wollte hinabsteigen, er wollte springen, sie an den Schultern rütteln, sie betteln, sie möge doch aufstehen, doch er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Es war, als sei er auf seinem Hochsitz festgeklebt. Gleichzeitig nahm er wahr, wie der Wagen einige Meter weiter zum Stehen kam. Ein Mann mit verstörtem Gesicht sprang heraus und lief die Straße zurück. Kurz hinter ihm lief eine Frau. Die beiden standen neben dem Kind und starrten es fassungslos an. Der Mann kniete nieder und berührte das Kind am Gesicht. Dann wandte er sich der Frau zu. Er war aschfahl. Der Junge sah das Gesicht des Mannes, und er sah, wie seine Hände zitterten. Warum tun sie nur nichts, dachte der Junge verzweifelt. Sie müssen doch irgend etwas tun! Er wollte schreien. Er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Helft ihr doch, wimmerte er unhörbar, bitte, oh, bitte, helft ihr doch, tut doch etwas, sie ist schwerverletzt. Er hörte die angstvolle Stimme der Frau. „Ist sie tot?“ Der Mann sah die Frau an, als habe er die Frage nicht verstanden. Die Frau wiederholte sie, eindringlich jetzt. 8
Der Mann beugte sich noch tiefer über das Kind, legte das Ohr an dessen Mund, um nach dem Atem, dem leisesten Lebenszeichen, zu lauschen. Dann richtete er sich wieder auf und zuckte die Schultern. Jetzt kniete sich die Frau neben das Kind und faßte nach dessen Handgelenk. Der Mann war aufgestanden, er knetete seine Hände, blickte sich angstvoll um, riß die Frau plötzlich an den Schultern zurück. „Wir müssen weg“, rief er mit zitternder Stimme, „schnell, wir müssen … wir können doch nicht …“ „Du bist wohl verrückt geworden“, rief die Frau und stieß den Mann von sich. „Das Kind stirbt, wenn wir nicht schnellstens Hilfe holen.“ „Aber ich habe doch … du weißt doch, daß ich etwas getrunken habe … Sie werden das herausfinden …“ Die Frau stand mit entschlossenem Gesicht vor ihrem Begleiter, der auf einmal vor ihr zurückzuweichen schien. „Hier geht es um ein Leben“, rief die Frau mit plötzlich überkippender Stimme, „begreifst du das nicht? Wir können das Kind unmöglich hier allein lassen. Außerdem ist das Fahrerflucht. Hörst du, Günter, Fahrerflucht. Wir können nicht abhauen.“ „Aber es ist doch nicht meine Schuld“, rief der Mann, „sie war doch selbst … Sie ist mir doch hineingefahren … Ich konnte gar nichts dafür!“ Der Junge sah, wie die Frau zum Auto hinüberlief und kurz darauf mit einem Verbandkasten zurückkam. Sie kniete sich wieder neben das Kind. Mit fahrigen Händen suchte sie in dem Kasten nach Verbandzeug. Dann faßte sie dem Kind behutsam auf die Stirn. „Vielleicht ist sie wirklich schon tot“, flüsterte die Frau und sprang plötzlich auf. Mit beschwörenden Blicken sah sie auf die Verunglückte herab, als könne sie sie mit den Augen zu neuem Leben erwecken. Der Junge sah, wie die Frau sekundenlang unentschlossen stand, mit müden, hängenden Schultern. Ihr 9
Gesicht sah auf einmal alt aus, obwohl er erkennen konnte, daß sie noch jung war. Warum tust du denn nichts? schrie es in ihm. Warum hilfst du ihr nicht? Der Mann stand auf der Straßenmitte und hob das zerquetschte Fahrrad auf. Er trug es an den Straßengraben. „Komm“, rief er der Frau zu, „wir können ihr doch nicht mehr helfen. Wir können nichts tun.“ Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand, als hielte sie schon jetzt die Totenwache. Mit einer hilflosen Geste strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Der Mann packte sie am Arm und wollte sie fortziehen. Sie entriß ihm die Hand und wandte nicht einen Moment den Blick. Sie starrte das kleine Mädchen an, das dort auf dem Bauch lag, mit seitwärts gebogenen Armen, als schlummere es friedlich. Nur der Kopf des Kindes war verdreht, schien zu einem anderen Körper zu gehören. Der Mann war zu seinem Auto hinübergelaufen. Der Junge hörte, wie der Motor ansprang. Dann sah er, wie der Wagen zurückgesetzt wurde. Dicht neben der Frau hielt der Mann an. „Komm, schnell“, rief er aus dem Innern des Wagens. Dann zerrte er die Frau neben sich auf den Sitz. Die Tür schlug zu. Der Motor heulte auf. Der Junge sah, wie der Wartburg mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr. Er spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen, und er klammerte sich noch fester an seinen Ast. Schreien, dachte er, jetzt endlich mußt du schreien, sie zurückrufen, sie zwingen … Sie können doch nicht … Sie stirbt doch … Er sah das kleine Mädchen dort unter sich, mit dem er vor wenigen Minuten hierhergekommen war, voller Unternehmungslust und mit großem Apfel-Appetit. Das Kind bewegte sich noch immer nicht. Entsetzen und Furcht und Grausen lähmten den Körper des Jungen. 10
Flehend und hilflos schaute er auf die Straße hinab. Das Auto war längst hinter den nächsten Hügeln verschwunden. Der Kopf des Jungen sank auf die Rinde des Astes hinab. Seine Schultern zuckten wie im Krampf. So hing er noch im Baum, als das verunfallte Mädchen wenige Minuten später von zwei Lastwagenfahrern gefunden wurde …
1 Das kleine Café war fast menschenleer. An der blinkenden Espressomaschine lehnten zwei Serviererinnen und blickten gelangweilt zu ihren Revieren hin. Dicht am Fenster, das einen weiten Ausblick auf die Hauptstraße bot, saß ein junges Paar an einem der runden Kaffeetische. Der Mann spielte nervös mit einem Gasfeuerzeug. Dann setzte er es unsanft auf die Marmorplatte und griff nach der Hand der jungen Frau, die ihm gegenübersaß. „Brigitte“, sagte er beschwörend, „hör auf mich. Fahr nicht mit. Was kann er schon wollen.“ „Trotzdem“, sagte sie. „Aber das ist doch sinnlos! Er will dich herumkriegen. Und wenn er das nicht erreichen kann, dann wird er dich beleidigen. Du weißt es doch.“ Brigitte Perlbach sog heftig an ihrer Zigarette, streifte fahrig die Asche ab. Dann goß sie sich Mokka nach, tat Sahne und Zucker hinzu, rührte um und trank. „Er hat nichts als Angst“, rief der junge Mann, „Scheißangst, daß du ihn verläßt, obwohl er weiß, daß es im Grunde schon längst geschehen ist.“ „Ja, das weiß er“, sagte sie tonlos. 11
„Siehst du. Was soll dann diese Reise? Er will dich bequatschen. So, wie er es all die Jahre tat. Ich verstehe sowieso nicht, was euch so aneinanderkettet. Ihr paßt nicht zusammen, habt nie zueinander gepaßt. Wie konntest du dich je mit ihm einlassen? Er ist doch ein Spießer, langweilig, selbstgenügsam, geistig träg. Er zieht sich allabendlich in seine Ofenecke zurück und glotzt in die Röhre, oder er tyrannisiert dich. Du bist doch ein ganz anderer Mensch, Brigitte. Du willst nicht in seinem Mief versauern, du bist noch jung. Du willst leben, willst die Jahre auskosten, die dir gegeben sind. Weißt du, daß Perlbach überhaupt nicht verstünde, wovon wir jetzt reden? Ihr seid zwei völlig andere Menschen, sozusagen zwei entgegengesetzte Lebensentwürfe. Jedes Scheidungsgericht der Welt würde sofort ‚Unvereinbarkeit der Charaktere‘ akzeptieren. Überleg doch mal. Was soll der Senf mit Perlbach noch?“ „Mag schon sein, daß du recht hast“, räumte sie ein. Er sah sie unsicher an. „Ich bin mir nicht im klaren, ob er es nicht wieder schafft bei dir.“ „Er schafft es nicht, Peter.“ „Das hast du schon oft gesagt. Doch geschieden bist du noch immer nicht.“ Brigitte Perlbach langte nach ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne hing. „Ich möchte gehen, Peter.“ Er sah sie betroffen an, „Du willst …“ „Ja.“ Und dann, als sie gewahrte, wie mutlos und verloren er aussah, fügte sie hinzu: „Versteh doch. Ich will Klarheit. Ich verlasse ihn. Doch du mußt ein wenig Geduld haben.“ Peter Theuerkauf sprang auf und half ihr in den Mantel. Als sie dicht vor ihm stand, umfaßte er ihre Schultern. „Brigitte, mir ist irgendwie nicht geheuer.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Wie meinst du das?“ 12
„Weiß auch nicht. Ist Blödsinn. Aber … Manchmal denke ich, du liebst ihn noch.“ Sie küßte ihn. „Eifersucht, stimmt’s?“ „Mag sein. Ich liebe dich.“ Er sah ihr nach, wie sie die schwere Glastür aufstieß, wie sie die flachen Treppen zum Gehsteig hinunterstieg und die Allee entlangging. Sie war eine auffällige Erscheinung. Peter Theuerkauf bemerkte, wie sich der Verkehrspolizist auf der Kreuzung nach ihr umdrehte. Verdammter Idiot, rief er sich zu, jetzt bist du schon auf weiße Mäuse eifersüchtig. Mensch, reiß dich zusammen! Hastig trank er den Rest seines Mokkas. Dann zahlte er und verließ das Café. „Nein, diesen dort“, rief sie und wies mit der Hand auf einen Nylonanorak, der in unauffälligem Braun gehalten war. Die junge Verkäuferin des Sportausstattungshauses verzog ein wenig das Gesicht. Ob es Mißbilligung oder Enttäuschung ausdrückte, war schwer zu erkennen. „Aber der rote hier ist doch viel schicker“, wagte sie schließlich doch einen Einwand. Brigitte Perlbach lächelte. „Wissen Sie, ich bin keine achtzehn mehr. Obwohl ich eingestehen muß, daß dieser hier sehr hübsch ist, nur – nein, mir steht der braune besser.“ „Wie Sie wünschen.“ Brigitte hatte sich das Kleidungsstück übergezogen und probierte es vor dem Spiegel. Der Anorak paßte ausgezeichnet. „Haben Sie auch noch leichte Sportschuhe da? Wissen Sie, solche, mit denen man kilometerweit latschen kann.“ „Ja. Tschechische, ganz weiches Leder.“ Sie ließ sich die Sportschuhe zeigen, streifte sie über 13
die Füße und trat dann noch einmal vor den Drehspiegel. Im gleichen Moment gewahrte sie den jungen Burschen, der neben dem Campingstand lehnte und zu ihr hinüberblickte. Sie erinnerte sich, daß er schon vorhin dort gestanden hatte. „Ja“, rief sie, „ich nehme beides.“ Die Verkäuferin nickte und begann den Kassenzettel auszuschreiben. Brigitte Perlbach überlegte, woher sie den Jungen kannte. Sie war sich jetzt sicher, ihn irgendwo schon gesehen zu haben. Der Junge mochte Anfang Zwanzig sein. Auch jetzt stand er noch vor den Zeltausrüstungen und tat so, als interessiere er sich für sie. Doch Brigitte bemerkte, daß er von Zeit zu Zeit einen Blick herüberwarf. Unter anderen Umständen wäre sie ungehalten gewesen. Sie ärgerte sich jedesmal, wenn ihr junge Burschen aus LKWs oder von einem Baugerüst herunter zupfiffen oder anzügliche Bemerkungen machten. Sie kam sich dann stets wie in ihrer Jungmädchenzeit vor, in der sie nicht gewagt hatte, durch bestimmte Straßen zu gehn, aus Angst, ein paar Jungen könnten ihr etwas nachrufen. Heute verstand sie es freilich, vieles geschickt zu überspielen. Sie tat immer, als bemerke sie nichts. Doch der Bursche dort drüben sah nicht wie einer aus, der Frauen belästigte. Es hatte eher den Anschein, als gebe sich ein junger Mann Mühe, sein Interesse zu verbergen. Brigitte Perlbach wußte nicht, ob sie ärgerlich, neugierig oder geschmeichelt sein sollte. Etwas zerstreut legte sie die Geldscheine auf den Kassentisch. Während sie das Wechselgeld in Empfang nahm, spürte sie ganz deutlich die Blicke hinter sich. Jetzt fühlte sie sich doch belästigt. Hastig nahm sie das verschnürte Paket und verließ die Verkaufsstelle. Als sie auf der Straße stand, blickte sie zur Uhr und überquerte dann eilig die Straße. Vor dem großen Pelz14
geschäft verweilte sie einen Augenblick und betrachtete die kostbaren Auslagen. Plötzlich wurde sie sacht am Arm gestreift. „Entschuldigen Sie“, sagte der junge Mann aus dem Spowaladen, „ich wollte Sie etwas fragen.“ Brigitte Perlbach zog unwillig die Brauen hoch. „Ich weiß nicht …“ „… es ist wichtig für mich“, beeilte sich der junge Mann zu sagen. „Sie haben sicher bemerkt, daß ich Sie beobachtete. Schon vorhin, als Sie noch im Café saßen.“ „Nein, ich habe nichts bemerkt“, entgegnete Brigitte ungehalten. Sie blickte ihren ungebetenen Begleiter kurz an und wollte ihren Weg fortsetzen, als er ihr mit einem verlegenen Lächeln den Weg vertrat. Sie schob ihn zur Seite und ging weiter. „Sie mißverstehen mich. Ich will Sie nicht belästigen.“ „Was wollen Sie also?“ fragte sie, an eine Schaufensterscheibe herantretend. „Sind Sie Frau Perlbach?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Ja“, entgegnete sie erstaunt, „woher wissen Sie … Ich kenne Sie nicht.“ „Mein Name ist Herzog. Andreas Herzog! Wir sind uns schon einmal begegnet.“ „Ich kann mich nicht erinnern.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn Brigitte hatte schon vorhin, im Sportartikelgeschäft, überlegt, wo ihr jener Bursche schon einmal begegnet war. Es war ihr nicht eingefallen, und so hatte sie nicht länger ihr Gedächtnis durchforscht, denn es interessierte sie nur mäßig. „Ich bin Student im Praktikum“, setzte der Begleiter seine Erklärungen fort. „Maschinenbau. Sie verstehen?“ „Nein“, sagte sie. „Ich bin Ihrem Mann zugeteilt worden. Einmal war ich bei Ihnen zu Hause. Ich mußte eine Arbeit nachliefern. Sie öffneten mir damals die Haustür.“ „Ach so, das kann sein“, erwiderte sie. „Wissen Sie, 15
zu uns kommen öfter mal Praktikanten meines Mannes. Ich kann mich an Sie wirklich nicht erinnern. Und nun“, sie war stehengeblieben und hatte ihn mit einem kurzen Blick gestreift, der ihn zur Kürze zwingen sollte, „nun sagen Sie mir endlich, weshalb Sie mir nachlaufen.“ „Es ist sehr wichtig, wirklich“, beteuerte der Student. „Dann schießen Sie los“, sagte sie und ging langsam weiter. Er hielt sie erneut sacht am Arm zurück. „Könnten wir uns … ich meine, ich kann das nicht hier so – mitten auf der Straße … Es ist eine längere Geschichte …“ Sie blickte ihn befremdet an. Sollte er etwa auch einer jener überschwenglichen Kerle sein, die mit Liebesbeteuerungen und geröhrten Schwüren hausieren gingen? Das wäre freilich schade, dachte sie, denn eigentlich sah er dazu zu intelligent aus. Der Student schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er errötete, wußte offenbar nicht recht, wo er seine Hände unterbringen sollte. „Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Ich … Es ist etwas Privates, was mit Ihnen – verzeihen Sie – nur mittelbar zu tun hat.“ „Ja, dann sagen Sie’s doch endlich.“ „Könnten wir uns nicht irgendwo setzen?“ „Nein“, gab sie kategorisch zur Antwort, „ich sagte schon, daß meine Zeit knapp ist.“ „Vielleicht in den nächsten Tagen? Vormittags oder in der Mittagspause – drüben im Espresso …?“ „Tut mir leid, ich werde verreisen.“ „Wann werden Sie zurück sein?“ fragte er mit Nachdruck. „Na hören Sie mal! Ich bin Ihnen doch nicht rechenschaftspflichtig. Das geht ein wenig zu weit.“ „Verstehen Sie doch, es ist sehr wichtig für mich.“ „Können Sie das nicht mit meinem Mann selbst klä16
ren – ich nehme doch an, es geht um studentische Angelegenheiten.“ „Nein, nein, darum geht es nicht.“ „Also, dann müssen Sie sich gedulden, bis …“ „… kann ich Sie anrufen? Ich habe Ihre Nummer.“ „Tun Sie das.“ Der Student nickte zum Abschied. Dann wandte er sich um und ging die Straße abwärts. Brigitte Perlbach, die stehengeblieben war und ihm nachsah, bemerkte, daß er sich noch einmal kurz umschaute. Seltsamer Kauz, dachte sie, beobachtet einen, spricht von dringenden Angelegenheiten, tut geheimnisvoll … Ach was, brach sie ihre Gedankenkette ab, sicher wieder mal einer, der sich wichtig machen will. Als sie das Redaktionsgebäude des Modejournals „Sylvia“ erreicht hatte, war das Gespräch mit dem jungen Mann schon vergessen. Im Vorzimmer zum „Allerheiligsten“ herrschte Hochbetrieb. Die Sekretärin des Chefs hämmerte auf ihre Schreibmaschine ein und blickte kaum auf, als Brigitte den Raum betrat. Alfons Reh, Brigittes Fotografenkollege, flegelte in einem Klubsessel, die Beine über dem Rauchtischchen verkreuzt. Brigitte erfaßte die Situation sofort. Reh räsonierte wieder mal mit lässigen Gebärden und großem Organ. „Tach, Gitti“, warf er ihr lässig hin, „hast du schon gehört, daß meine Serie ‚Moskauer Cocktails‘ abgelehnt wurde?“ Pamela Tapper, ein nicht mehr ganz junges Fotomodell, die an einem Aktenregal lehnte und ein Zigarillo rauchte, kicherte provokant. Reh warf ihr über die Schultern einen vernichtenden Blick zu. „Warum kommt die Serie nicht?“ fragte Brigitte. 17
„Der Alte findet die Sache zu – nostalgisch … Jugendstil und Moskauer Abende, das ginge absolut nicht, findet er.“ Die Sekretärin unterbrach kurz ihren Schreibfluß, setzte zum Sprechen an, unterließ es dann aber, denn sie ahnte, daß sie Rehs Argumentation und seinen Spitzen nicht gewachsen sein würde. „Ich werde Müllkutscher“, rief Reh mit Emphase, „oder Fundbüroangestellter oder – Nachtwächter in einer Bedürfnisanstalt. Da hat der Mensch noch Perspektiven!“ Brigitte war an die Schreibfächer getreten, in dessen abgeteilten Schüben unter der Rubrik „persönlich“ Nachrichten und Mitteilungen für die einzelnen Mitarbeiter abgelegt wurden. „Du hast eben nischt aufm Kasten, Reh“, flötete Pamela freundschaftlich. „Ach du, du …“ Reh winkte verächtlich ab. Die Sekretärin unterbrach wiederum ihre Arbeit und rief ärgerlich: „Vielleicht denkt ihr mal dran, daß ich auch noch da bin und arbeiten muß. Hier ist keine Quatschbude.“ Reh ließ sich vom Temperamentsausbruch der Sekretärin nicht im mindesten stören. „Solche Aufnahmen! Kühle, distinguierte Eleganz. Na klar, ein wenig Jugendstil, eine Prise Nostalgie, aber, Himmelherrgott noch mal, das ist doch der internationale Trend. Wir können doch nicht wie in den Fünfzigern Mode an den anderen vorbei machen!“ Reh war aufgestanden, hatte sich vor dem Schreibtisch der Sekretärin aufgebaut und fuhr fort, dabei die Stimme des Chefredakteurs imitierend: „Nein, nein, nein, Kollege Reh, der Rote Platz und diese nachtmüden Vogelscheuchen, das geht absolut nicht miteinander.“ Reh hatte sich wieder in seinen Sessel geworfen. „Schlecht, sagt dieser fossile Knacker. Ha! Sogar Dior 18
würde angesichts dieser Entwürfe und meiner Aufnahmen neidbleich werden!“ „Ha, ha“, kommentierte Pamela trocken Rehs Vorstellung. Brigitte grinste zu dem Mannequin hinüber und fragte dann: „Ist der Chef zu sprechen?“ „’n Moment noch“, entgegnete die Sekretärin, „er telefoniert mit Warschau.“ Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Fredersdorf kam hereingestürmt. Fredersdorf war der Redaktionssekretär, ein kleiner, nervöser Mensch, der nur im Eiltempo unterwegs war. „Wo sind die Aufnahmen von dieser blöden KeramikAusstellung? Und der Text dazu? Verdammt noch mal, ist denn das hier ’ne Klapsmühle oder was sonst?“ „Ich hab’ sie vorhin ’runtergegeben“, sagte Linda Peters, die Sekretärin. Schon war Fredersdorf wieder draußen. Auf dem Korridor rief er nach einem anderen Kollegen. Ein paar Türen knallten. Brigitte setzte sich ihrem Kollegen gegenüber. „Nimm’s nicht so tragisch. Vielleicht kannst du sie in der ‚Mode für Sie‘ verbraten. Die sind doch ganz wild auf Farbe. Und Moskau – da beißen sie sofort an.“ Reh winkte müde ab. „Hab’ schon versucht, sie zu kriegen. Aber die wollen auch nicht. Scheiße.“ „Ihr Urlaub ist genehmigt, Frau Perlbach“, rief die Sekretärin dazwischen. „Der Chef war zwar dagegen, aber da es Ihr ausdrücklicher Wunsch war …“ „Was, du gehst in Urlaub?“ rief Alfons. „Urlaub mit wem?“ fragte Pamela hintergründig. Brigitte wollte auffahren, doch als sie Pamelas Gesicht sah, die ihr zulächelte, als könne sie nur lächeln, unterließ sie es. Die Tapper war wegen ihrer spitzen Zunge gefürchtet. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihr in unnötige Wortgefechte einzulassen. Pamela war eine Künstle19
rin der Nachrede, kaum ein zweiter verstand es so ausgezeichnet, den Kollegen die Worte im Mund herumzudrehen. „Du mieses Luder“, sagte Reh leise. Pamela schien wenig beeindruckt. Für eine Weile herrschte Schweigen im Vorzimmer. Nur das heftige Hacken der Schreibmaschinentypen. Linda Peters hämmerte unverdrossen vor sich hin, als könne sie die Stimmung, die unversehens umgeschlagen war, wieder aufbessern. „Sieh mal, was ich habe“, sagte Alfons nach einigen Sekunden und reichte Brigitte eine Farbaufnahme hinüber. „Wird die Titelseite in der übernächsten Nummer.“ Brigitte sah ihr Konterfei. Sie stand mit hochgereckten Armen auf einem dreibeinigen Schemel und fotografierte in eine Menschenansammlung hinein, in deren Mitte sich ein rotbemützter Jockey befand. Brigitte konnte sich sofort erinnern. Das war am Sonntag vor drei Wochen gewesen. Auf der Rennbahn. Am Mode-Renntag. Es war ein turbulenter Tag gewesen. Sie war mit Peter zum Rennen gefahren. Sie, weil sie arbeiten mußte, und er, weil er sich für Pferderennen interessierte. Sie hatten mehrmals gewettet. Fast immer verloren. Nur in einem Rennen hatte sie richtig getippt. Sieg auf „Amada“. Den Sieger hatte sie fotografiert. Die Farbaufnahme war gelungen. Brigitte blinzelte mit zurückgelegtem Kopf in das Okular ihrer Kamera. Seitlich neben ihr stand ein etwa siebenjähriger Junge, der ihr aufmerksam und gespannt bei der Arbeit zusah. „Und das soll das Titelblatt werden?“ fragte Brigitte ungläubig. „Genau. Schon angenommen und bestätigt.“ „Bei uns?“ „Nee, in der ‚Welt der Frau‘. Die haben doch jetzt diesen Wettbewerb laufen. ‚Die Frau an deiner Seite‘. Na ja, 20
und da hab’ ich dich vermarktet. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“ „Fragen könntest du wenigstens, Alfons.“ „Hab’ ich doch soeben getan.“ „Vorher, mein Lieber.“ Im gleichen Augenblick knackte es in der Wechselsprechanlage auf Linda Peters’ Schreibtisch. Die sonore Stimme des Chefredakteurs war zu vernehmen. „Linda, haben Sie noch Dringendes?“ „Ja, Kollegin Tapper und Kollegin Perlbach sind hier.“ „Schicken Sie mir erst Brigitte.“ „Wo gibt’s denn so was“, protestierte Pamela. „Ich warte schon eine halbe Stunde länger.“ Die Sekretärin hob bedauernd die Schultern. „Wenn er es so anordnet – er ist der Chef.“ Brigitte hatte sich erhoben und trat an die Tür zum Chefzimmer. „Wann wirfst du deine Urlaubslage?“ rief Reh ihr nach. „Mal sehen, vielleicht, wenn ich zurück bin.“ Damit trat sie ins Nachbarzimmer. Der Chefredakteur, ein rundlicher Mensch mit starken Brillengläsern, empfing sie gutgelaunt. Er kam ihr von seinem Schreibtisch entgegen, reichte ihr die Hand und lud sie ein, Platz zu nehmen. „Du willst also in den Urlaub?“ „Ja.“ „Du weißt, daß ich dich gerade jetzt kaum entbehren kann.“ Er langte nach einer Schachtel Zigaretten und bot ihr an. Nachdem er Feuer gereicht hatte, fuhr er fort: „Wir wollen eine Reportage über ein Kinderferienlager machen, dann haben wir die neue Herbst- und Wintermode, irgend jemand muß ich nach Litauen schicken, und dann sind da noch die Reiterfestspiele in Ungarn. Boger liegt mit ’ner Oberschenkelfraktur in Gips, und Uschi Berner kriegt ihr lang ersehntes Kind. Fazit: Ich hab’ noch Theo, 21
Alfons, der gerade mit mir böse ist, und – tja, und dich. Willst du dir’s nicht doch noch überlegen?“ „Nein, Anton, ich hab’ dir doch gesagt …“ „… gut, gut, ich verstehe.“ „Ich hab’ so oft euch zuliebe den Urlaub verschoben. Eigentlich kein Wunder, daß mein Mann sauer ist. Und du kennst ja seine Vorwürfe.“ „Ja“, Löffler nickte, „zur Genüge. Er läßt ja auch keinen Zweifel darüber aufkommen, wie er vernachlässigt würde.“ Brigitte zuckte mit den Achseln und lächelte müde. „Und die Reiterei in Ungarn reizt dich auch kein wenig?“ lockte Löffler. „Wie ich erfahren habe, interessierst du dich neuerdings brennend für Pferde?“ „Hat Reh also wieder gequasselt“, resümierte Brigitte. „Nee, ausnahmsweise nicht. Ich war auch dort. Und Boger meines Wissens auch. Du siehst – wir lieben dich eben. Wir bewachen jeden deiner Schritte wie eifersüchtige Liebhaber. Übrigens war ich ehrlich beeindruckt von deiner Wettleidenschaft.“ Brigitte spürte den gutmütigen Spott, und sie kannte Löffler gut genug, um zu wissen, daß er sie wirklich mochte. Dennoch war es ihr unangenehm, daß nun schon der zweite Kollege angab, sie an jenem Sonntag gesehen zu haben. Sie hatte sich von Peter überreden lassen, während des ganzen Renntages dort zu bleiben, obgleich ihr redaktioneller Auftrag nur vorschrieb, den Sieger des Großen Preises der DDR und die beiden Nächstplazierten zu fotografieren. Sie scheute Begegnungen mit Kollegen, wenn sie mit Theuerkauf spazieren oder ins Kino ging. Der Klatsch blühte ohnehin, und Redaktionen, soviel wußte Brigitte seit langem, vornehmlich die der Modebranche, waren Klatschumschlagplätze allerersten Ranges, wahre Börsen des Tratsches und der Flüsterei. Brigitte war keine ängstliche Natur. Sie haßte es, sich 22
vor jemandem zu verstecken, und sie verachtete Heimlichtuer. So scheute sie sich auch nicht vor dem Gerede, das hier und dort schon über sie aufgekommen war, denn sie machte sich nichts vor: Die Beziehung mit Peter zu verheimlichen war in ihrem Beruf so gut wie ausgeschlossen. Doch in diesem Fall störte es sie, denn sie hatte den Chef um Urlaub ersucht, da sie, wie sie begründet hatte, endlich einmal wieder mit ihrem Mann fahren wollte. Das mußte nun bei Löffler Erstaunen hervorrufen. Gerade das Verhältnis mit Peter und die Situation in ihrer Ehe hatte Brigitte bewogen, dem Drängen ihres Mannes nachzugeben, mit ihm in den Urlaub zu fahren. Sie wollte eine Generalbereinigung. Daß diese Ehe zu retten war, daran freilich zweifelte sie schon seit zwei Jahren. Im Grunde wußte sie es ganz sicher, daß sie nie zu Günter Perlbach zurückfinden würde; zuviel war geschehen, was sie entzweit hatte. Doch sie wollte ihr Zusammenleben nicht mit einem großen Krach ausklingen lassen, und das zu inszenieren hatte Perlbach oft genug angekündigt. Sie bemitleidete ihn, wenn er sich zu großen Eifersuchtsszenen bereit machte, und genau das spürte er, und er fühlte sich dadurch noch mehr von ihr gedemütigt. Sie wollte eine stille Scheidung. Sie hatte viel darüber nachgedacht. Warum sollte eine Bindung, die Jahre gedauert hatte und die nicht immer so freudlos war wie heute, mit lauten, unguten, gehässigen Worten enden? Ging es nicht auch ohne schmutzige Wäsche vor dem Scheidungsrichter? Sie hatte diese Szenen immer als unwürdig, ja sogar als unmenschlich empfunden. Wenn zwei, die sich mal was bedeutet haben, so auseinandergehen, dann taugen sie entweder beide nichts, oder es hatte nie wirkliche Gemeinschaft zwischen ihnen gegeben; das hatte sie oft gedacht, wenn von peinlichen Trennungsaffären die Rede ging. Sie hatte sich mit Günter auseinandergelebt, das war 23
eindeutig. Es war langsam geschehen und hatte Jahre gedauert. Eigentlich war es zu großen Auseinandersetzungen in den ersten fünf Jahren ihrer Ehe nie gekommen. Erst die letzten Jahre waren schlimm. Seit der Zeit litt sie unter ihrer häuslichen Gemeinschaft mit Günter. Oft genug war sie Hals über Kopf zu einer Dienstreise aufgebrochen, die notfalls auch ein anderer Kollege hätte übernehmen können. Manchmal hatte sie sich regelrecht um Dienstreisen gerissen, nur um weit weg zu sein, nicht eingesperrt mit ihm in der kleinen 2-ZimmerNeubauwohnung, in der man sich nicht aus dem Weg gehen konnte, wenn einem danach war. Sie war sich heute im klaren, daß sie nicht immer fair zu ihrem Mann gewesen war. Sie wußte es, doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Mit wieviel Anspruch waren sie damals angetreten, und was war übriggeblieben? Manchmal haßte sie ihn dafür. Doch sie wußte auch, daß sie mitschuldig war. Und das hatte sie noch mehr von ihm fortgetrieben. Das Gefühl eigener Schuldhaftigkeit macht ungerecht. Seit Jahren hatte sie sich keine Mühe mehr gegeben. Sie übersah Günter. Sie tat es, obgleich sie sah, daß er litt. Wenn es auch sein kleinmütiges, larmoyantes Leiden war, dennoch: Er litt. Und sie war darüber hinweggegangen. Und dann hatte die Geschichte mit Peter begonnen. Nur wenige Wochen, und Günter war dahintergekommen. Sie hatte auch nicht versucht, es vor ihm geheimzuhalten. Zuerst, in der allerersten Zeit mit Peter, da glaubte sie sogar noch, sie könne Günter eifersüchtig machen, könne ihn zurückgewinnen. Ein kleiner Flirt mit einem anderen, das hat schon manchmal geholfen, hatte Renate, die Freundin, getröstet, als sie unter Selbstvorwürfen litt. Inzwischen wußte sie, daß es ein Trugschluß war. Sie hatte es auch in den folgenden Monaten noch darauf angelegt, das Verhältnis mit ihrem Mann irgendwie zu 24
bereinigen, wenngleich sie auch zugestehen mußte, daß ihr das nie ganz gelungen war. Es war eben nutzlos, Worte zu machen, wenn keine inneren Bindungen mehr existieren, wenn keine Zärtlichkeiten mehr aufkamen, sondern rapider Verlust an gegenseitigem Vertrauen eintrat, eine gespannte, gereizte Atmosphäre in ununterbrochener Konstanz herrschte. In den vier Wänden ihrer Wohnung konnten sie keine sachlichen Gespräche mehr führen, hier waren alle Worte von vornherein vergällt, eingefärbt von den endlosen Auseinandersetzungen, die hier zwischen ihnen geführt worden waren. Dies alles berücksichtigend und auch die Erinnerung, daß es einmal etwas zwischen ihnen gegeben hatte, Vertrauen, auch Zuneigung, war sie fest entschlossen, diesen Urlaub mit ihm zu nutzen, um endgültig die Fronten zu klären. „Von mir aus“, platzte Löffler in das Schweigen hinein, „fahr auf deine Insel. Doch da du ja eine Journalistin bist, wirst du sicher die Zeit finden, etwas für uns zu machen.“ „Auf Hiddensee?“ Der Chefredakteur nickte. „Ich habe da interessante Sachen gehört. Einerseits will man die Insel als Urlauberzentrum ausbauen, andererseits beginnt man mit industriemäßiger landwirtschaftlicher Großproduktion. Also: wenn du mich fragst, irgendwie geht das nicht nebeneinander. Die einen wollen meliorieren und Färsen großziehen, dazu brauchen sie Fläche für Weideland und so weiter, und die anderen setzen auf große, ausgebaute Urlauberdörfer, Bungalows, Hotels.“ „Ist ja schade. Ich dachte immer, Hiddensee wäre ’ne einsame Insel am Ende unserer Welt. Irgendwer hat mir erzählt, daß es nicht mehr so ist, aber ich hab’ einfach keine Lust gehabt, mir Hiddensee anders vorzustellen.“ „Du wirst sehen. Mach mir ein paar anständige Fotos 25
und versuch herauszubekommen, wer von den beiden Parteien vermutlich die stärkere sein wird. Wenn du’s nicht packst, dann mach mir wenigstens einen schönen Stimmungsbericht mit guten Aufnahmen. Hiddensee in der Vorsaison. Aber nicht den üblichen Schmus, du weißt schon, keine Sanddornsaftereien. Mehr so was Eigenes, du hast das doch drauf.“ Löffler suchte unter einem dicken Papierstapel ein zusammengeheftetes Manuskript hervor, das er ihr hinüberreichte. „So in der Art. Hat Johnny verzapft. Gute Sache. Er war nur eine Woche dort. So ungefähr könnte ich mir deins auch vorstellen.“ Brigitte überflog die Zeilen. Es war eine feuilletonistische Reminiszenz von einem Kurzbesuch im Riesengebirge. „Rübezahls Echo“ – eine gut geschriebene, nonchalante Arbeit, voll gewitzter Passagen. „Hm“, sagte Brigitte, „Johnny kann’s eben. Doch ob ich das so hinkriege?“ Und sie dachte: Warum hat Johnny mir nie etwas beigebracht? Sein Können behält er für sich. Löffler war aufgestanden, reichte ihr die Hand und dirigierte sie dann höflich zur Tür. „Du machst das, toi, toi, toi.“ Schon stand sie draußen. Reh und Linda blickten ihr entgegen, als wäre im Zimmer des Chefs eine schicksalhafte Entscheidung gefallen. Nur Pamela blickte teilnahmslos aus dem Fenster. Brigitte winkte den anderen zu und ging hinaus. „Vergiß die Urlaubslage nicht“, rief Reh ihr nach.
2 Günter Perlbach saß an seinem Schreibtisch und überlegte. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. Sollte er 26
sie heute abend abholen? Es war schon eine Ewigkeit her, seit er es das letzte Mal getan hatte. Es war gegen vierzehn Uhr. Noch keine Zeit für Brigitte. Jetzt saß sie vermutlich mit einem dieser aufgeblasenen Presseheinis, die er, Perlbach, noch nie hatte ausstehen können, in einem Café und diskutierte. Oder man verkostete in der Redaktion Dreistern-Kognak. Auch möglich, daß sie unterwegs war, um eine ausländische Delegation oder eine Bestarbeiterin zu fotografieren. Perlbach haßte ihren Beruf. Und doch entschloß er sich, zur Redaktion zu gehen. Es sieht nach Versöhnung aus, überlegte er, nach freundlichem Entgegenkommen, nach dargebotener Hand. Er stand auf und zog sich seinen Trenchcoat über. Dann ging er ans Fenster, durch das Straßenlärm bis hier in den achten Stock hochquoll, und blickte hinab. Eine Kaskade von Ampeln gliederte den Straßenverkehr in rhythmische Bewegungen auf. Die Menschen wirkten winzig, doch es war nicht zu übersehen, daß sie es eilig hatten. Wenn er die breite, vierspurige Magistrale hinabschaute, konnte er kurz vor der Kreuzung den PresseLulatsch sehen, einen vielgeschossigen Glaskasten. Dort mochte sie jetzt sitzen. Perlbach machte sich keine Illusionen mehr über seine Ehe mit Brigitte. Bis vor drei Monaten hatte er fertiggebracht, worüber er jetzt nur noch den Kopf schütteln konnte: zuversichtlich zu sein, daß sie wieder zusammenfinden würden. Und dann hatte sie ihm eröffnet, wie es zwischen ihr und diesem Theuerkauf stünde und somit auch zwischen ihr und ihm, Perlbach, und ihm war die Demütigung doppelt groß erschienen, da er sich doch im Glauben wähnte, alles würde sich einschaukeln. Seither war das gemeinsame Wohnen – auf mehr gründete sich ihr häusliches Beisammensein schon lange nicht mehr – zum täglichen Opfergang geworden. 27
Wortlosigkeit und peinliches Bemühen, dem anderen aus dem Wege zu gehen, bestimmten die Nachmittage und Abende in der Perlbachschen Wohnung. Die Zeit der lauten Auseinandersetzungen war vorüber, es gab kaum noch Worte, die nicht dutzende Male gefallen und sich im Gebrauch abgenutzt hatten. Perlbach fand, daß eine Trennung von Brigitte das für beide Seiten Sinnvollste wäre. Er sah seit Monaten, daß es keinen Sinn hatte, sich in erniedrigenden Kleingefechten zu verbrauchen, und doch konnte und wollte er sich nicht damit abfinden, einfach so in die Ecke gestellt zu werden. Als solches empfand er die Trennung von seiner Frau, die ihm so unendlich viel zu verdanken hatte. Und dieser Schnösel! Bitterkeit stieg in Perlbach hoch, wenn er sich daran erinnerte, wie er ihnen einmal heimlich in der Stadt gefolgt war. Er hatte ihre Zärtlichkeiten beobachtet, und ihm war schlagartig klargeworden, wie lange es dieses Vertrautsein zwischen ihm und Brigitte nicht mehr gegeben hatte. Er konnte sich nicht einfach abservieren lassen! Schon gar nicht von einem Burschen, der einhergetrollt kam und sich dreist aneignete, was er, Perlbach, in langjährigen, eifrigen Bemühungen aufgebaut hatte: die stolze, selbstbewußte Frau, die Brigitte heute war! Hatte nicht er den Grundstein zu ihrer Persönlichkeit gelegt, indem er sie aus ihrem verlausten Kaff am Arsch der Welt, aus diesem gottverlassenen Nest, in welchem sie aufgewachsen war, herausgeholt hatte? Hatte nicht er sie ins Leben geführt, taktvoll und mit behutsamer Hand? War er es nicht gewesen, der sie ermuntert hatte, einen anderen Beruf zu ergreifen, sich selbst zu fordern? Freilich, er war dagegen gewesen, daß sie Fotoreporterin wurde. Doch als es damals soweit war, da traf sie bereits seit langem ihre beruflichen Entscheidungen allein. Lag der Beginn des Verfalls nicht schon vor dieser Zeit? War sie 28
ihm nicht schon in den Jahren davor entglitten, unmerklich, doch unaufhaltsam? Womit hatte es nur begonnen? Perlbach schluckte. Er wußte sich schuldlos. Er hatte sich immer Mühe gegeben. Er war ein aufmerksamer Mann gewesen. Er hatte Blumen mitgebracht, stets ein kleines Geschenk, wenn er von einer Dienstreise zurückgekommen war. Sie hatten Theaterbesuche gemacht, sie waren oft und viel verreist, mehrfach ins Ausland. Als sie einmal tagelang mit hohem Fieber im Bett lag, hatte er sie aufopferungsvoll gepflegt, jawohl, er hatte nächtens an ihrem Bett gewacht. Und nun ließ sie ihn allein. Nun amüsierte sie sich mit diesem Gecken. Das war es, was ihn so tief verletzte. Wenn sie auseinandergegangen wären als Bilanz der Jahre, die nun nicht mehr gemeinsam zu ertragen waren, nun ja, er, Perlbach, hätte es verwunden, ja, er hätte es sogar gebilligt. Er sah, daß es nicht mehr ging. Doch daß er sie abtreten sollte, diese Frau, die er als seine Schöpfung sah, das ließ ihn innerlich zittern, wenn er nur daran dachte. Es hatte ihm immer wieder Pein bereitet, wenn er im Kollegen- oder Bekanntenkreis auffällig gemustert wurde. War es nicht Bedauern, das aus den Blicken der anderen sprach, gar Mitleid? Hatte sich Brigittes Affäre schon überall durchgesprochen? Lächelte man schon über ihn hinter vorgehaltener Hand? Trieb man Ulks auf seine Kosten? Es war vorstellbar, denn Brigitte war keine Unbekannte. Seit sie diesen vermaledeiten Preis erhalten hatte, kannte man sie in der Stadt. Und auch in der Republik draußen schätzte man ihre Arbeit. Konnte es sein, daß alle Welt es wußte? Perlbach litt unter der Vorstellung, jedermann könne hohnlächelnd mit Fingern auf ihn zeigen. Dieser entsetzliche Gedanke quälte ihn in letzter Zeit des öfteren, vor allem dann, wenn Brigitte lange Abende fortblieb. Er saß dann an seinem Schreibtisch, malte Zettel voll unleserli29
cher Zeichen, schrieb sinnlose Sätze auf, die er später durchstrich. Wenn sie dann kam, dann war es noch schlimmer. Das Schweigen war unerträglich geworden. Brigitte war die erste gewesen, die auf seine immer wiederkehrenden Vorwürfe keine Antworten mehr gab. Und dabei hatte er doch nur versucht, sich auszusprechen! Er war bemüht, ein Zurück zu finden. Schon früher, vor der Zeit mit Theuerkauf, hatte ihm die Vorstellung den Magen umgedreht, daß Brigitte etwas mit einem anderen Mann haben könne. Günter Perlbach litt unter einem nervösen Magen. Jede Aufregung schlug ihm sofort auf dieses anfällige Organ. Perlbach schloß das Fenster und trat an seinen Schreibtisch zurück. Mit Sorgfalt ordnete er zwei Aktenstöße auf der Schreibplatte und verschloß sie dann in seinem Schubfach. Bis auf eine nüchterne Schreibtischgarnitur aus künstlichem Marmor, die er schon immer einmal wegwerfen wollte, war sein Arbeitsplatz jetzt wie leergefegt. Ja, nahm er den Gedanken von vorhin wieder auf, du wirst sie abholen. Das sieht nach Großherzigkeit aus. Es gibt immer Augenzeugen, dort in diesem geschwätzigen Haus, in dem sie sich so wohl zu fühlen schien. Sollte man annehmen, er werbe wieder um seine Frau, das konnte ihm nur recht sein. Perlbach setzte sich wieder. Nervös trommelte er mit den Fingern einen Marsch auf der Schreibtischplatte. Wenn sie ihm nun mit diesem Ekel über den Weg laufen würde … Schon einmal war er ihnen fast in die Arme gerannt, an jenem Tag, als er ihnen nachgeschlichen war. Nie wieder, hatte er sich damals geschworen, gibst du dir diese Blöße. Und doch hatte er es kaum ertragen können, wenn er sie mit jenem anderen unterwegs wußte. Perlbach hatte sich innerlich nie beruhigt. 30
Diese Selbstverständlichkeit, mit der seine Frau einen neuen Abschnitt ihres Lebens in Angriff genommen hatte! Einen Abschnitt, den sie ganz offensichtlich ohne ihn zu gestalten dachte. Er war ihr hinderlich. Ja, das hatte ihn zermürbt, fertiggemacht. Die Erkenntnis, daß sie ihn nicht mehr benötigte, daß er überflüssig war, daß er ihrem Ansinnen im Wege stand. Perlbachs Kiefer mahlten. Seine Finger trommelten. Das Verlangen, dieses Verhältnis zu zerstören, auseinanderzubringen, war übermächtig geworden. Er mußte einen Keil zwischen sie treiben, und sei es um den Preis, daß sie ihn endgültig zu hassen begänne. Perlbach war fest entschlossen, Brigitte weh zu tun. Er machte sich keine falschen Vorstellungen von seinen wahren Zielen. Sie zurückzugewinnen – darum ging es ihm schon lange nicht mehr. Nur weg von diesem anderen, weg von jedem anderen Mann, das war es, was ihm vorschwebte. Sie durfte nicht wieder glücklich sein – nicht, wenn er, der zurückblieb, zuschauen sollte, wie ihr Leben in geordneten Bahnen weiterlief. Auch schmerzte ihn die Vorstellung, daß Brigitte dazu in der Lage war, für sich allein zu sorgen. Er hatte nicht verlangt, daß sie hinter ihm stünde, doch daß sie nun wegstrebte, daß sie ihn hinter sich zurückgelassen hatte, das litt er nicht. Perlbach war auf den Einfall mit dem Urlaub gekommen. Früher war er einige Male auf der Insel gewesen. Vor langer Zeit. Auch das hatte er sich angerechnet, daß er sie in die Welt ihrer heutigen Kollegen eingeführt hatte. Dort, auf Hiddensee, war er Alfons Reh begegnet, der sich in der Redaktion der Frauenillustrierten später für Brigitte verwendete. Dort auch die Begegnung mit anderen Menschen, die heute zu Brigittes Freundeskreis zählten. Auf Hiddensee hatten sie sich noch verstanden. Das wird den Ausschlag geben, hatte er überlegt. Hiddensee wird sie zustimmen. Als er ihr den Vor31
schlag wenige Tage später unterbreitete, hatte sie ihn zunächst ungläubig angesehen. Doch als er sie mit einem fast flehentlichen Blick bat, gab sie schließlich nach. Vermutlich glaubte sie, er wolle alte Zeiten beschwören. Perlbach lachte höhnisch. Es gab für ihn nichts zu reparieren. Er wollte sie nur weg haben von Theuerkauf und all den anderen, denen er zutiefst mißtraute. Er wollte sie aus diesem Milieu lösen, in dem sie heimisch geworden war, das sie anmaßend und selbstsicher hatte werden lassen. Diesen letzten Triumph hatte er sich als Schlußpunkt ihrer Beziehungen aufgespart. Es klopfte an die Tür. Sabbelkow steckte den Kopf herein. „Schon im Aufbruch?“ Perlbach nickte ungewiß. „Willst du schon los? Es ist doch erst vierzehn Uhr.“ „Ja. Ich will Brigitte abholen.“ „Tu das.“ „Wir wollen die neuen Möbel bestellen … die Schrankwand …“ Perlbach starrte hinaus, während er sprach. Es war seltsam, was da soeben in ihm vorgegangen war. Er hatte von neuen Möbeln gesprochen. Vor einem Jahr war das letzte Mal von ihnen die Rede gewesen. Seither nicht mehr. Und je sicherer die Trennung wurde, um so selbstverständlicher war dieses Vorhaben in den Hintergrund getreten. Jetzt hatte er wie aus heiterem Himmel bei dem Kollegen davon angefangen. Weshalb? Es stand doch fest, daß sie sich keine gemeinsamen Möbel mehr kaufen würden. Perlbach starrte immer noch hinaus. „Was soll sie denn kosten?“ fragte Sabbelkow. „Teuer“, entgegnete Perlbach gedankenlos, „aber sie sieht gut aus. Einzelanfertigung.“ 32
Und während er diese Worte sprach, war zum erstenmal der Gedanke daran in ihm aufgekommen. Perlbach fuhr aus der Stadt hinaus. Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt, doch an den Kreuzungen der Ausfahrtstraßen verdichteten sich bereits die Autoschlangen. Perlbach fuhr, ohne sonderlich auf das Getöse um ihn herum zu achten. Die Signallichter der Ampeln, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Bremsvorgänge nahm er im Unterbewußtsein wahr und reagierte entsprechend. Autofahren war ihm zur zweiten Natur geworden. Er fuhr über fünfzehn Jahre Auto, und nur einmal war es zu einem Unfall gekommen. Diese furchtbare Sache mit dem Kind damals. Perlbach erinnerte sich noch sehr gut daran. Es mochte so etwa zehn Jahre her sein. Sie waren damals jung verheiratet gewesen. Brigitte war dabei, als es passierte. Ach was, schob Perlbach die Erinnerungen beiseite, das ist lange her. Das andere, das Heute ist dringlicher. Er traf Brigitte nicht an. Damit hätte er rechnen müssen, und tatsächlich war das einkalkuliert. War es einkalkuliert? Perlbach überlegte. War alles Kalkül, oder hatte er sie wirklich abholen wollen? Lag ihm noch etwas an Brigitte? Jedenfalls war es unangenehm, daß er gerade diesem Reh über den Weg laufen mußte. Das war nicht eingeplant. Sicher, es entsprach seinem Vorhaben, von irgend jemand gesehen zu werden. „Perlbach holt seine Frau ab. Schau einer an“ – so oder ähnlich könnte es verlauten, und das war bezweckt. Doch diesem Reh, ausgerechnet ihm, zu begegnen, das war Perlbach nicht recht. Nach kurzem Gruß hatte er den Fotografen gefragt, ob er wisse, wo Brigitte sei. Alfons Reh zog grinsend die Schultern hoch und musterte ihn mitleidig. So, als habe er sagen wollen: Sucht unser kleiner Dackel wieder mal sein Frauchen? Er hatte den Fotoreporter nie gemocht. Noch weniger 33
von dem Tage an, als er erfuhr, daß sich Reh um Brigitte bemüht hatte. Was die sich alle einbildeten. Für diese Kerle waren Ehefrauen wohl Freiwild! Und er, Perlbach, wurde gar nicht für voll genommen. Perlbach ärgerte sich, daß er Reh überhaupt gefragt hatte. Natürlich war der auch über Brigittes Affäre mit Theuerkauf unterrichtet. So was ließ sich dort nie lange geheimhalten. Vielleicht tat Brigitte es auch offen, kam sich vielleicht sogar interessant damit vor. Perlbach biß sich auf die Lippen. Dieser verdammte Theuerkauf! Er, Perlbach, war vor aller Welt der Dumme, der Gehörnte. Jeder konnte über ihn hohnlächeln. Perlbachs Magen revoltierte wieder. Er gab Gas und überholte zwei polnische Touristenbusse. Als er losgefahren war vorhin, hatte er nicht einmal gewußt, wohin er fuhr. Nach einem Blick in das kleine Bistro zu ebener Erde hatte er sich in den Wagen geworfen und war ohne zu überlegen gestartet. Jetzt war er auf dem Weg in eines jener Vorstadtzentren, in denen er lange nicht gewesen ist. Hier draußen befand sich auch die PGH-Tischlerei, in der sie vor eineinhalb Jahren die Schrankwand bestellt hatten. Es sollte zwei Jahre dauern, wurde ihnen damals mitgeteilt. Verrückt, schoß es ihm durch den Kopf, das ist doch total verrückt, jetzt noch gemeinsames Mobiliar zu kaufen. Die Trennung war so gut wie vollzogen. Und doch hatte ihn der Möbelkauf ununterbrochen beschäftigt, seit er Sabbelkow davon zu erzählen begann. Er brachte seinen Wagen in der kleinen Seitenauffahrt zum Stehen. Dann betrat er das Verkaufsbüro. Perlbach schloß die Wohnungstür auf und legte das prall gefüllte Einkaufsnetz auf dem Küchentisch ab. Brigitte war noch nicht da. Er zog seinen Staubmantel aus, hängte die Wohnungs- und Autoschlüssel auf die Schlüsselhaken neben der Tür. 34
Als er dabei war, sich die Schuhe auszuziehen, klingelte im Wohnzimmer das Telefon. Das bedeutete fast immer, daß sie anrief, um ihm mitzuteilen, sie komme an diesem Tag später. Irgend etwas Dringendes fiel ihr immer ein. Perlbach glaubte längst nicht mehr an die Termine und Interviews, von denen sie ihn dann kurz unterrichtete. Wahrscheinlich fuhr sie wieder zu diesem Theuerkauf. Immer und überall lief ihm dieser Kerl in die Quere. Er überlegte, ob er überhaupt an den Apparat gehen sollte. Doch dann hob er ab. „Herr Perlbach?“ meldete sich eine männliche Stimme. „Ja“ „Hier Herzog, Andreas Herzog.“ „Ja?“ „Ich muß Sie dringend sprechen.“ „Nicht möglich, Herzog. Ich bin bereits im Urlaub.“ „Es ist sehr wichtig, bitte, nennen Sie mir einen Termin, wann Sie können …“ „… hören Sie, ich habe keine Zeit. Und wenn ich Urlaub habe, habe ich Urlaub.“ Perlbachs Stimme klang kategorisch. „Es geht um etwas Persönliches“, stieß Herzog nach. „Das hat Zeit bis später, denke ich.“ Perlbach erinnerte sich, daß der Student Herzog ihm aufgefallen war. Von den sieben Praktikanten, die er in diesem Jahr zu betreuen hatte, war er wohl der begabteste. Im letzten Testat hatte Herzog als einziger eine Eins geschrieben. Er war schon einige Male zu ihm hingegangen, um zu sehen, wie er arbeitete. Was wollte dieser Herzog? Seine studentischen Leistungen gaben doch weiß Gott zu keiner Sorge Anlaß. Hatte er ihn einmal beleidigt, daß dieser von Persönlichem sprach? „Also, Herr Herzog, sollte es ein kleines Mißverständnis gegeben haben – ich denke, das können wir durchaus auch nach meinen Ferien bereinigen.“ 35
„Kein – Mißverständnis …“ Perlbach wurde schlagartig hellhörig. Wußte dieser grüne Junge etwas über seine Frau? „Geht es – um … Geht es um meine Frau?“ „Nein. Es geht in allererster Hinsicht um Sie – und um mich“, sagte der Student, und seine Stimme schien durchs Telefon eine plötzliche Festigkeit bekommen zu haben. Perlbach atmete innerlich auf. „Ja, also dann, mein lieber Herzog, denke ich, wir werden später darüber reden.“ Perlbach legte kurz entschlossen auf. Noch einen Moment stand er am Apparat, lauschte den Worten nach, die soeben gefallen waren. Dann schüttelte er den Kopf und rief: „Blödsinn.“
3 Er lehnte an der Reling und schaute den Möwen zu, die das Heck des Schiffes in nervösen Flügen umkreisten. Sie war hinabgestiegen, weil sie sagte, daß es sie fröstelte. Es war ihm recht, denn ehe sie so nebeneinander lehnten und unausgesetzt schwiegen, war es ihm doch lieber, wenn er sie unter Deck wußte. Ein paar Kinder warfen den hungrigen Vögeln Brotkrumen entgegen, die diese elegant im Flug aufschnappten. Ein Junge war besonders geschickt im Werfen, er tat es stets so, daß die Möwen dicht über seinem ausgestreckten Arm nach dem Brot schnappen mußten. Doch es gelang ihm auch bei größter Aufmerksamkeit nicht, einen der Vögel am Gefieder oder an den Schwanzfedern zu greifen. Die Tiere waren gierig, aber nicht minder mißtrauisch. Von Zeit zu Zeit beteiligten sich auch einige Erwachsene an der Fütterung. Die Möwen schossen 36
immer aufgeregter über das Heck des Dampfers hinweg, doch nicht ein einziges Mal kollidierten zwei von ihnen im Fluge. Erstaunlich, dachte Perlbach, wie gut die sich aus dem Weg gehen können. Er schneuzte sich die Nase und griff sich blitzartig an die Stirn. Etwas Nasses, Klebriges. Möwenkot. Ärgerlich und ein wenig angewidert wischte er sich den Klecks vom Kopfe. Er hatte soeben beschlossen, auch hinunterzusteigen, denn ihm war das turbulente Treiben hier an Deck lästig geworden, als man ihn in die Seite knuffte. Perlbach wollte schimpfend aufbegehren, da hörte er eine nordisch klingende Stimme: „Wat machst du denn hier?“ Perlbach wandte sich zur Seite. Der Mensch mit dem Wikingerbart war ihm irgendwie vertraut, von früher her, dessen war er sich vom ersten Augenblick an sicher. Nur, woher kannte er ihn? „Du erkennst mich wohl gar nicht mehr, alter Junge?“ Perlbach schüttelte den Kopf, unsicher, dann nickte er halb wider Willen. „Ich weiß nicht recht, wenn Sie mir vielleicht …“ „Na, Mensch, die große Strandfete damals – warte mal – Sechsundsechzig muß es gewesen sein …“ Perlbach erinnerte sich dunkel, einmal an einem solchen Vergnügen teilgenommen zu haben, doch inwiefern das mit dem Fremden hier zu tun hatte, daran vermochte er sich keinesfalls zu entsinnen. „Ich bin der Watschi!“ „Welcher Watschi?“ entgegnete Perlbach indigniert. Jetzt war der Wikinger doch leicht beleidigt. Doch es verflog sofort. „Na, der, bei dem ihr euch immer die Räucherschollen geholt habt, drüben in Vitte.“ „Aha“, sagte Perlbach. Watschi zerrte den anderen beschwörend am Jackenärmel. „Du mußt dich doch wenigstens noch daran erinnern, wie wir eines Tages besoffen Volleyball gespielt 37
haben? Die ganze Mannschaft stinkbesoffen? Es war so ein Strandturnier oder was weiß ich.“ „Besoffen – Volleyball, ich glaube, ich habe mein ganzes Leben noch nie Volleyball gespielt.“ „Meiner Treu, so haste dich auch angestellt, na ja, war ja egal, wir waren sowieso alle hinüber. Aber daß du dich nicht mehr an mich erinnern kannst, doch, doch, ich merk’s dir doch an, daß du keine Ahnung hast.“ Das entsprach ungefähr der Wahrheit. Wenn Perlbach sich auch dunkel erinnern konnte, daß da etwas war mit einem Strandfest und mit Räucherschollen – den Kerl da, den konnte er nicht unterbringen. Er warf einen kurzen, prüfenden Blick auf den Mann an seiner Seite. Es mochte sein, daß der sich durch diesen Bart enorm verändert hatte. Perlbach hatte von jeher ein schlechtes Gedächtnis, und an die Gefährten von ehedem erinnerte er sich nur wie durch einen Schleier. Der Watschi bohrte unverdrossen weiter. „Aber an die blonde Angelika kannst du dich sicher erinnern, weißt schon, die mit den Riesentitten.“ Perlbach nickte unwillkürlich. An die konnte er sich freilich gut entsinnen. „Kein Wunder“, grunzte der andere fröhlich, „du bist ja auch lange mit ihr herumgezogen.“ Perlbach war diese Vertraulichkeit peinlich. Gut, an die Blonde da konnte er sich erinnern, es mochte schon sein, daß sie gemeinsame frühere Bekannte hatten, doch das verpflichtete ihn nicht zu Verbrüderungen. Außerdem war ihm die Zeit von damals heute sehr gleichgültig, sie war gleichsam ausgelöscht, sie galt nichts mehr in seinem Leben. Wenn er daran dachte, daß er auch Alfons Reh hier oben getroffen hatte, so war das Grund genug, alles beiseite zu schieben, was daran erinnerte. „Ich bin der gewesen, damals ohne Bart, dem du sie gewissermaßen ausgespannt hast, ha, ha.“ Perlbach stutzte nun doch. Der kauzige, verschlossene 38
Bursche, mit dem er die blonde Angelika getroffen hatte, sollte dieser Mann hier sein? „Ja“, rief der Bärtige, „ich bin’s wirklich. Brauchst dir keinen Kopp zu machen, min Jung. Ich war ganz froh, daß ich sie los wurde. Sag mal, was machst’n eigentlich so?“ Perlbach wand sich. Er hatte wirklich kein Verlangen danach, mit dem komischen Vogel dort Erinnerungen aufzufrischen. Was ging den das überhaupt an, was er tat? „Ich bin wieder zur Werft zurück. Feste Löhnung jeden Monat und so. Mit Weibern is ja man auch nischt mehr. Bin in Reede, ha, ha.“ Der Bärtige schwatzte leutselig drauflos. Perlbach ärgerte sich, daß er ihn getroffen hatte, nein, es war noch ein anderes Empfinden: Es machte ihn unruhig. Der Kerl da schien sich an ihn zu erinnern. Er war aber hergefahren, in der Hoffnung, niemanden von damals mehr zu kennen, keinen wiederzutreffen. Schon auf der Dampferfahrt machte dieser ungehobelte Kerl alles zunichte. „Du bist ganz schön schweigsam geworden“, resümierte der Mann. „Nu sag mir doch mal, was du so treibst? Damals warst du doch so’n Jungingenieur oder wie man die Kerls nennt. Was biste denn jetzt?“ „Ich bin Konstrukteur“, gestand Perlbach widerwillig ein, „ich arbeite in einem Berliner Konstruktionsbüro.“ Der andere nickte und wies mit der Hand geradeaus. „Guck mal, wie braun der Bodden steht. Dann ist das Wasser gesunken. Kannste fast ’rüberlaufen, bis auf die Fahrrinne hier.“ Perlbach entgegnete nichts. Begriff dieser Mensch denn nicht, daß er allein sein wollte? „Warst du inzwischen öfter mal oben?“ „Einmal, aber das ist schon viele Jahre her.“ „Ich fahr’ jedes Jahr mehrmals, manchmal sogar, 39
wenn ich langen Schichtwechsel habe. Ich wollt’ schon sagen: Den hast du doch mindestens ein Menschenleben nicht mehr gesehen.“ Perlbach nickte ungewiß. „Na ja, nischt für ungut, war nur mal so ’ne Erinnerung an unsere besten Zeiten. Die haben wir wohl hinter uns, was? Bin letztes Jahr vierzig geworden. Und du? Du warst doch etwas älter, oder?“ „Zweiundvierzig.“ „Hm, na, mach’s gut, vielleicht sehen wir uns noch. Wie lange bleibst du denn?“ „Weiß noch nicht.“ Der Bärtige hatte endlich eingesehen, daß Perlbach nicht nach Gesprächen war, und trollte sich. Perlbach sah sich noch einmal nach ihm um, doch da war der Wikinger schon auf der Steuerbordseite verschwunden. Der Kerl hatte mir gerade noch gefehlt, dachte er, und dann stieg er mittschiffs die große Treppe zum Passagierdeck hinab. Brigitte saß in der Nähe des Mitropa-Ausschanks und trank einen Kaffee. Er setzte sich zu ihr. Sie sah durch die Fenster hinaus und blickte kaum auf, als er neben ihr Platz nahm. Draußen hatte sich das Land weit zurückgeschoben, nur ganz weit unter dem Himmel schwomm ein Fädchen Land dahin. Der Motor des Dampfers lief auf vollen Touren, noch eine bis eineinhalb Stunden, dann würde er sein Ziel erreicht haben. „Neuendorf müßte bald zu sehen sein“, murmelte er. „Was?“ Sie blickte kurz zu ihm hin. „Ich meinte nur …“ Sie sah wieder hinaus. Sie tat es nicht, um sich nicht mit Perlbach unterhalten zu müssen, sie war ehrlich hingerissen von diesem Panorama; mehrmals schon hatte sie überlegt, ob sie nicht doch wieder an Deck steigen 40
sollte, um ein paar Aufnahmen zu machen. Und dann tauchten tatsächlich die ersten winzigen Pünktchen auf: Häuser von Neuendorf. Sie zogen erhaben und gelassen daher wie ein Geschenk des Auges, das sich von vornherein seiner selbst sicher ist. Dicke weiße Wolken breiteten sich über die Landschaft, als hätten sie die Aufgabe, die Schönheit dieses Eilands vor Sturm und Unwetter zu bewahren. Brigitte konnte sich nicht satt sehen. Es war also doch wahr, was man ihr schon so oft erzählt hatte: Die Insel sei einzig und unerreicht, und das Leben hier oben verlaufe in merkwürdig anderen Bahnen, in anderen Zeitläufen ab. Zwar hatte sie auch viel davon gehört, daß Autoverkehr und eine Betonstraße und viele Bauvorhaben das Gesicht der Insel verändert hätten, doch davon war hier draußen, vom Dampfer her, nichts zu spüren. Sie warf sich die Kamera über die Schulter und stand auf. Er drückte bereitwillig die Beine an die Sitze zurück, als sie sich an ihm vorüberschob. „Willst du keine Jacke mitnehmen, es ist kühl?“ Sie trat schon an die Treppe und stieg hinauf an Deck. Hatte sie seine fürsorgliche Frage nicht verstanden, oder hatte sie sie wissentlich überhört? Perlbach entfaltete das zusammengeknüllte Stückchen Papier, in welches der Zuckerwürfel eingewickelt war. Sorgfältig und mit einigem Bemühen strich er es auf dem Tische glatt, als fiele ihm im Augenblick nichts Interessanteres ein. Ein kurzer Blick aus dem Bordfenster sagte ihm, daß sie direkt vor dem südlichsten Ort der Insel lagen. Schon drehte der Dampfer bei und nahm Kurs auf den kleinen Hafen Neuendorfs. Als die ersten Passagiere sich zum Landgang rüsteten, sprang Perlbach auf, griff nach Brigittes wollener Jacke und stieg ans Oberdeck empor. Er sah sie an der Reling lehnen, mit vorgebeugtem Kopf, das Gesicht in das Okular ihres Apparates gesenkt. 41
Leicht schwenkend suchte sie nach einem Punkt, den sie wohl noch nicht gefunden hatte, denn sie ging an einigen Bänken vorüber, von wo aus ihr neugierige Blicke zugeworfen wurden; offenbar ahnte man in ihr den Profi, dann lehnte sie sich erneut bäuchlings an die Reling, und dann schnappte der Auslöser ein paarmal kurz hintereinander. Perlbach beobachtete sie, mit welchem Geschick und welcher Behendigkeit sie den schweren Fotoapparat nach jedem Aufziehen wieder in die von ihr gewünschte Position brachte. Zwei Männer waren an sie herangetreten, scheuten sich aber noch, sie anzusprechen. Einer blickte in Richtung ihrer Motivsuche, der andere, dicht links neben ihr, schaute Brigitte direkt auf die Finger. Dann sprach er sie an. Brigitte entgegnete etwas. Auch der andere Mensch schien aufmerksam zuzuhören. Er zeigte auf Brigittes Kamera und wies dann mit der Hand zur Insel hinüber, die jetzt schon nahe lag. Man konnte die ersten Hafenanlagen erkennen: ein kleines Haus der Weißen Flotte, mehrere ungefüge Kistenstapel, die den Hafen zu sprengen drohten. Perlbach beobachtete das Gespräch. Er hielt ihre Jacke unter dem Arm, lehnte sich gegen den Kajütenaufbau und blickte zu Brigitte, die jetzt auflachte. Es erschien ihm, als lache sie aufreizend, herausfordernd, ja obszön. Wie sie mich anwidert mit ihren Blicken, die sie anderen zuwirft, wie sie unablässig balzt und Eindruck schinden muß! dachte er. Perlbach fühlte sich dennoch in ein eigentümliches, zwiespältiges Gefühl versetzt. Ihn verletzte das Verhalten seiner Frau: daß sie anderen gegenüber freundlich, entgegenkommend sein konnte! Und dies war zugleich der Grund seines Zwiespaltes, er fühlte sich machtlos, von ihr zu erbitten, zu erfordern, daß sie ihm gleiche Aufmerksamkeit schenke. Schon lange tat sie das nicht mehr. Auch seine freundlichen Gesten schlug sie aus, 42
seine Angebote wies sie zurück, und Perlbach litt darunter, als wäre er ein Ausgestoßener, jemand, der etwas Entsetzliches getan hatte. Nach einer Weile des Beobachtens trat er auf die Dreiergruppe zu, nickte grüßend mit dem Kopf und legte Brigitte die Wolljacke über die Schultern. Sei es, daß sie sich im Gespräch gestört fühlte, sei es, daß er ihr die Jacke eine Spur zu demonstrativ, zu auffällig umgelegt hatte, mit dem Gestus möglicherweise: Das ist mein Weib, merkt es euch!, jedenfalls zuckte sie zurück; sie zuckte merklich zurück, und Perlbach fühlte, wie es ihm eisig bis in die Fingerspitzen wurde. Er erstarrte hinter ihrem Rücken, zupfte auch nicht an der Jacke, die Brigitte halb von der linken Schulter geglitten war, er stand für den Bruchteil einer Sekunde völlig bewegungslos. Dann lächelte er verwundet, unter den freundlichneugierigen Blicken der beiden Männer, drehte sich abrupt weg und stieg ins Zwischendeck hinab. Brigitte hatte nicht einmal den Kopf gewandt. Sie starrte zum Hafen. Den Rest der Fahrt saß Perlbach schweigend auf seinem Platz. Auch als sie zurückkam, ihn ansprach, reagierte er nicht. „Entschuldige, du hattest mich erschreckt“, sagte sie. Perlbach hielt es für überflüssig, darauf zu antworten. Ihre Reaktionen, fand er, konnten nur eines bedeuten: daß er ihr zutiefst zuwider war. Das war eine neue Erfahrung. Gut, zwischen ihnen war schon lange nichts mehr, und seit Monaten hatte er sich mit diesem Status quo abgefunden, doch wie sehr sie ihn verabscheuen mußte, das hatte ihm jene Geste vorhin, auf dem Deck, deutlich werden lassen. Es schmerzte ihn nicht, es machte ihn schlapp. Er hatte auf einmal das Empfinden, auch jenes Ziel, sie diesem jungen Gecken zu entfremden, niemals erreichen zu 43
können. Ihm war, als sei sie bereits weit fort von ihm, nicht nur innerlich, sondern auch räumlich. Seine Frau war unpersönliche Höflichkeit, solange sie sich nicht von ihm belästigt fühlte. Perlbach war elend zumute. Sein Magen begehrte auf.
4 „Sie können es sich hier richtig gemütlich machen“, rief die Wirtin in zitterndem Greisinnenfalsett, „das ist doch ein wunderwunderschönes Zimmerchen, nicht wahr? Meine lieben Gäste sind immer sehr zufrieden, sehr zufrieden. Erst kürzlich wohnte hier ein junges Arztehepaar, ach Gott, so nette Leutchen, wie die Turteltäubchen, ach ja. Und die waren auch sehr glücklich hier, sehr glücklich. Sehen Sie mal“, die Alte trippelte zum Fenster und zog die Gardinen leicht zurück, „morgens scheint die liebe Sonne ins Fenster und Sie können sogar aufs Meer schauen. Und wenn Sie ein wenig arbeiten wollen“, die Alte wandte sich zu Brigitte um, die sich aufs unbezogene Bett hatte fallen lassen, „ich nehme doch an, unsere liebe junge Frau ist Künstlerin oder … hi, hi, hi … nun, dann steht dem nichts im Wege. Für alles ist gesorgt. Hier ein Schreibtischchen und dort sogar fließendes Wasser. Das Waschbecken ist übrigens erst installiert worden, extra für meine liebsten Gäste. Hier oben wohnen nämlich nur die besten, ja.“ Brigitte lehnte sich auf und gähnte ziemlich ungeniert. „Die liebe junge Frau wird müde sein“, sabbelte die Wirtin weiter, „ja, ich werd’ dann mal gehen. Also, wenn Sie noch Wünsche haben sollten, nicht wahr, dann sagen Sie’s ruhig. Und in die Meldescheine tragen Sie sich bitte ein, das ist Vorschrift, ach ja, an was man heute alles denken muß.“ 44
„Ja, ja“, stieß Perlbach unwillig hervor und stellte die beiden Koffer in die andere Zimmerecke, neben den unförmigen Kleiderschrank. Die Alte verließ endlich das Zimmer. Perlbach packte seine Reisetasche aus, stellte Waschund Rasierutensilien auf den Toilettentisch. Dann wusch er sich die Hände und kämmte sich das Haar. Brigitte sah ihm von ihrem Bett aus zu. Seit ihrem Eintritt war zwischen ihnen noch nicht ein Wort gefallen. „Ich hab’ es nicht so gemeint, vorhin auf dem Schiff“, versuchte Brigitte einzulenken. Perlbach stellte die Eau-de-Cologne-Flasche vernehmlich auf die Etagere, entgegnete jedoch nichts. „Günter, wir sind doch nicht hierhergefahren, um uns am ersten Nachmittag gleich so zu streiten, daß jeder weitere Urlaubstag zur Zumutung für beide wird.“ „Das solltest du dir selbst hinter den Spiegel stecken.“ „Also gut, zugegeben, ich war etwas seltsam, aber ich hab’ es dir schon zu erklären versucht, ich bin erschrocken.“ „Am besten, jeder geht seiner Wege“, rief Perlbach kategorisch. „Jeder teilt sich den Tag so ein, wie es ihm beliebt. Ich fühle es bereits jetzt, daß es nicht anders geht.“ „Aber gern“, nahm sie ernsthaft und ohne Groll seinen Gedanken auf, „ich bin einverstanden, Günter. Ich freue mich, daß du es auch für besser hältst.“ „Besser hältst, besser hältst“, äffte er sie nach, „immerhin sind wir noch verheiratet, was du völlig vergessen zu haben scheinst.“ „Noch sind wir es, Günter“, sagte sie müde. „Da könnte sich jeder ein wenig Mühe geben – vor dem anderen und für den anderen.“ „Du hast recht, Günter.“ Perlbach wechselte sein Jackett mit einer regenfesten 45
Windjacke. Dann ging er zur Tür. „So, ich gehe jetzt spazieren.“ Sie nickte wortlos. Als er die Tür schon fast verschlossen hatte, rief sie ihn noch einmal zurück. „Günter?“ Er öffnete die Tür einen Spalt breit. „Warum bist du mit mir hergefahren?“ Sein Gesicht verzog sich zu einem unguten Lächeln. „Aus alter Anhänglichkeit, mein Schatz.“ Dann schlug die Tür endgültig zu. Brigitte lag und lauschte dem Klang seiner Worte nach, und sie fand es auf einmal kalt in diesem Zimmer, und sie fühlte sich fremd. Sie lag und grübelte. Als sie von fern die Nebelsirene eines Schiffes tuten hörte, wußte sie plötzlich mit unbestimmter Sicherheit, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Es war falsch gewesen, mit Günter Perlbach auf die Insel zu fahren. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte ihr Gepäck genommen und wäre wieder zurückgefahren. Doch sie wußte, daß heute kein Dampfer mehr zum Festland verkehrte. Und sie war viel zu müde, um sich zu einem solchen Schritt aufraffen zu können. Wir werden es so halten, wie er es vorgeschlagen hat, nahm sie sich vor. Wir werden unserer Wege gehen. Sie stand auf, packte die Koffer aus und räumte ihre Kleidungsstücke in den Schrank. Dann begann sie die Betten zu beziehen. Tagsüber sind genügend Möglichkeiten, sich aus dem Wege zu gehen, dachte sie. Nur nachts? Sie fürchtete sich vor der Vorstellung, hier neben ihm liegen zu müssen, sein leises Schnarchen zu hören und vielleicht nicht einschlafen zu können, so, wie es monatelang war. Warum bist du nur mitgefahren? überlegte sie wieder. Es gab viele Gründe. Sie wollte die Klärung mit ihm. Die Insel hatte sie mit unwiderstehlicher Gewalt angezogen. Sie wollte Peter beweisen, daß sie sich durchzu46
setzen vermochte. Und schließlich waren da noch die dauernden Bitten Günters. Seit Wochen hatte er ihr in den Ohren gelegen, mit ihr zu fahren. Hatte er sich etwa noch Illusionen gemacht? Nein – für so naiv hielt sie ihn nicht. Er hatte sie überredet mitzukommen, und jetzt tat er so, als habe sie sich ihm aufgedrängt. Besaß ihr Mann, besaß dieser Günter Perlbach die Niedertracht, sie herzulocken, um sie zu entnerven, zu quälen? War es doch so, wie Theuerkauf befürchtet hatte? Ach was, tröstete sie sich, du wirst Spazierengehen, wirst fotografieren, nette Leute kennenlernen, wirst viel schlafen … An diesem Punkt angekommen, unterbrach sie ihre Gedankenkette. Vorausgesetzt, daß er sie schlafen ließe. Die Ahnung, einen Fehler begangen zu haben, hielt sich mit seltsamem Nachdruck. „Gehen Sie“, sagte der maskierte Mann und trieb Brigitte mit der Pistole vor sich her. Sie stolperte rückwärts, fiel hin, rappelte sich wieder hoch, versuchte, an dem Maskierten seitlich vorbeizukommen, doch der Unbekannte war wachsam und unerbittlich. Sie versuchte zu schreien, doch ihre Stimme saß ganz weit hinten im Halse, sie konnte nur stammeln, lallen, sie war von stummer Hilflosigkeit. Der Mann trieb sie vor sich her, stets die drohende Mündung der Waffe auf sie gerichtet. „Gehen Sie“, sagte er wieder, mit einer fremd-vertrauten Stimme, und er fuchtelte ungeduldig mit der Waffe. Wer sind Sie denn? wollte sie schreien, was wollen Sie von mir, ich habe Ihnen doch nichts getan, lassen Sie mich laufen … Die Augen blickten kalt und unbeweglich hinter der Maske. Wieder die auffordernde Bewegung mit der Pistole. Sie mußte weiter und weiter zurückweichen, der maskierte Fremde blieb keinen Schritt zurück. Während 47
sie zögernd Stück um Stück zurückwich, warf sie ganz schnell einen Blick hinter sich, da gewahrte sie den furchtbaren Abgrund, der sich hinter ihr auftat. Sie wollte wieder schreien, doch ihre Stimme versagte abermals, sie taumelte mit schreckgeweiteten Augen rückwärts, bis sie schließlich nicht mehr weiterkonnte, stehenblieb, wieder schreien wollte und es auch diesmal nicht vermochte. Sie hätte sich festkrallen wollen, doch nirgends war ein Halt. Der Fremde stand nun dicht vor ihr. Sie schüttelte den Kopf, heftiger, immer heftiger werdend, nein, nein, nein … „Gehen Sie“, sagte der Mann leidenschaftslos. Und dann stieß er sie vor die Brust. Sie fiel und fiel … Brigitte schoß traumgepeinigt im Bett hoch und brauchte Sekunden, um sich zurechtzufinden. Sie erkannte das Zimmer, die Waschtoilette, den Schrank. Das Bett neben ihr war unbenutzt und so frisch in seiner Glätte, wie sie es am Nachmittag bezogen hatte. Von draußen hörte sie kaum einen Laut. Dämmerung stand vor den Fenstern. Sie stieg aus dem Bett, schaltete das elektrische Licht ein. Im Spiegel besah sie ihr noch immer leicht entstelltes Gesicht. „Solchen Quatsch zu träumen“, murmelte sie verdrossen und begann sich das Haar zu bürsten. Dann trat sie ans Fenster und schob die Übergardine zur Seite. Draußen gingen nach und nach die Lichter an. Deutlich konnte sie den Nachbarort erkennen, eine Ansammlung von Lichterpunkten verriet ihr, daß dort Vitte liegen mußte. Auch das Meer war in der Dämmerung noch deutlich, es lag wie ein dunkler Teppich zur Rechten. Linker Hand, auf dem Bodden, sah sie ein paar Lichter, die sich langsam bewegten. Wahrscheinlich die Positionslampen von Schiffen, mutmaßte sie. Sie blickte auf die Uhr. Fast zehn. Sie hatte vier Stunden geschlafen. Perlbach war noch immer nicht zurück48
gekehrt. Das störte sie am wenigsten. Nur wußte sie nicht recht, was sie jetzt beginnen sollte. Sich wieder ins Bett legen, durchschlafen? Eigentlich war ihr so. Sie konnte immer schlafen, und in den vergangenen Wochen hatte sie sich oft gewünscht, lange und ausgiebig dem frönen zu können. Sie fand, daß sie ziemlich verkatert und verquollen aussah. Ein kurzer Blick zum Bett hinüber. Es war nur ein Satz, und sie könnte wieder drinnen sein. Doch dann fiel ihr der unangenehme Traum ein. Nein, schlafen konnte sie noch genug. Sie war neugierig auf die Insel, auch nachts. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge ’raus, dann begann sie sich zu waschen und zu schminken. Weit war sie mit ihrem abendlichen Spaziergang über die Insel nicht gekommen. Ein leiser Nieselregen hatte eingesetzt, der durch jede Kleidung drang. Als sie ziemlich eilig den Rückweg angetreten hatte, kam sie an der Gaststätte vorüber, aus der gedämpftes Gelächter herausscholl. Sie blickte von außen durch die Scheiben. Perlbach konnte sie nirgends entdecken. Sie hatte jetzt keine Lust, mit ihm zusammenzusitzen. Wenn er nicht hier war, warum sollte sie nicht hineingehen? Früher hätte sie nicht gewagt, allein eine Gaststätte zu betreten, schon aus Furcht vor den aufdringlich-spöttischen Mienen der Männer. Doch ihr Beruf hatte ihr Sicherheit im Auftreten gegeben, so daß sie schon lange nichts mehr daran fand, ohne Begleitung essen zu gehen. Sie trat ein und suchte sich eine Nische, in der sie sich gleich geborgen fühlte. Als der Ober kam, bestellte sie Tee und Kognak. Sie saß nicht allein. Schon nach wenigen Minuten betrat ein drahtiger bärtiger Mann das Restaurant, der sich kurz umschaute und dann zielgerichtet auf ihre Nische zusteuerte. Brigitte empfand es nicht einmal als unangenehm 49
oder aufdringlich, daß er sich ihr gegenübersetzte. Sie hatte keine Lust zu langen Gesprächen, doch allein zu sein, schweigend vor sich hin zu brüten, gefiel ihr noch weniger. Der Mann trank Bier. Er bestellte sich zwei Gläser auf einmal. Das erste Glas trank er ex. Der Ober stand grinsend neben ihm und nahm es gleich wieder mit. Mit dem zweiten Glas ließ sich der Mann etwas mehr Zeit. Brigitte beobachtete es aus den Augenwinkeln heraus. Sie nippte an dem angenehm heißen Tee. Den Kognak ließ sie noch unberührt. „Sie müssen Korn trinken“, sagte der Bartmensch plötzlich. „So?“ „Ja, Korn hilft gegen alles.“ Er zeigte mit der rechten Hand zu einem Schild hinüber, das über dem Stammtisch des Lokals angebracht war. Ein paar Verse in Platt. Brigitte vermochte ihren Inhalt nicht zu ergründen. „Soll ich übersetzen?“ fragte der Mann. „Wenn Sie möchten.“ „Also, dat heißt in Hochdeutsch ungefähr: ‚Der Sturm, der braust auf Hiddensee, da hilft kein Wasser und kein Tee. Und schreit die See voll lauter Zorn: Die Rettung bleibt – Karl Wothkes Korn.‘ “ „Wer ist dieser Karl Wothke?“ Der Mann hieb in gespielter Entrüstung mit der Faust auf den Tisch. „Sie kennen Karl Wothke nicht, den Schutzpatron aller nordischen Spritdrosseln und Schluckspechte?“ Brigitte lachte. „Also ’ne Schnapsfirma?“ „Erraten. Heute ist sie VEB, glaube ich. Aber den Namen kennt hier oben jeder.“ „Und warum trinken Sie keinen Korn, wenn er angeblich gegen alles helfen soll?“ Sie wies auf sein halbgeleertes Bierglas. „Mir braucht keiner helfen. Ich hab’ alles, bin selig.“ 50
Er seufzte auf und rief dann: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Er reichte ihr die Hand über den Tisch. „Watschi, wie Watschelente.“ Sie begriff erst nicht, dann schlug sie ein. „Perlbach.“ Der Mann stutzte. „Sagten Sie ‚Perlbach‘?“ „Ja.“ „Sind Sie die Frau von Günter?“ „Ja.“ „Ich hab’ ihn vorhin auf dem Dampfer getroffen. Ach – und Sie sind seine Frau? Er hat mir gar nicht gesagt, daß er in Begleitung ist.“ Sie trank ihren Kognak. „Und da läßt er Sie abends hier so allein hergehen? ’n komischer Kauz.“ „Warum? Ist das so schlimm, wenn man als Frau hier sitzt?“ „Schlimm? Ach, wissen Sie, schlimm ist was anderes. Aber ’ne Frau … mit Ihrem Aussehen … Ich weiß nicht – wo hier lauter heiße Hirsche lauern …“ „Danke“, sagte sie kühl, „ich bin nicht in der Brunst.“ Watschi kicherte vieldeutig. „So ist das eben. Die Frauen werden beguckt und eingeschätzt.“ Brigitte fühlte sich plötzlich unwohl. Auch war ihr auf einmal, als würden von überall her aufdringliche Blicke hergeworfen. „Ich möchte zahlen“, rief sie dem Ober zu, der Watschi soeben ein frisches Bier brachte. „Darf ich Sie begleiten?“ erbot sich der Tischnachbar. „Nein danke. Die paar Schritte finde ich schon.“ Sie stand schnell auf und verließ das Lokal. Der Bärtige blickte ihr neugierig nach. Als sie an der Tür war, schnalzte er genießerisch.
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5 Am fünften Tage endlich fanden sie sich zu einem gemeinsamen Spaziergang. Bislang war Brigitte fast immer allein unterwegs gewesen. Perlbach hatte sich morgens davongemacht, wohin, das wußte sie nicht, und sie wollte ihn auch nicht danach fragen. Im Grunde war es ihr angenehm, so hatte sie ihre Ruhe und konnte die wundervolle Landschaft auf sich wirken lassen. Einmal nur, als sie zum Südteil der Insel unterwegs war und in der „Heidenrose“ zum Mittag einkehren wollte, sah sie ihn hinter den Scheiben. Er saß dort mit zwei vierschrötigen Kerlen, die sie noch nie vorher gesehen hatte. Die drei saßen ganz allein in dem großen Saal. Offenbar waren sie in ein angeregtes Gespräch versunken, denn sie sah, wie der eine mit den Armen fuchtelte. Sie ging vorüber. Abends fragte sie ihn nicht. Es war ihr gleichgültig. Sie wußte, daß er sehr mißtrauisch war, wahrscheinlich würde er glauben, sie spioniere ihm nach. Perlbach hatte seit jenem ersten Abend, als er sich mit einer zynischen Bemerkung empfohlen hatte, kaum drei Worte mit seiner Frau gewechselt. Es schien ihm nicht aufzufallen, daß sie manchmal zum Sprechen ansetzte. Er sah es nicht, oder er wollte es nicht sehen. Gewahrte sie dann seine verschlossenen Züge, so verbiß auch sie sich die Worte. Sie wunderte sich eigentlich nicht über sein Verhalten; so, wie sie hier im Urlaub miteinander verkehrten, ging es zwischen ihnen schon seit Monaten. Nur erstaunte es sie, daß Perlbach diese Wertlosigkeit so lange durchhielt, sie gleichsam auf die Spitze zu treiben gedachte. Gewöhnlich war er der erste gewesen, der wieder das Wort an sie richtete, spätestens dann, wenn er sich innerlich ausgetobt hatte. Sie wußte, daß er jähzornig war. Früher hatte er sie sogar geschlagen. Doch das lag lange zurück. Seit vielen Jahren wagte 52
er es nicht mehr, sie im Zorn auch nur anzufassen. Er tobte still für sich hin, knirschte zuweilen sogar mit den Zähnen und litt unter einem revoltierenden Magen. Wenn dann langsam Ruhe in ihn einkehrte, war stets er es gewesen, der wieder Kontakt suchte. Sie fragte sich, was diese ganze jämmerliche Komödie sollte. Wenn er sie ärgern wollte, so hätte er nicht mit ihr in den Urlaub zu fahren brauchen, dazu gab es in der ehelichen Wohnung in Berlin mehr als genug Gelegenheiten. Wollte er sie fühlen lassen, wie unanständig es von ihr sei, daß sie ihn verließe? Sollte es das sein? Oder hatte er sie nur hierher mitgenommen aus jahrelanger gemeinschaftlicher Gewohnheit? Nein – das wollte sie nicht glauben. Sie hätte nichts dagegen gehabt, nichts dagegen haben können, wenn er allein hergefahren wäre. Das war sein gutes Recht; sie war schon öfter mit Peter verreist und hatte ihn, Perlbach, nicht um seine Zustimmung gebeten, zumal sie wußte, daß er sie nie erteilt hätte. Bei solchen Anlässen pflegte er auf seine albernen Rechte zu pochen, die er mit dem Trauschein auf Lebenszeit erworben zu haben glaubte. Sie hatte in den letzten Tagen oft gegrübelt, was er mit der Fahrt auf die Insel bezweckt haben mochte. Und daß dem Ganzen ein solcher zugrunde lag, daran zweifelte sie keine Sekunde. Sie kannte ihren Mann, er war schlau und nachtragend. Trotzdem sah sie keinen Sinn in seinem Verhalten. Wenn er sie zurückzugewinnen beabsichtigte (was sie sich nicht vorstellen konnte), so müßte er sich doch um sie bemühen. Wenn er sie zu kränken, zu demütigen trachtete, so war doch seine Anwesenheit erforderlich. Oder glaubte er, daß sie litte, wenn er tagsüber fort war? Für so einfallslos hielt sie ihn nicht, er mußte doch spüren, daß sie sich ohne seine Gesellschaft viel wohler fühlte. Brigitte Perlbach war mit ihren Überlegungen nicht viel weitergekommen als bis zu dem Punkt, daß er ir53
gend etwas mit seinem seltsamen Verhalten bezweckte. Sie hätte ihn natürlich fragen können, ein paarmal hatte sie sogar dazu angesetzt, doch dann war ihr, als warte er darauf. So hatte sie es gelassen. An diesem fünften Tag jedenfalls hatte er sie in aller Frühe, gleich nach dem Aufstehen, gefragt, ob sie ihn auf einem Spaziergang begleiten wolle. Er habe sich vorgenommen, über die Hügel und den ganzen Nordteil der Insel zu wandern. Sie sagte zu. Sie brachen nach dem Frühstück auf, das sie in ebenjener Restauration zu sich nahmen, in der Brigitte am ersten Abend eingekehrt war. Bevor sie losgingen, lief ihnen noch Watschi über den Weg, der die beiden begrüßte, als kenne er sie – unabhängig voneinander. Perlbach, der verblüfft danebenstand, als der Jugendgefährte seiner Frau von Wothkes Korn faselte, nahm dies auch sogleich zum Anlaß, sie auf dem Weg in die Hügel danach zu fragen. „Ja, ich traf ihn am ersten Abend.“ „Wieso? Ich denke, du hast geschlafen?“ „Hab’ ich, mein Lieber. Und dann bin ich ganz groß ausgegangen.“ Perlbach sah sie fragend an. Er wußte bei ihr nie genau, wann sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Doch dann, als sie keine Regung zeigte, erklärte er einsilbig: „Ich kenne ihn von früher.“ Sie erklommen die Hügel über dem Ort Kloster und wanderten über ausgetretene Pfade hoch oben über dem Meer, immer der Küste entlang. Es war ein wunderbarer Tag, der erste eigentlich, an dem man ahnen konnte, daß auf dem Festland schon seit vielen Wochen Frühling war. Hier oben kam der Frühling bedeutend später, und so war es an den Abenden noch empfindlich kühl, und morgens stand Nebel über der Insel. Brigitte konnte sich nicht vorstellen, daß dort unten 54
am Strand in wenigen Wochen die Nackten lagern würden, um sich von der Sonne braun brennen zu lassen. Noch schien alles verlassen, nur hin und wieder konnte man einen einsamen Spaziergänger erspähen. Sie gingen lange ohne ein Wort. Manchmal riß sie ein Blatt von einem Ast, oder sie blieb länger zurück. An einigen Stellen, die eine besonders schöne Aussicht über das Meer boten, verweilte sie und trank von dem Wind, der vom Meer her würzig und unverbraucht aufstieg. Perlbach hielt sich die ganze Zeit hinter ihr. Er sah, wie sie die Natur genoß, er erlebte, mit welch kindhafter Freude sie sich Sonne, Wind und Meer hingab, und es war eine Mischung aus Neid, Hilflosigkeit und Verlegenheit in ihm, verwurzelt wohl im Unvermögen, sich dem Tag und der Stunde, einem Eindruck, einer Begegnung, einem Erlebnis so hingeben zu können, wie er es an Brigitte in all den Jahren immer wieder gesehen hatte. Auch das hatte in ihm – über Jahre geheimgehalten – eine Abneigung wachsen lassen, der er sich nicht schuldlos gegenübersah, doch er wußte nicht dagegen anzugehen. So war dieser stille Groll gewachsen, ohne daß er sich darüber im klaren war, wann und wodurch er einst ausgelöst wurde, nur, daß es wohl mit ihren ungemein verschiedenen Sichten, durch die sie das Leben wahrnahmen, zu tun haben mußte. Er fand sie oberflächlich und intelligent, und er fühlte sich ihr auf eine schmerzhafte Weise unterlegen. Oft hatte sie ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, wenn sie sonnabendnachmittags erschien, trällernd und gut aufgelegt ein paar Sachen in ein Köfferchen packte und kurz darauf – für ein ganzes unendlich langes Wochenende – verschwand, ohne ihm vorher ausreichende Erklärungen zu geben. Sie nannte ein Wort – meist das Reiseziel –, manchmal verschwieg sie auch das, dann ging sie. Sie ging einfach. Was hatte er, Perlbach, gelitten! Er spürte, wie Groll 55
in ihm hochstieg, wenn er sie an den steilen Pfaden die Arme ausbreiten sah. Er wußte, daß das vornehmlich die rebellische Magensäure war, er war ein psychosomatischer Typ, doch er konnte nichts tun; wenn sie sich an seiner Seite auslebte, ohne daß er ihr zu folgen vermochte, so gab es ihm jedesmal einen Stich ins Herz, und sein Magen begann ihn zu quälen. Am „Klausner“, einer Ausflugsgaststätte, die bereits in frischen Farben prangte, stießen sie auf Bänke. Er rieb sich mit der Linken an der Magengegend und schlug vor, ein wenig Rast zu machen. Sie war sofort einverstanden. Von hier aus konnten sie weit hinausblicken. Am Horizont, nur bei ganz genauem Hinsehen wahrzunehmen, ein schmaler Streifen Land, der stets im Dunste lag, das war die dänische Insel Moen, von deren Sichtbarkeit die Hiddenseer ihre Wetterprognosen ableiteten. Perlbach verspürte auch jetzt wenig Lust, sich mit Brigitte zu unterhalten. Er fand, daß es zwischen ihnen nichts mehr gab, was Klärung erheischte. Nur, daß sie ihn abschütteln konnte, ohne ihn die Tage genoß, das hatte er nicht vorausahnen können. Auch das kränkte ihn, denn es bewies ihm schlüssig, daß sie längst gelernt hatte, ohne ihn zu leben, ohne ihn zu genießen. Er war ausgeschaltet, er stand nutzlos herum, er war für sie überflüssig. Perlbachs Magen hob sich. Ein dumpfer Schmerz zog sich bis in die Schultern hinauf. „Komm“, sagte sie nach Minuten, „laß uns weitergehen, es ist ein so schöner Tag. Ich will noch was sehen.“ Er folgte ihr wortlos. Er litt, wenn er sah, wie leichtfüßig und unbeschwert sie voranlief. „Warum bist du so gnatzig?“ begann sie nach einer Weile. „Ich merke dir doch an, daß du seit Tagen stinkig bist. Immer noch wegen der Sache da auf dem Dampfer?“ 56
„Mir ist nicht besonders gut“, sagte er dumpf. „Warum hast du mich überhaupt mit hierhergeschleppt, Günter? Du wußtest doch genau, daß es nichts wieder zwischen uns wird. Es war ganz offensichtlich in den letzten Tagen und Wochen.“ „So, meinst du?“ „Ja.“ „Und warum bist du dann mitgekommen?“ „Das will ich dir sagen. Aus Neugier. Alle reden von Hiddensee, und ich war noch nie hier.“ „Und – gefällt es dir?“ „Wie du siehst.“ „Du bist also nur aus Neugier mitgekommen?“ „Ja … das heißt – nein. Ich wollte mit dir reden.“ „Reden – worüber? Was gibt es zwischen uns noch zu reden? Haben wir nicht genug …“ „… nicht so. Ich will, daß zwischen uns Klarheit herrscht. Und zwar für immer.“ „Klarheit – worüber?“ „Über unser künftiges Leben, Günter.“ Er atmete stoßweise, als habe er eine große Anstrengung hinter sich. Ihm war auch so, er fühlte seinen Körper beben, der Magen hob sich und sandte dumpfe Schmerzsignale aus … Der Wind war noch stärker geworden, er heulte und pfiff ihnen ins Gesicht. Brigitte strich sich jeden Augenblick das Haar aus der Stirn. Sie ging immer noch voran, nur, daß sie jetzt selten verweilte. Zwischen sie war wieder das getreten, was alles unmöglich machte, jedes Gespräch, jede freundliche Geste. Sie erreichten die gesprengten Bunkerbefestigungen aus dem zweiten Weltkrieg. Einer der Plätze, die wenig Anheimelndes boten. Zerborstener Stahlbeton, Trostlosigkeit. Ein Ort, den man schnell hinter sich zu bringen trachtete. Minuten später trat sie wieder an die Steilküste und 57
blickte hinab. Der Wind schien sich gedreht zu haben. Sie trat ganz dicht an den Grat und beugte sich leicht nach vorn. Perlbach, zwei Schritte hinter ihr stehend, sah, wie sie mit dem Wagnis gaukelte. Sie begab sich nicht wirklich in Gefahr, doch sie trat so dicht an den Abgrund, daß es ein leichtes wäre … Perlbach spürte das Zittern stärker werden, seine Hände flatterten so stark, daß er sie ineinander verschränkte. Er mußte Kraft aufwenden, seine Hände unter Kontrolle zu halten. Er sah kein Meer, keine Wolken, er hörte keinen Wind. Er erblickte vor sich, zwei Schritte vor sich und so dicht am Abgrund, daß nur ein winziger Stoß reichen würde, den Rücken dieser Frau, seiner Frau … „Ich will die Scheidung, Günter“, sagte sie. Der Wind trug ihr die Worte vom Mund, doch er hatte sie vernommen. „Ich möchte, daß wir es gütlich tun, weißt du.“ Er hielt seine Hände fest, trat einen Schritt näher, unmittelbar hinter sie. „Ja“, sagte er tonlos. „Sonst sind wir nach Jahren leer und ausgebrannt.“ „Ja“, sagte er. Und er sah ihr über die Schulter, blickte hinab in die Steilküste. „Du bist einverstanden mit der Scheidung?“ Sie hatte sich noch immer nicht umgewandt. Er sagte wiederum: „Ja.“ Und dann war das Verlangen übermächtig. Es war so stark, daß er meinte, es müsse ihn innerlich zerreißen, wenn er es nicht täte, wenn er es nicht jetzt auf der Stelle täte. Wenn er es nicht jetzt unwiderruflich, unausweichlich machen würde, dann würde er es nie können. Er löste die Hände aus ihrer Umklammerung, seine Rechte lag schon fast auf ihrem Rücken. „Das war der Grund, weshalb ich mitfuhr“, gestand sie. Jetzt, schrie es in ihm, jetzt, jetzt, nicht mehr warten … Er zog die Hand zurück, zitternd. 58
Sie drehte sich um zu ihm, sah seine Erschütterung. „Ist dir nicht gut?“ „Nein … doch, es geht schon, danke.“ „Wollen wir zurück ins Quartier?“ „Nein, wirklich, es geht schon wieder.“ Sie war an ihm vorübergegangen, dann blieb sie stehen, wartete auf ihn. Er stand und blickte hinab. Dort unten kam ein Mann gegangen. Perlbach sah, wie er sich nach Steinen bückte, sie betrachtete und dann wieder wegwarf. Und dann sah er auch den Hund, der seinem Herrn vorausgelaufen war. Watschi erwies sich als amüsanter Weggefährte. Er war ihr in Vitte begegnet, als sie auf dem Weg nach Neuendorf war. „Kann ich mitkommen?“ fragte er sogleich. Sie hatte nichts dagegen. Es war ihr sogar recht. So war sie nicht allein mit ihren Gedanken. Mit Günter Perlbach konnte sie seit jenem Ausflug zum Nordteil der Insel überhaupt nicht mehr reden. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen und antwortete nur auf wenige Fragen. Sie wollte auch nicht weiter in ihn dringen. Sie hatten sich gesagt, was zu sagen war, sie hatte ihm die Wahrheit mit Theuerkauf gesagt und auch, daß sie nicht bei ihm, Perlbach, zu bleiben gedenke. Er hatte, wortlos fast, in die Scheidung eingewilligt, unbeteiligt und apathisch. Immerhin hatte sie einen seiner großen Auftritte erwartet, doch Perlbach war eher resigniert gewesen; er hatte sich abgefunden. „Verstehe gar nicht, warum Günter Sie immer so allein läßt“, hakte Watschi dann auch sehr bald ein. „Da gibt’s nicht viel zu verstehen.“ „Aha“, sagte Watschi, „deshalb ist er so komisch.“ „Ist er das?“ „Ja, schon auf dem Dampfer.“ 59
„Wir werden uns trennen.“ „Hm. Und dann?“ „Was – dann?“ „Ich meine, sind Sie … frei?“ Brigitte lachte. „Sie können es nicht lassen, was. ‚Heiße Hirsche‘, oder wie sagten Sie?“ Er grinste. „Ich bin doch längst unter der Haube.“ „Also darauf würde ich mich als Frau nie ausruhen.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte er neugierig. „Manche Frauen – und auch viele Männer – glauben, daß sie ihren Partner mit dem Trauschein eingekauft haben. Das Ding ist für sie so was wie ’n Unterpfand für Sicherheit oder was weiß ich.“ Watschi bezog diesen Gedanken auf sich. „Meine Frau ist nicht kleinlich, wissen Sie. Aber sie weiß, was sie will. Und –, ganz ehrlich, einmal hat man sich ausgetobt. Früher …“ Brigitte lachte herzlich und blickte ihn dann mitleidig von der Seite an. „Als Sie noch jung waren, was?“ Er schien leicht gekränkt zu sein. Sie tröstete ihn, indem sie ihn in Neuendorf zum Essen einlud. „Wissen Sie was“, sagte Watschi auf dem Heimweg, „wenn ich frei wäre, und Sie wären’s auch – ich könnte mich auf der Stelle in Sie verlieben.“ „Danke“, sagte Brigitte. „Ich mein’s ernst.“ „Ich hab’s auch so aufgefaßt.“ „Sie sind eigentlich ganz anders.“ „Anders – wie anders?“ Watschi überlegte nicht lange. „Dieses Bild gestern von Ihnen.“ „Welches Bild?“ „Das auf dem Titelblatt.“ Ihr dämmerte es. „Ah – ist es schon erschienen?“ „Ja, ja. Ich finde, da sehen Sie so clever aus, so selbst60
sicher, so … Eben anders, als ich Sie kennengelernt habe.“ „Ist das ein Kompliment?“ fragte sie und lächelte schelmisch. „Ja und nein. Denn – die Frau auf dem Titelblatt ist genau mein Typ.“
6 Am Morgen ihrer Abfahrt regnete es. Sie – standen an der Reling. Trotz des schlechten Wetters fotografierte sie. Als sie den Hafen weit hinter sich gelassen hatten, standen sie noch immer auf dem Oberdeck. Sie waren die einzigen. Wieder wurden sie von Möwen begleitet. „Ich werde am Monatsersten ausziehen“, sagte sie. „Und die Möbel?“ „Hab keine Angst, ich will nichts von dir.“ Perlbach begehrte auf. „Wie du redest! Als wenn ich auf meinen Sachen säße.“ „Tust du das nicht, Günter?“ Perlbach klammerte sich an die eiserne Halterung, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er sah auf die See hinab und verbiß sich jedes weitere Wort. Dann, nach langer Zeit, preßte er hervor: „Du hast mein Leben versaut, ja, versaut hast du es.“ „Danke. Ich kann von dir das gleiche sagen. Aber ich habe den Mut zu gehen, verstehst du, ich gehe. Du kotzt mich so sehr an, es ist einfach unvorstellbar.“ „Du bist ein überhebliches, arrogantes Miststück geworden“, konterte Perlbach, weiß vor Zorn. „Ich will dir mal was sagen, Perlbach. Auch wenn ich alles in meinem zukünftigen Leben falsch machen sollte, auch wenn alles schiefliefe – keiner weiß das vorher ge61
nau –, aber eines weiß ich: Es ist richtig, von dir wegzugehen. Du machst jeden, hörst du“, sie skandierte das Wort, „jeden Menschen fertig. Du duldest niemanden neben dir. Du hast dich eingepuppt in deinen dreckigen kleinen Wohlstand, du lebst wie eine Fleischmade, kriechend, vorwärts robbend, blind für alles, was ringsum geschieht, nur dicht an den Fleischtöpfen, ach …“ „Und du? Hast du nicht all die Jahre mit an den Töpfen gesessen? Lebtest du vielleicht in Armut? Hast du aufbegehrt, hast du anders gelebt? Ich sage nein. Du hast dich von mir zu was machen lassen; und jetzt, jetzt bin ich dir nicht mehr gut genug, jetzt steht dir der Sinn nach Köpfen, ha, wenn ich das schon höre: Köpfe! Wer sind denn deine Köpfe? Idioten sind das, lebensuntüchtige, Fett ansetzende kleine Spinner, so wie dein Theuerkauf, dieser Don Juan.“ „Du hast mit einem recht. Ich habe die Jahre, viele Jahre, viel zu viele Jahre, deinen Trott mitgemacht. Das ist etwas, was ich mir nicht verzeihe. Aber mein Leben ist noch nicht zu Ende. Noch nicht. Ich hab’ noch Jahre vor mir, hörst du, noch Jahre. Und die will ich leben, jawohl, leben, sinnvoll verbringen, arbeiten auch, denn, Perlbach, meine Arbeit füllt mich aus, sie gibt mir was, und die ist mit dir unvereinbar, denn du bist Gott, der große, anbetungswürdige, einzige Gott Perlbach, ach, Scheiße.“ „Warum bist du nicht früher daraufgekommen, daß wir nicht zusammenpassen? Warum ist es dir nicht eingefallen, als du noch nichts warst als die kleine Fotolaborantin vom Arsch der Welt, die sich freute, nach Berlin zu dürfen? Da bist du gern gefolgt. Und jetzt spielst du die Dame von Welt. Du hast Hummeln im Hintern und wirre Ideen im Kopf, das ist es. Du wirst untergehen. Und eines Tages wirst du gekrochen kommen. Aber ich sage dir: Mein Haus wird verschlossen sein.“ Sie lachte laut und ungeniert. „Dein Haus verschlos62
sen. Dein Haus, wenn ich das höre! Du meinst, dein Puppenstübchen, dein Marionettentheaterchen. Das meinst du. Das hast du all die Jahre gemeint. Und ich sollte als Püppchen Nummer eins fungieren. Als properes, artiges Ausstellungsstück. Und du kommst nach Hause und läßt die Puppen tanzen. Nee, mein Lieber. Ich wäre eingegangen in der Sphäre, die du Zukunft nennst. Ich wäre erstickt, verhungert. Und dazu fühle ich mich zu jung.“ „Na gut, du gehst.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und entfernte sich. „Ich wollte ein Kind, hörst du“, schrie sie ihm nach. „Die ganzen Jahre hab’ ich eins gewollt.“ Er trat wieder auf sie zu, faßte sie am Arm. Sie stieß seine Hand zurück. „Faß mich nicht an. Ich will dir nur sagen, wie sehr ich dich verachtet und gehaßt habe. Seit jenem Tag damals, als du das Kind liegenließest. Nächtelang hab’ ich mich ruhelos gewälzt, hab’ gedacht, daß unsere Kinderlosigkeit die Strafe ist. Und dabei warst du es, du dreckiger, verlogener Mistkerl. Nur, weil du Furcht hattest, weil du gesoffen hattest und es mit der Angst bekamst. Und ich – ach, ich war nicht viel besser. Ich durfte all die Jahre den Mund halten; als Gattin von Perlbach braucht man keine Moral, nein, denn Perlbach ist Gott. Hau ab, du Saukerl!“ Er stand wie vom Donner gerührt, mit schreckgeweiteten Augen. Plötzlich wurde ihm voll bewußt, was sie gegen ihn in der Hand hatte. Er wußte, daß er nie Ruhe finden würde, wußte, daß es immer etwas geben würde, das es zu fürchten galt: ihr lebendiges Gewissen. Und er wußte mit einemmal auch, daß alles daran hängen würde, sein zukünftiges Leben war von diesem Umstand geformt. Er würde sich nie aus dieser Schlinge herauswinden können. Wie mochte es sein, wenn sie nicht mehr verheiratet waren? Dies alles schoß Perlbach durch den Kopf, während63
dessen er noch immer schreckstarr und unbeweglich auf der Stelle verharrte. Er blickte sich ängstlich um. Niemand war zu sehen, das Deck lag wie leergefegt. Noch immer regnete es. Er sah, daß ihre Schultern im Weinkrampf zuckten. Perlbach, erneut aufs heftigste hin und her gerissen zwischen Mitleid und dunkel empordräuender Wut, sah sich sekundenlang hilflos und ohnmächtig. Mitleid war auch in ihm. Mitleid mit wem? Er wußte es nicht zu beantworten. Vielleicht hatte er ganz einfach Angst. Angst davor, daß sie eines Tages mit jener entsetzlichen Wahrheit herausrücken würde. Und das entfachte seine Wut aufs neue, es machte ihn krank, daß er sich dieser Frau ausgeliefert sah, er fühlte den Magendruck stärker werden, stand noch immer reglos, blickte sich erneut um, hastig und mit dem wachsamen Blick des Fuchses. Schon in diesem Augenblick war es zur Gewißheit geworden, daß er es tun würde, auch wenn er es selbst noch nicht wußte. Er sah sie an der Reling lehnen, hörte ihr leises Schluchzen, das ihn immer hatte hilflos werden lassen, doch dieses Gefühl war schlagartig von ihm abgefallen, er trat mit ihm sonst nicht eigener Behendigkeit dicht hinter sie. Gleichzeitig stieg der Gedanke in ihm empor, so furchtbar, aber doch so logisch: Sie kann nicht schwimmen. Sie kann nicht schwimmen, sie kann nicht schwimmen, hämmerte es in seinem Kopf, sein Magen begehrte wild auf, mein Gott, dachte er flüchtig, nein, das doch nicht, und dann hatte er wieder ihre Worte im Ohr, die Entdeckung, die ihn immer, immer, immer bedrohen würde, sie kann nicht schwimmen … Er bückte sich, griff nach ihren Fesseln, hob sie blitzschnell aus. Einen Moment lang konnte sie sich noch mit den Händen anklammern. Perlbach meinte ihren Blick, einen fassungslosen, ungläubigen Blick aufgefangen zu haben, Augen, die nicht so sehr flehten, als daß 64
sie verwundert waren. Er wollte schreien: Vergib mir, vergib mir, ich kann doch nicht anders. Er schwieg verbissen und drückte mit seinem Körpergewicht nach. Da lösten sich ihre Hände, ihr Körper schlug im Wasser auf. Perlbach, sekundenlang von Entsetzen gepackt, starrte mit kranker Faszination hinab auf die Wasserwirbel, die in der zurückbleibenden Kiellinie schwächer wurden. Er stürzte zu den Toiletten und schloß sich ein.
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ZWEITER TEIL
1 Die ersten Wochen danach waren für Perlbach aufreibend und heikel. Untersuchungen wurden anberaumt, bei denen er stets zugegen sein mußte, Lokaltermine lösten einander ab, Befragungen zogen sich bis in die Nächte hinein. Perlbach, nervös, zerrissen von inneren Kämpfen, sah sich sachlichen Erkundigungen ebenso ausgesetzt wie nackter Neugier. Er mußte es sich gefallen lassen, immer und immer wieder nach den gleichen Sachverhalten gefragt zu werden, so daß er oft genug resigniert und mit leisem Kopfschütteln die Schultern zuckte. Freilich begegnete er Argwohn und Befremden. Doch ebenso trug man ihm Anteilnahme und Verständnis an. Perlbach, trotz seiner Rolle, die er mit Geschick und Konsequenz zu geben wußte, hatte immer so viel Überblick, daß er sich nicht in trübe Gewässer locken ließ. Er hatte sich entschlossen, den fassungslosen, gramgebeugten Ehemann zu spielen, was unter den gegebenen Umständen die überzeugendste Variante sein mußte. Von Brigittes Verschwinden wußte er nach eigenen Angaben nur so viel, daß er sie habe an Deck gehen se66
hen. Danach sei sie ihm nicht mehr zu Gesicht gekommen. Ein Zufall kam Perlbach zu Hilfe. Eine ältere Dame gab an, die junge Frau tatsächlich – allein – an Deck gesehen zu haben. Perlbach, der gleich bei Ankunft des Dampfers in Stralsund das Verschwinden seiner Frau gemeldet hatte, hörte bei ersten Befragungen zufällig, wie eben jene Frau angab, Brigitte gesehen zu haben. Das bestimmte spontan sein Verhalten bei allen folgenden Untersuchungen. Und da er sich nicht in Widersprüche verstrickte, sondern gerade und klar in seinen Aussagen blieb, gewannen seine Angaben mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Bereits am ersten Tage der Untersuchung hatte sich – für Perlbach insgeheim schockierend – neben der Wasserschutzpolizei, der Volksmarine und der Feuerwehr auch die MUK des Bezirkes eingeschaltet. Hauptmann Beeskow, der Leiter der Morduntersuchungskommission, war mit Perlbach mehrere Male die Strecke abgefahren, jene wenigen Seemeilen Boddengewässers, in denen Brigitte Perlbach verschwunden war. Einmal, als sie nebeneinander an der Reling lehnten, hatte der Kriminalist Perlbach angestoßen. „War es hier?“ Perlbach war viel zu schlau, um das Überrumpelungsmanöver zu übersehen. Er blickte den Hauptmann mit arglosen Augen an und entgegnete: „Was meinen Sie?“ „Ach, es war nur so dahergeredet“, versetzte Beeskow zerstreut. Perlbach jedoch war auf der Hut. Wenn Beeskow den zerfahrenen Menschen vorführte, so zeigte er damit ganz sicher nur einen Teil seines Wesens. Vielleicht, argwöhnte Perlbach, war alles nur Pose. Jedenfalls war der Kerl nicht zu unterschätzen. Der Leiter der MUK war Perlbach zunächst mit großem Mißtrauen begegnet. Das rätselhafte Verschwinden 67
Brigitte Perlbachs stieß die Kriminalisten bei ihren Erkundigungen immer wieder auf den Ehemann. Dort, so fanden sie, mußte man weiterforschen. Es war selbstverständlich nicht unentdeckt geblieben, daß die Ehe der Perlbachs zerrüttet war. Perlbach gestand das bei Befragungen ein. Ebendeshalb, so gab er an, sei er mit seiner Frau auf die Insel gefahren. Es sollten – so versicherte er glaubwürdig – Mißverständnisse ausgeräumt werden. Er habe sich mit Brigitte versöhnen und alle Dinge, die vorgefallen waren, bereinigen wollen. Schwamm über alles. Die Kriminalisten blieben skeptisch. Leutnant Motz, ein junger, ehrgeiziger Mitarbeiter Beeskows, war auf Theuerkauf gestoßen. Theuerkauf bestätigte, seit einiger Zeit mit der Verunglückten ein Verhältnis unterhalten zu haben, und er fügte mit Bestimmtheit hinzu, daß er nie und nimmer an eine Selbstmordvariante glauben würde. Motz, erstaunt und hellhörig geworden, denn er hatte dem jungen Mann nicht mit einem einzigen Wort von einer solchen Möglichkeit gesprochen, drang weiter in seinen Befragungen. Es stellte sich heraus, daß Theuerkauf seiner Freundin von dieser Reise abgeraten hatte. Er habe sie kurz vor der Abreise noch einmal angerufen und sie angefleht, nicht zu fahren. „Warum?“ fragte Motz. „Ich weiß auch nicht. Ich hatte so eine Ahnung.“ „Was für eine Ahnung? Werden Sie mal konkreter.“ „Ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall wußte ich, daß irgend etwas passiert. Wenn Sie Perlbach kennen würden …“ „… ich habe ihn kennengelernt“, warf der Leutnant trocken ein. „Er ist ein Karrierist.“ „Was hat das mit unserer Sache zu tun?“ „Er räumt alles skrupellos beiseite, was ihm hinderlich werden könnte“, rief Theuerkauf. 68
„Sie meinen, sie würden ihm auch ein – Gewaltverbrechen zutrauen?“ Darauf entgegnete Theuerkauf nichts. „Sie hatten doch einen solchen Gedanken“, stieß Motz nach. „Sehr ungewöhnlich. Zuerst schließen Sie einen eventuellen Selbstmord aus, dann deuten sie Skrupellosigkeit an. Wie kommen Sie darauf?“ „Ich komme auf gar nichts“, entgegnete Theuerkauf heftig. „Ich sagte nur, daß Perlbach ein Streber ist.“ „Zugegeben“, lenkte Motz ein, „Sie sagten es nicht direkt. Aber es schwang so mit. Ich bin erstaunt über Ihre … nun, sagen wir Vermutungen. Immerhin haben wir von Brigitte Perlbach bisher weder ein Lebenszeichen noch einen Hinweis, wo sie …“ „Sie lebt nicht mehr“, unterbrach ihn Theuerkauf murmelnd, „ich spüre es.“ Motz wurde ärgerlich. „Ich denke, Sie haben diese Frau geliebt?“ „Eben, deshalb. Da hat man einen Riecher.“ „Das ist Unsinn … Warum nehmen Sie gleich das Schlimmste an?“ „Weil Sie hier sind. Sie sind doch von der Morduntersuchungskommission, nicht wahr?“ „Ja“, gab Motz zu. „Na bitte. Also hat die Volkspolizei ähnliche Verdachtsmomente.“ „Eigentlich ist das eine Routineangelegenheit“, erklärte Motz sachlich. „Wenn ein Bürger auf eine so ungewöhnliche – ein Verbrechen nicht auszuschließende – Art verschwindet, so schalten wir uns ein. Das ist normal und außerdem unsere Pflicht. Sie sagten Verdachtsmomente. Wissen Sie, die sind schnell geboren. Aber sie sind keine Beweise, noch nicht einmal Indizien. Und nur damit wäre etwas anzufangen.“ „Danke für die Lektion“, sagte Theuerkauf ironisch. „Sie können mir nichts weiter sagen?“ 69
„Nein.“ „Hat sich Brigitte Perlbach Ihnen gegenüber in irgendeiner Form über ihren Mann geäußert?“ „O ja. Öfter.“ „Wie stand sie zu ihrem Mann?“ „Sie hatte die Schnauze voll, gestrichen. Er widerte sie an. Sie hat sogar versucht, ein vorurteilsfreies Verhältnis zwischen sich und ihm zu schaffen – vergebens. Er war wie eine Klette.“ „Immerhin war er noch ihr Mann.“ „Sicher. Ich glaube auch, daß sie zu lange mit der Scheidung gezögert hat.“ „Und trotz allem ist sie mit ihm in den Urlaub gefahren?“ „Das ist es ja, was ich nicht begreife“, rief Theuerkauf. „Aber sie wollte in Frieden von ihm gehen. Verstehen Sie? Fairneß gegenüber einem Halunken, tss!“ „Sie wollte also die Trennung vorbereiten?“ „Ja.“ „Perlbach behauptet, er sei mit seiner Frau in die Ferien gefahren, um sie zurückzugewinnen, also, wenn ich ihn recht interpretiere, um die Ehe zu retten.“ Theuerkauf schniefte verächtlich. „Der und Ehe! Gequält hat er sie. Jede freie Minute hat er dazu genutzt, jede! Und wenn sie gerade mal nicht zu Hause oder er unterwegs war, dann hat er sich flugs was Neues ausgedacht, womit er sie demütigen konnte.“ „Sie würden Perlbachs Behauptung also für unwahr halten?“ „Erstunken und erlogen.“ Motz, der sich auch in Brigittes und in Perlbachs Betrieben umtat, traf auf alle möglichen unterschiedlichen Urteile, die Perlbachs betreffend. Einhellig wurde Brigitte von allen Seiten als eine hilfsbereite, freundliche, liebenswerte Kollegin beschrieben. Anton Löffler, der Chefredakteur der Modezeitschrift 70
„Sylvia“, pries sie sogar als eine „ganz außerordentlich befähigte, zuverlässige und menschlich integre Frau“. Um so widersprüchlicher waren die Bewertungen Perlbachs. In seinem Büro hatte er einen guten Leumund. Man bescheinigte ihm Fähigkeiten im Beruf, fand anerkennende Worte für seine Leistungen, ja, es gab eine Reihe Kollegen, die gern mit ihm zusammenarbeiteten. Allerdings wurde auch nicht verschwiegen, daß man eigentlich wenig über sein Familienleben wisse. Perlbach habe seit je sehr zurückgezogen gelebt. In Brigittes Betrieb rümpfte man bei der Nennung seines Namens allerorts die Nase. „Der hat die Brigitte fertiggemacht“, sagte ein Fotografenkollege lakonisch. Und alle anderen schienen das zu bestätigen. Hier war Perlbachs Ruf der denkbar schlechteste. Wo sprach man die Wahrheit? Wer bewertete Perlbach richtig? Motz konnte sich keinen Reim darauf machen. Zwar hatten sie in der Praxis schon oft erlebt, daß Menschen von anderen völlig fehl eingeschätzt wurden, dafür gab es eine Reihe von Gründen. Nicht selten waren Aversionen und Böswilligkeiten mit im Spiel. Doch bei Perlbach schieden sich die Meinungen ganz seltsam: Hier stand der eine, dort der andere Betrieb. Als Motz seinem Chef davon berichtete, runzelte der die Brauen und trommelte auf seinen Armlehnen. Dann sprang er auf und lief im Raum auf und nieder. Motz bot ihm eine Zigarette an und gab auch Feuer. „Da befragt man sie nun persönlich, und was kommt dabei heraus? Kannst du dir vorstellen, wie ergiebig dann erst die Kaderakten sind, Himmelherrgott noch mal!“ „Sie kennen alle nur einen Teil seiner Persönlichkeit, Genosse Hauptmann“, gab Leutnant Motz zu bedenken, „und in Brigittes Betrieb nur vom Hörensagen durch sie.“ „Schon möglich“, entgegnete Beeskow gereizt, „aber 71
daran kannst du ablesen, wie wir miteinander leben. Keiner weiß vom anderen, was der eigentlich für ein Mensch ist. Mutmaßungen, Ungenauigkeiten, Eitelkeiten, Ahnungen. Ein wahres Paradies für einen Kriminalisten!“ Motz mußte seinem Chef recht geben. Nicht selten wurden sie durch falsche oder ungenaue Angaben zu einer Person in die Irre geleitet. Es war eine Tatsache, daß Tante Emma anders über Schulze dachte, als Onkel Gustav es tat. Beeskow war an die Karte getreten, auf der sich der Ostseebezirk und seine Küstengewässer von Osten nach Westen hinzogen. „Dies kleine Stück Bodden“, rief Beeskow, „das ist wirklich nicht der Stille Ozean. Warum finden wir sie nicht? Das gibt es doch gar nicht.“ „Vielleicht gehen wir von falschen Hypothesen aus“, sagte Motz. „Es ist doch möglich, daß sie sich heimlich aus dem Staub gemacht hat, um ihren werten Gatten zu ärgern.“ „Wie denn, Menschenskind?“ „Schwimmend.“ „Brigitte Perlbach konnte nicht schwimmen.“ „Sagt Perlbach. Aber wer sagt uns, daß es stimmt?“ „Welchen Grund sollte er haben, uns da etwas vorzumachen? Was würde ihm das nützen?“ Leutnant Motz überlegte. „Vielleicht hat er es auch wirklich geglaubt, doch es entsprach nicht der Wahrheit …“ „Sie konstruieren da etwas, Leutnant.“ Die beiden Kriminalisten zerbrachen sich schon tagelang die Köpfe über den Verbleib der Frau. Es gab, wenn man im Konjunktiv blieb, eine Unzahl Möglichkeiten. Doch bislang fehlte ihnen jeglicher Anhaltspunkt. Lebte Brigitte Perlbach noch? Eigentlich sprach alles dagegen. Wenn sie aber tot war – wie war sie gestorben? Ihre Kof72
fer waren auf dem Dampfer geblieben, darin alle persönlichen Dinge, die eine Frau bei einer Reise mit sich führt. Auch ihr Handtäschchen mit den Kosmetikutensilien fand sich. Welche Frau trennte sich davon? Außerdem gehörten noch zwei Kleinbildkameras zu Brigittes Gepäck. Die dritte Kamera, sechs mal neun, eine Praktisix, war mit ihr verschwunden. Das sprach gegen alle Erfahrungen mit Selbstmördern. Fast immer pflegten Menschen, die sich umbringen wollten, vorher in ihrer Umgebung peinliche Ordnung zu schaffen. Es war nachgerade ungewöhnlich, daß Arbeitsgeräte zerstört oder vernichtet wurden. Würde eine Fotografin, die freiwillig ins Wasser ginge, ihren Fotoapparat mitnehmen? Das klang unsinnig. Wenn es so sein sollte, warum gerade diesen? Oder war es wirklich ein Unfall? War sie über die Reling gestürzt, unbemerkt und hilflos? Es hatte geregnet, kaum jemand hatte sich an jenem Tag an Deck gewagt. Die Unfallversion klang am einleuchtendsten, und doch wehrten sich die Kriminalisten dagegen. Irgend etwas an dieser Hypothese stimmte nicht. Brigitte war eine tüchtige Fotografin. Sie hatte ununterbrochen geknipst. Einige Filme, die sie auf der Insel geschossen und die man im kriminalistischen Labor entwickelt hatte, bezeugten das. Es konnte schon sein, daß sie im Eifer ihrer Arbeit – vielleicht kletterte sie sogar herum – von Bord gestürzt war. Die Tatsache, daß sie Nichtschwimmerin war, machte dann die Katastrophe perfekt. Doch andererseits: Würde sie sich so sehr in Gefahr begeben, da sie doch wußte, wie gefährlich ein Sturz ins Wasser für sie sein mußte? Nach allem, was sie von ihr in Erfahrung bringen konnten, sah es nicht so aus, als habe Brigitte jemals mit ihrem Leben gespielt. Beeskow und Motz hatten Brigittes Aufnahmen von der Insel ausgewertet; es waren überwiegend Landschaftsmotive, sehr viel Meer und immer wieder Heidelandschaft, schilfgedeckte, weißgetünchte Häuser, Fisch73
kutter, vertäut und bei der Heimkunft im Hafen, sowie einige wenige Gruppenbilder, entstanden in den Häfen von Vitte und Kloster. Es fiel auf, daß Brigitte Perlbach nicht ein einziges Mal ihren Mann fotografiert hatte. Doch das war unter den gegebenen Umständen nicht absonderlich. So ergaben auch Brigittes Arbeiten keinen Anhaltspunkt, von dem aus man weitersuchen konnte. Nach wie vor blieb unerklärlich, warum die Frau noch nicht gefunden worden war. Das war sehr merkwürdig, denn bislang waren Wasserleichen – und von dieser Annahme mußten die Kriminalisten bereits ausgehen – immer nach einigen Tagen irgendwo an Land gespült worden. Beeskow hatte sich genau erkundigt. Sowohl der Hydrographische Dienst als auch die Meeresbiologen der Universität kannten die Wind- und Strömungsverhältnisse des Boddens. Die halbe Küste war abgesucht worden. Erfolglos. Man hatte vierzehn Tage vergeblich gesucht; Perlbach war inzwischen an seinen Wohnort zurückgekehrt, er sollte sich dort zu ständiger Verfügung halten. Die Akte Brigitte P. galt als nicht abgeschlossen. Beeskow, der seiner vorgesetzten Dienststelle einen Bericht liefern mußte, befand sich in einer wenig beneidenswerten Situation. Er machte kein Hehl daraus.
2 Günter Perlbach war in seine Berliner Wohnung zurückgekehrt. Vor Kollegen und Bekannten gab er mit sichtlichem Erfolg den Trauernden. Seine Fassungslosigkeit wurde diskret akzeptiert; seine Haltung, fanden viele, hatte etwas von stiller Größe. Perlbach war so in seine 74
Rolle eingespielt, daß sie ihm Spaß zu machen begann. Er ertappte sich dabei, daß er auch zu Hause, wenn er allein in einem Sessel saß, dies verstörte Gesicht probte. Er lief langsamer, als er es früher getan hatte, seine Stimme klang leiser. Wenn er jemanden traf, so tat er entrückt, als tappe er hilflos durch seine Heimatstadt. Nach wenigen Wochen ließen die Neugier und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach, Perlbach galt – obschon der Beweis fehlte – als verwitwet. Perlbach, der nach allem um Zusatzurlaub gebeten und ihn auch bewilligt bekommen hatte, ging wieder seiner Arbeit nach. Allmählich verlor sich das Interesse der Zeitgenossen, und da Perlbach schon früher zurückgezogen lebte, fand niemand etwas dabei, daß er sich jetzt noch mehr von den Kollegen absonderte. Man schob es auf den Verlust seiner Frau, den er, so glaubte alle Welt, noch nicht verwunden haben konnte. Tatsächlich wirkte Perlbach stiller und in sich gekehrter als früher; was er nach Feierabend tat, wußte niemand, und es gab niemanden in Perlbachs Betrieb, der danach zu fragen wagte. Annäherungen hatte Perlbach schon früher von sich gewiesen. Niemand unterhielt zu ihm so enge Bindungen, daß ein persönliches Interesse hätte im Spiel sein können. Inzwischen war ein Monat seit Brigittes Verschwinden vergangen. An einem Montagnachmittag wurde Perlbach von Leutnant Motz in seiner Wohnung aufgesucht. Der junge Kriminalist schaute sich aufmerksam, ungeniert um, als glaube er, hier Zeichen von Brigittes Anwesenheit zu finden. Eigentlich war er nur gekommen, um Perlbach mitzuteilen, daß noch immer jede Spur von seiner Frau fehle. „Verstehen Sie das?“ fragte er harmlos. Perlbach zuckte die Schultern. Das Zusammentreffen der beiden war kurz, Motz verabschiedete sich nach wenigen Minuten, nicht ohne Perlbach zu erinnern, daß er sich zur Verfügung halten solle. 75
Perlbach sank nach dem Weggang des anderen in seinen Sessel und atmete tief durch. Sein Magen revoltierte wieder einmal, und er mußte ein paar Tropfen Beruhigungsmittel auf ein Stück Zucker träufeln, es schlucken und ruhig sitzen bleiben. Er saß vor dem Fernsehapparat und starrte in die Röhre, die nicht eingeschaltet war. Nachdem der Druck in der Magengegend nachgelassen hatte, saß er noch immer unbeweglich und nachdenklich. Er war seltsam berührt vom Besuch des Leutnants. Vor allem aber wollte ihm nicht in den Kopf, daß man Brigitte nicht fand. Das war wirklich unverständlich. Solange man ihre Leiche nicht geborgen hatte, würde man ihn nicht in Ruhe lassen. So lange schwebte das Schwert über ihm. Und er würde sich solche Besuche gefallen lassen müssen. Er hatte keine Angst davor, daß man Brigitte fand. Er ängstigte sich nicht einmal davor, sie identifizieren zu müssen. Auch eine genaue gerichtsmedizinische Untersuchung brauchte er nicht zu fürchten. Er konnte sich an jede Einzelheit genau erinnern. Jeder Bruchteil einer Sekunde dort oben an Deck des Dampfers war ihm gegenwärtig. Es gab keine Zeugen, keine Kratzspuren, keine Fingerabdrücke, keine sonstigen Indizien. Nichts, was ihm schlaflose Nächte bereiten konnte. Wieder stand vor ihm ihr Gesicht, als er sie aushob. Sie war so überrascht und ungläubig, daß sie nicht daran gedacht hatte, sich zu wehren. Erst in jenem Moment mußte ihr klargeworden sein, daß sie ihn maßlos unterschätzt hatte. Sie hielt ihn immer für einen Feigling. Sie wäre nie auf den Gedanken verfallen, daß er ihr ernsthaft etwas antun könne. Perlbach erinnerte sich auch daran: Sie war federleicht, er hatte kaum Kraft benötigt, sie über die Reling zu drücken. Sie hatte sich nur zwei oder drei Sekunden an der Halterung festklammern können. Dennoch ging ihm dieser Motz nicht aus dem Kopf. 76
Was sah er sich hier um, als wäre es das Selbstverständlichste? Er spürte Unruhe in sich aufsteigen, die um so unangenehmer war, als er nicht wußte, worin sie ihre Ursache hatte. Alles erschien doch so eindeutig und klar. Alles sprach für ihn. Brigitte litt unter der zerrütteten Ehe. Sie hatte zuweilen Depressionen. Sie scheute sich, ihn kurzerhand zu verlassen, konnte aber auch nicht mehr mit ihm leben. Warum sollte sie nicht mit einem unbedachten Sprung ihrem Leben ein Ende gemacht haben? Oder war es ausgeschlossen, daß sie beim Fotografieren – es war schließlich hinlänglich bekannt, wie eifrig sie bei ihrer Arbeit war – ausgeglitten war, daß sie das Gleichgewicht verloren hatte? Es gab keine Beweise gegen ihn. Perlbach atmete tief durch und schaltete dann das Fernsehgerät ein. Man sendete ein Unterhaltungsprogramm. Er war nicht bei der Sache. Was um alles in der Welt wollte dieser Motz? Warum kroch der ihm hinterher? Mußte der herkommen, nur um ihm zu sagen, daß man Brigitte noch nicht gefunden habe? Das konnte man ihm doch auch telefonisch mitteilen. Perlbach goß sich einen Weinbrand ein und schüttete ihn hinunter. Sein Magen begehrte auf. Finden konnte Motz hier nichts, überlegte Perlbach, doch daß er schnüffelte, bewies, daß man ihm mißtraute. Oder war das Routineangelegenheit? Aber er hatte das Gefühl, daß dieser junge Kerl ihm von Anfang an kein Wort geglaubt hatte, obgleich er es sich nie hatte anmerken lassen. Die Volkspolizisten hatten sich ihm gegenüber stets höflich, zurückhaltend und diskret verhalten. Doch das konnte Tarnung sein. Vielleicht wollte man, daß er leichtsinnig würde? Vielleicht war man ihm doch in irgendeiner Art auf der Spur? Beeskow, dieser alte Fuchs, ließ sich von ihm nicht in die Karten gucken. Wie er ihn damals aufs Glatteis locken wollte, als er ihm 77
die Fangfrage stellte, das hatte bei ihm die höchste Alarmstufe ausgelöst. Und dabei hatte ihn dieser Beeskow freundlich behandelt, ihn sogar bis auf den Korridor geleitet, als er sich von ihm verabschiedete. Beeskow war nicht gegen ihn. Aber dieser Motz! Der barst vor Ehrgeiz. Ganz sicher wollte er sich seine ersten kriminalistischen Sporen verdienen, und er, Perlbach, sollte dafür herhalten! Wenn er nur wüßte, woran sich der Leutnant klammerte? Zufällig und beiläufig kam er sicher nicht nach Berlin. Perlbach goß sich noch einen Schnaps ein. Er grübelte den ganzen Abend. Die Unruhe wollte nicht weichen. Er trank im Laufe des Abends eine Flasche leer. Trotz dieses unangenehmen Besuches begann sich für Perlbach das Leben zu normalisieren. Man blickte ihm nicht länger auf den Korridoren nach, es wurden keine aufdringlichen Fragen mehr gestellt, er machte seine Arbeit. Das war ihm lieb. Perlbach konnte allmählich, wenn auch vorsichtig, die Rolle des trauernden Hinterbliebenen ablegen, wenngleich er auch streng darauf achtete, durchblicken zu lassen, wie hart ihm das Schicksal mitgespielt hatte, wie unersetzlich der Verlust sei, der ihm widerfahren war. Alles in allem gab er eine runde, überzeugende Figur ab, seine Gesten wirkten nicht aufgesetzt, seine Ausdrucksweise nicht überzogen. Alle Kollegen vermieden in Perlbachs Gegenwart jegliche Erörterung familiärer Probleme. Das geschah aus Rücksicht auf ihn, den solche Gespräche schmerzen mußten. Perlbach begann sich also einzurichten. Er fing an, die Nachmittage in seiner Zweizimmerwohnung zu genießen. Sie waren nicht mehr zerrissen von Auseinandersetzungen und von endlosem Warten auf Brigitte. Er kostete es aus, im Morgenrock durch die Wohnung zu laufen, sich einen Whisky mit Soda und Eis zuzubereiten, ausgiebig und genüßlich in der Wanne zu sitzen, 78
singend und rezitierend. Wenn er jedoch einen Schlager aus dem Radio mitsummte oder die Melodie einer Operettenschnulze pfiff, ging er nie über Zimmerlautstärke hinaus. Im Hause und in der Öffentlichkeit vermied er jedes Aufsehen. Brigitte war erst zwei Monate tot, und Pietät sollte man wahren, fand er. Leutnant Motz ließ sich wenige Wochen nach seinem ersten Besuch noch einmal in Perlbachs Betrieb sehen. Er traf auf Sabbelkow und erkundigte sich nach Perlbachs Zimmer. Mehr fragte er ihn nicht. Perlbach drängte seinen Kollegen, zu berichten, was der Kriminalist gewollt habe. Sabbelkow sah ihn merkwürdig an, dann schoß er mit dem Zeigefinger vor und stieß Perlbach vor die Brust. „Er wollte wissen, ob du der Mörder bist.“ Danach wollte Sabbelkow sich ausschütten vor Lachen. Er bemerkte Perlbachs betroffenes Gesicht, hieb ihm dann freundschaftlich auf die Schulter und beschwichtigte: „Nichts für ungut, Günter.“ Perlbach, noch immer irritiert, ja erschreckt, fragte noch einmal. „Was soll er gewollt haben“, erwiderte Sabbelkow, „gar nichts. Er wollte lediglich wissen, wo dein Zimmer ist.“ „Aha.“ „Warum lassen die dich nicht endlich in Frieden, Günter?“ Perlbach zuckte die Achseln. „Brigitte ist noch nicht gefunden worden.“ Sabbelkow grinste wieder. „Ich glaub’ fast, ihr habt euch das abgesprochen. Sie ist mit ’nem Husar oder ’nem Filmregisseur durchgebrannt, und du weißt es längst.“ „Laß deine dummen Witze!“ Sabbelkow trollte sich gutgelaunt. Perlbach sah ihm nach. Dieser Motz, überlegte er, mußte doch etwas im 79
Schilde führen. Warum schlich er hier herum und fragte die Kollegen aus? Perlbach beschloß, Beeskow anzurufen und sich zu beschweren. Er fühlte sich durch unnötige Fragereien diskriminiert, würde er sagen. Beruhigt und von seinem Einfall angetan, trat er in sein Arbeitszimmer. Eines Morgens fand Perlbach in seinem Flur eine Zeitschrift. Das war nicht üblich, denn die Postzustellerin schob sämtliche Post der Hauseinwohner in die Briefkästen, die gleich rechts der Haustür angebracht waren. Perlbach rasierte sich, als er von der Wohnungstür ein leises Schaben vernahm. Kurz darauf klickte es, und dann fiel etwas auf den Läufer. Er ging hinaus und fand eine zusammengefaltete Illustrierte in einer unbedruckten Papierbanderole. Er zog die Zeitschrift aus der Umhüllung und schlug sie auf. Es war die Nummer der „Welt der Frau“, in der Brigitte auf der Titelseite abgebildet war. Perlbach runzelte die Stirn. Wer hatte ihm die Zeitschrift zugeschickt? Sollte das ein schlechter Scherz sein? Diese Ausgabe war einige Monate alt. Brigitte hatte des öfteren Belegexemplare erhalten, vornehmlich dann, wenn sie an einer Ausgabe mit eigenen Arbeiten beteiligt war. Doch das geschah immer kurz nach Erscheinen der jeweiligen Nummer. Perlbach blätterte die Illustrierte flüchtig durch, dann griff er nach der Banderole. Sie war nicht bedruckt. Ein braunes Stück Papier, das zu einer Hülle zusammengeklebt war Auch das war ungewöhnlich. Er ging zur Wohnungstür und riß sie auf. Der Hausflur war leer. Seitdem er das Schaben an der Tür gehört hatte, mochten zwei oder drei Minuten verstrichen sein. Perlbach lief in die Küche und sah vom Fenster auf die Straße hinab. Von hier aus hatte er manchmal die Postzustellerin beobachtet, wie sie mit ihrem kleinen gelben Karren die Straße hinunterging. Heute sah er sie nicht. 80
Verwirrt trat Perlbach ins Badezimmer und beendete seine Rasur. Als er kurz darauf wieder in die Küche ging, um sich einen Kaffee aufzubrühen, blätterte er noch einmal in der Illustrierten. Er fand keinen Beitrag, der sein besonderes Interesse erregte. Dennoch war sein Mißtrauen geweckt. Während des Frühstücks sprang er plötzlich auf und ging zum Telefon. Im Verzeichnis suchte er die Nummer Alfons Rehs. Nach kurzem Rufen meldete sich Rehs verschlafene Stimme. „Haben Sie mir diese Zeitschrift geschickt?“ fragte Perlbach ohne jede Einleitung. „Wer ist denn da überhaupt?“ Reh gähnte. „Perlbach.“ „Sie?“ „Ja. Ich habe hier eine Nummer der ‚Welt der Frau‘, ebenjene, in welcher Sie meine Frau so unnachahmlich konterfeit haben. Haben Sie mir die Illustrierte gesendet?“ „Ich habe Ihnen nichts, gar nichts gesendet, Herr Perlbach“, klang es dumpf aus der Muschel. Perlbach vermeinte die eisige Ablehnung des anderen zu spüren. „Ich werde Ihnen auch nie irgend etwas schicken, ich wüßte nicht, weshalb ich das tun sollte.“ Reh hatte kurz entschlossen aufgelegt. Grußlos. Perlbach hatte den Hörer noch in der Hand, als ihm Watschi, der Bekannte von ehedem, einfiel. Hatte er sich nicht einige Male mit Brigitte unterhalten? War er nicht in ihrem Quartier erschienen und hatte mit dem Titelblatt gewunken? Sollte er etwa die Zeitschrift geschickt haben? Welchen Grund mochte er dafür haben? Perlbach verwarf diesen Gedanken nach einigem Überlegen. Watschi konnte nichts wissen. Die Zeitungen hatten über Brigittes Verschwinden nichts gebracht. Er mußte ahnungslos sein. Perlbach langte noch einmal nach der Banderole. Erst jetzt fiel ihm auf, daß nicht nur der übliche Schriftkopf 81
fehlte. Es war auch kein Poststempel vorhanden. Jemand mußte das Päckchen hergebracht haben. Nur wer? Und was war damit bezweckt worden? Er war in Gedanken, als er wenige Minuten später in seinen Wagen stieg. So bemerkte er den kleinen weißen Zettel, der unter seinem Scheibenwischer klemmte, erst, als er bereits gestartet war. Er hielt noch einmal an, stieg aus, zog das Stück Papier hervor und betrachtete es eingehend. Es war leer. Kein Wort, kein Aufdruck. Perlbach grübelte eine Sekunde, ob das ein Zufall war. Oder gab es zwischen der merkwürdigen Postsendung und jenem Zettel hier einen Zusammenhang? Er zerknüllte den Zettel, schüttelte den Kopf und wollte sich soeben wieder in sein Auto setzen, als er das Quietschen von Bremsen vernahm. Direkt vor ihm kam ein Funkstreifenwagen der Volkspolizei zum Stehen. Ein uniformierter Polizist sprang heraus, trat auf Perlbach zu und grüßte vorschriftsmäßig. „Sie stehen im Halteverbot, Bürger.“ Perlbach sah sich zerstreut um. „Ach ja, entschuldigen Sie.“ „Ihre Papiere bitte.“ „Papiere … äh, was für … ach so, ja, hier, bitte.“ Perlbach nestelte seine Brieftasche hervor und reichte dem Polizisten Ausweis, Fahrerlaubnis und Wagenzulassung. Der Hauptwachtmeister nickte leicht, blätterte in den Dokumenten und reichte sie Perlbach nach wenigen Sekunden. „Das hier ist eine Hauptverkehrsstraße, wie Sie wissen. Zur Berufsverkehrszeit besonders stark befahren, deshalb das Halteverbot.“ Perlbach nickte. „Verstehe.“ „Also, Herr Perlbach, richten Sie sich in Zukunft danach. Auf Wiedersehen, angenehme Weiterfahrt.“ Perlbach nickte wieder. Dann stieg er ins Auto, sah in seinen Rückspiegel und legte den Gang ein. Bevor der 82
Wagen anzog, sah Perlbach das zerknüllte Stück Papier auf dem Fahrdamm liegen. Wenige Tage später fand die Abteilungsvollversammlung statt. Doktor Siegfried Mertin, der Sektionsdirektor des Institutes, beraumte sie regelmäßig an jedem ersten Freitag des Monats an, und er legte allergrößten Wert darauf, daß die Belegschaft vollzählig zugegen war. Auch die jungen Praktikanten, Studenten des vierten Studienjahres, die hier im Institut ihre letzte praktische Bewährungsprobe vor dem Diplom durchliefen, waren anwesend. Perlbach saß eingezwängt zwischen Kullmann, einem dicklichen Mineralogen, den es aus unerfindlichen Gründen an dieses Institut verschlagen hatte, und dem jungen Diplomingenieur Frett, der unablässig Kaugummi kaute. Perlbach fühlte sich unwohl. Er hatte in den letzten Nächten schlecht geschlafen. Auch hatte er seit Tagen leichte Schwindelanfälle, vor allem in seiner Wohnung. Er riß dann die Fenster weit auf, um sie kurz danach wieder zu schließen und hastig das Haus zu verlassen. Er irrte durch Straßen, vergaß, was ihn hinausgetrieben hatte. Seit jenem Tag, als man ihm morgens das Belegexemplar der Illustrierten durch den Briefschlitz gesteckt hatte, empfand er Furcht vor allen Menschen, die ihn unmittelbar umgaben. War da jemand, der etwas wußte? Hatte einer dieser Männer hier Informationen, die ihm gefährlich, lebensgefährlich werden konnten? Perlbach achtete kaum auf Mertins Ausführungen, wieder einmal über den internationalen Trend auf dem Gebiet des Maschinen- und Anlagenbaues. Günter Perlbach durchforschte die Gesichter der Kollegen. Sabbelkow saß ihm gegenüber und grinste ihm von Zeit zu Zeit zu, als hätten sie gemeinsam ein Bubenstück gedreht. Sabbelkow war ihm nie ganz geheuer vorgekommen. War er es nicht, der ihm damals ins Gesicht 83
gesagt hatte: „Du bist der Mörder“ – und sich dann grinsend trollte, als habe er einen guten Witz gemacht? Doch mit Sabbelkow hatte er kaum Kontakt gepflegt. Der konnte Brigitte höchstens ein-, zweimal gesehen haben. Jedenfalls blieb der Mann undurchsichtig, man mußte sich unbedingt vor ihm in acht nehmen, entschied Perlbach. Er ging die anderen Gesichter durch. Viele der Kollegen kannte er kaum, denn die Abteilung war vor einiger Zeit mit einer anderen zusammengelegt worden, und Perlbach hatte ohnehin nie dazu geneigt, in seinem Institut menschliche Kontakte zu suchen. Da saß am Tischende noch jener Student, Andreas Herzog. Perlbach fiel ein, daß der ihn noch am Tage vor seiner Abreise auf die Insel anrief und sehr aufgeregt schien. Nach seiner Rückkunft und den Belastungen der letzten Wochen hatte er vergessen, auf jenes Gespräch zurückzukommen. Sicher handelte es sich um eine studentische Angelegenheit, die sich inzwischen von selbst erledigt hatte. Perlbach kannte die guten Leistungen Herzogs. Nur, fragte er sich, und wieder stieg etwas wie Unruhe in ihm auf, warum war der Bursche nie auf das Gespräch zurückgekommen, wo sie sich fast täglich begegneten? Hatte dieser junge Kerl etwa Brigitte gekannt? Das war ziemlich ungewöhnlich, denn er war um einiges jünger als sie. Doch was hatte er schon von ihren Bekanntschaften gewußt? Perlbach spürte, wie sein Magen aufbegehrte. Er schluckte eine Tablette. Herzog sah nicht ein einziges Mal zu ihm hin. Ach, was du dir immer einredest, beruhigte Perlbach sich selbst, von denen hier konnte keiner etwas wissen, nicht einmal etwas ahnen. Viel eher war ein möglicher Mitwisser in Brigittes Arbeitskreis zu suchen. Vielleicht sogar jemand, der ihn erpressen wollte? Theuerkauf? Der hatte Brigitte gut ge84
kannt. Sie waren eng befreundet, hatten zahlreiche Wochenenden miteinander verbracht. Wenn jemand etwas ahnte, so glaubte er jetzt sicher zu sein, dann Theuerkauf, diese Null. Doch wie sollte er es herausbekommen? Es war unmöglich, zu ihm zu laufen und ihn direkt zu fragen. Ob der ihm eines Tages eine Falle stellen konnte? Doch wie hoch mußte er dabei sein eigenes Risiko veranschlagen? Perlbach zergrübelte sich das Hirn. Nur Bruchstücke aus Mertins Vortrag nahm er auf. Wenn nun sein Verdacht völlig unbegründet war und es sich bei jener Postwurfsendung und dem leeren Zettel unter seinem Scheibenwischer um Zufälle oder Jungenstreiche handelte? Du hast doch alles wieder und wieder durchdacht, hast nirgendwo ein Indiz gefunden, das gegen dich sprechen könnte, sinnierte er. Sogar die MUK schien völlig im dunkeln zu tappen, zumal man Brigitte noch immer nicht gefunden hatte. Es konnte freilich auch sein, daß jener Motz hinter allem steckte oder dieser Hauptmann Beeskow. Den hielt er für raffiniert. Es konnte sein, daß man ihn psychologisch fertigmachen wollte, bis er eines Tages eine Unbesonnenheit beging und sich verriet. Du wirst nicht darauf hereinfallen, nahm er sich vor. So schlau bist du noch allemal. Einfach so tun, als gäbe es diese Vorfälle nicht, sich gelassen zeigen und auch tief getroffen vom Verlust der Gattin. Jedenfalls nach außen hin. Was er in seinen vier Wänden tat, war schließlich seine Angelegenheit. Perlbach fing wieder einen jener merkwürdigen Blicke Sabbelkows auf. War der Bursche nur albern, oder steckte hinter seinem Verhalten ein Konzept? Dumm war Sabbelkow nicht. Er galt im Institut als Witzbold, obschon Perlbach nie viel für die Späße seines Kollegen übrig gehabt hatte. Mach dich nur nicht verrückt, dachte Perlbach, du bist mit deinen Nerven ’runter und siehst überall Gespenster. 85
Günter Perlbach beschloß, in Zukunft noch vorsichtiger zu werden. Er wollte sich mal wieder richtig ausschlafen, etwas für seine Nerven tun. Nur, wie sollte er sich gegen die irren Träume und Fieberphantasien wehren, die ihn allnächtlich heimsuchten? Du wirst dir Tabletten besorgen, Schlaftabletten, Beruhigungspräparate, entschied er. Der Betriebsarzt würde angesichts seiner psychischen Verfassung keine langen Fragen stellen. Als die Versammlung sich ihrem Ende zuneigte, hatte er sich beruhigt. Sein Magen begehrte nicht mehr auf. Er entschied sich für den Gedanken, daß alle geheimen Besorgnisse nur Ausgeburten seiner überreizten Phantasie wären.
3 Eines Nachmittages im Kaufhaus, mitten im dichtesten Menschengewühl, traf er Peter Theuerkauf. Der andere trug ein großes, verschnürtes Paket unter dem Arm und schob sich zielstrebig an Menschen und Verkaufsständen vorüber, erreichte schließlich die hintere Rolltreppe und fuhr in die oberen Stockwerke, Perlbach, von einer unbestimmten Neugier getrieben, aber auch von plötzlich wiedererwachtem Mißtrauen, setzte ihm nach. Er sah, wie Theuerkauf die Abteilungen der Damenkonfektion betrat. Er sprach eine Verkäuferin an, wurde von ihr mit einem Handzeichen in ein anderes Revier verwiesen. Auch dort Damenbekleidung. Was wollte der Kerl hier, überlegte Perlbach. Hatte er sich so schnell über den Verlust Brigittes getröstet, vielleicht schon eine neue Gespielin aufgegabelt, der er Kleider schenkte? Er bemühte sich, Theuerkauf nicht aus dem Blickfeld 86
zu verlieren, was ihm nicht leicht gemacht wurde, denn an den davorliegenden Ständen drängelten sich kaufwütige Damen um soeben eingetroffene Import-Jeans. Als er schließlich hinter der holzverschalten Wand einer Umkleidekabine einen günstigen Beobachtungspunkt gefunden hatte, war Theuerkauf verschwunden. Perlbach wartete fast eine Viertelstunde. Irgendwann mußte der Kerl doch wieder auftauchen! Doch er wartete vergeblich. Theuerkauf ließ sich nicht mehr blicken. Statt dessen wurde Perlbach vertrieben, weil eine Dame von der Garderobe, hinter welcher er sich verbarg, etwas anprobieren wollte. Perlbach zwängte sich wieder durch die heftig gestikulierende Damenansammlung vor dem Levis-Stand, verweilte einen Augenblick vor der Abfahrt der Rolltreppe und sah sich noch einmal um. Theuerkauf blieb verschwunden. Perlbach fuhr unruhig die Treppen hinab. Während des Abwärtsgleitens blickte er in die erste Etage. Vielleicht hatte der Kerl die normale Treppe benutzt. Theuerkauf konnte doch keine Damenkleider anprobieren, das war unmöglich. Doch wo mochte er sich dort oben so lange aufhalten? Kannte er eine der Verkäuferinnen? Oder wollte er ihm aus dem Weg gehen? Du hättest unbedingt erfahren müssen, was Theuerkauf in dieser Verkaufsabteilung wolle, warf er sich zerknirscht vor. Plötzlich erschien ihm das Verhalten des Geliebten seiner Frau mysteriös. Auch das große Paket, das der Mann unter dem Arm getragen hatte, mochte höchst Wissenswertes enthalten haben. Perlbach kaufte sich unter einem überdachten Kiosk eine Bockwurst, und während er sie aß, maß er die Vorübergehenden, meist eilige Fußgänger, mit forschenden Blicken. Theuerkauf war nicht darunter. Nach Hause gekommen, fand er in seinem Briefkasten neben der Tageszeitung und einer unbedeutenden Post87
wurfsendung einen Brief von der Sparkasse, der an seine Frau adressiert war. Perlbach wendete ihn erstaunt, öffnete ihn, bevor er in den Fahrstuhl stieg. Das Kuvert enthielt eine Anzahl schmaler Kontoauszüge. Warum war das Schreiben an Brigitte gerichtet? Sie hatten noch von früher her ein Konto, das auf seinen Namen lief. Er las die Kontonummer – nein, das war nicht die vertraute Zahlenfolge. Als er seine Wohnung betreten hatte, nahm er noch einmal das Kuvert zur Hand und sah auf den Absender. Dort stand der Stempel eines Kreditinstitutes in einem anderen Stadtteil. Die Auszüge wiesen knapp zwölftausend Mark aus. Eine hübsche Summe, die sie sich da beiseite gelegt hatte, dachte er grimmig. Er hatte nicht gewußt, daß sie ein eigenes Konto besaß. Vielleicht hatte sie ihm schon damals, als sie noch gemeinsam wirtschafteten, beträchtliche Summen vorenthalten? Oder hatte sie einen reichen Gönner besessen? Etwa diesen Theuerkauf? Perlbach schniefte verächtlich. Wie ein Krösus sah der wahrhaftig nicht aus. Perlbach ließ sich in einem seiner Sessel nieder und dachte angestrengt nach. Wie hatte sie das nur angestellt, daß er nie von diesem Geld erfuhr? In Geldsachen war er eigen, das war ihm seit frühester Jugend anerzogen worden. In den ersten Jahren der Ehe mit Brigitte hatte er verlangt, daß sie jede Mark, die sie verwirtschaftete, in ein Oktavheft schrieb, denn er war der Auffassung, daß sie in Haushaltsführung und Gelddingen zum Leichtsinn neige. Zumindest fand er, daß sie nie das richtige Maß traf, wenn sie einkaufen ging. Nun wußte er ja, wo sein schönes Geld geblieben war! Freilich, sie mochte in ihrem Beruf einiges zugelegt haben, doch so viel verdiente ein Pressefotograf nun auch wieder nicht. Und bei ihrer Lebensführung der letzten zwei Jahre konnte kaum etwas von ihrem Einkommen übriggeblieben sein. 88
Perlbach war sich mit einemmal sicher, daß sie ihn auch um sein Geld betrogen hatte. Aufgebracht ging er zur Hausbar, goß sich einen doppelten Kognak ein. Als er wieder im Sessel saß, sann er über die Ungerechtigkeiten des Lebens nach. So sind die Weiber, dachte er und nahm einen kräftigen Schluck, zuerst bescheißen sie einen um die Moneten, und dann kommen andere Kerle dran. Als er sich zum drittenmal eingeschenkt hatte, fiel ihm das Scheckbuch ein. Nach Brigittes Verschwinden hatte Hauptmann Beeskow ihm die persönlichen Dinge aus Brigittes Gepäck vorgelegt und ihn befragt, ob alles vollzählig sei. Er hatte nichts Gegenteiliges sagen können. Zumindest gehörten alle vorgefundenen Dinge zu ihrem Besitz. Aber ein Scheckbuch fand sich nicht unter ihren Habseligkeiten. Sollte sie es in der Jackentasche gehabt haben? Das wäre sehr ungewöhnlich. Welche Frau trug Scheckbücher so mit sich herum? Wahrscheinlicher war, daß sie die Schecks irgendwo im Hause aufbewahrte. Seit Brigittes Tod hatte er ihre Sachen nicht angerührt. In dem kleinen Fotolabor, das sie sich in einer Abstellkammer eingerichtet hatte, war er seither nicht ein einziges Mal gewesen. Auch ihre Kleiderschränke und Kommoden hatten nicht existiert für ihn. Aber das Scheckbuch wollte er jetzt an sich bringen. Sollte Brigitte bald gefunden werden, konnte er frei über das Geld verfügen, denn er war als ihr Ehemann gesetzlicher Erbe. Außerdem gab es einen noch zwingenderen Grund, überlegte er, dieses Konto vor allen anderen, vor allem vor der Polizei geheimzuhalten: Er traute diesen verschrobenen Kriminalisten zu, daß sie sich daraus ein Motiv bastelten. Das fehlte mir noch, dachte er, daß sie mir eine falsche Sache anhängen und ich sie ewig nicht loswerde. Aktiviert durch seine letzten Überlegungen, begab er sich sogleich auf die Suche. 89
In ihrem Wäscheschrank fand er einen kleinen Sicherheitsschlüssel. Er besah ihn sich nachdenklich. Das war kein Schlüssel für ein Schließfach, denn die Art kannte er vom Institut her. Auch zu einer Wohnung schien er nicht zu gehören – zu den landesüblichen Sicherheitsschlössern paßten größere, kompaktere Schlüssel. Eher konnte das ein Kassettenschlüssel oder etwas Ähnliches sein. Perlbach steckte ihn nach einigem Überlegen in die Hosentasche. Als er in ihrem Schreibsekretär suchte, stieß er auf ein Bündel Briefe, das mit einem Gummi zusammengehalten wurde. Perlbach besah sich die Kuverts. Irgend jemand hatte mit J. Z. gezeichnet. Hastig überflog er den Inhalt einiger Briefe. Kein Zweifel: Brigitte mußte auch mit diesem J. Z. – wer immer das sein mochte – ein Verhältnis gehabt haben. In keinem der Schreiben fand sich ein Hinweis darauf, wer sich hinter den Initialen verbarg. Tatsache blieb, Perlbach kniff die Lippen zusammen, daß Theuerkauf nicht Brigittes erste Romanze war. Im Grunde hatte er es immer gewußt, denn seit zwei Jahren lebte sie ihr eigenes Leben und war nicht mehr bereit, ihm, dem Ehemann, Rede und Antwort zu stehen. Wenn er von Scheidung geschrien hatte, in den Auseinandersetzungen, die häufig waren in der ersten Zeit ihrer Entfremdung, so hatte sie ihn freundlich angelächelt oder ironisch: Bitte, sehr gern mein lieber Günter. Es waren siebzehn Briefe, die dieser J. Z. geschrieben hatte, und sie waren ausnahmslos an die Redaktion der „Sylvia“ adressiert. Dort hat alles angefangen, dachte Perlbach aufgebracht, da war sie ihm entglitten, in diesem Scheißverein hochnäsiger Schreiberlinge und Modeaffen. Er zerrte alle Briefe aus den Kuverts. Einige waren seitenlang. Nur der letzte war kurz. Und er war mitten durchgerissen. Aha, dachte Perlbach schadenfroh, er hat 90
ihr wohl den Laufpaß gegeben! Er legte die Papierhälften aneinander. Der Inhalt war gut lesbar. Nein! Dieser J. Z. hatte um ein Rendezvous gebeten, es gäbe doch so viel zu besprechen und so weiter … „In unserer Zauberhütte“, stand da. Perlbach sah auf. Er kannte keine gastronomische Einrichtung, die diesen albernen Namen trug. Also war das ein Codewort. Ja, natürlich, die Täubchen hatten ihre eigene Turtelsprache! Und Brigitte hatte den Brief durchgerissen. Also war sie vermutlich seiner überdrüssig. Die liebreizende Gattin! Perlbach raffte die Briefe zusammen und stopfte sie, ohne sie wieder zu bündeln, in das kleine Seitenfach des Sekretärs zurück. Dann ging er hinüber ins andere Zimmer und genehmigte sich einen Kognak. Die Flasche war schon halb leer. Als er ihn hinuntergegossen hatte, setzte er die Suche in ihrem Kleiderschrank fort. Er betastete die Taschen ihrer Jacken und Mäntel, hob Schals, Mützen und Umhängetücher hoch und zerdrückte sie in der Hand. Wenn irgendwo das gesuchte Scheckbuch war, so mußte er es erfühlen. Doch Brigittes Kleiderschrank blieb für ihn unergiebig. Er trat von dem Möbelstück zurück, sah sich im Zimmer um. Wo konnte sie das Scheckbuch nur versteckt haben? Er stöberte die Bücher durch, die sich auf dem Bord über ihrer Liege befanden, durchwühlte ein kleines Vertiko, schob die Sessel zur Seite, sah unter den Teppich – nichts. Bleibt nur ihr Fotolabor, dachte Perlbach, schon leicht in Schweiß geraten. Dort war er nie gern hineingegangen. Irgendwie hatte es ihn von jeher gestört, wenn er des Abends zu Hause vor dem Fernseher saß und Brigitte dort drinnen im dunkeln hantierte. Er betrat die Kammer – auch jetzt mit einer gewissen Scheu. Zweieinhalb mal zwei Meter, größer war der 91
Raum nicht. Ein kleiner Arbeitstisch, darauf ein Vergrößerungsapparat, hinter dem zwei Fotoschalen standen. Neben dem Tisch, der Küche zu, ein Doppelbecken mit Wasseranschluß. Brigitte hatte sich die Leitung extra legen lassen. Hier war kaum etwas Interessantes zu holen, entschied er augenblicklich. Blieb nur der Rollschrank an der anderen Wand. Brigittes privates Archiv. Der Schrank war verschlossen, das Rouleau ließ sich auch mit Kraftanstrengung nicht hinabziehen. Perlbach fluchte. Er mußte dem Schrank also mit Werkzeug und Gewalt zu Leibe rücken. Im untersten Fach des Küchenschrankes fand er einen Stechbeitel. Er schätzte ihn auf seine Stabilität hin. Ja, der mochte so etwas wie ein Stemmeisen abgeben. Dann nahm er noch einen Schraubenzieher und einen Schusterhammer, der irgendwann einmal über die Familie in seinen Besitz gelangt war. Bevor er erneut die Fotokammer betrat, griff er wieder zum Kognak. Jetzt trank er gleich aus der Flasche, das Glas mußte er irgendwo in ihrem Zimmer stehengelassen haben. Mit dem Schraubenzieher konnte er die Verschraubungen des zierlichen Rouleauschlosses nicht lösen. Perlbach gab sich alle Mühe, es gelang ihm nicht. Mist, dachte er, das wäre die eleganteste Lösung gewesen. Aber wahrscheinlich waren die Schrauben innen mit Kontermuttern versehen oder vernietet. Er setzte den Stechbeitel zwischen Rouleau und oberem Schrankteil an. Dort, so vermutete er, mußte sich ein Schnappverschluß finden. Wenn man den zurückdrücken könnte, dann wär’s geschafft. Er schlug mit dem Schusterhammer zu. Vorsichtig zunächst. Doch der Schrank gab nicht nach. Schließlich hatte er mit dem Beitel schon eine breite Kerbe in das Holz getrieben. Durch den Spalt konnte er die Feder erkennen. Sie ließ sich nicht zurückschieben. 92
Perlbach hielt ermattet inne. Ihm war jetzt klar, daß das Schloß nicht nur eingerastet, sondern richtig verschlossen war. Plötzlich fiel ihm der Schlüssel in seiner Hosentasche ein. Er fingerte ihn heraus, probierte. Der Schlüssel paßte nicht. Dieses vermaledeite Schloß schaffst du nie, dachte er. Dann lieber die Holzwandung aufbrechen. Er setzte den Beitel an eine der dünnen Holzleisten, hieb mit dem Hammer auf die Schlagfläche. Das Holz federte zurück. Mit dem Beitel hat es keinen Sinn mehr, erkannte er. Er legte ihn neben dem Arbeitstisch ab. Dann schlug er mit dem Hammer kraftvoll auf das Rouleau ein. Die Rouleauglieder erwiesen sich als stabil. Doch schließlich brach eine der Leisten. Sie splitterte in sich auf. Perlbach schlug verbissen weiter. Schließlich brachen auch zwei andere Teile. Er konnte sie herausreißen. Der untere Teil des Rouleaus glitt nach unten weg, drei Leisten mit Schloß und Feder blieben oben hängen. Perlbach legte den Hammer weg und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Fächer des Schrankes waren vollgestopft mit Fotografien aller Formate und Motive. Er riß sie heraus, sah flüchtig über sie hinweg. Hier gab es nichts zu finden. Er mußte an die oberen Fächer heran, doch die waren noch vom übriggebliebenen Rouleauteil verdeckt. Perlbach schlug erneut mit dem Hammer. Nach einiger Zeit war auch der Rest des Rollverschlusses unter seinem Wüten zerborsten. Perlbach stand inmitten von heruntergerutschten Fotografien und Holzsplittern. Im linken oberen Fach lagen Papiere. Mehrere Schnellhefter, großformatige Kuverts. Perlbach blätterte in einem Aktenordner, sah Brigittes Geburtsschein, Zeugnisse aus Schule und Ausbildung, Facharbeiterabschluß und einige weitere Dokumente, die ihn wenig interessierten. In den Kuverts lagen dienstliche Schreiben, auch Honorarabrechnungen und Steuerbescheide. In einem der Kuverts fand er schließlich den Postabholerausweis auf 93
Brigittes Konto. Der war also da. Das Scheckbuch nicht. Hatte sie es an einem anderen Ort deponiert? Verwahrte jemand für sie die Schecks? Perlbach wurde wieder nervös. Ihm kam es jetzt nicht auf das Geld an. Viel wichtiger schien ihm, zu verbergen, daß Brigitte zwölftausend Mark besaß. Und er – er war der Erbe. Nicht auszudenken, was für gedankliche Kombinationen da in einigen Köpfen vorgehen konnten. War dieser große Unbekannte, wenn er existieren sollte, woran Perlbach zeitweise zu glauben bereit war und dann wieder nicht – war dieser Unbekannte der Absender des unfrankierten Belegexemplares? Hatte er ihm diesen Wisch ans Auto …? Unsinn, schalt Perlbach sich, ein unbedrucktes Stück Papier, es ist einfach blöde, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und auch die Illustrierte mit der unbedruckten Banderole hatte ganz sicher eine einfache, banale Erklärung. Vielleicht ein Leser, der Brigitte zeigen wollte, daß er sie erkannt habe, oder ein heimlicher Bewunderer … Von denen schien sie genug zu haben. Perlbach schob den Postabholerausweis in seine Brieftasche. Vorläufig, entschied er, wirst du dich auf keinen Fall auf dieser Sparkasse sehen lassen. Auf deinen Namen ist er nicht ausgestellt. Das könnte bohrende Fragen ergeben und, wenn er Pech hatte, eine diskrete Anfrage des Filialleiters bei der Polizei. Nein, bevor sie sie nicht gefunden hatten, durfte er nichts tun. Das Geld lief ihm nicht davon. Er stöberte weiter in dem Regal. Das unterste Kuvert enthielt Fotografien. Perlbach erkannte Theuerkauf, in Skiausrüstung, auf seine Skistöcke gestützt. Er grinste blödsinnig in die Kamera. Dann fast das deckungsgleiche Bild, nur, daß hier Brigitte zu erkennen war. Allerdings ohne Skiausrüstung. Im Hintergrund konnte man die Fassade eines Hotels erkennen. Berghänge, bewaldete, eingeschneite Fluren. 94
Auch fand sich ein Foto, auf dem sie sich umarmten. Brigitte schien Theuerkauf etwas ins Ohr zu flüstern. Oder küßte sie ihm den Hals? Immer wieder dieser Theuerkauf, dachte Perlbach, und seine Hände zitterten vor Wut. Erst vorhin war er ihm über den Weg gelaufen, war ihm entwischt, hatte sich davongestohlen. Und nun hielt er dessen Konterfei in den Händen. Und seine Frau umhalste ihn. Perlbach vergaß für Sekunden, daß seine Frau nicht mehr existierte, er hatte seine Untat vergessen, er sah die Bilder, die eine deutliche Sprache sprachen. So hatte sie ihn also hintergangen! Er legte die Wintersportbilder zur Seite und forschte weiter. Da fand er Theuerkauf auf einem Esel sitzend, dann eine ganze Touristenkarawane auf Eseln, wahrscheinlich hatte Brigitte selbst fotografiert. Und dann ein übliches Touristenbild, wie sie von cleveren Berufsknipsern in Ausflugslokalen gemacht wurden. Brigitte und Theuerkauf, umarmt, mit einem Glas Wein anstoßend. Auf der Rückseite: Foto Kahler, Oberhof. In Oberhof hatten sie sich amüsiert. Er konnte sich an das Wochenende im vergangenen Winter erinnern. Sie hatte ihren pelzgefütterten Anorak und die Lammfellstiefel mitgenommen, obgleich es in Berlin regnete. Und genau den Anorak und die Stiefel trug sie auf den Bildern. Es gab noch eine Anzahl Aufnahmen von Theuerkauf. Etliche Paßbilder und sogar eines, das ihn in der Uniform eines Volksarmisten zeigte, in vorderster Reihe der Ehrenfront. Sie hat den Kerl gesammelt, dachte er haßerfüllt. Er warf den Stoß Fotografien verächtlich auf den Arbeitstisch. Plötzlich stutzte er. Der Stapel hatte sich verschoben, einige Bilder waren über den Tisch geglitten. Sein Blick saugte sich an einer Aufnahme fest, die ihm entgangen war oder die sich weiter unten befunden haben 95
mußte. Das kann doch nicht wahr sein! rief eine Stimme in ihm. Er zog die Fotografie hervor. Nichts Auffallendes auf den ersten Blick. Brigitte und wieder dieser entsetzliche Theuerkauf, beide in einem Paddelboot sitzend. Jemand anderes müßte sie von einem Steg oder von einem Boot aus fotografiert haben. Sonderbar, dachte Perlbach, sehr sonderbar. Als sie sich damals die Datsche kauften, war er dafür gewesen, ein kleines Schlauchboot mitzuerwerben. Wassersport, Paddeln, Angeln ist doch was Herrliches, hatte er ihr vorgeschwärmt. Doch Brigitte war nicht zu überzeugen gewesen. Sie war Nichtschwimmerin, und sie hatte gesagt, es gebe niemanden auf der Welt, der sie in ein so wackliges Ding hineinbrächte. Perlbach lauschte in Gedanken ihren Worten nach. Ja, genau das hatte sie gesagt, diese Worte waren es: Niemand auf der Welt. Diesem Theuerkauf mußte es offenbar gelungen sein. Wie war das möglich? Perlbach erinnerte sich, daß Brigitte immer sehr dicht unter dem Ufer blieb, wenn sie zusammen im Plessensee badeten. Sie wagte sich kaum bis an die Brust ins Wasser, aus Angst, sie könne ganz plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren. In ihrem kleinen vogtländischen Dörfchen, woher sie stammte, hatte sie nie Schwimmunterricht erhalten. Und so hatte sie es auch später nie nachgeholt, weil sie seit ihrer Kindheit Angst hatte unterzugehen. Vor ihren Augen, hatte sie ihm einmal erzählt, war ein neunjähriger Klassenkamerad im Dorfanger ertrunken. Er hatte sich Mühe gegeben, sie das Schwimmen zu lehren. Wenn sie draußen am See waren, ergaben sich viele Möglichkeiten. Sie hatte sich stets mit strikter Beharrlichkeit dagegen gewehrt. Und mit Theuerkauf setzte sie sich in ein Boot, fuhr hinaus und lächelte sogar noch in die Kamera. 96
Er griff nach anderen Aufnahmen, die das gleiche Format hatten und offenbar von einem Film stammten. Da war wieder Theuerkauf zu erkennen, schwimmend und, auf einem anderen Bild, mit einer Seerose auf dem Kopf. Seitlich von ihm noch zwei andere Gesichter, die Perlbach nicht kannte. Ein Sportsmann schien dieser Theuerkauf zu sein, gab sich Perlbach widerwillig zu, aber das war vermutlich alles, womit er sich in Szene setzen konnte. Wieder fiel ihm die Begegnung vom Nachmittag ein. Wie hatte der Kerl es fertiggebracht, sich in Luft aufzulösen? Und was war in dem Paket, das er trug? Perlbach glaubte mit einemmal zu wissen, daß Theuerkauf eben wegen jenes Pakets vor ihm davongelaufen war. Vielleicht hatte Theuerkauf Zugang zu Brigittes Konto und kaufte jetzt munter drauflos! Und das, bevor er, der Erbe, an das Geld herankonnte! Derart aufgebracht, sah er die übrigen Aufnahmen nur oberflächlich durch, auf den meisten war ohnehin nur dieser Ganove abgebildet, dem er am liebsten … Plötzlich hielt Perlbach erschrocken inne. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Da schwamm Brigitte! Das heißt, so genau konnte er es nicht erkennen, ob sie wirklich schwamm, zumindest jedoch war sie bis zur Kinnspitze im Wasser. Von einem Ufer im Hintergrund war nichts zu sehen. Das Bild konnte wohl vom nahen Ufer aufgenommen worden sein. Doch wann hatte sie sich jemals freiwillig so weit ins Wasser begeben? Perlbachs Hände zitterten. Er spürte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Mit dem Bild in der Hand rannte er zu seiner Hausbar hinüber. Die Flasche Kognak war leer. Er lief zum Kühlschrank in die Küche. Dort fand sich noch eine angebrochene Flasche Kap Arkona, Rum-Verschnitt. Er konnte das Zeug sonst nur im Tee oder als Grog vertragen. Trotzdem nahm er einen kräftigen Schluck. Er schaute auf das Bild. Kein Zweifel, das war Brigitte. Auf der Rückseite stand kein Datum. 97
Hastig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Dann griff er noch einmal zur Rumflasche. Wenn sie nun wirklich schwimmen konnte? Er hatte sie doch untergehen sehen, hinter der Kiellinie des Dampfers. Und wenn sie ihn getäuscht hatte? Wenn alles ein Täuschungsmanöver war, um ihn fertigzumachen? Warum fanden sie sie nicht? Wasserleichen trieben gewöhnlich nach einigen Tagen an Land. Das hatte der Hauptmann gesagt. Jetzt waren drei Monate vergangen, fast drei Monate! Es war Sommer, Perlbach schwitzte stark. Draußen auf der Straße quietschten plötzlich Bremsen, als führe ein Einsatzkommando der Volkspolizei vor. Perlbach riß mit schreckgeweiteten Augen die Fensterflügel auf und sah hinab. Zwei Autofahrer standen sich gegenüber und zeigten einander einen Vogel. Perlbach wandte sich wieder um. Sein Herz klopfte heftig. Die winzige Küche, der Flur, die zwei Zimmer – war das alles wirklich schon sein Heim? Er hatte Angst. Noch einmal nahm er die Fotografie auf und hielt sie dicht vor die Augen. Nein – erkennen konnte man nicht, ob sie schwamm. Perlbach fuhr herum. War da nicht das Geräusch leiser Schritte vor seiner Wohnungstür? Ein kaum wahrnehmbares Schaben. Er rannte über den Korridor, riß die Tür auf. Vor ihm stand lächelnd der Hausvertrauensmann, Nachbar im vierten Stock. „Ich wollte Ihnen eine Einladung zur Mieterversammlung …“, erklärte der Mann etwas betreten. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie geweckt habe, aber Ihre Klingel geht nicht, und da wollte ich Ihnen die Einladung …“ Perlbach fuhr sich durchs Haar. Er wußte nicht, ob er erleichtert oder wütend sein sollte. „Geben Sie schon her“, sagte er unfreundlich. „Werden Sie kommen?“ „Mal sehen. Wenn ich Zeit finde.“ 98
Der Nachbar verabschiedete sich. Perlbach hörte, wie er woanders klingelte. Er lehnte von innen an seiner Wohnungstür und atmete schwer. Die Einladung zur Mieterversammlung war auf den Kokosläufer geglitten. Eine schwüle Frühsommernacht. Die Stadt hielt die Hitze des Tages in ihren Straßen gefangen. Nie war das Leben so laut und lüstern wie in letzter Zeit. Die Burschen hatten die Hemden bis an den Nabel aufgeknüpft, die Mädchen verschmähten die BHs, die Taxis rasten noch schneller als allgewohnt, überall trieb es die Menschen nach draußen. Das Leben fand auf den Trottoirs, in Parks, auf Plätzen und Straßenkreuzungen, in Gaststätten und Cafés statt. In den Hauseingängen nistete Gekicher, und die Parkbänke der Stadt waren ausgebucht. Die Bierhähne standen unter Hochdruck und die Männer dahinter, mit den Lederschürzen und dem Bleistift hinterm Ohr, ebenso. Perlbach nahm kaum etwas wahr. Daß es Sommer geworden war, spürte er an seiner Kurzatmigkeit und den verschwitzten Hemden. Als er losgerannt war von zu Hause, hatte er vergessen, sich ein neues anzuziehen. Das fiel ihm jetzt ein. Nur das Hemd. Und hatte er nicht gestern schon das gleiche getragen? Er lief durch die Stadt, ziellos, blicklos. Manchmal stand er vor einem Schaufenster, doch wenn das Licht der Leuchtreklamen so fiel, daß er im Glas sein Gesicht, die Umrisse seiner Gestalt wahrnehmen konnte, lief er schon weiter. Es trieb ihn vorwärts. Er sah das Haus des Reisens als Fixpunkt, den gleißenden Fernsehturm dahinter, und so steuerte er auf den Alex zu. Dort war er einer von Tausenden, unerkannt und anonym. Als er die Straßenunterführung hinter sich hatte und vor den Fassaden des Warenhauses stand, in welchem er nachmittags Theuerkauf getroffen hatte, da mußte er weiter, weiter … Theuerkauf, dieser Mensch wurde sein Alp99
traum. Brigittes Fotografie, wo hatte er sie gelassen? Er klopfte seine Hosen- und Jackentaschen ab, nein, da war sie nicht. Er hatte das Bild auf dem Küchenschrank liegen sehen, kurz bevor er hinausstürzte. Dort mußte es noch liegen, wenn nicht ein anderer kam, um es mitzunehmen, als Beweis, als Beweis gegen ihn, Perlbach. Wer konnte dieser andere sein? Wer hatte Zutritt zu seiner Wohnung? Gab es jemanden? Perlbach blieb stehen und schluckte eine Magenpille. Zwei junge Pärchen schlenderten vorüber. „Kiek mal, Nuffi, der Opa nimmt seine Antibabypille“, kicherte eines der Mädchen, und die anderen grinsten. Das lachende Gesicht im Paddelboot … Brigitte hatte ihn unzählige Male mit diesem Mann betrogen. Und er wußte nicht, mit wie vielen anderen außerdem. Doch er wäre bereit gewesen, ja, jetzt wäre er bereit gewesen, ihr diesen Betrug zu verzeihen, alle Affären zu vergessen. Nur – hatte sie ihm auch diese Lüge aufgetischt? Konnte sie schwimmen? War es Theuerkauf gelungen, ihr die Angst zu nehmen? Vielleicht konnte sie sogar tauchen ? Perlbach wischte sich die Stirn. Nein, nein, nein, rief er sich zu, das war ganz ausgeschlossen. Kein Mensch besaß diese Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit. Oder war Brigitte raffiniert? Aber so ausgekocht kannte er sie nicht. Er hatte ihren letzten Blick aufgefangen, als er sie über die Reling schob, dieses fassungslose, ungläubige Gesicht. Und er hatte sie untergehen sehen. Nein, kein raffiniertes Spiel. Was geschehen war, war unwiderruflich. Brigitte konnte das nicht überlebt haben. Und wenn man sie herausgefischt hatte? Oder wenn sie eine der Untiefen des Boddens unter sich gespürt hatte? Es war bekannt, daß er seicht, an einigen Stellen nur knietief war. Die Fahrrinne für die Dampfer mußte alle paar Jahre ausgebaggert werden. War es möglich, daß sie so über Bord gefallen war, daß sie sich retten konnte? 100
Perlbach fand sich in einer Seitenstraße der Frankfurter Allee wieder. Hier waren die Straßenbeleuchtungen spärlicher als in der vielbefahrenen Magistrale. Das war ihm recht. Er wollte kein Licht, keine Menschen, keine neugierigen, fragenden Gesichter. Auch schien es ihm hier etwas kühler, ein leiser Wind strich ihm über das schweißnasse Gesicht. Die Straße hatte keinen Namen, er hatte nicht nach dem Schild gesehen. Vor dem grellweißen Licht eines Schaufensters verweilte er. Es war etwas Zwanghaftes, er konnte nicht daran vorübergehen, obgleich er es gewollt hätte. Er stand davor und starrte durch die Fensterscheiben, stand und konnte sich nicht rühren. Schon vorher hatte er das Schild gelesen: Erd- und Feuerbestattungen. Hinter dezenten Wolkenstores zwei Särge. Ein nußbrauner, kleinerer und ein schwerer, schwarzer, mit ziselierten Messingbeschlägen. Du bist ein Mörder! fiel es ihn an. Ganz plötzlich traf ihn diese Erkenntnis wie ein ungeheurer Schlag. Er hatte es die ganze Zeit gewußt, seit Wochen, doch er hatte nach Ausflüchten vor sich gesucht, so als könne man etwas Unwiderrufliches ungeschehen machen. Schon als er ihren letzten Blick aufgefangen hatte, bevor sie in die See stürzte, wußte er, daß er nie im Leben davon loskommen würde. In jenem Augenblick hatte er widerrufen, wiedergutmachen wollen. Doch da hatte er schon seine Chance vertan. Die Angst hielt ihn, die grenzenlose Furcht, auch verletzter Stolz und etwas in seinem Wesen, was er nie ergründet hatte. Haß? Allein gegen Brigitte? Nur die Angst davor, daß sie plaudern könnte? Jener Unfall vor vielen Jahren hatte ihn nie in Ruhe gelassen. Warum hatte sie so getan, als wäre ihm das schreckliche Erlebnis mit dem Kind gleichgültig gewesen? Auch er hatte sich Vorwürfe gemacht, lange Nächte. Doch die Angst vor der Sühne war stärker. Er hatte immer Angst gehabt. Er war so aufgewachsen. Er wußte, 101
daß er mit ihr leben mußte, daß er sie nie überwinden würde. Deshalb war er Brigitte nicht nachgesprungen. Er konnte nicht. Und jetzt? Perlbach zweifelte an den Menschen. Waren es bittere Erfahrungen oder die Lebensregeln des Vaters, die er oftmals in Gedanken wie aus dem Katechismus hergesagt hatte: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Traue keinem anderen! Die Menschen taugen nichts! Er hatte seinen Vater für diese abgestandenen Sprüche gehaßt, und er hatte ihn vor allem gehaßt, weil der Alte ihn zwang, nach ihnen zu leben. Einmal war er verprügelt worden, weil er einen Klassenkameraden von sich abschreiben ließ. Der Vater schlug ihn nicht wegen des Tadels, den sie erhalten hatten, sondern weil er einem anderen „abgegeben“ hatte. „Was du im Kopf hast, das gehört dir, nur dir, dir, dir“, hatte der Vater gebrüllt und unablässig auf ihn eingeschlagen. Perlbach hatte nie einen Freund. Schon in der Schule nicht. Man mied ihn. Er galt als egoistisch, streberhaft und weichlich. Es hieß unter den anderen, daß er petze, um sich bei den Lehrern einzukratzen. Das war eine Lüge. Er hatte erst gepetzt, als man ihn verhöhnte, als man ihn ausschloß aus der Gemeinschaft, als man ihn übersah. In den Sportstunden hänselten sie ihn, wenn er die Hocke über das Pferd oder über den Kasten nicht schaffte. Nie trug ihm jemand Freundschaft oder nur Sympathie an. Die Mädchen mochten ihn ebensowenig wie die Jungen. In den Pausen stand er allein auf dem Schulhof und verzehrte sein Brot. Je einsamer sich Günter Perlbach fühlte, um so überzeugter war der Vater, daß er sein Erziehungsziel erreicht habe: Perlbach brachte ausgezeichnete Noten. Doch er haßte den Vater nur noch mehr. Wenn die anderen Jungen im nahen Park Fußball spielten, dann saß er über Büchern und lernte. Manchmal hatte er die Gardine einen Spalt gelüpft und ihnen zugesehen … 102
Er hatte früh begonnen, mit der Einsamkeit zu leben. Es war keine Einsamkeit, die ihren Ursprung in einem verschlossenen Charakter hatte. Nein, wie gern wäre er heiter und ausgelassen mit den anderen gewesen. Doch er brachte es nicht mehr zuwege. Seine Versuche, sich anderen schüchtern anzunähern, scheiterten schon in früher Zeit. Selbst in der Kindheit wollte es ihm nicht gelingen. Wo es doch noch so leicht war, mit anderen um die Wette zu rennen, sich einen Apfel oder ein Stück Kuchen zu teilen! Der Vater stand als abschreckendes Gespenst im Hintergrund, und dann war die Furcht da, immer wieder die Furcht. Die Furcht vor dem Vater, vor Schlägen und anderen Strafen, mehr noch die Furcht vor dem Ausgelachtwerden, vor den gleichgültigen, zuweilen auch spottenden Blicken der anderen. Auf der Universität nahm man ihn als Außenseiter. Perlbach bemühte sich nicht mehr um nahe Bindungen. Er hatte verlernt, mit anderen zu sein. Und er haßte. Haßte sich selbst, seinen Vater, haßte zuweilen auch die anderen, wenn sie fröhlich, übermütig, gesellig waren. Obschon er wußte, von Anfang an gewußt hatte, daß man so, wie einst der Vater verlangt, nicht unter und mit den Menschen leben kann, hatte er sich doch vieles von dem zu eigen werden lassen. Es war allmählich gewachsen, und er fand, daß nicht er allein die Schuld daran trug. Wer alles war schuldig? Perlbach glaubte nicht an die Menschen. Und nun, fand er, hatte er sich die Tür, die zu ihnen führte, endgültig zugeschlagen. Wer würde ihm vergeben? Wer nahm ihm einen Teil der entsetzlichen Schuld ab, die er auf sich geladen hatte? Wer konnte eingeweiht werden in sein Verbrechen, das ihn quälte, ohne ihn sogleich zu vernichten? Welcher Mensch würde ihn nicht aburteilen, seine Tat nicht verabscheuenswürdig, unmenschlich finden? Wer, wer konnte ihm noch beistehen? Perlbach empfand dumpf, daß er sich selbst gefangen 103
hatte. War er überhaupt noch ein Mensch? Würden ihn die anderen als solchen werten, wenn sie um alles wüßten? Mörder sein – bedeutete das noch Mensch sein? Was zeichnete den Menschen vor allen anderen Kreaturen aus? Doch wohl auch, den anderen anzunehmen, seine Persönlichkeit zu akzeptieren, ihn als Teil der Gemeinschaft zu begreifen und sich damit auch. Hatte er freiwillig auf diesen Platz in der Gemeinschaft verzichtet? Oder hatte man ihn gezwungen? Aber wer sollte ihn gezwungen haben? Gemeinschaft, menschliches Leben zu zerstören, soviel wußte er plötzlich, hieß, sich aufzugeben. Er dachte an die Geschichte vom Judas Ischariot, die ihn seine ganze Kindheit über begleitet hatte. Warum hatte er den einzigen Menschen getötet, zu dem er einmal tiefe Zuneigung empfunden hatte? Nur, weil sie ihn verlassen wollte? Oder war auch Angst dagewesen, Angst davor, unendliche, grenzenlose Angst, wieder und fortan für immer allein zu sein? Perlbach hetzte weiter. Er überquerte einen Platz, auf dem ein Denkmal dämmerte, fast wäre er damit kollidiert. Als er das gelbe Licht eines Taxis aufleuchten sah, lief er an den Straßenrand und winkte. Der Fahrer hielt. „Wohin?“ Perlbach hörte nicht. „Wo Sie hin wollen, Mister?“ „Ja, fahren Sie … Kennen Sie – ’ne Kneipe?“ „Na, Mister, et jibt doch wohl genuch, wa?“ Dennoch war er losgefahren. Perlbach war es recht so. Als er vom Dunkel der Straße in die „Grüne Taverne.“ trat, mußte er sich erst notdürftig orientieren. Die Luft war rauchgeschwängert, und an der Decke der Pinte rotierte ein riesiger Ventilator. Er wollte gleich rechts der Theke bleiben. Der Wirt fixierte ihn sekundenlang mißtrauisch. „Sind Sie angetrunken?“ 104
Perlbach verneinte. „Hier wird nicht bedient. Kalle …“, der Wirt hatte sich ins Innere des Raumes gewandt und den Kellner herbeigewunken, „Kalle, gib dem Herrn mal ’n Platz.“ Kalle nickte und bedeutete Perlbach, ihm zu folgen. „Wat woll’n Se haben?“ rief der Wirt ihm nach. „’n Bier und ’n doppelstöckigen Weißen?“ Perlbach nickte ungewiß. Der Kellner führte ihn in eine Nische, knipste ein Tischlämpchen an und sagte sachlich: „Ab zehne nur noch Doppelte. Det is hier so. Sonst lohnt sich det Loofen nich.“ Perlbach nahm Platz. Das Bier und der Schnaps kamen sofort. Er hatte Wodka und Korn immer verabscheut, doch war es nicht gleich, womit er sein Gewissen ertränkte? „Bringen Sie mir gleich noch mal dasselbe“, sagte er. Der Kellner zog die Brauen hoch und entgegnete: „Wenn Se ’n Eimer ham woll’n, ick kann den Schnaps ooch in Eimern serviern.“ Perlbach trank drei Bier und drei doppelte Korn, dann spürte er, wie es allmählich stiller in ihm ward. Alkohol hatte ihn stets lethargisch werden lassen. Er vermeinte, sich umsonst verrückt gemacht zu haben. Gewissensbisse? Er schnipste verächtlich einen Krümel von der Tischdecke. Sie war es doch, die ihn betrogen hatte, mit Männern, mit seinem Geld. Und sie hatte ihn gequält, gedemütigt. Und das, obwohl er sie aufgebaut hatte, jawohl! Und warum peinigte sie ihn dann noch mit dem Kind? Er hätte keine Moral, keinen Funken Anständigkeit, das hatte sie ihm zugeschrien. Warum hatte sie ihm nach all den Jahren nun damit kommen müssen? War sie nicht mitschuldig geworden, damals, als sie Fahrerflucht begingen und das Kind am Straßenrand zurückließen? Hatte sie nach ihrer Schuld, nach ihrer Mitschuld gefragt? Wohl nur selten. Aber ihn, ihn wollte sie damit fertigmachen. Vielleicht wäre sie eines Tages 105
gesprächig geworden … Dieser Theuerkauf schien ihr unbegrenztes Vertrauen zu genießen. Oder hatte sie es ihm etwa schon gesteckt? Ach was, dachte er. Ich werde alles abstreiten. Es gibt keine Zeugen, die Sache ist verjährt, längst Gras darüber gewachsen. „Herr Ober!“ Er schlug mit den Fingernägeln gegen das leere Bierglas, daß es leise aufklang. Die Tische ringsum hatten sich nach und nach gefüllt. Verwegene, hemdsärmelige Burschen waren unter den Gästen und solche, denen Perlbach nicht einmal fünfzig Pfennig anvertrauen würde. Auch Frauen waren da, stark geschminkt einige, andere unauffällig, im Hintergrund, still neben ihren Männern sitzend. Der Mann, der an seinen Tisch trat, war untersetzt und schielte ein wenig. Er mochte Anfang Vierzig sein. Er hieb mit seinen Fingerknöcheln auf die Tischplatte und setzte sich mit einem kurzen Kopfnicken. Perlbach blickte konsterniert auf. „Ist doch gestattet, Kumpel?“ fragte der Neuankömmling. Günter Perlbach goß sich seinen Schnaps hinter. „Ja“, sagte er dann, „Sie sitzen ja sowieso schon hier.“ „Trinkste einen mit?“ fragte der Schielende. Perlbach schätzte mit einem kurzen Blick die Figur des anderen ab. Mit dem war nicht gut Kirschen essen. Solchen Kerlen sollte man lieber freundlich kommen. „Na ja“, sagte er, „ein Bier schon.“ Der Untersetzte beugte sich weit über den Tisch, hielt die Hand seitlich an den Mund, grinste verschwörerisch und raunte: „Hab’ ’n Grund zu saufen. Bin gerade ’rausgekommen.“ Perlbach war es egal, wo der andere herkam oder hin wollte, der sollte sein Bier ausgeben, wenn ihm danach war, und dann sollte er ihn in Ruhe lassen. Er trank den Rest seines Bieres aus. 106
Der Neue stieß ihn derb am Arm. „Hej, haste nicht gehört? ’raus bin ich. Endlich!“ Er rieb sich die Hände und grunzte vergnüglich. Perlbach wäre gern gegangen. Das war nicht die richtige Gesellschaft für ihn, fand er. Der andere prostete ihm zu, als wären sie alte Saufkumpane. „Los, alter Junge!“ Perlbach setzte das Bierglas gehorsam an und nippte. Der Untersetzte trank sein Glas in einem Zuge leer, dann blickte er, mißtrauisch geworden, zu Perlbach hinüber. „Du hast doch vorhin gesoffen wie’n Loch. Und jetzt nippste wie ’ne Jungfer?“ Perlbach sagte nichts. Er blickte sich hilfesuchend im Raum um. Doch niemand kümmerte sich um ihn. An vielen Tischen wurde laut und rechthaberisch geredet. Im Hintergrund dudelte das Radio. „Du trinkst wohl nicht mit jedem?“ ließ sich Perlbachs Gegenüber wieder vernehmen. „Paß mal auf. Wenn du drei Jahre drinnen warst, dann hast du ’n Grund, dir einen zu genehmigen. Drei Jahre, hast du gehört! Und das alles wegen der paar Wagenladungen. Andere hättste mal sehen sollen, ha! Die haben ’n ganzen Bauplatz geklaut, eine Datsche nach der anderen gebaut, bum, bum, bum. Aber mich hatten sie am Arsch. Mein Pech. Bin eben zu dämlich. Und ich hab’ ihn hingehalten, drei Jahre lang.“ Seine Stimme war unmerklich lauter geworden. Als er ein neues Bierglas vor sich hatte, fragte er: „Warst du auch schon im Bau?“ Perlbach wollte empört aufbegehren, doch als er das Gesicht des Vierschrötigen gewahrte, unterließ er es. „Solche wie dich gab’s drinnen auch genug. Jawoll, sogar im Knast haben die noch den feinen Herrn markiert. Manche von denen hatten Vater Staat nicht um ’n paar Tausender leichter gemacht, wie ich zum Beispiel. Nee, bei denen ging’s in die Hunderttausende, ja in die 107
Millionen. Und weißte, was die am liebsten gemacht hätten, drinnen? Die hätten sich’n Schlips über’n Häftlingsdreß gehängt.“ Perlbach wand sich. Der Schielende wurde zusehends aggressiver. Warum ließ der ihn nicht in Frieden? Er wollte nur seine Ruhe haben. Der Kerl konnte ja quatschen, soviel er wollte, aber mit anderen. Der Untersetzte stieß nach. „Und mein lieber Herr Direktor. Weißt du, wie der’s gemacht hat? Der hat sich nach allen Seiten hin abgesichert. Sie konnten ihm nur Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht und ’n paar kleine Gaunereien nachweisen. Ein Jahr, Bewährung. Aber daß der ganz groß drinnen steckte, das hat der Staatsanwalt nicht ’rausgekriegt, oder Merser, was mein Direktor war, hat sich so geschickt ’rausgewunden, daß sie ihm nicht an die Karre fahren konnten. Das Schwein.“ Perlbach rief den Ober heran. Kalle trat an den Tisch, sah erst zu dem Untersetzten hin, dann zu Perlbach, fragte: „Gibt’s Ärger?“ Perlbach, hastig: „Nein, nein, ich möchte zahlen.“ Er fingerte nach seiner Brieftasche, zog einen Geldschein heraus. Dabei rutschte der Postabholerausweis heraus und fiel unter den Tisch. Alle drei Männer sahen ihn liegen. Perlbach bückte sich schnell, steckte ihn zurück in die Brieftasche. „Det Ding is Jold wert, wenn Se wat druff haben“, kommentierte der Kellner und wechselte dabei das Geld. Der Untersetzte blies in seine Bierblume. Als Perlbach sich erhob und gehen wollte, hielt ihn der Schielende am Arm zurück. „Wer weiß, was für’n Dreck du am Stecken hast. Aber du hast, ich riech’s zehn Meilen gegen den Wind.“ Er hatte sich an die Nase gefaßt. Perlbach stand einen Augenblick wie vom Donner gerührt. Der andere grinste ungut. 108
„Meine Nase.“ Perlbach lief im Eilschritt durch die Tischreihen und rannte in die Nacht hinaus.
4 Beeskow kam ins Zimmer gestürmt und knallte einen Aktenstapel auf seinen Schreibtisch. Dann ließ er sich in seinen Sessel fallen und stöhnte vernehmlich. „Mit dem Fall Perlbach haben wir uns was aufgehalst. Der Oberstleutnant ist stinksauer.“ Leutnant Motz trat zu seinem Chef, bot ihm eine Zigarette an und reichte ihm auch Feuer. Hauptmann Beeskow zog gierig einige Lungenzüge, bevor er fortfuhr: „Wir hängen mit der Sache. Du kannst dir vorstellen, wie dem Alten zumute ist. Ein Mensch verschwindet spurlos, Selbstmord ist nicht auszuschließen, alles deutet sogar darauf hin. Aber …“ „… Genosse Hauptmann, wenn die Perlbach Suizid begangen hat, dann werd’ ich Nachtwächter oder Damenfriseur.“ „Ja, ja, ich kenne deine Ansicht. Aber wir haben nicht einmal Indizien, die uns in irgendeiner Weise weiterbringen, geschweige denn Beweise. Mit unseren Vermutungen kann ich dem Chef nicht kommen.“ „Wir müßten sie eben finden“, entgegnete Motz. „Das ist es ja, was ich nicht verstehe“, schrie Beeskow aufgebracht. „Mensch, wie oft hatten wir schon Ertrunkene im Bodden. Die sind doch immer nach Tagen, spätestens nach einigen Wochen an die Küste getrieben.“ Er drückte nervös die halbaufgerauchte Zigarette im Ascher aus, sprang auf und öffnete das Fenster. „Affenhitze.“ Er krempelte sich die Hemdsärmel hoch, machte den oberen Hemdkragen auf und zog den Kra109
wattenknoten lose. „Du weißt ja, wie der Alte auf seine Ermittlungs- und Fahndungserfolge im Bezirk stolz ist. Und jetzt können wir die Akte Perlbach nicht abschließen. Der Bezirksstaatsanwalt hat schon angerufen, und sogar das Ministerium in Berlin fragte nach. Der Alte hat fünf Zigaretten gequalmt, eine nach der anderen. Du kennst ihn ja. Er will endlich Ergebnisse. Junge, wir müssen uns die Berliner Genossen ständig als Vorbilder gefallen lassen, und die hängen uns ihre Sch… hier an den Hals. Die Perlbach ist doch Berlinerin. Wenn sie nur zu Hause geblieben wäre …“ Leutnant Motz mußte innerlich über den komischen Verzweiflungsausbruch seines Vorgesetzten lachen. Er kannte Beeskow gut genug, um zu wissen, daß der sich nicht aus dem Konzept bringen ließ. Doch zuweilen gefiel er sich in pathetischen Gesten, jammerte lauthals, tat, als müsse er resignieren oder sich auf der Stelle pensionieren lassen. Motz wußte: Sein Chef war ein ausgezeichneter Kriminalist, und er war ein mindestens ebenso guter Schauspieler. Nicht selten war ihm das bei Vernehmungen Tatverdächtiger zugute gekommen. Beeskow konnte unendlich harmlos, ja geradezu dümmlich tun, um hernach mit knallharten Fragen zu kontern, wenn seine Kontrahenten sich bereits im sicheren Fahrwasser ihrer zurechtgebogenen Aussagen wähnten. „Gib mir mal noch ’ne Zigarette“, sagte Beeskow. „Aber Chef, Ihre Frau hat gesagt …“ „… sie ist ja nicht hier, oder? Also!“ Beeskow rauchte die Zigarette an, vergaß sie dann auf dem Rand des Aktenschrankes. Motz nahm sie und legte sie in die Rille des Aschers. Hauptmann Beeskow blätterte in dem Dossier, das auf seinem Schreibtisch lag. „Zeugenaussagen – fast ohne Ergebnisse. Alle Passagiere des Dampfers befanden sich bei dem Regenwetter unter Deck. Dort wurde Perlbach gesehen, draußen nicht. 110
Der Besatzung ist nichts aufgefallen. Was wir erfahren konnten, stimmt mit Perlbachs Angaben überein. Die Aussagen der Kollegen Perlbachs sind wenig ergiebig. Kaum etwas über sein Privatleben. Es sieht aus, als habe er jahrelang hinter einem Vorhang gelebt. Vieles spricht in der Tat für einen Unfall. Es war stürmisch, das Schiff schlingerte. Es regnete. Die Perlbach hat möglicherweise fotografiert. Auf dem Deck kann es glatt gewesen sein. Vielleicht ein unvorsichtiger Schritt, eine unbedachte Bewegung …“ „… ich weiß nicht“, warf Motz zweifelnd ein. „Wenn sie ins Meer gestürzt ist, hat niemand einen Schrei vernommen, dafür war es zu stürmisch.“ „Das wäre auch dem Mörder gelegen gekommen.“ „Zweifelsohne. Doch niemand wurde in Brigittes Nähe gesehen. Auch Perlbach nicht. Die einzige Augenzeugin, die Brigitte gesehen zu haben angibt, behauptet, sie habe die junge Frau allein an Deck treten sehen. Wo sollen wir den Hebel ansetzen, verdammt noch mal!“ „Bei Perlbach, Genosse Hauptmann, nur bei ihm.“ Beeskow sah den Leutnant mürrisch an. „Woher nimmst du eigentlich deine Gewißheit? Du hast nichts gegen ihn in der Hand. Und der Bursche ist aalglatt. Sicher, ich traue ihm auch nicht. Irgend etwas stimmt da nicht an dieser ganzen Geschichte. Doch das reicht nicht, um ihn als Mordverdächtigen zu behandeln …“ „… Nein, aber wir müssen ihn im Auge behalten. Was ich über ihn erfahren konnte, ist, wie gesagt, vage. Er hat seine Arbeit gut gemacht, so daß es nie Klagen gab. Deshalb haben sie ihm auch seit einem Jahr die Betreuung der Studenten übertragen. Doch wenn du nachhakst, etwas mehr erfahren willst, über sein Privatleben, über seinen Umgang, über seinen Freundeskreis und seine außerdienstlichen Gewohnheiten, dann passen alle Leute.“ „Siehst du“, erwiderte Beeskow und klappte das Dossier zu. „Und mehr als die wissen wir auch nicht.“ 111
„Doch“, überlegte Leutnant Motz laut, „wir wissen, daß seine Ehe nur noch auf dem Papier existierte – das war kaum jemandem in seinem Institut bekannt. Und wir wissen seit kurzem, daß er sich in psychiatrische Behandlung begeben hat.“ „Himmelherrgott noch mal, daraus kannst du alles und nichts machen. Überarbeitung, Streß, nervliche Überbeanspruchung – das wird ihm jeder abnehmen. Und dann der Verlust der Frau, nee, da können wir nichts herleiten.“ „Ich weiß nicht“, Motz blieb hartnäckig bei seinem Gedanken, „dem Perlbach nehme ich nicht ab, daß er nur wegen Überforderung zum Psychiater rennt. Das ist ’n Typ, der nicht so schnell aufgibt. Ich vermute, da gibt es noch andere Beweggründe.“ „Und welche?“ fragte Beeskow. „Angst.“ „Angst? Vor uns?“ „Ja.“ „Beweise das mal! Wenn der hier bei uns erscheint, dann hat er eine Biedermannsmiene und strotzt vor Selbstbewußtsein.“ „Ich hab’ mich an den Doktor gewandt, ganz diskret, habe ihm bedeutet, daß es möglicherweise um die Aufklärung eines Verbrechens ginge …“ „… was wolltest du denn erfahren?“ „Was für Wehwehchen Perlbach mit sich herumschleppt.“ „Und? Was hat der Doktor gesagt?“ „Nichts. Ärztliche Schweigepflicht und so weiter. Wenn ein Verbrechen vorbereitet werde, so hat er mir erklärt, dann wäre es seine Pflicht als Staatsbürger, sich an die Sicherheitsorgane zu wenden; aber wenn bereits eines verübt wurde, was nicht einmal sicher wäre, so binde ihn sein Eid.“ „Hätte ich dir gleich sagen können.“ 112
„Zumindest hab’ ich indirekt herausbekommen, daß Perlbach angibt, unter Depressionen und nervlicher Überlastung zu leiden. Und der Doktor nimmt als gegeben, was Perlbach ihm erzählt.“ Beeskow sah seinen Mitarbeiter unverwandt an. „Warum zweifelst du an der Diagnose? Die Gründe für Perlbachs Zustand kennen wir noch nicht. Aber falls er der Täter ist: Ich hab’ in meiner zwanzigjährigen Praxis schon mit vielen zu tun gehabt, die unter ihren Verbrechen litten. Manchmal werden bei denen selbstzerstörerische Kräfte freigelegt, dann entdecken sie plötzlich ihr Gewissen oder was sie dafür halten. Da gab’s mal einen jungen Burschen, der im Streit seinen Vater erschlug. Hernach hatte er zuweilen schizoide Schübe. Er glaubte nicht mehr eins sein zu können mit seinem Ich. Sein eines Ich – so sagte er, ich kann mich sehr genau erinnern – sei ein verfaulendes, morsches Wesen, sein wahres Ich sei rein und unbefleckt und könne keinem anderen Menschen etwas zuleide tun.“ Motz tippte sich vieldeutig an die Stirn. „So ’ne Macke hat Perlbach nicht. Ich weiß auch nicht, woher ich die Überzeugung nehme, aber ich finde, daß sich hinter seiner bürgerlichen Maske ein ganz anderes Gesicht verbirgt. Ich halte ihn für skrupellos.“ „Das sind leider nur Vermutungen, mein Lieber, womit willst du die begründen?“ Motz hob ratlos die Schultern. „Theuerkauf überzeugt mich in seiner Haltung viel mehr als Perlbach, der den Trauernden mimt. Dabei hat er hier in diesem Zimmer eingestanden, daß seine Frau sich längst von ihm abgewandt hatte. Warum zieht er dann diese Show ab?“ Beeskow entgegnete: „Er hat uns auch gesagt, daß er mit seiner Frau auf die Insel gefahren war, um sich wieder zu versöhnen. Also muß ihm doch noch was an ihr gelegen haben.“ „Nicht undenkbar“, versetzte Motz. 113
„Ich glaube es trotzdem nicht. Nur kann ich ihm nicht das Gegenteil beweisen.“ Im gleichen Moment klingelte das Telefon auf Beeskows Schreibtisch. Er nahm den Hörer ab, hörte eine Weile angespannt zu, nickte mehrmals und verabschiedete sich dann mit „Danke, Genossen“. Darauf wandte er sich wieder zu Motz. „Ein Anruf aus Berlin. Weißt du, was sie herausgefunden haben? Brigitte Perlbach hatte ein Konto, von dem ihr Mann vermutlich nichts wußte. Es ist auf ihren Namen ausgestellt. Und rate mal, wer noch an das Konto heran kann?“ „Theuerkauf“, sagte Leutnant Motz. „Genau.“ „Ja … aber …“, der Leutnant war sichtlich verwirrt, „das ergibt doch schon gar kein Motiv für Perlbach. Eher für diesen Geliebten. Das wäre doch der Nutznießer, wenn …“ „… falsch“, warf Beeskow dazwischen. „Theuerkauf kann zwar an das Konto heran, aber im Falle des Ablebens der Perlbach ist ihr Mann der Erbe. Das ist juristisch ganz eindeutig.“ „Wenn sie kein anderslautendes Testament hinterlassen hat“, fügte Motz hinzu. Er hatte sich jetzt ebenfalls die Ärmel hochgekrempelt. „Dazu wird sie kaum gekommen sein“, sagte Beeskow. „Ich würde zu gern wissen, ob Perlbach wirklich von der Existenz dieses Guthabens weiß oder nicht. Wenn ja – dann hätten wir schon ein blitzsauberes Motiv, dem ich zwar nachgehen würde, aber …“ „… aber?“ warf Motz ein. „Ich würde nicht versuchen, meine Beweiskette daran aufzuziehen. Zwölftausend Mark sollen auf diesem Konto sein. Wenn ein Verbrechen geschehen ist, dann passen diese zwölftausend Mark nicht zum Bild. Perlbach mag ein ausgewichster Hund sein, aber ich glaube niemals, daß er so dumm ist, seine Frau wegen der paar 114
tausend Mark zu beseitigen. Er muß damit rechnen, daß wir auf das Guthaben stoßen.“ „Es sind schon Menschen wegen geringster Beträge umgebracht worden“, entgegnete Leutnant Motz. „Ja, aber hier paßt es einfach nicht zum Täterbild. Trotzdem werden wir der Sache nachgehen. Du hast recht, wir müssen bei ihm beginnen, immer wieder bei ihm.“ Die Tribüne war überfüllt. Kaum einen hielt es jetzt noch auf den Plätzen. Geschrei und Pfiffe ertönten hundertfach. Die meisten der hier Anwesenden hielten zerknüllte Rennprogramme in den schweißfeuchten Händen und schrieben irgendwelche Zahlen. Im gleichen Augenblick schoß der Pulk der Reiter in die Zielgerade, und der Tumult wurde noch größer. Alfons Reh bastelte an seiner Kamera. Sein Kollege Johnny Zoff, der neben ihm stand, sah ihm belustigt zu. „Kannst du nicht mal zum Rennen gehen, ohne an Arbeit zu denken?“ fragte er. Dann stieß er Reh an. „Mensch, ich hab’ ‚Sequenz‘ getippt, der ist in Front, oder? Ganz genau kann man’s noch nicht erkennen.“ Reh hatte seine Kamera wütend auf der Sitzbank abgelegt und starrte nun auch auf den Einlauf. „Sequenz“, wurde Zweiter. „Scheiße“, kommentierte Zoff. Allmählich hatte sich die Aufregung gelegt. Die Tribüne leerte sich zusehends, denn bis zum nächsten Rennen war noch eine Viertelstunde Zeit. Ein Mann hinter ihnen brüllte hurra! Reh verstaute die Kamera in seinem Lederkoffer und holte eine zweite hervor. „Zuerst vergesse ich das Tele, und nun blockiert auch noch der Filmgeber.“ „Ist doch schön“, sagte Zoff, „bist du eben mal ganz privat hier. Die paar Bilder, Mensch, was hast du denn davon?“ 115
„Die Renn-Zeitung nimmt sie mir ab, mit Kußhand.“ „Renn-Zeitung!“ wiederholte Johnny Zoff verächtlich. „Pro Foto ’n Zehner, was? Und dafür rackerst du dich ab?“ „Hier hab’ ich schon tolle Sachen geschossen.“ „Ja, ja“, sagte Zoff, „’n paar Verrückte, die ihren Wochenlohn verballern oder Sekt saufen, wenn sie gewonnen haben. Dazu brauchst du doch nicht zum Pferderennen.“ „Dort unten“, Reh wies mit der Hand zum Einlaß, wo sich eine Schar Schaulustiger und Pferdebegeisterter um den Sieger des soeben beendeten Rennens geschart hatten, „dort hab’ ich damals Brigitte Perlbach fotografiert. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, daß ich sie von allen Seiten bekam. Du weißt, das Titelblatt der Nummer fünfzehn.“ „Ich weiß.“ „Ich hab’ damals natürlich nicht gewußt, daß ich damit sozusagen ein historisches Foto schieße. Denn wer konnte ahnen, daß Brigitte so etwas widerfahren würde.“ „Wieso?“ fragte Zoff verwundert. „Ich denke, man weiß gar nicht genau, was mit ihr ist.“ „Schon. Aber alles deutet darauf hin, daß sie ertrunken ist. Ihre Sachen fanden sich auf dem Dampfer, vollzählig, wie ich gehört habe, nur sie ist verschwunden. Keiner hat sie gesehen, auch dieser Perlbach nicht, mit dem sie leider immer noch verheiratet war.“ „Kennst du ihn?“ „Ja. Wir sind uns früher mal begegnet, auf Hiddensee. Damals stimmte wohl noch alles zwischen den beiden. Ich konnte ihn nie leiden. Brigitte war viel zu schade für den. Neulich, weißt du, was er sich da erlaubt hat?“ Reh sah seinen Kollegen empört an. „Da hat er mich in aller Herrgottsfrühe angerufen und gefragt, ob ich ihm ein Belegexemplar durchgesteckt habe. Als ob 116
ich diesem Trottel jemals irgend etwas durchstecken würde!“ „Wie kam er denn auf dich?“ „Ich nehme an, weil er wußte, daß ich das Titelblatt gemacht hatte.“ Johnny Zoff blickte wie abwesend über die Rennbahn. Drüben, auf der anderen Seite des Geläufs, fuhr ein Planierwagen und ebnete das aufgeschlagene Erdreich ein. Ein Lautsprecher verkündete Quoten. Jemand stieß ihn an, tippte mit dem Zeigefinger in eine vorgedruckte Tabelle und grinste freundlich. Johnny dachte an Brigitte. Er wollte sie vergessen. Seit Jahren hatte er sich darum bemüht. Es war ihm nie gelungen. Als sie damals mit ihm Schluß gemacht hatte, da fand er, daß kein Grund dafür bestünde. Zu ihrer letzten Verabredung war sie nicht gekommen. Als er sie später in der Stadt traf und sie bat, sich zu erklären, da war sie traurig und dennoch unnachgiebig. „Ich eigne mich nicht als Geliebte auf Zeit“, hatte sie ihm gesagt. „Du wirst dich nicht scheiden lassen, und ich verlange es auch nicht von dir. Aber du mußt einsehen, daß das kein Leben sein kann: heimliche Treffs, Briefchen, zwischen die Dienstpost geschmuggelt, flüchtig-beredte Blicke in der Kantine oder bei der Besprechung in der Redaktion – nein, Großer Bruder, das soll ein Ende haben.“ Sie hatte ihn noch einmal Großer Bruder geheißen, so wie sie ihn wohl immer gesehen hatte, obgleich ihr Verhältnis alles andere als brüderlich war, und dann hatte sie ihm die Wange gestreichelt und war gegangen. Er stand auf der Straße und sah sie davongehen und konnte ihr nicht nach, wußte auch, daß es zwecklos wäre, Brigitte umzustimmen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und die war endgültig. Brigitte war konsequent und selbstbewußt, und dann wieder, in anderen Stunden, 117
schien sie hilflos und schutzbedürftig zu sein. Ganz hatte er sie wohl nie verstanden, aber er hatte sie geliebt, und niemand erfuhr je davon. In der Redaktion der „Sylvia“ galten sie als Kollegen, die einander schätzten. Er hatte ihr an manchen Tagen zwei Briefe zukommen lassen. Wie ein Gymnasiast war er sich vorgekommen, doch geschämt hatte er sich nie. Du bist an die Vierzig, war ihm zuweilen bewußt geworden, du hast eine Frau und zwei fast erwachsene Kinder, und du führst dich auf, als könntest du zwanzig Jahre unter den Tisch kehren! Und doch hatte er sich in den letzten Jahren nur ganz selten so mit sich eins gefühlt wie in jenen wenigen Wochen, die ihm mit Brigitte vergönnt waren. Irgendwie wußte er, daß sie eines Tages Schluß machen würde. Sie hatten nie darüber geredet, aber er spürte es. Und so ließ sie ihn stehen, auf der Straße. Und er sah sie davongehen. Was war jetzt mit Brigitte? In jeder Stunde, die er mit ihr verbrachte, empfand er körperlich, daß sie unter Einsamkeit litt. Er wußte, daß es mit ihrer Ehe nicht stimmte, und er kannte ihren Stolz, merkte, daß sie nicht aufgeben wollte, daß sie insgeheim hoffte, doch noch mit ihrem Mann leben zu können. Er hatte diesen Perlbach gehaßt, daß er es nicht fertigbrachte, auf seine Frau einzugehen, daß er sein selbstsüchtiges Leben mit der Anschaffung immer neuer Güter der Bürgerlichkeit vergeudete, ohne zu bemerken, daß ein Mensch an seiner Seite langsam verging. Und er, Zoff, war feig gewesen. Hatte er den Mut gefunden, sich zu ihr zu bekennen? Nein, und sie hatte es gespürt. Und war gegangen. Liebte er sie nicht noch immer? Zoff sah auf die Uhr, erhob sich hastig. „Ich muß dringend weg, hab’ noch was zu erledigen.“ Reh sah ihn befremdet an. „Jetzt? Aber … Es laufen doch noch ein halbes Dutzend Rennen.“ Zoff gab Alfons Reh flüchtig die Hand und drängelte 118
sich dann durch die Sitzreihen. Reh sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Peter Theuerkauf war in Eile. Er stopfte Bade- und Campingsachen in einen Sportbeutel, suchte im Kleiderschrank nach seinen Segelschuhen, verstaute auch sie und schaute dann nach seiner Armbanduhr aus. Auf dem Bücherregal fand er sie schließlich. Verdammt, dachte er, schon so spät. Im Stehen verzehrte er den Rest einer Butterschnitte, die er sich gleich nach dem Aufstehen bereitet hatte. Zu einer Tasse Kaffee blieb ihm keine Zeit. Die Küchenuhr tickte und mahnte ihn an die Verabredung. Er hatte noch fünfzehn Minuten. Karin war eine Freundschaft von früher her. Als er Brigitte kennenlernte, war Karin immer mehr in den Hintergrund getreten. Sie hatte noch ein- oder zweimal angerufen, dann war die Verbindung abgerissen. Karin war ein netter Kerl, aber mit Brigitte nicht zu vergleichen. Und nun hatte Karin wieder von sich hören lassen. Ob sie von Brigittes rätselhaftem Verschwinden erfahren hatte? Jedenfalls rief sie ihn an, als hätten sie sich vor wenigen Tagen das letzte Mal gesehen. Ob sie sich nicht mal wieder treffen könnten. Er hatte zugesagt. Er wollte das Wochenende zum Camping nutzen, und so hatte er sie gleich gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle. Es war ein Viertel nach zehn. Um halb elf waren sie in der Nähe des Ostbahnhofs verabredet. Sie wollte dort zusteigen. Theuerkauf warf sich seinen Sportbeutel über die Schulter, schloß die Wohnungstür ab und rannte die Treppen hinunter. Sein Trabant war eingekeilt zwischen zwei anderen Wagen. Er fluchte. Mühsam gelang es ihm, an die Tür zu kommen, den Beutel auf die Hintersitze zu werfen. Dann öffnete er den Kofferraum und überprüfte, ob er alles 119
dabei hatte. Ja, da war das Zelt, die Luftmatratzen, die Heringe, die Decken. Er mußte einige Meter über die Fußgängerzone fahren, um aus der Einkeilung freizukommen. Er drehte die Scheiben herunter. Es war ein warmer, klarer Sommermorgen. Theuerkauf freute sich auf das Wochenende. Früher war er oft mit Brigitte zum Campen gefahren. Jetzt fuhr er mit Karin. Theuerkauf schluckte unmerklich. Bist du deshalb ein Scheißkerl? befragte er sich. Freilich wärst du lieber mit Brigitte … doch Brigitte … Fast hätte er einen LKW gerammt. Er bremste scharf, schaltete in den Leerlauf. Brigitte blieb verschwunden. Das alles war mehr als rätselhaft. Auch dieser Kriminalist, der ihn damals befragt hatte, schien nicht mehr zu wissen als alle anderen. Theuerkauf hatte damals Perlbach beschuldigt, und er glaubte zu dieser Zeit wirklich, daß Brigittes Mann etwas mit ihrem Verschwinden zu tun habe. Inzwischen hatte er immer und immer wieder darüber nachgedacht, und er war zu anderen Schlüssen gekommen. Perlbach ein Mörder? Nein, dazu hatte der Kerl nicht das Format, dazu fehlte es ihm an Entschlußkraft und Mut. Er war ein Abziehbild, nichts weiter. Brigitte mußte verunglückt sein. An einen Selbstmord würde er nie und nimmer glauben. Sie waren so glücklich miteinander, sie hatten Zukunftspläne geschmiedet, er hatte sie gedrängt, sich endgültig von ihrem Mann loszusagen, hatte gehofft, daß sie es bald täte. Und dann war sie ihm mit diesem Vorschlag gekommen. Weshalb nun fuhr sie mit Perlbach nach Hiddensee? Wie hatte er auf sie eingeredet! Sie hatte sich durchgesetzt. Und nun war sie spurlos verschwunden. Theuerkauf hatte Tag um Tag gewartet, daß sie eines Tages vor seiner Tür stünde. Sie kam nicht. Sie würde nie mehr kommen, das ahnte er nun. Aber Brigitte und Selbstmord? Das war ausgeschlossen. Er bog von der Allee ab und fuhr in die Seitenstraße 120
hinein. Karin sah er schon von weitem. Sie winkte, und er hielt. Sie begrüßten sich. Theuerkauf verstaute ihre Taschen gleichfalls auf den Rücksitzen. Karin strahlte ihn an. Er lächelte ungewiß. „Komm“, sagte er schließlich, „wir fahren.“ Sie setzte sich neben ihn. Sie fuhren stadtauswärts, der Autobahn entgegen. Theuerkauf bemerkte, wenn er zur Seite schaute, daß das Mädchen ihn unausgesetzt beobachtete. Wenn er sie direkt anblickte, tat sie so, als interessiere sie sich für die Stadtlandschaft, die mehr und mehr in grünende Flächen überging. Wie anders sie ist, dachte er. Sie war um einiges jünger als Brigitte. Sie war auch fröhlicher, unbeschwerter. Das hatte ihm schon immer an Karin gefallen. Sie konnte laut und herzhaft lachen, und man konnte mit ihr Pferde klauen. Brigitte war stiller, in sich gekehrter, grüblerischer. Manchmal versank sie stundenlang in Schweigen, tauchte unvermittelt daraus empor, sagte dann: „Wir wollen heute kleine Kinder sein, ja?“ Brigitte hatte es immer mit den Kindern. Einmal sagte sie zu ihm, als sie in einem Hotelzimmer ihre Utensilien auspackten: „Wir spielen ein Wochenende lang Mutter, Vater, Kind.“ Und dann lachte sie, und er bekam nie heraus, ob sie sich über sich selbst lustig machte oder über sein verblüfftes Gesicht oder ob ihr innerlich gar nicht zum Lachen zumute war. Brigitte neigte zur Schwermütigkeit. Das war den anderen verborgen geblieben. Und Perlbach, dieser Gefühlstrampel, konnte keine Ahnung davon haben. Er, Theuerkauf, wußte es. Ob sie vielleicht doch Hand an sich gelegt hatte? „Wohin fahren wir eigentlich?“ fragte Karin. „An den Plessensee.“ Das Meer lag spiegelglatt unter dem Sonnenglast. Zwei Fischerboote kehrten vom Fang heim in den kleinen Hafen. Es war später Nachmittag. Die Sonne 121
stand noch hoch, erst spät am Abend würde sie drüben, hinter der anderen Insel, untergehen. Ein paar hundert Meter weiter tummelten sich die Kinder des Dorfes an der kleinen Badestelle. Die Weideflächen der LPG reichten bis fast an den Bodden heran, nur unmittelbar am Ufer gab es einen kleinen Streifen weißen Sandes. Hier war der Bodden flach, und auch die kleinen Kinder, die noch nicht schwimmen konnten, wateten weit hinaus. Früher hatte er auch dort drüben gebadet. Manchmal hatten sie sich bis dicht an die ausgebaggerte Fahrrinne herangewagt. Er stand schon lange hier und suchte die weite Wasserfläche nach einem Zeichen ab. Jeden Tag zog es ihn hierher. Immer zur gleichen Stunde, wenn die Sonne den Zenit überschritten hatte, ging er die gleichen Wege durch die Kornfelder und an den Weiden entlang bis hierher an den Strand. Die Bank, die er vor Jahren mit seinem Freund gezimmert hatte, war längst den Jahreszeiten zum Opfer geworden, nur zwei aus der Erde reichende Holzstümpfe erinnerten noch an sie. Er stand auf der Wiese, und manchmal legte er die Hand über die Augen. Er sah die Fischer an ihren Reusen hantieren, zuweilen fuhr ein Fahrgastschiff der Weißen Flotte vorüber. Zwei Segelboote mühten sich redlich, unter der Flaute Raum zu gewinnen. Früher war er immer hergegangen, um Ruhe zu finden. Das Meer war ihm ein treuer Verbündeter, er hatte gesessen, und jedesmal war nach kurzer Zeit Friede in ihn eingekehrt. Und den hatte er benötigt, wenn ein neues Semester mit Prüfungen, zahllosen Testaten und Klausuren hinter ihm lag. Heute konnte er die Weite nicht auf sich wirken lassen. Es trieb ihn am Ufer entlang, seine Augen irrten umher. Vor wenigen Tagen hatte er einen schwarzen Regenmantel gefunden, der von den Wellen ans Ufer gespült wurde, wieder mit zurücktrieb, um erneut an 122
den Strand geworfen zu werden. Von weitem hatte er vermeint, dort triebe ein Mensch in den Wellen. Er war mit fliegendem Puls an die kleine Bucht gestürzt und hatte dann aufatmend seinen Irrtum erkannt. Hier, nicht weit von dem Uferstreifen, den er rastlos abging, mußte es geschehen sein. Er hatte nie Genaueres erfahren, wußte nur, daß Frau Perlbach ertrunken sein sollte. Ein Unfall hieß es, sie habe nicht schwimmen können. Jeden Tag suchte er den Strand ab. Er hatte Karl und Ernst von der Küstenwache befragt, ob man in den letzten Wochen eine Wasserleiche geborgen habe. Die beiden Rentner wußten nichts. Sie hatten nichts gesehen und auch von keiner Bergungsaktion erfahren. Er verweilte, sah noch einmal über die See. Dort drüben zog sich als schmaler Landstreifen die Insel Hiddensee den Horizont entlang. Die beiden Segelboote standen noch an der gleichen Stelle. Andreas schlug hastig den Weg in Richtung Heimatort ein. Die Mutter empfing ihn unter der Tür. Als er die Gummistiefel von den Füßen streifte und sich Hände und Arme unter der Pumpe wusch, sah sie ihm zu dabei. Dann trat sie an ihn heran und streichelte ihm mit einer schüchternen, liebevollen Geste den Rücken. Seine Schulterblätter stachen hervor. „Du mußt viel essen“, sagte sie. „Und ausruhen mußt du dich, du bist ganz überdreht. Jetzt hast du’s doch hinter dir, hast dein Diplom in der Tasche …“ „… ich muß heute noch zurück, Mutter.“ „Aber du bist doch erst vor wenigen Tagen gekommen“, rief sie bestürzt, „ich denke, du hast alles bestanden.“ „Ja, aber ich habe noch Wichtiges zu erledigen. In meiner neuen Arbeitsstelle. Ich muß mich kümmern, daß alles mit meinen Papieren in Ordnung geht.“ 123
„Kannst du nicht noch Anfang der Woche fahren?“ „Dann ist es zu spät.“ „Ich denke, du wolltest mit Anke heute abend zum Tanz“, wagte sie einen letzten Einwurf. „Ach ja“, erinnerte er sich, „das hab’ ich ganz vergessen. Ich werde Anke benachrichtigen, daß wir später dann …“ „… da wird sie enttäuscht sein, Junge. Schau mal, das Mädchen ist ein lieber Kerl, und sie hat sich so lange darauf gefreut, daß du kommst. Meinst du es eigentlich ernst mit ihr, oder hältst du sie zum Narren?“ „Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken“, entgegnete er schroff. Während die Mutter in der kleinen Wohnküche Kuchen auf seinen Teller türmte, packte er in aller Eile seine Tasche. Er setzte sich an den Tisch, und als er den traurigen Blick der Mutter sah, tätschelte er ihre Hand. „Ich werde in einigen Tagen wieder hier sein, Mutter. Und mit Anke werde ich noch reden. Sie wird es einsehen.“ Bei den letzten Worten war er aufgesprungen und hatte aus dem Schubfach der Anrichte das Kursbuch entnommen. „In zwei Stunden fährt mein Zug von Stralsund“, sagte er. „Den 17-Uhr-Bus muß ich kriegen.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Was dich nur so treibt? Du bist das reinste Nervenbündel. So kenne ich dich nicht. Früher warst du anders. Haben sie euch dort in Berlin auf der Hochschule so verrückt gemacht?“ Andreas Herzog stopfte den Kuchen in den Mund, trank im Stehen seinen Kaffee. Dann küßte er die Mutter flüchtig auf die Wange. „Mach dir keine Sorgen, in ein paar Tagen …“ Schon war er zur Tür hinaus. Sie sah ihm nach, wie er über den niedrigen Staketenzaun setzte und die Straße hinabrannte. Kurz hinter dem Gasthaus war er ihren Blicken entschwunden. 124
Anke wohnte in einem Vorwerk, einen knappen Kilometer vom Dorf entfernt. Sie wußte alles, bevor er zu sprechen anhob. „Du willst also wieder weg?“ „Ja.“ „Ist es ein anderes Mädchen?“ „Nein.“ „Ich glaube dir nicht.“ „Dann kann ich’s nicht ändern.“ „Ich sehe deinem Gesicht an, daß eine andere Frau dahintersteckt. Du gibst dir nicht mal Mühe, es zu verbergen.“ Andreas wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Anke hatte nicht unrecht, es ging um eine andere Frau, aber ganz anders, als Anke dachte. Wie sollte er ihr das erklären? „Ich werde in einigen Tagen wieder zurück sein“, sagte er. „Du brauchst nicht mehr zu kommen, Andreas.“ Sie hatte sich von ihm weggedreht. Er sah, daß sie weinte. Er trat hinter sie, umfaßte ihre Schultern. „Renn doch deiner anderen nach!“ rief sie. Er stand sekundenlang wortlos, dann nahm er seine Tasche auf und trat an die Tür. Bevor er ging, sagte er: „Du wirst sehen, daß alles ganz anders ist, als du jetzt glaubst. Ich muß weg. Erst wenn ich …“ „… hau doch endlich ab!“ rief sie. Da hatte er die Tür schon hinter sich geschlossen.
5 Von irgendwo klang das Kreischen einer Winde herein. Perlbach schlug die Augen auf, erkannte die vertraute Umgebung seines Zimmers und stöhnte wohlig. Die 125
Sonne stand vor dem Fenster, und unter der Gardine hindurch konnte er einen breiten Streifen blauen Himmels erkennen. Schläfrig blinzelte er auf seinen Wecker. Es war früher Morgen. Noch konnte er liegenbleiben. Er angelte mit der Hand nach dem Einschalteknopf seines Radios. Schlagermusik, dazwischen Informationen aus dem Tagesgeschehen, Wochenendplaudereien, Banalitäten, gewürzt mit Geistreicheleien. Perlbach hörte nur halb hin. Nach einigen Minuten schlug er die Decke zur Seite und trat ans Fenster. Er atmete tief ein von der klaren, würzigen Luft, das Gewitter vom Vorabend hatte Straßen und Fußwege blank gescheuert. An einigen Stellen standen noch Pfützen. Vor der Kaufhalle am gegenüberliegenden Straßentrakt reihte sich eine Menschenschlange. Du hast wenigstens schon alles beisammen, dachte er befriedigt und summte ein Lied aus dem Radio mit. Er freute sich auf die zwei Tage in seiner Datsche. Seit Tagen ging es ihm merklich besser. Er schlief ruhiger, ließ Aufregungen und aufdringliche Gespräche nicht an sich herankommen. Die unliebsamen Zwischenfälle der letzten Wochen hatte er fast vergessen. Nur manchmal drängten sie sich in seine Erinnerung, wenn er lange saß und allein war oder wenn er nicht einschlafen konnte. Doch damit war es zum Glück besser geworden, konstatierte er zufrieden. Die Behandlung war doch der richtige Schritt. Dieser Doktor Volkerts hatte ihm seine Selbstsicherheit und Ausgeglichenheit wiedergegeben. Sie müssen sich zwingen können, an angenehme Dinge zu denken, hatte er ihm geraten. Wenn Sie depressive Phasen haben, dann nicht hineinsteigern – und er hatte ihm erläutert, daß gerade dies zum Krankheitsbild depressiv Veranlagter gehöre –, sondern quälende Gedanken, Schwermut, Leere bekämpfen mit positiven Anreizen. Können Sie sich schöne Dinge vorstellen? Er konnte. Er zählte auf: den Frühling, den Sommer, sein Grund126
stück im Wald, Ostsee (an dieser Stelle seiner Aufzählung hatte er einen Moment lang gestutzt, und der Psychiater hatte interessiert aufgeschaut), Geruch nach Tang und Jod. Er schwärmte von den Weekends auf seiner Datsche, und der Arzt nickte befriedigt. Sehen Sie, das sind Bestandteile unserer Therapie. Wenn Sie sich von ihren Bedrückungen und Ängsten frei machen, einfach, indem Sie Erlebenswertes, Freundliches stärker auf Ihr Bewußtsein wirken lassen, so werden Sie in absehbarer Zeit spüren, daß sich gewisse Verkrampfungen lösen, daß Sie ein neues Wohlbefinden in sich entdecken. Tatsächlich, die wenigen Einzelgespräche mit dem Doktor hatten ihm genützt. Wenn er sich jetzt allein fand, die Wände seiner Wohnung ihm zu eng schienen, so konzentrierte er sich auf den Sommer, den er auskosten wollte wie keinen in seinem bisherigen Leben. Eines Abend dachte er sogar daran, einmal tanzen zu gehen; erst im letzten Augenblick – er hatte sich schon umgekleidet – entschloß er sich, doch zu Haus zu bleiben. Dennoch: Es war neue Lebensfreude in ihm erwacht. Irgendwann würde er auch wieder in eine Bar gehen, vielleicht eine neue Frau kennenlernen … Perlbach pfiff vergnügt vor sich hin. Er setzte den Teekessel auf, wusch und rasierte sich. Wenn ich in einer Stunde fahre, rechnete er, dann kann ich noch am Vormittag draußen sein. Zum Mittag brate ich mir die Würstchen, dann werd’ ich baden und am Nachmittag ein Sonnenbad nehmen, zwei, drei Flaschen Bier … Der Teekessel pfiff. Er eilte in die Küche zurück, brühte sich einen Kaffee. Als er am Frühstückstisch saß, freute er sich aufrichtig des neuerwachten Lebensgefühls, freute sich auf das kommende Wochenende, auf das Sommerhäuschen, das mit allerlei Komfort ausgestattet war, sogar mit einem 127
Kofferfernsehgerät. Brigitte war damals dagegen, als er vorschlug, ein tragbares Gerät für die Wochenenden zu erwerben, doch schließlich hatte sie sich nicht mehr darum gekümmert. Die Wochenenden mit Brigitte draußen lagen lange zurück. Sie waren ihm schon verblaßt, denn in den vergangenen beiden Jahren war er nur noch allein auf das Grundstück gefahren. Er hatte die Sonnabende und Sonntage mit seiner Frau vergessen, so wie ihm geraten worden war: Vergessen Sie, was bedrückend und beängstigend für Sie ist! Das hatte ihm der Arzt ausdrücklich ans Herz gelegt. Und wahrlich, er arbeitete an sich. Und er stellte mit Befriedigung fest, daß das Vergessen leichter war, als er es sich noch vor Wochen vorgestellt hatte. Wenn Brigitte in seinem Erinnern auftauchte, so verstand er es, sich abzulenken. Brigitte existierte noch in seinem Bewußtsein, irgendwo gab es auch ein dumpfes Gefühl von Schuld, doch das ließ sich verdrängen, Brigitte war seine Frau, aber sie hatte sich von ihm losgesagt, bitter, aber wahr; nun gut, die Menschheit bestand zur Hälfte aus Frauen, weshalb sollte man einer ein Leben lang nachtrauern? Brigitte war eben aus seinem Leben fortgegangen, sie war plötzlich weg. Wie? Auf welche Weise? Das gehörte nicht hierher, nicht zu diesem wundervollen Morgen, nicht zur Vorfreude auf diesen Tag. Perlbach sah sich erlöst von quälenden Gedanken, seine Jetzt-Welt war von der dunklen Vergangenheit der letzten Jahre geschieden. Er lebte sichtlich auf, die Behandlung hatte ihm neue Kraft und Sicherheit zuwachsen lassen, er wähnte sich auf eine unerfindliche Art beruhigt. Die Vergangenheit war eine Angelegenheit, mit der er reinen Tisch gemacht zu haben glaubte. Zunächst war er dem Psychiater mit äußerster Vorsicht und Wachsamkeit begegnet. Sag bloß nicht zuviel, verrate nichts, was dir schaden könnte, mahnte eine innere 128
Stimme, als er dem Arzt beim erstenmal gegenübersaß. Er hielt nichts von der Verschwiegenheit der Mediziner. Die Menschen sind verklatscht und redselig – das war seine Grundüberzeugung. Also gestand er Symptome ein, die ohnehin offensichtlich waren und die der Doktor sehr bald herausgefunden hätte. Als Doktor Volkerts ihn nach den Ursachen befragte, war er klug genug, das rätselhafte Verschwinden seiner Frau nicht zu verschweigen, ließ erkennen, daß dies zu seiner augenblicklichen psychischen Verfassung beigetragen habe. Er hatte eingestanden, daß seine Ehe seit Jahren problemgeladen gewesen sei und er damit rechnen müsse, daß seine Frau Selbstmord begangen habe. Er wisse es jedoch nicht, niemand wisse es genau, es könne auch ein Unfall gewesen sein, man habe sie nicht gefunden. Auch diese Ungewißheit, gab er an, mache ihn fertig. Außerdem sei er überarbeitet und unzufrieden mit seiner jetzigen Tätigkeit. Der Arzt war mit äußerster Behutsamkeit und großem Verständnis auf ihn eingegangen, er hatte ihm neue Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben und ihm geraten, in absehbarer Zeit an einem Kursus für autogenes Training teilzunehmen. Perlbach war ein folgsamer Patient, er beherzigte die Ratschläge und Hinweise des Arztes mit Beflissenheit. Und begann sich nach und nach wohler zu fühlen. Es war ihm, als habe er sein Gewissen reingewaschen, als sei eine Schuld von ihm genommen worden. Daß er die Wahrheit verschwiegen hatte, war ihm nicht mehr erinnerlich. Der Arzt hatte doch gesagt: Sie müssen sich von ihren Ängsten und Bedrückungen und Verkrampfungen frei machen. Der Wille muß dasein. Er hatte den Willen. Perlbach goß sich noch eine Tasse Kaffee nach, trat dann ans Fenster und sah hinab auf die Straße. Die Sonne stand jetzt ein Stück höher. Es würde einen heißen 129
Tag geben, das war schon jetzt zu spüren. Die Schlange vor der HO-Kaufhalle war verschwunden. Perlbach öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm das Päckchen mit den Grillwürsten. Dabei stieß er auf zwei Hammelkoteletts, die er sich vor Tagen gebraten und dann nicht gegessen hatte. Er nahm sie heraus, stellte sie auf seinen Frühstückstisch. Neun Uhr, meldete eine sonore Stimme aus dem Radio. Nachrichten. Perlbach schaltete den Rundfunkempfänger aus, ging dann in sein Zimmer hinüber und kleidete sich an. Als er in die Küche zurückkam, räumte er die Reste seines Frühstücks fort, wusch in aller Eile Teller und Tasse ab. Die Würstchen verstaute er in seiner Reisetasche. Nimmst du die Koteletts mit oder steckst du sie wieder in den Kühlschrank? überlegte er. Doch dann vergaß er sie. Wenige Minuten später hatte er seine Wohnung verlassen und war in seinen Wagen gestiegen. Er fuhr in Richtung Plessensee. Den See sah er, lange bevor er sein Häuschen erreichte. Er lag eingebettet zwischen Mischwald und Hügeln. Über seinen südlichen Ausläufer führte die Autobahnbrücke hinweg. Perlbach schaute im Hinüberfahren seitlich auf den See hinab. Weit hinten, am anderen Ende, befand sich sein Grundstück. Er pfiff einen Schlager. An der nächsten Abzweigung fuhr er von der Autobahn herunter. Die Straße zweiter Ordnung, die er bald darauf einschlagen mußte, war keine angenehme Wegstrecke, doch sie führte an Feldern und Waldstücken vorüber, die ihm vertraut waren. Vorsichtig umrundete er Schlaglöcher, die voller Pfützen standen. Also hatte es auch hier reichlich geregnet. Nach einigen Kilometern Slalomfahrt sah er den See zwischen den Bäumen glitzern. Die ersten Wochenendgrundstücke tauchten links und rechts des Weges auf. Die 130
meisten dieser Holzhäuschen waren Modelle der gleichen Baureihe und sahen sich ähnlich wie ein Ei dem anderen. Perlbach war stolz darauf, daß seine Datsche solide Zimmermannsarbeit war, kein vorgefertigtes Muster. Er war damals einer der ersten gewesen, der hier baute. Es gab noch kein elektrisches Licht und keine Poststelle und keine Lebensmittelverkaufsstelle. Vor der Einfahrt zu einem Betriebsferienheim stand ein altes Weiblein und bot Levkojen an. Perlbach hielt an und erwarb einen Strauß. Die Alte blinzelte ihn an und fragte, ob er einen Ausflug mache. Er schüttelt den Kopf und stieg wieder in den Wagen. Die Frau sah ihm neugierig nach. Noch einmal bog er in einen Seitenweg ab, der direkt hinabführte an den See. Hier befanden sich die Wassergrundstücke. Sie waren heute ein Vermögen wert. Er, Perlbach, hatte seine Parzelle vor Jahren für eine geringe Summe von der Gemeinde erworben. Zwei Nachbarn, die vor ihren Zäunen harkten, grüßten mit einem Kopfnicken. Perlbach hob lässig die Hand. Vor der Auffahrt zu seinem Grundstück brachte er den Wagen zum Stehen. Zwei alte Trauerweiden säumten die kiesbestreute Auffahrt. Sie waren Perlbachs ganzer Stolz. Auch die drei Blautannen, die er vor sieben Jahren gepflanzt hatte, waren zu prächtigen Exemplaren herangewachsen. Er schloß das Gatter auf, fuhr das Auto bis unter die Überdachung, die er wenige Meter links des Häuschens aufgestellt hatte. Dann ging er um seinen Wartburg herum, näherte sich dem Haus von der Rückseite. Dabei stellte er befremdet fest, daß einer der Fensterläden nicht richtig verschlossen war. Das war merkwürdig, denn er achtete stets mit Sorgfalt darauf, sein Hab und Gut vor Diebstahl zu sichern. Einige Einbrüche in der Umgebung hatten ihn dazu angehalten, jedesmal, wenn er nach einem Wochenende zurück in die Stadt fuhr, 131
Fenster, Türen und Fensterläden auf ihre Einbruchssicherheit zu überprüfen. Um so mehr setzte ihn diese Nachlässigkeit, der er sich vorher noch nie schuldig gemacht hatte, in Erstaunen. Du mußt letztes Mal ganz schön fertig gewesen sein mit den Nerven, rekapitulierte er. Er zog die Holzverschalung auf und fand auch das dahinter liegende Fenster nur angelehnt. Verdammt, dachte er, sollte doch jemand … Eilig lief er um das Haus herum und prallte vor seiner Eingangstür zurück. Neben der Türklinke hing an einem Haken, der für die Anbringung von Blumenkästen gedacht war, ein Rettungsring. Perlbach stand davor, sekundenlang wie vor den Kopf geschlagen. Dann sah er sich nach allen Seiten um – niemand schien in der Nähe des Häuschens. Von den Nachbargrundstücken war sein Haus kaum einzusehen, und auch vom Weg her gab es nur wenige Ausblicke. Er rüttelte an seiner Tür. Sie war verschlossen. Aufgeregt zog er die Schlüssel hervor, schloß auf. Doch bevor er die Tür öffnete, rang er sich dazu durch, den Rettungsring zu entfernen. Er nahm ihn vom Haken und versteckte ihn unter einer Buchsbaumhecke. Er hätte nicht zu sagen gewußt, warum er das tat. „Schlechter Scherz“, knurrte er, als er zu seinem Haus zurückging. Er betrat den Bungalow, sah sich aufmerksam um. Alles war an seinem Platz, der Eßtisch mit den vier gedrechselten Sesseln, die Schränke, sogar der kleine Fernsehapparat stand an der gewohnten Stelle. Also kein Einbruch; er atmete befreit auf. Auch in der kleinen Kochnische fehlte nichts. Perlbach ging an die Fenster, öffnete die Läden, ließ Luft und Wärme herein. Als er die Schlafkoje betrat, ebenjenen Raum, dessen Laden und Fenster er unverriegelt vorgefunden hatte, erschrak er aufs neue. Auf dem kleinen Tisch, der seitlich der Betten stand, lag ein Kleid Brigittes ausgebrei132
tet, als habe sie es dort hingelegt, um es zu tragen. Er kannte ihre Gewohnheit, Kleider im Raum zu verteilen, sich im Spiegel mit dem einen oder anderen zu betrachten, bis sie sich für eines entschieden hatte. Perlbach konnte sich nicht erklären, wie das Kleid hierherkam. Er wußte, daß Brigitte Kleidungsstücke im Schrank aufbewahrte, vor allem leichte, sportliche Stücke. Er riß den Kleiderschrank auf. Da hingen noch andere Sachen. Eine Jeans-Hose, ein Nicki, zwei Blusen, ein ärmelloser Pullover. Und ein blauer Nylon-Badeanzug. Perlbach befühlte das Kleid. Ja, es gehörte Brigitte, zweifelsfrei. Sie hatte es vor drei Sommern häufig und gern getragen. Doch er konnte sich genau erinnern, daß das Kleid nicht auf dem Tisch gelegen hatte, als er vor Wochen zum letzten Mal hier war. Und jetzt glaubte er auch zu wissen, daß er sämtliche Fenster verschlossen hatte. Ja, er hatte sich Zeit dafür genommen, war noch einmal außen um das Haus herumgelaufen und hatte kontrolliert. Perlbach ließ sich auf eines der Betten fallen. Was hatte das zu bedeuten? Er spürte, wie die alte Unruhe in ihm erwachte. Er inspizierte noch einmal den Kleiderschrank, zog alle Schubladen heraus. Nichts war in Unordnung. Auch seine Kleidungsstücke fanden sich vollzählig an. Wer mochte nur das Kleid dort hingelegt haben? Und wer war auf den idiotischen Einfall mit dem Rettungsring gekommen? Handelte es sich um den gleichen Täter? Jemand aus seiner nächsten Nachbarschaft? Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Sein Grundstück war an der Umzäunung mit Buchsbaumhecken bepflanzt. Dort drüben wohnten die Lohmanns, er Direktor eines Berliner Museums, sie Rechtsanwältin. Ein älteres, unauffälliges Ehepaar. Von ihnen war nichts zu befürchten. Er kannte die Lohmanns nur flüchtig, doch daß die beiden sich an seinen Fenstern zu schaffen gemacht hatten, war undenkbar. 133
Zur Linken campierte seit zwei Jahren der Klempnermeister Liedtke mit seiner zahlreichen Sippschaft. Die Kinder waren bis auf zwei bereits erwachsen. Sollte eines der Kinder ihm einen Streich gespielt haben? Doch warum? Und was sollte dann der Rettungsring? Und warum lag Brigittes Kleid auf diesem Tisch? Nein, Perlbach war sich jetzt sicher, kein Uneingeweihter war hier am Werk gewesen. Hinter allem steckte Methode. Er wischte sich die schweißfeuchten Hände an den Hosen ab. Der Rettungsring ging ihm nicht aus dem Kopf. Hatte er nicht symbolische Bedeutung? Ihm stand Brigittes Gesicht vor Augen, wie sie in der See untertauchte. Dieses Bild hatte sich in seinem Gehirn eingegraben, es war unauslöschbar, daran hatte auch die Behandlung bei Doktor Volkerts nichts ändern können. Sollte Brigitte etwa noch leben? Sollte sie selbst …? Nein, nein, nein, schrie er gequält auf, das kann nicht sein, das nicht. Außerdem besaß sie einen Schlüssel zum Häuschen, sie hätte nicht durchs Fenster zu kommen brauchen. Er machte sich Vorwürfe. Warum plagst du dich schon wieder mit derartigen Hirngespinsten herum? Du hast dich doch bemüht zu vergessen, hattest es schon fast geschafft. Brigitte kann dir gar nichts mehr. Sie ist tot. Du hast sie untergehen sehen. Du hast alles in der Hand, nur du. Du darfst jetzt keine Unvorsichtigkeiten begehen, bloß nicht den Kopf verlieren. Aber er konnte sich gegen die Furcht, die ihn auf einmal wieder umklammert hielt, nicht zur Wehr setzen. Er schluckte und fühlte, wie ihm ein Kloß im Halse wuchs. Er blickte nochmals aus dem Fenster. Von irgendwo klangen Mundharmonikaklänge herüber. „Rolling home“ – ein Baß und eine etwas zittrige Frauenstimme summten die Melodie mit. Perlbach lief zurück in den Wohnraum. Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Haustür immer noch offenstand. Er schloß sie. War da eben jemand vor seinem Haus vorübergegangen und hatte zu 134
ihm hergeblickt? Er bückte sich und sah durch das Schlüsselloch. Die Bäume seines Grundstücks versperrten ihm die Sicht. Er öffnete die Tür, nahm eine Gießkanne auf, die gleich neben der Schwelle stand, und tat, als wolle er Blumen gießen. So trat er an den Zaun und schaute den Weg, an den seine Parzelle grenzte, hinab. Es war niemand zu sehen. Auch die Nachbarn, die vorhin noch geharkt hatten, waren nicht mehr da. Wahrscheinlich hatten sie sich zu Tisch begeben. Als er den Weg zum Haus zurückging, sah er das Weiß-Rot des Rettungsringes aus der Buchsbaumhecke leuchten. Er warf die Gießkanne zur Seite, lief auf den Busch zu und nahm den Rettungsring auf. Sekundenlang hielt er ihn in Händen, wußte nicht, wo er ihn verstecken sollte. Warum hängst du ihn nicht wieder dorthin, wo du ihn vorgefunden hast? überlegte er. Soll der Witzbold doch denken, du habest ihn nicht einmal zur Kenntnis genommen. Doch irgend etwas in ihm sträubte sich dagegen. Er trug den Ring ins Haus und verbarg ihn in dem winzigen Vorratskeller unter der Kochnische. Als er die Klappe zur Kellertreppe wieder geschlossen hatte, stand er, als habe er sich eines lästigen, gefährlichen Beweisstückes entledigt. Er trank die Neige einer Flasche „Grand mit dreien“ in einem Zuge leer. Er war jetzt davon überzeugt, daß jemand gewaltsam in sein Haus eingedrungen war. Doch wer auch immer es gewesen sein mochte, was hatte er im Schilde geführt? Oder was hatte er gesucht? Das Haus machte nicht den Eindruck, als sei es durchsucht worden. Alles war aufgeräumt und ordentlich, so, wie er es verlassen hatte. Nur eben ein Fenster hatte offengestanden. Und das ließ ihn immer von neuem die gleiche Frage stellen. Ein Rettungsring vor seiner Haustür und eines von Brigittes Kleidern auf dem Tisch in der Schlafkoje. Waren das nicht zu viele Anhaltspunkte, die auf einen Täter und auf eine ganz bestimmte Absicht schließen ließen? 135
Doch welche? Je länger Perlbach nachdachte, um so überzeugter war er, daß diese scheinbaren Ungereimtheiten sich doch zueinander fügten. Wenn er den Rettungsring hängen sah, so zwangen sich ihm stets die gleichen Assoziationen auf. Rettungsring – Brigitte. Und dann war da ihr Kleid auf dem Tisch – wieder Brigitte. Hatte der große Unbekannte nicht ebenso gedacht? Perlbach kam ins Schwitzen. Du mußt ein paar Tabletten nehmen, entschied er sich. Sein Kopf tat ihm weh, und er hatte keine Lust mehr auf seinen Wochenendurlaub. Er schluckte drei Beruhigungstabletten, obschon der Arzt ihm nur jeweils eine angeraten hatte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er rannte zur Toilette und erbrach den Alkohol und die soeben eingenommenen Tabletten. Keuchend lehnte er an der gekachelten Toilettenwand und hielt sich den Magen. Dann suchte er im ganzen Haus verbissen nach seinen Magentropfen. Irgendwo, so glaubte er sich zu erinnern, mußte er welche aufbewahrt haben. Seit Jahren lebte er mit diesen Präparaten; daran hatte er sich gewöhnt. Bei jedweder Aufregung rebellierte sein Magen, und so hatte er in seiner Wohnung, im Institut und auch auf seinem Wochenendgrundstück Magentropfen deponiert, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Endlich fand er das Fläschchen. Mit zitternden Händen ließ er Tropfen um Tropfen auf einen Löffel fallen. Er vergaß sie zu zählen. Als der Löffel voll war, steckte er ihn in den Mund. Dann setzte er sich und wartete die Wirkung des Medikaments ab. Er vermeinte plötzlich, daß sein Herz unregelmäßig schlüge, ängstlich hielt er die Hände über die Tischplatte, konnte das starke Zittern nicht verhindern. Was soll dieser blödsinnige Rettungsring in meinem Keller? fragte er sich. Wenn sie kommen und ihn hier finden … 136
Er sprang auf, hob die Klappe zum Vorratskeller und holte den Rettungsring wieder hervor. Was sollst du nur mit dem Ding? überlegte er krampfhaft. Du kannst ihn dir doch nicht um den Hals hängen. Ihn zu verstecken wäre aber ebenso unsinnig. Vielleicht sollte er ihn bei der Rettungsstelle abgeben. Wenige hundert Meter weiter befand sich die öffentliche Badeanstalt. Dort taten zwei Bademeister Dienst. Ihnen konnte er den Ring aushändigen. Perlbach nahm den Rettungsring unter den Arm und machte sich auf den Weg. Der Bademeister, ein blauäugiger blonder Hüne, musterte ihn mißtrauisch. „Na klar ist der unser. Da drüben, am Badehaus, hat er gehangen. Heute früh, als ich herkam, war er weg. Und das ist der zweite. Vor vierzehn Tagen haben sie uns schon einen geklaut.“ „Er hing bei mir am Häuschen“, erklärte Perlbach, „irgendein Idiot vermutlich, dem es Spaß macht, andere zu ärgern.“ „Mit Spaß hat das kaum noch was zu tun“, polterte der blonde Riese. „Voriges Jahr haben sie uns das Rettungsboot weggeschleppt. Und genau an dem Tag ist ein kleines Kind spurlos verschwunden. Die Mutter sagt, es wäre im Schilf gewesen. Und wir ohne unser Boot. Können Sie sich das ausmalen?“ „Vielleicht junge Bengels“, mutmaßte Perlbach. „Kann schon sein. Jedenfalls melde ich’s dem ABV, wenn’s noch mal passiert.“ Der Bademeister nahm Perlbach den Rettungsring ab und hängte ihn an seinen Platz. Perlbach ging grußlos. Als er wieder in seinem Bungalow war, überlegte er, was er tun sollte. Hierbleiben, Würstchen braten, baden, so wie er es sich vorgenommen hatte? Nein. Er mußte weg von hier, je eher, desto besser. Er fühlte sich beobachtet, wenn er sich auch nicht erklären konnte, auf welche Weise das geschehen sollte. Dennoch: Irgend je137
mand lag auf der Lauer. Die Polizei? Waren solche psychischen Attacken im Ermittlungsdienst gestattet? Sicher nicht. Je länger er nachdachte, um so mehr kam er zu der Überzeugung, daß jemand anders hinter diesen Einfällen steckte. Jemand, der sich nicht scheute, sogar einen Einbruch zu begehen. Wollte man ihn erpressen? Perlbach verriegelte die Fenster, die er erst vor einer knappen Stunde aufgestoßen hatte. Mit akribischer Sorgfalt achtete er darauf, daß die Läden vor den Fenstern gleichfalls fest verschlossen waren. Dunkelheit breitete sich im Hause aus. Nur durch einige Ritzen drangen vereinzelte Lichtstrahlen ins Innere. Vor dem Kleid seiner Frau verweilte Perlbach wiederum. Es lag dort, als wäre Brigitte nur im Waschraum nebenan, um sich jeden Moment anzukleiden. Perlbach nahm das Kleid und hängte es in den Schrank zurück. Hatte Brigitte nicht noch mehr Kleider gehabt? Das Grüngeblümte, wo war es abgeblieben? Oder hing es zu Hause? Er konnte sich nicht erinnern, obgleich er ihren Schrank erst vor wenigen Tagen durchsucht hatte. Als er den Schlafraum soeben verlassen wollte, fand er den Zettel. Er lag mitten auf dem Tisch. Vorher hatte er ihn nicht bemerkt, weil er unter dem Kleid verborgen war. Es war eine Rechnung über Reinigungsgebühren. Perlbach stockte der Atem, als er ihn bei geöffneter Tür näher betrachtete. Die Rechnung stammte von einer REWATEX-Wäscherei in Stralsund. Perlbach blickte sich gehetzt um. Von der anderen Seite des Weges war wieder Mundharmonikaspiel zu vernehmen. Jemand kicherte laut und anzüglich. Ein Kuckuck rief. Perlbach zählte die Rufe, er fand es absurd, in dieser Situation darauf zu achten. Aber war es nicht ein Kinderspiel, dessen er sich dunkel entsinnen konnte: Wie viele Jahre hast du noch zu leben? so viele, wie der Kuckuck Rufe hat. Er stopfte die Rechnung in seine Tasche, schloß has138
tig das Haus ab und lief zu seinem Wagen. Den kleinen Fetzen weißen Papiers, der unter seinem Scheibenwischer klemmte, entdeckte er erst, als er bereits losgefahren war. Ein Rasensprenger drehte sich monoton. Halbnackte Kinder rannten kreischend unter den Wasserstrahlen hindurch. Ein kleines pummliges Mädchen hätte ihn fast umgerannt. Es sah zu ihm auf, lachte vergnügt. Sein Gesicht war naß, und die kurzen blonden Zöpfe hingen in Strähnen. Perlbach ging eilig weiter. Die Tür zu seinem Haus war offen. Er stand vor der Fahrstuhltür und drückte mehrmals hintereinander den Knopf. Der nach unten weisende Pfeil leuchtete auf, doch der Fahrstuhl schien sich nicht von der Stelle zu rühren. Hat so ein Idiot die Tür nicht geschlossen, dachte er. Endlich kam der Lift dem Erdgeschoß entgegen. Perlbachs Hemd war durchgeschwitzt. Seine Augen flackerten. Er war halb betrunken. Den Wagen hatte er vor zwei Stunden einige Straßen weiter geparkt. Dann war er in eine Kneipe gegangen und hatte an einem Stehtisch mehrere Gläser Weinbrand und etliche Bier konsumiert. Mehrmals hatte er sich vorsichtig in der Gaststätte umgeschaut. Ihm war kein Gesicht aufgefallen, das ihm bekannt vorkam. Ein älterer Mann, der mit ihm am Tisch stand, warnte: „Passen Sie bloß auf, daß das Zeug Sie nicht umhaut, wenn sie ’rauskommen. Bei der Hitze …“ Perlbach hatte gar nicht auf die Bemerkung geachtet. Er bestellte noch eine Lage. Er wollte keine Unterhaltung, die Begegnung mit dem Knastbruder vor einigen Tagen war ihm noch in unangenehmer Erinnerung. Außerdem war er viel zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen. Kurz nach fünfzehn Uhr verließ er die Kneipe, nach139
dem er sich an der Theke noch mit einer Flasche Weinbrand für zu Hause versorgt hatte. Er drückte wieder auf den Knopf. Der Fahrstuhl hatte im dritten Stockwerk noch einmal gehalten. Perlbach hielt die Flasche Schnaps in der Hand, er hatte sie nicht einmal einwickeln lassen. Eine alte Frau, die sich zu ihm gesellte, betrachtete ihn mißbilligend. Dann klackte es im Fahrstuhlschacht. Der Lift war angekommen. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Das Ehepaar Nickel, Perlbachs unmittelbare Nachbarn, traten lachend heraus. „Tag, Herr Perlbach.“ „Tag.“ Perlbach nickte zerstreut. Die Nickels grinsten, dann kam der Mann noch einmal zurück. Perlbach stand bereits im Fahrstuhl. „Sie feiern wohl Fasching?“ Perlbach sah ihn verständnislos an. Herr Nickel wies mit dem Daumen gegen die Decke. „Sie werden schon sehen, hahaha.“ Die Fahrstuhltür schloß sich automatisch. Die alte Frau hatte sich in eine Ecke gedrückt, als befürchte sie, Perlbach könne ihr etwas antun. Angewidert schnüffelte sie mit gekrauster Nase. Perlbachs Schnapsatem füllte die abgestandene Luft im Fahrstuhl. Im siebenten Stock stieg er aus. Er lief den Korridor entlang, bog um die Ecke und erstarrte. An seiner Wohnungstür hing ein Rettungsring. Perlbach packte kaltes Entsetzen. Er schnellte herum, als befürchte er, daß jemand hinter ihm stehe. Der Korridor lag menschenleer. Perlbach stellte die Weinbrandflasche vor der Tür ab, griff nach dem Rettungsring und rannte den Korridor zurück. Dicht neben der Außentreppe befand sich der Müllschlucker. Er zog die eiserne Klappe auf und warf ihn hinein. Kurz darauf hörte er ihn in der Tiefe dumpf aufprallen. Als er wieder vor seiner Tür stand, traten im selben Moment die Meuselbachs mit ihren beiden Kindern aus der Wohnung. 140
Perlbach wollte die Flasche unter seiner Jacke verbergen, doch man hatte sie bereits gesehen. „Guck mal, Mami“, sagte der dreijährige Junge, „der Onkel trinkt Snaps.“ Frau Meuselbach tat, als habe sie die Bemerkung ihres Jüngsten nicht gehört. Die Familie ging an Perlbach vorbei. Er sah ihnen nach. Dann versuchte er, den schweren Nagel, den man in seine Wohnungstür getrieben hatte; zu entfernen. Er saß tief. Perlbach mußte alle Kraft aufwenden, bis es ihm schließlich gelang, den Zimmermannsnagel herauszuziehen. War es niemandem in der Etage aufgefallen, daß man ihm einen Nagel in die Tür schlug? Das mußte doch Lärm verursacht haben! Hammerschläge waren in diesen hellhörigen Häusern sogar zu vernehmen, wenn sie vier, fünf Stockwerke weiter oben oder unten erklangen. Hämmern konnte nicht unbemerkt geblieben sein. Warum hatte er die Meuselbachs nicht danach gefragt? Sollten sie auf den Ohren gesessen haben? Oder nahmen sie an, daß er selbst auf diese Geschmacklosigkeit gekommen war. Vielleicht glaubten sie auch, er sei total betrunken und der Ring an seiner Tür wäre auf den Alkohol zurückzuführen? Die Nickels vorhin hatten gelacht. War ihnen jemand begegnet? Hatten sie beobachtet, wer den Nagel in die Tür schlug? Er nahm sich vor, sie am Abend zu besuchen und vorsichtige Fragen zu stellen. Er betrat die Wohnung. Gleich hinter der Tür lag ein Brief. Perlbach stöhnte auf. „Nein!“ schrie er. Er verriegelte die Tür von innen, lief durch den Flur in sein Zimmer. Dort entkorkte er die Flasche, setzte sie an die Lippen. Sekundenlang hatte er das Empfinden, als ginge ihn all das nichts mehr an. Der Alkohol begann seine Wirkung zu tun. Perlbach wankte zum Fenster, öffnete es. Von draußen kam keine erfrischende Brise, wie er erhofft hatte. Ermattet ließ er sich 141
in den Sessel sinken und stierte geradeaus. Selbstmitleid überkam ihn. Er fand es unmenschlich, daß man ihn nicht in Ruhe ließ. Wer war ihm nur auf den Fersen, versuchte ihn in den Wahnsinn zu treiben? Es konnte doch niemand etwas wissen. Wer war sein Feind? Wo verbarg er sich, in welcher Biedermannsmaske begegnete er ihm täglich? Perlbach war inzwischen überzeugt, daß nur jemand, der ihn genau kannte, hinter allem stand. War das alles noch als Boshaftigkeit zu werten, oder steckte viel Gemeineres dahinter? Er hatte Angst. Er fühlte sich in die Enge getrieben. Er wußte nicht, gegen wen er sich wehren sollte. Sein Feind trug eine Tarnkappe. Und er mußte viel über ihn wissen. Perlbach langte zur Flasche und trank erneut. In seiner Jacke fand er die Zettel. Die Rechnung und das Stück Papier, das unter seinem Scheibenwischer klemmte. Irgend jemand mußte ihn verfolgt haben, mußte die ganze Zeit in der Nähe gewesen sein, als er in seiner Datsche war. Er hatte es gespürt, mit dem Instinkt des verfolgten Tieres. Doch jener andere war schlau und geschickt. Als er den Rettungsring zur Badeanstalt brachte, hatte er diesen Wisch ans Auto geklemmt. Er besaß das gleiche Format wie jener, den er damals am Morgen vorgefunden hatte. Alles der gleiche Kerl, immer die gleichen Methoden, dachte Perlbach schnapsumnebelt. Du mußt zuschlagen, brutal und unversöhnlich. Kurz darauf war er in einen schweren Schlaf gesunken. Er warf sich im Sessel hin und her. Furchtbare Träume peinigten ihn, doch er erwachte nicht, der Alkohol ließ ihn in jenem Dämmerzustand zwischen Alptraum und Wachen. Er sah sich in einem Boot sitzen, und Brigitte klammerte sich an den Bootsrand. Sie hing im Wasser, Entsetzen in den Augen. Und er schlug mit dem Ruder auf ihre Finger ein, schlug und schlug. Bis ihre Finger sich lösten und sie unterging. Er hörte ein Gurgeln, dann lag 142
Stille über dem Wasser, und er bemerkte mit einemmal, daß es Nacht war um ihn her. Ganz fern waren Lichter zu erkennen. Er ruderte ihnen entgegen, und plötzlich waren wieder Brigittes Hände da, ihr Gesicht tauchte aus den Fluten empor. Doch wie hatte es sich verändert! Ihre Züge waren umschattet, bläulich gefärbt, ein zahnloser Mund schien Worte formen zu wollen, die er nicht verstand, die Haare hingen voller Wasserpflanzen. Brigittes Augen lagen tief. Oder waren sie gar nicht mehr da? Er schlug wieder mit dem Ruder zu. Eine Hand reckte sich ihm entgegen, dann war das Gespenst verschwunden. Er saß in seinem Boot, unfähig, sich fortzubewegen, sah die Lichter, die über dem See standen, weit, weit. Und er saß und spürte seine Arme und Beine steif werden. Er konnte sich nicht mehr bewegen, das Boot trieb weiter, die Lichter entfernten sich immer mehr. Als er erwachte, war es bereits Abend. Noch war es hell draußen, doch die nahende Dämmerung lag schon über der Stadt. Es war fast so heiß wie den ganzen Tag. Perlbach sah sich irritiert um. Die beiden Zettel lagen zu seinen Füßen. Er ließ sie liegen. Seine Jacke hatte er an die Türklinke gehängt. Die halbvolle Flasche Weinbrand-Verschnitt stand neben ihm auf dem Tisch. Seine erste Regung war, sich wieder zu bedienen. Doch ihm war schlecht, seine Zunge quoll im Rachen zu einem würgenden Kloß. Er schluckte krampfhaft. Dann nahm er doch einen Schluck. Du mußt etwas essen, ermahnte er sich. Unbedingt mußt du das tun. Du hast seit dem Morgen nichts zu dir genommen, nur Schnaps und Bier. Mühsam erhob er sich aus den Polstern, schleppte sich zum Radio. Ihm war, als habe man ihm alle Knochen im Leibe gebrochen. Er schaltete den Rundfunkempfänger ein. Eine aufgeregte Reporterstimme kommentierte ein Fußballspiel. Perlbach schaltete das Radio wieder aus. 143
Im Fernsehen wurde eine sowjetische DostojewskiVerfilmung angekündigt. Dann erschien der Vorspann auf dem Bildschirm. „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus.“ Dazu dunkle Orgelklänge, Moll-Töne. Schrift lief ab, die Musik brauste auf zu einem Orkan, der Name des Regisseurs erschien auf der Mattscheibe, dann das Synchronisationszeichen der DEFA. Die ersten Bilder. Ein Mensch lief durch nächtliche Straßen. Totenhaus, Totenhaus, Totenhaus, arbeitete es in Perlbachs Hirn. Und er dachte: Ausgerechnet dies. Er riß den Stecker aus der Buchse. Das Fernsehbild fiel mit einem hellen Punkt in sich zusammen. Er stöhnte gequält auf. Essen, soufflierte ihm sein Gedächtnis, du mußt was essen. Ja doch, ja doch, antwortete er sich selbst. Nur schnell noch einen Schluck vorher, einen ganz kleinen. Er setzte die Weinbrandflasche an. Mein Gott, dachte er, während er den Schnaps durch die Gurgel rinnen ließ, sie ist bald wieder leer. Du mußt dir Nachschub verschaffen. Er trat aus dem Zimmer auf den Korridor. Der Brief lag noch an der gleichen Stelle. Er war ihm entfallen. Zögernd nahm er ihn auf, besah ihn von allen Seiten. Keine Adresse, kein Absender. Er nahm ihn mit in die Küche. Dort warf er ihn auf den Tisch. Dann machte er sich gierig über die Hammelkoteletts her, die er am Vormittag auf dem Tisch vergessen hatte. Der Brief lag vor ihm. Er rührte ihn nicht an. Er ahnte, daß Unheil von ihm ausging. Du solltest ihn verbrennen, sagte er sich, ihn ungeöffnet wegwerfen. Als er die Kotelettknochen in den Mülleimer tat, griff er zum Brief. Soll ich ihn auch … Doch dann ließ er es. Er mußte wissen, was er enthielt. Ungeschickt riß er das Kuvert auf. Ein Bogen mit wenigen maschinegeschriebenen Zeilen. „Lieber Günter“, stand da. Perlbach faßte sich ans Herz, als er die Unterschrift las, die handgeschrieben war: „Deine Brigitte.“ Seine Augen konnten 144
sich nicht von der Schrift losreißen. Im Flur war es schon dämmrig. Er schaltete die Wandlampen ein. War das überhaupt Brigittes Handschrift? Möglich … Sie setzte das große B ähnlich an, und die beiden T in ihrem Vornamen ließ sie so ineinandergleiten. Aber das konnte auch eine Fälschung sein. Es mußte eine Fälschung sein. „Lieber Günter“, las Perlbach zum x-ten Male. „Du sollst doch nicht immer den guten grauen Anzug anziehen, wenn du aufs Grundstück fährst …“ Perlbach schaute erschrocken auf seine Beine. Er hatte tatsächlich den grauen Anzug getragen. „Er ist so empfindlich, und Du schaffst ihn nicht zur Reinigung und bügelst ihn auch nicht. Im Schrank hast Du die Leinenhosen und die graue Windjacke. Die sind doch für die Datsche wahrlich besser geeignet.“ Perlbach las noch einmal die Unterschrift. Deine? Brigitte hatte in ihren kurzen Mitteilungen an ihn, die er zuweilen vorfand, wenn er nach Hause kam, schon lange nicht mehr dieses Possessivpronomen verwendet. Sie hatte Gründe, denn „seine“ Brigitte war sie wohl nie gewesen. Und seit Jahren hatte sie ihre Zettel stets nur mit B unterzeichnet. Wer hatte ihm diesen Brief geschrieben? Wer, wer? Er spielte eine Sekunde lang mit dem Gedanken, zur Polizei zu gehen, Anzeige zu erstatten gegen Unbekannt. Aber hatte das Sinn? Würde man nicht nur noch mehr auf ihn aufmerksam werden? Nein, die Polizei mußte er aus dem Spiel lassen. Er konnte nichts tun als warten, warten bis zu jenem Moment, an dem sein Feind sich eine Blöße gab. Denn irgend etwas mußte er mit seinen Drohungen bezwecken. Ihm war elend. Sein Rücken tat ihm weh. Er faßte sich ans Herz. Schlug es nicht unregelmäßig? Er hätte sich niederlegen wollen, Ruhe finden, sich verschließen vor den Nachstellungen eines abgefeimten Schurken. Aber wie sollte er ihn loswerden, wenn er nicht wußte, mit wem er es zu tun hatte? Du wirst dich nicht erpres145
sen lassen. Wenn du ihn erkannt hast, wirst du zuschlagen, erbarmungslos. Sonst wirst du nie Ruhe finden, niemals. Wieder stellte er sich die Frage: Hat jemand Zutritt zu deiner Wohnung? War es möglich, daß Brigitte einem anderen die Schlüssel anvertraut hatte? Wenn seine Vermutungen zutrafen, konnte es sich nur um Theuerkauf handeln. Wenn er dich bespitzelt und dich fertigmachen will, so mußt du mit gleicher Münze heimzahlen. Am besten, ihn auf frischer Tat ertappen. Kreise drehten sich vor seinen Augen. Ihm war furchtbar übel. Er schleppte sich ins Wohnzimmer zurück, legte sich auf das Sofa. Blicklos starrte er an die Decke. Das Telefon läutete. Er richtete sich auf, griff nach dem Hörer. „Perlbach.“ Am anderen Ende meldete sich niemand. Perlbach vermeinte jedoch, leises Atmen zu vernehmen. „Hallo!“ rief er matt. „Wer ist denn da?“ Ein Klicken ertönte. Perlbach hielt den Hörer noch einige Zeit in der Hand. Die Übelkeit hatte zugenommen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er schluckte seine Tropfen. Sie verschafften ihm keine Linderung. Er stand auf, lief ruhelos im Zimmer auf und nieder. Sein Magen schien nicht mehr auf die Tropfen anzusprechen. Bislang hatten sie ihm immer geholfen. Er fühlte, wie ihm schwindlig wurde. Er tastete sich zum Sofa zurück, legte sich nieder. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wischte ihn mit dem Handrücken fort. Er schaute zum Wecker. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Dunkelheit hatte sich über die Stadt gebreitet. Perlbach atmete schwer. Was war mit seinem Magen los? Hatte der Alkohol seinen Kreislauf so durcheinandergewirbelt? Ein jäher Schmerz ließ ihn auffahren. 146
Perlbach würgte. Das Zimmer drehte sich vor seinen Augen. Haben sie dich vergiftet? schoß es ihm blitzartig in den Kopf. Entsetzen lähmte seine Entschlußkraft. Er saß minutenlang tatenlos da, dann verkrampfte sich sein Magen erneut. Perlbach stöhnte vor Schmerz laut auf. Gekrümmt lief er ins Bad, versuchte, sich zu übergeben. Sein Magen gab nichts her. Ein neuer Anfall ließ ihn neben dem Toilettenbecken zusammensinken. Du mußt zum Arzt! versuchte er sich klarzuwerden. Er stemmte sich am Badewannenrand hoch, lief hinaus in den Korridor. So schnell er konnte, warf er sich eine Jacke über und nahm die Schlüssel an sich. Minuten später saß er im Auto. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die Unfallstation. Der junge diensttuende Arzt diagnostizierte eine schwere Lebensmittelvergiftung. Seine Frage, wann der Patient zum letzten Mal etwas zu sich genommen habe, konnte Perlbach nicht mehr beantworten. Er war während der Untersuchung bewußtlos geworden.
6 „Aber Herr Perlbach, beruhigen Sie sich doch. Ganz sicher täuschen Sie sich.“ Der Psychiater Doktor Volkerts wurde selbst etwas unsicher. Was der andere da hartnäckig behauptete, war schon nicht mehr mit nervlicher Labilität und Überbeanspruchung zu erklären. „Es gibt keine Beweise für Ihre Behauptungen“, fuhr er fort. „Doch, doch, doch“, entgegnete Perlbach entnervt, „man wollte mich vergiften, in meiner eigenen Wohnung, jawohl.“ Er fuhr sich mit einer fahrigen Geste durchs Haar, sprang dann auf und lief hin und her. Doktor Vol147
kerts beobachtete ihn, bemerkte auch, daß Perlbach sich mit dem Taschentuch über die Stirn fuhr, obschon er gar nicht schwitzte, daß er das Tuch in seinen Händen knüllte, sich dann unsinnigerweise damit die Schuhe blank rieb. „Setzen Sie sich wieder, Herr Perlbach, und beruhigen Sie sich erst einmal. Oder soll Ihnen die Schwester eine Injektion vorbereiten?“ „Nein!“ schrie Perlbach, dann besann er sich, wem er gegenübersaß, und schüttelte wortlos den Kopf. Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und sah an Volkerts vorbei aus dem Fenster. „Schauen Sie“, sagte der Arzt, und er suchte seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, „der Befund meines Kollegen von der Unfallstation war ganz eindeutig. Und der Toxikologische Dienst hat festgestellt, daß Sie eine schwere Fleischvergiftung hatten. Sie gaben selbst an, Fleisch gegessen zu haben, das schon mehrere Tage zubereitet lag. Und sie sagten weiterhin, sie hätten es an jenem betreffenden Tage nicht wieder in den Kühlschrank gestellt, sondern es vergessen. Tja, Herr Perlbach, bei der Hitze der letzten Tage muß das Fleisch verdorben gewesen sein.“ Perlbach hatte immer noch das Tuch in den Händen und starrte ins Leere. „Stecken Sie das Tuch doch bitte ein, schauen Sie mich an, und hören Sie mir zu“, bat Volkerts. „Sehen Sie“, setzte er schnell seinen Satz fort, als er wahrnahm, daß Perlbach ihm Gehör schenkte, „die Symptome sind ganz eindeutig. Und wenn eine schwere Vergiftung vorliegt, wie in Ihrem Falle, dann kann es auch zu einem Kreislaufversagen oder zu einem Ohnmachtsanfall kommen. Außerdem“, fuhr er sachlich fort, „hatten Sie erhebliche Mengen Alkohol genossen, was unter den gegebenen Umständen die Wirkung der Vergiftungserscheinungen noch gesteigert hat.“ 148
Als Perlbach nichts entgegnete, blätterte er in einem dünnen Aktenstoß. „Hier, Sie gaben an, Hammelkoteletts gegessen zu haben, die einige Tage alt waren.“ „Nein, Sie können mich nicht überzeugen“, warf Perlbach dazwischen. „Man trachtet mir nach dem Leben. Irgend jemand im verborgenen, der nur auf die Chance lauert.“ Perlbachs Hände fuhren auf dem Tisch des Arztes umher. „Aber wer um Gottes willen sollte Sie umbringen wollen?“ fragte Volkerts irritiert. „Haben Sie Feinde? Glauben Sie, daß es mit dem rätselhaften – Verschwinden Ihrer Gattin in Zusammenhang zu bringen wäre?“ „Wieso?“ fuhr Perlbach, plötzlich hellhörig geworden, auf. „Was soll das mit meiner Frau … Wie kommen Sie darauf?“ „Weil ich nach den Ursachen Ihres jetzigen Zustandes forsche und annehmen muß, daß Ihnen diese mysteriöse Angelegenheit mit Ihrer Gattin nicht gleichgültig geblieben ist.“ „Nein“, beeilte sich Perlbach zu versichern und schüttelte dabei heftig den Kopf, „mit meiner Frau … Nein, gar nichts, absolut nichts.“ „Dann glauben Sie also einen Feind zu haben, der Sie töten will?“ Volkerts Gesicht drückte Unglauben und leichte Verärgerung aus. „Ja.“ Perlbach nickte überzeugt. „Und wer sollte das sein?“ „Weiß ich nicht. Irgendwelche – Leute … Glauben Sie mir, die Menschen sind boshaft und heimtückisch, oh, ich habe sie kennengelernt und lass’ mich nicht täuschen.“ Perlbach fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Vielleicht eine geheimgehaltene Aversion eines Neiders … beruflich … Immerhin habe ich eine exponierte Stellung. Oder auch ein entfernter Bekannter, sogar ein Nachbar ist möglich. Oder …“, Perlbach zö149
gerte, als käme ihm ein völlig neuer Gedanke, „ein Verrückter, das ist doch denkbar, davon hat man doch schon gehört, nicht wahr? Geisteskranke Triebtäter, die morden, ohne ihr Opfer jemals vordem gesehen zu haben.“ Doktor Volkerts hatte seinem Patienten eine Weile zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Ihm war nicht entgangen, in welch außerordentlicher Erregung sich sein Gegenüber befand. Seltsam kam ihm vor, daß sich dieser Stau an Verwirrung und Verkrampftheit während ihres Gespräches nicht gelockert hatte. Bislang war Perlbach nach jeder Konsultation erleichtert und beruhigt gegangen. Doch heute schien er besonders aufgebracht zu sein. Auch wollte es ihm zum erstenmal scheinen, als verschweige Perlbach etwas Wichtiges. Er glaubte nicht an Perlbachs Version des Vergiftens, doch er begann sich zu fragen, ob Perlbach nicht doch Verdachtsmomente hatte, gegen irgend jemanden, ob seine Ausbrüche nicht auf grenzenlose Furcht und auf Haßgefühle zurückzuführen waren. Noch vor Wochen nahm er den Fall Perlbach als eine Routinesache. Überarbeitete und überspannte Patienten behandelte er des öfteren. Doch offenbar litt Perlbach wirklich. Das war nicht zu übersehen. Was trieb ihn zu seinen wahnwitzigen Vermutungen? „Wie, glauben Sie eigentlich, sollte der von Ihnen angenommene Täter an Ihre Hammelkoteletts herangekommen sein? Sie sagten, daß Sie sie in Ihrer Küche aufbewahrten?“ „Schlüssel“, entgegnete Perlbach tonlos, „es gibt schließlich versierte Schlosser, die das im Handumdrehen … Sogar ein Sicherheitsschloß ist für solche kein Problem.“ „Und Sie glauben, daß man in Ihrer Abwesenheit in Ihre Wohnung eingedrungen ist?“ „Vielleicht. Auch möglich, daß die Koteletts schon vorher präpariert waren.“ 150
„Dann müßte Ihr Fleischer einer Ihrer Todfeinde sein.“ Volkerts versuchte es mit einem Scherz. „Schlächter mögen zwar schon manchem Schwein, Rind oder – wie in Ihrem Falle – Hammel das Lebenslicht ausgeblasen haben, aber, Herr Perlbach, diese Vorstellung ist doch geradezu abenteuerlich.“ Perlbach rang die Hände. „Glauben Sie mir doch. Ich spüre es mit jeder Faser meines Körpers. Ich ahne einen Schatten hinter mir.“ Der Psychiater langte nach seinem Rezeptblock. „Ich werde Ihnen starke Beruhigungstabletten verschreiben, zuerst einmal für die nächsten Tage. Dann schreibe ich Sie krank, und Sie erholen sich auf Ihrem Grundstück.“ „Nein“, rief Perlbach, und seine Augen flackerten unruhig, „nicht krank schreiben! Außerdem … ich werde jetzt in meinem Institut gebraucht, und mein Häuschen … Nein, ich denke, daß das nicht das Richtige für mich ist.“ Doktor Volkerts zog verwundert die Brauen hoch. „Sie sagten doch neulich, daß sie sich auf Ihrem Grundstück sehr wohl fühlten und sich dort entspannen könnten?“ „Nun ja“, wich Perlbach aus, „manchmal schon, zu gewissen Zeiten. Aber dann auch wieder nicht … Es liegt am Wetter sozusagen.“ „Was wollen Sie, wir haben einen prachtvollen Sommer, geradezu ideal für einen Urlaub vom Ich.“ „Nein, schreiben Sie mich nicht krank, ich muß arbeiten, meine Studenten, Sie verstehen … Und dann stehen Halbjahresberichte an, die ich nicht liegenlassen kann.“ „Wie Sie wünschen. Aber medizinisch wäre es für Sie klüger, wenn Sie gerade jetzt ausspannen würden.“ „Später vielleicht, Herr Doktor.“ Perlbach hatte sich wieder erhoben und seinen Rundgang durch Volkerts Zimmer fortgesetzt. Wieder das gleiche Spiel mit dem Taschentuch. 151
„Eigentlich dürfte ich Sie in diesem Zustand nicht arbeiten lassen“, sagte der Psychiater. „Weshalb?“ brauste Perlbach auf. „Ich bin doch völlig gesund. Nur, daß ich mich vorsehen muß vor meinen Verfolgern.“ Volkerts war nicht entgangen, daß Perlbach im Plural gesprochen hatte. Anzeichen von Verfolgungswahn, konstatierte er, möglicherweise sogar eine Schizophrenie, die sich im Ausbruch befindet. Laut sagte er: „Auf jeden Fall würde ich Ihnen dringend raten, weiterhin in Behandlung zu bleiben. Vielleicht könnten Sie auch eine Kur … im Herbst oder Winter …?“ „Ja“, entgegnete Perlbach fahrig, „wenn ich meinen Widersacher zur Strecke gebracht habe. Und ich werde ihn erwischen.“ Volkerts sah seinen Patienten lange und aufmerksam an. „Herr Perlbach, glauben Sie mir, Sie jagen einem Phantom nach. Sie reden sich ein, verfolgt zu werden. Das kann ein vorübergehendes Krankheitsbild sein, und es ist durchaus heilbar.“ Perlbach hatte es plötzlich eilig, die Konsultation zu beenden. Hastig griff er nach dem Rezept, dann verabschiedete er sich kurz. Perlbach betrat sein Arbeitszimmer und hatte sofort das Gefühl, daß jemand in seiner Abwesenheit hier gewesen sein mußte. Er hätte nicht auf Anhieb zu sagen gewußt, weshalb ihm diese Ahnung kam. Doch als er an seinen Schreibtisch trat, der in den letzten Wochen nicht mehr, wie früher, peinlich aufgeräumt war, entdeckte er unter seiner Federschale ein Buch. Er wußte, daß dort nie Bücher lagen, und er sah auch sofort, daß es sich nicht um ein Fachbuch handeln konnte. Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, nahm er mit leicht angewidertem Gesicht das Bändchen zur Hand. Es war ein Kriminalroman, in knalligen Farben aufge152
macht. Raymond Chandler: Die Frau im See. Solche Bücher pflegte Perlbach sich nicht zu kaufen. Perlbach warf das Buch augenblicklich in sein unterstes Schubfach. Dann ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und stützte den Kopf in die Hände. Wer hatte ihm diese Schwarte untergejubelt? Der Titel des Krimis war doch kein Zufall! Perlbach war der Verzweiflung nahe. Er rannte zur Tür, riß sie auf und sah den Korridor hinab. In einem der Nebenzimmer klapperte eine Schreibmaschine. Zwei Kollegen, die Perlbach flüchtig kannte, kamen vorüber und grüßten. Perlbach sah sie mit wirrem Blick an. Hatte der eine von ihnen nicht ein hämisches Grinsen? Er fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß hinab. Er wußte, daß die Kantine bereits geöffnet hatte. Einige Kolleginnen standen in der winzigen Institutskantine vor ihm, bestellten sich Kaffee und belegte Brötchen. Perlbach wartete ausdrücklich, bis sie gegangen waren, dann verlangte er eine Flasche Weinbrand. „Wir haben nur den juten, sowjetischen, Dreistern, macht zweeunddreißig Märker“, sagte die Verkäuferin in urberlinisch und hielt ihm die Flasche vor die Nase. „Geben Sie schon her“, sagte er und bezahlte. „Ich hab’ natürlich ooch den janz teuren, Hennessy für muntere achtzig Dinger.“ Sie grinste ihn an. „Schmeckt wirklich jut, is aba nur wat für Millionäre, wa?“ Perlbach war schon gegangen. Die Verkäuferin, die gern ein Schwätzchen gemacht hätte, sah ihm ärgerlich nach. „Manieren haben die Kerls manchmal!“ Perlbach hielt die Flasche unter seinem Sakko versteckt. Es gab zwar kein generelles Alkoholverbot im Hause, zuweilen, wenn einer der Kollegen Geburtstag hatte, oder zu anderen Anlässen wurde schon mal ein Gläschen genommen, doch der Chef, Doktor Mertin, sah es nicht gern. Es hieß, er trinke nur Kaffee und Lauchstädter Brunnen. Hoffentlich läuft dir keiner über den Weg, bangte Perlbach. 153
In seinem Zimmer angekommen, entkorkte er die Flasche hastig und setzte sie an die Lippen. Von draußen hörte er Schritte. Perlbach beeilte sich, den Weinbrand in seinem Schreibtisch zu verstecken. Dabei fiel sein Blick erneut auf die Krimi-Schwarte! Er nahm sie heraus und warf sie in den Papierkorb. Ob Sabbelkow mit alldem zu tun hatte? Er war der Kollege, mit dem er am engsten zusammengearbeitet hatte. Sabbelkow mußte Brigitte flüchtig gekannt haben. Vielleicht hatte er es witzig oder geistvoll gefunden, ihm einen Roman dieses Titels auf den Schreibtisch zu legen! Perlbach geriet erneut in Wut und Angst. Keine Fehler, keine Fehler! raunte eine innere Stimme unablässig in ihm. Er ging in Sabbelkows angrenzenden Raum hinüber. Der jüngere Kollege empfing ihn gutgelaunt. „Gut, daß du kommst“, rief er fröhlich, „der Alte hat angerufen. Er wünscht deiner angesichtig zu werden.“ „Wer, Mertin?“ „Kennst du noch einen Alten?“ „Was will er denn morgens von mir?“ „Weiß ich doch nicht. Aber“, Sabbelkow hielt die Hand vor den Mund, wie zu einer verschwörerischen Vertraulichkeit, „man erzählt sich, daß er zu dieser Zeit immer Standpauken erteilt.“ Perlbach fand dieses alberne Gehabe Sabbelkows wieder einmal anmaßend und impertinent. Doch der Jüngere hatte kurz entschlossen wieder seine FußballZeitung zur Hand genommen. „Seit wann liest man morgens hier Sportzeitungen?“ fragte Perlbach giftig. „Immer dann, wenn Dresden so gut in der Tabelle steht wie in diesem Jahr“, gab Sabbelkow prompt zurück. „Sag mal“, Perlbach zögerte einen Moment, „hast du mir diesen Kriminalroman hingelegt?“ 154
„Nein. Wieso? Hast du ’nen guten? Den kannst du mir bei Gelegenheit pumpen.“ Perlbach schloß die Tür hinter sich. Sabbelkow las weiter Sportberichte. Die Sekretärin des Institutsleiters empfing ihn mit der Reserviertheit, die den meisten Chefsekretärinnen eigen ist. „Ach, da sind Sie ja. Herr Doktor Mertin wartet schon“, sie sah auf ihre zierliche goldene Armbanduhr, „eine halbe Stunde.“ Der Direktor begrüßte ihn kühl. „Setzen Sie sich bitte. Wir haben über einiges zu sprechen.“ Er setzte sich Perlbach in einem Klubsessel gegenüber. Dabei mußte ihm aufgefallen sein, daß sein Mitarbeiter einen leichten Schnapsatem hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde, und so, daß Perlbach es nicht bemerkte, verzog er das Gesicht. „Ich will nicht lange herumreden, Kollege Perlbach. Ich bin in letzter Zeit mit Ihrer Arbeit unzufrieden. Und nicht nur ich. Auch ihr Abteilungsleiter klagt darüber.“ Perlbach schwieg bestürzt. Dann zog er das zerknüllte Taschentuch hervor, das noch Spuren seines Schuhreinigens trug, wollte sich die Stirn abwischen. Als er den Schmutz bemerkte, vergrub er es wieder in seiner Hosentasche. Mertin war dieser Vorgang nicht verborgen geblieben. „Sehen Sie, mir wurde berichtet, daß Sie nicht mehr in ausreichender und befriedigender Art Ihren Aufgaben nachkommen.“ „Wer sagt das?“ fuhr Perlbach auf. „Nun, Sie haben zum Beispiel die Halbjahresberichte, die ich Ihnen ausdrücklich ans Herz legte, nicht rechtzeitig geliefert. Ihre Zuarbeiten kommen oft verspätet und sind lückenhaft, so daß die anderen Kollegen damit kaum arbeiten können, präzise: Einige wichtige Analysen mußten noch einmal vorgenommen werden. Und dann noch etwas. Wie ich erfuhr, haben Sie sich um Ihre 155
Praktikanten so gut wie nicht gekümmert. Wenn die Diplomarbeiten heute vorliegen, so nicht wegen, sondern trotz Ihrer Mentorschaft.“ „Ja, aber …“, wollte Perlbach aufbegehren. „… ich weiß, die schlimme Geschichte mit Ihrer Frau. Sehen Sie, wir haben sehr lange Rücksicht genommen, haben Sie von allen zusätzlichen Verpflichtungen entbunden. Doch die Praktikantengruppe, die ich einem anderen Kollegen zuführen wollte, blieb auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin bei Ihnen. Nur haben Sie sich nie um die jungen Leute bemüht. Ich weiß, daß es seit fast drei Monaten keine einzige Konsultation gegeben hat. Haben Sie überhaupt schon eine, wenigstens eine“, der Chef skandierte das letzte Wort, „Diplomarbeit gelesen?“ „Nein, ich wollte … Leider kam ich nicht dazu“, stotterte Perlbach. „Sehen Sie, das ist es, was ich meine. Außerdem heißt es, daß Sie seit Monaten stark dem Alkohol zusprechen. Stimmt das?“ „Nun, wissen Sie, durch meine Frau … Es war alles sehr schwer für mich, man ist als verheirateter Mann das Alleinsein nicht gewohnt.“ Mertin winkte ab. Dieses Argument hatte kaum Gewicht bei ihm. Er galt als eingefleischter Junggeselle. „Ich bin bereit einzusehen“, fuhr der Institutsdirektor fort, „daß Sie Probleme haben. Das kann ich Ihnen nachfühlen. Aber: Sie meiden das Kollektiv. Das kann ich als Leiter dieses Hauses nicht gutheißen. Ich habe Sie weder bei der Besichtigung unseres Kooperationsbetriebes noch bei der Exkursion nach Weimar entdecken können.“ Perlbach wand sich auf seinem Sessel. Er fühlte sich ungerecht behandelt, wenn er auch eingestehen mußte, daß der Chef in einigen Dingen nicht ganz unrecht hatte. Die Halbjahresanalysen waren ihm tatsächlich lang und 156
beschwerlich geworden, doch daß man ihm daraus einen Strick drehte, das empfand er als Gemeinheit. Wer wollte ihm ans Leder? Vielleicht seinen gutbezahlten Posten selbst ergattern? Mochte der um fast zehn Jahre jüngere Sabbelkow auch hier geschickt seine Informationen ausgestreut haben, um ihn, Perlbach, abzulösen? „Ich sehe ein“, sagte er mit dumpfer Stimme, „daß mir die Arbeit seit dem Tode“ (er sagte tatsächlich: Tode) „meiner Frau schwerer fällt. Ich bin nervlich überlastet und habe mich schon von einem Nervenspezialisten beraten lassen.“ Mertin fixierte sein Gegenüber sehr gründlich. „Sie befinden sich also in psychiatrischer Behandlung?“ „Gewissermaßen“, gab Perlbach zu, „das heißt, eigentlich sind es mehr klärende Gespräche. Zuweilen nehme ich auch ein Beruhigungs- und Schlafmittel.“ „Ich kann Ihnen zur Zeit leider keinen Urlaub bewilligen“, sagte Mertin, „Sie kennen unsere Arbeitskräftesituation. Zudem ist gerade Ferienzeit. Selbst meine Sekretärin wird morgen wegfahren. Es ist zum Haareausraufen.“ Mertin räusperte sich. Sein Haarwuchs war äußerst spärlich, und einige spitzzüngige Kollegen nannten ihn „Doktor Glatzköpfchen“. Natürlich hatte Mertin davon Wind bekommen. Und so war es ihm jetzt etwas peinlich, diesen bildlichen Vergleich gebraucht zu haben. Perlbach achtete nicht auf die kurze Verlegenheit seines Chefs. Er saß zusammengesunken in seinem Sessel und fühlte sich innerlich zerbrochen. Dieser Mertin, wußte er, galt als Pedant, er duldete keine Schlampereien, doch bislang war er stets gut mit ihm ausgekommen. Warum ließ man ihn mit einemmal fallen? War es nicht tatsächlich so, daß viele Kollegen, die früher noch freundlich gegrüßt hatten, ihm heute aus dem Weg gingen? Mied man ihn nicht schon im Speisesaal und auf den Versammlungen? War seine Absetzung gar schon beschlos157
sene Sache? Kam Sabbelkow nicht noch vor Monaten täglich mehrere Male in sein Zimmer? „Ich kann nur sagen, daß ich mich bemühen werde, in Zukunft wieder bessere Leistungen zu erzielen.“ Leise fügte er hinzu: „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Ärger bereitet habe.“ „Schon gut“, und damit entließ ihn der Direktor, „die Studenten haben ihr Praktikum erfolgreich absolviert, Sie können also wenigstens diesen Aufgabenbereich vorläufig für erledigt ansehen. Im nächsten Studienjahr werde ich, um Sie zu entlasten, Herrn Sabbelkow mit dieser schwierigen Aufgabe betrauen.“ Also doch dieser Sabbelkow, der Intrigant, der Schleimer, dachte Perlbach haßerfüllt. Als er schon in der Tür stand, rief Mertin ihn noch einmal zurück. „Was ich noch sagen wollte … Achten Sie doch wieder mehr auf Ihre äußere Erscheinung … Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mir liegt es fern, Ihre Kleidung zu beanstanden, nur … Wir haben viele internationale Gäste in unserem Hause … Sie verstehen.“ Perlbach sah unwillkürlich auf seinen Anzug. Der war wirklich seit Brigittes Tod nicht mehr gebügelt worden. Des öfteren erschien er in letzter Zeit unrasiert und mit durchgeschwitztem Hemdkragen zur Arbeit. Trotzdem empfand er es als Frechheit, daß Mertin ihn darauf hinwies. Doch er sagte nichts dazu, nickte nur stumm und verließ Mertins Arbeitszimmer als ein geschlagener Mann. In sein Büro zurückgekehrt, griff er sofort nach der Flasche. Nachdem er mehrere Schlucke genommen hatte, wollte es ihm erneut erscheinen, als habe der Alkohol lindernde, beruhigende Wirkung. Dennoch ballte er die Fäuste, wenn er an das soeben beendete Gespräch dachte, vor allem aber, wenn ihm Sabbelkow einfiel, der nebenan saß und schon auf seinen Sessel spitzte. Perlbach war jetzt davon überzeugt, 158
daß Sabbelkow an der Verleumdungskampagne gegen ihn beteiligt sei. Auch schien ihm Sabbelkow mit einemmal als derjenige, der am ehesten in der Lage war, sich den Schlüssel zu seinem Büro zu beschaffen und ihm dieses Buch auf den Schreibtisch zu legen. War der Kerl nur versessen auf seine Position oder wollte er ihn fertigmachen, ihn endgültig vernichten? Er gewahrte, daß er sein Jackett mit Weinbrandflecken verschmutzt hatte. Er wischte sie nicht weg. Früher hatte es das nicht gegeben. Er galt als gutangezogener Kollege. Was soll es jetzt noch, dachte er resigniert. Die haben ihr Bild über mich sowieso fertig. Du machst deine Arbeit schlampig, du kleidest dich wie ein Penner, du bist zu nichts mehr zu gebrauchen. Perlbachs Zorn wandelte sich allmählich – auch unter dem Einfluß des Alkohols – in tiefe Niedergeschlagenheit. Er verspürte keine Kraft mehr in sich, zu Sabbelkow hinüberzugehen und ihm die Meinung zu sagen. Er langte in einem Schubfach nach seinem Magenpräparat, spülte die kleine gelbe Pille mit Weinbrand hinunter. Was soll ich nur tun? dachte er gehetzt. Wo soll ich mich verkriechen? Überall fühlte er sich umstellt und beargwöhnt. War es doch richtig, auf das Angebot des Arztes einzugehen und sich krank schreiben zu lassen? Nein, das konnte er sich nicht mehr leisten, nicht nach der Aussprache mit Mertin. Man würde es als Flucht werten, als Versuch, allen Problemen aus dem Weg zu gehen. Eventuell verlöre er sogar seine Arbeitsstelle ganz? Unzuverlässigkeit in allen Belangen, gesellschaftliche Inaktivität und Desinteresse könnte es heißen. Und wo sollte er hin, wenn er krank geschrieben wäre? Sein Haus am Plessensee war ihm seit dem letzten Besuch verleidet. Er konnte dort keine ruhige Minute finden. Und zu Hause? Da ging es ihm ähnlich. Er besaß keine Freunde und engen Bekannten, zu denen er hätte fahren können. Er wollte auch keine Menschen sehen. 159
Seit Tagen mied er sie besonders. Sogar während seines drei Tage währenden Aufenthaltes in der Poliklinik schreckte er vor harmlosen Gesprächen mit Schwestern oder Ärzten zurück. Die Krankenhauskost nahm er nur sehr zurückhaltend an und stets erst dann, wenn er gesehen hatte, daß andere Patienten sie unbeschadet zu sich nahmen. Er war nach wie vor fest überzeugt, daß man ihn habe vergiften wollen, obschon er sich zuweilen eingestand, daß die realen Möglichkeiten dafür sehr gering waren. Trotzdem kamen ihm stets von neuem die Rettungsringe in den Sinn, er sah Brigittes Kleid ausgebreitet vor sich liegen, entsann sich der Hammelkoteletts, die ihm so appetitlich erschienen waren. Und dann gab es jene unbeschriebenen Zettelchen unter seinen Scheibenwischern, die ihn immer von neuem an sein Verbrechen erinnerten. Und wer hatte ihm die Illustrierte geschickt? Wer rief ihn an, des öfteren schon, ohne sich zu melden? Sollten das alles Zufälle sein? Im gleichen Augenblick schrillte das Telefon. Perlbach nahm den Hörer ab. Plötzlich eine verstellte Stimme: „Perlbach, erkennst du es wieder, das Röcheln eines ertrinkenden Menschen?“ Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen, rannte zum Waschbecken und übergab sich. Als sein Magen sich halbwegs beruhigt hatte, wankte er zu seinem Schreibtisch zurück. Ihm war elend. Er wollte untertauchen, sich unsichtbar machen, vom Erdboden verschwinden. Doch er wußte mit einemmal, daß es ihm nicht gelingen würde. Er trank erneut. Der Schnaps brannte an seinen empfindsamen Magenschleimhäuten. Trotzdem, dachte er, du mußt dich betäuben, du mußt vergessen, nicht mehr hinhören, nichts mehr sehen. Als er die Schnapsflasche erneut an den Mund setzte, war, von ihm unbemerkt, Frau Leuchter, eine Sekretärin aus der Posteingangsstelle, eingetreten. Sie sah, wie Perl160
bach zwei Daumen breit der alkoholischen Flüssigkeit in sich hineinschüttete. Dann räusperte sie sich diskret. Perlbach fuhr herum und versuchte, mit einer blitzschnellen Bewegung die Flasche vor den Augen der Frau zu verbergen. Doch er sah ihrem Gesicht an, daß sie alles gesehen hatte. „Können Sie nicht anklopfen?“ schrie er mit heiserer Stimme. „Ich habe geklopft“, verteidigte sich die Frau. „Nur, Sie reagierten nicht.“ Mit diesen Worten warf sie einen vieldeutigen Blick auf die halbleere Kognakflasche. „Was wollen Sie denn?“ fragte Perlbach. Die Sekretärin erkannte erst in diesem Augenblick, daß Perlbachs Gesicht verquollen war und eine ungesunde, grünliche Farbe hatte. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte sie. „Legen Sie sich doch einen Moment in den Ruheraum.“ Perlbach wischte ihren Vorschlag beiseite. „Also, was gibt es?“ „Ein Brief für Sie. Er ist eben per Eilboten und Einschreiben gekommen. Sie müßten gegenzeichnen.“ Perlbach besah den Brief. Ein gewisser Gunter Schubert hatte ihn aufgegeben. Der Brief war in Berlin abgeschickt worden. „Schubert – Schubert … Kenne keinen Herrn dieses Namens.“ „Er ist aber ausdrücklich an Sie adressiert, mit dem Vermerk ‚persönlich‘.“ Perlbach besah sich das Kuvert genauer. Es war ein gewöhnlicher, billiger Briefumschlag, wie man ihn in jedem Schreibwarenladen erwerben konnte. Wenn dieser Schubert etwa jener geheimnisvolle Fremde ist, durchzuckte es ihn. Vielleicht begann er jetzt, seine Forderungen zu stellen? Perlbach quittierte den Empfang des Schreibens, wartete mit dem Öffnen des Briefes, bis die Sekretärin das Büro verlassen hatte. Sie tat es nicht, ohne ihn noch 161
einmal zu ermahnen, er möge sich doch ausruhen, er sehe sehr schlecht aus. Als die Schritte der Kollegin draußen auf dem Korridor verklungen waren, riß er den Brief hastig auf. Er enthielt einen kurzen Schreibmaschinentext, der mit dem Vornamen seiner Frau unterzeichnet war. Diesmal war sich Perlbach sicher, daß die Handschrift nicht mit Brigittes Schriftzügen übereinstimmte. „Lieber Günter“, las er, „ich erwarte Dich auf Hiddensee, wo wir so schöne Stunden verleben durften. Komme bald, ich habe Wichtiges mit Dir zu bereden. Brigitte.“ Raffinierter Trick, dachte Perlbach. Doch plötzlich überkam ihn eine unerwartete Erleichterung. Er wird sich mir stellen müssen; überlegte er, und dann werde ich zuschlagen. Er ging noch einmal den Text durch. Jeder Fremde konnte ihn geschrieben haben. Und die Unterschrift Brigittes war gefälscht, dessen war er gewiß. Obgleich die Züge auch dieses Mal wieder Ähnlichkeit mit Brigittes Handschrift aufwiesen. Sollte sie es doch selbst sein? fragte er sich einen Moment lang. Doch nach einigem Überlegen verwarf er den Gedanken zum hundertsten Male. Jemand anders hatte die Hand im Spiel und versuchte ihn zu erpressen. Wahrscheinlich jemand, den er kannte. Woher sonst sollte der Fremde seine Informationen haben? Wie sonst hatte er seinen Wohnort und sein Grundstück ausfindig machen können? Perlbach zerriß den Brief in kleine Schnipselchen, die er in seinen Papierkorb warf. Am Nachmittag des gleichen Tages fand er auf dem Sitz seines Wagens einen weiteren Zettel. Bei näherem Hinsehen zeigte es sich, daß es sich um die ausgerissene Seite eines Kursbuches handelte. Die Tabellen wiesen die Dampferabfahrtszeiten von Stralsund zur Insel Hidden162
see aus. Auf der Rückseite fand sich ein aufgeklebtes Schreiben. „Erwarte Dich kommenden Sonntag auf der Insel. Treffpunkt Kloster. Du wirst Näheres noch erfahren.“ Perlbach, der seinen Wagen wegen erheblichen Alkoholgenusses ohnehin nicht fahren konnte, ging in die nächste Kneipe.
7 „Wissen Sie, Herr Doktor“, sagte Hauptmann Beeskow, „es sind da einige Anhaltspunkte und Verdachtsmomente im Fall Perlbach hinzugekommen, so daß ich Sie noch einmal persönlich aufsuche.“ Der Psychiater führte den Kriminalisten in seinen Behandlungsraum. „Worum geht es?“ fragte er, nachdem sich beide gesetzt hatten. Beeskow zögerte nicht lange. „Ich weiß, daß mein Kollege schon vor Wochen bei Ihnen war, und ich weiß auch, daß Sie an Ihren ärztlichen Eid gebunden sind. Doch Sie sagten damals sinngemäß, daß Sie sich Ihrer Schweigepflicht dann entziehen könnten, wenn die Gewißheit bestünde, daß ein Verbrechen vorbereitet werden soll.“ Der Arzt nickte. „Wir möchten als Morduntersuchungskommission des Bezirkes Rostock gern Näheres über den Krankheitsverlauf und seine möglichen Hintergründe bei Günter Perlbach erfahren. Wir wissen, daß er Schecks seiner Frau unberechtigt einlöst. Und wir nehmen an, daß er sich noch öfter ‚bedienen‘ wird. Es ist uns bekannt, daß Ihr Patient seit Wochen, genauer, seit dem Verschwinden seiner Frau, unmäßig viel Alkohol trinkt. Wahr163
scheinlich wird ihn das in finanzielle Bedrängnis gebracht haben. Er fälscht die Schecks mit der Unterschrift seiner Frau.“ „Dieser Mann ist mir ein Rätsel“, begann der Psychiater. „Zunächst kam er zu mir, weil er sich überarbeitet und überfordert fühlte. Ich verschrieb ihm entsprechende Präparate, die er auch – soweit mir bekannt – eingenommen hat. Doch seit etwa vierzehn Tagen hat sich sein Zustand bedenklich verändert. Ich sah es eigentlich für unerläßlich an, ihn krank zu schreiben, doch er weigerte sich strikt, behauptete, in seinem Institut momentan unentbehrlich zu sein. Ich konnte ihn nicht mit Gewalt hindern.“ „Sein Institut könnte ihn wahrscheinlich sehr wohl entbehren, denn wir wissen, daß er seiner Tätigkeit seit Wochen nur oberflächlich nachgeht, daß es Auseinandersetzungen mit Kollegen gab und sogar eine Art Kadergespräch mit dem Leiter des Instituts. Anders gesagt: Perlbach läßt sich gehen, trinkt, auch während seiner Arbeitszeit, kommt manchmal erst gegen Mittag und dann verkatert oder noch halb betrunken, so daß ein sinnvolles Arbeiten kaum möglich ist. So ist der Stand im Augenblick.“ „Das verwundert mich eigentlich nicht“, entgegnete der Psychiater, „denn ich habe ihn beim letztenmal in einem solch – desolaten Zustand angetroffen, daß ich geneigt war, meine anfangs gestellte Diagnose zu revidieren beziehungsweise sie zu präzisieren.“ „Inwiefern?“ „Bei unserem letzten Gespräch zeigte Herr Perlbach alle Anzeichen eines hochgradigen Verfolgungswahnes. Er litt unter dem Wahn des Gehetzt- und Umhergetriebenseins. Normalerweise das Syndrom einer sich ausweitenden Schizophrenie. Als besonders gravierend kommt hinzu, daß Herr Perlbach meint, man wolle ihn töten.“ „Ist das – krankheitsbedingt?“ fragte Beeskow. 164
„Auch. Aber es gab einen winzigen Anlaß. Der Patient zog sich eine Fleischvergiftung zu. Eine nicht alltägliche Sache, aber auch nichts Außergewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Seither glaubt er, daß ein Fremder das Fleisch, von dem er gegessen hat, vergiftet habe. Er sprach sogar von Feinden, die ihm auflauern wollten. Er war außerordentlich verkrampft und konnte sich während unseres ganzen Gesprächs kaum konzentrieren. Mein Argument, daß hinter seiner Vergiftung keine Absicht stünde, hielt er für nicht überzeugend.“ Beeskow nickte. Dann fragte er: „Worin, glauben Sie, könnten die Ursachen für Perlbachs Verfolgungswahn liegen?“ Volkerts wiegte bedächtig den Kopf. „Ich bin mir, wie schon gesagt, nicht sicher. Ich glaube nach wie vor nicht daran, daß es sich hier um echte Formen schizoiden Verhaltens handelt.“ „Sondern?“ „Eher, daß Herr Perlbach tatsächlich verfolgt wird. Die Sache mit dem Fleisch ist natürlich absurd. Doch vielleicht gibt es andere Gründe, die ihn bewogen haben, daran zu glauben, man wolle ihm ans Leben.“ „Hat er Ihnen nie etwas darüber erzählt?“ fragte Beeskow. „Nein: Und das macht die Behandlung nicht eben leichter. Von Mal zu Mal habe ich mehr das Empfinden, als halte er die wirklichen Gründe, die ihn zu mir führen, verborgen. Doch das ist keineswegs bewiesen. Ich schließe es daraus …“ „… ja?“ stieß Beeskow neugierig nach. „… daß bei ihm echte Verdrängungsmanien vorliegen. Er möchte nur an die angenehmen Seiten des Lebens erinnert werden. Das ist bei überarbeiteten Patienten durchaus üblich. Deshalb meine anfängliche Therapie. Ich riet ihm, sich nicht in Erregungszustände hineinzu165
steigern, sondern sich mit schönen, Spaß machenden Beschäftigungen abzulenken.“ „Und wie reagierte er darauf?“ „Er nahm zunächst durchaus meinen Rat an. Später allerdings … ich weiß nicht, ich glaube, es hängt mit dem Verschwinden seiner Frau zusammen.“ „Woraus schließen Sie das?“ „Jedesmal, wenn wir auf sie zu sprechen kamen, unterbrach er abrupt das Gespräch, lenkte ab oder begann von anderem zu reden. Als ich ihn bei unserer letzten Zusammenkunft fragte, ob seine Angstzustände mit dem mysteriösen Verschwinden …“ „… sagten Sie tatsächlich mysteriös ?“ „Ja. Ich fragte ihn, ob alles mit dem mysteriösen Verschwinden seiner Frau zusammenhänge. Und er reagierte erschrocken, fast verstört, beteuerte jedoch, nein, auf keinen Fall, das hätte damit nichts zu tun.“ „Also macht er auch Ihnen etwas vor“, resümierte Beeskow kurz. „Und nun will ich Ihnen mal reinen Wein einschenken. Perlbach steht unter Mordverdacht. Wir haben keine Beweise, nicht einmal Indizien. Es gibt Anhaltspunkte, Hinweise, doch wir tappen im dunkeln. Er hätte ein Motiv gehabt, seine Frau zu beseitigen. Die Ehe ging schon lange nicht mehr. Und die Geschichte mit den Schecks ist natürlich auch nicht sauber. Aber es reicht eben nicht für eine strafrechtliche Verfolgung. Deshalb beschäftigt uns sehr, weshalb er sich zu Ihnen in Behandlung begeben hat. Wir rätseln, ob es sein Gewissen ist, das ihn treibt, oder ob er glaubt, einen Fehler gemacht zu haben.“ Der Arzt sprang auf. „Ja, Herr Beeskow, was Sie mir da eröffnen … Also, ich bin bestimmt ein alter Hase, aber das hatte ich noch nicht in meiner Praxis. Unter diesen Umständen muß man – natürlich immer unter Berücksichtigung der Unsicherheit, von der Sie sprachen – manche Symptome neu durchdenken. Auf Anhieb will ich da nichts sagen. Ich rufe Sie an.“ 166
Beeskow erhob sich und reichte dem Doktor die Hand. „Ich danke Ihnen. Und bitte – sagen Sie Perlbach nichts von unserer Unterhaltung.“ Volkerts nickte. „Selbstverständlich.“ Dann führte er den Kriminalisten zur Tür. „Wissen Sie“, sagte er, während er sie vor Beeskow aufhielt, „ich habe eigentlich kein gutes Gefühl, wenn ich an Herrn Perlbach denke, ich meine, auch die Behandlung betreffend. Eigentlich müßte er in seinem jetzigen Zustand stationär beobachtet werden.“ „Vielleicht kriegen Sie ihn eines Tages, Doktor“, entgegnete der Hauptmann. „Vielleicht auch wir. Einer von uns beiden ganz bestimmt.“ „Warum nagelst du ihn nicht einfach fest?“ fragte Stübmann, der Berliner Ressortkollege Beeskows. „Oder soll ich das für dich übernehmen?“ „Nein!“ schrie Beeskow theatralisch auf. „Ihr habt mir doch zugesichert, daß ihr mir bei Perlbach freie Hand laßt!“ „Ja, schon, was die Sache mit seiner Frau betrifft. Aber die Sache mit den Schecks hat er schließlich bei uns …“ „Mensch, Rudi!“ rief Beeskow beschwörend. „Scheiß jetzt auf die paar Schecks. Wenn seine Frau keine Anzeige erstattet, können wir ohnehin nichts machen. Von mir aus kannst du ihn anschließend durch die Mangel drehen. Bei mir geht’s um Mord!“ Stübmann wunderte sich. Er mochte den Rostocker Genossen sehr gern. Sie arbeiteten seit langem zusammen, und es hatte nie Mißverständnisse zwischen ihnen gegeben. Doch manchmal fand er die Methoden Beeskows sonderbar. Überhaupt paßte der Hauptmann nicht in das Bild, das sich Stübmann, Berliner von Geburt an, von einem Norddeutschen gemacht hatte. Beeskow war nicht betulich, sondern cholerisch, und da, wo er, Stüb167
mann, die Ruhe in Person blieb, schien Beeskow schon einem Zusammenbruch nahe. Sicher, Beeskow drehte manchmal ein wenig auf, weil er sich in seiner Rolle gefiel und weil er Erfolg damit hatte. Doch sollte das alles nur Staffage sein? Nein, er blieb dabei: Beeskow war hochtourig wie ein Rennauto. Eigentlich nicht der ideale Charakterzug für einen Kriminalisten, dachte Stübmann, und er vergegenwärtigte sich, wie oft der Erfolg im kriminalistischen Beruf das Ergebnis mühseliger, nervenaufreibender Ermittlungsarbeit ist, die Geduld und nochmals Geduld und ein großes Maß an innerer Ausgeglichenheit verlangte. Doch das ist schließlich seine Sorge, dachte er. Tatsache blieb: Beeskow hatte immer gewußt, was er wollte. Und fast immer hatte der Erfolg ihm recht gegeben. Dennoch blieb es Hauptmann Stübmann ein wenig undurchsichtig, weshalb Beeskow diesen Perlbach nicht festnahm. „Du hast doch ein blitzsauberes Motiv“, setzte Stübmann seine Gedankenkette laut fort. „Er bringt seine Frau um, damit er danach die Moneten einkrallen kann. Geld – was willst du mehr. Eines der klassischen Motive.“ „Erstens hat er sie ganz sicher nicht des Geldes wegen umgebracht“, entgegnete Beeskow, „zweitens haben wir noch nicht ein einziges Indiz dafür, daß es überhaupt ein Mord war.“ „Nur deinen Riecher.“ „Nur meinen Riecher.“ „Sag mal, warum ist sie denn noch nicht gefunden worden?“ „Der Bodden ist an vielen Stellen flach. Und in diesem Jahr besonders. Die Hitzewelle, du weißt doch. Niedrigster Wasserstand seit fast dreißig Jahren. Den Hinweis bekamen wir vom Hydrographischen Dienst. Sie kann also auf eine Sandbank angeschwemmt worden sein, weit außerhalb der Küste, fernab von den zugelassenen und benutzbaren Wasserwegen.“ 168
„Und wenn sie nun einfach über Bord gesprungen ist und kraulend das Weite gesucht hat, um ihren lieben Gatten zu ärgern?“ „Ohne Kleidung, ohne Geld, ohne alles, was eine Frau benötigt? Und dann läßt sie ihr Scheckbuch auch noch schön zu Hause liegen, damit der Mann sich bedienen kann?“ Beeskow schüttelte entschieden den Kopf. „Außerdem war sie eine schlechte Schwimmerin. Wir haben uns beim ABV ihres Heimatortes erkundigt. Dort wurde sie in den Akten der Schule als Nichtschwimmerin geführt. Übrigens die meisten Kinder jener Jahrgänge in dieser verlotterten Gemeinde. Also, wenn ich was zu sagen hätte, ich würde den Schulrat von damals heute noch feuern!“ „Im Grunde verläßt du dich jetzt darauf, daß ihr sie findet und noch irgendwelche Spuren erkennbar sind.“ Beeskow zog die Schultern hoch. „Oder daß er Fehler macht. Und er hat schon begonnen, Rudi. Die Schecks. Er wird weitere machen, verlaß dich darauf.“ An einem späten Sonnabendnachmittag drückte Leutnant Motz auf Theuerkaufs Klingelknopf. Von drinnen klang gedämpfte Musik heraus. Dann hörte man das Klinken einer Tür. Ein Teekessel begann zu pfeifen. Kurz darauf erstarb das nervtötende Geräusch. Motz klingelte noch einmal. „Moment bitte!“ wurde von drinnen gerufen. Unvermittelt tat sich die Tür auf, und Theuerkauf stand aufgeputzt in der Öffnung. Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand und lachte. Das Lachen verflog augenblicklich, als er erkannte, wer da zu ihm kam. „Ach, Sie sind’s“, sagte er. „Wen haben Sie denn erwartet? Brigitte?“ fragte Motz scheinheilig. Theuerkaufs Züge versteinerten. „Machen Sie keine Witze, Mann.“ „Darf ich ’reinkommen? Ich habe ein paar Fragen an Sie.“ 169
Theuerkauf gab ihm widerwillig den Weg frei. „Sie suchen sich stets die passendsten Gelegenheiten. Ich erwarte nämlich Besuch. Also, fragen Sie, aber bitte schnell.“ Motz deutete auf die Blumen in Theuerkaufs Hand. „Damenbesuch, wie ich annehme.“ „Das geht Sie nichts an. Oder ist das neuerdings auch schon Sache der Kripo?“ „Nein“, konterte Motz, „das nicht. Aber wenn die Ermittlungsarbeit der Polizei durch Verdunklung oder Verschleierung behindert wird, so ist das ihre Sache.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Warum haben Sie uns nichts von Brigittes Konto erzählt?“ „Hab’ ich doch. Gestern rief ich Ihren Chef an. Sie sind wohl noch gar nicht informiert?“ Motz brachte Theuerkaufs Aggressivität jedesmal wieder aus dem Konzept. Wie hatte die Perlbach diesen schnoddrigen Burschen ausstehen können? „Als wir uns zum erstenmal unterhielten“, fuhr er fort, „da verschwiegen Sie mir sowohl das Vorhandensein dieses Guthabens als auch, daß Sie mit heran konnten.“ „Unterstellen Sie mir nichts“, erhitzte sich Theuerkauf. „Ich hatte die Möglichkeit, Kontoauszüge abzuholen, falls ich den Postabholerausweis habe. Nur – ich habe ihn nicht. Und ich könnte auch Geld, abheben, wenn ich Schecks hätte, doch ich besitze keine und habe mir nie welche beschafft.“ „Aber Sie haben einmal fünfhundert Mark von Brigitte Perlbachs Konto abgehoben, vor genau – drei Wochen.“ Nun schwieg Theuerkauf peinlich berührt. Er legte die Blumen auf dem Küchenschrank ab, zerrte seinen Kragen auf. „Also schön, wenn Sie es wissen: ja. Ich habe Geld abgehoben von einem einzelnen Scheck, den Brigitte mir 170
mal gegeben hatte. Manchmal war ich knapp bei Kasse, und da sagte sie …“ „Wann erhielten Sie den Scheck von ihr?“ „Kurz bevor … Na, kurz bevor sie mit diesem Perlbach nach Hiddensee fuhr.“ „Und den haben Sie vor drei Wochen eingelöst?“ „Ja.“ Theuerkauf war das Thema sichtlich unangenehm. „Ich war halt wieder mal pleite. Und da fiel mir der Scheck ein. Es war doch sowieso abgemacht, daß ich ihn …“ „… sicher aber unter anderen Vorzeichen“, warf Motz ein und ließ seinen Blick vieldeutig auf dem Blumenstrauß verweilen. „Mag schon sein“, gab Theuerkauf zu. „Aber schließlich waren wir … ich meine Brigitte und ich … waren wir eng befreundet. Und da dachte ich …“ „Schon gut, Herr Theuerkauf“, brach Motz ab, „verstehe. Wie sind Sie nun daraufgekommen, daß Perlbach von Brigittes Konto abhebt?“ „Na ja, als ich meinen Scheck einlöste, legte ich den Personalausweis vor, verlangte die letzten Auszüge. Die hat man mir zwar nicht ausgehändigt, doch ich durfte Einsicht nehmen. In den letzten drei Monaten ist mehrfach abgehoben worden. Auf Brigittes Namen. Doch Brigitte war schon lange tot.“ „Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß sie tot ist?“ stieß Motz nach. „Ich weiß es nicht, aber alle Welt glaubt es. Und Sie auch, sonst wären Sie nicht fortlaufend hier. Und die Umstände ihres Verschwindens sprechen doch wohl eine eindeutige Sprache. Vom Dampfer spurlos verschwunden, aber all ihr Gepäck auf dem Passagierdeck, tss. Wissen Sie eine andere Erklärung?“ „Schön“, lenkte Motz ein, „belassen wir es einstweilen dabei. Woher wußten Sie nun, daß Perlbach abgehoben hatte?“ 171
„Ich wußte es nicht. Doch erstens traue ich dem Schurken jede Gemeinheit zu, und zweitens wußte ich, daß Brigitte Postabholerausweis und Scheckbuch bei sich zu Hause – also bei ihrem Mann – aufbewahrte.“ „Und da dachten Sie sich Ihr Teil.“ „So ungefähr.“ „Und warum benachrichtigten Sie uns erst gestern?“ „Weil ich ihn gestern auf der Straße traf. Total besoffen. Da hat mich das Schwein angepflaumt. Hat mich vor die Brust gestoßen, mir seinen widerlichen Schnapsatem ins Gesicht geblasen. Wollte sich mit mir prügeln oder was weiß ich. Drohte mir, stieß Verwünschungen aus. Die Leute blieben auf der Straße stehen. Um ein Haar hätte man ihn eingelocht.“ „Und was haben Sie dabei getan?“ „Ihren Chef angerufen.“ „Aha, deshalb.“ Etwa zur gleichen Stunde saß ein junger Mann an seinem Schreibtisch und sann nach. Er hatte vor sich mehrere Bogen Schreibpapiers. Bereits zum drittenmal hatte er einen Brief begonnen und dann stets von neuem den Anfang verworfen. Schon bei der Anrede hatte er Probleme. Dann schien ihm, daß er die ersten Sätze zu belanglos formuliert hatte und erst zu spät zum Eigentlichen gekommen war. Er zerknüllte auch den vierten Entwurf. Zuerst die beiden anderen, entschied er sich. Er verfaßte zwei kürzere Briefe. Den ersten adressierte er an seine Mutter. Er erklärte, warum er sich so und nicht anders verhalten hatte, gab unumwunden zu, sie belogen zu haben, erklärte aber kurz, weshalb es ihm schwergefallen war, ihr in Kürze die ganze Wahrheit zu berichten. Außerdem – so führte er aus – wärst du nie bereit gewesen, mich wegzulassen, hättest du geahnt, um was es sich handelt. Er grüßte sie, bat sie, nicht trau172
rig zu sein und auch nicht zu verzweifeln, wenn ihm etwas zustieße. Kurze Grüße. Punkt. Den zweiten, längeren Brief richtete er an ein Mädchen. Er hatte sich vorgenommen, nicht über zwei Seiten zu schreiben, denn, so wußte er von vorangegangenen Nachrichten, vielzeilige Briefe gerieten ihm immer ins Schwermütige, und das wollte er nicht, in diesem Brief auf keinen Fall. Er hatte so viel wiedergutzumachen, fand er, daß ein wenig Heiterkeit, Zukunftsfreude, oder wie auch immer man das nennen wollte, mitschwingen sollte. Doch er fand den Tonfall nicht, vielleicht lag’s an dem dritten Brief, den er noch vor sich wußte und der ihn unausgesetzt beschäftigte, während er noch am Wortlaut des anderen klaubte. Der Brief an das Mädchen war eine Versicherung, daß nur sie allein … Es gebe kein anderes Mädchen, und wenn sie auch sein Verhalten unerklärbar und verletzend empfunden habe, so möge sie doch verstehen. Was ihn weggetrieben habe mit unbändiger Macht, sei ein Versprechen aus frühester Zeit. Er sei seiner Vergangenheit begegnet, vielmehr einem Teil seiner Vergangenheit, einem Kindheitstrauma. Alles Weitere dann später. Mündlich. Wir haben noch so viel Zeit, miteinander zu sein. Grüße und Küsse. Für den dritten, weitaus schwierigsten Brief benötigte er den ganzen noch verbleibenden Abend. Auf die Anrede, die ihn vordem so lange aufgehalten hatte, verzichtete er ganz. Ihm ging es nicht um Höflichkeitsfloskeln, das war das letzte, was dem Anlaß entspräche. Zunächst hatte er eine ironische Etikette wählen wollen, doch dann, nach reiflicher Überlegung und bei der gedanklichen Zuordnung der vorhandenen Fakten, war er zu knapper Sachlichkeit übergegangen. Diesen Brief adressierte er an die Volkspolizei. Als er den Schlußpunkt unter die letzte Zeile setzte, war es schon finster. Der Sommerabend war lau, Ver173
kehrsgeräusche drangen nur sehr gedämpft bis zu seinem Hinterhauszimmer vor. Er trat ans Fenster und atmete tief. Hast du alles richtig gemacht? fragte er sich erneut. Er ging gedanklich noch einmal alle Punkte seiner Überlegungen durch. Wenn du wirklich in allen Punkten recht hattest, so wird es sich an diesem Wochenende entscheiden, rekapitulierte er. Eine Stunde später trat er mit einer Reisetasche vor seine Wohnungstür. Er klingelte bei seiner Nachbarin. Die alte Frau öffnete nach wenigen Augenblicken. „Frau Zinner, würden Sie diese Briefe für mich einstecken? Aber erst am kommenden Dienstag. Wenn ich nicht zurück sein sollte.“ Frau Zinner fragte nicht lange, das hatte er immer an ihr geschätzt. Als er auf die Straße trat, so tat er es mit der Gewißheit, einen letzten entscheidenden Schritt getan zu haben. Ein Zurück gab es nicht mehr.
8 Perlbach saß seit Prenzlau bewegungslos auf seinem Platz. Der Zug schoß durch die Nacht, der Küste entgegen. Wenn er den Kopf zum Abteilfenster wandte, sah er Umrisse seines Gesichtes in den Scheiben widergespiegelt. Die beiden abgedunkelten Lampen seines Kupees gestatteten nur vage Formen, doch er konnte erkennen, daß er abgezehrt war. Die Falten um seinen Mund erschienen ihm länger und schärfer geworden zu sein. Die Augen lagen tief, und zwischen seinen Brauen hatte sich eine neue, unlöschbare Spur in sein Gesichtsfleisch gegraben. Perlbach fand auch, daß sein Haar dünner geworden war, sein Schädel noch eckiger. Zu Hause, vor dem Spiegel stehend, war ihm das nie bewußt geworden. 174
Dort hatte er seine Züge immer in Übereinstimmung gesehen mit den übrigen unverwechselbaren Details seiner Erscheinung: Rasur, Krawattenwahl und -sitz, tadellos gebügelter Anzug. Doch das war lange her. Seit Wochen fand er nicht mehr die Zeit, auf seine Kleidung zu achten. Sich zu rasieren war ihm zur täglich neuen Pein geworden. Auch hatte er sich des öfteren empfindlich geschnitten, und so verzichtete er, wenn er es konnte, darauf, seine Wangen abzuschaben. ’runtergekommen bist du, dachte er resigniert und fuhr sich mit der Rechten über das Kinn. Auch heute war er nicht rasiert. Wozu? hatte er sich gefragt, bevor er von zu Hause losgefahren war. Dafür brauchst du es nicht. Kein Mertin wird dasein, deine Anzugsordnung zu bemängeln, kein Sabbelkow kann grinsen … Und auch Brigitte – nein, die würde er nicht treffen. Er erwartete jemand ganz anderen. Und er war vorbereitet. Alkohol hatte er sich versagt. Nachdem er auf dem Osthahnhof die Karte gelöst hatte, stand er lange vor dem Mitropa-Stand und überlegte. Du bist erst morgen auf der Insel, morgen mittag. Bis dahin … Doch er konnte seine Schwäche bezähmen. Sein Vorhaben war wichtiger als der Fusel. Wenn du zur rechten Zeit nicht achtgibst, hatte er sich ausgerechnet, so ist deine letzte Chance vertan. Also: Meide den Alkohol! Bis auf weiteres jedenfalls. Perlbach saß allein. Draußen flogen nachtumschattete Landschaften vorüber, die nur Teile ihres Aussehens preisgaben, wenn sich irgendwo ein Licht fand, wenn eine vergessene Laterne blakte. Der Zug fuhr langsam durch eine mittlere Stadt. Die Straßen lagen verlassen, kein früher Schichtarbeiter, kein verspäteter Ausflügler gerieten in Perlbachs Gesichtsfeld. Nur auf einem der Bahnsteige, die der Zug kurz darauf passierte, stand ein rotbemützter Stationsvorsteher, seine Kelle unter den Arm geklemmt. 175
Dann ließ der Zug die Stadt hinter sich. Perlbach konnte jetzt keine Schemen und Gestalten der Nacht mehr wahrnehmen, sogar dies war vorbei. Kein Licht mehr, das sich dem Zug entgegenschob, keine weiten Flächen, die im Mondlicht prangten. Sie mußten in einen Wald eingetaucht sein. Er wandte den Kopf. Draußen auf dem Gang, etwas seitlich seines Abteils, stand ein junger Sowjetsoldat und qualmte Papirossy. Der Soldat hatte sein Käppi schräg auf seinen kurzgeschorenen Schädel geschoben, so daß es fast wie ein Ohrwärmer aussah. Manchmal nahm er den zerknautschten Glimmstengel aus dem Mund, schnipste mit dem Zeigefinger gegen die Asche. Der Soldat hatte ein glattes, schöngeschnittenes Kalmückengesicht. Perlbach schätzte ihn nicht älter als Anfang Zwanzig. Wenn er nur nicht dieses Kraut rauchte, dachte er ärgerlich. Er vermeinte den scharfen Geruch des Tabaks bis in sein Abteil zu schnuppern. Du solltest ’rausgehen, mit ihm reden, ihn bitten, nicht allzuviel von diesem Zeug zu paffen, dachte er sekundenlang. Doch dann ließ er es. Er konnte kein Russisch, die Kenntnisse von der Universität waren längst vergessen. Wie sollte er mit dem jungen Mann eine Sprache finden? Aber liegt es nur am Russischen, spann er den Faden unversehens weiter, oder hast du die Sprache überhaupt verlernt? Die Sprache der Menschen? Die Sprache jener Menschen, die dich jetzt fliehen, die dir nicht begegnen wollen in dieser einsamen Nacht. Die Sprache der Menschen, die jetzt in ihren Betten liegen, voll guter und beängstigender Träume, eingenistet in tiefen, erquickenden Schlaf oder im wachen Halbdämmer. Hatten all sie, die jetzt nicht sprachen, nicht dachten, hatten sie noch die gleichen Worte, die er, Perlbach, benutzte? Deutete nicht alles darauf hin, daß er begonnen hatte, andere Zeichen zu setzen? Er konnte nicht mehr mit anderen lachen, ohne zu argwöhnen, daß es auf seine Kosten geschah, er 176
fürchtete harmlose Worte, weil er hinter ihnen bösartige Vermutungen witterte, er mied Geselligkeiten noch mehr als früher, denn er wähnte forschende Blicke auf sich gerichtet und sah sich außerstande, ständig die Rolle zu geben, die sein Verbrechen ihm diktiert hatte. Sprach er nicht leise, verhalten, vorsichtig, wo sie laut und heftig und unbedingt waren? Freute er sich nicht heimlich, wenn er andere leiden sah? Litt er nicht auch? Ja. Er konnte verlangen, fordern, daß auch andere ihren schweren Weg gingen. Das war die Höhere Instanz, die Eherne Gerechtigkeit. Gerechtigkeit? Perlbachs Gedanken kreisten immer öfter um das, was sich hinter diesem Begriff verbergen mochte. Hatte man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen? War er nicht all die Jahre betrogen, gedemütigt und verprellt worden? Ja, er sah es so. Nicht anders waren die letzten Ehejahre mit Brigitte abgelaufen. Gerechtigkeit …rechtigkeit …tigkeit …tigkeit … Die Räder des Zuges hämmerten auf den verschweißten Stößen den Takt mit. Du hättest sie nie umbringen dürfen! hielt er sich vor. Dann barg er sein Gesicht in den Händen, auf daß es ihm nicht im Widerschein der Kupeelampen begegne. Alles, alles, alles hättest du tun dürfen, nur nicht dies, nein, es wird dir anhängen bis zu deinem letzten Atemzug! Du wirst nie davon freikommen, nicht eine einzige Sekunde in deinem ferneren Leben, immer, immer, immer wird dir Brigittes erstauntes, fassungsloses Gesicht vor Augen stehen, wie du sie über die Reling stießest. Dieses Gesicht einer Frau, von der er sieben Jahre geglaubt hatte, daß es seine Frau wäre. Seine Frau? Und war sie nicht vielmehr – seit Jahren schon – die Frau anderer? Trotzdem hättest du sie nicht umbringen dürfen, hörte Perlbach eine Stimme in sich aufschreien. Warum konnte er diese Stimme nur jetzt nicht zum Schweigen bringen? Er saß allein, mußte sich nicht vorsehen, brauchte keine Masken zu tragen, nicht die Wor177
te wägen, dennoch kam die Stimme immer lauter, immer eindringlicher. Ekel vor sich selbst erfaßte ihn. Er mochte sein Gesicht im Fenster nicht mehr sehen, nicht das Zittern seiner Hände gewahren, den irren, ruhelosen Blick. Du bist ein Wrack, dachte er. Ein hohles Gefäß, ausgebrannt und morsch. Doch er fuhr der endgültigen Abrechnung entgegen. Das machte ihn wild entschlossen. Wenn du zurückkommst, wirst du Ruhe haben, hatte er sich vor Antritt der Reise eingeredet. Jetzt wußte er auf einmal, daß es nicht so sein würde. Brigittes Gesicht würde ihn ewig begleiten – und das ungeheuerliche Wissen, mit dem er allein war, unbedingt allein bleiben wollte, endgültig, wenn er zurückkäme. Und doch konnte er es nicht. Wie soll es nur weitergehen, danach? schoß es ihm durch den Kopf, und er barg das Gesicht erneut in den Händen. Dennoch: Die ultimative Aufforderung, an diesem Wochenende auf der Insel zu sein, hatte ihm aus einer unvermuteten Richtung neue Kampfbereitschaft zuwachsen lassen. Wenn er auch wußte, daß es Überlebensmut war, so gab es ihm doch die Kraft, sich aufzumachen, diesem Phantom entgegenzutreten, ihm die Tarnkappe zu entreißen, es zu stellen, es zu vernichten … Was willst du überhaupt tun? fragte er sich. Willst du erneut morden? Er wußte es nicht. Er konnte sich keine Antwort geben, wollte alles dem Moment, der Situation, den Worten, die fallen würden, den Gesten des anderen überlassen. Und wenn er zuschlüge? Spielte es noch eine Rolle, ob man ein-, zwei- oder dreimal zum Mörder wurde? Gab es nicht die Grenze des Entsetzlichen, die zu überschreiten gar nicht möglich war? War dieser heimliche Erpresser, der ihn fertigzumachen suchte, nicht ein viel schlimmerer Verbrecher als er selbst? Hieß einen Menschen in den Wahnsinn, in den Abgrund zu treiben nicht, ihn tausend Male sterben zu lassen? Ich werde unbarmherzig sein, rief er und ballte die 178
Fäuste. Wer auch immer es sein mag. Und wenn es Brigitte war? Wenn sie nun doch überlebt hatte? Würde er die Kraft haben, sie noch einmal …? Perlbach verwirrte sich in seinen Gedanken. Quatsch, rief er, das ist ganz ausgeschlossen. Viele kamen in Frage, Brigitte nicht. Ich werde nicht auf seine Forderungen eingehen, nahm er sich vor, sei es nun, daß er Geld verlangt oder anderes. Nein, ich werde handeln, werde mich frei machen von einer widerlichen, schmierigen Existenz, die die Leidenschaften anderer zu ihrer Bereicherung, vielleicht sogar zu ihrer Befriedigung nutzt. Was sollte er lange Worte machen, Fragen stellen? Dieser Erpresser würde ihn nicht wieder freigeben. Das war eine Erfahrung, die man aus einschlägigen Filmen kannte. Erpresser ließen ihre Opfer niemals los. Er wußte: Auch mit seinem Feind würde er keine gemeinsame Sprache mehr finden, auch das lag weit hinter ihm. Draußen glitzerten die Wellen eines nahen Sees im Mondlicht auf. Perlbach konnte nur die ufernahen Wasserflächen ausmachen, alles andere versank in Dunkelheit. Ich werde doch mit dem Soldaten reden, entschloß er sich. Zum „Stdraßtwuij“ und „Kuda“ wird es wohl noch reichen. Er stand auf, schob die Abteiltür zur Seite. Da hatte der Soldat seinen erdbraunen Mantelsack geschultert und die MPi um den Hals gehängt und war an den Ausstieg getreten. Zu spät, dachte Perlbach. Als er in Stralsund aus dem Zug stieg, blickte er sich mißtrauisch nach allen Seiten um. Von jetzt ab mußt du auf der Hut sein! ermahnte er sich. So ließ er die Schar der anderen Reisenden an sich vorüber. Unauffällig betrachtete er die Gesichter. Die meisten Erholungsuchenden – und dies hier war ein Urlaubersonderzug – hatten graue, verschlafene Gesichter. Er hörte Kinderweinen und eine erregte sächsische Männerstimme, die von ei179
nem fehlenden Koffer sprach. Der Zug war nicht voll; nur wenige hatten sich wohl entschließen können, noch in der Sonntagnacht an die See zu fahren. Perlbach stellte seinen Koffer am Zeitungskiosk ab. Dann blickte er zurück zum Zug, der jetzt aus dem Gleis rangiert wurde. Kein Gesicht war ihm aufgefallen, nichts Verdächtiges hatte sich getan. Und doch empfand Perlbach eine unerklärbare Unruhe. Er hatte das Gefühl, als würde jeder seiner Schritte observiert. Ungehalten blickte er zu den beiden Transportpolizisten hinüber, die auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig patrouillierten. Die Polizisten schienen ausgeschlafen und munter zu sein. Einer erzählte wohl einen Witz, denn plötzlich lachten beide laut auf. Perlbach gähnte. Obgleich es Hochsommer war, fröstelte ihn. Eine frische Seebrise strich über den Bahnhof und trieb die meisten Fahrgäste in die Mitropa-Wartehalle. Noch war es Nacht, doch über den Dächern im Osten der Stadt zog allmählich ein hellerer Streifen auf. Wenn jemand dich beobachtet, so muß er es sehr geschickt tun, überlegte er. Und dann betrat er das Bahnhofsrestaurant. Dumpfmuffige Luft schlug ihm entgegen. Es roch nach kalt gewordener Suppe, Abwasch und der verbrauchten Luft vieler Menschenleiber. Überall an den Tischen saßen Reisende, übernächtig und mit rotgeränderten Augen. Einige hatten den Kopf auf die Tischplatte gelegt und schliefen. Er stand unschlüssig zwischen den besetzten Tischen, überlegte sekundenlang, ob er sich einen Stuhl suchen sollte. Jemand rempelte ihn an und entschuldigte sich dann mit brummigen Worten. Er hätte gern einen starken Kaffee getrunken, um wieder alle Sinne beisammen zu haben, denn er fühlte sich zerschlagen und matt. Doch als er die lange Schlange vor der Kasse zur Speisenausgabe gewahrte, verzichtete er. Die Pendeltür am Ausgang der Gaststätte pendelte auf und zu, auf und zu. 180
Bei jedem Gast, der die Mitropa betrat, blickte Perlbach sich um. Niemand, den er kannte. Vom Vorfeld des Bahnhofs schrillte das Pfeifen der Rangierer herein. Der Motor einer V 180 röhrte auf. Perlbach stand noch immer im Gang und überlegte, ob er sich doch noch anstellen sollte. Am Nachbartisch schlürfte eine Frau aus einer Tasse. Er konnte das Getränk erkennen, es sah nicht vertrauenerweckend aus. Als er wieder in der Bahnhofshalle stand, beschlich ihn allmählich der Verdacht, sein Feind brauche gar nicht unter den Mitreisenden gewesen zu sein, er konnte ihn genausogut hier erwartet haben. Er ging in die Bahnhofstoilette. Hinter der gekachelten Sichtblende hielt er inne. Er lehnte seinen Koffer an die Wand und lugte aus der Fensteröffnung auf den Bahnsteig hinaus. Da waren wieder die beiden Polizisten, und auf der anderen Seite saß eine Familie mit zwei kleinen Kindern auf den Koffern. Nichts Verdächtiges. Einigermaßen beruhigt trat er wieder heraus. Trotzdem Vorsicht! rief er sich zu. Irgendwo mußte der Kerl stecken, und wenn er auch nicht hier war, er würde ihn kriegen! Perlbach wußte nicht, daß er dennoch beschattet wurde. Er konnte freilich nicht wissen, daß sein Gegner den Stralsunder Bahnhof ungleich besser kannte als er. Watschi hieb ihm die Pranke auf die Schulter. „Mensch, da bist du ja wieder. Wir treffen uns immer auf dem Kahn, was?“ Perlbach ließ sich die Hand quetschen. „Na ja, so leidlich“, versetzte er, nachdem der Gefährte von einst ihn gefragt hatte, wie es ihm ginge. „Wo hast du denn dein Weib gelassen?“ fragte Watschi harmlos. „Wieso?“ „Na, Mensch, weil sie mir eben gefallen hat.“ 181
„So“, sagte Perlbach tonlos. Er stand an die Reling gelehnt und sah zur Insel Rügen hinüber. Das Eiland war in gleißendes Morgenlicht getaucht; es schien, als erhebe es sich aus dem Meer. Hier irgendwo, hämmerte es in Perlbachs Gehirn, hier oder noch ein Stück weiter im Norden. Er zählte die Bojen. Die Fahrrinne war leicht erkennbar. Weiter der Insel zu färbte sich der Bodden gelblich ein. Hier standen die Sandbänke, die sich kilometerweit hinzogen. Hatte Brigitte eine dieser Untiefen erreichen können? Perlbach sah unweit des Dampfers Wasservögel im Bodden waten. Das Wasser konnte kaum tiefer als zwei Handbreit sein. Weiter der Insel zu wurde es wieder tief, das wußte er von den Erzählungen der Fischer. Doch konnte es nicht sein, daß sie auf eine dieser Bänke geschwemmt worden war und dort abwarten konnte, bis man sie herauszog? Ein Jollenkreuzer tauchte vor dem Bug des Schiffes auf. Die beiden Segler winkten herüber. Einige der Passagiere winkten zurück. Die beiden Männer im Segelboot halsten unter dem Wind. Der Mast des Bootes senkte sich bedenklich seitwärts. Die beiden könnten es gewesen sein, schoß es Perlbach durch den Kopf. Ein paar entschlossene Kerle, die Brigittes Hilferufe aufgefangen hatten, war das undenkbar? „Feine Sache, was?“ rief Watschi und stieß Perlbach mit dem Ellenbogen an. Er zeigte zum Segelboot hinüber. Perlbach reagierte nicht. Reglos stand er an der Reling, und ihm schienen jene entsetzlichen Minuten, die sein Leben verändert hatten, erst vor kurzer Zeit vergangen. Er hörte den Wind um den Schornstein streichen, ein lang anhaltendes Geräusch, wie das Tönen des Regens, der damals niedergegangen war, an jenem Tag. Auch das Rauschen des Regens saß ihm im Ohr, ob182
gleich der Tag heute ganz anders war; die Sonne stieg höher, schon kletterten die Thermometer merklich. „Du zeigst sie wohl keinem mehr, aus Angst, man könne sie dir wegnehmen?“ ließ sich Watschi vernehmen. Dummkopf, dachte Perlbach, so ein verdammter lästiger Dummkopf. Schon damals, erinnerte er sich dunkel, hatte der bärtige Schiffsbauer nichts anderes als die Weiber im Kopf gehabt. Doch warum kam er immer wieder auf Brigitte zurück? Ein plötzlicher Verdacht stieg in Perlbach auf. Konnte nicht auch er hinter allem stecken? Er hatte sich mit Brigitte auf der Insel getroffen, sie saßen wohl auch zusammen, unterhielten sich. Was wußte Watschi? Perlbach warf einen kurzen, vorsichtigen, feindseligen Blick auf Watschi, der jetzt die Nase im Wind hatte. Der Norddeutsche sog die frische Morgenluft mit tiefem Behagen ein. „Ach“, rief er, „ich könnte jeden Tag hochschippern.“ Perlbach war sich nicht im klaren, ob er den Mann im Auge behalten sollte. Watschi kam so leutselig daher, tat stets, als sei er von keines Gedanken Blässe angekränkelt. Nur, war er so blöd, wie er sich gern gab? Schon damals hatte Perlbach das bezweifelt. „Ich hätte dir gern dein Frauchen ausgespannt“, verkündete Watschi fröhlich, „sie ist mein Typ.“ „Hör endlich mit deinem Gequatsche auf“, stieß Perlbach hervor. Watschi mißverstand diesen Satz. Freundschaftlich tätschelte er Perlbachs Schultern. „Schon gut, Alter, Spaß muß sein.“ Perlbach rückte zur Seite. Watschi schien es nicht zu bemerken. Unverdrossen setzte er ihm nach, boxte ihm in die Seite. „Hab’ da wieder einen steilen Zahn oben“, er schnalzte mit der Zunge, „wenn die losgeht, wackelt die Wand.“ 183
Perlbach sah Brigittes Arm in den Fluten untertauchen, sah ihn noch einmal im Strudel des Kielwassers emporgestreckt, sah, wie das von der Schiffsschraube aufgewühlte Wasser sich glättete, sah den Regen, der unaufhörlich niederging, vernahm das Rauschen, als sei es Teil seines Planes gewesen. Die Sonne blendete ihn. Er sah über das Vorschiff. Hiddensee tauchte aus der See auf. „Und du“, brachte sich Watschi in Erinnerung, „bist du schon geschieden?“ Perlbachs Kopf fuhr herum. „Was geht dich das an? Wie kommst du überhaupt darauf?“ Watschi feixte ihn an. „War nur so ’n Gedanke.“ Kurz nach dem Ablegemanöver in Vitte trat der Bootsmann des Schiffes auf Perlbach zu. „Sind Sie Günter Perlbach?“ „Ja“, sagte er überrumpelt. „Hier, soll ich Ihnen aushändigen“, sagte der Schiffer und hielt ihm einen Brief hin. Perlbach erstarrte. Er warf einen erschrockenen Blick auf Watschi, der noch immer neben ihm stand. Der tat, als habe er den Vorgang überhaupt nicht wahrgenommen. „Von wem?“ fragte Perlbach und nahm den Brief an sich. „Ein Mann“, entgegnete der blonde Bootsmann lakonisch. „Wo ist er?“ stieß Perlbach nach. „Nicht mit an Bord gekommen.“ „Und wo hat er Ihnen den Brief gegeben?“ „In Stralsund. Im Hafen.“ Der Bootsmann sah Perlbachs Verwirrung. Watschi mußte es auch bemerkt haben. „Danke, äh, vielen Dank“, stammelte Perlbach und ließ das Kuvert in seiner Jackentasche verschwinden. 184
Watschi grinste. „Seit wann hältst du’s mit Männern?“ Perlbach ließ ihn stehen und stieg ins Zwischendeck hinab. „Ich erwarte dich nachts um zwölf am Leuchtturm. Komm allein und sei pünktlich. B.“ Er zerknüllte den Brief in der Hand, spülte ihn in der Toilette hinunter. Hastig suchte er in den Taschen nach dem Büchschen mit den Magenpillen. Jetzt wird es ernst, durchfuhr es ihn. Er schluckte zwei der Pillen, drückte dann noch einmal den Spüler. Die Gedanken überstürzten sich. Du mußt handeln, mußt dir etwas einfallen lassen, du mußt clever sein, schlau und durchtrieben. Er darf nicht Verdacht schöpfen, sonst wird er sich dir entwinden. Perlbach setzte sich auf seinen Platz und starrte hinaus. Du mußt abwarten, hämmerte sein Denken, abwarten und dann im entscheidenden Augenblick zuschlagen. Heute nacht. Letzte Möglichkeit. Zuschlagen und aus. Töten. Keine andere Wahl. Er fühlte sich grenzenlos elend. Perlbach wartete. Das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr zeigte auf halb zwölf. Er hatte sich gut getarnt, stand im Mondschatten der niedrigen Kiefern, die sich die Hügel hinaufzogen. Weiter konnte er sich nicht hinauswagen, um nicht entdeckt zu werden. Vor ihm begann Wiesengelände, das sich bis unmittelbar an den Leuchtturm heranschob. Dort oben, knappe hundert Meter von ihm entfernt, stand der Turm, wuchtig, drohend. Die fahlen Leuchtfinger des Lichtes kreisten geisterhaft, tauchten die umliegenden Teile der hügeligen Landschaft für Bruchteile von Sekunden in matte Helligkeit. Schweres Gewölk hing am Himmel, einen Wetterumschwung ankündigend. Vom Gelände der Armee, das sich dicht neben dem Leuchtturm befand, 185
klang Hundegebell herüber. Danach eine heisere Männerstimme, die Platz und Stille gebot. Der Mond wagte sich von Zeit zu Zeit zwischen den Wolkenballen hervor. Dann waren weite Flächen des Nordteils der Insel von hier zu überschauen. Perlbach sah den Bessin und davor einen Lichterfächer, eingebettet in Hügel. Dort mußte sich der Grieben befinden. Ganz in der Nähe stand ein Bungalow, der zur Zeit bewohnt war. Im Vorübergehen hatte Perlbach Lachen und trunkenen Gesang vernommen. Gern wäre er eingetreten, hätte sich zu den Feiernden gesetzt, hätte mitgetrunken, mitgesungen, hätte alles vergessen, vor allem den Grund seines Hierseins. Doch wie lange war es her, daß er nicht mehr mit anderen gesungen und gefeiert hatte? Lag es nicht schon Jahre zurück? Einmal, bei einem Betriebsvergnügen, war ihm der Kornbrand nicht bekommen. Während der Rückfahrt mußte er sich im Bus übergeben. Die Kollegen hatten mitleidig gegrinst, und die Kolleginnen zogen angeekelt die Nasen kraus. Und dann jenes Vergnügen vor vielen Jahren, das ein so niederschmetterndes Ende gefunden hatte. Es wurde die Nacht hindurchgetrunken. Am Morgen fuhr er mit Brigitte los. Sie hatte ihm geraten, sich erst auszuschlafen. Doch er rechnete ihr vor, daß die Entfernung von Bergen, Rügen, wo sie gefeiert hatten, bis nach Berlin, knappe dreihundert Kilometer betrüge. „In vier Stunden“, hatte er angegeben, „liegen wir in unserer Koje.“ Sie waren losgefahren. Und dann war es passiert. Auf einer Landstraße, die so einsam und friedlich und verlassen lag. Das Kind. Perlbach kamen wieder Brigittes Worte in den Sinn: „Nur weil du gesoffen hattest und es mit der Angst bekamst.“ Stimmt, er hatte damals getrunken, und Angst hatte er auch, entsetzliche Angst. Doch warum hatte sie ihn gerade in jenem Augenblick an Deck des Dampfers daran erinnern müssen? Hatte sie nicht auch geschrien, 186
er habe keine Moral, er benötige sie wohl nicht, da er sich für Gott oder etwas Ähnliches halte? Noch nie hatte ihm jemand vorgehalten, daß er unmoralisch gelebt habe. Zugegeben, er hatte sich die Jahre aus allem herausgehalten, hatte oft zugesehen, wenn die anderen sich mühten, war schadenfroh, wenn er ein Mißlingen vorausahnte, doch war das schon Unmoral? Und weil ihn Brigittes Fragen nicht in Ruhe ließen, weil er befürchtete, mit einemmal befürchten mußte, daß man ihm auch von anderer Seite diese Frage vorhalten würde, mied er die Gesellschaft. Er war einsam und einsamer geworden. Er fühlte, wie sehr er das Vertrauen eines zweiten entbehrte, doch er wußte nicht mehr, wie und wo er es suchen sollte. Oder war es ihm schon vor langer Zeit abhanden gekommen? Schon damals, als er allein auf dem Schulhof stand, Tag um Tag, und immer gewartet hatte, daß einer seiner Kameraden zu ihm käme? Aus dem nahen Bungalow brach derbes Gelächter heraus. Dann jaulte ein Akkordeon gequält auf. Perlbach sah auf die Uhr. Ein Viertel vor zwölf. Jetzt müßte er bald kommen, dachte er und ballte die Fäuste. Drüben, über der Insel Rügen, stiegen drei weiße Leuchtkugeln auf. Hier oben ist dein Schicksal besiegelt worden, dachte er, und er erinnerte sich, daß jener Unfall wenige Kilometer vor dem Rügendamm passierte. Und Brigittes Tod? Nur ein Stück weiter im Norden. Jetzt stand er hier, verbarg sich vor den Augen eines hinterhältigen Erpressers, dessen Gesicht er nicht kannte, verbarg sich, um Rache zu nehmen, um sich von einem furchtbaren Alpdruck zu befreien, der ihn keine Ruhe mehr finden ließ, der ihn erzittern ließ vor jedem aufmerksamen und neugierigen Blick eines anderen Menschen. Du bist nicht erpreßbar, Günter Perlbach, dachte er, und seine Hand umklammerte den schweren Schraubenschlüssel, den er 187
in der Tasche seines Anoraks verborgen hielt. Du mußt ihn loswerden, irgendwie, das hatte er sich immer wieder vorgesprochen. Doch soviel er auch nachgedacht, nach möglichen Lösungen gesucht hatte, ihm blieb stets nur ein einziger gangbarer Ausweg. Perlbach wollte nicht töten. Er sah Brigittes schreckgeweitete Augen, sah die unnatürlich gekrümmte Haltung des Kindes dort am Straßenrand, und erneut sprang das Entsetzen ihn an. Sollte er zu der Schuld, die er auf sich geladen, die nie mehr zu tilgen war, eine neue, unsühnbare hinzufügen? Nein – er wehrte sich. Er hätte jede andere sich bietende Chance genutzt. Doch – gab es eine? Er hatte keine gefunden. Nein, er wollte, wollte, wollte nicht noch einmal zum Verbrecher werden. Alles tun, nur nicht mehr töten. Doch er mußte es. Fünf vor zwölf. Der bleiche Mond schob sich wichtigtuerisch zwischen zwei Wolkentürmen hindurch und goß dürftiges Licht über die Wiesen. Perlbach vermeinte einige Meter hügelabwärts eine Gestalt erkannt zu haben, die sich in seine Richtung bewegte. Er duckte sich – alle Fibern seines Körpers gespannt – hinter den Stamm der Kiefer, die ihm seit einer halben Stunde Schutz vor den Blicken eines etwaigen Beobachters bot. Er wartete und lauschte angespannt. Der Mond war wieder hinter den Wolken untergetaucht, undurchdringliche Finsternis lag wie vordem über den Hügeln, nur die stets kreisende Blinkanlage warf schmale Streifen dünnen Lichtes herab. Perlbach konnte keine verdächtigen Geräusche ausmachen. Hatte ihn der andere etwa schon entdeckt und belauerte ihn? Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken hoch. Wenn ja, so war alles verloren. Sicher wäre dem Fremden nicht verborgen geblieben, mit welcher Absicht er sich trug. Mußte er das nicht sowieso vermuten? Perlbach fragte sich, ob es Sinn hatte, hier zu warten. 188
Wenn man ihn erpressen wollte, so gab es für den Erpresser ganz andere Möglichkeiten, sein schmutziges Handwerk zu verrichten. Ohne Gefahren und Risiken. Aber was hatte er anderes tun können? Die Aufforderungen waren eindeutig und nicht ohne drohende Untertöne. Der andere war ihm um einen Zug voraus. Er mußte abwarten. Beide Zeiger seiner Uhr standen kurz vor zwölf. Perlbach ging in die Hocke, hielt den Kopf schief, als könne er so besser die Geräusche der Nacht unterscheiden. Ein Käuzchen schrie auf. War da nicht ein Geräusch dicht unter den Hecken, die den Leuchtturm umgaben? Perlbach zog den Schraubenschlüssel aus der Tasche und legte ihn vor seinem Fuß ab. Dann fielen ihm die Handschuhe ein, die er in der linken Brusttasche trug. Er zog sie hervor und streifte sie über. Er nahm den Schraubenschlüssel wieder auf. Ein Blick zum Himmel genügte. Der Mond würde in den nächsten Minuten nicht hervor können. Geduckt lief er los. Nach wenigen Metern warf er sich zu Boden, lauschte. Nur das leise Wispern des Windes drang an sein Ohr. Vorhin waren dort oben Geräusche gewesen, dessen war er sich ganz sicher. Ja, da war es wieder! Es klang, als breche jemand kleine Zweige ab. Vielleicht sucht er einen günstigen Beobachtungsposten, dachte Perlbach, und seine Kiefer mahlten. Er lag noch immer ausgestreckt auf der Wiese. Er spürte, wie sein Magen zu revoltieren begann. Verdammt noch mal, fluchte er innerlich, bist du schon solch ein Wrack, daß er dir immer einen Strich durch die Rechnung macht! Er fingerte nach seinen Magenpillen. Als er sie nicht gleich finden konnte, ließ er es. Du kannst doch nicht nur mit Pillen leben, dachte er. Und er nahm sich vor, sich gründlich untersuchen zu lassen, wenn er das hier überstanden hatte. Er fand es absurd, angesichts der Situation, in der 189
er sich befand, an eine Magenuntersuchung zu denken, doch er horchte in letzter Zeit oft in sich hinein, vermeinte, sein Herzschlag müsse jeden Moment aussetzen, oder glaubte, er habe einen Darmverschluß, wenn er unter starken Blähungen litt. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Das hier noch durchstehen, dann kannst du aufatmen, kannst deinen Magen und deine angegriffenen Nerven wieder auskurieren. Er hob den Kopf. Da – da dieses Knacken der Zweige! Kein Zweifel, dort mußte sich jemand versteckt halten! Perlbach sprang auf und lief weiter. Kurz unter den Hecken ließ er sich fallen, preßte den Kopf an den Boden. Jetzt waren es nur noch wenige Meter. Gleich bist du am Ziel, ermunterte er sich. Hoffentlich hat er dich nicht schon bemerkt. Plötzlich war ihm, als habe er leise Stimmen vernommen. Warteten dort zwei Erpresser auf ihn? Das machte die Sache nicht leichter. Trotzdem, rief er sich zu, du kannst nicht mehr zurück. Blitzschnell sprang er auf die Füße. Die letzten Meter hatte er in einer Sekunde bewältigt. Er sah die Umrisse einer Gestalt in den Büschen. Er hob den Arm mit dem Schraubenschlüssel, da wurde er am Handgelenk gepackt und zurückgerissen. Perlbach wehrte sich mit aller Kraft. Die beiden Männer rangen verbissen miteinander. Perlbach suchte krampfhaft, seine rechte Hand mit dem Schlüssel freizubekommen, doch der andere schien die Gefahr zu spüren. Plötzlich schrie eine Frau auf. Perlbach schrak zusammen, doch er gab nicht in seinen Bemühungen nach, zum Schlag zu kommen. Die Frau kreischte jetzt ein zweites Mal. Da schob sich der Mond hinter den Wolken hervor. Perlbach erkannte den anderen. Es war Watschi. Jener hatte ihn auch erkannt. Er ließ Perlbachs Arm los und brüllte: „Bist wohl verrückt geworden, was! Rennst nachts 190
durch die Heide, um harmlosen Liebespaaren einen über’n Deetz zu geben!“ Perlbach gewahrte die fremde Frau, die seitlich von ihnen unter den Büschen lag und mit aufgerissenen Augen zu den Männern hinsah. Perlbach blickte unausgesetzt zu ihr hin. Sie mochte Ende Zwanzig sein. Er ließ den Schraubenschlüssel aus seinen Händen gleiten. Er fiel mit einem kleinen, dumpfen Aufschlag auf die Wiese. Die Frau begann sich die Bluse zuzuknöpfen. Perlbach beobachtete sie dabei. Zwischen den dreien fiel minutenlang kein Wort. „Wer ist das?“ fragte Perlbach, auf die Frau weisend. Im gleichen Moment wußte er, wie unsinnig seine Frage war. Watschi hatte den Schraubenschlüssel aufgehoben. „Heiliger Strohsack, wenn du damit zugehauen hättest!“ „Entschuldige“, erwiderte Perlbach tonlos, „ich habe euch verwechselt, habe gedacht … na … eben … verwechselt.“ Watschi sah ihn durchdringend an. Dann drehte er den Zeigefinger an der Schläfe. „Du hast wohl ’ne Meise, hej?“ Perlbach riß ihm den Schlüssel weg und lief die Hügel hinab. Hinter sich vernahm er noch die lispelnde Frage der Frau: „Was war’n das für ’n Kerl?“ Watschis Antwort konnte er nicht mehr verstehen. Er saß auf dem Baumstumpf und brütete. Watschi und seine Freundin waren dicht an ihm vorübergekommen. Die Frau schien noch immer aufgeregt zu sein. Watschi suchte sie zu beruhigen. Er hörte ihre Stimmen noch, als sie schon den Weg nach Kloster eingeschlagen hatten. Er saß und wartete. Er wußte nicht einmal, worauf er noch warten sollte. Ganz sicher würde der andere nicht mehr kommen. Der hatte ihn hierhergelockt, um ihn zu 191
beobachten oder ihn weichzuklopfen, jedenfalls würde er nicht mehr kommen. Es war kurz vor eins. Von hier aus konnte er den Leuchtturm nur noch ganz unklar ausmachen. Perlbach war entnervt und schlapp. Dieser Kerl kam ihm stets dazwischen! Vielleicht hatte der, dem er auflauern wollte, auch in der Nähe gesessen und gewartet. Nun war alles verdorben. Was sollte er tun? Einen neuen Termin abwarten, der ganz sicher kommen würde? Er konnte nicht jedes Wochenende hierherfahren. Heute war Montag, er mußte nach Berlin zurück. Tiefe Mutlosigkeit begann sich seiner zu bemächtigen. Er wußte nicht mehr, wie er sich schützen sollte vor den Nachstellungen seines Feindes. Er war so sicher gewesen, allem in dieser Nacht ein Ende zu bereiten, und nun mußte er fahren, ohne den anderen auch nur gesehen zu haben. Reglos saß er auf dem Baumstumpf, bis das erste graue Frühlicht im Osten aufstieg. Es hatte leise zu nieseln begonnen. Der Himmel hatte sich zugezogen. Er nahm den Frühdampfer zurück nach Stralsund.
9 Wenige Tage später ließ Perlbach sich krank schreiben. Doktor Volkerts war sofort einverstanden. Er versuchte, seinen Patienten zu überreden, auf eine stationäre Behandlung einzugehen, doch Perlbach lehnte ab. Er sah jetzt selbst ein, daß er seinem Beruf nicht mehr gewachsen war. Ständig mußte er Terminverlängerungen für seine Arbeiten erbitten. Einige seiner Berechnungen, die als Grundwerte für das zu entwerfende Großbauprojekt dienen sollten, waren vom Ministerium abgelehnt und mit der Bemerkung, sie seien fehlerhaft, ans Institut zurückgeschickt worden. 192
Mertin tobte. Perlbach zog sich zurück. Zwei Tage ließ er sich nicht außerhalb seines Arbeitszimmers sehen. Zum Mittagessen ging er außer Haus, verschlang irgendwo eine Bockwurst, trank zwei oder drei Doppelte … Oder waren es mehr? Wenn er Kollegen im Treppenhaus traf, nickte er flüchtig, bemüht, schnell an ihnen vorüberzukommen. In seinem Schreibtisch hatte sich eine Batterie leerer Schnapsflaschen angesammelt. Perlbach wollte sie immer mal fortschaffen, doch er hatte es stets vergessen. Am Tage vor seiner Krankschreibung hatte er versäumt, seinen Schreibtisch zu verschließen. Die Reinigungskraft, eine ältere Frau, war auf die Flaschen gestoßen. Provokant stellte sie sie in Reihen hintereinander auf seiner Schreibtischplatte ab. Als Perlbach – wieder einmal verspätet – seinen Arbeitsplatz betrat, hatte es sich wohl schon im ganzen Hause herumgesprochen: Perlbach säuft. Perlbach läßt sich gehen. Perlbach schlampt. Perlbach fliegt demnächst. Er hielt es nicht mehr aus. Volkerts fragte nicht lange. Der Krankenschein lag schon bereit, als Perlbach zu ihm kam. „Wollen Sie es nicht doch mit einer Behandlung hier im Hause versuchen?“ drang der Mediziner in ihn. „Nein“, lehnte Perlbach müde ab. „Ich will nur noch Ruhe. Also geben Sie mir Schlaftabletten, die stärksten, die Sie haben, und dann …“ Volkerts blickte ihn argwöhnisch an. „Barbiturate sind gefährlich, wenn sie auf Dauer verabreicht werden.“ Perlbach nickte vage. „Geben Sie mir irgend etwas.“ In der Apotheke stand eine lange Schlange. Perlbach trat wieder auf die Straße und lief ziellos durch die Stadt. Das Rezept ließ er durch eine Gullyspalte rutschen. Er wußte, daß ihm die Schlafmittel doch keine Linderung bringen würden. An einem Kiosk nahm er drei doppelte 193
Weinbrand im Stehen ein. Dann stellte er fest, daß seine Finanzen zur Neige gingen. Mein Gott, dachte er erschrocken. Schon wieder kein Geld mehr. Und er erinnerte sich, daß er früher immer sehr gut mit seinem Geld ausgekommen war. Seit Wochen war das anders. Du säufst einfach zuviel, hielt er sich zum hundertsten Male vor, doch er tat es immer halbherzig und meist nur, um hernach zu beschließen, einen letzten, wirklich allerletzten Trunk zu nehmen. In seinem Portemonnaie waren noch sieben Mark. Damit kannst du in keine Kneipe, überlegte er. Er suchte sich eine Parkbank. Nach einigem Stöbern in seiner Brieftasche hielt er Brigittes Scheckbuch in Händen. Ein Glück, dachte er, daß du damals nicht aufgegeben und es doch noch gefunden hast. Er schrieb eine hohe Summe in die offene Rubrik. Brigittes Unterschrift lag ihm. Er konnte sie lässig aus dem Handgelenk. Mit fünf neuen Hundertmarkscheinen ausgestattet, saß er kurze Zeit später in einer Selbstbedienungsgaststätte. Als er sie Stunden später verließ, hatte bereits der Berufsverkehr eingesetzt. Perlbach schob sich mühsam zwischen eiligen Menschen hindurch, die auf dem Heimweg waren. Ihm schien es, als kämen ihm alle entgegen. Keiner nahm den gleichen Weg wie er. Er blieb stehen und maß die Passanten mit herausfordernden Blicken. Niemand nahm ihn wahr. Einige Frauen schlugen einen Bogen um ihn. Es war nicht zu übersehen, daß er angetrunken war. Perlbach lief weiter. Nach Hause zog es ihn nicht. Was die anderen nur alle in ihren Wohnungen wollten? Er verstand das nicht. Er verstand überhaupt niemanden mehr. An der Ecke Friedrichstraße glaubte er, Brigittes Anorak im Menschengewühl ausfindig gemacht zu haben. Er schüttelte den Kopf, um die Nebelbänke zu vertreiben, die der Alkohol ihm vor die Augen geschoben hatte. Schließlich sah er die Frau wieder. Ja, Brigitte! Er sah 194
sie wenige Meter vor sich. Sie hatte den gleichen Gang wie seine Frau, und trug sie nicht auch die gleichen engen Hosen? Perlbach rempelte Entgegenkommende an. Er durfte sie nicht aus dem Auge verlieren. Einmal war sie ihm fast entwischt, doch dann sah er sie auf der anderen Straßenseite wieder. Kurz vor dem S-Bahnhof Friedrichstraße hatte er sie eingeholt. Er zog die Frau am Ärmel. Sie drehte sich unwillig um und entzog ihm den Arm. Perlbach stammelte lallend eine Entschuldigung. Die Fremde ging rasch weiter, ohne auf seine Worte zu achten. Im Bahnhofskiosk erwarb Perlbach eine große Flasche Weinbrand. Er schob sie in seine Jackettasche, danach begab er sich auf die Pachttoiletten. Die Toilettenfrau nahm ihm einen Groschen ab, dann schloß sie vor ihm auf. Perlbach setzte sich, drehte den Schraubverschluß der Flasche auf und trank. Nachdem er über die Hälfte der Flasche geleert hatte, begann sich die Tür vor seinen Augen zu drehen. Er rutschte vom Toilettendeckel herunter, sein Kopf schlug dumpf gegen die gekachelte Wand. Die Flasche entglitt seinen Händen. Nach einiger Zeit klopfte die Aufwartefrau gegen die Tür. Als er sich nicht meldete, tat sie nach wenigen Minuten noch einmal dasselbe. Schließlich öffnete sie die Tür. Perlbach lag zusammengekrümmt vor dem Toilettenbecken. Die Frau erschrak tödlich, doch sehr bald stieg ihr der Alkoholdunst entgegen. Sie rief die Polizei. Perlbach wurde von einem Funkwagen der Volkspolizei zur Blutentnahme und Ausnüchterung ins Polizeikrankenhaus gebracht. Perlbach selbst nahm von alldem nichts wahr. Der Anruf kam am nächsten Nachmittag. Perlbach lag mit starken Kopfschmerzen und Übelkeit auf seiner Couch. Als es klingelte, wollte er das Rufzei195
chen zunächst ignorieren. Doch dann siegte sein Pflichtgefühl. Schon möglich, überlegte er, daß das Institut irgend etwas von dir will. Sein Kranksein war überraschend gekommen. Aber, dachte er einen Moment lang voller Hoffnungslosigkeit, was hatte er überhaupt noch mit dem Institut zu schaffen? Suchte man nicht längst nach Möglichkeiten, ihn abzuschieben? Galt er nicht als Versager, als Trunkenbold und Menschenfeind? Rechnete irgendein Mensch noch mit ihm? Schließlich nahm er den Hörer ab. „Ja, bitte?“ Er vernahm ein Knacken in der Leitung. Dann hörte er eine heisere Stimme, die sehr entfernt klang, sagen: „Der Mörder kehrt immer wieder an den Ort seines Verbrechens zurück, stimmt’s, Perlbach?“ Perlbach schrie: „Hallo, so melden Sie sich doch. Wer ist denn da? Ich bin bereit, mit Ihnen zu verhandeln …“ Perlbach stockte. Ihm fehlten die Worte. Sein Gesprächspartner schwieg. „Ich habe Sie erwartet, auf der Insel … umsonst … Was wollen Sie von mir …?“ Ein Röcheln erklang. Perlbach fiel erneut Entsetzen an. Diese Laute hatte er schon einmal vernommen. Die Stimme meldete sich wieder. „Kennst du es, Perlbach?“ Günter Perlbach warf den Hörer auf die Gabel. Sekunden später klingelte es wieder. Das Rufzeichen ertönte minutenlang. Perlbach lag auf dem Sofa und stöhnte. Er wußte, daß er sich unwiderruflich verstrickt hatte. War sein Entgegenkommen eben am Telefon nicht schon ein offenes Geständnis seiner Schuld? Er war gefangen, geliefert. Er sah keine Chance mehr, sich herauszuwinden. Blieb nur die Möglichkeit, das Schweigen jenes Unbekannten zu erkaufen. Er mußte ihn bitten, auf seine Angebote einzugehen. Die Möglichkeit, ihn zu beseitigen, war verwirkt. Er hatte nicht mehr die Kraft, es zu tun. Ich muß ihn bestechen, ihn einkaufen. 196
Vielleicht kann ich ihn eines Tages doch noch übertölpeln, dachte er. Dann fiel er in einen unruhigen, traumgeplagten Schlaf. Als es erneut klingelte, schreckte er hoch. Er war sofort wach. Diesmal war es nicht das Telefon. Leutnant Motz stand vor seiner Wohnungstür. „Wir haben Ihre Frau gefunden“, sagte er. „Fühlen Sie sich in der Lage, sie zu identifizieren?“ Perlbachs Augen flackerten krankhaft. „Ich … jetzt … Ja, aber …“ „Es ist Vorschrift“, ergänzte der junge Kriminalist. „Ja, dann … einen Moment … Ich muß noch …“ „Lassen Sie sich Zeit“, sagte Motz. Es klang, als habe er gesagt: Nehmen Sie Ihre persönlichen Dinge. Perlbach sah sich erschrocken um. Der Leutnant stand unbeweglich im Korridor und wartete. „Wohin fahren wir denn?“ fragte Perlbach. „Nach Rügen.“ „Jetzt?“ „Ja.“ „Werden wir heute noch zurück sein?“ Der Leutnant zuckte die Schultern. „Wenn wir es schaffen.“ Perlbach nickte ungewiß. Dann ging er ins andere Zimmer, um sich anzukleiden. Am Rande des Weizenfeldes parkten zwei grünweiße Streifenwagen der Volkspolizei. Weiter hinten erkannte Perlbach einen Krankenwagen. Sie gingen den Weg zum Ufer hinunter. Perlbach sah Blitzlichter eines Fotografen, der den Fundort abbildete. Der Bodden lag grau und erdig vor ihnen. Perlbach erkannte den schmalen Streifen Landes auf der anderen Seite des Wassers. Dort war er erst vor wenigen Tagen gewesen. Die Gegend hier ist also doch dein Schicksal, 197
dachte er, und dann ließ er sich um ein Weidengestrüpp herumführen. Dort empfing ihn Hauptmann Beeskow. Zwei uniformierte Polizisten standen seitlich neben ihm. „Fühlen Sie sich in der Lage?“ fragte Beeskow und sah Perlbach aufmerksam an. Ihm war nicht entgangen, daß Perlbach seltsam entrückt schien. Auch war seine Gesichtsfarbe von wächserner Blässe. Ein ganz anderer Perlbach, als er ihn von den Vernehmungen kannte. „Sie sind nicht dazu verpflichtet“, räumte er ein. Perlbach nickte vage. „Doch, ich bin – bereit.“ Beeskow gab ein Zeichen. Einer der beiden Polizisten schlug die Decke zurück. Perlbach fuhr zusammen. Was dort vor ihm auf der Erde lag, war keine Frau mehr. Er erkannte ihren Anorak, der zerrissen und vom Salz angefressen war. Aber er war es, das war eindeutig. Er glaubte auch, ihre Hosen wiedererkannt zu haben. Sie waren verfärbt und von Schlick verschmutzt, Wasserpflanzen überzogen den zur Unkenntlichkeit entstellten Körper. Es waren nur noch Reste, die sich fanden. Hautfetzen um einen fast weißgewaschenen Schädel, Haarbüschel, tote Augenhöhlen. Die Leiche war barfuß. Die fleischlosen Füße sahen unter der Decke hervor. Perlbach packte das Grauen. Er wandte sich ab. Sein ganzer Körper zitterte. Er barg das Gesicht in den Händen. Motz stand abseits und ließ sich keine Regung Perlbachs entgehen. Als er bemerkte, daß Perlbach aufschluchzte, gab er seinem Vorgesetzten unbemerkt ein Handzeichen. Beeskow trat zu ihm. „Wollen wir jetzt …?“ fragte Motz. Beeskow schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Er ist noch nicht soweit. Abwarten.“ Der Hauptwachtmeister der Schutzpolizei hatte Perlbach zum Krankenwagen geführt. Dort wartete der Arzt. Er verabreichte Perlbach Beruhigungstropfen. 198
Perlbach ließ alles willenlos mit sich geschehen. Immer wieder fiel sein Blick auf das deckenverhüllte Bündel dicht am Uferstreifen. Das war einmal ein Mensch gewesen. Seine Frau. Der Brief. Perlbach fand ihn nach seiner Rückkunft unter der Tür. „Ich habe Sie lange beobachtet, Perlbach. Ich weiß, daß Sie Ihre Frau ebenso umgebracht haben wie das kleine Mädchen, das Sie vor zehn Jahren am Straßenrand liegenließen. Ich war dabei, als es starb. Ich schwor mir, Sie zu finden. Und ich fand Sie. Morgen werde ich zur Polizei gehen.“ Das Schreiben war ohne Unterschrift. Perlbach sah keinen Weg mehr. Er war geliefert. Er hatte keinen Schnaps in der Wohnung, und er fühlte sich zu schwach, um welchen zu besorgen. Schluchzend saß er im Sessel. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Draußen wurde es Nacht. Gegen zweiundzwanzig Uhr schleppte sich ein Mensch durch die Straßen. Er hielt von Zeit zu Zeit inne, um zu verschnaufen, lehnte sich an eine Hausmauer, schöpfte Luft. Die Nacht war kühl, erste Vorboten des nahen Herbstes kündigten sich an. Der Mann trug einen ungebügelten Anzug, sein Hemd stand am Halse weit offen, das Ende einer Krawatte lugte aus der Jackentasche hervor. Er wirkte wie betrunken, doch er war es nicht. Er tastete sich vorwärts. Zwei junge Männer, die ihm entgegenkamen, sprachen ihn an. Er sah sie nicht. Er hörte nichts. Er ging seinen Weg weiter. An einer Kreuzung verhielt er, wie um sich zu orientieren. Dann schlug er den Weg zum Stadtzentrum ein. Unter dem erleuchteten Schild der VP-Inspektion verharrte er wieder. Er sah sich noch einmal um. Er konnte keinen Verfolger ausmachen. Nochmals kam ihm 199
der Gedanke der Flucht. Doch er besaß nicht mehr die Kraft. Nein, er konnte nicht mehr. Es war aus. Er erklomm die Treppen. „Was wollen Sie, Bürger?“ Der Volkspolizist trat auf ihn zu. Perlbach stand vor der hölzernen Barriere, sein Atem ging schwer. „Ich möchte etwas – melden.“ „Ihren Ausweis, bitte.“ Perlbach händigte ihn aus. „Um was handelt es sich?“ fragte der Hauptwachtmeister. „Um – Mord.“ Der Volkspolizist zog die Brauen hoch. „Bitte, kommen Sie.“ Das Geständnis. Der junge Mann stand auf der anderen Straßenseite und wartete. Er sah die hell erleuchteten Fenster der VPInspektion. Nachdem er fast zwei Stunden gestanden hatte, wendete er sich um und ging davon. Er wußte, daß er einen Mörder ausgeliefert hatte. Doch wollte sich kein Gefühl des Stolzes und der Sieghaftigkeit einstellen. Er empfand keine Genugtuung. Traurigkeit füllte ihn aus, eine tiefe Leere, die sich immer mehr in ihm ausbreitete. Vor ihm stand das Bild des Mädchens. Angela, wie sie ihn beobachtete, als er auf dem Baume saß. Und dann jene schrecklichsten Sekunden seines Lebens, als Angela zusammengekrümmt unter dem Apfelbaum lag. Wie hatte er gewimmert, als ihn die Krankenfahrer herunterholten. Angela war noch am gleichen Nachmittag verstorben. Sie war elf Jahre alt gewesen. Das alles lag über zehn Jahre zurück. Doch er hatte es vor Augen, als wäre es gestern geschehen. Auch das Gesicht jenes Mannes, der angstbleich in den Wagen gestürzt und davongefahren war: Perlbach. Er hatte ihn sofort wiedererkannt, als er vor Monaten bei ihm das 200
Praktikum begann. Er hatte mit ihm reden wollen. Und dann war alles anders gekommen. Nun hast du deine Rache, dachte er. Und was hast du gewonnen? Wollte er eigentlich Rache? Er wußte es nicht zu sagen. Jedenfalls konnte er das Kind nicht wieder zum Leben erwecken. Und auch nicht die Frau, die seinerzeit Zeuge des Unfalls geworden war. Was hatte er gewonnen, was war verändert worden? Hatte er nun seine Gerechtigkeit? Diese Fragen quälten ihn. Sie würden unbeantwortet bleiben. Er betrat ein Lokal und trank wortlos ein Bier. Dann noch eins und später ein drittes. Nach einer halben Stunde trat er den Heimweg an. In seiner Studentenwohnung angekommen, begab sich Andreas Herzog sofort zu Bett. Er konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden.
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Werner Toelcke Die Operation Kriminalroman, DIE Reihe etwa 300 Seiten, etwa 3,– Mark
Leseprobe Während Doktor Robert Carlsson völlig angezogen die Treppe hinunterstieg, kam ihm die Erinnerung an die merkwürdigen Leichenteilfunde aus der Umgebung von Hannover. Immer wieder hatte er in letzter Zeit beim Überfliegen der Morgenzeitungen darüber gelesen. Man vermutete in dem Täter einen Mann mit chirurgischen Kenntnissen. Die Entfernung war nicht allzu weit. Über die Autobahn zum Horster Dreieck und von dort nach Hannover hinüber. Das könnte er schaffen in dieser Nacht, mit seinem schnellen Wagen hin und zurück. Dann dachte er daran, ob die Gerichtsmediziner wohl eine abweichende Technik bei der Sektion erkennen würden? Damit müßte man allerdings rechnen. Er lief noch einmal durch den ganzen Wohntrakt bis zur Bar neben der Schwimmhalle. Dort verschloß er sorgfältig die Kühlbox, dann kehrte er mit dem Milchkrug nach vorn zurück. Nicht einen Blick warf er zu der toten Frau hin, als er an der Liege vorüberging. Bedächtig schob er die Schiebetür zu, die jene Wohnebene von dem Arbeitsraum trennte, und wandte sich um. Noch war es draußen hell, aber es würde bald dämmern. Er wollte auch hier die Rolladen herunterlassen und Licht anmachen. Auf dem Tisch in der Sitzecke befanden sich ein Stoß Leitz-Schnellhefter und zwei Stapel mit Kassetten. Dabei handelte es sich um Videobänder VC 60 der Marke Phi203
lips und um Chromdioxydkassetten derselben Firma. Er hatte sich bereits einige der Bänder auf seinem VideoRecorder angesehen, auch zwei der Tonkassetten abgespielt. Er hoffte, etwas über die Hintergründe zu erfahren, die zu der Katastrophe in seinem Hause geführt hatten. Aber er konnte vorhin keinen klaren Gedanken fassen. Da hatte er sich ausgezogen und war in das Schwimmbecken gestiegen, und nachdem er sich umgezogen hatte, wollte er es noch einmal versuchen. Er griff nach dem nächsten Videoband, legte es in den Recorder N 1700 von Philips ein und drückte auf „Start“. Er lehnte sich im Sessel zurück und sah das Kassettenbild über die Mattscheibe des Fernsehers flimmern. Die Kamera blickte aus leicht erhobener Position und aus Richtung des Fensters in ein Büro. Auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch saß wieder jener Mister Kruger, ein jung wirkender Fünfziger, einer von diesen dynamischen Typen, die nichts umwirft. Er hatte dichtes, braunes Haar über einer schmalen Stirn. Unter buschigen Brauen und hinter Brillengläsern lagen die Augen auf der Lauer. In diesem Moment wirkte er jedoch sorglos und heiter, ohne jeden Arg. Er hatte wohl nicht den geringsten Verdacht, daß er gerade aufgezeichnet wurde. Rechts von Kruger stand im Hintergrund eine Sitzecke, und daneben befand sich die Tür. Darüber erkannte man eine Uhr, deren Zeiger auf 15 Uhr 31 wiesen, und auf dem Türblatt war ein Umlegekalender angebracht, der Wochentag, Monatszahl und Jahr angab, alles in großen Lettern. Zweifellos sollten damit das Datum und die Zeit dokumentiert werden. Es war wie im Kino. Doktor Carlsson kannte das Atelier, aus dem die Aufnahme stammte. Das lag nicht in Hollywood, sondern schlicht und einfach in der Hamburger Innenstadt. In einem der Nobelgeschäftshäuser an den Raboisen. Er kannte das Büro sogar sehr gut, er kam ja vor nicht langer Zeit von dort. Und auch diesem 204
Herrn Kruger war er schon in den Wochen zwischen dem Datum der Aufnahme und dem heutigen 20. Mai in Person begegnet. Er hegte keine besonderen Gefühle für den Mann. Schließlich verdankte er ihm all das Unheil in seinem Haus. Und dennoch, als er ihn nun über den Fernsehschirm flimmern sah, erschien ihm alles abstrakt und unwirklich. Wie im Kino. Gerade zündete sich Kruger eine Zigarette an, beugte sich vor und legte die Schachtel neben den Ascher auf den Schreibtischrand. Man sah sie deutlich, es war eine „Lucky strike“. Doktor Carlsson empfand gleich brennendes Verlangen nach einer Zigarette und steckte sich auch eine an. Neiderfüllt blickte er auf sein Gegenüber, das den Rauch in Richtung Kamera blies. Carlsson liebte scharfe, filterlose Zigaretten. Da er aber starker Raucher war, zwang er sich zu solchen mit Filter. Sekundenlang hatte Carlsson das makabre Gefühl, als würden sie sich den Rauch ihrer Zigaretten ins Gesicht pusten. Herr Kruger wandte sich nämlich direkt dem Kameraobjektiv zu. Nachdem sie sich eine Weile lang so angestarrt hatten, drückte der Arzt auf die Stoptaste und anschließend auf „Rewind“. Er beobachtete, wie das Kassettenbild zurücklief. Dann griff er nach dem obersten Leitz-Schnellhefter und schlug ihn auf. Darin befanden sich die Niederschriften zu den Videobändern und Tonkassetten, die er zum Teil schon gesehen und gehört hatte. Zunächst konnte er mit den Überschriften nichts anfangen, aber allmählich kam Klarheit in die Zeichen der Geheimschrift. Oben auf dem Blatt stand: G5/MR 4V/6-4-78, 20.3/78, 15 Uhr 30. Bei dem Kürzel MR hinter dem ersten Querstrich handelte es sich um die Person, die sich vor der Kamera nicht zu erkennen gab. Dort sah man immer nur die Besucher auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzen. Das G5 vor dem Schrägstrich konnte Carlsson nicht deuten, aber das „V“ stand zweifellos für Video und das „T“ für Tonkassette. Die Zahl hinter dem zwei205
ten Querstrich zeigte sicher die fortlaufende Nummer an, darauf folgten Datum und Uhrzeit. Doktor Robert Carlsson hatte den aufgeschlagenen Schnellhefter auf den Knien liegen, aber sein Blick hing an der Schiebetür, hinter der sich die tote Frau befand. Was hatte er vorhin für einen Gedanken gehabt, als er vom Schlafzimmer herunterstieg? Er dachte an die merkwürdigen Leichenteilfunde, über die er gelesen hatte. Und er hatte sich ausgerechnet, daß er den Weg nach Hannover und zurück in einer Nacht schaffen könnte. Er wußte noch immer nicht, was er tun sollte, und ein bißchen hoffte er, er könne zu einem Entschluß kommen, nachdem er auch den Rest der Bänder kennengelernt haben würde. Sein Blick ging zu dem Schnellhefter zurück und auf das Datum in der Überschrift. 20. März 1978, las er. Ja, damals vor zwei Monaten hatte es begonnen. Da lag das Ende der Schlinge, die sich in weiten Kreisen, und dann immer enger werdend, um ihn zusammenzog. Bis hin zu den Ereignissen des heutigen Tages, bis hin zu der Leiche hinter der geschlossenen Schiebetür. Niederschrift nach vorliegendem Videoband G 5/MR 4V/6-4-78, 20. 3. 78, 15 Uhr 30 MR: Es ist alles ohne den geringsten Befund! Einen Tag lang hab’ ich in alten Unterlagen von Berliner Instituten herumgekramt. Nichts, gar nichts! Oder wenn Sie wollen: sehr viel Positives! Er hat niemals eine Stunde gefehlt, er ging stets als Erster durch die Seminare, durch alle Prüfungen. Während seiner Berliner Jahre, und es waren drei, hat er in einer möblierten Bude in der Lutherstraße gewohnt, in Steglitz, bei der Witwe Stübing. Die Frau ist heute über achtzig, ich hab’ mit ihr gesprochen. Sie legte vielleicht die Motivation für dieses Strebertum bloß. Nach ihrem Bericht wurde Wellers Va206
ter in der letzten Kriegswoche von einem rollenden SSKommando an einer Berliner Gaslaterne aufgeknüpft. Das Großdeutsche Reich war damals noch etwa drei oder vier Quadratkilometer groß und bestand aus ein paar Straßen um die Reichskanzlei, unter der sich die Ratten verkrochen hatten. Wellers Vater wollte nach Hause, um seinen Sohn zu sehen, der gerade ein halbes Jahr alt war und den er noch nicht kannte. Ja, so war das! ––– MR: Die Mutter hat nicht wieder geheiratet. Sie hat den Jungen allein durch die Oberschule und durch das Studium gebracht. Was sollte der Knabe anderes tun, als brav zu lernen, und da er hochbegabt war, lag er immer vorn. Es gefällt Ihnen nicht, was Sie da hören? Kruger: Ganz im Gegenteil! Sie vergessen, daß unsere Herren in der Firma Doktor Weller außerordentlich schätzen. MR: Hm –! ––– MR: Ich bin dann gestern abend noch von Berlin nach Köln ’rüber. Hab’ heute morgen mit einigen Leuten von der Uni gesprochen. Dieselben Auskünfte. Er hat seinen Doktor summa cum laude gemacht. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen kennen Sie ja. Die Snyder inc. hat sich diesen Senkrechtstarter ja auch gleich gegriffen. Kruger: Und es nicht bereut. ––– MR: Hören Sie mal, Herr Kruger, ich sag’s Ihnen klipp und klar: Falls Sie Differenzen haben mit Ihrem Mitarbeiter, an Weller liegt es nicht … Kruger: Moment, Moment –! Ich hab’ Ihnen gesagt, daß wir gewisses Hintergrundmaterial brauchen, falls er eines Tages … MR: … falls es eines Tages Ärger mit ihm geben sollte. Und ich sage Ihnen, wenn es dazu kommt, liegt es nicht 207
an diesem Mitarbeiter, sondern an der ‚William Snyder International incorporated‘. Kruger: Sie legen sich mächtig ins Zeug! MR: Ja, er hat noch was davon, das einmal in Deutschland hoch im Kurs stand – Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit. Kruger: Sind wir überhaupt noch im Geschäft? MR: Natürlich. ––– MR: Ich bin dabei, Ihnen meinen Bericht vorzutragen … ––– Kruger: Ich höre …
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2. Auflage ©Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 (1979) Lizenz-Nr.: 409-160/156/82 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 422 9 DDR 2,– M