Hausmitteilung 5. September 2011
Betr.: Titel, WikiLeaks, SPIEGEL-Bücher
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MAURICE WEISS / OSTKREUZ
eit knapp zehn Jahren werden Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt. Ungeklärt blieb bisher, ob der damalige Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer dem Druck der US-Regierung nachgaben oder ob sie selbst auf den Einsatz drängten. Titelautor Christoph Schwennicke, 45, rekonstruierte das Geschehen mit einem Team von Kollegen, die SPIEGEL-Leute recherchierten bei Soldaten, in den Geheimdiensten, im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt. Sie sahen Akten ein, die bisher unter Verschluss gehalten worden waren – für den SPIEGEL hob die Schwennicke Bundesregierung die sonst übliche Sperrfrist von 30 Jahren auf. Die Redakteure trafen auf Gesprächspartner, die den Krieg kaum noch rechtfertigen. Schwennickes Fazit: „Die Deutschen wurden nicht von den USA nach Afghanistan gedrängt, sie wollten dorthin.“ Wichtige Akteure wie der damalige Sicherheitsberater Michael Steiner und Innenminister Otto Schily, so Schwennicke, „brechen heute den Stab darüber“ (Seite 74).
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iermal hat der SPIEGEL Geheimmaterial der Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlicht: Kriegstagebücher aus Afghanistan und dem Irak, später US-Botschaftsdepeschen und Dokumente über das Gefangenenlager Guantanamo. Stets hatte die Redaktion darauf bestanden, über die Berichterstattung nur nach eigenen Grundsätzen zu entscheiden. So wurde die Identität von Informanten der US-Militärs oder von Diplomaten nicht preisgegeben, um die Zuträger zu schützen. WikiLeaks akzeptierte die Bedingungen. In der Nacht zum Freitag vergangener Woche hat WikiLeaks diesen Pfad ver- SPIEGEL 48/2010 lassen. Ihr Chef Julian Assange, 40, ließ 251 287 Dokumente von Diplomaten mit unbearbeiteten, hochsensiblen Daten ins Netz stellen, nachdem der Zugangscode bekanntgeworden war. In einer gemeinsamen Erklärung haben der SPIEGEL, die „New York Times“, der britische „Guardian“, die französische „Le Monde“ und die spanische „El País“, die WikiLeaks als Quelle genutzt hatten, diesen Schritt verurteilt. Ob der SPIEGEL künftig Enthüllungsplattformen nutzen werde, hänge davon ab, ob sie vertrauenswürdig seien, sagt SPIEGEL-Chefredakteur Georg Mascolo, 46: „WikiLeaks hat durch seine jüngste Entscheidung, das Material zu veröffentlichen, viel Vertrauen eingebüßt“ (Seite 146).
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it dem C64 begann in den achtziger Jahren der Einzug der Computer in den Alltag. Christian Stöcker, Ressortleiter Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE, beschreibt im SPIEGEL-Buch „Nerd Attack! Eine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook“ (DVA, 14,99 Euro) die Auswirkungen des Fortschritts. Zwanzig Jahre lang war Rolf Lamprecht SPIEGEL-Korrespondent beim höchsten deutschen Gericht. Für sein Buch „Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“ (DVA, 19,99 Euro) hat Lamprecht recherchiert, wie die Richter mit ihren Entscheidungen das Leben in Deutschland geprägt haben. Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Warum Deutschland nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den Afghanistan-Krieg zog – eine Rekonstruktion .............................. 74 Wie der BND Hamid Karzai rettete ............... 84
Deutschland
Gesellschaft Szene: Wie aus Gemüse Instrumente werden / Die ehemalige Gefängnispsychologin Susanne Preusker über ihre Vergewaltigung durch einen Häftling und den Umgang mit Sexualstraftätern ...................................... 48 Eine Meldung und ihre Geschichte – ein Quallenforscher verschreckt Frankreichs Touristen ..................................... 50 Hunger: Wie aus dem größten Flüchtlingslager der Welt eine Stadt der Zukunft werden soll ................................. 52 Ortstermin: In Berlin wird ein Porträt von George H. W. Bush enthüllt – zwölf Jahre nachdem er Ehrenbürger wurde ..................... 57
Merkels Euro-Plan
Seiten 18, 24
Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy wollen die Euro-Gruppe zu einer europäischen Neben-Regierung aufrüsten. Ex-Kanzler Schröder reicht das nicht. Er plädiert für die Vereinigten Staaten von Europa.
GEORGES GOBET/AFP
Panorama: Schäden durch Wirtschaftskriminalität steigen / Aigner verspricht bessere Kennzeichnung regionaler Lebensmittel / SPD plant massive Steuererhöhungen ............ 14 Euro: Die Bundesregierung bereitet sich auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten vor .... 18 Karlsruhe wird in seinem Euro-Urteil die Rechte des Bundestags stärken ................. 21 Zweifel an der Rettung Griechenlands ........... 22 SPIEGEL-Gespräch mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder über eine neue Politik für Europa ...................................................... 24 Liberale: Der Fehlstart des Parteichefs Philipp Rösler ................................................. 28 Berlin: Die Berliner Spitzenkandidatin Renate Künast erreicht die Wähler nicht ........ 32 Prozesse: Zwei brutale U-Bahn-Schläger müssen sich vor dem Berliner Landgericht verantworten .............................. 35 Sozialstaat: Das Bildungspaket für arme Kinder überfordert die Behörden ................... 38 Treibhauseffekt: Wie sich die Kommunen auf den Klimawandel vorbereiten ........................ 40 Verbrechen: Hätten die Behörden den Doppelmord an zwei türkischen Frauen verhindern können? ....................................... 44 Verkehr: München und Düsseldorf machen mobil gegen Bierbikes .................................... 47
Die angekündigte Katastrophe
Seite 44
Der Doppelmord von Berlin-Wedding hat die Republik schockiert. Doch der mutmaßliche Täter Mehmet Y. sollte abgeschoben werden und bedrohte die späteren Opfer. Haben die Behörden nicht schnell genug reagiert?
Stadt der Flüchtlinge
Seite 52
450 000 Somalier leben im kenianischen Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt. Sie werden wohl auf Dauer bleiben. Ein Lager-Manager will deshalb eine richtige Stadt bauen, die für Afrika modellhaft sein könnte.
Wirtschaft
Absturz der Solarindustrie
Seite 60
PAUL LANGROCK / ZENIT
Trends: Regensommer weckt Lust auf Schokolade / Anklagen in der SdK-Affäre / Helaba kann WestLB-Reste übernehmen ....... 58 Energie: Die chinesische Konkurrenz macht der deutschen Solarindustrie zu schaffen ..................................................... 60 Solar Millennium – vom Branchenstar zum Krisenunternehmen ....................................... 63 Geld: Europa braucht eine Transferunion – aber welche? .................................................. 64 Weltwirtschaft: Interview mit der neuen IWF-Chefin Christine Lagarde über die Gefahr einer globalen Rezession ...... 67 Verlage: Auch unter neuen Besitzverhältnissen dürfte der WAZ-Konzern nicht zur Ruhe kommen ................................. 70
Ausland Panorama: Ex-Vizepräsident Dick Cheney brüskiert seine Mitstreiter aus der Bush-Regierung / Österreicher fordern radikale Kirchenreform .................................. 72
Solaranlage
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Die deutschen Hersteller von Solaranlagen schreiben rote Zahlen und bauen Arbeitsplätze ab, manchen droht sogar die Pleite. Konkurrenten aus China setzen sie unter Druck. Auch einige Produzenten von Windrädern sind angeschlagen. Die Perspektiven für die grünen Zukunftsbranchen verdüstern sich plötzlich – trotz Energiewende und Milliardensubventionen.
Libyen: Versuch einer neuen Ordnung nach dem Chaos – Reportage aus Tripolis ...... 90 Abd al-Dschalil – der stille Held der Revolution ............................................... 93 Syrien: Interview mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, zu den Ausschreitungen unter Assad ......................... 94 Frankreich: Dominique Strauss-Kahn verunsichert die Sozialisten im Präsidentschaftswahlkampf ....................... 96 Italien: Berlusconi bremst das Sparpaket ....... 98 Völkermord: Angeklagter Ratko Mladić – Porträt eines Besessenen .............................. 100 Global Village: Wie eine Norddeutsche in Dubai die Kamelwäsche revolutioniert ......... 108
Sport
Das Leben nach dem Krieg
Szene: Mentaltrainerin Friederike Janofske über das schlechte Abschneiden von Britta Steffen bei der Schwimm-WM / Debatte über die Fehlstartregel in der Leichtathletik ......... 109 Fußball: Bundesligist TSG Hoffenheim wirbt um Sympathie bei Fans ................................. 110 Extremsport: Ein Schweizer Dorf ist zum Dorado der Basejumper geworden ............... 114
Gnadenloser General
CIRO FUSCO / DPA
Seite 90
In Tripolis herrschen die Rebellen. Nun berichtet erstmals der Chefplaner des Aufstands, wie seine Kämpfer die Stadt in Bezirke unterteilten und sich dort heimlich festsetzten. Am Ende schlugen sie gleichzeitig los.
Seite 100
Ratko Mladić steht wegen Völkermords vor dem Tribunal in Den Haag – und verhöhnt das Gericht. Familienmitglieder und Freunde erzählen erstmals von seiner Flucht und seiner bittersten Niederlage: dem Suizid seiner Tochter.
Das Geheimnis der Knochen
Kultur Szene: Die SPIEGEL-Kantine wandert ins Museum / Maler-Star Gerhard Richter im Dokumentarfilm ...................................... 128 Zeitgeist: „New York Times“-Kolumnist Thomas Friedman prophezeit den Untergang der USA ......................................................... 130 Bestseller ..................................................... 132 Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa über Schreiben und Rebellion ............................... 134 Literatur: Der Schauspieler Josef Bierbichler debütiert als Romancier ................................ 138 Essay: Ferdinand von Schirach über seinen Großvater, den Reichsjugendführer Baldur von Schirach ................................................. 140 Filmkritik: Aki Kaurismäkis Märchenfilm „Le Havre“ ................................................... 143
Seite 118
Deutsche Anthropologen durchleuchten weltweit Knochen von Urmenschen, um die Familiengeschichte des Homo sapiens zu entschlüsseln. Erster Befund: Menschen und Neandertaler waren doch unterschiedlicher als gedacht.
Der schreibende Schauspieler
Seite 138
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Medien
CONSTANTIN FILM / CINETEXT
Er ist einer der markantesten Schauspieler Deutschlands, Josef Bierbichler vom Starnberger See. Seine raren Auftritte in Filmen („Im Winter ein Jahr“ mit Karoline Herfurth) und auf der Bühne begeistern die Kritiker. Nun hat der kantige Kauz einen grandiosen Roman geschrieben: „Mittelreich“ handelt von einer bayerischen Gastwirtsfamilie und einem deutschen Herfurth, Bierbichler in „Im Winter ein Jahr“ Katastrophenjahrhundert.
Wissenschaft · Technik Prisma: Tierquälerei bei Mopszüchtungen / Höhlen als Klimamessstationen .................... 116 Paläoanthropologie: Leipziger Forscher erstellen ein Digital-Archiv für Urmenschenknochen .... 118 Verkehr: Warum Ethanol aus Zuckerrohr anderen Biosprit-Sorten überlegen ist .......... 121 Medizin: Neue Waffen gegen den plötzlichen Herztod ...................................... 122 Umwelt: Schiffswracks aus dem Zweiten Weltkrieg bedrohen ein Südseeparadies ....... 124 Mathematik: Interview mit Gert Mittring, Weltmeister im Kopfrechnen, über sein geniales Verhältnis zu Zahlen ....... 126
Trends: Warum schwedische Websites anonyme Kommentare verbieten / Rüffel für „Das Vierte“? .......................................... 145 Internet: Ein Daten-GAU gefährdet die Zukunft der Online-Plattform WikiLeaks ..... 146 TV-Sendungen: Die Inflation der Polit-Talkshows ...................................... 150 Briefe ............................................................... 8 Impressum, Leserservice .............................. 152 Register ........................................................ 154 Personalien ................................................... 156 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 158 Titelbild: Fotos [M] Marco Urban / www.marco-urban.de, F. Bensch / Reuters
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Briefe Das Geheimnis von Loriot ist es immer gewesen, Menschen aus allen Schichten mit leisem Humor nicht nur zum Schmunzeln, sondern zum minutenlangen Lachen zu bewegen. Umso trauriger, dass die aktuell erfolgreichen Comedians ihr Publikum für so blöd halten, dass sie nur auf Rumgepöbel setzen.
„Welch wunderbarer, liebevoll Respekt zollender und humorvoller Titel-Nachruf auf einen edlen, einmaligen Künstler! Loriot als Indikator einer ganzen deutschen Epoche würde schmunzeln.“
BERLIN
Nr. 35/2011, Eine türkische Urlaubermaschine im Visier zweier Bundeswehr-Kampfjets
Suzanne Krenzer aus Frankfurt am Main zum „Loriot“-Titel
Absolut eindeutige Rechtslage
SPIEGEL-Titel 35/2011
Nr. 35/2011, Loriot – Eine Verneigung
Voller Witz und Wärme Der würdigste und einzig mögliche und sinnvolle Titel für diese Woche. Loriot hat wie kein anderer über drei Generationen unsere Sprache und Beobachtungsweise geprägt und uns gelehrt, die Bürden und Absurditäten des Alltags mit einem wohlwollenden Lächeln hinzunehmen. EPPAN (ITALIEN)
Dass mich altem Mann ein SPIEGELTitel – knubbelnasig-schlicht – einmal so berühren könnte, hätte ich nicht für möglich gehalten. BADENWEILER (BAD.-WÜRTT.) HARTMUT BRENNER
Loriot war ganz nebenbei auch ein Meister der politischen Weitsicht. Oder kennen Sie eine bessere Analyse zum Zustand unserer Republik als „Das Bild hängt schief“? OTTERSBERG (NIEDERS.)
RAINER KIND
JULIA ROSENDORFER
Das Titelbild ist das schönste aller Zeiten! BERLIN
THOMAS RESCHKE
Ein wundervolles Titelbild. Respektvoll, prägnant, voller Witz und Wärme – der SPIEGEL hat ja doch eine Seele. GÖBEL / DPA / WDR
BAD NEUENAHR-AHRWEILER (RHLD.-PF.) VOLKER HOSTERT-RIEMENSCHNEIDER
Dass der SPIEGEL einen Titel über Loriot bringt, ist mit das Erfreulichste, was einem in diesen Tagen passieren kann. Endlos traurig ist nur, dass wir fast nur noch Tralala-Komiker haben und dass es einen Loriot nie mehr geben wird!
Unterhaltungskünstler Loriot
Mit leisem Humor Generationen begeistert
Ihr Nachruf, der einer Hommage gleicht, ist der erste Artikel in einer Zeitschrift, der mich zu Tränen gerührt hat. Sie schreiben dort so herzerwärmend von dieser Legende und beschreiben alles mit einer so passenden Detailverliebtheit, wie sie wohl nur der Meister persönlich an den Tag hätte legen können.
In dieser Welt, in der sich meist negative Nachrichten aneinanderreihen, mangelt es an einem tiefen, liebevollen und intelligenten Humor. Einem, der uns auch die nachgeäffte Egozentrik und Wichtigkeit nimmt und über uns selbst lachen lässt, der mutig stimmt, ideologischen Fanatikern die Stirn zu bieten und der Lächerlichkeit preiszugeben. Es mangelt uns an Botschaftern eines solchen Humors à la Loriot.
APPEN (SCHL.-HOLST.)
BAD NEUENAHR-AHRWEILER
ULM
PETER DRÜCK
HAUKE BOEDEKER
Zum ersten Mal in 40 Jahren lese ich im SPIEGEL eine „Verneigung“. Sie ist: schlicht angemessen. BREMEN
PROF. DR. HEINER WENK
Loriot war selbst ein Kunstwerk und wird es bleiben: Gentleman, 60 Jahre verheiratet, Meister der deutschen Sprache, seine Mitmenschen „fein beobachtend“ und nie verletzend, mit zeitlosem Humor Generationen begeisternd.
Der Artikel schildert einen unerhörten Zustand: dass es nämlich das Verteidigungsministerium bisher vorsätzlich unterlassen hat, die Jagdpiloten der Bundeswehr zutreffend über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz aufzuklären. Die Rechtslage ist nicht „sibyllinisch“, sondern absolut eindeutig: ein Passagierflugzeug, in dem sich unbeteiligte Passagiere befinden, darf nach Artikel 1 Grundgesetz nicht abgeschossen werden. Der Abschuss ist nicht etwa nur „nicht geregelt“, sondern verboten, weil die vorsätzliche Tötung unschuldiger Menschen ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage eben ein Totschlag ist. Das Loch befindet sich nicht im Gesetz, sondern allenfalls im Kopf des Rechtsberaters des Inspekteurs der Luftwaffe, der glaubt, die Piloten der Luftwaffe für seine politischen Vorstellungen missbrauchen zu können. Auf fremden Hosen ist gut reiten. Die Piloten müssen wissen: Ein Befehl zum Abschuss ist der Befehl zu einem Verbrechen, zum rechtswidrigen Totschlag. Er ist nach dem Soldatengesetz unwirksam, auch wenn er vom Minister höchstpersönlich käme. In Deutschland unterliegt tatsächlich auch ein Minister dem Gesetz. Er und der einem solchen Befehl folgende Pilot werden sich anschließend vor einem Schwurgericht wiederfinden. Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schließlich nicht aus Jux und Dollerei erfochten. Es wird höchste Zeit, dass nun der Wehrbeauftragte der Bundeswehr die Piloten aufklärt und davor bewahrt, ein Verbrechen mit katastrophalen Folgen zu begehen. DÜSSELDORF
HANS SCHOLZ
BURKHARD HIRSCH BUNDESTAGSVIZEPRÄSIDENT A. D.
Diskutieren Sie im Internet www.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel
‣ Titel War der Afghanistan-Krieg die richtige Reaktion auf die Anschläge vom 11. September? ‣ Internet Wie vertrauenswürdig ist WikiLeaks? ‣ Mathematik Ist Kopfrechnen heute noch wichtig?
RATZEBURG (SCHL.-HOLST. ) PFARRER FELIX EVERS
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VOLKER THOMS
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sensee „Schimmel in der Therme“ vorzufinden sei. Dies kann man nur als flapsige Bezugnahme auf einen im Artikel nebenbei erwähnten Vorgang aus der Phase der Inbetriebnahme des Fleesensee Spa vor über zehn Jahren werten, die – heute verbreitet – nur als erheblich geschäftsschädigend bezeichnet werden kann. Es gibt seit zehn Jahren keinen Schimmel in der Therme. 100 000 zufriedene Gäste im Jahr und rund 560 engagierte Mitarbeiter im Land Fleesensee wollen ihr Ferienresort jedenfalls so nicht in den Schlagzeilen sehen.
Nr. 34/2011, Sind deutsche Kinder wirklich so krank, wie Studien behaupten?
Jede Zeit hat ihre Krankheit Anstatt den Eindruck zu erwecken, dass Sprachtherapie weitgehend überflüssig und auf Hirngespinste von Eltern und Erziehern zurückzuführen ist, sollten Sie sich eher mit grundlegenden Problemen beschäftigen. Wie kann es denn sein, dass trotz Sprachstandserhebungen und Sprachförderung in den letzten zehn Jahren keine Verbesserung bei den Schuleingangsuntersuchungen zu verzeichnen sind und dass vor allem Kinder bildungsferner Schichten deswegen schulische Probleme haben?
BERLIN
Nr. 34/2011, Der Aufstieg des Richard David Precht zur intellektuellen Allzweckwaffe
AACHEN DIETLINDE SCHREY-DERN LEHRBEAUFTR. LEHR- UND FORSCHUNGSLOGOPÄDIE
Alle kriegen ihr Fett weg
Die wichtigsten außerfamiliären Fördereinrichtungen schaffen es offenbar nicht mehr, verhaltensauffällige Kinder mit Mitteln der Pädagogik zu integrieren, sondern schicken sie überschnell zum Doktor. Aber auch Eltern haben oft einen teilweise irrationalen Optimierungswunsch, da ist dann das Anstoßen der Zunge eine so schlagende Pathologie, dass 60 Stunden teuerste Logopädie aggressiv gefordert werden.
Was man schon immer ahnte, wurde von Thomas Tuma bewiesen: die Marke „Precht“ – ein schaumgeborener Adonis mit Anflug von Vielosophie! MEMMELSDORF (BAYERN)
OGANDO.DE / DER SPIEGEL
BERLIN DR. ULRICH FEGELER BERUFSVERBAND DER KINDER- U. JUGENDÄRZTE
Kinderneurologe, Patienten
Überschnell zum Doktor geschickt?
Jede Zeit hat ihre Krankheit. Es ist nun einmal so, dass es für Eltern psychisch leichter zu ertragen ist, wenn sie die Defizite ihrer Sprösslinge auf eine sozial anerkannte Störung zurückführen können, für die sie keine Verantwortung haben (können). DUISBURG
DETLEV U. FRICKE GESCHÄFTSFÜHRER LAND FLEESENSEE
ANGELA BAIER
Von Prechts Buch „Wer bin ich …“ war ich begeistert: verständliche, klare Formulierungen und dieses Sprechen über Zusammenhänge, die jedem, der sich mit Sinnfragen auseinandersetzt, Lust auf mehr machen. Dass dieser Precht nun dummerweise phantastisch aussieht, dafür kann er wirklich nichts; ein solches Buch schreibt sich nicht mal eben so. Sie sollten sich nicht an der deutschen Neigung beteiligen, jede besondere Begabung erst einmal in Stücke zu reißen. WENTORF (SCHL.-HOLST.)
IMKE LIESCHKE
Großartig! Mit dem Club der Dichter, Denker und Schlaumeier – mit solchen exzellenten TV-Welterklärern – kann man sich eine eigene Meinung ersparen. WIESBADEN
Herzlich gelacht über den zynischen Artikel. C’est la même histoire in Frankreich. LA CIOTAT (FRANKREICH)
INGE PAREDES
Korrekturen Flapsige Schlagzeile Die Überschrift Ihres Beitrags diskreditiert Ihren mit viel Mühe recherchierten Artikel. Die Anstrengungen der Verantwortlichen, den Anlegern über die bereits erhaltenen Steuervergünstigungen und Ausschüttungen hinaus eine Zukunftsperspektive für eine Wertsteigerung ihrer Beteiligung und spätere Rendite zu erarbeiten, werden konterkariert, ja nahezu unmöglich gemacht, wenn suggeriert wird, dass im Land Flee12
zu Heft 32/2011 Seite 124, „Das große Versprechen“: In der Grafik wurde für das Medikament Femara der Preis für die Monatsbehandlung mit 4189 Euro (Stand 2009) angegeben. Dieser beträgt jedoch pro Monat nur 181 Euro. zu Heft 35/2011 Seite 57, „Allahs Richter“: Es fehlen die Angaben zu dem im Artikel mehrfach erwähnten Buch von Joachim Wagner: „Richter ohne Gesetz“. Econ Verlag, Berlin; 240 Seiten; 18 Euro. D E R
Medienstar Precht
Club der Schlaumeier
Bei Ihrem flott-witzig-bissigen Rundumschlag kriegen alle ihr Fett weg – man fragt sich am Ende nur, was das soll. Erst bieten Sie den typischen Mediengesichtern große Plattformen, um dann über sie herzuziehen? BUDENHEIM (RHLD.-PF.)
KATJA BEWERSDORF
Nr. 34/2011, SPIEGEL-Gespräch mit Pekings Vize-Außenministerin Fu Ying
Vorsänger im Weltchor Das Gespräch ist ein Meisterwerk, denn nur dank Geschick und Hartnäckigkeit hat Fu mehr gesagt, als ihr erlaubt worden war. BERLIN
DIETER HILPERT
Das Interview mit Frau Fu offenbart eindrucksvoll die Funktionsweise des chinesischen Systems. Man fühlt sich an die Beschreibungen bedrohlicher Machtapparate erinnert, wie Kafka sie verfasste. LUDWIGSBURG
RICHARD HERRMANN
„Wozu braucht China so viel Rüstung?“, fragen Sie. Der höchstgerüstete Westen hat einen viel höheren Anteil an den Militärausgaben. Ja, der heuchlerische Westen ist hochnäsig und moralisch total unterlegen. HATTINGEN (NRW)
PETER GROTE
JÜRGEN MALYSSEK
DR. HANS-DIETER ZOCH
Nr. 34/2011, Kleinanleger mussten für Land Fleesensee teuer bezahlen
UTA WAGNER
Briefe
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Fu betreibt in gefährlichem Maße interessensgeleitete Geschichtsklitterung, wenn Sie von 87 Prozent der Chinesen spricht, die meinen, ihre Regierung tue das Richtige! Wurden dabei auch die 700 Millionen Bauern befragt, wie sie heute ihr Joch aus Angst und Willkür empfinden? KIEL
JAN-PHILIPP KÜPPERS
Fu hat recht. Die westlichen Staaten halten sich immer noch für die Vorsänger im Weltchor. Eigentlich muss uns China nicht sagen, wie arrogant wir wirken. Es könnte unseren Zerfall einfach nur stumm beobachten. HERMERSBERG (RHLD.-PF.)
HERBERT KESSLER
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected] In einer Teilauflage befindet sich im Mittelbund ein achtseitiger Beihefter der Firma 1&1 Internet, Montabaur.
Panorama TERRORISMUS
Drohung im Alleingang
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HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
ei einer der spektakulärsten Terrordrohungen der vergangenen Jahre handelt es sich offenbar um einen propagandistischen Alleingang eines deutschen Islamisten. Der Deutsch-Marokkaner Bekkay Harrach hatte im September 2009 kurz vor der Bundestagswahl ein Drohvideo veröffentlicht. Darin kündigte er Anschläge für den Fall an, dass die Deutschen ihre Stimme Parteien gäben, die für den Afghanistan-Krieg seien. Nach Aussagen mehrerer Qaida-Aktivisten war dieses Drohvideo nicht von der Terrororganisation autorisiert gewesen. Al-Qaida habe Harrach wegen des Alleingangs sogar aus ihren Reihen ausgeschlossen. Das berichtete un-
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Besserverdiener sollen zahlen
ter anderem der Hamburger Islamist Ahmad Sidiqi, der im Sommer 2010 in Kabul festgenommen worden war und derzeit in Deutschland im Gefängnis sitzt. Harrach, der sich 2007 in ein Ausbildungslager von al-Qaida am Hindukusch abgesetzt hatte, soll im vergangenen Jahr bei Gefechten ums Leben gekommen sein.
AU S L A N D S E I N S ÄT Z E
Viele Suizide eder fünfte bei einem Auslandseinsatz der Bundeswehr gestorbene Soldat hat sich selbst umgebracht. Seit Beginn der Auslandsmissionen vor fast 20 Jahren haben demnach 19 deutsche Soldaten Selbstmord begangen, während die Bundeswehr in diesem Zeitraum insgesamt 99 Tote zu beklagen hatte. Dies geht aus der Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Anfrage des SPD-Bundestagsabgeordneten Hans-Peter Bartels hervor. Elf Soldaten starben eines natürlichen Todes. 14
m Fall einer Regierungsübernahme will die SPD massiv die Steuern erhöhen und vor allem Besserverdiener zur Kasse bitten. Wie aus dem SPD-Finanzkonzept für die Jahre 2012 bis 2016 hervorgeht, soll auf diese Weise allein der Bund 5,4 Milliarden Euro im Jahr mehr einnehmen. In dem Konzept wird dem Schuldenabbau oberste Priorität eingeräumt, noch vor anderen politischen Zielen wie Investitionen in Bildung. Rund 1,7 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt wollen die Sozialdemokraten durch die Rücknahme der Steuererleichterungen für Hotels und Gaststätten erzielen, etwa 2 Milliarden durch eine Anhebung des Spitzensteuersatzes und weitere 1,7 Milliarden Euro durch die Erhöhung der Brennelementesteuer. Sie planen außerdem, die Vermögensteuer wieder einzuführen und die Erbschaftsteuer zu reformieren. Bis zuletzt wurde um den Spitzensteuersatz gerungen, der von derzeit 42 Prozent um bis zu 7 Punkte steigen soll. Von seiner Erhöhung verspricht sich die SPD insgesamt etwa 5 Milliarden Euro Mehreinnahmen im Jahr. Außerdem wollen die Genossen durch den Abbau von Subventionen bis zu 15 Milliarden Euro jährlich einsparen. Die Sozialabgaben für Geringverdiener können nach Ansicht der SPD nur dann sinken, wenn „noch finanzielle Spielräume vorhanden sind“, heißt es in dem Papier mit Stand Ende vergangener Woche.
schen Staatsbürgerschaft verweigert hatte. Auch die strafrechtlichen Vorwürfe deuten auf politische Motive. Giorgobiani wurde der von ihm veranlasste Stopp von Holzverkäufen als „Amtsie Festnahme eines deutschen Exilmissbrauch“ und „Beschädigung von Georgiers verärgert hiesige BehörStaatsinteressen“ vorgeworfen. In Abden. Bidzina Giorgobiani, 47, früher wesenheit wurde er zu sechs Jahren Abgeordneter in Georgien, später Chef Haft verurteilt. Nach Interder georgischen Forstwirtvention deutscher Diplomaschaft, wurde vor wenigen Taten kam Giorgobiani in gen im Spanien-Urlaub aufSpanien wieder auf freien grund eines georgischen HaftFuß. Experten warnen vor befehls durch Interpol festgedem Missbrauch des internanommen. Das Fahndungsertionalen Haftbefehls. „Es suchen wies ihn trotz der kann nicht sein“, so Brandendeutschen Staatsbürgerschaft burgs Generalstaatsanwalt als Georgier aus. Ursache daErardo Rautenberg, „dass dufür ist ein von Präsident Mibiose Haftbefehle dazu fühcheil Saakaschwili persönlich ren, dass der Verfolgerstaat unterzeichneter Ukas, mit Informationen über Exilandem er 2007 die Entlassung ten bekommt.“ Giorgobianis aus der georgi- Saakaschwili D I P L O M AT I E
Saakaschwilis Arm
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SHAKH AIVAZOV / DDP IMAGES / AP
AFP
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Szene aus Propagandavideo
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SPD-Chef Gabriel
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Deutschland LEBENSMITTEL
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Aigner will mehr Transparenz
Tatwerkzeug Internet
erbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) will dagegen vorgehen, dass Lebensmittelhersteller ihre Erzeugnisse fälschlich und überteuert als „regionale Ware“ anbieten. „Manche Produkte halten nicht, was die Verpackung verspricht, und Verbraucher fühlen sich zu Recht getäuscht“, sagt die Ministerin. Gerade weil Erzeugnisse aus der Heimat eine große Zukunft hätten, seien klarere Kriterien wichtig. „Wir arbeiten an Leitlinien für eine transparente und zuverlässige Regional-Kennzeichnung“, so Aigner. Dazu sei eine deutliche Abgrenzung der jeweiligen Region ebenso nötig wie eine Definition, welche Bestandteile des Nahrungsmittels tatsächlich von dort kommen müssten. „Was draufsteht, muss auch drin sein“, sagt die CSU-Politikerin. Die Verbraucherschutzministerin reagiert mit ihrer Initiative auf einen Bericht der Zeitschrift „Ökotest“; demzufolge stammten von 53 untersuchten Lebensmitteln, für die mit dem Label „Regional“ geworben wurde, nur 14 wirklich aus dem näheren Umkreis des Verkaufsorts.
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irtschaftsverbrechen verursachen in Deutschland immer höhere Kosten. In seinem „Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität“, das diese Woche vorgestellt wird, beziffert das Bundeskriminalamt die Schäden in 2010 auf knapp 4,7 Milliarden Euro. Das sind rund 1,2 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Die Zahl der registrierten Taten stieg indes lediglich um 1,5 Prozent auf knapp 103 000. Den höchsten Schaden mit etwa 2 Milliarden Euro verursachte Betrug, der mehr als die Hälfte aller Wirtschaftsstraftaten ausmachte, gefolgt von Insolvenzdelikten mit einer Schadenssumme von rund 1,7 Milliarden Euro. Die Zahlen geben nach Ansicht des BKA allerdings das „tatsächliche Ausmaß der Wirtschaftskriminalität nur eingeschränkt“ wieder. So werden beispielsweise Fälle, die von Finanz-
/MICHAEL PROBST / DDP IMAGES / AP
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Razzia gegen Schwarzarbeit
behörden und Staatsanwaltschaften ohne Beteiligung der Polizei bearbeitet werden, in dieser Statistik nicht registriert. Als Tatmittel gewinnt das Internet auch in der Wirtschaftskriminalität an Bedeutung: 2010 wurde es in gut 31 000 registrierten Fällen benutzt, das ist eine Steigerung um 190 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
DAMALS ...
(Artikel 65, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)
PETE SOUZA / DPA
„Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Obama im Oval Office BUNDESREGIERUNG
Kronzeuge Obama
... UND HEUTE
„In außenpolitischen Fragen habe ich klar als Parteivorsitzender die Linie der FDP vorgegeben, der Bundesaußenminister ist dieser Linie auch ebenso klar gefolgt.“ (FDP-Parteichef Philipp Rösler am 30. August 2011 auf Schloss Bensberg bei Köln)
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anzlerin Angela Merkel hat USPräsident Barack Obama als Kronzeugen für die deutsche Haltung im Libyen-Konflikt benannt. Auf einer Rede vor deutschen Botschaftern erzählte sie am vergangenen Mittwoch im Kanzleramt, sie habe nach der Entscheidung des Uno-Sicherheitsrates zum Einsatz gegen Libyen mit Obama in Washington über die deutsche Enthaltung in dem Gremium geredet. Dabei habe sie auch erwähnt, dass eine Reihe von Kritikern im Bundestag zwar für ein deutsches Ja im D E R
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Sicherheitsrat, aber gegen den Einsatz von Bundeswehrsoldaten gewesen seien. Nach Schilderung Merkels erwiderte Obama daraufhin: „Das ist ja Quatsch. Wenn Deutschland zustimmt, dann müssen Sie auch mitmachen.“ Dieser unterstellte Automatismus war eines der zentralen Argumente, mit denen die Bundesregierung ihre Enthaltung begründete. Besonders stichhaltig ist diese Logik allerdings nicht. Die Regierung selbst hatte auf eine schriftliche Frage des SPD-Außenpolitikers Gernot Erler 16 Fälle aufgelistet, in denen Berlin seine Zustimmung zu einem Einsatz gegeben hat, aber keine deutschen Soldaten teilnehmen ließ. 15
Deutschland
Panorama BUNDESPOLIZEI
Zu teure Kontrolle
KAISER / CARO
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Bibliothek der Universität Freiburg
it einem außergerichtlichen Vergleich ist jetzt ein jahrelanger Streit über die Höhe der Luftsicherheitsgebühren zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften beendet worden. Die Fluggesellschaften bekommen 77 Millionen Euro erstattet, die jeweils zur Hälfte vom Bundesfinanzministerium und von der Bundespolizei getragen werden, die Sicherheitskontrollen an Flughäfen durchführt. Damit kommen auf die Bundespolizei, die ohnehin 33 Millionen Euro im laufenden Haushalt einsparen muss, weitere erhebliche Belastungen zu. Unterdessen hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich 465 Posten bei der Behörde gestrichen, die im Rahmen der Anti-Terror-Maßnahmen nach den Anschlägen 2001 geschaffen worden waren. 245 Posten betreffen den Schutz von deutschen Auslandsvertretungen, weitere 100 die Auslandseinsätze. Damit wird es auch
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Deckel drauf as Finanzministerium will die vom Bundesfinanzhof erzwungene steuerliche Berücksichtigung von Ausbildungskosten möglichst sparsam für die öffentlichen Haushalte umsetzen. Die Kosten für die erste Berufsausbildung oder das Erststudium sollen als „Betriebsausgaben oder Werbungskosten abziehbar“ sein, heißt es in einem Vermerk des Ministeriums. „Der abziehbare Betrag wird aber sowohl der Höhe nach als auch der Berücksichtigungsdauer nach gedeckelt.“ Die Beamten denken zum Beispiel daran, nur die Kosten während der Regelstudienzeit zu berücksichtigen. Ausgeschlossen werden soll auch, dass Unterhalt leistende Eltern die Steuern absetzen. „Die Haushaltsrisiken könnten mit diesem Vorschlag eingegrenzt werden, Steuermindereinnahmen sind jedoch weiterhin zu erwarten“, schreiben die Beamten. Ohne Deckelung rechnen sie mit Steuerausfällen von 1,5 Milliarden Euro.
STEUERN
„Wir wollen Gleichbehandlung“ Marion Detlefs, 49, Sozialpädagogin bei Hydra, einer Berliner Beratungsstelle für Prostituierte, über den Sexsteuer-Automaten in Bonn SPIEGEL: Bonner Prostituierte auf dem Straßenstrich müssen nun ein Ticket an einem umgebauten Parkscheinautomaten ziehen – die Stadt kassiert pro Nacht sechs Euro. Ist das eine gute Lösung?
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Detlefs: Nein, wir sind gegen solche Sonderregeln für Prostituierte. Wir wollen für die Frauen eine Gleichbehandlung – auch in steuerlichen Fragen. SPIEGEL: Befürworter sagen, mit dem Automaten erreiche man jetzt Prostituierte, die bislang keine Abgaben gezahlt haben. Die Stadt Bonn spricht von „Steuergerechtigkeit“. Detlefs: Wenn Frauen darunter sind, die sich mit dem Steuerrecht nicht auskennen, dann muss man sie dabei unterstützen. Wir empfehlen jeder Prostituierten, ein Gewerbe anzumelden und so aus der Anonymität D E R
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LANGBEHN / ACTION PRESS
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Bundespolizei am Hamburger Flughafen
weniger Neueinstellungen geben. Eine Anfrage der EU nach einer Hundertschaft der Bundespolizei für das Kosovo als Ersatz für eine französische Einheit wurde abgelehnt.
herauszugehen, wann immer ihr das aus persönlichen Gründen möglich ist. Die Frauen unter Generalverdacht zu stellen ist falsch. Auch in jedem anderen Gewerbe gibt es Leute, die ihre Steuern nicht zahlen. Für die baut man ja auch keinen Automaten auf. SPIEGEL: Die Stadt rechnet mit rund 200 000 Euro Einnahmen pro Jahr. Das wären mehr als 90 zahlende Frauen jede Nacht. Ist das realistisch? Detlefs: Das würde mich sehr überraschen. So viele Frauen begegnen uns selbst hier in Berlin nirgendwo pro Schicht.
Deutschland
EURO
Retten durch Spalten Im Windschatten der Schuldenkrise plant Kanzlerin Merkel ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Die EU-Kommission soll entmachtet, die Euro-Gruppe zur Gegenregierung ausgebaut werden. Kann das neue Konzept die Gemeinschaftswährung vor dem Zerfall bewahren?
KRISE
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Die Euro-Gruppe Euro-Länder EU-Länder ohne Euro
BISHER
Finanzminister der Euro-Länder, EU-Wirtschafts- und Währungskommissar, Präsident der Europäischen Zentralbank, ein Vertreter des Wirtschaftsund Finanzausschusses. Es ist ein informelles Gremium – rechtskräftige Beschlüsse kann nur der Rat für Wirtschaft und Finanzen fassen, in dem auch NichtEuro-Länder vertreten sind. Treffen der Euro-Gruppe in Brüssel am 11. Juli
O L I V I E R H O S L E T / D PA
Wenn sich Europas Staatsund Regierungschefs zu ihren Gipfeln treffen, wird WELTFINANZ Herman Van Rompuy gern übersehen. Der belgische Politiker ist ein unscheinbarer Mann mit Stirnglatze und Metallbrille, es drängt ihn nicht zu den Kameras, lieber schreibt er, wann immer er Zeit findet, naturselige Gedichte im Haiku-Stil. In Deutschland kennt den schmächtigen Feingeist fast niemand, dabei ist er einer der mächtigsten Männer Europas. Entsprechend viel ist der Präsident des Europäischen Rats in diesen Tagen unterwegs. Mit Finnlands Premierminister Jyrki Katainen wird er sich treffen sowie mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Und am Montag dieser Woche ist Van Rompuy bei Kanzlerin Angela Merkel zu Gast, wo ihn ein besonders angenehmes Gespräch erwartet. Es geht darum, ihn noch mächtiger zu machen. Die Kanzlerin plant ihre nächste Politikwende. Noch vor kurzem hat sie stets versichert, dass mit ihr „Spaltungen in Europa nicht zu machen“ seien. Doch unter dem Druck der Euro-Krise denkt Merkel neuerdings darüber nach, sich vom Konzept der einen EU zu verabschieden – und Van Rompuy dabei eine Schlüsselrolle zuzuweisen. Bislang wurde in Europa streng darauf geachtet, dass alle Mitglieder gemeinsam voranschreiten oder eben stehen bleiben. Doch in Zeiten, in denen die Gemeinschaftswährung zu zerfallen droht, brauchen die 17 Staaten der EuroZone eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Anders, so hat die Krise gelehrt, kann der Euro nicht funktionieren. Heute verhindert vor allem Großbritannien, dass die EU enger zusammenwächst. Merkel hat nun genug davon. Sie plant ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Die Euro-Zone würde eng verzahnt, womöglich mittels eines eigenen Vertrags, der neben dem EU-Vertrag von Lissabon gelten würde. So hat es vergangene Woche Finanzminister Wolfgang Schäuble im Vorstand der Unionsfraktion vorgetragen. Als Kopf des neuen Machtzentrums hat Merkel Van Rompuy vor-
MÖGLICHE ÄNDERUNG
Der Ratspräsident der EU-27 könnte zusätzlich zu seinem bisherigen Amt Chef einer Europäischen Wirtschaftsregierung der 17 Euro-Länder werden, die eine gemeinsame Wirtschaftspolitik koordiniert. D E R
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gesehen, der auch schon dem Rat der 27 EU-Regierungschefs vorsitzt. Setzt sich Merkel durch, gäbe es Europa künftig doppelt: einen Club der 27, der wie bisher vor allem den gemeinsamen Binnenmarkt verwaltet, und eine Gemeinschaft der 17 Euro-Staaten, die ihre Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik vereinheitlicht. Eine Zweiklassengesellschaft entstünde, die Fragen aufwirft: Was ist zum Beispiel mit der EU-Kommission? Ist sie dann noch für die Wirtschaftsfragen der Euro-Zone zuständig, oder gibt es ein neues Gremium? Die gleichen Fragen gelten für das Parlament und den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Gäbe es dann alle Institutionen zweimal, also noch mehr Bürokratie, noch mehr Aufwand? Es gibt noch keine Antworten auf diese Fragen, aber schon jede Menge Skepsis. Die EU-Kommission ist genauso gegen Merkels Pläne wie die meisten Europaparlamentarier sowie viele kleinere EULänder. Und auch in den eigenen Reihen runzeln manche die Stirn. „Wir werden den Euro nicht retten, indem wir immer neue Gremien und Instrumente schaffen“, sagt CSU-Chef Horst Seehofer. Genau das aber hat Merkel vor. Sie kann sich auf ein Konzept unter dem Markennamen „Kern-Europa“ stützen, das in den neunziger Jahren der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion entwickelt hat, ein gewisser Wolfgang Schäuble. Heute dient er der Kanzlerin als Finanzminister. Beide haben in den vergangenen Monaten unterschiedliche Maßnahmen bei der Euro-Rettung durchgesetzt: solche für die EU als ganzes und andere ausschließlich für die 17 EuroMitglieder. So haben die Staats- und Regierungschefs zwar den Stabilitätspakt formal für alle EU-Staaten verschärft. Harsche Strafen müssen aber nur diejenigen Länder befürchten, die den Euro eingeführt haben. Sie vor allem sollen sich verpflichten, ihre Staatsverschuldung unter strengeren Auflagen abzubauen. „Ob Großbritannien oder Polen die Dreiprozenthürde für das Defizit reißen, interessiert niemanden“, sagt ein deutscher Regierungsbeamter. Ähnliches gilt für den sogenannten Euro-Plus-Pakt. Darin bekennen sich die Länder der Währungsunion dazu, ihre
TRAGO / GETTY IMAGES
EU-Partner Merkel, Sarkozy*: Die Großen dominieren die Kleinen D E R
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Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Sozialsysteme zu sichern, etwa durch längere Lebensarbeitszeit. Jedes Land, das will, darf dabei mitmachen. Polen zum Beispiel ist der Vereinbarung beigetreten. Mitbestimmen darf es aber nicht. Die Regeln wurden im Kreis der 17 entwickelt. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen geht noch einen Schritt weiter. Sie will auch die Sozialpolitik in den Euro-Staaten stärker verzahnen. Ihr schwebt eine Euro-Gruppe der Arbeitsminister nach dem Vorbild der Finanzminister vor. Aber das soll längst nicht alles sein. In der Steuerpolitik streben Merkel und Schäuble weitere Schritte der Vergemeinschaftung an. Bei der Klausur des Unionsfraktionsvorstands Ende vergangener Woche erklärte Schäuble, es dauere wegen des Widerstands etwa aus Großbritannien zu lange, eine Steuer auf Finanztransaktionen in der gesamten EU zu vereinbaren. Deshalb könne er sich sehr gut vorstellen, das Projekt zunächst in der Euro-Zone zu verwirklichen. Auch die von Merkel und Sarkozy bei ihrem Treffen Mitte August vorgeschlagene gemeinsame Körperschaftsteuer soll keine Angelegenheit der beiden größten Mitgliedstaaten bleiben. „Das ist viel breiter angelegt“, heißt es dazu aus der Regierung. Was den beiden vorschwebt, ist eine weitgehend vereinheitlichte Steuer für Unternehmen in der Euro-Zone. All diese Überlegungen laufen darauf hinaus, dass die Euro-Staaten nach und nach Teile ihrer nationalen Souveränität abgeben. Erst die Krise hat die Bereitschaft dazu gesteigert. Als Vorbild dienen ausgerechnet die Krisenländer. Griechenland, Irland und Portugal hätten den Souveränitätsverzicht schon hinter sich, heißt es. Nun müssten auch die Länder mit noch gesunden Staatsfinanzen einen Teil ihre Unabhängigkeit abtreten. Die Integration der Euro-Gruppe soll durch neue Gremien vorangetrieben werden. Deutschland und Frankreich wollen sich unabhängiger von den vorhandenen Strukturen im Europa der 27 machen und nicht mehr allein auf die Ressourcen der EU-Kommission angewiesen sein. Als ein erster Schritt soll der europäische Rettungsschirm EFSF unter Leitung des Deutschen Klaus Regling nach ihrem Willen eine eigene Analyseabteilung aufbauen. Sie soll den Finanzmarkt beobachten und Vorschläge machen, wie der Rettungsschirm Krisen abwenden kann. An der EFSF sind nur die Mitgliedsländer des Euro beteiligt. Der Lissabon-Vertrag, die Grundlage für die EU, kennt die Institution nicht. Schon jetzt hat die Währungsunion eigene Gremien, die weitgehend unabhängig von der EU-Kommission entscheiden. Die wichtigen Beschlüsse werden längst * Bei einer Pressekonferenz im Pariser Elysee-Palast am 16. August.
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Deutschland
LIONEL BONAVENTURE / AFP
in der Euro-Gruppe getroffen, dem Zusammenschluss der Finanzminister aus den Teilnehmerländern der Währungsunion. Sie treffen sich jeden Monat einmal, notfalls auch öfter. Doch das reicht Merkel und Sarkozy nicht. Künftig sollen sich auch die 17 Staats- und Regierungschefs zweimal im Jahr zum Euro-Staaten-Gipfel versammeln. Mit Van Rompuy bekommt die Runde einen eigenen, ständigen Vorsitzenden. Für die neue Aufgabe soll der Belgier auch einen bürokratischen Unterbau bekommen. Damit hätte die Euro-Gruppe ein eigenes Sekretariat. Um die Trennung nicht allzu augenfällig ausfallen zu lassen, so erste Überlegungen, soll die neue Behörde allerdings an ein bestehendes Ratssekretariat angehängt werden. Auch die Finanzministerrunde der Euro-Zone, die die Zuarbeit für die Staats- und Regierungschefs übernehmen soll, soll gestärkt werden. Überlegt EU-Ratspräsident Van Rompuy: Nebenregierung in Brüssel? wird, ob sie einen hauptamtlichen Vorsitzenden bekommt, der An- minister eines anderen Landes getroffen, ßen, so die Sorgen, dominieren am Ende sprechpartner für Van Rompuy werden der mich gefragt hat, was er wirtschafts- die Kleinen. „Man kann Experimente soll. Bislang hat der luxemburgische Mi- politisch für mich tun könne“, spottet Ros- verstärkter Zusammenarbeit auf intergouvernementaler Ebene anschieben, nisterpräsident Jean-Claude Juncker den towski. Mit großen Worten wurde Anfang des aber am Ende sollte diese Politik Teil der Posten inne. Der Neue soll ein ehemaliger Finanzminister sein, damit er im Kreis Jahres das sogenannte Europäische Se- EU-Verträge werden“, sagt Belgiens Fimester eingeführt. Es gibt der Kommis- nanzminister Didier Reynders. der Kollegen akzeptiert ist. Alarmiert ist auch EU-KommissionsFest steht dagegen schon, dass der sion zwar das Recht, die nationalen HausArbeitskreis der Finanzstaatssekretäre halte zu überwachen, um die Schulden- präsident José Manuel Barroso. Schon im einen hauptamtlichen Chef bekommen länder besser unter Kontrolle zu bekom- vergangenen Jahr warnte er bei einer soll, eigenes Mitarbeiter-Team inklusive. men. Doch mehr als Empfehlungen darf „Rede zur Lage der Union“ vor einer Der Zirkel mit dem sperrigen englischen die Kommission nicht aussprechen. Wenn Spaltung Europas. Ende des Monats will Titel Eurogroup Working Group bereitet sich, wie aktuell Italien, Länder nicht an er den Mitgliedstaaten vor dem Straßburfür die Finanzminister die Detailarbeit die Sparvorgaben halten, hat die Kom- ger Parlament die Leviten lesen. Vergangenen Donnerstag testete Barroso bei vor. einem Mittagessen mit einigen AbgeordSo wird in Brüssel derzeit eine Art Ne„Es ist wie mit Henne und Ei. Die neten die Stimmung. Die intergouvernebenregierung aufgebaut, doch die Gedankenspiele in Berlin gehen längst darüber einen wollen erst eine Fiskalunion, mentale Methode führe wegen des Prindie anderen eine Transferunion.“ zips der Einstimmigkeit dazu, dass „ein hinaus. So überlegt Merkel, ein Klagepaar Idioten“ in einem Land die EU „errecht gegen Euro-Mitglieder, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen, vor dem mission keinerlei Hebel, die nationale pressen“ könnten, schimpfte er. Zudem werden die Folgen der BeEuropäischen Gerichtshof einzuführen. Haushaltspolitik zu korrigieren. Auch die selbsternannten Antreiber ei- schlüsse stets erst mit Verzögerung wahrDas aber würde eine Änderung des Lisner verstärkten Integration zögern, wenn genommen. Jüngstes Beispiel: Für den sabon-Vertrags bedeuten. Dabei ist noch nicht einmal sicher, ob sie selbst Kompetenzen abgeben sollen. erweiterten Rettungsschirm will die Bundie Kanzlerin sich mit ihren Ideen für So blockiert Sarkozy noch immer eine desregierung viel mehr Garantien bereitein Kern-Europa überhaupt durchsetzen Einigung mit der EU-Kommission und stellen als die bisher bekannten 211 Milkann. Nach den bisherigen Erfahrungen dem Europaparlament bei der Reform liarden Euro. Unbemerkt von der Öffentbleiben erhebliche Zweifel, ob die Mit- des Stabilitätspakts. Deutschland und lichkeit übernimmt sie einen Passus aus gliedstaaten der EU sich überhaupt auf Frankreich setzen auf die sogenannte in- dem bisherigen Regelwerk, nach dem die einen bedeutenden Integrationsschritt in tergouvernementale Methode, also Ver- Garantien bei Bedarf um 20 Prozent aufträge unter den Mitgliedstaaten. Damit gestockt werden können. Im Notfall könnder Wirtschaftspolitik einigen können. „Alle sind sich einig, dass es eine gute wird verhindert, dass EU-Kommission ten so mehr als 250 Milliarden Euro auf Idee ist, die Wirtschaftspolitik stärker zu und das Europäische Parlament zu viel Deutschland zukommen. Selbst unter den 17 Euro-Zonen-Mitkoordinieren“, sagt der polnische Finanz- Mitsprache bekommen. Besonders kleine minister Jacek Rostowski. Aber sobald Länder aber fürchten, ihre Interessen gliedern sind die deutsch-französischen es konkret werde, blockierten einzelne ohne Hilfe der Kommission nicht gegen Ideen kaum durchsetzbar. Viele der DeStaaten. „Ich habe noch nie einen Finanz- die großen wahren zu können. Die Gro- fizitländer fordern zunächst die Einfüh20
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rung gemeinsamer Euro-Anleihen, bevor sie bereit sind, auf weitere Souveränität zu verzichten. Gerade das aber lehnen Merkel und Sarkozy bislang ab. „Es ist wie mit der Henne und dem Ei“, sagt Belgiens Finanzminister Reynders. „Die einen wollen zuerst eine Fiskalunion, die anderen eine Transferunion.“ Gegen Merkels Pläne gibt es auch in der eigenen Koalition Widerstand. CSUChef Seehofer etwa ist strikt dagegen, „nationale Souveränitätsrechte an eine europäische Wirtschafts- und Fiskalunion“ abzutreten. „Wir wollen keinen europäischen Superstaat“, sagt er. Auch die FDP will von Merkels Plänen von einem immer enger zusammenwachsenden Europa nichts wissen. Sie profiliert sich als Dagegen-Partei: keine Euro-Bonds und auch keine weiteren Kompetenzen für Europa. Allenfalls „mehr Koordination, aber eher im Sinne von gemeinsamen Leitplanken“ kann sich Generalsekretär Christian Lindner vorstellen. Und so spaltet Merkels Konzept der zwei Geschwindigkeiten nicht nur Europa, sondern auch die deutsche Politik. CDU, SPD und Grüne fordern eine engere politische Integration des Kontinents, CSU und FDP sind eher dagegen. Unterstützung erhält die Kanzlerin an diesem Montag von ganz unerwarteter Seite. In den vergangenen Monaten hat der Milliardär Nicolas Berggruen unter dem Dach seines Instituts einen „Rat für die Zukunft Europas“ zusammengestellt, dem neben Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auch die früheren Regierungschefs Tony Blair (Großbritannien) Felipe González (Spanien) sowie der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors angehören. Das Votum des Rates lautet: Es muss mehr statt weniger Europa geben. Die EU solle ihre Rettungsschirme ausweiten, man müsse noch enger zusammenwachsen, weitere nationale Kompetenzen sollen nach Brüssel übertragen werden, nicht nur in Finanz- und Wirtschaftsfragen. Auch eine Europa-Steuer, die Brüssel für die EU künftig erheben darf, wird mittelfristig angemahnt. Gefordert wird zudem ein Programm für Wachstum und Beschäftigung für Europa sowie eine Revision aller Arbeitsmärkte und Sozialsysteme der Mitgliedsländer, eine Agenda 2010 für Europa gewissermaßen. Kein Wunder, dass Kommissionsmitglied Schröder den Plan seiner Nachfolgerin für mehr europäische Integration fast vorbehaltlos unterstützt. „Mit dem Plan einer europäischen Wirtschaftsregierung haben Deutschland und Frankreich ein starkes Signal gegeben“, sagt der ExKanzler im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 24). „Das ist der richtige Weg.“ MARKUS FELDENKIRCHEN, RALF NEUKIRCH, CHRISTIAN REIERMANN, MICHAEL SAUGA, CHRISTOPH SCHULT
„Kronjuwel des Parlaments“ Das Verfassungsgericht urteilt über die Euro-Rettung – und dürfte vor allem Vorgaben für die Beteiligung des Bundestags machen.
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n diesem Mittwoch werden die acht Verfassungsrichter in Karlsruhe Recht sprechen, doch ihr Urteil zum ersten Griechenland-Rettungspaket und dem ersten befristeten Euro-Rettungsschirm ist schon länger fertig. Dass die Juristen zumindest eine substantielle Beteiligung des Bundestags an allen weiteren Rettungsmaßnahmen anmahnen werden, gilt seit der mündlichen Verhandlung im Juli als ausgemacht. Den Verkündungstermin in jene Wochen zu legen, in denen sich der Bundestag mit den weiteren Stabilisierungsmaßnahmen befassen muss, sei „teils zufällig, teils absichtlich“ geschehen, gab Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle vorigen
Geschäft des Rettungsschirms kontrollieren. Schäuble sträubte sich zwar bis zuletzt. Er fürchtet, dass die EFSF zu langsam reagieren kann, wenn vor wichtigen Entscheidungen immer erst der Bundestag gefragt werden muss. Die Kanzlerin aber, die um eine Koalitionsmehrheit bei der Abstimmung fürchtet, will auf die Forderungen der Abgeordneten eingehen. Schon in der bisherigen Verfassungsrechtsprechung ist diese Maxime angelegt. Bereits nach dem sogenannten Maastricht-Urteil aus dem Jahr 1993 dürfe es bei solchen Ermächtigungen „keinen Automatismus geben“, erklärte der für die Formulierung des jetzigen Urteils als Bericht-
Karlsruher Richter: „Teils zufällig, teils absichtlich“
Donnerstag bei einer Buchvorstellung in Berlin schmunzelnd zu. Im Subtext dieser Tage wird klar, dass sich alle Beteiligten auf eine Kompromisslinie zubewegen. Inzwischen hat auch die Bundesregierung eingesehen, dass sie den Abgeordneten ein Mitspracherecht zugestehen muss – gegen die Bedenken von Finanzminister Wolfgang Schäuble. Im Prinzip haben die Koalitionsfraktionen folgende Linie festgelegt: Der deutsche Vertreter beim Rettungsfonds darf neue Hilfskredite nur ermöglichen, wenn der Bundestag zugestimmt hat – andernfalls müsste er sein Veto einlegen. Auch andere wesentliche Beschlüsse des Fonds, wie etwa der Ankauf von Staatsanleihen, müssen vom Parlament abgesegnet werden. Zudem soll der Haushaltsausschuss das operative
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erstatter zuständige Verfassungsrichter Udo Di Fabio in der mündlichen Verhandlung Anfang Juli. Dabei stellt sich eine noch grundsätzlichere verfassungsrechtliche Frage: nämlich inwieweit der Bundestag überhaupt finanzielle Garantien in einer Höhe eingehen darf, die zurzeit zwei Dritteln des Bundeshaushalts entspricht. Im Urteil zum Vertrag von Lissabon, ebenfalls aus der Feder Di Fabios, heißt es, der Bundestag müsse bei der Haushaltspolitik mit „ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben“ ausgestattet sein. „Das Budgetrecht ist das Kronjuwel des Parlaments“, gab Di Fabio schon in der Verhandlung zu bedenken, „aber wenn der Souverän beginnt, seine Kronjuwelen zu verpfänden, dann könnte seine Freiheit begrenzt sein.“ DIETMAR HIPP, RALF NEUKIRCH
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Deutschland reisten Ende vergangener Woche erst ein- die österreichische Finanzministerin Mamal verärgert ab. Zwei Drittel der Punkte ria Fekter – und forderte für die Hilfsmileiner kürzlich erstellten Hausaufgaben- liarden ihres Landes ebenfalls Sicherheiliste hatte die griechische Regierung nicht ten. Kein Land der Euro-Zone dürfe prirechtzeitig erfüllt. vilegiert werden. So haben die Griechen versprochen, bis Widerstand regt sich auch an der OstEnde September Staatsbesitz im Wert grenze der Union. Die neuen Euro-Länvon 1,7 Milliarden Euro zu privatisieren. der wollen sich zwar als zuverlässige JuDoch die dafür zuständige Privatisierungs- niorpartner bei der Währungsrettung präDie Finnen fordern ein Pfand, behörde hat gerade erst ein paar Mitar- sentieren. Doch in der Slowakei ist offen, die privaten Anleger zögern, und beiter eingestellt. Selbst das Versenden ei- ob Ministerpräsidentin Iveta Radicova die Griechen verfehlen ihre ner wichtigen Direktive klappte nicht. eine Mehrheit für die Erweiterung des Ziele: Die Zweifel an der Rettung „Ich zweifle manchmal an dem ernsthaf- Rettungsfonds EFSF bekommen kann. Ihr ten Willen der Griechen“, kritisiert der Regierungspartner Richard Sulik von der Griechenlands wachsen. Vorstand einer Frankfurter Großbank. konservativen Partei „Freiheit und SoliHinzu kommt, dass selbst die europäi- darität“ nannte die Euro-Rettung einen olche Schnäppchen hat es auf den Finanzmärkten selten gegeben: Wer schen Regierungen nicht so recht daran „Weg zum Sozialismus“, der die EU in den Zusagen von Europas Politikern glauben, dass die Griechen in Zukunft ih- eine „Schulden-Union“ verwandelt. Nun wird ein europäischer Komprovertraut, kann mit einer im März fälligen ren Verpflichtungen nachkommen. Die Griechenland-Anleihe eine Rendite von Finnen forderten im Gegenzug für ihren miss zum Pfandrecht gesucht. Die Finanz76 Prozent erzielen. Wenn die Rettung Beitrag ein Pfand, was die anderen Euro- minister der Euro-Zone können sich vordes krisengeschüttelten Mittelmeeranrai- päer nicht hinnehmen wollten. Bliebe es stellen, finnischen Forderungen nach speners von den Parlamenten Europas wie bei einem bilateralen Abkommen zwi- ziellen Sicherheiten nachzugeben. „Wer geplant durchgewinkt wird, kann Grie- schen Athen und Helsinki, wäre das ein Garantien nur gegen ein Pfand vergibt, chenland diese Anleihe ohne Abschlag „untragbarer Vorschlag und eine Abma- muss dafür einen Preis zahlen“, sagt der zurückzahlen. chung zu Lasten Dritter“, argumentierte belgische Finanzminister Didier ReynDoch kaum einer will die ders. „Länder, die auf ein Pfand Schnäppchen kaufen. Zu groß erverzichten, demonstrieren ein gröscheint den Investoren das Risiko: Akropolis in Athen ßeres Vertrauen in die griechische Sie glauben nicht daran, dass die Politik und müssen daher eine höRettung des von der Pleite bedrohhere Rendite bekommen.“ ten Landes wirklich funktioniert. Eine Alternative aus Brüsseler Tatsächlich hat sich die HoffSicht wäre auch, dass die Finnen nung auf ein gutes Ende des grieauf ihr Pfand verzichten und aus chischen Dramas, die nach dem der Finanzierung aussteigen. Die Sondergipfel der Euro-Staaten am Deutschen könnten dann den fin21. Juli aufkeimte, weitgehend vernischen Anteil übernehmen. Doch flüchtigt. Damals schnellten die solche Planspiele auf Kosten andeKurse für griechische Anleihen rer gefährden die Zustimmung des kurzfristig in die Höhe, mittlerweiBundestags zu den Rettungsplänen le testen sie neue Tiefen aus. Eine Ende September noch mehr. im nächsten März auslaufende AnUnd zu alldem kommen die leihe ist inzwischen für 70 Prozent Unwägbarkeiten bei der Beteiligung ihres Werts zu haben. des privaten Finanzsektors, der über ein kompliziertes Verfahren Hinter diesem beispiellosen Kursder Umschuldung auf 21 Prozent verlust steht die Erwartung, dass seiner Forderungen verzichten soll. die Griechen die Bedingungen für Die griechische Regierung drohte die Hilfen der Europäer nicht erin einem Brief damit, die Umschulfüllen können. Es gibt genaue Vordung von Anleihen mit einem gaben, wie stark die Griechen ihr Nennwert von 135 Milliarden Euro Haushaltsdefizit senken, ihre Steuplatzen zu lassen, wenn nicht mindestens ereinnahmen erhöhen und ihre Staatsun90 Prozent aller Wertpapiere getauscht ternehmen privatisieren sollen. Bisher ha- 35 würden. Bisher haben jedoch nur 60 bis ben sie die meisten Messlatten gerissen. 70 Prozent aller Gläubiger unverbindlich Die Staatsschulden seien „außer Kon- 30 Fälligkeiten und Summen ihre Zustimmung signalisiert. Dass am trolle“, stellte vergangene Woche eine Exin Mrd. Euro Ende tatsächlich 90 Prozent der Anleihen pertenkommission für das griechische Par- 25 getauscht werden, halten beispielsweise lament fest. „Es wird größer ausfallen“, 20 die Analysten der DZ Bank für „eher unsagt selbst der griechische Finanzminister wahrscheinlich“. Einige Marktteilnehmer Evangelos Venizelos über das Haushalts- 15 könnten darauf spekulieren, dass bei eidefizit, das eigentlich auf 7,6 Prozent des nem Scheitern des ganzen Projekts „eine Bruttoinlandsprodukts sinken sollte. 10 uneingeschränkte Transferunion mit den Entscheidend aber wird der Bericht der stärkeren Euro-Ländern“ kommt. sogenannten Troika, der Vertreter des In- 5 ternationalen Währungsfonds, der EuroDeutsche Großanleger müssen bis Freipäischen Zentralbank und der EU-Komtag bei der Finanzaufsichtsbehörde BaFin mission, sein. Deren Experten, die vor melden, ob und wie sie bei der Umschul2012 13 14 15 16 17 Ort in Athen die Einhaltung der grieCHRISTOPH PAULY, dung mitmachen. 18 19 2020 CHRISTOPH SCHULT, ANNE SEITH chischen Zusagen kontrollieren sollen, Quelle: Bloomberg
Schulden außer Kontrolle
PETROS GIANNAKOURIS / AP
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Griechische Staatsanleihen
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STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL
Ex-Kanzler Schröder
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Europa muss aufwachen“ Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, 67 (SPD), über die Lernkurve der deutschen Regierung in der europäischen Finanzkrise, seine Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa, eigene Versäumnisse und seine Verzweiflung über die Briten SPIEGEL: Herr Schröder, ist der Euro in Le-
bensgefahr? Schröder: Nein. Wenn man sich den Außenwert des Euro in Relation zum Dollar anschaut, dann waren wir mal bei 82 Cent und sind jetzt bei 1,40. Der Euro ist nicht gefährdet. Was fehlt, ist ein politisches Konzept. SPIEGEL: Aber etwas läuft doch gerade fundamental schief mit dem Euro. Schröder: Mitterrand und Kohl hatten zwei Grundgedanken bei der Schaffung des Euro. Mitterrand wollte die Wirtschaftskraft Deutschlands europäisch einhegen mit einer gemeinsamen Währung. Das konnte nicht funktionieren. Wenn man einen gemeinsamen Währungsraum schafft, 24
dann setzt sich die stärkere Volkswirtschaft durch. Kohls Irrtum war, davon auszugehen, dass die Gemeinschaftswährung die politische Union erzwingen würde. Und die gegenwärtige Krise, die wir haben, macht gnadenlos klar, dass man nicht einen gemeinsamen Währungsraum haben kann ohne eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. SPIEGEL: Das haben Sie vor Ihrer Amtszeit als Bundeskanzler auch gesagt und dann nicht vorangebracht. Schröder: Europa ist ein sehr dickes Brett, das man bohren muss. Das weiß jeder, der das einmal gemacht hat. Deswegen bin ich auch zurückhaltend mit Vorwürfen gegen amtierende Regierungen. Ich D E R
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räume ein: Ich hätte gern mehr erreicht. Ich hätte zu meiner Zeit gern den europäischen Verfassungsprozess zu einem guten Ende geführt. Er ist aber nicht an uns gescheitert. SPIEGEL: Helmut Kohl macht Sie verantwortlich für die Krise, weil Sie Griechenland überhastet in den Euro aufgenommen hätten. Sind Sie also schuld am EuroDebakel? Schröder: Wer es fair betrachtet, weiß, dass das nicht stimmt. Es war seinerzeit die Europäische Kommission, die die Voraussetzungen erfüllt sah. Im Europäischen Parlament haben alle relevanten Gruppierungen der Aufnahme Griechenlands zugestimmt. Übrigens auch die
Deutschland
JOHN KOLESIDIS / REUTERS
SCOTT BARBOUR/GETTY IMAGES
CDU und die FDP. Nur die CSU war da- geht, noch mal viel ausdifferenzierter, als SPIEGEL: Die langjährige Erfahrung in gegen. Europa ist: Es werden viele Verträge gedas früher je der Fall gewesen ist. SPIEGEL: Auch die EZB macht Ihnen Vor- SPIEGEL: Das klingt, als wollten Sie die schlossen, im Zweifel werden sie gebrochen. Warum sollte jemand glauben, dass würfe: Ihre Regierung habe seinerzeit die Kanzlerin in Schutz nehmen. Kriterien des Maastricht-Vertrags, also Schröder: Nein, aber ich will gegenüber das je anders werden kann? des Stabilitäts- und Wachstumspakts, auf- denen, die da die Keule der Grundsatz- Schröder: Die Schwäche von Maastricht geweicht. kritik schwingen, gern sagen: Habt ihr es und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Schröder: Das ist ein schon ernster zu neh- nicht ein bisschen kleiner? Das ist ein war die mangelnde politische Kontrolle. mender Kritikpunkt. Aber man muss den schwieriges Geschäft, im Europa der 27 Dagegen gehen Merkel und Sarkozy jetzt Kontext sehen. Mit der Reform ist der voranzukommen. Das halte ich auch ei- vor. Zu Ende gedacht aber heißt das: Man Wachstumsaspekt des Pakts gestärkt wor- ner Regierung zugute, die nicht meine wird national Souveränitätsverzichte den. Sonderbelastungen, wie die Kosten Wunschregierung ist. üben müssen. der Wiedervereinigung, wurden einge- SPIEGEL: Hat die Bundesregierung eine SPIEGEL: Wie konkret? rechnet. Aber viel wichtiger war, dass Strategie? Schröder: Man muss das Initiativrecht bei Länder, die schwierige Strukturreformen Schröder: Inzwischen mehr als am Anfang. der Kommission oder bei einem europäimachten, mehr Luft für Wachstumspro- Meine Kritik ist, dass man am Anfang schen Finanzminister lassen, aber gleichgramme bekamen. Das war für uns Deut- glaubte, man käme mit Griechenland-Ba- zeitig die Kontrolle demokratisieren. Es sche wichtig, weil wir die Agenda 2010 shing innenpolitisch über die Runden und kann nicht so sein, dass nationale Parlabegonnen hatten. Wir hatten in Deutsch- müsse europapolitisch nicht dafür büßen. mente Souveränitätsverzichte im Budgetland eine stagnierende Wirtschaft. Zu- Man hat auf den Boulevard gehört. Das recht akzeptieren, ohne dass eine parlagleich waren wir fest entschlossen, die war ein großer Fehler. Diesen Fehler hat mentarische Kontrolle anderswo stattfinReformen durchzusetzen, also die sozia- man offenkundig eingesehen. Was zwi- det. Das, was die nationalen Parlamente len Sicherungssysteme den veränderten schen Deutschland und Frankreich be- abgeben, muss beim Europäischen ParlaBedingungen anzupassen. So bestand die schlossen wurde, geht in die richtige Rich- ment als oberste Instanz landen. Man Notwendigkeit, aus der Stagnation mit tung. Das zu bestreiten wäre völlig falsch. kann sich vorstellen, dass das Parlament einem Konjunkturprogramm rauszukom- Ich nehme an, auch deshalb wird meine einen besonderen Ausschuss bildet, der men. In der Situation waren wir, auch Partei das im Bundestag unterstützen, aus den Mitgliedern der Euro-Zone beder inneren Reformen wegen, gezwun- was ich ausdrücklich für richtig halte. steht und der diese Kontrollfunktion übergen, die Wachstumskomponente nimmt. Die Übertragung solcher des Pakts zu betonen. Das war parlamentarischen Rechte auf iram Ende auch erfolgreich. Wir gendwelche Expertengremien haben mit der Agenda 2010 unwäre eine große Gefahr, weil dasere Hausaufgaben gemacht. mit eine Entdemokratisierung Auch ein Grund, warum wir besverbunden wäre. ser als andere durch die WirtSPIEGEL: Trauen Sie diese Aufgaschaftskrise gekommen sind. be dem Europäischen Parlament Länder wie Frankreich oder Itazu? lien müssen das jetzt unter Schröder: Ja, sicher. Es muss eine schwierigen Bedingungen nachsolche parlamentarische Kontrolholen. le her, und wenn die Krise jetzt dazu führt, dass die VersäumnisSPIEGEL: Sie sagen: dickes Brett. se, über die wir geredet haben, Aber was Europa braucht, ist Gebehoben werden, dann hat sie schwindigkeit, Schlagkraft. Trauetwas Gutes. en Sie diesem Europa der 27 das zu? SPIEGEL: Und noch weitergedacht? Schröder: Mit dem Plan einer euSchröder: Perspektivisch muss ropäischen Wirtschaftsregierung, man aus der Kommission eine wenn sie denn ernst gemeint ist Regierung machen, die parlaund entsprechende Kompetenmentarisch vom Europaparlazen, etwa einen europäischen Fiment kontrolliert wird. Und das nanzminister, bekommt, haben heißt: Vereinigte Staaten von Deutschland und Frankreich ein Euro-Gegner in London: „Die Briten haben blockiert“ Europa. Da hat Frau von der starkes Signal gegeben. Das ist Leyen ganz recht. Das wird ja der richtige Weg und die Vorausjetzt auch von konservativen setzung für das richtige Mittel, Politikern und Regierungsmitdie Euro-Bonds. Schon schlicht gliedern gefordert. aus dem Grund, weil Sie einen SPIEGEL: Das ist Europa nach riesigen Anleihemarkt haben deutschen Vorstellungen von und kein Spekulant mehr darauf Finanz-, Wirtschafts- und Sohoffen kann, diesen Markt zu zialpolitik. Da graut es den anspalten. deren. SPIEGEL: Merkel wird vorgeworSchröder: Das ist kein deutsches fen, zu zaghaft und widersprüchKonzept, sondern ein vernünftilich vorzugehen. ges Konzept. Ich sitze in einem Schröder: Es ist ein Unterschied, von Nicolas Berggruen gegrünob man eine Europäische Union deten europäischen Thinktank mit 6 oder auch 10 Ländern pomit vielen auch konservativen litisch führt oder mit 27. Die 27 Kollegen aus anderen europäisind ja, was ihre Ökonomie an- Proteste in Athen: „Das Griechenland-Bashing war ein Fehler“ schen Ländern. Wir sind uns eiD E R
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BERND SETTNIK / DPA
Deutschland
Regierungschef Schröder (2. v. l.), EU-Kollegen 2002*: „Europa ist ein sehr dickes Brett“
* Oben: António Guterres (Portugal), Tony Blair (Großbritannien), José María Aznar (Spanien) beim EU-Gipfel in Barcelona; unten: Christoph Schwennicke, Georg Mascolo in Hannover.
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an Deutschland lag, das muss man klar sagen. Wenn jetzt die Krise deutlich gemacht hat, dass das, was bisher nicht geleistet werden konnte, zur Überwindung der Krise notwendig ist, dann muss man die Gelegenheit beim Schopf packen. SPIEGEL: Wie soll das gehen? Der Verfassungsvertrag scheiterte an Referenden in Frankreich und den Niederlanden, also in Kern-Europa. Schröder: Die Situation hat sich verändert. In dieser Krise liegt eine große Chance, eine wirkliche politische Union in Europa zu schaffen. Ich bin sicher, dass das in den Mitgliedstaaten mehrheitsfähig ist. Aber dafür müssen die europäisch gesinnten Politiker auch kämpfen. SPIEGEL: Sie und der Euro, das war keine Liebe auf den ersten Blick. Was hat Sie denn im Amt zum Europäer gemacht? Schröder: Ich habe den Euro einmal als kränkelnde Frühgeburt bezeichnet, weil mir die politische Union fehlte. Im Amt ist mir klargeworden, dass der Euro eine neue Situation geschaffen hatte, die aufzuheben zu katastrophalen Folgen im Ökonomischen wie im Politischen führen würde. Also musste ich im Amt lernen, dass meine Einschätzung nicht haltbar war. Dazu kam die EU-Erweiterung um zehn Staaten im Jahr 2004. Sicherlich wäre es besser gewesen, erst die Vertie-
STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL
nig dort: Es muss länderübergreifend einen vernünftigen Mix geben zwischen Wachstumsimpulsen einerseits und Sparsamkeit auf der anderen Seite. Das ist keine deutsche Konzeption. Schauen Sie nach Skandinavien, gute Europäer, schauen Sie in die Niederlande, nach Österreich. Alles gute Europäer. SPIEGEL: Aber es ist eine eher nordeuropäische als südeuropäische Vorstellung. Schröder: Das weiß ich nicht. Die Griechen sind im Moment zu einer Sparpolitik gezwungen, die mindestens dem entspricht, was andere machen. SPIEGEL: Und wenn es nicht reicht, dann zahlen die reichen Staaten, voran Deutschland. Schröder: Wenn Sie sich die ökonomischen Daten anschauen, dann hat Deutschland als Export- und Industrienation vom Euro enorm profitiert. Das ist einfach so. Man wird den Menschen klarmachen müssen, was wir vom Euro bisher hatten: ökonomisch, sozial, politisch. Man wird klarmachen müssen, dass man in einem gemeinsamen Währungsraum eine gemeinsame Haftung für diese Währung übernimmt und Souveränitätsrechte abgibt. SPIEGEL: Im Lissabon-Vertrag steht etwas anderes. Schröder: Diese Verträge sind bezogen auf bestimmte historische Situationen. Und wenn die sich ändern, dann muss man die Verträge anpassen. SPIEGEL: Lissabon muss überarbeitet werden? Schröder: Ja. Lissabon war ein Kompromiss. Wir hatten ja ursprünglich vor, mit der Europäischen Verfassung, die dann an den Volksabstimmungen scheiterte, die politische Union zu schaffen. Das haben wir nicht hinbekommen. Was nicht
Schröder, SPIEGEL-Redakteure*
„Die Politik muss nicht resignieren“ D E R
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fung zu liefern. Aber dazu bestand historisch keine Möglichkeit. SPIEGEL: Warum nicht? Warum hätte man nicht sagen können: Ihr müsst noch einen Moment warten, das Haus muss erst mal stabilisiert werden, bevor wir anbauen? Schröder: Das wäre eine unhaltbare Position gegenüber den Osteuropäern gewesen, die fast fünf Jahrzehnte unter der Spaltung Europas und der Unterdrückung gelitten hatten. Gerade gegenüber Polen wäre eine solche deutsche Haltung undenkbar gewesen. Es sind europäische Länder, ebenso wie der westliche Balkan Teil Europas ist. Auch da kann man heute den Serben nicht sagen: Nun wartet mal ab. Die wahren Probleme kommen auch gar nicht aus diesen neuen Mitgliedsländern. SPIEGEL: Sondern? Schröder: Die größten Probleme macht Großbritannien. Großbritannien ist nicht im Euro. Aber die Briten wollen trotzdem immer mitreden bei der Gestaltung eines Wirtschaftsraums. Das geht nicht zusammen. Und zweitens haben die Briten jeden Integrationsschritt sehr skeptisch betrachtet, und das ist sehr diplomatisch ausgedrückt. SPIEGEL: In Wahrheit haben sie blockiert? Schröder: Ja. Ich war ursprünglich der Meinung, man könnte Großbritannien behandeln wie Frankreich. Dabei ist übersehen worden, auch von mir übersehen worden, dass Großbritannien sich immer noch in einer Art Mittelposition sieht, zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen Seite und Europa auf anderen Seite. Also so „in between“ ist. Und das geht nicht. SPIEGEL: Aber wenn mit Großbritannien nichts geht, welche Rolle können die Briten dann in der Zukunft spielen? Schröder: Die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaftsregierung dürfen nur die Mitglieder im Euro-Raum treffen und nicht der Rat als Ganzes. SPIEGEL: Die Polen und andere werden sich bedanken. Das gibt ein Beben. Schröder: Die Polen und andere werden das verstehen. Sie können dann mitreden, sobald sie Mitglied des Euro-Raums geworden sind. SPIEGEL: Dann haben wir endgültig ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Schröder: Das haben wir doch längst mit dem Euro-Raum. Wir sollten jetzt nicht länger fackeln, sondern ernst machen mit Kern-Europa: Weil Europa und seine Nationalstaaten sonst zwischen Asien unter der Führung von China auf der einen Seite und einem wiedererstarkten Amerika, an das ich glaube, auf der anderen in der Bedeutungslosigkeit versinken würden. Das Europa, das ich mir vorstelle, ist ein stärker integriertes, ergänzt um die Mitgliedschaft der Türkei auf der einen Seite und eine Assoziierung Russlands auf der anderen Seite. Das ist die einzige Chance,
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um dieses Europa auf gleicher Augenhöhe agieren zu lassen mit Asien und den USA. Ansonsten sehe ich für die Nationalstaaten nicht die Spur einer Chance, ihre Bedeutung zu bewahren. Europa muss aufwachen. SPIEGEL: So drastisch? Schröder: Ja. Wenn es eines Beispiels bedürfte, rate ich, sich mal den Klimagipfel in Kopenhagen im Jahr 2009 anzuschauen. Was ist da passiert, politisch? Dort haben weder die Europäische Union noch die Nationalstaaten in der EU eine Rolle gespielt. Auch die Amerikaner habe keine Rolle gespielt. Auf dem Gipfel von Kopenhagen hat Asien unter Führung Chinas gesagt: Da geht’s lang. Dann haben sie gnädigerweise den amerikanischen Präsidenten eingeladen, um das fertige Papier gegenzuzeichnen. Kein einziger europäischer Player, weder die Klimakanzlerin noch Herr Barroso, noch sonst jemand, hat dort eine Rolle gespielt. SPIEGEL: Wenn wir nun schon auf globaler Ebene sind: Haben die Finanzmärkte die Weltregierung übernommen? Schröder: Es hat von uns Vorschläge gegeben, diese Finanzmärkte besser zu kontrollieren. SPIEGEL: Nachdem Rot-Grün zunächst dereguliert hat. Schröder: In Deutschland! Das ist kein nationales Problem. Wir haben 2005 beim G-8-Gipfel in Gleneagles versucht weiterzukommen. Wir sind ausgelacht worden von den Briten und von den Amerikanern, als wir gesagt haben: Wir müssen diese Finanzmärkte in den Griff bekommen. Keiner war dazu bereit aus Rücksicht auf die Börsenplätze Wall Street und Londoner City. SPIEGEL: In London bei den G20 im Jahr 2009 hat keiner mehr gelacht, aber gehandelt hat auch niemand. Schröder: Das ist das Problem. Die neue Finanzarchitektur der Welt kann nur im Rahmen der G20 entschieden werden. Das kann G8 nicht mehr. SPIEGEL: Vielleicht ist es in Wahrheit auch so, dass die wahre globalisierte Welt eine des Geldes ist, aber nicht der Politik? Schröder: Das ist mir zu resignativ. Die Politik hat es natürlich schwerer, weil sie Entscheidungen nicht einfach mit basta treffen kann, sondern weil sie Entscheidungen rechtfertigen muss. SPIEGEL: Und das aus Ihrem Mund. Schröder: (lacht) Manchmal tut es einfach gut, mal basta zu sagen. Aber auch ich weiß natürlich: Demokratie funktioniert so nicht. Demokratie ist langsam, die Märkte sind schnell. Aber Politik muss deshalb nicht resignieren vor den Märkten. Sie bestimmt zum Beispiel über die G20 die Regeln. Sagen wir so: Sie ist vielleicht langsamer, aber sie sitzt am längeren Hebel. Sie muss ihn bloß benutzen. SPIEGEL: Herr Schröder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
FDP-Chef Rösler: „Oh, ganz weich“ LIBERALE
Der Linienrichter Philipp Rösler kämpft gegen das Image, ein netter, aber führungsschwacher Parteichef zu sein. Sein Umgang mit Guido Westerwelle hat dieses Problem nicht gelöst, sondern vergrößert.
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m Tag, bevor Philipp Rösler den Außenminister demütigt, steht er draußen in der Schlange vor den Grillwürstchen und fingert eine dicke saure Gurke vom Buffet. Der Wind peitscht kalten Regen unter das Vorzelt. Rösler wird ein wenig nass, aber er will nicht schlechtgelaunt wirken. Er plaudert mit einer Mitarbeiterin, die saure Gurke isst er noch im Stehen. Es ist der vergangene Montagnachmittag, im Bundeswirtschaftsministerium feiern sie ihr Sommerfest. Drinnen in der Kantine drängen sich ein paar hundert Menschen. Als der Minister den Raum betritt, teilt sich die Menge nicht. Rösler D E R
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schlüpft durch sie hindurch, als wäre er nicht der Chef, sondern bloß ein neuer Mitarbeiter. So redet er dann auch: „Es ist ja nicht so, dass der Minister kommt und sagt, wie er sich alles vorstellt, sondern wir haben die Linie hier gemeinsam im Team erarbeitet.“ Einen Tag später sagt Rösler bei der Fraktionsklausur der FDP auf Schloss Bensberg: „In außenpolitischen Fragen habe ich klar nochmals in der letzten Woche als Parteivorsitzender die Linie der FDP, der Liberalen, vorgegeben.“ Rösler ist also ein Parteivorsitzender und Wirtschaftsminister, der seinem Wirtschaftsministerium keine Linie vorgibt,
Deutschland
THOMAS PETER / REUTERS
Er hat nie nach den großen Jobs gedafür aber dem Außenminister. Das die Rösler herumführt. Dazugehören ist strebt, sie sind ihm mehr zugefallen. Als wiederum sieht nicht nach einer klaren gut. Rösler schnallt den Helm fest. Die Direktorin und der Institutsleiter Westerwelle der Rückzug vom ParteiLinie im Führungsstil aus. Und so muss sich die FDP nach Röslers Auftritten in laufen mit ihm zu einem Ungetüm aus vorsitz nahegelegt wurde, war Rösler den vergangenen zwei Wochen fragen, Metall und Kabeln. Wenn es gut läuft, nicht mal dabei, sondern nur per Telefon ob sie von einem wankelmütigen Linien- gelingt es hier in ein paar Jahren, Was- zugeschaltet, weil er zu Hause die Kinrichter, einem Despoten oder einem sanf- serstoff per Kernfusion in saubere Ener- der hüten musste. NRW-Landeschef Daniel Bahr ten Zauderer geführt wird. Es und Generalsekretär Christian könnte auch eine Mischung aus all Lindner saßen bei Westerwelle im dem sein. Wohnzimmer. Anders als Rösler Seit knapp vier Monaten ist Philhaben die beiden stets darauf hinipp Rösler Bundeswirtschaftsminisgelebt, große Rollen in der Politik ter, Vizekanzler und FDP-Vorsitzu übernehmen. Aber dann grifzender. Es lief schon bislang nicht fen sie nicht zu, als eine große Rolgut für ihn, besonders im Amt des le frei wurde. Parteichefs. Aber nun stellt sich die Lindner ist 32 und Bahr 34 Jahre Frage, ob er die FDP führen kann. alt. Sie wissen, dass sie noch Zeit Zunächst hat er es versäumt, haben. Sie wissen auch, dass WesAußenminister Guido Westerwelle terwelles Nachfolger eine schwere aus dem Amt zu drängen, nachPhase vor sich hat. Lindner und dem der den Erfolg der Rebellen Bahr wollen sich nicht verbrennen und der Nato-Partner in Libyen lassen. Auch deshalb ermutigten sie peinlicherweise auch für die Sankden 38-jährigen Rösler, Parteichef tionspolitik der Bundesregierung zu werden. Und Rösler folgte. reklamiert hatte. Das war am MonUnd versäumte es, Westerwelle tag der vorvergangenen Woche. auch als Außenminister sofort abAm Freitag darauf hat sich Rösler zulösen. bei den Nato-Partnern bedankt, Für Röslers Generation ist Weswomit der Außenminister bloßterwelle immer auch ein Übervater gestellt war. Schließlich folgte der gewesen, der die FDP aus der BeSatz zur außenpolitischen Linie, deutungslosigkeit zum besten Bunder Westerwelle nicht mehr einen destagswahlergebnis aller Zeiten Funken Ehre ließ. „Der Bundesführte. Dann machte er Rösler zum außenminister ist dieser Linie auch Bundesgesundheitsminister. Und ebenso klar gefolgt“, hat Rösler Philipp Rösler will nicht derjenige noch ergänzt. sein, der die Grausamkeit begeht, Der Außenminister steht nun da den früheren Übervater aus dem wie ein Trottel. Das AußenministeWeg zu räumen. rium ist gleichsam zur UnterabteiImmerhin zeigte er jetzt so etwas lung des Wirtschaftsministeriums wie Stärke, indem er Westerwelle degradiert, und die Richtlinienkom- Außenminister Westerwelle: Nur noch ein Schatten öffentlich demütigte. Die Demüpetenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht sich durch Röslers Linien- gie umzuwandeln. Wenn es sehr gut läuft, tigung ist die Herrschaftsform der Schwahuberei herausgefordert. Das ist die Bi- fließt diese Energie ab dem Jahr 2040 ins chen. Die Starken brauchen das nicht. lanz von Röslers Versuch, Führung zu Stromnetz. „Von manchen Menschen Nun ist Westerwelle nur noch ein Schatzeigen, nachdem er es versäumt hat, Füh- werden wir gepiesackt, weil wir jetzt ten, Rösler ein Chef, der nicht weiß, wie rung zu zeigen – mit einem Rauswurf Wes- noch nichts liefern können“, sagt der er führen soll, und Bahr und Lindner terwelles, der sich international unmög- Institutsleiter. „Hey“, sagt Rösler, „das warten still. Das ist die Lage der FDP derzeit. kenn ich!“ lich gemacht hatte. An einem kühlen Frühsommersamstag Manchmal ist Rösler herzig in seiner Seit Rösler eine Rolle in der Bundespolitik spielt, klebt an ihm der Verdacht, Offenheit. Als er nach Westerwelles Sturz besucht Rösler das Gestüt von Paul Schoer könnte zu nett sein für dieses Geschäft, Parteivorsitzender wurde, sagte er in sei- ckemöhle im niedersächsischen Mühlen. zu schwach zum Führen. In der Politik ner Antrittsrede, „ab heute“ werde die „Was haben Sie denn mit Reitsport zu ist Nettigkeit eine gefährliche Eigenschaft. FDP „liefern“. Ein gefährlicher Satz, der tun?“, fragt Schockemöhle. „Och“, sagt Rösler. Ein Stallknecht führt einen Wenn es gut läuft, verhilft sie Politikern einem lange nachhängen kann. Im Moment steht es so um Röslers Lie- schwarzen Hengst auf den Hof. Als der zu Beliebtheit. Wenn es schlecht läuft, verwandelt sie Politiker in Leichtgewichte fer-Service: Die Umfragewerte sind seit Hengst Rösler nahen sieht, reißt er die und manchmal in Bulldoggen, wenn sie Monaten im Keller, die Bürger nehmen Augen auf und klappert unruhig mit den versuchen, nicht mehr wie Leichtgewich- die FDP nicht mehr ernst. Sie sehen eine Hufen, Rösler zögert, der Hengst scheut Partei, die neben Steuersenkungen keine zurück. Rösler bleibt stehen und guckt te zu wirken. Mitte August, Philipp Rösler besucht das neuen Themen findet und die nicht rich- zu Schockemöhle. Mit festen Schritten geht SchockemöhMax-Planck-Institut für Plasmaphysik in tig begründen kann, warum man sie noch Greifswald. Am Eingang der Halle nimmt braucht. Sie sehen Streit und Missgunst le zum Hengst und greift ihn am Zaum. er einen blauen Helm, keinen roten. Die unter den Führungsleuten und keinen Der Hengst rührt sich nicht mehr. Rösler blauen Helme sind für Mitarbeiter, die ro- klaren Kurs. Wahlerfolge sind in nächster stellt sich dazu, die Kameras klicken. Im Gesicht des FDP-Chefs erstrahlt ein Kinten für Besucher, aber Rot ist keine gute Zeit nicht zu erwarten. Unter Westerwelle sah es nicht schlech- derlächeln. Vorsichtig berührt er den Farbe für einen FDP-Chef, es sind ja viele Kameras dabei. „Mit dem blauen Helm ter aus für die Partei. Aber Rösler hatte Hengst am Hals. „Oh“, sagt Rösler, „ganz weich.“ gehören Sie dazu“, sagt die Direktorin, ihn ja auch gar nicht ablösen wollen. MERLIND THEILE D E R
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Fluch der Vergangenheit Renate Künast will Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden und Klaus Wowereit mit Konzepten besiegen. Das Experiment droht zu scheitern, weil Künast nicht beliebt genug ist. Als Frau, die immer kämpfen musste, fehlt ihr die Geschmeidigkeit. Von Markus Feldenkirchen
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gierende Bürgermeisterin kann Künast nur noch mit Hilfe der CDU werden, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Gegen Wowereits Nonchalance und Geschmeidigkeit wirkt sie mit ihren Konzepten und Zehn-Punkte-Plänen wie eine schlechtgelaunte Streberin. Es gibt niemanden, den das mehr ärgert als Künast selbst.
An einem Mittwochnachmittag rauscht sie in Steglitz durch C&A, auf dem Dach soll es einen Fototermin geben. Auf der Rolltreppe macht einer ihrer Begleiter den Fehler, eine Umfrage zu erwähnen, die der „Tagesspiegel“ an diesem Tag veröffentlicht hat, und die besagt, dass Künast im Vergleich zu Wowereit besonders
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
eil es ohne die Currywurst in der Berliner Politik nicht geht, steht Renate Künast an diesem Freitag schon um elf Uhr vormittags an der Wurstbude Witty’s Organic Food und isst gegen die Umfragen an. Vor ihr stehen Radioreporter, Fotografen, Kameras, die bezeugen, dass die Kandidatin Currywurst isst. Künast hat die Biowurstbude selbst eingeweiht, als sie Ministerin für Verbraucherschutz war. Damals kämpfte sie für eine andere Art des Essens. Jetzt geht es um ein anderes Berlin. Die Reporter von Radio Energy wollen ein Spiel mit ihr spielen. Sie sind freundlich, sie sagen: „Der Wowereit hat auch schon mitgemacht.“ „Das ist ja schön“, fährt Künast dazwischen. „Jetzt machen Sie aber ein Interview mit mir.“ Später nähert sich eine ältere Dame und bittet höflich um ein Autogramm. Künast lässt sich Stift und Zettel reichen, da schiebt die Dame noch einen Wunsch hinterher. „Vielleicht irgendwas Nettes schreiben, das wäre toll.“ Künast schreibt „Renate Künast“. Die Dame betrachtet den Zettel, sie wirkt enttäuscht. „Können Sie nicht vielleicht noch so was wie ,Mit freundlichen Grüßen‘ draufschreiben?“ Künast schaut die Frau an, als hätte sie gerade um eine Organspende gebeten. Dann schreibt sie: „Mit freundlichen Grüßen“. Klaus Wowereit, ihr Konkurrent um die Macht in Berlin, hätte vermutlich „Von Herzen, Ihr Klaus“ geschrieben. Das Duell zwischen Künast und Wowereit, zwei Politikertypen, die gegensätzlicher nicht sein können, ist ein Experiment. Es geht darum, ob es ausreicht, eine Stadt zu verkörpern, wie Wowereit dies tut, und ob ein Wahlkampf, der wie Künasts vor allem auf Inhalte setzt, noch Erfolg haben kann. Letztlich geht es um die Frage, auf welchem Niveau sich Bürger und Medien mit Politik befassen. Auf dem von Wahlplakaten oder von Wahlprogrammen. Es sieht nicht gut aus für das Modell Inhalt. Als Renate Künast vorigen November gegen Wowereit antrat, lag ihre Partei in den Umfragen noch vor der SPD, sie selbst nahezu gleichauf mit Wowereit. Jetzt, zwei Wochen vor der Wahl, ist der Amtsinhaber um Längen beliebter. Re-
Wahlkämpferin Künast: „Ich will, ich kann, aber ich darf nicht“ D E R
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antrag verweigert hatte, den Gefängnisschlüssel abgenommen. Er habe vor ihr gestanden, ihren Schreibtisch angehoben, sie bedroht. Künast hätte den Alarmknopf drücken können, doch das hätte ihren Ruf unter den Häftlingen ruiniert. „Wir haben uns ins Auge geguckt“, erzählt sie. „Minutenlang. Ich dachte: bloß keine Schwäche zeigen. Weil die Leute dann wissen, dass sie dich kleinkriegen. Das war hart, aber da muss man stehen.“ Am Ende habe der Häftling aufgegeben. Der Drang, sich nicht kleinkriegen zu lassen, half ihr auch, als sie 1979 der Alternativen Liste beitrat. Sie rauchte Joints, trug gefärbte Malerlatzhosen und schnitt sich die Haare ab. „Wir wollten ein anderes System“, sagt Künast. 32 Jahre später steht sie an einem Samstag auf dem Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg und verteilt Sonnenblumen an schicke Eltern und selbstgebastelte Schultüten an schicke Kinder. Allein mit dem Wert der Sonnenbrillen, die hier ausgeführt werden, könnte man eine Schule sanieren. Ein Stand serviert Bio-Currywurst mit Champagner, in keinem Gericht verdichtet sich die neue Klientel der Grünen treffender. War einst Gorleben der Quellort der Bewegung, so ist es heute der Kollwitzmarkt. Künast hat viel dafür getan, die Grünen in die Bürgerlichkeit zu führen. Sie hat die Partei in die Mitte der Gesellschaft getragen, aber ihr eigenes Auftreten wirkt noch immer, als kämpfe sie von deren Rand aus. Im Zeitalter der Geschmeidigkeit haben sich die Eigenschaften, die Künast, den Grünen und den Frauen zu größerer Macht verhalfen, in einen Nachteil verwandelt. Allein mit Kampfeswillen und Ideen scheint man nicht Bürgermeisterin zu werden. So ist die Kandidatin Künast auch Opfer ihrer Sozialisation. Dabei wären ihre Inhalte gesund für Berlin. Nirgendwo lässt sich die Ideenlosigkeit der hiesigen Politik klarer besichtigen als an diesem Morgen auf dem Marktplatz von Spandau. Dort stehen CDU, SPD, Deutsche Konservative Partei, Die Linke und die beiden Schnapsnasen von der rechtspopulistischen Freiheit gelangweilt unter Sonnenschirmen. Die FDP hat sich verspätet. Die Sozialdemokraten haben Bilder von Klaus Wowereit dabei, der Stand der Grünen ist mit Broschüren gepflastert. Als Künast erscheint, bildet sich eine große Traube. „Ich habe eine Vision für Berlin“, ruft sie in ein Megafon. Sie spricht von 100 000 neuen Arbeitsplätzen, sie will die Stadt, die sich bislang mit der Ansiedlung von Nachtclubs und Musik-Labels begnügt CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
bei Frauen unbeliebt sei. „Das ist ’ne ganz dem Ziel, von den eigenen Defiziten abheikle Geschichte, die Nummer“, flucht zulenken. „Ich habe mich ja selbst gefragt, ob ich Künast, ihre Vermutung: „Die SPD hat’s bezahlt.“ Kurze Wutpause. „Und der anders auftreten soll“, sagt Künast. „Aber ,Tagesspiegel‘ macht mit.“ Zwischen Da- wenn ich aus der Wäsche gucken würde men- und Herrenabteilung riecht es plötz- wie Lady Diana, würde ich sicher nicht lich nach Verschwörung. So riecht es oft kandidieren. Ich kann nur das sein, was ich bin.“ Im Übrigen würde sie ja auch in Künasts Umgebung. In Mahlsdorf steht sie auf der Straße Zuspruch erfahren, selbst von Frauen. und möchte einen Gedenkstein begutach- „Das sind jene Frauen, die sich von Mänten. Zwischen ihr und dem Stein liegt ein nern zu viel Butter vom Brot haben nehSchotterstreifen, der spärlich mit Gräsern men lassen.“ Der erste Mann, der das bei Künast bepflanzt ist. Jeder andere würde den direkten Weg wählen, Künast hält im versucht hat, ist ihr Vater. Sie kommt 1955 letzten Moment inne und blafft einen in Recklinghausen zur Welt, als zweites Fotografen an. „Nee, nee, dann machen von vier Kindern. Ihr Vater, ein BauernSie wieder ein Foto, wenn ich jetzt da sohn aus Thüringen, arbeitet als Chaufreintrete, und am Ende heißt es: Jetzt tritt feur für einen Großindustriellen. sie auch noch das Grün platt.“ Künasts Während der Arbeit trägt der Vater treuester Begleiter ist der Verdacht, dass graue Uniform, zu Hause führt er „ein alle ihr etwas wollen. strenges Regime“, wie Künast erzählt. So rast sie mit einer Kratzbürstigkeit durch die Stadt, die sie immer weiter entfernt von der Gutmütigkeit eines Wowereit. Es dauert, bis sie Menschen näherkommt. Die Kunst der Politik aber, das zeigt dieser Wahlkampf, ist vor allem die Kunst des ersten Eindrucks, im Fernsehen, auf Plakaten, auf der Straße. Im Juni, als das Rennen noch offen war, saß Künast teetrinkend im Café Einstein und regte sich mal wieder auf. Sie hatte gerade einen Artikel auf SPIEGEL ONLINE gelesen, in dem Angela Merkels Pläne für den Atomausstieg erläutert Amtsinhaber Wowereit: „Von Herzen, Ihr Klaus“ wurden. Künast sah die Rolle der Grünen nicht richtig gewürdigt. „Als „Mein Vater hat mich nie gelobt. Das musswären wir kleine Arschknirpse, die mit te ich selbst erst mal lernen.“ Dafür hat der Sache nichts zu tun haben“, sagte sie, der Vater einen Plan: Sie soll den Hauptund während sie sprach, hüpfte ihre Hand schulabschluss machen und Hausfrau werwie ein Känguru über den Tisch. „Dabei den. Herr Künast hält die Hauptschule für ist das unser Ausstieg.“ standesgemäß und das Hausfrauendasein In Künast wohnt die ständige Unruhe, für frauengemäß. „Ich will, ich kann, aber zu kurz zu kommen, die Angst, nicht aus- ich darf nicht“, protestiert die junge Rereichend gewürdigt oder schlimmer: nicht nate. Am Ende dieses ersten Kampfes ihwahrgenommen zu werden. Die ständige res Lebens darf sie immerhin auf die RealAngst vor der Arschknirpsigkeit. schule. Sie wird Sozialarbeiterin und arIn guten Momenten wirkt sie dadurch beitet zunächst im Gefängnis von Tegel. wie eine starke Frau, in den schlechten Sie redet oft von dieser Zeit als kleiner erinnert sie an Guido Westerwelle. Ihr Frau zwischen schweren Jungs, auch neuständiger Kampf, nicht zu kurz zu kom- lich, als sie eine Gruppe von Sozialarbeimen, zwingt sie allzu oft in die Ecke der tern am Bahnhof Zoo besuchte. Einmal Beleidigten. Und dort sieht niemand vor- habe sie zur Weihnachtszeit einen Christteilhaft aus. baum in den Knast gestellt, damit die Vor ein paar Tagen legte Künast wie- Häftlinge ihren eigenen Baum schmücken der einen Stopp im Café Einstein ein. konnten. Am nächsten Tag sah Künast Der Tee ist noch nicht serviert, da läs- das Ergebnis. An den Zweigen hingen tert sie schon über Wowereit. Sie frage nicht Lametta und Tannenzapfen, sonsich, ob das eine gesunde Entwicklung dern Klopapier und Pornobilder. „Die sei, dass der „Popstar-Populismus“ im- wollten einen ständig provozieren“, ermer mehr um sich greife. Bei Gutten- zählt sie den Kollegen vom Bahnhof Zoo. berg habe man ihn erlebt und jetzt wie- „Da muss man taff bleiben.“ der bei Wowereit. Es ist eine interessante, Eines Tages habe ihr ein Häftling, dem berechtigte Frage, aber sie dient auch sie die Unterschrift unter einen Urlaubs-
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Deutschland dau auf ihre Prominenz. Ihre Broschüren bleiben liegen, die Wowi-Bildchen gehen besser. Vermutlich wären Künasts Energie und Ideen hilfreich für das schläfrige Berlin, in dem die Ambitionslosigkeit zur Haltung und das Achselzucken zur typischen Bewegung geworden sind. „Wir müssen die Stadt in Bewegung kriegen“, sagt Künast, die zwischen 1985 und 2000 schon einmal als engagierte Abgeordnete für die Stadt gekämpft hat. Vielleicht aber ist gerade Berlin, dieses Eden des Ausschlafens, nicht der richtige Ort für eine Rastlose wie sie. In der Zeit, als sie noch Bio-Currywurstbuden eröffnete, war ihre Unruhe am richtigen Platz. Als Ministerin für Verbraucherschutz bewies sie, dass sie über die Kraft und das Geschick verfügt, große Ziele auch zu verwirklichen. Ihre Kratzbürstigkeit war im Konflikt mit Landwir-
„Das ist nicht zu vergleichen.“ „Meinen Sie nicht?“ „Nein“, sagt Künast. In Berlin gibt es kein Stuttgart 21 und auch keine maroden Atomkraftwerke. Das ist gut für die Stadt, aber nicht für Künasts Wahlkampf. Weil ihr die Angstthemen in Berlin nicht zur Verfügung stehen, muss sie es mit Wirtschafts- und Schulpolitik versuchen, mit Themen, die den Bürgern nicht nur ein Gefühl, sondern Auseinandersetzung abverlangen. Das Charmante an der Demokratie war immer auch, dass sie einen Wettstreit der Ideen versprach, ein Ringen um die besten Konzepte. Dieser Wettbewerb kann aber nicht stattfinden, wenn Kandidaten vor allem auf das setzen, was sie ausstrahlen, statt darauf, was sie vorhaben, und wenn es den Bürgern zu mühsam ist, Konzepte zu vergleichen statt nur
der Transporter vorbeigefahren ist, fragt ten gut aufgehoben. So änderte sie das sie ihre Referentin: „Wo war ich stehen- Produktionsverhalten vieler Bauern und geblieben?“ das Einkaufsverhalten vieler Bürger. Man kann all das nachlesen, in ordentIm Berliner Wahlkampf geht es meist lichen Broschüren, klar gegliedert, mit um Kleineres. In der Steglitzer SchlossÜberschriften und Unterpunkten. Künast straße steht an einem Stand der Grünen möchte 400 neue Lehrer einstellen und eine Pinnwand, an der die Bürger ihre die Nachmittagsbetreuung massiv auswei- größten Sorgen hinterlassen können. ten. Sie will allein mit Investitionen in „Die Toilette im Gymnasium Steglitz ist Gebäudesanierungen 25 000 neue Jobs in einem unwürdigen Zustand“, steht da. schaffen und ein Klimastadtwerk grün- Daneben haftet Künasts Wahlkampfden. Sie möchte Berlin mit gezielten För- slogan: „Da müssen wir ran“. derungen zur Stadt der Elektromobilität „Frau Künast, warum fährt hier von und anderer grüner Technologien ma- Steglitz aus keine Straßenbahn in die Inchen. Sie will Mietsteigerungen gesetzlich nenstadt?“, fragt ein Passant. Seit Jahren begrenzen, für neue S-Bahn-Züge sorgen streiten sie in Steglitz über die Frage. und den Fahrradverkehr verdoppeln. Sie „Also, ganz ehrlich, ich habe die Sorge, will in wenigen Jahren 500 Millionen Eu- dass sich die Angelegenheit zu einer Karo einsparen, nur nicht bei der Bildung. tastrophe ausweitet – wie Stuttgart 21.“ Doch das Interesse an Künast beKünast zuckt. „Das mit der Straßenschränkt sich an diesem Morgen in Span- bahn?“ Der Passant nickt.
Plakate. So gerät die Wahlentscheidung zur Schwester des Turnschuhkaufs, zur Gefühlssache. Auf einem schmalen Reinickendorfer Bürgersteig, gleich vor der McPaperFiliale, gegenüber von Matratzen Concord, ziehen ältere Männer mit Herrenhandtasche und Ehefrau am Arm an Künast und ihren Flyern vorbei. Irgendwann kommt eine Frau in ihrem Alter auf sie zu: „Ich wollte Ihnen mal was sagen: Ich find Sie toll! Sie überzeugen mich als Person. Sie haben so eine klare und kämpferische Aussprache.“ „Und ich bin eine, die auch noch dranbleibt“, ergänzt Künast, der Vollständigkeit halber. Dann umarmt sie die Frau, drückt Wange an Wange, streichelt sie am Arm, wird zurückgestreichelt. Für einen Moment ruht der Kampf, und Renate Künast sieht beinahe glücklich aus.
hatte, um echte Unternehmen bereichern. Berlin solle weltweiter Leuchtturm der Umweltindustrie werden. „Wat is ’n ditte?“, fragt ein Rentner. „Zum Beispiel, wenn Sie einen Ausflug machen und auf der Heimfahrt sind“, erklärt Künast. „Dann rufen Sie aus dem Auto mit dem Handy Ihre Heizung an, und dann heizt die punktgenau zu Ihrer Ankunft auf die gewünschte Temperatur.“ „Is ja ’n Ding“, sagt der Rentner. Leider gehört der strukturierte Vortrag nicht zu Künasts Stärken, für einen Wahlkampf, der ganz auf Inhalte setzt, ist das schwierig. So klingen ihre Visionen meist, als rattere sie einen Einkaufszettel runter. Sie stopft so viele Themen in eine Minute, dass sie selbst den Überblick verliert. In Spandau gerät ihr ein Geldtransporter dazwischen, er hupt, die Menge um Künast versperrt ihm den Weg. Als
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Angeklagte Torben P., Nico A. mit Anwälten, „Bild“-Berichterstattung: Drohungen gegen alle Familienmitglieder, sogar gegen den Hund PROZESSE
18 Sekunden Zündstoff Der Schüler, der in einem Berliner U-Bahnhof einen Fremden brutal zusammentrat, bekam von der Boulevardpresse die Höchststrafe. Jetzt ist das Gericht an der Reihe. Von Beate Lakotta
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s ist die Macht der Bilder, die in diesem Verfahren die Vorzeichen setzt. Es gibt ein öffentliches Bild von Tat und Täter, über Monate absichtsvoll geformt von den Boulevardmedien. Und es gibt diesen depressiv und eigentümlich ältlich wirkenden Jungen, der gebeugt auf der Anklagebank des Berliner Landgerichts sitzt und um sein inneres Selbstbild ringt. Fast zwei Meter ist er groß, das will nicht recht zu seinem weichen Gesicht und dem ordentlich gekämmten Haar passen. Er ist sorgfältig gekleidet, aber seine Hemden sind ihm in den vergangenen Monaten zu weit geworden. Eine halbe Stunde lang spricht er zum Gericht. Er sagt: „Ich bin erschrocken über mich selbst und schäme mich sehr. Ich kann meine Tat nicht erklären, weil ich selbst keine Erklärung gefunden habe.“ Der Junge ist Torben P., bis zur Tat unbescholtener Gymnasiast aus Berlin-Heiligensee, 18 Jahre alt. In der Boulevardpresse heißt er „Hass-Treter“. Am Anfang standen die Bilder aus der Überwachungskamera. Ohne sie wäre der Prozess gegen Torben und seinen mitangeklagten Kumpel Nico A. wohl ein trauriger Fall unter vielen. Doch das Video verändert alles. Es zeigt Torben, wie er in der Nacht zu Karsamstag am Berliner U-
Bahnhof Friedrichstraße einem ihm Unbekannten eine gefüllte Plastikflasche gegen den Kopf schlägt und dem Bewusstlosen viermal auf den Kopf tritt, „weit ausholend und von oben herab“, wie es in der Anklageschrift heißt. Zwar gab es Sequenzen, auf denen Torben und Nico besser zu erkennen waren, aber die Polizei hatte exakt die 18 Sekunden zur Fahndung ins Internet gestellt, die die Tat zeigten. Es waren 18 Sekunden Zündstoff. Sie liefen auf allen TV-Kanälen und sind bis heute ein Hit auf YouTube. Sie lösten Wut und Fassungslosigkeit aus, auch der SPIEGEL illustrierte mit Torbens Tat einen Titel zum Thema Jugendgewalt (18/2011). Politiker nutzten die Bilder, um Blitzurteile, härtere Strafen und mehr Polizei auf Bahnhöfen zu fordern. Die Boulevardpresse schürte mit ihnen Ressentiments gegen einen Staat, der zu schwach sei, den sozialen Frieden und das Recht seiner Bürger auf körperliche Unversehrtheit zu verteidigen, und gegen eine Justiz, die bei Tätern aus gutem Hause ein Auge zudrücke. Damit traf sie einen Nerv, auch weil gefühlte Gerechtigkeit und formales Recht in diesem Fall schon vor dem Urteil auseinanderliegen. Selbst beim bürgerlichen Publikum war das Unverständnis groß, als der Haftrichter entschied, TorD E R
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ben P. nach seinem Geständnis nach Hause zu schicken und nicht in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft geriet unter Beschuss, weil sie Torben „nur“ wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung anklagte anstatt wegen versuchten Mordes, wie es sein Opfer in einer Zeitung forderte, und Nico A., der danebenstand, wegen unterlassener Hilfeleistung. Torbens Verteidiger Alexander Sättele führt all dies in einem Beweisantrag an, am Ende der Sitzung lässt der Vorsitzende Richter Uwe Nötzel dicke Stapel Kopien mit der gesammelten Pressedokumentation zur Lektüre verteilen. Die belastende Berichterstattung könne wichtig für das Strafmaß sein, so viel lässt auch die Staatsanwaltschaft durchblicken. Es hieß, der „Juristensohn“ wohne „behütet bei Papa und Mama im schicken Heiligensee“. Aber Torbens Vater ist gar kein Jurist, beide Eltern sind schwerkrank und seit vielen Jahren Frührentner, die P.s wohnen in einer Genossenschaftswohnung. Pressevertreter belagerten wochenlang das Grundstück. Die „B.Z.“ zeigte Torbens Gesicht, unverpixelt, darauf habe „die gesamte Öffentlichkeit Anspruch, und nicht nur diejenigen, die einen Platz im Gerichtssaal ergattern.“ Es gab Drohungen gegen alle Familienmitglieder, sogar gegen den Hund. Die P.s hielten den Terror nicht mehr aus und zogen weg. Die Familie lebt mittlerweile unter Polizeischutz. „Kriegt er jetzt die Strafe, die er richtig spürt?“, schrieb der „Berliner Kurier“ zum Prozessauftakt. „Kriegt er Knast, oder kuschelt die Justiz?“ Aus einer braunen Papiertüte zieht der Vorsitzende Richter Nötzel die Schuhe, 35
Deutschland die Torben bei seiner Tat trug. Die Sohlen ein Treffer. Selbst wenn unklar bleibt, was sind weich, wohl auch deshalb erlitt das sich in diesem Moment Bahn brach – im Opfer, der 30-jährige Installateur Markus Zweifel dürfte das Gericht eine erhebliche P., bei der Attacke zwar ein schweres Verminderung der Schuldfähigkeit durch Schädel-Hirn-Trauma, aber keine lebens- den Alkohol nicht ausschließen können. Vor sechs Wochen sendete die „Abendbedrohlichen Verletzungen. Die psychischen Folgen des Angriffs sind jedoch schau“ des RBB Sequenzen aus dem Überwachungsvideo, die zeigen, dass der noch nicht absehbar. Als Torben und Nico auf Markus P. tra- Installateur, ebenfalls betrunken, nicht fen, kamen die beiden von einer Party. unbeteiligt an der Eskalation war. Man Diverse Biere und zwei bis drei Flaschen sieht, wie er Torben ein paarmal kräftig Hochprozentiges wollen sie getrunken ha- vor sich herschubst, bevor dieser mit der ben. Sie hätten wahllos Leute angepöbelt, Plastikflasche zuschlägt. Die potentiell tödlichen Tritte bleiben jedoch. darunter auch Markus P. „Was ging im Moment der Tat in Ihnen vor?“, fragt Nötzel. „Ich habe nicht wahrgenommen, dass ich dem Herrn P. auf den Kopf getreten habe“, erklärt Torben, nur das Gefühl der panischen Angst dabei. „Der lag am Boden“, hakt der Vorsitzende nach. „Wovor hatten Sie Angst?“ – „In meiner Vorstellung waren die Rollen von Angreifer und Angegriffenem vertauscht.“ Noch nie sei er so betrunken gewesen wie an diesem Abend, sagt Torben. An den Moment der Tat könne er sich nicht mehr erinnern. Bei Nötzel weckt das Zweifel: „Sonst wissen Sie noch erstaunlich viele Details“, hält er ihm vor. „Nur die Momente der Tat sind merkwürdig verschwommmen.“ Nötzel macht in solchen Momenten nicht den Eindruck, als wolle er kuscheln. Eine Freundin von Torben tritt als Zeugin auf. Sie traf ihn in der Tatnacht in der U-Bahn. „Er hat gezit- Fahndungsvideo: Die potentiell tödlichen Tritte bleiben tert und geweint“, erinnert Die Lebensumstände von Torben und sie sich. Auf einem Spielplatz erzählte er ihr von der Tat. Als er am nächsten Tag Nico sprechen dafür, dass das Gericht sie das Video im Polizeiticker gesehen hatte, nach Jugendstrafrecht verurteilen wird. Für Nico bedeutet das wohl eine Maßging er sofort zur nächsten Wache. „Welchen Eindruck machte Torben auf nahme unterhalb einer Bewährungsstrafe. Sie?“, will Verteidiger Sättele von der Kri- Und für Torben? Anders als im Erwachsenenstrafrecht minalkommissarin wissen, die ihn dort vernahm. „Seine Reue wirkte echt“, sagt darf es bei Jugendlichen keine Rolle spielen, ob das Urteil andere potentielle Täter die Zeugin. Nötzel verliest die Briefe, in denen Tor- abschreckt. Das Gericht muss sich vielben sein Opfer um Verzeihung bat und mehr fragen, mit welchem Urteil es ersich, ebenso wie Nico, bei dem Mann be- reichen kann, dass Torben fortan als gedankte, der in der Nacht dazwischenging setzestreuer Bürger durchs Leben geht. Experten wie der Kieler Jugendstrafund so möglicherweise verhinderte, dass er Schlimmeres anrichtete. „Meine Tat ist rechtler Heribert Ostendorf meinen, es eine Schweinerei“, sagt Torben jetzt vor sei nicht abwegig, in einem solchen Fall Gericht. „Sie ist auch mit dem vielen ge- auf eine Bewährungsstrafe zu kommen – trunkenen Alkohol nicht zu entschuldi- selbst wenn man davon ausgehe, dass Torgen.“ Ganz zu erklären wohl auch nicht. ben Markus P. nicht nur verletzen, sonImmerhin war jeder Tritt auf den Kopf dern töten wollte, dort auf dem Bahnsteig. 36
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Eine Jugendstrafe ohne Bewährung sei immer das letzte Mittel, sagt Ostendorf. Die Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe trägt ihren Bericht vor. Sie hat viele lange Gespräche mit Torben und seiner Familie geführt. Sie skizziert Torben, wie er war, bevor er zum „Hass-Treter“ wurde: als Kind Ziel von Hänseleien und Überforderung, weil er weniger reif war, als es seine Körpergröße vermuten ließ. Seine Eltern schickten das Kanu-Talent auf ein Sportinternat, aber der Zwölfjährige verkraftete die Trennung von der Familie schlecht und begann, sich mit einem Messer zu ritzen. Auf einer neuen Schule fing er sich wieder, wurde Klassensprecher, interessiert an Politik, Philosophie, Ethik, besorgt um die Gesundheit seiner Eltern. Die Familie stehe auch nach der Tat zusammen, so hat es die Gerichtshelferin erlebt. Gemeinsam waren sie bei einem Psychotherapeuten, Torben gehe noch immer regelmäßig dorthin. Aus eigenem Antrieb habe er Hilfe bei einem AntiGewalt-Training und einer Anti-Drogen-Beratung gesucht. Auch bei seiner Kirchengemeinde finde er Halt. Ein katholisches Gymnasium hat sich bereit erklärt, Torben „eine schulische und persönliche Perspektive“ zu geben. Torben hat der Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe erzählt, er würde gern Jura studieren. Würde man ihn in seinem intakten Umfeld belassen und in Ruhe sein Abitur machen lassen, so sieht es die Gerichtshelferin, könne er noch ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Eine Bewährungsstrafe bedeutet nicht, dass der Verurteilte einfach nach Hause gehen kann. In der Regel versehen Gerichte solche Urteile mit Weisungen und Auflagen. Er würde einen Bewährungshelfer bekommen, man könnte ihn in sozialpädagogische Kurse schicken und ihn verpflichten, das Geschehene weiter in einer Therapie aufzuarbeiten. Man könnte ihn, unabhängig vom Zivilprozess, der noch auf ihn zukommt, dazu verurteilen, ein Schmerzensgeld auf Raten zu zahlen, er müsste es über Jahre abstottern, so wie andere ihr Bafög. Davon hätte auch Markus P. etwas. Und all das würde Torben lange daran erinnern, dass er um ein Haar einen Menschen getötet hätte.
Deutschland Kinder beim Karate
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Gutschein für Jimmy Noch ist die Resonanz auf das Bildungspaket für arme Kinder eher gering – aber die Behörden sind mit der Organisation schon jetzt überfordert.
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orgens um 6.30 Uhr ist es noch still im gelben Concordiahaus, einer Niederlassung der Stadtverwaltung von Oberhausen. Ungestört kann sich Brigitte Siodmak zu dieser Uhrzeit über komplizierte Ausführungsbestimmungen und schlecht ausgefüllte Antragsformulare beugen. Siodmak leitet den Fachbereich für Soziale Angelegenheiten der Stadt. Sie hat gerade ihr 40-jähriges Dienstjubiläum gefeiert, es gibt wenig, was sie noch schocken könnte. Dachte sie. Doch dann startete die Bundesregierung Ende März ihr „Bildungs- und Teilhabepaket“ für bedürftige Kinder, als Reaktion auf das HartzIV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. „Dieses Paket“, sagt die erfahrene Bürokratin, „ist ein Moloch, wie ich ihn bisher nicht erlebt habe und nicht für möglich hielt.“ Siodmak kann sich damit trösten, dass sie nicht allein ist. Überall in der Republik verzweifeln ihre Kollegen in den Sozialbehörden und Jobcentern an den oft verwirrenden Vorgaben aus Berlin und aus den Ländern. Dabei haben die meisten Kommunen das Schlimmste noch vor sich. Bislang sind in vielen Städten und Gemeinden nur für etwa ein Drittel der bedürftigen Kinder Anträge auf Nachhilfe38
Siodmek und ihre Kollegen fragen sich, was sie damit gemeint haben könnte. Die Vorschriften können es nicht gewesen sein, denn die strotzen nur so von „regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben“, der „Abdeckung aller Bedarfe“ oder der Frage, ob nun eine „Kostentragung“ oder eine „Kostenbeteiligung“ angemessen ist. Auch die Pflicht, dass jeder Einzelfall genau geprüft werden muss, kann die Ministerin nicht gemeint haben. Denn das dauert und ist teuer. Allein die bürokratische Umsetzung des Bildungspakets wird laut Bundesagentur für Arbeit pro Jahr etwa 130 Millionen Euro kosten. Es wird viel Personal und Papier benötigt, schließlich ist sogar die Bewilligung und Verwaltung des „warmen Mitunterricht, verbilligtes Schulessen oder tagessens“, von dem von der Leyen gern andere Leistungen des Bildungspakets ge- schwärmt, zu einem komplizierten Unstellt worden. Und schon damit sind die terfangen geworden. Früher gab es freiwillige und meist Behörden überfordert. So müssen in Oberhausen Kinder etwa unbürokratische Programme der Länder vier Wochen auf eine Antwort vom Amt und Kommunen für verbilligtes Schulwarten, in anderen Kommunen kann es und Kita-Essen, nun muss für jedes über zwei Monate dauern, bis endlich Kind ein eigener Antrag gestellt werden. über die Teilnahme am Flötenunterricht Und zwar alle paar Monate aufs Neue, oder die Erstattung von Beförderungskos- weil es ja sein kann, dass die Eltern in der Zwischenzeit keinen Anspruch mehr ten für den Schulweg entschieden ist. Dabei sollte doch alles so einfach sein: auf Hartz IV haben. Für langzeitarZettel im Internet runterladen, Wunsch- beitslose Mütter oder Väter, die viele programm ankreuzen, fertig ist die Bil- Kinder haben, kann sich die Antragsteldung und Teilhabe. Vor dem Start des lerei so schnell zu einem Nebenjob ausPakets jubelte die zuständige Bundes- weiten. Auch die schulische Kantinenleitung sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) im Bundestag: „So wenig Büro- ist gefordert. Denn es sollte die „tatsächliche Teilnahme des Kindes am Mittagkratie gab es noch nie.“ essen dokumentiert“ werden. Außerdem ist wichtig, ob sich der Schüler für das Kotelett oder die billigen Nudeln mit Tomatensauce entschieden hat. Bezahlt werden nämlich nur die „tatsächlichen Kosten“. Allerdings müssen die Eltern pro Mahlzeit einen Euro dazugeben, was für Tausende Kinder eine Verschlechterung ist. Vor dem Start des Bildungspakets gab es das warme Mittagessen häufig umsonst. „Man könnte fast meinen“, kritisiert Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) ihre Unionskollegin von der Leyen, „dass die Ausgestaltung bewusst so kompliziert ist, weil man ja einiges spart, wenn das nicht viele in Anspruch nehmen.“ Die Teilhabeleistungen, das zeigten die Zahlen deutlich, kämen nicht bei den Kindern an, der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts werde damit „klar verfehlt“. Als kompliziert hat sich auch die Bearbeitung von Anträgen auf Nachhilfe erwiesen. Schließlich muss in jedem Einzelfall entschieden werden, ob die angestrebSozialpolitikerin von der Leyen te Lernförderung „geeignet und zusätz„So wenig Bürokratie gab es noch nie“ MARIUS BECKER / PICTURE ALLIANCE / DPA
HANS WIEDL / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Wochenlanges Warten aufs Training
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Deutschland lich erforderlich ist, um die wesentlichen Lernziele zu erreichen“. Was das heißt, weiß keiner so genau. Jedem Antrag muss ein Schreiben des Lehrers beiliegen. Das sorgt an vielen Schulen in deutschen Problemvierteln für Verärgerung. „Wäre es nicht besser, Gelder in die Schulen zu leiten und Lerngruppen zu gründen?“, fragt sich Nordrhein-Westfalens Sozialminister Guntram Schneider (SPD). Selbst Fälle wie der des sechsjährigen Jimmy aus Wuppertal können die Behörden manchmal wochenlang beschäftigen. In den Ausführungsbestimmungen gibt es zwar Anmerkungen zum Umgang mit der Teilnahme am „Prager-Eltern-KindProgramm (Pekip)“ und dem Babyschwimmen. Was aber ist mit einem T R E I B H AU S E F F E K T Kampfsport-Programm für Kinder, das nicht in einer kommunalen Turnhalle, sondern in den Räumen eines Fitnessstudios stattfinden soll? Es dauerte zwei Monate, bis Jimmy den Gutschein bekam. Jetzt darf er Judo-Training bei einem priKühlanlagen in überhitzten Städten, Wasserspender auf vaten Anbieter machen, befristet, vertrockenen Feldern – Deutschland bereitet sich auf den Klimasteht sich. wandel vor. Doch es fehlt ein klares Konzept für den Umbau. Wuppertals Sozialdezernent Stefan Kühn würde über eingehende Anträge gern schneller entscheiden, doch dafür brauchte er neue Mitarbeiter. Die darf er olker Mommsen ist Bürgermeister hen. Doch wie lässt sich die Nordsee im aber nicht einstellen. Die Stadt ist so pleieiner der kleinsten Gemeinden Zaum halten? Mit neuen Deichen und höte, dass sie wie Essen oder Oberhausen Deutschlands. Die Hallig Gröde heren Warften? Das würde etliche Millioein Haushaltssicherungskonzept vorlegen liegt vier Kilometer vor der Küste Schles- nen kosten und das Gesicht der Hallig musste und eigentlich kein neues Perso- wig-Holsteins, eine flache grüne Scheibe grundlegend verändern. Helfen sollen nun Architekten und Innal beschäftigen darf – Bildungspaket hin, mitten im Wattenmeer. Es gibt nur zwei Bildungspaket her. Erhebungen, je vier Meter hoch, die Warf- genieure. Gerade hat das Land zu einem „Wir sind aber ganz besonders auf zu- ten. Darauf stehen fünf Häuser. Elf Be- Ideenwettbewerb aufgerufen. „Vielleicht“, sätzliche Leute angewiesen“, sagt Kühn. wohner leben auf dem Eiland und im sagt Mommsen, „brauchen wir hier Häuser wie in Holland, die wie Boote bei Flut Denn Wuppertal hat – im Verhältnis zur Sommer 70 Rinder und 60 Schafe. Einwohnerzahl – sehr viel mehr HartzMommsen, grauer Bart, wettergegerb- aufschwimmen.“ Die Folgen des Klimawandels bereiten IV-Familien als reiche Metropolen wie tes Gesicht, buntgeringelte Stricksocken München oder Stuttgart. So geht es bei in groben braunen Schuhen, lebt schon nicht nur Mommsen und den Küstender Umsetzung des Bildungspakets aus- seit 47 Jahren dort draußen. Kürzlich ist schützern Kopfzerbrechen. Sie werden gerechnet dort schleppend voran, wo vie- seine Tochter mit den zwei Enkeln aufs Deutschland von Flensburg bis zu den Alle arme Kinder wohnen. Ein Konstruk- Festland gezogen. Aber Mommsen will pen treffen. Klimaforscher sind sich sicher, dass die Winter feuchter und die Sommer tionsfehler, den keiner auf der Rechnung nicht weg von Gröde. hatte. Dabei schwappt mehrmals im Jahr die trockener werden. Die mittleren JahresWeil sowohl viele Behörden als auch Nordsee über das Eiland. Dann ragen nur temperaturen könnten bis Ende des JahrEltern mit dem Paket hadern, stellt NRW- die Warften aus dem Wasser. Ihm mache hunderts um vier Grad steigen. Dann Sozialminister Schneider nun eine Art das nichts aus, sagt Mommsen. Als er wird es in den Innenstädten im Sommer Ultimatum. Wenn nicht „schon bald“ 80 1964 mit seinen Eltern auf die Insel zog, unerträglich heiß, auf den Feldern fehlt Prozent aller anspruchsberechtigten Kin- waren die Gebäude nach der großen der Regen, es drohen Gewitter, Stürme, der vom Paket profitierten und zum Bei- Sturmflut gerade neu aufgebaut worden. Sturmfluten und Überschwemmungen. Bislang allerdings ging es in den Ratspiel Sport oder Musik machten, müsse „Das Land gab günstige Kredite, damit häusern beim Klimaschutz vor allem dares mit Hilfe des Bundesrats gekippt und die Warften weiter bewohnt blieben.“ „vom Kopf auf die Füße“ gestellt werden, Inzwischen aber fragt sich mancher in um, Schulen zu dämmen, Glühbirnen gesagt er. der Regierung in Kiel, ob es eigentlich so gen Energiesparlampen zu tauschen und Schneiders bayerische Amtskollegin eine gute Idee ist, dass da draußen Men- Dienstautos mit Start-stopp-Automatik Haderthauer steht einer parteiüber- schen wohnen. Wenn Klimaforscher mit anzuschaffen. All das wird den Anstieg greifenden Initiative in der Länderkam- ihren Prognosen recht haben, wird sich von Treibhausgasen in der Atmosphäre mer durchaus aufgeschlossen gegenüber. die Atmosphäre weiter aufheizen und der kaum bremsen. Und so rückt ein zweiter Sie fordert, zehn Euro für Vereinsleben, Meeresspiegel in wenigen Jahrzehnten Aspekt in den Vordergrund – der Schutz Sport oder Musik direkt an die Eltern stark steigen. Die Inseln würden in den vor den unvermeidbaren Auswirkungen des Klimawandels. auszubezahlen. Denn was helfe eine Fluten versinken. Doch noch gibt es weder einheitliche Teilhabeleistung, die man nur für den Mommsen ist also so etwas wie der Vereinsbeitrag, aber zum Beispiel nicht König von Tonga oder der Präsident der Standards, verbindliche Regeln noch klafür notwendige Fußballschuhe ausgeben Malediven. Auch deren Amtssitze drohen re Konzepte für den Umbau des Landes. dürfe? als Folge des Klimawandels unterzuge- Es fehlt an Geld und Verständnis von GUIDO KLEINHUBBERT NILS BAHNSEN
Tonga in der Nordsee
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wenig Koordination“, klagen deshalb selbst Klimaexperten in den Ministerien. Da erscheint das Bemühen der „KlimaDoch was versteht man unter einem anpassungsakademie Kassel“ durchaus Hochwasser? Was ist eine Flut? Und wo verdienstvoll, kommunale „Anpassungsbeginnt eine Bedrohung? Schon bei die- beauftragte“ auszubilden. Die soll künftig sen Fragen gibt es unterschiedliche An- jede Gemeinde einstellen. Teilnehmen allerdings, bedauert Mitarbeiterin Ulrike sichten in den 16 Landeshauptstädten. Peitscht etwa eine Sturmflut von der Steffens, könne man an solchen Kursen Nordsee die Elbmündung hinauf, sind da- zurzeit noch nicht. Das Vorhaben komme von zwar Niedersachsen, Hamburg und nicht recht voran, weil die Vorgaben des Schleswig-Holstein betroffen. Jedes Land Landes Hessen fehlten. Und freiwillig würaber hat eine andere Methode, aus den den sich wohl nur wenige Kommunen solgemessenen Wasserständen Rückschlüsse che Klima-Bürokraten leisten. „Interesse an Beratung gibt es in den auf mögliche Gefahren zu ziehen. Ein für die Statistiker in den Landesämtern jah- Kommunen schon“, sagt Cornelia Rösler, relang unlösbares Problem – und eine Leiterin des Bereichs Umwelt beim Deutschlechte Voraussetzung, um sich auf schen Institut für Urbanistik, aber für Maßnahmen fehle leider Geld. „Welcher noch höhere Fluten einzustellen. An der Mittelelbe musste sich gar ein Stadtrat würde zur Lösung eines ProGericht mit den Deichen beschäftigen. blems, das womöglich erst in einigen JahrNach dem Elbhochwasser 2002 hatte dort zehnten auftritt, Geld ausgeben?“ Kliein Wettrüsten bei den Uferdämmen be- maanpassungsprojekte müssten „No regonnen, und die Regierung in Mecklen- gret“-Maßnahmen sein, so Rösler, also burg-Vorpommern fürchtete, die Deiche Vorhaben, die „ohne Reue“ auch dann in Brandenburg seien so hoch, dass ihre einen Sinn haben, wenn sich die Klimaeigenen Schutzdämme überspült würden. veränderungen gar nicht einstellen. Das erklärt, weshalb der AnpassungsInzwischen gibt es einen komplizierten eifer dort am größten ist, wo es schon Kompromiss. Auch an Forschungsvorhaben herrscht heute Probleme gibt. Wie in Wuppertal. Politikern, Stadtplanern, Denkmalschüt- kein Mangel. Sie tragen so schöne Namen Die Menschen dort wissen, wie es ist, zern und auch Bürgern. wie Klimzug, Klimafit oder Klimpass, wenn es ausdauernd regnet. Die AtlanReagiert hat in der vergangenen Woche Regklam oder Dynaklim, Kliff, KlimAix, tikwolken, die von Westen über die Kölner Bucht ziehen, entleeren sich besonimmerhin die Bundesregierung. Sie be- JenKAS, Klima Exwost, KlimaMoro. schloss einen lange angekündigten „AkÜber 80 Millionen Euro gibt der Bund ders häufig über dem Bergischen Land. tionsplan Anpassung“. Neben die An- allein für das Projekt Klimzug aus. Damit Fast 1200 Liter Niederschlag pro Quadratstrengungen zur Reduzierung der Treib- untersuchen beispielsweise Forscher in meter fallen in Wuppertal im Jahr, dophausgase müsse die Anpassung an die Lübeck, wie stark Reetdachhäuser künf- pelt so viel wie in Berlin. Weil zudem die Folgen des Klimawandels treten, verlangte tig von Pilzen befallen werden. In Bran- zwei Stadtzentren eingezwängt im tiefen Umweltminister Norbert Röttgen (CDU). denburg testen Wissenschaftler, ob ent- Tal der Wupper liegen, rauschen die NieÜber eigene Aktionen der Regierung ist lang den typischen Alleen statt Platanen, derschläge immer wieder mit Wucht die auf den 93 Seiten allerdings kaum etwas Eschen oder Kastanien bald Orangen- Hänge hinab. Wie das Wasser genau fließt, kann man zu finden. Vieles müsse „auf lokaler oder milchbäume oder Japanische Magnolien regionaler Ebene“ umgesetzt werden, heißt gepflanzt werden sollten. Am bayrischen sich inzwischen bequem und trocken im es wolkig in dem Papier, das nicht etwa Schloss Neuschwanstein messen Exper- Rathaus ansehen, virtuell am Computer. von Röttgens Klimaexperten, sondern der ten, wie es sich auswirkt, wenn Besucher Um sein neues Programm vorzuführen, Unterabteilung Wasserbau verfasst wurde: durch den Temperaturanstieg stärker hat Bauingenieur Bernard Arnold eigens einen Bildschirm aufgestellt. Zu sehen ist „Im Sinne der Eigenvorsorge liegt die Ver- schwitzen. Die Ergebnisse füllen bald eine kleine ein Luftbild, auf dem sich nach und nach antwortung für die Anpassung an den Klimawandel schließlich im Wesentlichen bei Bibliothek. Doch was fehlt, sind klare die Straßen blau färben. „Steht die neue Prioritäten. „Es gibt viele Papiere, aber Technik komplett“, sagt der 63-Jährige, Bürgern und Unternehmen selbst.“ „können wir an jeder Stelle der Was sich vor Ort tut, weiß selbst Stadt ein beliebig starkes Gewitter das Umweltbundesamt nicht, nach simulieren.“ Röttgens Willen immerhin „WegweiDemnächst sollen bestimmte kriser und Ansprechpartner“ für die tische Gebiete digital vermessen Anpassungsaktivitäten in Deutschwerden. Dann können die Wasserland. Gerade einmal hundert Vorströme dreidimensional dargestellt haben listet eine „Tatenbank“ auf, werden. „So sehen wir, wie es sich vieles davon wurde noch nicht mal auswirkt, wenn wir Bordsteinkanbegonnen. ten erhöhen, Parkflächen absenken Die Deutschen nähern sich dem oder mit kleinen Mauern die FlutProblem in typischer Weise – grundwelle in weniger gefährdete Bereisätzlich und föderal. Die meisten che lenken“, sagt Arnold. Länder, viele Kreise und GemeinBei Schloss Lüntenbeck, einem den haben inzwischen eigene Strahistorischen Gemäuer, das schon tegiepapiere beschlossen, Kommismehrfach überflutet wurde, laufen sionen und Arbeitskreise eingesetzt, die ersten Versuche. Statt einen teuGutachten und Studien in Auftrag ren Entlastungskanal anzulegen, gegeben. Bürgermeister Mommsen: 11 Bewohner und 60 Schafe Hallig Gröde bei Hochwasser
GREGOR SCHLÄGER / DER SPIEGEL
Wie lässt sich das Meer im Zaum halten?
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Unterspülte Straße in Wuppertal
UWE MEINHOLD / DAPD
HOLGER BATTEFELD
Viele Papiere, wenig Koordination
Dresdner Neumarkt: Kaltes Wasser in überhitzten Wohnungen
soll ein Wanderweg abgesenkt werden. Bei Starkregen könnte das Wasser darüber abfließen. Ohnehin müssten künftig Regenfälle wie heute schon in Dänemark über Straßen statt durch Rohre abgeleitet werden, sagt der Planer. Die Computersimulationen haben noch eine andere Funktion. Sie sollen die Bevölkerung auf die Bedrohung vorbereiten. Leider seien sich viele der Gefahren nicht bewusst, glaubt Arnold. Bei seinen Untersuchungen stieß er auf ein Krankenhaus und ein kirchliches Versammlungszentrum, die bei Starkregen von Überflutung bedroht sind. Doch die Verantwortlichen hätten Schutzvorkehrungen abgelehnt. „Vielleicht reagieren sie, wenn sie sehen, wie alles absaufen würde“, hofft er. Rechtlich habe die Stadt keine Möglichkeiten, die Anwohner zur Vorsorge zu zwingen, und eigentlich dürfte sie die Anpassung auch nicht finanzieren. Solche Maßnahmen seien „freiwillige Leistungen“, die sich hochverschuldete Kommune nicht leisten dürften. Was die Wuppertaler nicht daran hindert zu handeln. Bauherr sind die Stadtwerke, die den Umbau über Gebühren finanzieren. Was in Wuppertal zu viel vom Himmel tropft, fällt in der Lüneburger Heide zu wenig. Dort, am Rande der Stadt Uelzen, arbeitet im Gebäude einer ehemaligen Straßenmeisterei Ulrich Ostermann. Er ist Chef des „Kreisverbands der Wasser42
und Bodenverbände“ und eine Art Regenmacher der Region. Ostermann sorgt dafür, dass die Landwirte genug Wasser für ihre Felder erhalten. „Ohne künstliche Bewässerung kann man mit den trockenen Sandböden wenig anfangen“, sagt der Bauingenieur. Dank des Wassers aber wachsen Zuckerrüben und Kartoffeln, das „Heidegold“. Im Schnitt werden im Kreis Uelzen sieben Millionen Kubikmeter Trinkwasser verbraucht, aber 27 Millionen auf die Äcker gesprüht. Die Region ist das größte Beregnungsgebiet Deutschlands. Schon heute ist absehbar, dass das Wasser nicht reicht, sollten die Sommer heißer und trocken werden. Vor Ostermann auf einem runden Tisch liegen deshalb Karten und Pläne. Die Zukunft der Landwirtschaft liege in gewaltigen Bewässerungsanlagen, sagt er, wie sie etwa in den USA eingesetzt werden. „Sie nutzen das Wasser wesentlich effektiver als die herkömmlichen Bewässerungskanonen.“ Die Innovation hat allerdings den Nachteil, dass sie viel Platz braucht. Die Äcker der Zukunft sind 800 Meter lang und so groß wie 140 Fußballfelder. Das aber zerstört die traditionelle Kulturlandschaft und führt zu bürokratischen Problemen. Feldwege müssen entfernt, Leitungen gelegt, Grundstücke unter den Landwirten getauscht werden. Vor allem aber werden ökologisch wertvolle Baumreihen, Büsche und Hecken verschwinden. D E R
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Um dennoch schnell zu pragmatischen Lösungen zu kommen, hat Ostermann vor wenigen Tagen gemeinsam mit der Landwirtschaftskammer einen „Kulturlandschaftsverband“ gegründet. Dort verhandeln nun Bauern mit Naturschützern und Kommunalpolitikern, wie die Umgestaltung der Landschaft allen Interessen zugleich dienen kann. „Ob das klappt, wissen wir nicht“, sagt Ostermann, „dafür gibt es in Deutschland keine Beispiele.“ Der Umbau auf dem Land ist schwierig, in den Städten kommt es mitunter zu unlösbaren Konflikten. Die Stadt Hamburg etwa baut zwar gerade für 40 Millionen Euro den Flutschutz der Innenstadt weiter aus. Doch seit langem fehlt eine Strategie, wie sich die Hansestadt auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten soll. Regierungschef Olaf Scholz (SPD) hat andere Prioritäten. 6000 neue Wohnungen will er pro Jahr bauen lassen. Dafür müssen Brachflächen bebaut werden und mehr Häuser entstehen. Klimaexperten raten zum Gegenteil – zur Auflockerung der Bebauung und mehr Grünflächen. Als Glücksfall erweist es sich da, wenn ein innerstädtischer Bereich komplett neu errichtet werden muss. Wie der Neumarkt an der Dresdner Frauenkirche. Dort verlegten die Stadtwerke nicht nur ein Fernwärme-, sondern auch gleich ein Kältenetz. Durch die Rohre wird sechs Grad kaltes Wasser gepumpt, mit dem im Sommer Wohnungen und öffentliche Gebäude gekühlt werden können. Ursprünglich sei das Konzept geplant worden, um den Komfort zu verbessern, räumt Reinhard Niespor von den Stadtwerken unumwunden ein, „nun aber lässt es sich prima als Klimaanpassung vermarkten“. Probleme mit der Temperatur hat heute schon die bayrische Stadt Regensburg. In der engen Altstadt staut sich an Sommertagen die Hitze, nachts kühlt es kaum ab. „Es ist klar, dass die Situation verbessert werden muss“, sagt Joachim Scheid. Der Geograf soll ein Konzept erarbeiten. Doch die Denkmalschützer wollten keine Veränderung am geschützten UnescoWelterbe, die Tourismus-Verantwortlichen freuten sich über „südländisches Flair“ und die verlängerte Saison. Immerhin, fand Scheid heraus, hat die Stadt einen besonderen Vorteil. Die Gebäude und die Stadtstruktur sind während einer mittelalterlichen Warmzeit errichtet worden. Damals gab es Belüftungsschächte und Bachläufe zur Temperaturregulierung. Könnten die wieder freigelegt werden, wäre Anpassung nur ein Schritt in die Vergangenheit. MICHAEL FRÖHLINGSDORF
OLAF WAGNER / IMAGO
Tatort Berlin-Wedding: „Er dachte, er hat uns alle erledigt, sonst wäre er nie gegangen“ VERBRECHEN
„Ich bringe euch alle um“ Vor vier Wochen schoss ein junger Kurde in Berlin-Wedding auf seine Ex-Frau und ihre Familie, zwei Menschen starben. Jetzt zeigt sich: Der mutmaßliche Täter war vorbestraft und sollte abgeschoben werden. Hätten die Behörden den Doppelmord verhindern können?
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erledigt, sonst wäre er nie gegangen“, sagt Feride. Vier Tage blieb Mehmet verschwunden. Vor dem Haus der Familie bezogen Beamte mit Maschinenpistolen Stellung. Dann nahm ihn ein Spezialeinsatzkommando fest, als er in Neukölln aus einem Taxi stieg. Mehmet legte ein Geständnis ab und sitzt nun in Untersuchungshaft. Die Öffentlichkeit hatte ihr Urteil früh gefällt. Hier wollte ein Muslim seine Frau umbringen, weil sie ihn verlassen hatte. Die Boulevardmedien schrieben von einem „Eifersuchts-Killer“, rasch war von einem „Ehrenmord“ die Rede, von einer
UFUK UCTA
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ie Frau, die erschossen werden sollte, sitzt auf einem Sofa in einer Sozialwohnung in Berlin-Wedding und wirkt gefasst. Feride Ç. hat blasse Haut, ihre Augen sehen müde aus. Ein Kopftuch, bestickt mit weißen und roten Rosen, verhüllt ihr Haar. An der Wand über ihr hängen arabische Koranverse. Sie sollen den Teufel fernhalten und die Familie vor Unglück schützen. Es ist vor vier Wochen passiert. Feride, ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Schwester und ihr Schwager wollten mit dem Auto zur Ausländerbehörde fahren, als ihr ExMann Mehmet Y. plötzlich neben dem Wagen stand. Feride sah ihm direkt in die Augen. Sah seinen stechenden Blick. Er sprach kein Wort. Keine Hasstiraden. Keine Flüche. Dann eröffnete Mehmet das Feuer. Er schoss auf ihren Bruder, der hinter dem Steuer saß. Feride sah von der Rückbank, wie er getroffen wurde. Sie vergrub ihren Kopf zwischen ihren Knien, der Kugelhagel hörte nicht auf, sie spürte, wie der leblose Körper ihrer Mutter auf sie fiel. An die folgenden Minuten kann sich Feride Ç. kaum erinnern. Sie hat nur das Heulen der Alarmanlage im Ohr; irgendwann wurde sie von fremden Menschen aus dem Wagen gezerrt. Ihre Mutter und ihre Schwester Leyla starben, ihr Bruder überlebte knapp. Nur Feride und der Schwager blieben unverletzt. Mehmet war geflohen. „Er dachte, er hat uns alle
Brautpaar Mehmet Y. und Feride Ç. 2005
„Ich habe an das Gute in ihm geglaubt“ D E R
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ultrakonservativen Moral, die sich am weltoffenen Berliner Leben rieb. Ausführliche Interviews mit Feride, ihrer Familie, Anwälten, Sozialarbeitern und der Einblick in Akten über Mehmet ergeben eine kompliziertere Geschichte. In ihr geht es auch um die Suche nach einer neuen Existenz, nach Sicherheit und Wohlstand; und um die Furcht vor einer Abschiebung in die Türkei. Der Doppelmord war eine angekündigte Katastrophe, die sich über Jahre anbahnte und dann in einem Kugelhagel entlud. Mehrfach soll der 25-Jährige seine Frau und ihre Angehörigen mit dem Tode bedroht haben. Es gab eine Vorstrafe wegen Körperverletzung und weitere Anzeigen. Mehmet hätte im Gefängnis sitzen oder längst abgeschoben werden können. Justiz und Ausländerbehörde wussten von seiner Gewaltbereitschaft und den Hilferufen seiner Ex-Frau. Hätten sie alle Informationen berücksichtigt, wäre die Tat vielleicht verhindert worden. Halil Ç., 51, ist Ferides Vater, er stand früher bei Nestlé am Band, heute pflegt er im Auftrag des Jobcenters Schulgärten. Seit 37 Jahren lebt er in Deutschland, die Sprache hat er nie richtig gelernt; ein frommer Mann, dem die Sitten seiner Gemeinschaft wichtig sind. 30 Jahre war er verheiratet, fünf Kinder hat er großgezogen. Jetzt sitzt Halil auf seinem Sofa und sortiert sein Leben. Mit einer Hand streicht er über das Display seines Handys, er starrt
Deutschland minutenlang auf das Bild seiner Frau Nevin, die ihm verliebt in die Augen schaut. Es ist das letzte Foto der beiden, wenige Tage vor der Tat. Er weint. Seit vier Wochen schläft der Witwer auf dem Sofa im Wohnzimmer. „Ich kann unser Zimmer nicht mehr betreten, über unserem Ehebett schwebt die Seele meiner Frau“, sagt er. Halil sucht nicht nach Schuldigen. Er hat sie schon gefunden. „Warum haben sie Mehmet nicht schon früher weggesperrt. Ich mache die Polizei verantwortlich“, sagt er auf Türkisch. Mehmet kam 2003 illegal nach Deutschland. Er stellte einen Asylantrag, doch der wurde später abgelehnt. Mehmet sollte das Land verlassen – oder er musste eine andere Lösung finden. Das war im Sommer 2005. Feride machte gerade eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bei einer türkischen Lebensmittelkette. Vor der Berufsschule lernte sie einen attraktiven Mann kennen. War es Liebe? Leichtsinn? Berechnung? Kurz darauf verschwanden Feride und Mehmet, damals beide 18. Vier Tage später brachte Mehmet die junge Frau zu ihren Eltern zurück und hielt um ihre Hand an. Halil fand, der Kurde habe seine Tochter geraubt. Trotzdem stimmte er der Hochzeit zu. „Ihr Ruf war ruiniert“, sagt der Vater. „Er kam durch die Tür, und ich wusste, das ist kein guter Junge. Aber was hätte ich machen sollen?“ Jeder im Kiez hatte da schon vom Verschwinden seiner Tochter gehört. Für viele Asylbewerber ist die Heirat mit einer Frau aus Deutschland der Garant für den unbefristeten Aufenthalt in der neuen Heimat. War das auch Mehmets Motiv? Als arbeitsloser Asylbewerber hätte er in Ferides Familie keine Chance gehabt. „Wenn er normal gefragt hätte, hätte er das Mädchen nie bekommen“, sagt Vater Halil. In der kurdischtürkischen Gemeinschaft ist deshalb von einem „arrangierten Brautraub“ die Rede. Er gilt als sicherster Weg, die Zustimmung konservativer Eltern zu erlangen. Ferides Angehörige beugten sich dem Schicksal, sie buchten einen Hochzeitssaal, luden 250 Gäste ein, es gab DönerFleisch, Volksmusik und Goldschmuck für die Braut. Alles schien gut. Für den Vater. Für die lästernde Gemeinde. Für den Aufenthaltsstatus von Mehmet. Die Geschichte hätte ein gutes Ende nehmen können. Mehmet besuchte Integrationskurse, bestand einen Deutschkurs, dank der Ehe durfte er erst mal drei Jahre in Deutschland bleiben. Nur das Geld war knapp. Der junge Mann schlug sich als Tellerwäscher durch, kellnerte, arbeitete in der Döner-Produktion. Es reichte knapp zum Leben, nicht aber für den Aufenthalt. Wer in Deutschland bleiben will, braucht regelmäßiges Einkommen. Auch in der Ehe gab es Probleme. Mehmet bedrohte seine Frau, wenn er D E R
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glaubte, dass sie andere Männer ansah. ter aus, dass Mehmet ihr immer wieder waltungsgericht, Arbeitsgericht. Die AusOhne seine Erlaubnis durfte sie die Woh- vor der Schule aufgelauert habe. In einer länderbehörde war über seinen Lebensnung nicht verlassen. Immer wieder SMS drohte er ihr, dass er sie entführen lauf gut informiert. Doch niemand erflüchtete sie zu ihrer Familie. 2007 sprach und vergewaltigen werde, wenn sie nicht kannte die Gefahr. Ferides Vater von einer Scheidung. Meh- freiwillig zu ihm komme. Die junge Frau Als sein Anwalt Hans-Georg Lorenz met wurde aggressiv. Er zückte ein Mes- erstattete Anzeige. das Honorar einforderte, rief Mehmet an. Am 16. September 2010 beschloss das „Wenn Sie mir noch eine Rechnung schreiser. „Can alirim, can veririm“: Ich nehme Leben und gebe Leben. Mit diesen Wor- Amtsgericht, dass Mehmet der Schülerin ben, schieße ich Ihnen in den Kopf.“ So ten soll er gedroht haben. Es war die ers- nicht näher als 50 Meter kommen dürfe. erinnert sich Lorenz. Auch bei einer türte Warnung, vier Jahre vor der Katastro- Feride war in der Zwischenzeit zu ihren kischen Mitarbeiterin der Kanzlei soll Eltern gezogen. Am Telefon soll Mehmet Mehmet seinen Hass abgeladen haben: phe. „Ich habe immer wieder an das Gute in der Familie gedroht haben: „Morgen „Du kleine Schlampe, ich komme und fiihm geglaubt“, sagt Feride heute. Verwand- muss ich meine Aufenthaltserlaubnis ver- cke dich.“ te versöhnten das Paar. Eine Die Staatsanwaltschaft erhob Strafanzeige wurde zurückgezoim März 2011 Anklage wegen der gen. Feride ging zurück in die geTodesdrohungen vom Septemmeinsame Wohnung. Sie wusste, ber 2010. Nur weil das Dokuwie schlecht geschiedene Frauen ment übersetzt werden musste in ihrem Kulturkreis angesehen und die Anklage noch nicht zuwerden. Auch Mehmet gab sich gestellt war, wurde das Verfahren Mühe. Wenn er die Wohnung bis zur Tat nicht eröffnet. Fünf von Ferides Eltern betrat, küsste Monate lang. Hätte Mehmet er seinen Schwiegereltern die längst im Gefängnis sitzen müsHand. sen? Die Drohungen stieß er in Wieder hätte sich die Geseiner Bewährungszeit aus. Eine schichte zum Guten wenden könVerurteilung hätte wohl zu über nen, doch Mehmet hatte Probleeinem Jahr Gefängnis geführt, me mit der Rolle als Hilfsjobber sagt ein Sprecher des Gerichts. und braver Schwiegersohn, der So blieb Mehmet auf freiem anderen Respekt erweist und Fuß. Am 29. März 2011 verhanselbst keinen bekommt. Mit eidelte das Amtsgericht über die nem Messer ging er im Streit auf Scheidung des Paares. Mehmet einen Mann los, der nur mit stand mit einer Rose vor Feride. Mühe entkommen konnte. MehEr flehte sie an, sie solle bei ihm met bestritt alle Vorwürfe, doch bleiben. Er warf sich vor ihr auf das Gericht verurteilte ihn im die Knie und versuchte, ihre Oktober 2008 zu zehn Monaten Füße zu küssen. So erzählt es Gefängnis auf Bewährung. Ferides Anwalt Nurali Turan. Für seinen Aufenthaltsantrag Mehmets Anwalt war für eine war die Verurteilung Gift, so wie Stellungnahme bis Redaktionssein geringes Einkommen. Nur schluss nicht erreichbar. mit Hilfe eines Anwalts konnte Mit einem Brief wandte sich das Ehepaar im Frühjahr 2009 Mehmet vor der Scheidung an Mehmets Ausweisung vorerst abdas Gericht. Er schrieb von seiwenden. Das Verwaltungsgericht ner Liebe zu seiner Frau und bat gab ihnen noch eine Chance. um eine letzte Chance. „Bitte Und die wollten sie nutzen. scheiden Sie uns nicht, ich kann Das Paar lieh sich Geld, im Somnicht ohne meine Frau sein.“ mer eröffneten sie „Memleket Doch die Richterin glaubte ihm Sofrasi“, die „Heimatküche“, Amtsgericht Tiergarten, Elternpaar Ç.: „Kein guter Junge“ nicht, am 3. Mai 2011 wurde die eine Döner-Stube in der Nähe Ehe geschieden. ihrer Wohnung. Die Schwiegermutter längern lassen. Eine Scheidung akzeptieMehmet wandte sich an die Härtefallkochte, Feride kellnerte, und Mehmet re ich nicht. Ich bringe euch alle um.“ So kommission des Berliner Senats. Nur sie machte mal wieder Probleme, diesmal steht es in einer eidesstattlichen Versiche- konnte seine Abschiebung jetzt noch bei der Kündigung einer Mitarbeiterin. rung von Feride. verhindern. Am 4. August war Mehmet Auch sie erstattete Anzeige. Bald durf- wieder mit einer Betreuerin des Migra„Er hat sich mit niemandem richtig verstanden, er war immer in Angriffsstim- te sich Mehmet seiner eigenen Frau nicht tionsrates von Berlin-Brandenburg vermehr nähern. Feride ging noch einen abredet. Sie wollte mit ihm über seine mung“, sagt Feride. „Memleket Sofrasi“ kam in finanzielle Schritt weiter. Sie teilte der Ausländerbe- Zukunft sprechen, es ging um einen InteSchwierigkeiten, Berlin-Wedding hatte hörde mit, dass sie jetzt von ihrem Mann grationskurs, Jobperspektiven, ein neues nicht auf eine weitere Döner-Bude gewar- getrennt lebe. Leben. Im Herbst 2010 war Mehmet erledigt: tet. Prompt gab es auch wieder Probleme Doch Mehmet, der schon alles verloren in der Ehe. Bei einer Aussprache gestand Der Imbiss brachte kein Geld mehr ein, hatte, seine Frau, seine Ehre und seine Mehmet im September 2010, dass er sich Mehmet übertrug das Geschäft seinem Döner-Bude, erschien nicht zu dem Geeine Zweitfrau nehmen wolle. Feride er- Onkel. Seine Frau reichte die Scheidung spräch. Stattdessen fuhr er in den Wedfuhr, dass es sich um eine 18-jährige Nach- ein. Das Verwaltungsgericht ordnete dar- ding, in das Viertel, das einmal seine Heiaufhin an, dass er ausreisen müsse. Meh- mat war, ging auf einen ausparkenden barin handelte. Tatsächlich soll Mehmet die Frau auch met hatte Menschen verprügelt und be- Mitsubishi zu und eröffnete das Feuer. belästigt haben. Die Schülerin sagte spä- droht. Er stand vor dem Strafgericht, VerSVEN BECKER, SIMON BOOK, ÖZLEM GEZER 46
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Deutschland VERKEHR
Malle auf Rädern Bierbikes verbreiten Partystimmung in deutschen Städten. Nun machen München und Düsseldorf mobil gegen die rollenden Tresen.
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AMIN AKHTAR / LAIF
rüher war das Leben noch einfach. Ein Fahrrad war laut Volks-Brockhaus von 1935 ein „durch Treten einer Kurbel bewegtes zweirädriges Fahrzeug“, dessen Hauptteile klar zu definieren seien: „starres Gestell, Vorder- und Hinterrad, Antrieb, Sitz, Lenkvorrichtung“. Auf dem Sattel saß meist ein kultivierter Mensch, der muskelbetrieben schneller von A nach B wollte. Ein Fahrrad von heute kann vier Räder haben, eine Kardanwelle, fünf Meter lang sein, mehr als zwei Tonnen wiegen und den Lärmpegel eines anfahrenden Sportwagens erreichen. Wenn nämlich bis zu 16 angeschickerte Spaßvögel mit 20 Liter Bier bei Stimmungsmusik um einen rollenden Tresen sitzen und sich mit höchstens zehn Kilometern in der Stunde lärmend durch die Stadt quälen. Durch eine? Nein, 36 deutsche Städte sind zum Grauen von Autofahrern und Anwohnern inzwischen mit Bierbikes versorgt, in Frankfurt am Main schlingert zusätzlich ein Äpplerbike, in Freiburg ein Weinvelo.
Bei YouTube gibt es dazu tolle Videos. Wie elf angeschlagene Engländer mit dem Gefährt bei Mistwetter durch Berlin rollen. Eine Hälfte der Truppe trägt russische Armeekäppis, die andere Mützen der Nationalen Volksarmee. Der Lärmpegel ist gigantisch, die Gesänge sind schräg, der Barkeeper reißt sich das Hemd vom Leib. An roten Ampeln gibt es spontane Tanzeinlagen auf den Straßen der Hauptstadt. Ob Herrentag, Karneval, Christopher Street Day oder Junggesellinnenabschied – die Branche boomt und expandiert, auf Druckbetankung beim Fahrradfahren scheint Deutschland lange gewartet zu haben. Ganz Deutschland? Fast. Es gibt bei Facebook die Gruppe „Youth against Bierbikes“, die es auf immerhin 581 Mitglieder bringt. Sie verspotten die Velos als „Malle auf Rädern“ und sind um das weitere Bestehen der Republik ernsthaft besorgt: „Da fahren zehn total betrunkene Vollpfosten so ein Riesending mit zwei Trommelbremsen durch Deutschlands Innenstädte, aber wenn du einen falschen Auspuff unter dem Auto hast, bist du ein Schwerverbrecher.“ Gruppenchef „Phil Lip“ fordert schon mal einen „Internationalen Anti-Bierbike-Tag“, Mitglied Irmina Kaniewski glaubt, „die Welt schreit nach der Vernichtung dieser Dorfdeppenschaukeln“. München und Düsseldorf verfolgen dieses Ziel hartnäckig. Das Kreisverwaltungsreferat der Bier- und Fahrradmetropole München hat Ende August die Bierbike-Flotte „auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen der Landeshauptstadt“
Bierbike in Berlin: Spontane Tanzeinlagen an roten Ampeln D E R
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stillgelegt. Düsseldorf verbot die Räder bereits 2010, befindet sich allerdings noch immer in einem unschönen Rechtsstreit mit den Betreibern, der zunächst bis zum Oberverwaltungsgericht Münster und zum Sieg der Bierfreunde führte. Im November soll erneut verhandelt werden. Bierernst bringen die Verwaltungen den Promille-Bikern ihre Missachtung entgegen. Wenn zehn Menschen das schwerfällige Gefährt in Bewegung setzen, bemängelte man in Düsseldorf, dann sei „die damit verbundene Ortsveränderung“ lediglich ein „Nebeneffekt“. Es gehe nicht um Personentransport, sondern um „einen nicht ortsgebundenen Selbstbedienungsausschank“. Nicht der Verkehr stehe im Vordergrund, sondern die Party. Und damit brauche das Rad eine Sondergenehmigung – die es natürlich nicht gibt. In München bemühten die Bierradler sogar die Wiener Konvention. 1968 gab es das Wiener Weltabkommen über den Straßenverkehr, verabschiedet von der Uno-Konferenz. Artikel 1, Buchstabe l bestimmt seither, was ein Fahrrad ist: „jedes Fahrzeug mit wenigstens zwei Rädern, das ausschließlich durch die Muskelkraft auf ihm befindlicher Personen, insbesondere mit Hilfe von Pedalen oder Handkurbeln, angetrieben wird“. Der Text scheint wie gemacht für die Bierbikes, denn er lässt mehr als zwei Räder zu und spricht ausdrücklich von Personen. Allein, das Kreisverwaltungsreferat mag das singende, klingende Trumm, das in München so gern lärmend im feinen Lehel am Austragshäusel von Edmund Stoiber vorbeifuhr, nicht für ein Fahrrad halten. Die Münchner, von genervten Bürgern und dem Polizeipräsidium angestachelt, fanden 17 Einzelvorschriften, an denen das Rad zu messen sei. Nur 5 konnte es erfüllen. Beispiel: Obwohl der Drahtesel immer einen nüchternen Mann an Bremse und Lenker hat und einst selbst Ministerpräsident Günther Beckstein versicherte, nach zwei Maß Bier könne man in Bayern durchaus noch gut am Straßenverkehr teilnehmen, wird hier Gefahr gewittert. „Sollten die Fahrgäste ihre Mitwirkung an der Fortbewegung wegen fehlender körperlicher Leistungsfähigkeit oder mangelnden Willens einstellen“, dann sei der arme Fahrer aufgeschmissen. Etwa auf einem Bahnübergang. Derartige Gruppensuizide sind bundesweit bislang nicht aktenkundig. Einzig ein Vorfall aus Köln. Dort war ein junger Mann auf der Straße zum Pinkeln kurz vom Bike gestiegen und wurde umgehend von einem Golf gerammt. Der Promille-Radler kam mit Prellungen davon, die Feiergesellschaft war inzwischen weitergefahren. Sie hatte sein Fehlen offenbar nicht bemerkt. STEFFEN WINTER 47
Gesellschaft
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VERBRECHEN
„Mein Mann sagte: jetzt erst recht“ Susanne Preusker, 51, Psychologin, über ihre Vergewaltigung durch einen Häftling und den Umgang mit Sexualstraftätern SPIEGEL: Frau Preusker, Sie waren Leiterin der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Straubing. Ein Gefangener hat Sie sieben Stunden in Ihrem Büro eingesperrt und mehrfach vergewaltigt. Wie hat sich Ihr Leben verändert? Preusker: Neben den Vergewaltigungen war es die Todesangst, die mich verfolgte. In meinem alten Leben war ich die zupackende Führungskraft, danach saß ich nur noch in der Wohnung, musste meinen Beruf aufgeben, ich konnte nicht mal mehr einkaufen gehen. SPIEGEL: Trotzdem haben Sie zehn Tage nach der Tat geheiratet. Preusker: Die Hochzeit war lange geplant. Als ich meinen Mann nach der Tat zum ersten Mal wiedersah, fühlte ich mich beschmutzt. Ich dachte, eine
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Meinharter
Frau wie mich heiratet man nicht. Mein Mann sagte: jetzt erst recht. SPIEGEL: Hat die Vergewaltigung Ihre Sicht auf die Therapie von Gewaltverbrechern verändert? Preusker: Nicht wesentlich. Mir war immer klar, dass es Menschen gibt, die man wegsperren muss. Das wollte nur keiner hören. Wenn ich das heute sage, hört man mir eher zu. SPIEGEL: Wieso haben Sie sich dann überhaupt für die Arbeit mit Sexualstraftätern entschieden? Preusker: Natürlich glaubte ich an den Sinn meiner Arbeit. Daran glaube ich heute noch, auch wenn ich jetzt keinen Beruf mehr habe. SPIEGEL: Den Täter hatten Sie selbst vier Jahre lang therapiert. Hielten Sie die Therapie für erfolgreich?
Preusker: Ich wusste, dass er massiv gestört war. Aber es gab kleine Veränderungen. SPIEGEL: Sie schreiben, er habe Ihre Vergewaltigung geplant. Preusker: Er hatte Sekundenkleber im Versandhandel bestellt und drohte, mir den Mund zuzukleben. Er hatte sogar einen Müsliriegel dabei, damit er sich stärken konnte. Er wartete bis zur Essensausgabe, damit das Personal abgelenkt ist, dann kam er in mein Büro, bedrohte mich mit einem Messer und verbarrikadierte die Tür mit Bücherregalen. Vielleicht wollte er das Machtverhältnis zwischen uns umkehren. SPIEGEL: Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie Ihre Erlebnisse detailliert beschreiben. Warum suchen Sie die Öffentlichkeit? Preusker: Zunächst habe ich das Buch nur für mich geschrieben. Ich dachte, ich könnte meine Erlebnisse in eine Kiste packen und sie wegschieben. Das hat nicht funktioniert. Dann dachte ich, die Geschichten könnten anderen Opfern Mut machen. Außerdem wollte ich schon immer ein Buch schreiben. SWR
Matthias Meinharter, 40, Künstler aus Wien, über Musikgeschmack: „Man kann dieses Instrument auf dem Markt kaufen. Ich nenne es Lauchgeige. Ich setze eine Lauchstange zwischen Schulter und Kinn an und streiche sie sanft mit einer anderen Stange wie eine Geige. Die Fasern der Lauchstangen sind wie Saiten und Bogenhaare, und es entstehen Töne, die an das Quieken von Ratten erinnern, oder, je nach Spannung der Stange, an das Zwitschern von Vögeln. Ich spiele die Lauchgeige mit meinen Freunden vom Gemüseorchester, wir spielen auch Karottenflöten, Gurkophone und Kürbistrommeln. Am Anfang war es für uns ein Experiment, mit Gemüse Musik zu machen, mittlerweile geben wir weltweit Konzerte. Wir spielen Eigenkompositionen, es klingt manchmal rhythmisch, aber dann auch wieder wie elektronische Musik. Nach den Konzerten hacke ich die Lauchgeige und lege sie aufs Butterbrot, oder ich koche eine Suppe daraus.“
ZOEFOTOGRAFIE
Was war da los, Herr Meinharter?
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Susanne Preusker: „Sieben Stunden im April“. Patmos Verlag, Ostfildern; 160 Seiten; 17,90 Euro.
Gesellschaft
Szene
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Weiche Stelle Wie ein Quallenforscher Frankreichs Touristen verschreckt
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mer mehr Quallen gebe. Er besprach die Idee mit seinem Chef in Paris, der zustimmte, solange er diese Arbeit in seiner Freizeit umsetzen würde. Bernard hatte in Griechenland gelernt, dass die Forschung erst wenig über die Quallen wusste. Er könnte sie zählen, das wäre ein Anfang und ein wissenschaftlicher Ansatz. Er malte vier Quallenarten auf einen DIN-A4-Bogen, die Feuerqualle,
AMET / FEDEPHOTO
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on seinem Schreibtisch aus kann Patrice Bernard den ganzen Tag auf das Meer schauen. An den großen Strand aber geht er, 69 Jahre alt, pensionierter Biologe mit störrischem weißem Haar, schon lange nicht mehr. Er hat seine Gründe. Bernard steht lieber auf dem Balkon und raucht Gitanes-Zigaretten. Er ist kurz vor dem Ziel, jetzt, nach 30 Jahren Arbeit. Sie bündelt sich in Mappen, die sich zu kleinen Türmen auf einem Sofa stapeln. Darin liegen Listen, Zahlenreihen und Bilder. Es geht darin um Quallen. Bernard war lange Zeit ein Außenseiter. Jetzt rufen ihn Wissenschaftler an, denen es um die Gesundheit der Meere geht. Bernard sieht über die Dächer von Nizza. Die Stadt füllt sich jedes Jahr mit Touristen, die im blauen Wasser der Côte d’Azur baden möchten. Aber das Meer gehört nicht mehr den Menschen allein. Die „Pelagia noctiluca“ ist auch noch da. Eine Feuerqualle ist das, sie Bernard arbeitet sich stumm und mit kräftigen Stößen dem Strand entgegen, zwölf Zentimeter Durchmesser, rosabräunlich in der Farbe, gewölbter Schirm, mit vier Armen, acht Fangtentakeln mit Nesselkapseln, die bei Reizung Gift ausschleudern. Sie taucht seit einiger Zeit in Schwärmen auf, sie kann dann den Bestand ganzer Lachsfarmen vernichten. Die Strömung drückt sie zu den Menschen an den Strand. Hinter Bernard steht seine Frau im Wohnzimmer und poliert Gläser. Sie stammt aus Nizza und sagt, sie habe als Kind keine einzige Qualle gesehen. Die ersten Riesenschwärme habe der Wind 1981 an die Atlantikküste getragen, sagt er. Da war Bernard 39 Jahre alt, Angestellter in der Gesundheitsbehörde, er verließ selten seinen Schreibtisch. Manchmal durfte er an den Strand, um die Qualität des Sandes zu prüfen. Manchmal wünschte er sich, ein richtiger Forscher zu sein. 1984 kam ihm eine Idee. Er war auf einer Tagung in Griechenland und hörte, dass es nun auch im Mittelmeer im-
schien, als hätten die Bademeister ihn ernst genommen. Seine Kollegen, auch die richtigen Forscher, sagten, wenn sie Bernard nach Feierabend über seinen selbstgemalten Bögen sitzen sahen: „Ah, Patrice forscht noch!“ Bernard machte weiter, auch von zu Hause aus, Samstag für Samstag. 10 200 Badegäste waren allein im Jahr 1998 von einer Qualle gestochen worden. Er war zufrieden, er hatte im Lauf der ganzen Jahre ausreichend Zahlenreihen erstellt, aber dann, an einem Tag im Juli 1999, lag in seinem Briefkasten ein einfacher brauner Umschlag. Es war eine Drohung. Das Innenministerium hatte von seinen Bögen gehört und untersagte den Bademeistern, die meist Angestellte der Polizei oder Feuerwehr waren, Bernard weiter mit Ergebnissen zu beliefern. Die Befragung der Gäste würde zu viel Zeit kosten. Das war die offizielle Begründung. Nur das unabhängige Monaco machte weiter sowie 14 Bademeister rund um Nizza, die Bernard persönlich kannte. Ihm blieben 15 Strandabschnitte, vor denen es allein im vergangenen Jahr 4317-mal zu Unfällen kam. Er wollte seine Zahlen veröffentlichen, aber das war nicht leicht in einer Gegend, die vom Tourismus lebt. Er brauchte jetzt Hilfe von Leuten, denen es wie ihm um ein gesundes Meer ging, nicht um blühenden Tourismus. An der Küste Namibias, das hatten inzwischen andere erforscht, kamen vor 15 Jahren auf eine Qualle noch 15 Fische. Heute kommen auf einen Fisch 3 Quallen. Wenn der Mensch das Meer leer fischt, fehlt der Qualle der natürliche Feind. Im November 2010 nahm Bernard Kontakt zum Ozeanologischen Institut in Villefranche-sur-Mer auf. Er zeigte dem Direktor seine Zahlen und spürte, dass sich nun tatsächlich jemand für ihn interessierte, zum ersten Mal nach 30 Jahren. Das Institut plant jetzt eine Quallenvorhersage mit Bernards Zahlen. Studenten sollen sie in den Computer eingeben, Quallen filmen, nach Quallen forschen. Bernard soll die Studenten zweimal pro Woche auf das Meer begleiten, als richtiger Forscher. Anfang September muss er erst mal ins Institut. Die Bürgermeister der Küstenorte haben um ein Gespräch gebeten. BARBARA HARDINGHAUS
Aus der „Süddeutschen Zeitung“
die Ohrenqualle, die Blumenkohlqualle und die Spiegeleiqualle. Er schickte die Bögen an die Bademeister von 60 Stränden, von Korsika bis Monaco. Er wollte empirisch arbeiten. Die Bademeister sollten den Badenden die Bögen zeigen, damit diese angeben konnten, welche Qualle sie belästigt hatte. Die Bademeister sollten auch das Datum eintragen, den Strandabschnitt und besondere Vorkommnisse wie Regen oder Wind und die Listen dann zurückschicken. Bernard ist immer noch sehr aufgeregt, wenn er über diese Zeit spricht. Er geht auf dem Balkon auf und ab wie Louis de Funès. Es dauerte damals nicht lange, bis die ersten Bögen zurückkamen. Es D E R
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Gesellschaft
HUNGER
Die Geburt einer Stadt In Dadaab, dem weltweit größten Flüchtlingslager in Kenia, läuft die Maschinerie der Hungerbekämpfung auf vollen Touren. Hunderttausende werden wohl auf Dauer hier bleiben. Ein LagerManager will deshalb aus dem Provisorium einen Ort der Zukunft machen. Von Dialika Krahe
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eute Morgen war es wieder so weit, die somalischen Flüchtlinge wollten mitten in seiner neuen Stadt ein Kind vergraben, Henok Ochalla sah sie mit ihren Hacken die rote Erde hochwirbeln. Ochalla hielt den Wagen an, stapfte hinüber zu den Eltern und sagte, dass dieser Platz kein Friedhof, sondern ein Platz für das Leben sei. Für ein Leben, das sich im Dreck abspielt, in aufgeheizten Zelten, zwischen Dornenbüschen, an denen nichts blüht außer schwarzen Plastiktüten. Aber ein Leben könnte es werden, immerhin. „Ihr müsst euer Kind woanders vergraben.“ Keine Stunde später fährt Ochalla im Geländewagen an der Grabstelle vorbei, er nickt, „die haben es verstanden“, sagt er, die Familie hat die kleine Leiche wieder mitgenommen und zu dem neuen Schild gebracht, auf dem „Graveyard“, Friedhof, steht. Noch immer sterben Kinder im Lager, an den Folgen von Unterernährung, Lungenentzündung, Infektionen, „die graben überall, das kann ich nicht zulassen“, sagt Ochalla, und dann: „Es kommt hier jetzt auf die Ordnung an.“ Ein starker Mann, Äthiopier, 39 Jahre alt, 52
mit einem Lächeln, das weiß ist und groß und beruhigend wirkt in Dadaab, an diesem höllischen, ordnungslosen Ort. Ochalla arbeitet für die Vereinten Nationen. Er ist einer von fünf Camp-Managern im größten Flüchtlingslager der Welt, in Kenia an der somalischen Grenze, eine Art humanitärer Bürgermeister. Er ist auch Bauunternehmer, Logistiker und Einwohnermeldeamt. Er muss sie unterbringen, Tausende Flüchtlinge, die seit Monaten jeden Tag über die Grenze stolpern, die Füße wund, den Bauch leer, den Kopf voller Erwartungen. Er steckt Grundstücke ab für sie, besorgt Wasser, Latrinen, Zelte und Adressen: Ochalla ist dabei, eine neue Stadt zu gründen, „IfoExtension“ soll sie heißen, die Größe von Tübingen wird sie haben, mit Schulen, Marktplätzen und Polizeistationen. Eine richtige Stadt will Ochalla bauen, erträglicher, „für die Zukunft gemacht“. Bis Dezember muss er 90 000 Flüchtlingen ein Zuhause geben. Wenn der Notstand vorbei ist, hofft er, dass Steinhäuser stehen, wo jetzt noch Zelte sind. Eine Staubwolke hüllt Ochallas Fahrzeug ein und auch die dünnen Kinder, die auf das UnoD E R
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Auto starren wie auf ein Raumschiff, das auf ihrem vertrockneten Planeten gelandet ist. Abwechselnd klingeln sein iPhone und sein Nokia-Handy, „das mit den Wassertanks geht mir zu langsam“, sagt er in das eine Telefon, „in Sektion S brauchen wir heute noch vier Zelte“, sagt er in das andere. Er trägt Wildlederschuhe und Safarihut. Drei Zelte seien in der Nacht gestohlen worden, sagt er. Ochalla und seine Kollegen vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, vom World Food Programme und den anderen Hilfsorganisationen, die in Dadaab arbeiten, müssen schnell sein, Antworten finden auf Fragen, die sich Flüchtlinge und Politiker stellen, aber auch die Familie in Mönchengladbach, die 50 Euro vom Haushaltsgeld überwiesen hat: Wie funktioniert die mit 450 000 Menschen größte Hungerstadt der Welt? Wie bekommt man Struktur an einen Ort, an dem das Leben jedes Einzelnen in einem Zustand größtmöglicher Strukturlosigkeit ist – ohne Heimat, Essen, Plan? Kann man diesen Menschen außer ein paar Säcken Mehl im Monat auch eine Zukunft geben?
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Flüchtlingslager Dadaab: „Bitte wieder in die Schlange stellen“
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Afrika ist der Kontinent des mensch- Schleier halten sich noch drei Kinder fest, zu finden für die Tiere. Manchmal liefen lichen Elends, aber auch der Kontinent Sowdo, sieben Jahre alt, Maryan, fünf sie zwei Tage lang, bevor sie etwas aufdes menschlichen Aufbäumens, des im- Jahre alt, und die dreijährige Amina. Seit trieben, irgendwann fanden sie gar nichts mer neuen Versuchs, die 30 Millionen drei Tagen haben die Mädchen nicht ge- mehr. Zuerst starben die Tiere, dann starQuadratkilometer bewohnbarer zu ma- gessen. Sie sprechen nicht, spielen nicht, ben die Menschen. „Ich kann sie gar nicht chen. Da gibt es die Afrikanische Union, lachen nicht, schauen einfach vor sich hin, alle zählen“, sagt Nuriya, Nachbarn und Freunde. Die, die noch konnten, flohen. die „afrikanische Lösungen für afrikani- der Hunger hat sie stumpf gemacht. Nuriya hat glatte Haut wie ein Mäd- Nuriya schloss sich ihnen an. sche Probleme“ sucht. Da gibt es Jeffrey Mehr als zwölf Millionen Menschen Sachs und das Millennium-Projekt der chen und einen nachdenklichen Blick. Sie Uno, da gibt es Bill Gates mit dem Ver- stammt aus Afmadow, einer Kleinstadt sind vom Hunger bedroht am Horn von such, Gen-Pflanzen zu entwickeln gegen in Südsomalia, wo die Milizen der Scha- Afrika. In Südsomalia sind 38 Prozent den Hunger, da gibt es Bob Geldof, Bono, bab mit ihren Sturmgewehren den Alltag der Bevölkerung unterernährt, Tausende sind in diesem Jahr schon verAngelina Jolie und all die andehungert, in den nächsten Woren Prominenten, die Afrika zum chen könnten es mehrere Objekt ihrer Mitmenschlichkeit 100 000 Menschen sein. Niegemacht haben. Und da gibt es mand weiß, wie viele noch diesen Henok Ochalla vom nach Dadaab flüchten werUNHCR, der jeden Morgen verden und wie viele die Hunsucht, in diese neue Welle des gerstadt noch tragen kann. Elends ein wenig Ordnung zu Nuriya schaut auf das Tor, bringen und ein wenig Hoffnung. um sie herum sitzen, hoGeht das, kann man Menschen cken, stehen Hunderte andewie Nuriya Ali Hoffnung geben? re Flüchtlinge, Frauen mit bis Geflüchtet vor der schlimmsten zu sieben Kindern. Alte, die Dürre, gekommen mit nichts ausich auf Stöcken vorwärtszießer ihren vier Töchtern? Es ist hen, unter einer Zeltplane 6.30 Uhr, die Sonne steht noch sammelt sich ein ganzes Dorf. blass am Himmel über der AufSie warten darauf, einnahmestelle für Flüchtlinge im gespeist zu werden in diesen Camp-Abschnitt Ifo, als Nuriya Manager Ochalla: Treffen mit Angela Merkel und Angelina Jolie gigantischen Hilfsapparat, in Ali nach zehn Tagen Fußmarsch durch die somalische Steppe und zwei Ta- kontrollieren. Sie glaubt, 26 Jahre alt zu dem Menschen zur Computerdatei verargen und Nächten des Umherirrens zwi- sein. Ihr Mann starb an einem Schlangen- beitet werden, sortiert nach Gesundheitsschen den Camps mit ihren Töchtern Da- biss, als sie schwanger war. Sie hatte kein zustand und Familiengröße. In dem tondaab erreicht. Nuriya wartet auf Einlass Auto, um ihn ins Krankenhaus zu fahren. nenweise Hilfsgüter und Zelte zirkulieren „Es ist alles, alles weg“, sagt sie, „wir ha- und das Geld freigesetzt wird, das Hilfsin die größte Hungerstadt der Welt. Sie hockt sich auf den Boden vor das ben ja nicht mal mehr eine Plastikkanne.“ organisationen gesammelt haben. 251 Millionen Dollar sind in den letzNuriya Ali ist Nomadin, sie hatten mal Tor, sie drückt auf ihre Brust, daran saugt ein Mädchen, vier Monate alt, es weint 25 Kühe, so erinnert sie sich, und als die ten Wochen für die Dürreopfer am Horn nicht, liegt nur da, Nuriyas Milch kommt Dürre kam, wurden die Wege weiter, die von Afrika gespendet worden, 21 Milschon seit Tagen nicht mehr. An ihrem sie gehen mussten, um ein wenig Wasser lionen davon von der deutschen RegieD E R
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Spielplatz
Zentrum für Familien
Gemeindezentrum
Gesundheitsstation
Wasserspeicher
Schulen
Zeltunterkünfte oder feste Häuser, verteilt auf 18 große Sektionen
Norden
Polizei, Ordnungsdienste
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rung. Es reicht noch lange nicht, wieder bis an die Grenze, die meisten kommen Kinder habe ich sterben sehen“, sagt sie, zu Fuß, hinter sich ein Marsch durch die „wir begruben sie am Wegesrand.“ einmal. Die Sonne scheint jetzt hart auf den In Nuriyas Heimat Somalia kommt bei- knochige somalische Landschaft. Es ist, des zusammen, die Dürre und der Krieg. als würden sie sich in zwei unendlichen Platz, die Wartenden ducken sich unter Seit 20 Jahren ist das so, und jetzt sind Strömen aufeinander zubewegen, die die Planen des UNHCR. Das Flüchtlingsda noch die Spekulanten, die an den Flüchtlinge und die Hilfe. Nur: Welcher werk ist in Dadaab so etwas wie die Cheforganisation, seine Mitarbeiter versuchen Agrarrohstoffbörsen zocken, die Lebens- Strom wird zuerst versiegen? Es ist acht Uhr, ein Helfer mit einem zu koordinieren, was 25 Partnerhilfsorgamittelpreise in die Höhe treiben und Menschen wie Nuriya fort aus ihrer Heimat. Megafon schreitet durch die Flüchtlings- nisationen beisteuern. Damit nicht alle Der Westen gibt, Millionen von Dollar gruppen und versucht sie nach Familien- dasselbe tun, niemand Geld verschwenjedes Jahr. Der Westen nimmt, weil sich größen einzuteilen. Nuriya und ihre Kin- det, auch, damit es gerecht zugeht. Wer die Menschen ihre Nahrung nicht mehr der sind „Familiengröße 5“. Dann werden sich wahllos ins Lager stellt und Reis verteilt, kann einen Aufstand ausleisten können. So ist Dadaab lösen. mit seinen Bewohnern im KleiIn der Aufnahmestelle führt nen das, was Afrika immer wiedie Deutsche Gesellschaft für der im Großen ist. Ein Ort von Internationale ZusammenarMenschen, die von Krieg, Weltbeit die medizinische Untersumarkt, Dürre in ein Leben gechung durch, Care die Lebenstrieben werden, das ohne die mittelverteilung, die internatioglobale Hilfsmaschine nicht benale Migrations Organisation stehen kann. bringt Flüchtlinge von der Jeden Tag lassen Ochallas Grenze her. Auch jetzt wieder Kollegen vom World Food Prohalten sie vor dem Tor, die gramme ihre Lkw auf das Geklapprigen Busse. lände der Lagerhallen rollen. Nuriya sitzt auf der Bank Jeder bepackt mit 28 Tonnen und sieht, wie sich die Türen Hilfsgütern, Maismehl aus den öffnen, wie weitere Flüchtlinge USA, Brei aus der Türkei. Gehinausklettern, direkt an der nug Essen für die nächsten drei Monate auf Lager zu haben, Flüchtling Ali, Kinder: 3,36 Kilo Mehl, 0,96 Kilo Linsen, 0,48 Liter Öl Grenze eingesammelt. Kinder werden die Stufen heruntergedas ist das Ziel der Logistiker. Im Moment allerdings, sagen sie, reicht sie durch das Tor gelassen. Nuriyas Drei- reicht, ein Junge ohne Unterhose, ohne Schuhe, Frauen mit Stoffbündeln. jährige weint. Niemand sagt ein Wort. das Essen nur für zwei Monate. Henok Ochalla, der LagerbürgermeisBevor Nuriya zur Lagerbewohnerin 3,36 Kilo Weizenmehl pro Person, 3,36 Kilo Maismehl, 0,96 Kilo Linsen, 0,48 Li- werden kann, bevor sie und ihre Mäd- ter, steht am Haupttor, keine zehn Meter ter Pflanzenöl, 0,72 Kilo Brei, 80 Gramm chen etwas zu essen bekommen, muss sie von Nuriya entfernt, und sieht das GleiSalz, alle 15 Tage, das ist es, was die La- verschiedene Stationen durchlaufen. Bei che, mit anderen Augen. Er ist mit einer gerbewohner erwarten können, nicht viel, einer taucht sie die Finger zur Markierung Delegation aus Japan hier, er zeigt das in schwarze Farbe. Bei einer anderen Lager, die Aufnahmestelle und die neue aber genug, um nicht zu sterben. Die Hilfe kommt mit Flugzeugen und fragt ein Mitarbeiter, ob sie Vergewalti- Flüchtlingsstadt. Die Japaner fotografieSchiffen aus allen Teilen der Welt. Die gungen erlebt hat oder Angriffe wilder ren. Ochalla sagt: „Wir haben ein ProFlüchtlinge kommen, mit Sammeltaxis Tiere. Nuriya schüttelt den Kopf: „Vier blem. Wir dachten, die Zahlen gehen run54
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Markt Friedhof Sitz des Uno-Flüchtlingswerks und anderer Hilfsorganisationen
Zentrale Nahrungsmittel-Ausgabe
Zentrum für Folteropfer
Verteilung von Feuerholz
ÄT HI OP I E N
SOMALIA
500 m
Flüchtlingslager
Karte folgt
KENIA
Stadt der Heimatlosen
Dadaab Nairobi
Das geplante Flüchtlingscamp „IFO-Extension“ nördlich von Dadaab. Es soll insgesamt 90 000 Flüchtlinge aufnehmen. ter, aber in den letzten Tagen kamen immer mehr.“ 1500 Menschen erwarten die Helfer an diesem Tag. Für Nuriya bedeutet das, dass in ihrer Heimat Somalia vielleicht bald kaum noch Somalier mehr leben werden, dass sie vielleicht nie mehr zurückkann. Für Ochalla bedeutet es, dass Bewohner für seine Flüchtlingsstadt kommen. Es bedeutet, dass er schneller arbeiten muss. Wenn es ihm gelingt, an einem Tag 1000 Menschen in den neuen Zelten unterzubringen, war es ein guter Tag; zur selben Zeit kommen aber 1500 Neue. Ochalla rennt und rennt, und überall, wo er vorbeikommt, strecken Flüchtlinge ihre Hände aus und fragen: „Wo ist das Wasser? Wo ist mein Zelt?“ Er sammelt die Japaner ein und steigt in das UnoAuto. Nuriya schaut und wartet weiter. Gegen zehn Uhr kippt ihre dreijährige Tochter vor Erschöpfung rückwärts von der Bank. Dumpf prallt ihr Kopf auf den Boden, das Kind schreit und hört nicht auf, die Mutter will es beruhigen, schnell. Sie hat Angst, dass ihre Familie aussortiert wird, wenn sie den Aufpassern auffällt, sagt sie, Angst, dass sie kein Essen für ihre Kinder kriegt. Dann, endlich, nach fast fünf Stunden Wartezeit, ohne Wasser und Nahrung, lassen sie Nuriya Ali in das Aufnahmebüro. Ein Helfer nimmt ihren Fingerabdruck. Irgendwann kommt jemand mit fünf blauen Plastikarmbändern. Eines legt er Nuriya um das Handgelenk, die anderen ihren Kindern, die Nummern 519 846 bis 519 850 sind mit schwarzer Farbe aufgedruckt. Die Bänder sind wie ein Ausweis, mit dem aus einem somalischen Flüchtling ein somalischer Lagerbewohner wird. Nuriya verlässt die Aufnahmestelle mit
Mogadischu
500 km
fünf 500-Gramm-Packungen Hochenergiekeksen, 11 450 Kilokalorien, die Kinder schieben sich die krümelige Masse in den Mund und kauen mit dem Ernst alter Menschen. Sie sind geimpft worden, Ärzte haben gemessen, ob sie stark unterernährt sind oder nur leicht. Nuriya hat ein Kochgeschirr bekommen, ein paar Bastmatten und eine Zeltplane. Dazu eine Lebensmittelration für 21 Tage, Mehl, Öl, Salz. So beginnt ein neues Leben. Wenn es glücklich verläuft, geht es vielleicht mit einem
Sie haben sich in die Obhut der Hilfsmaschine begeben und die Kontrolle über ihr Leben verloren. Zelt in Henok Ochallas Stadt weiter und später mit einem Haus aus Stein. Erst mal wird sie draußen schlafen. Die Vergabestelle für Zelte besteht aus einer Plane, einem Generator, zwei Mitarbeitern und drei Laptops, das ist der Ort, an dem die Zukunftsstadt ihren Anfang nimmt. Wie jeden Morgen sitzen sie im Sand vor dem Feldbüro des Lagerbürgermeisters Henok Ochalla, die alten Männer, die keine Angehörigen mehr haben, die Frauen in ihren bunten Schleiern, und halten ihm ihre Papiere hin, rufen die Anzahl ihrer Kinder. Ochalla hebt seine Hände in die Höhe, „suk, suk, suk“, sagt er, das bedeutet „warte“, eines der wenigen Wörter, das er auf Somali beherrscht. Flüchtlinge müssen viel warten. Sie haben sich in die Obhut der Hilfsmaschine begeben und die Kontrolle über ihr Leben verloren. Ankunft in Dadaab bedeutet auch Abschied von der Freiheit. Dadaab ist die mittlerweile drittgrößte Stadt Kenias, nur leben hier keine KeniaD E R
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ner, sondern 450 000 Somalier, in einem Lager, das mal für 90 000 Menschen errichtet wurde. Flüchtlinge wie Nuriya dürfen das Lager nicht verlassen, weil sie Flüchtlinge bleiben und nicht zu illegalen Kenianern werden sollen. Sie dürfen auch nicht arbeiten, die kenianische Regierung verbietet das. Wenn Henok Ochalla sehen will, wie seine Stadt einmal aussehen könnte, fährt er in einen anderen Camp-Abschnitt, nach Ifo 2 zu den ersten Steinhäusern, die für Flüchtlinge gebaut worden sind. Dort stehen 116 Testhäuser, rotbraune Ziegel, Wellblech, alle leer, eine aufgeräumte Geisterstadt. Dort gibt es auch Schulen, eine Polizeistation, Wasserversorgung. Das Projekt ist von der kenianischen Regierung gestoppt worden, aus Angst, die Flüchtlinge könnten sich dauerhaft ansiedeln. Dabei ist das längst die Wirklichkeit. Ochalla tut, was normale Flüchtlingspolitik vermeidet: Er versucht, den Menschen eine feste Bleibe zu geben, ein Zuhause. Flüchtlingspolitik macht es den Flüchtenden so unbequem wie möglich, damit sie schnell wieder gehen. Aber „wir haben das von den anderen Camps gelernt“, sagt Ochalla, „da dachten wir auch, das sei nur für 2 Jahre, und auf einmal waren es 20“. Er sagt: „Ich glaube nicht, dass diese Menschen wieder zurück nach Somalia können.“ Mitte Juli hat der kenianische Premier den Ausbau der neuen Stadt wieder freigegeben, wegen der Not und Überfüllung, wahrscheinlich auch wegen des internationalen Drucks. Die Stadt könnte der Anfang sein einer Flüchtlingspolitik, die versteht, dass hungernde Menschen nicht nur Nahrung brauchen, sondern auch Zukunft. Eine Unterkunft, vielleicht ein 55
JEROME DELAY / AP
Moscheebau in Dadaab: Die Milliarden lieber in die Rettung von Banken gepumpt
Stück Land und das Recht, für ihren Le- Hunger, Dürre, Krieg. Er hat Angela Merbensunterhalt zu arbeiten. Auch um zu kel getroffen, 2007 in Liberia, sie sollte verhindern, dass die Hilfsmaschinerie ir- ein Flüchtlingsprojekt besuchen. Er habe einen Anzug getragen, erzählt Ochalla, gendwann zusammenbricht. „Salam alaikum“, sagt Ochalla nun zu „sie ist eine Gute“, sagt er, „eine der Iron einer Gruppe Somalier, die sich vor sei- Ladys der Welt“. Auch Angelina Jolie nem Schreibtisch sammelt, „könntet ihr habe er getroffen, zweimal, „sehr leicht euch bitte wieder in die Schlange stellen?“ im Umgang“, sagt er. Und gerade erst traf Er tippt eine Nummer in die Excel-Tabel- er den „German Minister Niebel“. le auf einem Laptop ein. Die Familie sitzt Ochalla hat eine Karte von der Zukunftsvor ihm. „Name: Kenda; Familiengröße: stadt. Darauf sind Straßennamen einge4; Herkunft: Nordost-Somalia“. So, sagt er, könne er jeden der 450 000 Bewohner Bald will Bill Gates die Super-Süßvon Dadaab finden. Auf einen weißen kartoffel entwickelt und Henok Zettel schreibt Ochallas Mitarbeiter eine Ochalla eine Schule gebaut haben. Adresse für die Familie auf: Sektion S, Block 51, community 11. Das ist das Ticket für ihren Neuanfang. zeichnet, die „Hope Road“ und „Unity 30 000 Menschen haben Henok Ochalla Road“ und „Friends Road“ heißen. Jede und seine Kollegen seit Ende Juli einen Familie bekommt auf seinem Plan ein solchen Zettel in die Hand gedrückt. Da- zehn mal zwölf Meter großes Grundstück. nach ziehen sie los, raffen ihre Habselig- Es gibt 18 Sektionen, darauf neun Blocks keiten zusammen und beziehen ihr Stück mit je 192 Grundstücken, dazu Moscheen, Land. Auch wenn dann noch nicht alles kinderfreundliche Zonen, Gesundheitsfertig ist. „Im Moment gibt es eine Latrine stationen. „Hier“, sagt Ochalla und zeigt für 25 Familien“, sagt Ochalla, „in sechs auf die rosagefärbten Rechtecke, „acht Monaten will ich eine für jede Familie ha- Grundschulen und eine weiterführende ben.“ Im Moment gibt es auch erst 10 Schule. Und dann fängt das Leben an.“ Wassertanks. „In ein paar Monaten werAls German Minister Niebel da war, den es 68 Tanks sein“, sagt er. wurde ihm erst das Elend gezeigt und Ochalla war mal Spieler der äthiopi- dann die neue Stadt. Ochalla braucht schen Fußballnationalmannschaft, Rü- Geld, er glaubt, dass er so das meiste beckennummer 5, Defensive. Er studierte kommt. „Wir zeigen immer beides“, sagt Landwirtschaft und arbeitete für einen er, „erst das Elend, dann die Erfolge.“ Baumwollproduzenten, bis er vor 16 JahFür den Bau seiner Flüchtlingsstadt hat ren vom UNHCR abgeworben wurde. Ochalla ein Budget von 24 Millionen Seitdem verläuft sein Leben zwischen Dollar, wovon er 16 Millionen ausgegeden Flüchtlingslagern Afrikas. Nach acht- ben hat. Für das gesamte Horn von Afrieinhalb Jahren in äthiopischen Lagern ka sind nach Uno-Angaben 2,5 Milliarden ging er nach Sierra Leone, dann nach Li- Dollar nötig, um die Menschen zu retten. beria, wurde ein Reisender zwischen Bisher ist nicht einmal die Hälfte des Gel56
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des geflossen. Kritiker behaupten, es fehle vor allem, weil die reichen Geberländer ihre Milliarden lieber in die Rettung von Banken pumpen und für die Hungerhilfe nichts mehr übrig bleibe. Kritiker sagen auch, dass die afrikanischen Staaten selbst zu wenig tun. Vorletzte Woche gab es in Addis Abeba eine Geberkonferenz, die die Afrikanische Union nutzen wollte, um das Gegenteil zu beweisen: 54 Staaten wollen nun 46 Millionen Dollar zahlen. Algerien und Ägypten geben am meisten. Das ölreiche Nigeria spendet nur eine, Südafrika nur 1,3 Millionen Dollar. Es ist ein Anfang von Selbsthilfe, verspätet und spärlich. Henok Ochalla wird noch viele Beispiele präsentieren müssen, den Prominenten, Journalisten, Ministern, erst Elend, dann Erfolge. Mit Dirk Niebel, dem deutschen Entwicklungsminister, sprach er über die tausend Menschen, die er und seine Mitarbeiter an einem einzigen Tag umsiedeln. Sie liefen durch die unbefestigten Straßen von IfoExtension, durch die Zukunftsstadt der Flüchtlinge. Ochalla erklärte dem Minister, wie er dieses Stück Afrika mit internationaler Hilfe ausbauen will zu einem funktionierenden Stück Afrika. In ein paar Jahren will er eine Stadt, in der das Wasser aus Brunnen fließt, in der aus Zelten Steinhäuser geworden sind, aus dem Platz ein Markt, aus den Kindern Schüler und aus dem Warten ein Leben. Bill Gates will eine Super-Süßkartoffel entwickelt haben, die Millionen satt macht. Bob Geldof will sich mit seinem Fonds an afrikanischen Firmen beteiligen, um die Wirtschaft voranzubringen. Jeffrey Sachs will mit dem Uno-Programm den Anteil der Menschen, die Hunger leiden, halbieren. Nuriya Ali will erst mal ein Zelt. Sie steht auf einem Platz voller Kinder, Abwasserpfützen und Müll. „Die erste Nacht mussten wir draußen schlafen“, sagt sie, „es war kalt, die Kinder husteten.“ Aber es sei auch eine glückliche Nacht gewesen. Eine Freundin aus ihrem Dorf, die seit fünf Tagen im Lager ist, hat Nuriya gefunden und mit zu sich in die Outskirts genommen, in das Ghetto des Flüchtlingslagers. Dort hat Nuriya ihre Hochenergiekekse, das Öl und Geschirr im Lumpenzelt einer alten Frau verstaut. „Ich habe gekocht“, sagt sie, „Tee und Brotfladen.“ Das erste Mal seit Wochen habe sie ihre Kinder satt gesehen. Und dann, etwas später, hat sie Wasser geholt und es in eine flache Schüssel gegossen. Sie hat ihre Kinder hineingestellt, eines nach dem anderen. Und hat sie gebadet. Video: Der Alltag im Flüchtlingslager Dadaab (2:26) Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.
Gesellschaft
BERLIN
Gampys Gruß Ortstermin: Im Berliner Abgeordnetenhaus wird ein Porträt des ehemaligen US-Präsidenten und Ehrenbürgers George H. W. Bush enthüllt.
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THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Er hält eine wohltuend amerikanische m Jahr 1999 wurde Präsident George „widmet sich“, wie es in der Pressemappe H. W. Bush Ehrenbürger von Berlin, heißt, „unternehmerischen Projekten im Rede. Er zeichnet in zehn Minuten das vergangene Woche wurde sein Porträt Bereich Internet-Start-ups“. Er ist für drei Bild eines Mannes, der ein wunderbarer in die Galerie des Abgeordnetenhauses Tage in die Stadt gekommen und fliegt Großvater ist, ein mutiger Pilot im Zweigehängt. Dazwischen liegen zwölf Jahre, nach der Enthüllung gleich wieder zurück ten Weltkrieg war und dann ein weitsichtiger Weltpolitiker wurde. Er nennt den in denen man den alten Bush über den nach Texas. Pierce Bush kommt in Begleitung von alten Bush „Gampy“ und verliest einen jungen fast vergessen hatte. Es ist viel passiert, nicht nur in der Welt, auch in zwei Frauen in extrem kurzen Röcken Brief, in dem der ausrichtet, wie sehr ihm Berlin. Die neuen politischen Größen der und mit extrem tiefen Ausschnitten in Berlin am Herzen liege. Am Ende presst Stadt sind im Wahlkampf gefangen, also den Festsaal wie ein Rockstar. Und als er unter Tränen die Wörter „Freiheit“, kommen die alten zur feierlichen Enthül- sei das nicht alles schon verwirrend genug „Frieden“ und „Demokratie“ heraus. So lung des Präsidentenporträts. Eberhard – der alte und der neue Bush, die alte und viel Gefühl bekommt man in deutschen die neue Berliner Politik, die alte und die Politikhäusern selten geboten. Diepgen und Walter Momper. Sie enthüllen das Bild. Bush sieht gut Sozialdemokrat Momper und Christ- neue Zeit –, sieht Pierce auch genauso demokrat Diepgen haben sich in den Acht- aus wie sein Onkel George W. Bush, der aus, lässig, er erinnert an Gary Cooper, die Berliner Abiturientin zigern und Neunzigern episingt „Amazing Grace“, sche Schlachten um die Pierce Bush schüttelt HänKrone der Berliner Politik de, dann eilt er, begleitet geliefert. Erst war Diepgen von den beiden Damen und Regierender Bürgermeister, Walter Momper, zum Auto, dann Momper, dann wieder das ihn zum Flughafen brinDiepgen. Sie waren so was gen wird. wie Ali und Frazier der BerEberhard Diepgen bleibt liner Lokalpolitik. Die beian einem Tischchen im Foyden Männer stehen im Fester zurück, wo es jetzt Wein saal des Preußischen Landgibt, Wasser und Häppchen. tags, zwischen ihnen ist viel Er erzählt, wie ihm George Platz, sie scheinen sich, nach Bush einmal, Ende der achtall den Jahren, immer noch ziger Jahre, an einer Landvoneinander abzustoßen. karte detailliert die SituaDiepgen war länger Chef tion in Manila erklärt habe. in Berlin, aber Momper war Das stehe im Übrigen auch der Mann, der mit dem roin seinem Buch. Er erzählt, ten Schal unterm Brandendass Bush ihn damals leiburger Tor stand, als es in der bei der OlympiabewerBerlin um die Weltgeschichbung Berlins nicht unterte ging. An Tagen wie heu- Enkel Bush, Präsidentengemälde: „Wie geht’s dem Großvater?“ stützt habe. Es ging ja, die te, an denen die alte noch einmal in die neue Zeit zurückzukehren letzte Präsident. Das gleiche Grinsen, die meisten hätten das nicht verstanden, in hochgezogenen Schultern, der Cowboy- Wirklichkeit um die Frage, ob China scheint, spürt man das wieder. schon bereit für so ein Ereignis sei. MaWieso hat es eigentlich zwölf Jahre ge- Gang, erstaunlich. Er steht in der Mitte des Saals und nila. Peking. Die Achtziger. Diepgen lädauert, bis das Bild enthüllt wurde? Walter Momper sagt, dass sie wohl schüttelt Hände. Von hinten pirscht sich chelt. Er hängt noch ein bisschen in der Schwierigkeiten hatten, ein Gemälde zu Diepgen ran. „Erst einmal“, sagt Diepgen, alten Zeit fest und in der weiten Welt, aber irgendwann kommt er dann doch besorgen. Irgendwann hätten sie dann „wie geht’s dem Großvater?“ Pierce Bush sagt: „Gut, gut. Er wäre immer wieder in Berlin an. eins in der Bush-Präsidentenbibliothek Er sagt, leicht amüsiert, dass er sich in Texas aufgetrieben, das passte. Und wirklich gern nach Berlin gekommen. Seidann brauchten sie ja auch noch jeman- ne letzte große Reise hat er ja nicht zu- schon gewundert habe, wie sein alter den, der es enthüllt. Der alte Bush sei fällig zum 20. Jubiläum des Mauerfalls Widersacher Momper vorhin plötzlich zu so einem großen Fan der amerikanischen gesundheitlich nicht mehr in der Lage ausgerechnet nach Berlin gemacht.“ Diepgen sagt: „Damals wirkte er sehr Politik geworden sei. Ausgerechnet Momgewesen, und die anderen, die mit ihm Politik machten, seien ja auch nicht mehr klar. Ganz anders als Gorbatschow. Der per. Die Luft verlässt die welthistorische Figur Diepgen langsam. die Jüngsten. Andererseits konnten sie hat ja nur Unsinn erzählt.“ Fünf Minuten später, als Walter MomDiepgen redet von früher, Momper nicht ewig warten. Es hätte ja nicht gut ausgesehen, das Bild nach dem Tod des kommt dazu und sagt: „Schluss jetzt, Män- per vom Parkplatz zurückkommt, ist Präsidenten zu enthüllen, politisch nicht, ner. Der Junge muss seinen Flug kriegen.“ Diepgen bereits verschwunden. Es ist nur Eine Berliner Abiturientin singt „Hero“ noch das Bild des Präsidenten da, der ihm auch sonst nicht. Nun macht es Pierce Bush, ein Enkel- von Mariah Carey, dann tritt Enkelsohn einst die Lage in Manila erklärte. sohn von George. Er ist 24 Jahre alt und Pierce ans Rednerpult. ALEXANDER OSANG D E R
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Trends S D K - A F FÄ R E
Erste Anklage napp ein Jahr nach der Razzia bei über zwei Dutzend Finanzjournalisten und Ex-Funktionären der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) wegen des Verdachts illegaler Aktienkursmanipulationen steht nun der erste Strafprozess bevor. Die Staatsanwaltschaft hat gegen 4 der rund 30 Beschuldigten Anklage erhoben, darunter gegen die Ex-SdK-Sprecher Markus Straub und Christoph Öfele. Straub werfen die Ermittler Marktmanipulation und Insider-Handel in insgesamt 196 Fällen vor, Öfele soll 92-mal Insider-Wissen zum Aktienkauf genutzt haben. Ihrem früheren Kollegen Tobias Bosler halten die Ermittler darüber hinaus auch Betrug vor. Vergleichsweise glimpflich kommt in der 342-seitigen Anklageschrift der frühere Börsenbrief-Herausgeber Stefan Fiebach davon. Er soll in 165 Fällen Aktienkurse gezielt gepusht haben, wird von den Fahndern allerdings eher als Handlanger eingestuft. Anders als Bosler und Straub war er bereits Ende Januar aus der Haft entlassen worden. Die Anwälte der Beschuldigten wollten sich zu Details nicht äußern, bereiten aber nach eigenen Aussagen umfangreiche Stellungnahmen vor.
„Ich halte keine Karotte vorweg, damit die Mannschaft noch schneller läuft.“ Siemens-Chef Peter Löscher über seinen Führungsstil
WEST LB
Grünes Licht aus Brüssel ie EU-Kommission hat keine Einwände gegen die geplante Übernahme von Teilen der WestLB durch die Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba). Damit dürfte einer engen Anbindung der nordrhein-westfälischen Sparkassen an die Helaba auch aus Brüsse58
Urlauber an der Ostsee V E R B RAUC H E R
Regensommer weckt Lust auf Schokolade D
ZITAT
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JENS BÜTTNER / DPA
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er kühle und nasse Sommer hat zu starken Einbußen bei typischen Saisonprodukten im Lebensmittelhandel geführt: Weil vor allem der Juli im Vergleich zum Vorjahr deutlich kälter war, fiel die Grillsaison 2011 in Deutschland buchstäblich ins Wasser. Im Juli wurden laut der Marktforschungsfirma GfK 22 Prozent weniger Grillwürstchen und Steaks verkauft als im gleichen Monat des Vorjahres. Wer nicht im Freien brutzelt, trinkt zumeist auch weniger – deshalb ging auch der Bierkonsum um fast elf Prozent zurück. Bei Biermischgetränken betrugen die Einbu-
ler Sicht nichts im Wege stehen. Die Kommission hat der Bundesregierung bereits informell ihre Zustimmung signalisiert. Das Bundesfinanzministerium hatte die Brüsseler Kommission schon frühzeitig über die Verhandlungen unterrichtet und über deren aktuellen Stand stets auf dem Laufenden gehalten. Nach dem Beschluss zur Aufspaltung der maroden WestLB war zunächst die Gründung einer eigenständigen „Verbundbank“ angepeilt worden. Stattdessen sollen die nordD E R
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ßen im Juli sogar über 35 Prozent. Selbst der Absatz von alkoholfreien Getränken und Wasser verringerte sich um ein Viertel. Beim Verkauf von Eiscreme verzeichneten die Marktforscher ebenfalls einen Rückgang von einem Drittel. Über die kalten Regentage trösteten sich die Verbraucher offenbar mit anderen Süßwaren hinweg: So schnellte der Verkauf von Schokolade um 21,6 Prozent nach oben, der von Pralinen um 22,2 Prozent. Selbst Kaffee stand häufiger auf dem Einkaufszettel – und das, obwohl er in den vergangenen Monaten deutlich teurer wurde.
rhein-westfälischen Sparkassen mit ihrem Dienstleistungsgeschäft nun bei der Helaba andocken. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wertet die Übernahme als entscheidenden Schritt bei der Konsolidierung des deutschen Bankwesens. Geld muss die Helaba für die Verbundbank nicht bezahlen. Von den NRW-Sparkassen bekommt sie sogar eine Kapitalverstärkung von einigen hundert Millionen Euro. Im Gegenzug erhalten die Sparkassen Anteile an der Helaba.
Wirtschaft F E R R O S TA A L
Araber pokern weiter
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KLAUS ROSE / DAS FOTOARCHIV
m Streit zwischen den FerrostaalAktionären MAN und IPIC spielt der Finanzinvestor aus Abu Dhabi offenbar auf Zeit. Der arabische Fonds besitzt bereits 70 Prozent an dem Essener Industriedienstleister, doch die Gespräche zur Übernahme der restlichen Anteile stocken seit Monaten. Gesprächsangebote an IPIC seien unbeantwortet geblieben, heißt es bei MAN. Streitpunkt ist die Frage, wer die Kosten der Schmiergeldaffäre bei Ferrostaal übernimmt. Insider vermuten, dass IPIC abwarten will, bis MAN selbst von VW geschluckt wird, was bis Ende des Jahres passiert sein könnte. Offenbar hofft man in Abu Dhabi dann auf neue, unbelastete Verhandlungen mit den Wolfsburgern – und ein noch großzügigeres Angebot zur
Beilegung des Zwists. Dabei ist MAN den Arabern weit entgegengekommen. Um die Ferrostaal-Restbeteiligung endlich loszuwerden, waren die Münchner bereit, auf den noch ausstehenden Kaufpreis in Höhe von rund 130 Millionen Euro zu verzichten. Darüber hinaus wollten sie auch die Unternehmensstrafe im Rahmen der Korruptionsaffäre von rund 180 Millionen Euro begleichen sowie Anwaltskosten für die internen Ermittlungen von nochmals rund 80 Millionen Euro. Die Araber hatten darüber hinaus jedoch zusätzlich Millionen für künftige Geschäftsrisiken gefordert. Bei MAN gibt es inzwischen Stimmen, die sich eine komplette Rückabwicklung des Ferrostaal-Verkaufs vorstellen können. „Das würde uns 450 Millionen kosten – und wäre vermutlich billiger als das, was IPIC fordert“, so ein MAN-Manager. Bei IPIC war für eine Stellungnahme niemand zu erreichen.
Wartende Patienten in Arztpraxis GESUNDHEIT
Bahr setzt sich für Kassenpatienten ein
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iedergelassene Ärzte müssen künftig mit Gehaltseinbußen rechnen, wenn Kassenpatienten zu lange auf einen Termin warten müssen. Das geht aus dem neuesten Entwurf für ein Gesetz zur ärztlichen Versorgung hervor. „Die Vereinbarung von Terminen mit Fachärzten stößt in der Praxis vermehrt auf Schwierigkeiten“, heißt es in der Vorlage aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP). „Vermeidbare Wartezeiten“ entstünden vor allem dann, wenn Hausärzte ihre Patienten an Fachärzte überwiesen. „Im Einzelfall als Ultima D E R
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Ratio“ müsse den Betroffenen deshalb künftig „die ambulante Behandlung im Krankenhaus ermöglicht werden“, schreiben Bahrs Beamte. Die Kosten hierfür will der Minister den zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen in Rechnung stellen, genauso wie eine Pauschale für den „Vermittlungsaufwand“. Das bedeutet, dass die Selbstverwaltung der Ärzte am Ende weniger Geld für die Medizinerhonorare übrig hat. In den vergangenen Monaten hatten die Krankenkassen immer wieder beklagt, dass viele Fachärzte Privatpatienten bevorzugten. 3 6 / 2 0 1 1
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Hinweisschild zum Industriegebiet bei Bitterfeld-Wolfen JAN WOITAS / DPA
ENERGIE
Finsternis im Sonnental Millionenverluste, Jobabbau, Pleiteangst: Die Solarindustrie stürzt ab, auch die Windkraftbranche ist angeschlagen. Die Konkurrenz aus Fernost macht deutschen Produzenten grüner Energien das Leben schwer – trotz aller Subventionen. Oder gerade wegen der Milliardenhilfen?
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etra Wust kennt sich aus mit Aufstiegen und Abstürzen. Die Oberbürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen erlebte mit, wie in dieser Region die Chemieindustrie der DDR abgewickelt wurde. Gut 50 000 Menschen verloren damals ihren Job. Und sie begleitete den steilen Aufstieg der Gegend zum „Solar Valley“, als Finanzdezernentin förderte sie 1999 die Ansiedlung von Q-Cells. Jeden Stein habe man versucht, „denen aus dem Weg zu pusten“, sagt Wust. Es war ein Einsatz, der sich lohnte. Das Geschäft mit Solarmodulen florierte, das Unternehmen, das mit 19 Mitarbeitern begonnen hatte, beschäftigte bald über tausend Menschen. Beim Börsengang wurde ein Q-Cells-Betriebsrat gar zum Millionär. Für viele Menschen und für die Region schien sich ein Traum zu erfüllen. In der Gegend, in der jahrzehntelang Braunkohlekraftwerke und Chemieanlagen die Luft verpestet hatten, siedelte sich ein Photovoltaik-Unternehmen nach dem anderen an. Die saubere Zukunftsbranche sorgte für Arbeit und Einkommen und sollte 60
einmal bis zu 10 000 Mitarbeiter beschäftigen. Doch jetzt kämpft Q-Cells ums Überleben. Im zweiten Quartal machte das Unternehmen mehr Verlust als Umsatz. Man muss kein Betriebswirt sein, um zu ahnen, in welch verzweifelter Lage sich der einst größte Solaranlagenhersteller der Welt befindet. Das Solar Valley droht sich in ein Jammertal zu verwandeln. Petra Wust fürchtet, dass wieder ein historischer Einschnitt bevorsteht. Diesmal geht es um das Schicksal von 3000 Beschäftigten. Die Perspektive hat sich für die gesamte Solarindustrie verdüstert. Unternehmen, die noch vor kurzem von Politik und Börse gefeiert wurden, erleben nun einen heftigen Niedergang. Sie schreiben Millionenverluste und bauen Stellen ab, die Aktienkurse sind abgestürzt. Bei Phoenix Solar, einem Systemanbieter aus dem bayerischen Sulzemoos, brach der Umsatz zwischen März und Juli im Vergleich zum Vorjahresquartal um mehr als 60 Prozent ein. Das ManageD E R
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ment von Solon in Berlin sorgt sich um den Fortbestand des Unternehmens; seine Zukunft hängt daran, dass die Banken einen Kredit verlängern, der zum Jahresende ausläuft. In den USA ist schon einigen namhaften Solarfirmen das Geld ausgegangen, in der vorigen Woche erst musste Solyndra Gläubigerschutz beantragen, 1100 Mitarbeiter wurden arbeitslos. Zugleich geraten in Deutschland einige Firmen ins Zwielicht: Der ehemalige Aufsichtsratschef von Conergy, Dieter Ammer, muss sich wegen Bilanzfälschung und Insider-Handels vor dem Hamburger Landgericht verantworten; er bestreitet die Vorwürfe. Und bei Solar Millennium geht die Staatsanwaltschaft NürnbergFürth der Frage nach, ob es beim Engagement von Top-Manager Utz Claassen mit rechten Dingen zugegangen ist (siehe Kasten Seite 63). Da ist es kaum tröstlich für die einstigen Sonnenkönige, dass einigen ihrer Kollegen aus der Windkraft ebenfalls bange zumute ist. Nordex, ein Pionier dieser In-
Wirtschaft dustrie, stürzte im ersten Halbjahr in die 16 Gigawatt an Modulen, die weltweit Chef von Solarworld. Und die Preise falroten Zahlen, muss über hundert Arbeits- verbaut wurden, knapp die Hälfte auf len ins Bodenlose. Noch vor gut einem halben Jahr kosteplätze streichen und die Kosten um 50 Deutschland. Die Modulproduzenten konnten sich te es rund 28 000 Euro, ein hundert QuaMillionen Euro senken. Insgesamt sind bei den deutschen Windanlagenbauern auf einen steten Auftragsfluss verlassen. dratmeter großes Dach mit Markenmo2010 erstmals Umsatz und Zahl der Ar- Das Problem: Er hat sie träge gemacht. dulen zu bestücken, sagt Asbeck. Heute Heute sind deutsche Hersteller bei wei- liege der Preis bei 22 000 Euro. beitsplätze gesunken. Viele deutsche Hersteller können kaum Die tristen Nachrichten aus der Solar- tem nicht so innovativ, wie ihr dynamiund Windkraftindustrie überraschen. sches Image vermuten lässt. Nur zwei bis mithalten, seit chinesische Anbieter die Nach der Katastrophe von Fukushima drei Prozent ihres Umsatzes investiert die Welt mit Paneelen überschwemmen. Sie und dem Beschluss der Bundesregierung Branche in Forschung und Entwicklung, haben vor allem Deutschland ins Visier zum Atomausstieg schien es ausgemacht, weit weniger als etwa der Maschinenbau. genommen, es ist der wichtigste Markt Kein Wunder, dass die Unternehmen für Firmen wie Suntech oder Yingli. dass die Hersteller von Anlagen zur ErSuntech tritt als Sponsor für den TSV zeugung regenerativer Energie zu den Ge- mit ihren Produkten nicht mehr richtig ankommen. Die Lager sind voll mit Ware. 1899 Hoffenheim in der Fußball-Bundeswinnern der Energiewende zählen. „Deutschland ist Weltmarktführer im „Acht Gigawatt Solarzellen liegen welt- liga auf, Yingli lässt sein Logo in der AlBereich der erneuerbaren Energien“, weit auf Halde“, schätzt Frank Asbeck, lianz-Arena bei Bayern München leuchten. Ergebnis der Marketingoffenfrohlockte unlängst Bundesumsive: Auf den Dächern zwischen weltminister Norbert Röttgen, Flensburg und Füssen glitzern im„wenn wir diese Stellung ausbaumer öfter Module „made in Chien, dient das der Wettbewerbs- Anteil Chinas am weltweiten Photovoltaikna“. Sie sind, so versichert selbst fähigkeit unserer Industrie und Umsatz, in Prozent die Konkurrenz, mittlerweile keiunseres Landes.“ Und Kanzlerin nesfalls schlechter als Produkte Angela Merkel versprach sich 7 45 aus deutscher Fertigung, aber in „Chancen für Exporte, Entwickjedem Fall billiger, im Schnitt um lungen, Technologien und Arein Drittel. beitsplätze“. 2004 2010 In der Zentrale von Suntech in Doch ausgerechnet jetzt schwäWuxi bei Shanghai produzieren cheln die grünen Zukunftsbranweißvermummte Arbeiter in chen. In weite Ferne ist das Ziel staubfreien Räumen die Solarzelgerückt, eine neue Leitindustrie len. Schon in der Lobby lächelt mit globalem Anspruch aufzu- Umsatz Shi Zhengrong, der Firmengrünbauen. Auf den Weltmärkten weltweit: 1,7 Mrd. $ 36,3 Mrd. $ der, von riesigen Monitoren den spielen die deutschen Vertreter Besuchern entgegen. Shi gehört nur noch eine untergeordnete Anteil Deutschlands, in Prozent zu den „Meeresschildkröten“, so Rolle, sie verlieren stetig Marktnennen sie hier die Aufsteiger, anteile – trotz aller Subventionen. die aus dem Ausland nach China Oder vielleicht gerade wegen die69 21 zurückgekehrt sind. ser Milliardenhilfen. Heute ist der 48-Jährige einer Kaum eine andere Branche der reichsten Unternehmer der wurde von der Politik so üppig Volksrepublik. Konzerne wie gefördert wie die Erzeuger grü2004 2010 Suntech oder Yingli dominieren nen Stroms, allen voran die Soinzwischen den Weltmarkt für larindustrie. Das ErneuerbarePhotovoltaik. Die Chinesen verEnergien-Gesetz (EEG), vor elf einen schon fast die Hälfte des Jahren eingeführt, verhalf ihr globalen Umsatzes auf sich und zu einem phänomenalen AufQuelle: PRTM annähernd 60 Prozent der Profischwung. Doch der Boom ist teute, die in der Branche erzielt er erkauft. werden, wie Analysten der UnDas EEG garantiert jedem Beternehmensberatung PRTM in eitreiber über 20 Jahre eine feste ner Studie herausgefunden haEinspeisevergütung, bezahlt von ben: „Damit gehören die Chineden Verbrauchern. Allein für den sen zu den großen Gewinnern Ausbau der Photovoltaik bis des vergangenen Jahres.“ In den Ende 2010 müssen die StromTop Ten der wachstumsstärkskunden nach Rechnung des ten Unternehmen finden sich Rheinisch-Westfälischen Instituts acht aus China und Taiwan. Deutfür Wirtschaftsforschung (RWI) sche Namen sind nicht mehr knapp 81,5 Milliarden Euro aufdarunter. bringen; dieser „Kosten-TsunaDas bedeutet: Die Milliarden mi“, so das RWI, werde noch weiaus den Einspeisevergütungen ter anschwellen. kommen neuerdings weniger den Der Geldsegen trug dazu bei, heimischen Produzenten zugute dass innerhalb weniger Jahre aus als der chinesischen Konkurrenz. Öko-Klitschen stattliche KonzerDeren Aufstieg wird zu einem ne wurden. Hunderttausende Gutteil von deutschen StromkunHausbesitzer ließen ihre Dächer den mitfinanziert. Knapp 123 mit Paneelen belegen. Noch im Euro zahlt laut RWI ein Durchvergangenen Jahr entfielen von Manager Asbeck, Politiker Röttgen: „Solarzellen auf Halde“
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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
... und Untergang
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Preisverfall Durchschnittlicher Endkundenpreis* für Photovoltaikanlagen in Deutschland, in Euro pro Kilowatt Nennleistung 5000
5000
4500 4000 3500
Veränderung 2. Quartal 2011 gegenüber 2006
3000
–51,6 %
LANG LANG / REUTERS
2500
2000
Quelle: BSW-Solar
2422
* für montierte Dachanlagen bis 100 Kilowatt-Peak
Modulfertigung in China 2006
schnittshaushalt pro Jahr für die Subventionierung grünen Stroms. Die großzügige Förderung ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Politik mit Finanzhilfen Prozesse in die falsche Richtung lenkt. Photovoltaik ist mit Abstand die teuerste und ineffizienteste Methode der Energiegewinnung, sie verschlingt Milliarden, und dennoch kann sie gerade mal zwei Prozent des deutschen Strombedarfs decken. Eine Initiative zum Stromsparen wäre mindestens so ergiebig, vor allem weitaus billiger – aber so etwas macht weniger her als die Produktion funkelnder Kollektoren. Von dieser umstrittenen EEG-Förderpolitik profitieren auch die Betreiber von Windkraftanlagen, allerdings klaffen bei ihnen Aufwand und Ertrag nicht derart auseinander. Doch auch auf diesem Markt verschieben sich gerade die Gewichte. Vor fünf Jahren waren unter den zehn größten Unternehmen vier deutsche Namen, jetzt sind es nur noch zwei, Siemens und Enercon. Dafür gehören nun vier chinesische Hersteller zu den Top Ten. Die Chinesen profitieren bei ihrem Vormarsch auf die Märkte in Europa und Nordamerika ebenfalls von Staatshilfe. Allerdings setzt China mit seiner Förderung nicht bei den Verbrauchern an, sondern direkt bei den Unternehmen. Das Land unterstützt den Aufbau großer Produktionskapazitäten, mit denen die Hersteller ihre Kosten weiter drücken können. Die staatlichen Banken helfen den Windanlagenproduzenten dann beim Vormarsch auf Exportmärkte. Chinesische Banken bieten den Betreibern von Windparks die Finanzierung neuer Anlagen an. Bei einem OffshoreWindpark geht es schnell um eine Milli62
arde Euro. Und natürlich erhalten chinesische Hersteller dann die Aufträge für die Lieferung der Anlagen. So finanzierte die China Development Bank den Bau mehrerer Windfarmen in Irland. Die werden nun vom chinesischen Hersteller Sinovel gebaut. Die deutsche Windkraftindustrie dagegen ist eher mittelständisch geprägt. Es fällt den Unternehmen nicht leicht, die nötigen Mittel für Investitionen und die Expansion ins Ausland aufzubringen. Mitunter mangelt es auch an Erfahrung im weltweiten Geschäft. Schon 1998 hatte Nordex ein Werk in China aufgebaut und auf Aufträge gehofft. Doch die Deutschen
„Behaupten können sich kapitalund forschungsstarke Konzerne mit globaler Ausrichtung.“ mussten feststellen, dass chinesische Lieferanten oft bevorzugt wurden. Ein Weltkonzern wie Siemens dagegen verfügt nicht nur über das Kapital, sondern auch über die Verbindungen, um sich als einer der größten Hersteller von Windanlagen zu etablieren. Die Münchner, die mit anderen Unternehmen des Konzerns bereits über viel Erfahrung im China-Geschäft verfügen, gehen anders vor. Sie wollen ein Gemeinschaftsunternehmen mit Shanghai Electric gründen. Damit dürften sie bessere Chancen auf Aufträge haben. So sortieren sich in diesen Monaten die beiden wichtigsten grünen Energiebranchen in Deutschland neu. In der Windkraft wie im Solarzellenbau werden einige Betriebe wohl von der Bildfläche verschwinden. Andere versuchen sich in die D E R
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Arme finanzkräftiger Investoren zu retten. Konzerne wie General Electric, Samsung, Sharp und Total halten Ausschau nach interessanten Solar-Kandidaten, sie wollen ihre Größenvorteile ausspielen und eine Massenproduktion aufziehen. Damit gehen die jungen Industrien durch einen ähnlichen Reifeprozess, wie ihn Anfang des 20. Jahrhunderts die Autobauer und später die Unterhaltungselektronik erlebt haben. Aus Dutzenden von Pionieren mendelt sich eine Handvoll überlebensfähiger Unternehmen heraus. Grüne Energietechnik wird eine Wachstumsbranche bleiben. Behaupten können sich aber auf Dauer nur die kapitalkräftigen und forschungsstarken Konzerne, die global ausgerichtet sind. Sie beschränken sich nicht auf den Heimatmarkt, auch wenn es verführerisch ist, sich auf nationale Subventionen zu verlassen. In der Windkraft geht vor allem Siemens diesen Weg. Bei der Photovoltaik geben Experten Bosch gute Chancen, in der globalen Liga mitspielen zu können. Zwei Milliarden Euro haben die Stuttgarter in den Solarsektor investiert, in den kommenden sechs Jahren will BoschChef Franz Fehrenbach die Zahl der Beschäftigten hier auf rund 7000 verdoppeln. In diesem „äußerst hart umkämpften Markt“, so Fehrenbach, könnten auf Dauer nur Hersteller bestehen, die in die Massenproduktion gehen. Und die ihr Glück im Ausland suchen. Bosch will in Äquatornähe eine Solarmodulfabrik errichten und dort eine halbe Milliarde Euro investieren. Das neue Solar Valley entsteht auf der malaysischen Insel Penang. DIETMAR HAWRANEK, ALEXANDER JUNG, NILS KLAWITTER, WIELAND WAGNER
In freiem Fall Ein merkwürdiges Aktiengeschäft bringt den Aufsichtsrat des einstigen Branchenstars Solar Millennium ins Zwielicht.
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THIES RAETZKE / VISUM
ie Erlanger Firma Solar Millennium galt lange als Branchenstar. Sie baut Sonnenkraftwerke mit Parabolspiegeln und soll das Wüstenstromprojekt Desertec mit Technik versorgen. Doch inzwischen ist der Aktienkurs in freiem Fall. Die Mega-Projekte kommen nicht richtig in Gang, Investoren bleiben aus, und der Aufsichtsrat Hannes Kuhn, 47, steht im Mittelpunkt diverser juristischer Auseinandersetzungen. Besonders bizarr ist der Streit mit Kurzzeitchef Utz Claassen, den Kuhn Ende 2009 anheuerte. Claassen blieb
Manager Claassen
Wer hat hier wen getäuscht?
nur 74 Tage. Die Firma schien ihm nicht seriös, die Business-Pläne, die man ihm präsentierte, hielt er für Schönfärberei, so sagt er heute. Die fürstliche Antrittsprämie von neun Millionen Euro jedoch will er behalten – und zusätzlich noch eine üppige Entschädigung erstreiten. In einigen Tagen trifft man sich vor Gericht. Um Claassen, der vordem den Energiekonzern EnBW geführt hatte, für Solar Millennium zu gewinnen, schloss Kuhn ein Termingeschäft ab, das inzwischen von der Finanzaufsicht BaFin geprüft wird – wegen des Verdachts auf Insider-Handel. Weil die Forderungen von Claassen so üppig waren, dass sie – so Kuhn im Mai dieses Jahres – für seine Firma eigentlich „nicht darstellbar“, sprich: nicht bezahlbar, waren, dach-
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te sich der Aufsichtsrat nämlich einen gewagten Trick aus. Ende November 2009 kaufte Kuhn 150 000 Solar-Millennium-Aktien zum Festpreis von 30 Euro auf Termin, um sie Claassen später zu diesem Preis zu verkaufen, so die Firmendarstellung. Das heißt: Er musste die Aktien den Banken erst zu einem späteren Zeitpunkt abnehmen, im Februar/ März 2010, kurz nach Claassens Antritt. Angeblich war Claassen in diesen Plan eingebunden, was er jedoch bestreitet. Beim Abschluss des Termingeschäfts, Ende November 2009, stand der Kurs von Solar Millennium nur geringfügig unter dem vereinbarten Festpreis von 30 Euro, etwa bei 28 Euro. Kuhn selbst schätzte das Potential der Aktie, so teilte er auch Claassen mit, auf 200 oder sogar 300 Euro – und Claassen als Chef sollte dieses Potential erschließen. Kurz nach Abschluss des Geschäfts beschloss der Aufsichtsrat von Solar Millennium (mit Hannes Kuhn) dann auch die Bestellung des neuen Chefs. Der Manager mit dem Hang zu Goldkettchen trat am 1. Januar an und schmiss den Job nach nur zweieinhalb Monaten hin. Seither fragt sich die erstaunte Öffentlichkeit, wer hier wen getäuscht hat: Claassen Solar Millennium – oder umgekehrt. Scharen von Anwälten und Beratern arbeiten im Auftrag beider Seiten daran, vor dem nun beginnenden Arbeitsgerichtsprozess der jeweiligen Sicht der Dinge zum Durchbruch zu verhelfen. Aufsichtsrat Kuhn jedenfalls nahm die Aktien wie geplant ab. Claassen habe sie nicht gewollt, und so erlitt Kuhn beim anschließenden Verkauf nach eigenen Angaben einen Verlust. Für die Frage, ob es ein Insider-Geschäft ist, spielt das jedoch keine Rolle. Wichtig hierfür sei, so sagt es der Bundesgerichtshof, nur eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses – und das war hier der Amtsantritt Claassens. Dass der so schnell wieder das Unternehmen verlassen sollte, konnte auch ein Insider nicht NILS KLAWITTER ahnen.
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Wirtschaft
GELD
Wer bürgt, wird erwürgt Der Euro benötigt eine Transferunion – aber welche? Ökonomen warnen vor einem Übermaß an Finanzhilfen für strukturschwache Regionen, die Länder sollten für ihre Schulden selbst verantwortlich bleiben.
KRISE
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einen Finanzausgleich, der die Unterschiede zwischen reichen und armen Regionen einebnet. „Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Fiskalpolitik ist nicht überlebensfähig“, sagt der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar. Das Beispiel Ostdeutschland aber zeigt, dass eine politische Union die wirtschaftlichen Ungleichgewichte mitunter noch verstärkt. Anstatt einen Weg aus der wirtschaftlichen Krise zu suchen, richten sich manche Armutsregionen lieber dauerhaft als Subventionsempfänger ein. Wer die Finanzsysteme der Industrienationen unter die Lupe nimmt, kommt deshalb zu einem simplen Ergebnis: Wich-
tiger als die Frage, ob es eine Transferunion gibt, ist die Frage, wie sie ausgestaltet ist: Wie groß dürfen die regionalen Transfers sein? Muss die Zentrale die Hoheit über die nationale Finanzpolitik bekommen? Und vor allem: Macht es Sinn, wenn die Gemeinschaft künftig für die nationalen Schulden haftet? Es geht um den Umgang mit wirtschaftlichen Ungleichgewichten, die schwierige Balance zwischen Gerechtigkeit und Effizienz und die ökonomische Mechanik einer Währungsunion. Verfügt jedes Land über seine eigene Währung, gibt es ein bewährtes Instrument, um Defizite oder Überschüsse in der Handelsbilanz abzubauen.
JOCK FISTICK / LAIF
Es war der perfekte politische Flankenschutz, das passende Pendant zur WELTFINANZ neuen Gemeinschaftswährung. Im Sommer 1990 wurde die D-Mark zum offiziellen Zahlungsmittel der DDR erklärt, drei Monate später traten die fünf neuen Länder der Bundesrepublik bei. Mit einem Schlag gab es für die größer gewordene D-Mark-Zone das, was sich Ökonomen und Politiker heute für den Euro-Raum wünschen: eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, weitgehend angeglichene Steuer- und Sozialsysteme, einen umfangreichen Finanzausgleich zwischen den Regionen. Die Vereinbarungen seien „Ausdruck der Solidarität unter den Deutschen“, lobte der damalige Kanzler Helmut Kohl und versprach: Der Osten werde sich schon bald in „blühende Landschaften“ verwandeln. Das Versprechen entpuppte sich als Wunschdenken. Mehr als 1400 Milliarden Euro Finanzhilfen und Transfers flossen seither von den alten in die neuen Länder. Doch die „blühenden Landschaften“ lassen weiter auf sich warten. Bis heute erreichen die ostdeutschen Einkommen, Exporte und Produktivitätsraten nur einen Bruchteil des Westniveaus; dafür liegen die neuen Länder bei Arbeitslosigkeit und öffentlichem Schuldenwachstum an der Spitze. Von einem „stagnierenden Aufholprozess“ sprechen die Statistiker. Die Erfahrungen in Ostdeutschland liefern das Gegenbild zur jüngsten EuroDebatte. Um die Gemeinschaftswährung aus der Krise zu führen, fordern Politiker wie Ökonomen, dem Einheitsgeld endlich den fehlenden politischen Unterbau zu verschaffen. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet spricht sich für einen europäischen Finanzminister aus, Euro-GruppenChef Jean-Claude Juncker will die Kreditpolitik durch europäische Anleihen vergemeinschaften, und Kanzlerin Angela Merkel kündigt zusammen mit Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine europäische Wirtschaftsregierung an. Die Finanzpolitik darf nicht länger in nationaler Hand liegen, so lautet die Botschaft: Der Euro benötigt zentrale Vorgaben für Steuern und Staatshaushalte, die Haftung für nationale Schulden und
EZB-Präsident Trichet, Euro-Gruppen-Chef Juncker: Plädoyer für europäische Anleihen D E R
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Steigende oder fallende Wechselkurse sorgen dafür, dass sich die Warenströme zwischen den Nationen wieder angleichen. Sind die Länder dagegen Mitglied einer Währungsunion, muss die Anpassung auf anderem Wege erfolgen: Entweder fließen umfangreiche Finanzhilfen von Reich zu Arm. Oder das Defizitland bringt wirtschaftliche Opfer: Seine Arbeitnehmer wandern als Gastbeschäftigte in die Überschussländer ab oder akzeptieren drastische Lohnkürzungen, um die eigenen Produkte wieder wettbewerbsfähig zu machen. In funktionierenden Währungsräumen findet sich meist beides: Wenn eine Region in Schwierigkeiten gerät, gibt es Hilfe von den reicheren Partnern; zugleich sind die Einwohner bereit, Opfer zu bringen und Einbußen hinzunehmen. Das Problem ist, das richtige Maß zu finden, denn Finanzhilfen lassen sich politisch oft leichter durchsetzen als Einschnitte. So kommt es, dass vor allem in Europa zahlreiche Transfersysteme zu besichtigen sind, die wirtschaftliche Unwuchten nicht abbauen, sondern zementieren. Es fließt zwar jede Menge Geld, aber der Graben zwischen Reich und Arm wird nicht kleiner.
In Italien zum Beispiel strömen seit Ende des Zweiten Weltkriegs Finanzhilfen vom reichen Norden in den armen Süden, zuletzt mit Jahresraten in Höhe von 50 Milliarden Euro. Mal wurden Straßen gebaut, mal Stahlwerke errichtet, mal Kleinbetriebe gefördert. Doch die wirtschaftliche Schere hat sich nicht geschlossen, im Gegenteil: Das Geld versickerte in unsinnigen Großprojekten, ein nicht unerheblicher Teil füllte die Kassen der Mafia. Der erhoffte Aufschwung blieb dagegen aus. Das Pro-Kopf-Einkommen Kalabriens ist heute nicht einmal halb so hoch wie das in der Lombardei. Auch in Belgien fließen jährlich mehr als zehn Milliarden Euro aus dem wohlhabenden Flandern in die früheren Kohle- und Stahlregionen des Südens, am wirtschaftlichen Gefälle im Land aber hat sich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit im frankophonen Teil der Zwei-SprachenNation liegt fast doppelt so hoch wie im Norden, in der verrotteten Wallonie-Metropole Charleroi bieten Agenturen inzwischen Touristenführungen durch „die hässlichste Stadt der Welt“ an. Sicher: Italien und Belgien waren auch schon gespaltene Volkswirtschaften, als
Reicher Euro, armer Euro Wirtschaftskraft der Regionen im Euro-Raum
FINNLAND
Regionale Ungleichgewichte gibt es nicht nur zwischen den Euro-Staaten, sondern auch innerhalb der Mitgliedsländer. Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf* im Vergleich zum BIP aller Regionen im Euro-Raum über dem Durchschnitt unter dem Durchschnitt mehr als 25% mehr als 25% 10 bis 25% 10 bis 25% Mittelfeld, bis 10% über bzw. unter dem Durchschnitt
ESTLAND
IRLAND NIEDERLANDE BELGIEN
DEUTSCHLAND LUX.
FRANKREICH
SLOWAKEI ÖSTERREICH
ITALIEN PORTUGAL SPANIEN GRIECHENLAND Quelle: Eurostat, Stand: 2008 (jüngste verfügbare Regionaldaten) *kaufkraftbereinigt
ZYPERN
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sie noch eigene Währungen hatten. Doch seit der Euro eingeführt wurde, haben sich die Spannungen weiter verschärft. In Belgien verhindert nur der Kampf um die Landeshauptstadt Brüssel, dass sich die verfeindeten Landesteile trennen. Und in Italien hat sich nach der Lega Nord inzwischen auch eine Partei des Südens gegründet, die ihre Hauptaufgabe nach eigenen Angaben darin sieht, die Armutszonen des Landes von „norditalienischer Unterdrückung“ zu befreien. Ein umfangreiches System der Finanzverteilung gibt es auch in Deutschland, wo die Bundesländer kaum eigene Steuerquellen haben. Stattdessen finanzieren sich Bund und Länder zu einem Großteil aus gemeinsamen Steuern. Obendrein haben arme Länder wie Berlin, Sachsen-Anhalt oder das Saarland Anspruch auf Zuschüsse aus den Reichtumszonen im Süden der Republik. Rund sieben Milliarden Euro werden so jährlich allein im Länderfinanzausgleich umverteilt, um das ökonomische Gefälle in der Republik auszugleichen. Im Gegenmodell zur deutschen Variante der Transferunion müssen vor allem die Bürger die Anpassungslast erbringen. In den USA beispielsweise sind die Arbeitnehmer weit stärker bereit, für einen besser bezahlten Job den Wohnort zu wechseln als in Europa, was natürlich durch die einheitliche Sprache erheblich erleichtert wird. Entsprechend rasch bauen sich auf der anderen Seite des Atlantiks ökonomische Ungleichgewichte ab, und entsprechend begrenzt ist der Bedarf an zentralstaatlicher Lenkung. Zwar gibt es Bundessteuern und gezielte Regionalhilfen aus Washington. Auch die großen Sozialsysteme für Alte (Medicare) und Arme (Medicaid) sorgen dafür, wirtschaftliche Spannungen abzufedern. Eine Umverteilung nach dem Muster des deutschen Länderfinanzausgleichs aber existiert nicht einmal in Ansätzen. Von einer typisch amerikanischen „Aversion gegen den Staat“ spricht Oxford-Ökonom Clements Fuest. Dass Einzelstaaten die Folgen untragbarer Schuldenberge auf die Gemeinschaft abzuwälzen versuchen wie in Europa, ist in den Vereinigten Staaten ebenfalls undenkbar. In den vergangenen 170 Jahren haben Regierungen lediglich in Ausnahmefällen Schulden untergeordneter Körperschaften übernommen, wie aus der einschlägigen Studie des US-Ökonomen Robert Inman hervorgeht. 1997 kamen die USA für Kredite der überschuldeten Hauptstadt Washington auf, seit 2002 springt die Regierung New Jerseys der klammen Hafenstadt Camden bei. Ansonsten gilt in den Vereinigten Staaten ein strenges Haftungsverbot, ähnlich der entsprechenden Klausel des Maastricht-Vertrags. Wer nicht ordentlich haushalten kann, so lautet die Regel, darf nicht auf Geld aus Washington oder der 65
Wirtschaft
Die Transfermaschine
DAVID MCNEW / GETTY IMAGES
schrieben, alle Staaten mussten zuständigen Regionalhauptstadt das Geld ihrer Partnerländer anhoffen. Und so wurde auch für nehmen. Vor allem Italien und den klammen Bundesstaat Min- Finanzbeziehungen in den USA und in Deutschland Griechenland jedoch nutzten die nesota kein Rettungsschirm geGemeinschaftsregeln dazu, hohe spannt, als er vor wenigen WoQ Steuerhoheit Q Steuergesetzgebung staatliche Kredite aufzunehmen – chen zahlungsunfähig wurde. liegt überwiegend liegt in erheblichem und diese mit Hilfe der NotenpresStattdessen schloss die RegionalMaß bei den USbeim Bund; der steht se zu finanzieren. Die übrigen regierung zahlreiche Behörden, Bundesstaaten in einem komplizierten Länder wehrten sich gegen die stoppte einen Großteil öffentlicher Finanzgeflecht mit den Q kein Finanzausgleich Ländern Inflationspolitik aus dem Süden, Bauarbeiten und schickte zwei zwischen den USdoch Mitte der zwanziger Jahre Drittel der Beamten in unbezahlBundesstaaten Q Wirtschaftskraft der brach die Münzunion auseinander. ten Zwangsurlaub. Bundesländer wird Q Die Zentralregierung Die Schuldenkrise ArgentiSo läuft es meist in den USA: durch umfangreichen in Washington haftet niens wurde ebenfalls wesentlich Gerät ein Staat in Schieflage, muss Finanzausgleich nicht für Schulden durch die unverantwortliche Fier entweder die Ausgaben kürzen, nivelliert der US-Bundesstaaten nanzpolitik ihrer Gliederungen die Steuern erhöhen oder eine Q Der Bund haftet für hervorgerufen. In den achtziger Umschuldung mit den betroffenen Schulden der Länder und neunziger Jahren borgten Banken aushandeln. sich die argentinischen Provinzen Das Prinzip zeigt heilsame Wirin großem Stil Geld von ihren Rekungen: Bei den Beteiligten regionalbanken. Die Regierungen giert die Vorsicht, nicht der aber konnten die Kredite nicht Schlendrian. Die Gläubiger achten zurückzahlen, und so mussten die streng darauf, ob ihre staatliche Zentralregierung sowie die NoKundschaft auch solvent ist. Und tenbank einspringen. die Staaten nehmen nur solche 2001 meldete Argentinien Darlehen auf, von denen sie anschließlich Bankrott an, das Land nehmen, dass sie sie auch zurückerhielt Notkredite vom Internazahlen können. tionalen Währungsfonds, musste Entsprechend niedrig ist der einen brutalen Sparkurs einschlaSchuldenstand der US-Regionen, gen und stürzte in eine schwere verglichen zumindest mit europäiRezession. schen Verhältnissen. Von Alaska Was Europa aus den Erfahrunbis Texas, von New York bis Kaligen anderer Währungsräume lerfornien liegen die Schuldenquoten nen kann, liegt auf der Hand. Eine der Bundesstaaten bei durchfunktionsfähige Transferunion für schnittlich 17 Prozent des Bruttoden Euro-Raum kann nicht dem inlandsprodukts und damit um ein Vorbild zentralistischer Staaten Vielfaches unter dem Niveau von Protest von Staatsbediensteten in Los Angeles wie Frankreich oder Schweden Irland, Italien oder Griechenland. Wer unsolide wirtschaftet, muss die Folgen tragen nachgebildet werden, warnt der Das vermindert das Risiko, Finanzmarktturbulenzen zum Opfer zu fallen. hen, um mit den Einnahmen ihre ange- Berliner Ökonom Henrik Enderlein. Das richtige Modell für den Kontinent sei ein Selbst wenn die Zinsen drastisch steigen schlagenen Kreditinstitute zu sanieren. Einige Jahre später geriet das Alpen- „Wettbewerbsföderalismus“ nach dem sollten, bleiben die Folgen für die öffentlichen Haushalte überschaubar; die Ge- städtchen Leukerbad in Schieflage, das Vorbild der Schweiz oder der USA. Die fahr, dass ein überschuldetes Unionsmit- für allerlei Tourismusprojekte gigantische Einzelstaaten entscheiden weitgehend glied den gesamten Geldverbund aus- Schulden angehäuft hatte. Als der Ge- autonom über Ausgaben und Einnahmen, meinderat ankündigte, er werde die Kre- niedrige Bundessteuern oder eine zentraeinanderreißt, ist gleich null. Mit ganz ähnlichen Methoden sichert dite nicht länger bedienen, wollten die le Arbeitslosenversicherung sorgen für auch die Schweiz die Stabilität ihrer Wäh- Gläubigerbanken den Kanton Wallis zum ein Minimum an finanziellem Ausgleich. Vor allem aber bleiben die Einzelstaarung. „Der Berner fühlt sich dem Tessiner Einspringen verpflichten. Doch das obersnicht sonderlich verbunden“, sagt der te Gericht der Schweiz wies die Klage ab. ten für ihre Schulden verantwortlich. Wer schweizstämmige Ökonom Charles Blan- Die Kreditinstitute, so urteilten die Rich- unsolide wirtschaftet, muss selbst die Folkart. „Deshalb hat die Eidgenossenschaft ter, müssten selbst für den Fall vorsorgen, gen tragen, inklusive höherer Zinsen und der Möglichkeit der Pleite. für ihre Finanzverfassung strenge Regeln dass einer ihrer Schuldner ausfällt. Hilfe von der Gemeinschaft darf es nur Wer bürgt, wird erwürgt. Die alte aufgestellt.“ Die Kantone genießen Finanzauto- Volksweisheit gilt nicht nur im Privat- geben, wenn sie an strenge Auflagen genomie, die Bundessteuern sind niedrig, der leben, sondern auch für die Finanzbezie- knüpft und von einer überstaatlichen OrZentralstaat haftet nicht für Schulden sei- hungen zwischen Staaten, zumal in einer ganisation wie dem Internationalen Wähner Gliederungen. Und was noch wichti- Währungsunion. Können die Mitglieder rungsfonds überwacht wird. Wer seine ger ist: Die Etatprinzipien stehen nicht nur ihre Risiken allzu leicht auf die Gemein- Kredite nicht mehr bedienen kann, muss in der Staatsverfassung, sie werden auch schaft abwälzen, ist der Bestand der Geld- seine staatliche Souveränität an einen gemeinschaft bedroht, wie zahlreiche Bei- europäischen Sparkommissar abgeben – eingehalten – selbst im Krisenfall. oder er müsste Bankrott anmelden. „Der In den neunziger Jahren etwa gerieten spiele zeigen. Mitte des 19. Jahrhunderts etwa grün- deutsche Finanzausgleich“, sagt Ökonom mehrere Kantone in Finanznot, nachdem sich ihre Regionalbanken mit Immobilien deten Frankreich, Belgien, Italien, Grie- Enderlein, „ist kein Vorbild für Europa.“ Die Transferunion ist wichtig, so lautet verspekuliert hatten. Doch keine der Pro- chenland und die Schweiz die Lateinische vinzregierungen kam auf die Idee, den Münzunion, einen Vorläufer der Europäi- das Fazit. Noch wichtiger aber sind die Bund um Hilfe zu bitten. Stattdessen schen Währungsunion. Die Wechselkurse Grenzen der Transferunion. mussten die Kantone die Steuern erhö- zwischen den Mitgliedern wurden festgeMICHAEL SAUGA 66
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„Den Teufelskreis durchbrechen“ Die neue IWF-Chefin Christine Lagarde fürchtet eine weltweite Rezession – und fordert die Industrieländer auf, sich gemeinsam dem drohenden Abschwung entgegenzustemmen.
KRISE
SPIEGEL: Frau Lagarde, die Weltkonjunktur bremst ab, Börsen brechen ein, Banken leihen sich untereinander kein Geld mehr. Erinnert Sie das an das Jahr 2008, kurz bevor die Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach? Lagarde: Jede historische Situation ist einzigartig, sie lässt sich nicht mit einer vorhergehenden vergleichen. Wir beim Internationalen Währungsfonds haben aber über den Sommer festgestellt, dass sich eine neue Vertrauenskrise entwickelt, die die wirtschaftliche Lage weltweit verschlechtert. Deshalb müssen Maßnahmen ergriffen werden, um eine drohende Abwärtsspirale abzuwenden. SPIEGEL: Wie entsteht die? Lagarde: Aus niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Staatsverschuldung. Beides untergräbt das Vertrauen in ganze Länder und in die Stärke ihres Bankensystems, besonders wenn die Banken erhebliche Volumen an Staatspapieren halten. Sollten diese Kreditinstitute in Schwierigkeiten geraten, werden weitere Länder angesteckt. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen. SPIEGEL: Was ist zu tun? Lagarde: Mit Blick auf Europa empfehlen wir, dass die Länder ihren Sparkurs an die veränderte Lage anpassen und wachstumsfördernde Maßnahmen ins Auge fassen. Darüber hinaus sollten sie das Eigenkapital ihrer Banken verstärkt aufstocken. Beides gehört zusammen, weil die unsichere wirtschaftliche Lage und die Staatsschuldenkrise das Vertrauen in die Banken aushöhlen. SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass Ihre Warnung, europäischen Banken fehlten 200 Milliarden Euro in der Bilanz, deren Situation zusätzlich belastet? Lagarde: Wir überwachen die globale Finanzstabilität und achten dabei auch auf die Situation in Europa. Wir werden die Ergebnisse unserer Arbeit in ein paar Wochen veröffentlichen. Generell sehen wir
die Notwendigkeit, dass die europäischen Banken rekapitalisiert werden, so dass sie stark genug sind, den Risiken der Staatsschuldenkrise und des schwachen Wachstums zu widerstehen. Das ist nötig, um weitere Ansteckungen zu verhindern. SPIEGEL: Steht die Welt schon wieder an der Schwelle zu einer neuen Rezession? Lagarde: Wir können sie noch vermeiden. Die Möglichkeiten der Regierungen und Notenbanken sind zwar geringer als 2009, weil sie einen großen Teil ihres Pulvers schon verschossen haben. Wenn aber die verschiedenen Regierungen, internationalen Organisationen und Zentralbanken zusammenarbeiten, werden wir die Rezession vermeiden. SPIEGEL: Im Augenblick geschieht doch das genaue Gegenteil. Viele Regierungen sparen, um die während der Krise ausgeuferten Staatsausgaben wieder ins Lot zu bringen. Ist das falsch? Lagarde: Das lässt sich so generell nicht sagen. Ohne genau ins Detail zu gehen: Es kommt auf die betreffenden Länder an. Für manche Länder läuft es gut. Für andere wiederum sind die beschlossenen Maßnahmen im Augenblick zu streng. Sie sollten überlegen, sie auszusetzen, besonders wenn sich ihre Wirtschaft weiter abschwächt und vorausgesetzt, dass sie einen klaren mittelfristigen Konsolidierungspfad einschlagen.
Währungsexpertin Lagarde
SPIEGEL: Dann gehen wir mal ins Detail. Sollte Deutschland mehr für die Weltkonjunktur tun? Lagarde: Im Rahmen unserer alljährlich stattfindenden Länderuntersuchungen haben unsere Experten kürzlich Deutschland besucht. Sie haben festgestellt, dass die Gesundung der deutschen Staatsfinanzen unter den gegenwärtigen Umständen bestens läuft. SPIEGEL: Noch … Lagarde: Natürlich hängt das immer von den Umständen ab. Wenn der Export, auf dem das deutsche Wirtschaftsmodell basiert, einbricht, dann könnte die Bundesregierung gegensteuern. SPIEGEL: Sie soll die Nachfrage stimulieren? Lagarde: Wenn Deutschland seine Binnennachfrage belebt, ist das gut für die deutsche Wirtschaft und für die der Nachbarländer. Seit ich dieses Thema als französische Finanzministerin das erste Mal erwähnte, hat sich die deutsche Nachfrage schon verbessert. SPIEGEL: Ist es nicht gefährlich, wenn Länder wie Ihr Heimatland Frankreich in einer so labilen Lage eine Schuldenbremse einführen wollen?
Internationaler Währungsfonds (IWF) Gegründet 1944. Überwacht die Geldpolitik der 187 Mitglieder und leistet finanzielle Hilfe bei Zahlungsschwierigkeiten. Stellt das notwendige Knowhow zur Einleitung finanzpolitischer und institutioneller Reformen zur Verfügung. zur Verfügung stehende Mittel
468 Mrd. Euro ausstehende Kredite
72,4 Mrd. Euro
Die größten Schuldner des IWF
7,2
Irland 6,3
Portugal
5,9
17,6
Griechenland
Pakistan
Kreditzusagen des IWF im Rahmen der Rettungspakete für Euro-Krisenländer Griechenland erstes Rettungspaket
30
Mrd. Euro
250 Mrd. Euro S P I E G E L
Ukraine
Rumänien
Bereitstellung für den Euro-Rettungsschirm
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Länder mit Verbindlichkeiten von derzeit mehr als 5 Mrd. € 11,8
10,3
Portugal
26*
Mrd. Euro * Euro-Rettungsschirm
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Irland
22,5*
Mrd. Euro
Stand: August 2011; Quelle: IWF
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BROOKS KRAFT / CORBIS / DER SPIEGEL
Lagarde, 55, leitet seit Juli den Internationalen Währungsfonds (IWF) in WaWELTFINANZ shington. Die frühere französische Finanzministerin ist Nachfolgerin ihres Landsmannes Dominique Strauss-Kahn, der wegen Vergewaltigungsvorwürfen zurücktreten musste.
Wirtschaft Lagarde: Das ist als Signal an die Finanz-
märkte zu verstehen. Es soll den Investoren zeigen, wie ernst es die Regierung meint, den Haushalt auszugleichen. Die generelle Absicht dahinter ist gut. SPIEGEL: Würden Sie den USA empfehlen, eine Schuldenbremse zu beschließen? Lagarde: Jedes Land muss für sich entscheiden, wie es das Signal an die Märkte sendet. Der IWF hat viele Experten, die sich mit der Sanierung von Staatsfinanzen auskennen und bei der Einführung von Schuldenbremsen behilflich sein könnten. Wir geben unser Wissen gern weiter. SPIEGEL: Gehen die Sparmaßnahmen der USA weit genug? Lagarde: Welche meinen Sie? SPIEGEL: Das Bekenntnis nach langem Streit um die Schuldenobergrenze, die Staatsausgaben in den kommenden Jahren um 2,4 Billionen Dollar über die ANZEIGE nächsten zehn Jahre zu kürzen. Lagarde: Solche langfristigen Vereinbarungen sind immer gut, wenn sie glaubhaft vermitteln, dass man gemeinsam gegen überbordende Defizite und gegen Ausgabenexplosionen, beispielsweise im Gesundheitswesen, vorgeht. Wenn solche mittelfristigen Ziele ernsthaft verfolgt werden, dann gibt es auch Spielraum für kurzfristige Maßnahmen, um das Wachstum zu stimulieren, das wiederum Arbeitsplätze schafft. SPIEGEL: Brauchen die USA ein neues Konjunkturprogramm? Lagarde: Was wir im Augenblick sehen, ist eine Phase sehr niedrigen Wachstums, und wir sehen ein Vertrauensproblem, das diesen Sommer darin kulminierte, dass die USA ihr AAA-Rating verloren haben. Wenn die USA einen glaubwürdigen mittelfristigen Anpassungsplan auf den Weg bringen, gibt es womöglich Raum, die kurzfristigen Sparmaßnahmen auszusetzen und einige wachstumsfördernde Maßnahmen einzuleiten. SPIEGEL: Ihre Vorschläge laufen darauf hinaus, die Folgen einer Schuldenkrise mit noch mehr Schulden zu bekämpfen. Lagarde: Das sehe ich nicht so. In einer Welt, die wirtschaftlich so verflochten ist, in der das Tun und Lassen etwa der Industrieländer unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklungsländer hat, kann man nicht einfach stur weitermachen, wenn sich die Lage ändert. Wir haben unsere Meinung doch nicht darüber geändert, dass hohe Schulden schädlich sind, sondern nur darüber, in welcher Lage die Weltwirtschaft gerade ist. SPIEGEL: Wohin zu hohe Staatsverschuldung führt, ist derzeit in der Euro-Zone zu besichtigen. Die EZB muss für etliche 68
Milliarden Staatsanleihen von Spanien und Italien aufkaufen. Ende September übernimmt der europäische Rettungsschirm, die EFSF, diese Aufgabe. Hat er dafür genug Geld? Lagarde: Die EFSF bekommt nun genügend Flexibilität. Sie steckte bislang in einer Art Zwangsjacke. Künftig darf sie Banken unterstützen, Ländern Liquiditätshilfen gewähren und auf den Sekundärmärkten Anleihen von angeschlagenen Ländern kaufen. Das ist alles sehr begrüßenswert. SPIEGEL: Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben EFSF-Chef Klaus Regling zwar einen Haufen neue Aufgaben gegeben, aber nicht mehr Geld. Reichen die bewilligten 440 Milliarden Euro? Lagarde: Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy und ihre Kollegen haben mehrfach versichert, dass sie alles unternehmen werden,
was notwendig ist. Dazu gehört nach meinem Verständnis auch, bei Bedarf die EFSF aufzustocken. SPIEGEL: Auch so weit, dass im Zweifel Italien gestützt werden kann? Ist das Land nicht viel zu groß, um von den Partnerländern gerettet zu werden? Lagarde: Die Staats- und Regierungschefs haben eine Vereinbarung getroffen, alles Nötige zur Rettung des Euro zu tun. Die Märkte sollten dieses Versprechen nicht unterschätzen. Außerdem hat Italien mittlerweile Sparmaßnahmen und Strukturreformen auf den Weg gebracht. SPIEGEL: Kritiker sagen, Griechenland sei genug geholfen worden. Das Land müsse raus aus der Euro-Zone. Halten Sie das für eine gute Idee? Lagarde: Erstens habe ich das nicht zu entscheiden. Zweitens glaube ich, dass alle Beteiligten, ob in der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, im D E R
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IWF ebenso wie die Mitglieder der EuroZone, zutiefst entschlossen sind, dass das Programm zur Rettung Griechenlands und damit des Euro funktioniert. Sie werden alles daransetzen, dass die griechische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig wird und das Land seine Schulden bedienen kann. SPIEGEL: In der Euro-Zone tun sich immer neue Hindernisse auf. Finnland etwa verlangt, dass Griechenland Sicherheiten hinterlegt, bevor weitere Hilfen fließen. Andere Länder wollen dem Beispiel folgen. Stellt das nicht den gesamten Rettungsmechanismus in Frage? Lagarde: Nach meinem Verständnis arbeiten die Euro-Länder an einer Lösung, die den Erwartungen eines jeden Landes gerecht wird. Eine maßgeschneiderte Lösung nur für Finnland, die keinem anderen Land passt, darf es nicht geben. Ich bin sicher, dass die Mitglieder der EuroZone sich ihrer Verantwortung bewusst sind und eine Lösung finden werden. SPIEGEL: In Frankreich steht möglicherweise noch ein Gerichtsverfahren gegen Sie an. Sie sollen die Macht Ihres Amtes als Finanzministerin missbraucht und dafür gesorgt haben, dass der Finanzier Bernard Tapie für seinen missglückten AdidasDeal vom französischen Staat entschädigt wurde. Werden Sie zurücktreten, wenn Sie sich vor Gericht verteidigen müssen? Lagarde: Diese Angelegenheit haben wir schon bei meiner Kandidatur erörtert. Der IWF-Board ist zu dem Schluss gekommen, dass dieser Fall absolut nichts daran ändert, dass ich meinen Job weiter ausführen und all meine Pflichten erfüllen kann. SPIEGEL: Die Frage ist, ob Sie auf Anweisung von Präsident Nicolas Sarkozy gehandelt haben … Lagarde: Wenn ich diese Frage beantworten müsste, dann würde ich es vor Gericht tun. Das scheint mir angemessener als gegenüber dem SPIEGEL. SPIEGEL: Es gibt die ungeschriebene Regel, dass stets ein Europäer an der Spitze des IWF steht, als Ausgleich dafür, dass die Amerikaner den Chef der Weltbank stellen. Wenn sich nun die Gewichte verschieben, werden Sie der letzte Vertreter Europas im Amt des IWF-Chefs sein? Lagarde: Ich hoffe nicht, das würde viele Talente vom Wettbewerb ausschließen. Aber das habe ich nicht zu entscheiden. Ich sitze hier nicht als Europäerin. Ich habe versucht, mich davon freizumachen, als Europäerin oder Französin zu denken. In dem Moment, in dem man zum IWF kommt, wird man ein Bediensteter einer globalen Organisation. INTERVIEW: MARC HUJER, CHRISTIAN REIERMANN
Wirtschaft
VERLAGE
Stammeskrieger von der Ruhr Jahrzehntelang litt der WAZ-Konzern unter dem Zwist seiner Eignerfamilien. Jetzt sollen sich die Besitzverhältnisse ändern. Zur Ruhe wird das Zeitungshaus aber kaum kommen.
W
as über Günther Grotkamp zuletzt die Runde machte, klang äußerst wunderlich. Es waren Geschichten von einem Pensionär, der sich mit dem WAZ-Verlag, dem er jahrelang vorgestanden hatte, um die Höhe seines Weihnachtsgeldes stritt und vor dessen Besuchen in der Essener Konzernzentrale Mitarbeiter vorsorglich das Licht
kamp, nunmehr 84 Jahre alt, wird damit im Haus künftig wieder mitreden. Die Erleichterung in Essen ist groß. Von einem Befreiungsschlag ist im Verlag die Rede und davon, dass die WAZ nun endlich ihr Potential ausspielen könne und zu alter Kraft zurückfinde. Bisher nämlich war das Haus zu gleichen Teilen im Besitz zweier Sippen: den
lienbetriebs. Statt wie Springer und andere Häuser ins Internet oder Fernsehen zu streben, blieb die WAZ mit ihren hiesigen Blättern im Regionalen kleben. Nun hofft so mancher im Haus, dass jener Mehltau abfällt, der sich in all den Jahren über den Verlag gelegt hat. Dass das zermürbende Patt passé ist, dass endlich einer das Sagen hat und Friede herrscht. Gut 500 Millionen Euro wollen die Grotkamps investieren, um den 50-ProzentAnteil der Brosts zu erwerben. Der Testamentsvollstrecker muss noch zustimmen, ein Nein gilt als unwahrscheinlich. Dass sich die Grotkamps vergangene Woche schon mal zur gedruckten Zeitung bekannten, kam gut an bei den Verlagskräften. Es klingt nach Konzept, nach Ideen, nach einer Zukunft für ein Geschäft, an das doch sonst nur wenige glauben. Doch womöglich geht es den Beteilig-
Eigentümer der WAZ-Gruppe Günther Grotkamp
16,7 6,7 %* Petra ra
Renate Schubries
16,7 %*
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bietet ca.
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verheiratet mit Grotkamp kam Jakob Funkes Tochter Petra; Geschäftsführer von 1975 bis 2000
Brost-Clan FE DE RICO GAMBARINI / DPA
Funke-Clan
50 % drei Enkel des Mitgründers Erich Brost
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Gisela Holthoff († Juli 2011) Stephan Holthoff-Pförtner Adoptivsohn *gerundet
Anteilseigner Grotkamp: Alte Wunden, Rache und viel Geld
löschten, um nicht der Verschwendung Nachkommen des konservativen Jakob Funke – und seines sozialdemokratischen bezichtigt zu werden. Vier Jahrzehnte diente Grotkamp der Mitgründers Erich Brost. Entscheidungen WAZ-Gruppe, erst als Justitiar und Per- mussten gemeinsam gefällt werden. Oder sonalchef, dann 25 Jahre als Geschäfts- sie fielen gar nicht. WAZ, so sagte der führer. Meist höflich, immer nervenstark, nun wohl scheidende Geschäftsführer bisweilen eiskalt. Grotkamp war die WAZ. Bodo Hombach einmal, übersetze er mit Zwei Jahre bevor er mit Anfang siebzig „Wir Arbeiten Zusammen.“ Von der in Rente ging, verkündete Grotkamp: Realität war das weit entfernt. Zur Einig„Ich habe eine junge Frau, die ist 55 und keit verdammt, misstrauten sich die Familienmitglieder nur umso leidenschaftwill auch noch was von mir haben.“ Vorige Woche hat ebendiese Frau, Pe- licher. Der Verlagsriese mit 40 Zeitungen tra Grotkamp, inzwischen 67, angekündigt, sie wolle die Mehrheit im Konzern („WAZ“, „Braunschweiger Zeitung“), übernehmen. Bisher gehörten der Toch- über hundert Zeitschriften („Die Aktuelter des WAZ-Mitgründers Jakob Funke le“, „Das Goldene Blatt“) und gut einer lediglich 16,7 Prozent der Anteile. Und Milliarde Euro Umsatz leistete sich die jeder in der Branche ahnt: Günther Grot- Strukturen eines mittelständischen Fami70
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ten nicht in erster Linie darum, wie die Zeitungen des Konzerns künftig aussehen sollen. Es geht eben auch um alte Wunden, Rache und viel Geld. Bei den Grotkamps wie bei den Verkäufern, den drei jungen Brost-Enkeln, die nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen sein sollen, dass Zeitungen sie nicht interessieren und es besser ist, jetzt zu verkaufen als später. Tatsächlich sind die Auflagen dramatisch eingebrochen: Allein die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ und ihre Ableger verkaufen am Kiosk fast 40 Prozent weniger Exemplare als noch vor fünf Jahren. „Die Motivation ist in vielen Redaktionen auf dem Nullpunkt“, sagt Sergej
Lochthofen, ehemaliger Chefredakteur der WAZ-Zeitung „Thüringer Allgemeine“. Die Renditen im Haus sind gut, doch dafür wurde hart gespart, 300 von 900 WAZ-Journalisten mussten gehen. Die Sehnsucht nach einem Erlöser ist offenbar groß. Sich Grotkamp in dieser Rolle vorzustellen fällt nicht leicht. „Man verliert bei dem Versuch, Visionen zu realisieren, zu viel Geld“, lautet so ein typischer Grotkamp-Satz. Er war es, der die WAZ mit Advokatenschläue und harter Hand zum QuasiMonopolisten im Pott machte, indem er seine Konkurrenten gern mal im Preiskampf zermürbte oder mit Prozessen überzog – und dann aufkaufte. Er war der starke Mann im Revier, von vielen geachtet und von allen gefürchtet. Bis heute, berichten Vertraute, nage es deshalb an ihm, dass ihn die Miteigner aus dem eigenen Lager, dem FunkeStamm, aus der Geschäftsführung quasi hinauskomplementierten in die Rente. Seither sei Grotkamp beseelt davon, zu zeigen, dass er es besser kann als die anderen – der Gestus des Großen Bellheim. Petra Grotkamp dagegen versteht sich als Gralshüterin des väterlichen Erbes, verteidigt wurde der Anspruch bisher in ständigem Rechtsstreit mit den Schwestern Renate Schubries und der inzwischen verstorbenen Gisela Holthoff und deren Söhnen. Den Übernahme-Coup könnte man denn auch als Sieg über die eigenen Schwestern lesen. Der neue Eignerkreis mag vieles leichter machen. Personalentscheidungen müssen sich nicht mehr in das starre Korsett der familiären Nomenklatura fügen: einer von uns, einer von euch. Nicht mehr jeder größere Mietvertrag muss über die Tische aller Seiten wandern. „Bestialisch war das“, sagt eine Führungskraft. Die Familien mussten ja nicht einmal im Clinch liegen, damit es in Essen stockte. Doch das Schlimmste liegt nicht hinter der WAZ, es kommt womöglich noch. Den Produkten des Verlags, obwohl wirtschaftlich einer der mächtigsten Spieler der Branche, haftet manchmal ein eher biederes Image an. Die Dominanz ist längst verloren, an das Internet, wo die WAZ in der Flut des Geschriebenen unterzugehen droht. Es fehlt eine starke Zeitungsmarke, der die Leser auch ins Netz folgen würden. Das Onlineportal „Der Westen“ kümmert vor sich hin. An Chancen, den Verlag von seinem Image zu befreien, fehlte es in der Vergangenheit nicht: ein Einstieg bei Springer oder bei Leo Kirchs ProSiebenSat.1, der Kauf der „Woche“ oder der „Süddeutschen Zeitung“? Es waren unter anderen auch Grotkamps, die manche Gelegenheit ablehnten. „Dass Günther Grotkamp jetzt wie der Erneuerer daherkommt, ist schon lustig“, sagt ein Weggefährte. D E R
Auch mit dem Wunsch nach familiärem Frieden dürfte es so bald nichts werden. Denn um sich zu streiten, brauchen die Funke-Erben keine Brosts. Der Clan, in einer Familien-Holding vereint, sieht sich inzwischen wohl häufiger vor Gericht als bei Familienfesten. Pikanterweise beharrte ausgerechnet Petra Grotkamp, solange ihr 16,7 Prozent gehörten, auf dem Einstimmigkeitsprinzip, um ihren Einfluss zu sichern. Bis zum Bundesgerichtshof ging ihr Begehren – womöglich diesen Donnerstag schon entscheidet der BGH, ob die Frage neu aufgerollt wird. Sollten die Gerichte am Ende die Einstimmigkeit zementieren, hätte sich Grotkamp als Mehrheitseignerin womöglich selbst ausgetrickst. Der Stoff für neuen Zank geht nicht aus, schon weil sich – Kapitalmehrheit hin oder her – an der Stimmrechtsverteilung im Haus fürs Erste nichts ändert. Die alten Verträge gelten weiter, ein Durchmarsch der Grotkamps wäre danach nicht möglich. So sehen es zumindest die übrigen Eigner im Funke-Stamm, Klaus Schubries und Stephan Holthoff-Pförtner. Beide vertreten jeweils 16,7 Prozent. Wenn Ruhe einkehren soll, müssten sich Grotkamps mit ihrer Sippe darauf einigen, dass die Regeln den neuen Machtverhältnissen angepasst werden. Die Sache sieht man im Grotkamp-Lager etwas anders, aber „wir wollen konstruktiv mit den Minderheitsgesellschaftern zusammenarbeiten“, verspricht Grotkamp-Anwalt Andreas Urban. Doch vor allem Holthoff-Pförtner, den Grotkamps am liebsten aus dem Eignerkreis ausschließen würden, wird wohl kaum rasch beidrehen. Es ist nicht so sehr das Zeitungsgeschäft, sondern diese Schlangengrube WAZ, der die Brost-Enkel nun den Rücken kehren. Bernhard, 23, Hannah, 18, und Theresa, 13, erbten die Hälfte des Verlags. Ihr Vater, Martin Brost, war 1978 nach einem Streit ausbezahlt worden. Er und Anwälte seiner Beteiligungsverwaltung BTV hätten in den aktuellen Verhandlungen mitgewirkt, erzählen Eingeweihte. Mit dem Verkauf kappt mithin auch Brost seine traumatische Verbindung zum Verlag. Es wird also in jeder Hinsicht ein Abschied, wenn sich am Donnerstag ein kleiner Kreis auf Schloss Landsberg bei Essen trifft, um den ersten Todestag der Verlegerin Anneliese Brost zu begehen. Ein Verkauf ihrer Anteile an das Funke-Lager war für sie wohl so undenkbar, dass das Testament dazu angeblich nichts vermerkt.
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ISABELL HÜLSEN, ALEXANDER KÜHN, MARTIN U. MÜLLER 3 6 / 2 0 1 1
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Panorama TÜRKEI
Falsche Nachbarschaft
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it zwei tief zerstrittenen Staaten hat sich die Türkei angelegt: Am vergangenen Freitag setzte Ankara seine militärische Zusammenarbeit mit Israel aus und verwies Jerusalems Botschafter des Landes. Gleichzeitig einigten sich die Türken mit ihren Nato-Partnern darauf, an ihrer Ostgrenze eine hochmoderne Radaranlage zur Abwehr weit reichender iranischer Raketen aufzustellen. Das Zerwürfnis mit Jerusalem geht auf Israels Erstürmung der internationalen Gaza-Flotille zurück, bei der im Mai 2010 acht Türken und ein US-Bürger ums Leben kamen; Israel sieht sich durch einen Uno-Bericht über den Zwischenfall bestätigt – und keinen Anlass, sich für die Folgen der Operation zu entschuldigen. Die Abkühlung des türkisch-iranischen Verhältnisses hängt unter anderem mit dem Aufstand in Syrien zusammen: Teheran unterstützte bisher das Regime in Damaskus, Ankara hat sich, nach langem Ringen, auf die Seite der Demonstranten gestellt. Sosehr die beiden Konflikte Ankaras mit den Erzfeinden Israel und Iran einander zu widersprechen scheinen – so klar markieren sie das jähe Ende einer Ära türkischer Außenpolitik: Er strebe einen Zustand an, hatte Außenminister Ahmet Davutoglu bei seinem Amtsantritt 2009 angekündigt, in dem Ankara „null Probleme“ mit seinen Nachbarn habe. Der Nahe Osten scheint dafür die falsche Nachbarschaft zu sein.
Vallejo bei einer Demonstration in Santiago L AT E I N A M E R I K A
Aufstand der Mitte D
ie Studentenproteste in Chile könnten auf andere Länder in der Region überspringen. Vergangene Woche forderten Tausende Schüler und Studenten vor dem Kongress in Brasília eine Reform des staatlichen Bildungssystems, als Ehrengast war die charismatische Galionsfigur der chilenischen Studenten, Camila Vallejo, eingeladen. In den kommenden
Monaten wollen Brasiliens Studenten auch ihre Kommilitonen in Argentinien und Peru zum Protest anstacheln. Es ist eine Rebellion aus der Mitte der Gesellschaft, die sich gleichermaßen gegen linke wie rechte Regierungen richtet. Diese haben kaum in öffentliche Schulen und Universitäten investiert, obwohl die Wirtschaft in vielen lateinamerikanischen
ÖSTERREICH
Vor der Spaltung
Kardinal Schönborn (l.)
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RAINER ECKHARTER / PEOPLE PICTURE
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ine große Mehrheit der Österreicher wünscht sich radikale Reformen in der katholischen Kirche. Fast drei Viertel aller Befragten unterstützen Umfragen zufolge einen „Aufruf zum Ungehorsam“, den im Juni 300 Pfarrer unterzeichnet hatten. Die Pfarrer fordern unter anderem, dass Frauen und Verheiratete zum Priesteramt zugelassen werden und auch Geschiedene am Abendmahl teilnehmen dürfen. Damit rennen sie bei den Österreichern offene Türen ein. Die Vertreter der Amtskirche schäumen: Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien, legte den Priestern den Austritt nahe. Der Salzburger Weihbischof Andreas Laun warnt, die Prozent Forderungen der 300 gingen „in Richtung Spaltung“. Die Initiatoren des Aufrufs, angeführt der Österreicher von Pfarrer Helmut Schüller aus Probstdorf sind laut einer bei Wien, halten dagegen, sie setzten sich leUmfrage gegen das Zölibat. diglich für jahrzehntealte und berechtigte Anliegen der Kirchenmitglieder ein.
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Ausland USA
Unter Tränen
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CACERES/ARCHIVOLATINO/LAIF
och heute besteht Dick Cheney, Vizepräsident unter George W. Bush, darauf, dass er in der Frage des Irak-Kriegs richtiggelegen habe. In seiner vorige Woche erschienenen Autobiografie „In My Time“ führt er dazu selbst engste Mitarbeiter aus der BushAdministration vor. So erzählt er, die damalige Sicherheitsberaterin und spätere Außenministerin Condoleezza Rice habe ihm unter Tränen darin zugestimmt, dass sich die Regierung nicht für Bushs Rede an die Nation 2003 entschuldigen müsse. Bush hatte in dieser Rede behauptet, der Irak habe versucht, sich Uran für Massenvernichtungswaffen zu beschaffen, was sich als falsch herausstellte. Rice räumt
Die wahren Massenvernichtungswaffen
Staaten seit Jahren boomt. Gymnasiallehrer verdienen oft nicht mehr als Taxifahrer oder Verkäufer. Inzwischen fehlen Ingenieure und Facharbeiter, Lateinamerika fällt im Vergleich zu den Schwellenländern Asiens bei der Ausbildung immer weiter zurück. Die Mittelschicht sieht sich in ihrer Existenz bedroht. In Brasilien fordern die Studenten jetzt, dass mindestens zehn Prozent des Bruttosozialprodukts in das Bildungssystem investiert werden. Auch Einnahmen aus zukünftigen Ölexporten sollen in die Bildung gesteckt werden.
Geschätzte Gesamtzahl produzierter Gewehre Quelle: Michael Ashkenazi, Internationales Konversionszentrum Bonn
Kalaschnikow
Die Rebellen in Libyen haben bei Gaddafis Soldaten deutsche G36-Sturmgewehre gefunden. Wie die Waffen in deren Hände gelangten, ist noch unklar, denn der Handel ist extrem schwer zu kontrollieren. Bis zu 800 Millionen Gewehre und Pistolen sind weltweit im Umlauf. Durch Kleinwaffen kommen 95 Prozent aller Kriegsopfer ums Leben.
100 Millionen G3
15 Millionen Uzi
10 Millionen M16
8 Millionen G36
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schließen will, sondern stattdessen ein Freihandelsabkommen mit der EU vorantreibt. Der größte Streit dreht sich aber wieder mal ums Gas: Kiew will die Verträge mit Russland aufkündigen, wenn Moskau bis zum Beginn der Heizsaison die Lieferpreise nicht
UKRAINE
„Frecher Verbrecher“
ALEXEY DRUZHININ / AFP
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o schnell kann man in Moskau in Ungnade fallen: Der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch, der bei Amtsantritt im Februar vorigen Jahres Kiews Wiederannäherung an Russland als wichtigstes Ziel ausrief, besitzt im Kreml keine Freunde mehr. Janukowitsch lasse es zu, dass „sich vor unser aller Augen die Beziehungen zwischen beiden Ländern verschlechtern“, giftete der vom russischen Staat kontrollierte Sender ORT vorige Woche. Ukrainische Medien sehen darin den Beginn eines „Informationskrieges“ gegen Kiew. Die Russen ärgert vor allem, dass sich die Ukraine nicht der Zollunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan an-
zwar ein, dass sie Cheney damals beigepflichtet habe, doch sagt sie: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in den ganzen acht Jahren einmal mit Tränen in den Augen zum Vizepräsidenten gekommen bin.“ Hart geht Cheney auch mit dem ehemaligen Außenminister Colin Powell ins Gericht, der dem Irak-Krieg skeptisch gegenüberstand: „Powell sprach lieber über Umfrageergebnisse, als militärische Optionen zu empfehlen“, schreibt Cheney. Aus dem Kreis der ausländischen Regierungschefs hebt Cheney den damaligen britischen Premierminister Tony Blair heraus, der Großbritannien zum wichtigsten Partner der USA machte. Die führenden Kriegsgegner dagegen, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac, erwähnt Cheney in seinem Buch mit keinem Wort.
Timoschenko, Putin in Moskau 2009 D E R
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senkt. Die Ukraine droht sogar, vor das Internationale Schiedsgericht in Stockholm zu ziehen, um die Abkommen überprüfen zu lassen. Der früheren ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Timoschenko kommt der Clinch gerade recht. Janukowitsch hatte sie verhaften und vor Gericht stellen lassen, weil sie 2009 mit Russlands Premier Wladimir Putin die jetzigen Gaspreise ausgehandelt und dabei angeblich ihre Kompetenzen überschritten habe. Timoschenko fühlt sich jedoch politisch verfolgt – und spürt nun Rückenwind aus Moskau. Entsprechend selbstbewusst tritt sie inzwischen vor Gericht auf: Letzten Donnerstag beschimpfte sie den 31-jährigen Richter als „zynischen und frechen Verbrecher“, der sich an einer Verschwörung beteilige, die Akten fälsche und deswegen selbst ins Gefängnis gehöre. 73
Titel
Ein deutscher Krieg
MARC-STEFFEN UNGER (R.); SETH MCALLISTER / AFP (L.)
Die Anschläge vom 11. September 2001 führten zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Deutschland wollte in dem Land am Hindukusch eine demokratische Gesellschaft schaffen. Zehn Jahre später steht fest: Das ist misslungen. Chronik eines Irrtums.
Außenminister Fischer, Kanzler Schröder*: „Uneingeschränkte Solidarität zugesichert“
Jeder kann sich ganz genau an diesen Dienstag im September er2001 2011 innern, immer noch. Und jeder, ob Busfahrer oder Bundeskanzler, hat sein eigenes 9/11, eigene Geräusche, eigene Bilder. Bei Gerhard Schröder klingt dieser Tag nach der tränenerstickten Stimme seiner Frau am Telefon. Bei Frank-Walter Steinmeier sind es ein Krachen und ein dumpfer Schlag auf dem Dach seines Privatwagens, als er in Schwäbisch Gmünd eine Parkhauseinfahrt ansteuerte, um besser telefonieren zu können. Bei Wolfgang Ischinger ist es die Hitze des brennenden Pentagon, die er auf der Haut zu spüren glaubte. Bei Otto Schily sind es die Anrufe bei seiner Tochter in New York, die im überlasteten Handy-Netz der Stadt stecken blieben. Und als Peter Struck auf Drängen seiner Mitarbeiter den Fernseher anstellte, wunderte er sich, nicht Rudolf Scharping beim Rücktritt zu sehen, sondern brennende Bürotürme. Ohnmacht, Schock, Fassungslosigkeit, Angst. Die Bilder der brennenden und einstürzenden Bürotürme von New York, der Einschlag des zweiten Flugzeugs live
11. SEPTEMBER
Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001
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übertragen in alle Welt, die Chiffre des Datums, die unwirklich wirkenden Bilder von fallenden Menschen – der 11. September 2001 hat sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis der Welt. Es war ein Anschlag auf Gebäude und Menschen in den USA. Und es war zugleich der Beginn eines neuen Krieges. Am Morgen des nächsten Tages zeichnete sich dieser Krieg ab. Ein deutscher Kanzler riskierte sein Amt, eine Koalition stand vor dem Bruch wegen des ersten deutschen Kriegseinsatzes außerhalb Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit bald zehn Jahren, etwa so lange wie Erster und Zweiter Weltkrieg zusammen dauerten, befinden sich auch deutsche Soldaten in Afghanistan in einem Einsatz, dem der Sinn immer wieder abhandenkam und dem sich nun auch keiner mehr geben lässt. Rund fünf Milliarden Euro hat die Militäroperation Deutschland bislang gekostet, 52 deutsche Soldaten kostete sie das Leben, viele mehr die Gesundheit, psychisch, physisch. * Im Kanzleramt in Berlin am 11. September 2001.
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Titel Das belegt schon ein sogenannter Drahtbericht, den der deutsche EU-Botschafter nach einem Treffen der EU-Außenminister mit dem Außenbeauftragten Javier Solana aus Brüssel nach Berlin schickte, am Tag nach dem Anschlag: „Solana unterrichtete über ein Telefonat mit US AM Powell, in dem dieser der EU für Erklärungen und angebotene Hilfe gedankt habe; US benötigte keine konkrete Hilfe, wohl aber politische Solidarität.“ Das hatte der damalige Außenminister der USA, Colin Powell, offenkundig zu Solana gesagt. Die uneingeschränkte Solidarität war eine deutsche Erfindung. Andere waren vorsichtiger. Am 21. September wurde ein EU-Sondergipfel anberaumt, in dessen Abschlussdokument dann die deut-
MARCO-URBAN.DE
Einem deutschen Oberst lastet ein Massaker unter afghanischen Zivilisten auf dem Gewissen. Osama Bin Laden, der Kriegsgrund, ist von US-Spezialeinheiten in einem Versteck in Pakistan, nicht Afghanistan, erschossen worden. Ursprünglich wollte man den Organisator des Grauens vom 11. September, den Terrorchef von al-Qaida, fangen. Jetzt geht es vor allem darum, nicht komplett das Gesicht zu verlieren. Der Satz von Peter Struck, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, seinerzeit eine Notformel, klingt hohl und leer und verbogen nach diesen zehn Jahren. War das alles schicksalhaft und unausweichlich? War der Einsatz „alternativlos“, wie die damalige Chefin der größten Oppositionspartei und heutige Kanzlerin
Berater Kujat, Steiner 2001: „Unerfüllbare Erwartungen“
Angela Merkel befand? Oder war Großmannssucht im Spiel, ein schlechtes Gewissen? Es stellt sich die Frage, ob dieser vermeintlich amerikanische Krieg nicht auch ein sehr deutscher Krieg ist, einer, der mit deutscher Gründlichkeit und in Verkennung eines entlegenen Landes auf die schiefe Bahn geriet. Ein Team von SPIEGEL-Redakteuren hat mit allen maßgeblich Beteiligten gesprochen, beim damaligen Bundeskanzler angefangen, und bisher unveröffentlichte Akten eingesehen. Für den SPIEGEL hat die Bundesregierung abweichend von der üblichen Sperrfrist von 30 Jahren interne Dokumente vorzeitig freigegeben: Vermerke aus dem Kanzleramt, Dutzende von Depeschen aus dem Auswärtigen Amt, Teile des Brief- und Telegrammverkehrs mit George W. Bush. Sie zeigen, wie wenig die Amerikaner an einer deutschen Unterstützung interessiert waren. 76
sche „uneingeschränkte Solidarität“ aufgenommen wurde. Gegenüber US-Botschafter Daniel Coats rühmte sich Schröder später, dass die Sondersitzung „wesentlich auf D-Initiative“ zurückgehe, wie es auf dem Sprechzettel zum Gespräch vom 1. Oktober heißt. Es erweist sich abermals: In der Politik ist nichts unausweichlich. Die Deutschen sind nicht in einen Krieg hineingezogen worden, sie haben sich selbst hineinbegeben. Es gab Antreiber auf deutscher Seite, politische und militärische. Die USA wollten die Hintermänner der Attentäter fassen, sie wollten Vergeltung, vielleicht auch einen weltweiten Feldzug gegen den Terror. Was sie aber nicht unbedingt wollten: deutsche Soldaten für Spezialeinsätze und Afghanistan besetzen, um daraus ein besseres Land zu machen. Das wollten die Deutschen. D E R
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Hinterher ist jeder klüger, und es wäre vermessen, die Entscheidungen von damals an den Erfahrungen von heute zu messen. Die standen den Handelnden nicht zu Gebote. Aber Tatsache ist: Es gibt Lehren, die zu ziehen sind, und ein kritisches Nachdenken, zehn Jahre danach. Auch das haben die Gespräche mit den Beteiligten offenbart. Es gab Mahnungen, Mahnungen zur Vorsicht, und es sind auch Fehler gemacht worden in den Tagen und Wochen nach dem Anschlag, vom 11. September bis Ende Dezember 2001, als die ersten deutschen Soldaten nach Afghanistan aufbrachen. Man hat sich in einem Land, das man nicht kannte, zu einem Einsatz verpflichtet, dessen Versprechungen man nicht einlösen konnte, obwohl die Geschichte lehrte, dass auf diesem Boden schon andere Mächte gescheitert waren. Um die Beteiligung an einem kriegsähnlichen Einsatz, der „Operation Enduring Freedom“ (OEF) zu legitimieren, stürzte man sich mehr als andere Nationen in den Stabilisierungseinsatz Isaf (International Security Assistance Force), der sich für Deutschland als der eigentlich verhängnisvolle erwiesen hat. Und in eine demokratische Beglückung eines Landes, das sich nicht beglücken lässt. Stationen eines Irrwegs. Oder: Wie Deutschland in einen unseligen Krieg zog. 11. September Washington, Deutsche Botschaft, kurz vor 9 Uhr Ortszeit: Harald Braun, Abteilungsleiter Politik in der deutschen Botschaft in Washington, weiß an diesem Morgen noch nicht, dass er heute Geschichte schreiben wird. Er will kurz seinen 49. Geburtstag feiern. In seinem Büro hat sich ein gutes Dutzend Mitarbeiter versammelt. Sie singen „Happy Birthday“. Plötzlich übertönt eine Stimme aus dem Gang den Geburtstagsgesang: „Schnell, CNN anstellen!“ Der Fernseher steht am Fenster, das den Blick freigibt Richtung Potomac. Auf dem Bildschirm erscheinen die Bilder vom Einschlag in den ersten Turm in New York, vor dem Fenster breitet sich kurz darauf ein Feuerball über dem Pentagon aus, dazu ein lauter Knall. Das dritte Flugzeug ist vor den Augen der Festgemeinschaft auf das amerikanische Verteidigungsministerium gestürzt. Harald Braun übernimmt die Leitung des Krisenstabs, er setzt mit seinem Stellvertreter Christoph Eichhorn einen Text auf, den ersten Drahtbericht der Botschaft nach der Katastrophe. Braun und Eichhorn lassen die Gedanken fliegen. Der Chef der beiden steht zur gleichen Zeit vor dem brennenden Pentagon. Botschafter Wolfgang Ischinger hat sich von seinem Fahrer dorthin bringen lassen, kommt bis auf fast 300 Meter heran, die Hitze des Feuers brennt in seinem Gesicht.
PAUL J. RICHARDS/EPA/AFP
US-Politiker Rumsfeld, Bush*: „Die haben jetzt anderes zu tun, als alle möglichen Anrufe anzunehmen“
Zurück in der Botschaft, schickt Ischinger den Drahtbericht „nr 1467“ nach Deutschland. „der größte terroranschlag in der us-geschichte bedeutet für us-politik und öffentlichkeit ein ,zweites pearl harbor‘.“ Im vorletzten Satz des ersten Absatzes findet sich ein Begriffspaar, das Flügel bekommen wird: „ohne zweifel“, heißt es da, „werden die usa von uns und anderen engen alliierten politisch und praktisch uneingeschränkte solidarität erwarten.“ Braun und Eichhorn haben diese Formulierung erfunden. Berlin, Kanzleramt, Büro von Gerhard Schröder, nach 15 Uhr: Im siebten Stock des Kanzleramts treffen bei Bundeskanzler Gerhard Schröder nach und nach Außenminister Joschka Fi* Vor dem zerstörten Flügel des Pentagon am 12. September 2001.
scher, Innenminister Otto Schily und Verteidigungsminister Rudolf Scharping ein. Fischer entwirft Apokalypsen, spricht von Pearl Harbor. Kein „Mikromillimeter Distanz“ zu den USA dürfe erkennbar werden, sagt Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye. Das ist auch Schröders Vorsatz: deutlich zu machen, dass Deutschland in Treue fest zu den USA steht. Das Wort von der uneingeschränkten Solidarität fällt nicht. Es muss sich aber schon in Schröders Kopf festgesetzt haben, denn es findet sich in dem Beileidstelegramm, das der Kanzler kurz vor 17 Uhr an Bush abschickt. Von einem Anruf sieht er ab. „Die haben jetzt anderes zu tun, als alle möglichen Anrufe anzunehmen“, sagt er seinen Leuten. In Brüssel speisen zur selben Zeit die Botschafter der Nato-Mitgliedstaaten mit Generalsekretär George Robertson, wie jeden Dienstag. Das Dessert ist serviert, D E R
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da wird US-Vertreter Nicholas Burns herausgerufen. Burns kommt mit der schrecklichen Nachricht zurück. Gerüchte machen die Runde. Passagiermaschinen seien im Anflug auf Brüssel und würden auf Anfragen des Bodenpersonals nicht reagieren. Noch ein Anschlag? Generalsekretär Robertson, ein bulliger Schotte, überlegt, ob er die Nato-Zentrale evakuieren lassen soll. US-Vertreter Burns hat seine Leute bereits nach Hause geschickt. Gebhardt von Moltke, Berlins Nato-Botschafter, bietet an, in die Bundesrepublik auszuweichen. Dort gebe es nicht weit von der belgischen Grenze eine ungenutzte Bunkeranlage. Nicholas Burns steht mit seinem kanadischen Kollegen David Wright im Vorzimmer von Robertson. Der studierte Historiker Burns sinniert, ob der 11. September als verlustreichster Tag seit dem amerikanischen Bürgerkrieg in die US77
Titel Geschichte eingehen wird. Da unterbricht ihn der Kanadier. „Zum Teufel, dies ist ein Bündnis!“, ruft Wright, „wir haben ja Artikel 5.“ Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ist das Rückgrat der Nato: Alle betrachten sich als angegriffen, wenn einer angegriffen wird. Ursprünglich sollte die Bestimmung die mächtigen USA verpflichten, den schwächlichen Europäern gegen die Sowjetunion beizustehen. Nun sollen also die Europäer der Supermacht helfen? Die umstehenden Nato-Bürokraten sind begeistert. Schließlich fragen sich viele, wozu die Nato noch gut ist. Jetzt hat sie eine Aufgabe. Den Amerikanern selbst wäre das gar nicht in den Sinn gekommen, sagt USVizepräsident Richard Cheney später. Das berichtet jedenfalls die deutsche Botschaft Washington in einem Drahtbericht vom 28. September: „Interessante Bemerkung VP Cheneys, US hätten von sich aus nicht an Befassung des Nato-Rats gedacht.“ Deutsches Fernsehen, zwischen 19 Uhr und 19.30 Uhr: In „RTL Aktuell“, bei „heute“ im ZDF und in einer Sondersendung der „Tagesthemen“ sagt Schröder: „Ich habe dem amerikanischen Präsidenten die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert.“ Andere sind vorsichtiger. Die österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner belässt es bei „uneingeschränktem Mitgefühl“.
Afghanische Anti-Taliban-Kämpfer*: „Militärschläge sind nie zivil“
Hanning bittet um eine abhörsichere Leitung, er möchte Steinmeier einweihen. Der Kanzleramtschef war bis zum Vortag im Urlaub. Als ihn die Nachricht vom Terroranschlag im Auto erreicht hatte, war er in ein Parkhaus gefahren, um in Ruhe zu telefonieren. Erst als er einen dumpfen Schlag hörte, dachte er an die Räder auf dem Autodach. Am nächsten Helsinki, Schwedisches Theater, 20 Uhr: Morgen flog er mit dem Hubschrauber Johannes Rau hat in seiner Suite im Hotel nach Berlin. Als er mit Hanning telefoeine Rede vorbereitet. Eigentlich sollte niert, will er zunächst nicht im Schwedischen Theater ein glauben, was dieser eine deutsch-finnisches Konzert ge„nachrichtendienstliche Perle“, geben werden. Der Bundespränennt. sident sagt, es gehe darum, Doch dann gibt Steinmeier „dem Hass zu widerstehen und die erste Pressekonferenz seider Nächstenliebe Raum zu nes Lebens. In den USA werschaffen. Wer nicht hasst, sagt den Präsident Bush Zusammenauch nein zur Gewalt“. Eine fassungen der Telefonmitschniteindeutige Mahnung, dem Gete vorgetragen. fühl der Vergeltung nicht blindDem Stolz folgt rasch die lings nachzugeben. Rau verSchmach. Ein Fax aus Washinglässt das Theater vorzeitig und ton geht bei der amerikanischen fliegt nach Berlin zurück. Botschaft in Berlin ein, die es an das Bundeskriminalamt wei12. September terleitet, von dort wird auch die Berlin-Mitte: Hamburger Polizei informiert. Dem Chef des BundesnachrichDas Fax besteht aus sechs tendienstes (BND), August Seiten und führt die Namen Hanning, wird bei einer Videoder Flugzeugentführer auf, darkonferenz ein sensationeller unter auch Mohammed Atta Fund präsentiert. Seine Leute und Marwan al-Shehhi. Es sei haben über Nacht zwei Telefo„wichtig festzuhalten, dass bei nate aufbereitet, die die FunkFernschreiben des Auswärtigen Amtes Marwan als Herkunftsland aufklärung des Dienstes in den Deutschland aufgelistet wird Stunden nach dem Anschlag Zwei Drahtberichte der Botschaften in Washington und bei der abgefangen hat. Darin unterEU belegen, wie das Wort von der „uneingeschränkten Solidarität“ halten sich Mitarbeiter der raentstand – und wie wenig Wert die Amerikaner darauf legten. * Bei der Beobachtung eines US-Bombardikalen saudi-arabischen Wohldements im Dezember 2001. 78
fahrtsorganisation Wafa in Kandahar mit ihren Brüdern in Kuwait. Was sie erzählen, kommt einem Geständnis gleich: Scheich Osama habe die USA wirklich hart getroffen. 20 Brüder hätten an der Operation teilgenommen, in vier Teams à fünf Leuten, jeweils ein Pilot und vier Kämpfer. Die Männer hätten vorher eine Flugausbildung in den USA absolviert und gewusst, wie sie die Maschinen steuern müssten.
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er weiß, dass Schröder die Zustimmung befürwortet. Robertson kann auf die Deutschen zählen. Die Nato erklärt den Bündnisfall für eingetreten, sollte sich erweisen, „dass dieser Anschlag aus dem Ausland gegen die Vereinigten Staaten gerichtet wurde“.
ERIK DE CASTRO / REUTERS
Islamabad, Deutsche Botschaft: Die Botschaft in Kabul ist zwar geschlossen, aber ein deutscher Diplomat befindet sich vor Ort. Er berichtet via Botschaft in Pakistan per Fernschreiben an Berlin: Die Stimmung in Kabul sei „ruhig“: Die Bevölkerung sei „wenn ueberhaupt nur marginal im bild“. Der Terroranschlag in den USA werde den Menschen von den Taliban als „inneramerikanische Angelegenheit“ dargestellt.
und Atta früher in Deutschland gelebt hat“, schreibt das FBI. Ein Mobiles Einsatzkommando der Hamburger Polizei stößt bald auf die Marienstraße 54. Die Dreizimmerwohnung im ersten Obergeschoss wird wenig später als TerrorWG weltberühmt. Die Bundesregierung sieht sich jetzt mit Vorwürfen konfrontiert, die deutschen Sicherheitskräfte hätten versagt. „Keiner dieser Vorwürfe hatte wirklich Substanz“, erinnert sich Schröder, „dennoch standen wir unter Druck.“ Brüssel, Nato-Hauptquartier, 7.30 Uhr: Nato-Generalsekretär Robertson liegt ein Resolutionsentwurf seiner Mitarbeiter vor. Sie wollen erstmals in der Geschichte der Nato den Bündnisfall ausrufen. Bush ist nicht begeistert, schließlich erinnern sich die Amerikaner mit Grausen an den Kosovo-Krieg 1999, als die Verbündeten verlangten, bei den Luftangriffen auf Serbien mitzureden. „War by Committee“ – Kriegführung durch Ausschüsse – nennen die Amerikaner das verächtlich. Washingtons Vertreter erklären, dass sie zwar geehrt seien und die Unterstützung begrüßten, sich eine Einmischung aber verbitten würden. In Berlin bekommt Hansjörg Geiger, Staatssekretär im Justizministerium, kurz vor 18 Uhr einen Anruf vom Kanzler. Ob er mal schnell rüberkommen könne, um die Frage des Bündnisfalls rechtlich einzuschätzen: „Ich will eine Bewertung“, sagt Schröder. Geiger findet gerade noch jemanden, der ihm den Wortlaut
des Nato-Vertrags in die Hand drücken kann. Er liest ihn auf dem Weg ins Kanzleramt. Im Kabinettssaal ist der Bundessicherheitsrat versammelt, alle vertiefen sich in den Text. „Das kann man als Bündnisfall sehen“, sagt Geiger, es ist die Auskunft, die Schröder hören will. Keiner widerspricht. Moltke, Berlins Vertreter bei der Nato, erhält zwar aus dem Auswärtigen Amt die Weisung, sich nicht festzulegen. Aber
Die Bundeswehr in Afghanistan Masari-Scharif WEST Italien
200 km
SÜDWEST USA
NORD Deutschland Faizabad Kunduz KABUL Türkei OST USA
SÜD USA
Isaf-Regionalkommandos in Afghanistan Stand: August 2011
bis zu 5350 Soldaten im Rahmen der internationalen Schutztruppe Isaf; das Bundestagsmandat gilt bis zum 31. Januar 2012 Januar 2002 Beginn des Einsatzes seit Mitte 2006 Kommando in der Nordregion April 2007 bis November 2010 Beteiligung an der Luftaufklärung über ganz Afghanistan („Tornados“) Juli 2008 bis Oktober 2010 Deutschland stellt die schnelle Eingreiftruppe in der Nordregion seit März 2011 Beteiligung an AwacsAufklärungsflügen über Afghanistan D E R
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14. September, Berlin, 17 Uhr: 200 000 Menschen sind auf den Pariser Platz gekommen, um eine Rede von Bundespräsident Rau zu hören. Schröder und Fischer stehen neben ihm. Am Tag zuvor saß Rau mit seinen vier engsten Mitarbeitern im Repräsentationsbüro im Schloss Bellevue und ging den Redenentwurf für seinen großen Auftritt durch. „Ich will da noch was drin haben“, sagte Rau. Er suchte das Gegengift gegen die uneingeschränkte Solidarität, einen Begriff, „der Rau nie über die Lippen gekommen wäre“, wie es einer der Beteiligten formuliert. Auf dem Platz sagt Rau, die Attentäter seien „Mörder, nichts sonst“ – eine bewusste Abkehr von der Kriegslogik: „Hass darf uns nicht zum Hass verführen. Hass blendet.“ Raus Botschaft: keine Waffen, keine Gewalt. Schröder verlässt die Bühne. SPDFraktionschef Struck fragt ihn: „Was war das denn?“ Eine rhetorische Frage. Das ist ein offener Konflikt zwischen Kanzler und Präsident, und er geht weiter. Rau sagt zwei Tage später im Deutschlandfunk, man dürfe sich nicht „in den Krieg hineinreden“. Schröder reagiert abends im ZDF: „Die Richtlinien werden vom Bundeskanzler bestimmt. Und der hat von uneingeschränkter Solidarität gesprochen, und das heißt auch: militärischen Beistand.“ Im Kanzleramt bringt Hanning Steinmeier auf den neuesten Stand. Die beiden fürchten noch immer, dass al-Qaida weitere Anschläge in Europa plant. „Welche Terroranschläge sind überhaupt möglich auf einer nach oben offenen Richterskala?“, diese Frage diskutieren Hanning und Steinmeier. Selbst wenn es keine konkreten Hinweise gibt: Deutschland fühlt sich ebenfalls verwundbar, und dieses Gefühl trägt dazu bei, dass gesunde Reflexe des politischen Apparats in diesen Tagen außer Kraft gesetzt sind. 79
Titel
19. September Berlin, Reichstag, 9 Uhr: Gerhard Schröder gibt seine zweite Regierungserklärung über den Umgang mit dem Terroranschlag. „Zu Risiken“, sagt er, „auch im Militärischen, ist Deutschland bereit, aber nicht zu Abenteuern.“ Er hat diesen Satz zwei Abende zuvor von Hand in sein Redemanuskript eingefügt, nachdem er im Kanzleramt mit Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt diskutiert hatte. Es ist die erste Relativierung der uneingeschränkten Solidarität. Nach seiner Rede nimmt Schröder Harald Kujat zur Seite. Kujat ist Generalinspekteur der Bundeswehr, Deutschlands oberster Soldat. Was Deutschland konkret anbieten könne, will der Kanzler wissen. Kujat zählt auf: Aufklärungs-„Tornados“, Drohnen, ABC-Abwehr und das Kommando Spezialkräfte, eine Eliteeinheit, der Stolz der Bundeswehr. Kujat ist Schröders erster Ansprechpartner in Militärfragen. Ein Mann von hoher Intelligenz, politischem Instinkt und brennendem Ehrgeiz. Kujat will Vorsitzender des Nato-Militärausschusses werden, die höchste Position, die ein Soldat in der Nato erreichen kann. Er möchte zeigen, was er kann und was die Bundeswehr kann. 26. September Berlin, ehemalige Kanzlerdienstvilla, Pücklerstraße 14, 23 Uhr: Schröder sitzt mit seinen Ministern Fischer und Scharping, seinem Sicherheitsberater Steiner und Generalinspekteur Kujat in seiner alten Residenz. Eine Art Tabakskollegium. Es gibt viel Wein und reichlich Zigarren. Es geht um Bodentruppen für Afghanistan. Kujat kommt manchem an diesem Abend sehr ambitioniert vor. Er redet von zwei Brigaden, die Deutschland stellen könne. Zwei Brigaden sind bis zu 4200 Mann. Als Kujat die Runde verlässt, sagt Scharping zu Schröder, wenn das ernst gemeint gewesen sein sollte mit den zwei Brigaden, dann müsse er, Scharping, ihm, Schröder, noch in dieser Nacht einen Brief schreiben. Es ist eine Rücktrittsdrohung, die Schröder nicht als Drohung begreift. Scharping sieht einen Kriegseinsatz der Bundeswehr skeptisch, aber den Brief schreibt er nicht. 80
30. September Washington, Weißes Haus: Planungstreffen der US-Regierung. „Die Aussies, die Franzosen, die Kanadier und die Deutschen wollen helfen“, sagt Condoleezza Rice, Bushs Sicherheitsberaterin. „Sie wollen alles machen, was sie tun können.“ Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bleibt reserviert: „Wir wollen sie beteiligen – wenn es geht.“ Und wenn es nicht stört. Er will sich keine Rollen für die ausländischen Streitkräfte ausdenken, nur um sie zu betei ligen. Der designierte Generalstabschef Richard Myers schlägt sich auf die Seite von Rice: „Wir werden ein Papier verfassen, aus dem hervorgeht, um was wir sie bitten wollen. Wir wissen, dass das eine politische Angelegenheit ist.“
THOMAS GRABKA / ACTION PRESS
15. September Hannover: Michael Steiner, der Sicherheitsberater des Kanzlers, fährt am Wochenende zu Schröder nach Hause. Die beiden kennen sich gut, duzen sich, zwei vom gleichen sanguinischen Temperament. Kein Staat dürfe bedingungslos zu allem ja sagen, findet Steiner. Sonst überschreite Schröder die Grenzen dessen, was er aus nationalem Interesse tun dürfe. Das Gespräch endet in einem Wutausbruch Schröders.
Bundespräsident Rau (r.)*
„Hass blendet“
Wenige Tage später besucht Schröders Sicherheitsberater Steiner mit zwei Kollegen aus dem Kanzleramt die US-Regierung in Washington. Es geht um das deutsche Angebot für den Einsatz in Afghanistan. Vor dem Abflug fragte Steiner Schröder und Fischer, was er anbieten könne. Alles, lautete die Antwort. Die deutschen Beamten bleiben drei Tage lang. Nach dem Gespräch mit seiner Kollegin Rice hat Steiner den Eindruck: Die wollen gar nicht. Deutschland – unwichtig. Stattdessen reden die Amerikaner über den möglichen Einsatz von taktischen Nuklearwaffen in Afghanistan. Die uneingeschränkte Solidarität, das däm* Bei Solidaritätskundgebung vor dem Brandenburger Tor am 14. September 2001. D E R
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mert Steiner, sie ist willkommen, aber operativ unerheblich. Die Diplomaten im Auswärtigen Amt haben auch nicht den Eindruck, dass die deutsche Solidarität mit amerikanischer Kooperationsbereitschaft vergolten wird. In einem Vermerk vom 2. Oktober über eine „Hausbesprechung“ von Nato-, EUund Uno-Experten heißt es: „Möglichkeit einer Hinwendung der USA zu Multilateralismus allgemein skeptisch beurteilt.“ Deutschland müsse sich in Fragen internationaler Zusammenarbeit „weiter auf Gegenwind aus Washington einstellen“. 4. Oktober Berlin, Kanzleramt: Schröder unterrichtet die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien über den Stand der Dinge. Auf dem Sprechzettel des Kanzlers ist vermerkt: „US-Regierung hat uns gegenüber deutlich gemacht, dass sie sich bewusst ist, welche Möglichkeiten D zu militärischer Hilfeleistung hat. Will uns nicht überfordern. Für USA steht politische Tatsache der Unterstützung durch Nato im Vordergrund.“ Das ist die Absolution: Deutschland ist raus, Deutschland muss gar nichts. 7. Oktober Berlin, Kanzleramt, 18 Uhr: Bush ruft bei Schröder an und sagt, dass der Feldzug in Afghanistan gleich beginne. Schröder ist bereits vorgewarnt. Zwar haben die Amerikaner die Deutschen nicht in ihre Vorbereitungen eingeweiht, aber der BND hat sich die Informationen über Umwege beschafft, aus abgehörten Gesprächen, von der Nordallianz und anderen eigenen Quellen. Kurz darauf fallen die ersten Bomben auf Afghanistan. 9. Oktober Washington, Weißes Haus: Zwei Tage nach Beginn des Bombardements bekommt Schröder einen Termin bei Bush. Im Oval Office sitzen der Kanzler und der Präsident 40 Minuten lang zusammen. Schröder fragt, wie die Militäroperation laufe. Bush spannt seinen Körper, hebt den Arm in die Luft und senkt ihn langsam, während er mit ausgestrecktem Zeigefinger nach vorn weist: „I have a mission!“ Hinterher sagt Bush über Schröder: „Es gibt in dieser Koalition keinen standfesteren Freund, ich bin stolz, ihn hier zu haben!“ 15. Oktober Berlin, Verteidigungsministerium, 15 Uhr: Im Büro des Generalinspekteurs Kujat trifft ein Fax seines amerikanischen Counterparts Myers ein. „REQUEST“ steht in Versalien darauf. Es ist die Bestellung, die die beiden Generäle vorher
Titel
KSK-Soldaten in Afghanistan: „Großzügiges Angebot Deutschlands“
diskret abgestimmt hatten. Sie enthält noch keine Bitte um Spezialkräfte. Schröder sagt bei einem Betriebsbesuch in Darmstadt, „schon in Kürze“ werde man militärisch mehr leisten müssen als bisher. Bisher: Das sind 299 deutsche Wachsoldaten vor zehn amerikanischen Liegenschaften auf deutschem Boden. Dazu kommen 177 Feldjäger, die in Wohngegenden der Amerikaner patrouillieren. Wenige Tage später beginnen die USA in Afghanistan die Bodenoffensive. In Deutschland ist die Stimmung inzwischen gekippt. Die Bombardements haben nach Angaben der afghanischen Nachrichtenagentur AIP bereits einige hundert zivile Tote gefordert. Günter Grass hat erklärt: „Militärschläge sind nie zivil.“ Die Grünen fordern einen Bombenstopp, in der SPD regt sich Widerstand. Ottmar Schreiner, der Parteilinke, beschreibt ein „wachsendes Unbehagen“ in der Fraktion. In Berlin und Stuttgart gehen Zehntausende Menschen gegen den Einsatz auf die Straße. Es ist die Gegenveranstaltung zur Solidaritätskundgebung vom 14. September.
ghanistan-Berater von Bush in dessen Büro. Zalmay Khalilzad ist gerade erst eingezogen, das Gespräch findet inmitten von Umzugskisten statt. Braun fragt Khalilzad nach dem „Post-Taliban“-Konzept der USRegierung. Es gebe noch keins, sagt Khalilzad. „Wenn ihr Ideen habt – her damit!“ Frieden stiften, das ist eine willkommene Aufgabe für die Deutschen. Braun ruft sofort daheim im Auswärtigen Amt an. Dort setzen die Beamten sich zum
25. Oktober Maskat, Sultanat von Oman: Michael Steiner ist auf geheimer Mission in der Hauptstadt des Sultanats Oman. Es geht darum, den Boden zu bereiten für die 100 deutschen Soldaten des Kommandos Spezialkräfte KSK, die sich am Golf auf ihren Einsatz vorbereiten sollen. 5. November Berlin, Kanzleramt: Bei Steiner trifft ein Brief des amerikanischen Gesandten Terry Snell ein, in dem die USA auf das „großzügige Angebot Deutschlands, Streitkräfte zur Verfügung zu stellen“, eingehen. Im Unterschied zur militärischen Fax-Anfrage von Myers an Kujat ist diesmal „eine Einheit von Spezialkräften“ mit aufgeführt.
Schröders Sprechzettel
Mitte Oktober, Washington: Harald Braun, einer der Urheber der uneingeschränkten Solidarität, besucht Mitte Oktober in Washington den neuen Af-
Brainstorming zusammen und entwickeln Ideen. Eine Woche später trägt eine AADelegation bei Khalilzad vor. Sie regt eine Afghanistan-Konferenz mit allen Beteiligten an; diese wird später in Deutschland stattfinden. „Das war die Geburtsstunde der Konferenz von Petersberg“, erinnert sich ein Diplomat.
Aus den Unterlagen des Kanzleramts geht hervor, dass die USA keinen besonderen Wert auf militärische Beiträge Deutschlands legten. Für die USA stehe die „politische Tatsache der Unterstützung durch Nato im Vordergrund“. D E R
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6. November Berlin, Kanzleramt, 9 Uhr: Der Bundessicherheitsrat kommt zusammen, danach geht Schröder vor die Presse. Bis zu 3900 81
MICHAEL KAPPELER / DAPD
Deutsche Feldjäger in Masar-i-Scharif: Der Aufbau des Landes war vor allem eine deutsche Mission
Das Bundeskabinett beschließt andern- Schily warnt: Man solle nicht so tun, als Soldaten würden bereitgestellt, um die USA ihren Anforderungen entsprechend zu un- tags die 3900 Soldaten als deutschen Bei- seien die bewaffneten Auseinandersetterstützen. Darunter sind 100 Soldaten vom trag für die „Operation Enduring Free- zungen schon vorbei. Jetzt mischt sich Sachpolitik mit ParKSK. Das ist die einzige Komponente für dom“. Scharping, der Vorsichtige, sagt: Afghanistan. Die anderen Soldaten sollen „Es steht kein Flächeneinsatz am Boden teipolitik. Die Regierungsspitze regidie Seewege am Horn von Afrika bewachen an.“ Schily will wissen, was es mit Rums- striert: Ein Überbau muss her, eine Erund für den Fall eines ABC-Kriegs in Ku- felds Bemerkung auf sich hat. Fischer liest zählung. Sie handelt von einem geeine von den Deutschen erbetene Erklä- schundenen Land am Hindukusch, dem wait bereitstehen. „Wir fragten nicht nach bestimmten spe- rung Rumsfelds vor. Rumsfeld beruft sich geholfen werden muss, einem Land, in zifischen Dingen“, sagt Donald Rumsfeld darauf, eine unklare Frage gestellt bekom- dem Frauen unterdrückt werden und Demokratie nicht stattfindet. Es ist eine auf eine missverständliche Frage nach men zu haben. sehr deutsche Erzählung, aus der ein 3900 deutschen „Special Forces“. Steiner sehr deutsches Projekt wird. „Wir sind sieht die Agenturmeldungen und alar- 9. November bereit, zum Wiederaufbau des Landes miert Schröder. „Sieh zu, dass die das rich- Washington, Deutsche Botschaft: tigstellen“, knurrt Schröder. Bliebe Rums- Die Vorschläge des AA zu einer Neuord- nach mehr als zwei Jahrzehnten Krieg felds Aussage so stehen, fiele die Legende nung Afghanistans nach dem Krieg erhal- und Zerstörung beizutragen, zu einem von der dringenden Anfrage der Ameri- ten Rückenwind. In einem Bericht an Ber- neuen Afghanistan“, lautet Fischers kaner nach dem KSK in sich zusammen. lin meldet die Botschaft: „Ihre ursprüng- Maxime. Was sich so gut und helfend anhört, ist Im Bundestag wächst die Kritik am liche Zurückhaltung mit Blick auf die podeutschen Beitrag. In einer Fraktionssit- litische Zukunftsgestaltung AFGs haben die Selbstüberforderung. Zuerst redet die zung der Grünen kommt es zum Eklat. die USA erfreulicherweise aufgegeben.“ Regierung sich in einen Krieg hinein, dann Antje Vollmer greift Schröder und damit Das täten die Amerikaner vor allem, um beginnt sie, sich in eine unmögliche Misindirekt auch Fischer frontal an. Die Bun- den stockenden Krieg noch vor dem Win- sion von Wiederaufbau und Friedenssidestagsvizepräsidentin spricht sich dage- ter zu gewinnen. „Die Präsentation einer cherung hineinzureden. Um die Entsendung von 100 Kommangen aus, nur mit Gewalt auf Terrorismus politischen Zukunftsperspektive“ könnte zu reagieren. Das würden die Grünen seit nach US-Sicht dazu beitragen, „inneraf- dosoldaten zu rechtfertigen, werden bald den Zeiten der RAF sagen. Sie verlangt, ghanische Absetzbewegungen von den 1200 deutsche Isaf-Friedenssoldaten hinterhergeschickt. Das Versprechen des die Skepsis ihrer Partei müsse sich in Taliban in Gang zu bringen“. „neuen Afghanistan“ nötigt Berlin später Nein-Stimmen niederschlagen. Fischer dazu, immer mehr Soldaten zu schicken packt seine Aktentasche und stürzt aus 14. November und in blutige Kämpfe zu verwickeln. Die dem Saal: „Wenn ihr da nicht mitmacht, Berlin, Kanzleramt, Kabinettsaal, 9 Uhr: Im Kabinett wird schon über den nächs- 100 Spezialkräfte dagegen kommen kaum könnt ihr euren Kram alleine machen.“ Peter Struck vermeldet dem Kanzler ten Einsatz, Isaf, gesprochen, obwohl der zum Einsatz. ebenfalls wachsenden Widerstand in der erste, OEF, noch gar nicht vom Bundestag Die Regierung arbeitet in dieser entSPD-Bundestagsfraktion. Die Abstim- beschlossen ist. Schröder sagt zu Entwick- scheidenden Phase mit Versprechungen mung über das OEF-Mandat ist für den lungsministerin Heidemarie Wieczorek- und mit eisernem Druck. Es geht auch um 16. November angesetzt, die eigene Zeul und Joschka Fischer, sie sollten vor den Nachweis, handlungsfähig zu sein. Mehrheit in Gefahr. Parteitage von SPD der Presse klarmachen, wie es um die Der „starke Kanzler“ sei ziemlich Lage der Menschen in Afghanistan stehe. schwach, schreiben die Zeitungen. Die und Grünen stehen vor der Tür. 82
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Gefahr in den Bergen Wie der Bundesnachrichtendienst dem heutigen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai Ende 2001 das Leben rettete
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ie Mission, die Hamid Karzai im Herbst 2001 nach Afghanistan führte, war lebensgefährlich. Karzai, einer der Hoffnungsträger des Westens, hatte sein Exil im pakistanischen Quetta verlassen und war auf dem Weg in die Provinz Oruzgan. Dort wollte er mit Stammesältesten zusammentreffen, die bis dahin die Taliban unterstützt hatten. Die Clanchefs sollten zu Karzai überlaufen und damit den Fall des Regimes beschleunigen. Das Treffen war für den 4. November 2001 angesetzt. Doch in den unwegsamen Bergen in Zentralafghanistan erwarteten Karzai nicht die erhofften Überläufer, sondern schwerbewaffnete Einheiten der Taliban, die offenbar gezielt auf den Gast gewartet hatten. An die 700 Kämpfer, melden später Nachrichtenagenturen, hätten Karzai und seinen Begleitern aufgelauert. Der spätere afghanische Präsident sei nur knapp entkommen. Zehn Jahre danach enthüllen bislang unbekannte Geheimdienst-Informationen, dass es offenbar der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) war, der Karzai damals das Leben rettete. Am 1. November, so geht es aus den Aufzeichnungen des BND hervor, hatten die Funkaufklärer des Geheimdienstes ein Gespräch mitgehört, das zwei Kommandeure von Taliban-Chef Mullah Omar miteinander führten. Einer der beiden gab dabei eine Weisung von Mullah Omar weiter, die sich auf Karzai bezog. Offenbar hatten die Taliban herausgefunden, wann Karzai in Oruzgan eintreffen wollte, sie kannten präzise seine Pläne. Man möge mit dem „Freund der Amerikaner“ genauso verfahren „wie mit Abdul Haq“, sagte einer der beiden Taliban, das sei ein Befehl von Mullah Omar. Der Paschtune Abdul Haq, ein wichtiger Verbündeter der amerikanischen Regierung, war einige Tage zuvor ebenfalls nach Oruzgan gereist, um mit den Stammesfürsten zu verhandeln. Am 26. Oktober hatten ihn die Taliban gefangen genommen. Die amerikanische Luftwaffe war Abdul Haq zwar
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zu Hilfe geeilt und hatte Stellungen der Taliban bombardiert, konnte aber nicht verhindern, dass er öffentlich hingerichtet wurde. Als die Auswerter des Bundesnachrichtendienstes in Pullach erkannten, welche Brisanz das abgehörte Gespräch vom 1. November 2001 hatte, informierten sie sofort die US-Armee. Sie hatte Karzai zwar seit Mitte Oktober 2001 Sicherheitsberater der Special Forces zur Seite gestellt, ahnte aber nichts von der Gefahr in den Bergen. Der Alarm kam gerade noch rechtzeitig. Die Taliban hatten Karzais Kämpfer bereits unter Beschuss genommen, als amerikanische Kampfhubschrauber auftauchten, Karzai retteten und nach Karatschi ausflo-
Präsident Karzai (r.), Personenschützer
Alarm aus Pullach
gen. Am nächsten Tag berichtete der damalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Reportern von der dramatischen Rettungsaktion, ohne allerdings den deutschen Anteil zu erwähnen. Karzai selbst kaschierte die Hilfe des Westens mit einer Legende. Nicht die Amerikaner hätten ihm geholfen, sondern ein freundlicher Dorfbewohner, der ihn an jenem Tag vor dem geplanten Hinterhalt gewarnt habe. Daraufhin sei er mit seinen engsten Gefolgsleuten drei Tage zu Fuß durch die Berge geflohen, nur mit etwas Brot und grünem Tee als HOLGER STARK Proviant.
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Zerstörter Tankwagen bei Kunduz*: Einem deutschen Oberst lastet ein Massaker unter afghanischen Zivilisten auf dem Gewissen
Lektüre beeindruckt Schröder, der Widerstand in den Fraktionen auch. Für die Abstimmung über den deutschen Beitrag zu OEF beschließt er, die Vertrauensfrage zu stellen: „Es geht nicht anders. Ich lasse mir das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen.“
der Begrüßung sagt Bush: „Gerhard, ich weiß genau, was du im November getan hast, sehr mutig.“
27. November Petersberg bei Bonn: Deutschland ist Austragungsort einer großen Friedenskonferenz für Afghanistan. „Die Ausrichtung der Konferenz in 16. November Bonn reflektiert das breite Engagement Reichstag, Plenarsaal, 12.30 Uhr: Der Bundestag spricht mit 336 von 662 Deutschlands“, heißt es in einem Papier Stimmen Schröder das Vertrauen aus und des AA, „aber auch unsere unparteiische ebnet den Weg für den ersten Kampfein- Rolle gegenüber allen Beteiligten.“ Die satz der Bundeswehr außerhalb Europas. Kosten des Aufbaus werden auf 6,5 MilSchröder sagt: „Durch diesen Beitrag liarden Dollar in fünf Jahren beziffert, kommt das vereinte und souveräne „die größte internationale Aufbauhilfe Deutschland seiner gewachsenen Verant- nach dem Marshallplan“. wortung in der Welt nach.“ Fischer eröffnet die Petersberg-KonfeNach der Abstimmung ruft Schröder renz und sagt, die Uno habe Deutschland Botschafter Ischinger in Washington an. Er will sicherstellen, dass dort etwas ankommt von seinem Mannesmut: „Wissen die bei Ihnen überhaupt, was ich hier geBilanz des deutschen rade gemacht habe?“ Ischinger: „Mir Engagements in Afghanistan* ist schon klar, Sie haben gerade das Mandat durchgesetzt.“ Schröder: bisher eingesetzte „Das ist ja großartig, dass Sie das über Soldaten wissen, aber wissen die das auch im Weißen Haus?“ Ischinger: „Ich Todesopfer habe verstanden, was Sie von mir erwarten. Ich mache mich auf die Socken.“ rund Verletzte Zehn Wochen später wird SchröSchwer traumatisierte der ein zweites Mal nach dem 11. über Soldaten ** September bei Bush in Washington Kosten zu Gast sein. Schon in der Tür bei
Hoher Einsatz
98 000 52 200 1800
von 2001 bis 2010
* Nach einem von Deutschen befohlenen Bombardement am 4. September 2009.
rund
4,8 Mrd. €
* im Rahmen der internationalen Schutztruppe Isaf ** in Behandlung wegen posttraumatischer Belastungsstörung Quellen: BMVg, Bundestag
gebeten, Gastgeber zu sein. Ein Diplomat formuliert es anders: „Das war eine FischerSache. Der wollte einen Überbau.“ Nach einem Fernschreiben der Botschaft Doha vom 19. November habe sich auch der Emir von Katar als „großzügiger Gastgeber“ ins Spiel gebracht; die Uno dagegen habe „Wien oder Genf als Konferenzort“ favorisiert. Fischer sagt, die Staatengemeinschaft habe „klare Erwartungen“ an Afghanistan: „Dazu gehört an vorderster Stelle, den Frauen ihre Rechte und Würde zurückzugeben.“ Die Bush-Regierung hat zwar mittlerweile zur Freude der Deutschen eingesehen, dass sie sich auch um die Zukunft Afghanistans nach dem Krieg kümmern muss. Sie zeigt aber keine Neigung, das Land zu einem neuen Musterstaat aufzubauen. „Nation Building“ mit Soldaten wie im Kosovo hält Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice für Unfug. Die Amerikaner wollen Bin Laden fangen, wo immer er steckt, und sie wollen sich rasch den nächsten angeblichen Terrornestern zuwenden. Man habe im Golfkrieg 1991 den „Fuß von Saddams Gurgel genommen“, das werde den USA nicht noch mal passieren, hat Bushs Berater Khalilzad einem deutschen Diplomaten gesagt. Die Deutschen haben auf dem Petersberg zunächst nur eine Gastgeberrolle, sie sitzen nicht am Tisch, an dem verschiedene afghanische Gruppierungen miteinander verhandeln, sondern kümmern sich um die Getränke. Aber sie werden vom Kellner zum Koch: Sie bieten ihre Dienste beim Wiederaufbau 85
JAN GRARUP / NOOR / LAIF (L.); SYED JAN SABAWOON / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (R.)
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, Isaf-Kräfte, Politiker Westerwelle, Merkel*: Die Deutschen sind nicht in einen Krieg hineingezogen
des Kommandos Spezialkräfte. Es ist sein den Ehrgeiz, die Obergrenze auszuschöperster Kriegseinsatz. Deshalb nennen sei- fen“ – die bei sechs Monaten liegt. In der Opposition regt sich Skepsis. ne Kameraden und er sich „Task Force One“. 40 deutsche Kämpfer, sogenannte Von einem „diffusen Mandat“ spricht RoShooter, und 60 Unterstützer, Fernmelder land Claus von der PDS. Die Abgeordneten stimmen mit 538 Jaund Logistiker. Sie landen auf einer Luftwaffenbasis der Amerikaner auf der Insel und 35 Nein-Stimmen für den Einsatz. Masira im Sultanat Oman. Willkommen Nach der Stimmabgabe leert sich das Plesind sie nicht. In brütender Hitze bettelt num schnell. Er wünsche „denjenigen, S. bei den Amerikanern um Unterkünfte. die jetzt fluchtartig das Haus verlassen, Anfang Dezember Seine Männer trainieren mit den ameri- ein frohes Weihnachtsfest“, ruft BunBerlin, Büro des Außenministers: Fischer eröffnet dem deutschen Diploma- kanischen Soldaten. Aber nach ein paar destagspräsident Wolfgang Thierse in ten Klaus-Peter Klaiber, dass er ihn als Tagen ist klar: Oman ist das Abstellgleis. den Saal. Der Grüne Winfried NachtEU-Beauftragten für Afghanistan vor- „In Oman können wir Däumchen dre- wei schreibt in sein Tagebuch: „Ziemschlagen wird. Der Diplomat ist darüber hen“, meldet der Kontingentführer nach liche Lustlosigkeit, angefangen beim Kanzler. Danach Flucht in die Weihkreuzunglücklich, daran ändern alle gro- Deutschland. nachtspause.“ ßen Worte des Ministers nichts. Er will Das Mandat umfasst Kabul und den auf seinen neuen Posten nach Australien, 13. Dezember Flughafen der Stadt. Kujat hat Wert daFrau und Sohn sind schon in Canberra. Kabul, Kinderbildungsstätte Aschiana: „Das ist doch der Wilde Westen im Os- Als erstes deutsches Regierungsmitglied rauf gelegt, dass die Truppe robust ist. ten“, sagt Klaiber. Fischer stellt ihm die besucht Entwicklungsministerin Wieczo- „Es kann nicht sein, dass wir da nur TeleDiplomatin Ursula Müller als Spezialistin rek-Zeul den designierten Regierungs- fonhäuschen bewachen“, sagt er einem für Frauenfragen zur Seite. Die Zukunft chef Karzai und eine Schule in Kabul, Vertrauten. Klaiber ist seit einigen Tagen in Kabul. der Frauen in Afghanistan sei für die deut- die nun auch wieder Mädchen besuchen sche Öffentlichkeit „ganz entscheidend“. dürfen. Dort bestellt sie den Mädchen Es ist so trostlos wie angenommen. Die die „herzlichsten Grüße der Kinder der Menschen seien mitnichten euphorisch, Bundesrepublik“. Sie komme bald wie- sondern „pragmatisch“, berichtet er. Und 5. Dezember der. Die Welt werde die Augen von Af- ihm schwant: „Diese Präsenz wird länPetersberg bei Bonn, 9 Uhr: Mit einem Hubschrauber des Bundes- ghanistan und seinen Frauen nicht mehr gerfristig notwendig sein.“ grenzschutzes fliegen Schröder und Fi- abwenden. 1. Januar 2002 scher von Köln/Wahn zur VertragsunterKandahar, nach Mitternacht: zeichnung auf den Petersberg. Schröder 22. Dezember In der Silvesternacht fliegen 100 deutsche durchzuckt angesichts der bunten Schar Berlin, Reichstag: aus Afghanistan die Vorstellung, dass Der Bundestag beschließt die Entsen- Soldaten nach Kandahar im Süden Afmancher Gast zu Hause sofort wieder zur dung von maximal 1200 Soldaten nach ghanistans. Die Verantwortlichen in Kalaschnikow greift. Aber er sagt: „Heute Kabul für Isaf, „wobei wir davon ausge- Deutschland werden später behaupten, ist ein großer Tag für Afghanistan.“ hen, dass wir nicht unbedingt alle brau- das KSK habe damit auf eine Bitte der Schröder verspricht deutsche Soldaten chen“, sagt Schröder in der Debatte. Amerikaner reagiert. Davon spüren die Scharping ergänzt, man habe „auch hin- deutschen Elitekämpfer nichts. Erst nach für die Friedensmission. sichtlich der Dauer des Einsatzes nicht zähen Verhandlungen waren die amerikanischen Kameraden bereit, die 100 10. Dezember * Mitte: am Tatort eines Selbstmordattentats, bei dem deutschen Soldaten ins Einsatzland zu Masira, Sultanat Oman: am 14. November 2005 in Kabul ein Bundeswehrsoldat Kompaniefeldwebel S. fliegt über Kreta getötet wurde; rechts: bei Trauerfeier für getötete deut- bringen. Jetzt sitzt Feldwebel S. schwitzend auf dem Boden einer C-130 „Herund Luxor nach Oman. Er ist Elitesoldat sche Soldaten im April 2010. an, denn sie glauben: Je mehr sie die Amerikaner an Afghanistan binden, desto unwahrscheinlicher werden die nächsten Abenteuer. In der Innenpolitik dient die Konferenz der Bundesregierung als Symbol dafür, dass der Krieg einen höheren Sinn hat: Die Afghanen können ihr Land neu aufbauen, dank deutscher Hilfe.
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REUTERS
Titel
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cules“, eingequetscht zwischen seinen Männern. Nachts landen sie zwischen zerbombten russischen Hubschraubern und Flugzeugen. Die Männer vom KSK sind die ersten deutschen Soldaten auf afghanischem Grund. Deutschland ist nun dabei und bleibt dabei. 26 deutsche Isaf-Kontingente mit insgesamt mehr als 98 000 Soldaten haben sich inzwischen in Afghanistan abgewechselt. Bald werden alle abgezogen sein, mehr oder weniger unverrichteter Dinge. Bis heute. Was bleibt, zehn Jahre nach dem Tag, mit dem alles begann? Die uneingeschränkte Solidarität, von vornherein übertrieben, hat sich erledigt. Die USA haben ihren Feind Osama Bin Laden erschossen, im Nachbarland Pakistan. Ironie der Geschichte. Die brutale Herrschaft der Taliban wurde zwar beendet, aber Afghanistan ist nicht das Land geworden, das sich der Westen erträumt hatte: In vielen Landesteilen tobt der Krieg, und in Kabul herrscht ein korruptes Regime. Die Taliban bauen ihren Einfluss wieder aus. Das ist ein Ergebnis, mit dem alle leben müssen, die sich beteiligt haben. Der Misserfolg hat viele Väter. Aber Erfolg bemisst sich nicht nur absolut. Er bemisst sich auch relativ. Die USA haben Afghanistan wenig versprochen. „Nation building“ war nicht ihre Mission, sie orientierten sich rasch nach dem Sieg Richtung Irak. Auch die Vereinten Nationen strebten nur einen „leichten Fußabdruck“ an. Die Deutschen dagegen haben viel versprochen: Frieden, Frauenrechte, Demokratie. Ein Land wiederaufzubauen, das war vor allem eine deutsche Mission. Niemand hat sich so verrannt im humanitären Übereifer wie die Deutschen. Re-
lativ hat Deutschland am meisten versprochen und ist also am deutlichsten gescheitert. Dennoch hat der Norden Afghanistans von der deutschen Mission profitiert: ein wenig Stabilität, ein wenig Alltag mit Lernen, Geschäfte machen, Äcker bestellen. Aber Aufwand und Ertrag stehen in keinem vertretbaren Verhältnis. Deutschlands Landesverteidigung am Hindukusch, wie sie Struck ausgerufen hat, war nicht nötig und hat auch nicht stattgefunden. Deutschland, im September 2011: Harald Kujat hat sich in einem entlegenen Winkel nahe Neuruppin zur Ruhe gesetzt und züchtet Pferde. Er ist zwischenzeitlich Vorsitzender des Nato-Militärausschusses gewesen, drei Jahre lang oberster Nato-Soldat in Brüssel. Fehler? „Der entscheidende Fehler auf deutscher Seite ist, dass wir Afghanistan zu einem deutschen Verteidigungsfall erklärt haben. Das ist der Schlüssel“, sagt Kujat. Er sei später oft in Afghanistan gewesen und habe die politische Entwicklung mit Sorge gesehen. „Wie soll das werden?“, habe er sich mehrfach gefragt. Michael Steiner, der einstige Berater Schröders, hat die Sache im Unterschied zu Kujat nicht hinter sich. Er ist Afghanistan-Beauftragter der Regierung Merkel, er wickelt gewissermaßen im Auswärtigen Amt die Causa Afghanistan operativ ab. Regelmäßig erstattet er im Kanzleramt Bericht. Er verhandelt inzwischen an geheimen Orten in Deutschland mit gemäßigten Taliban. Steiner sagt: „Wir hatten uns mit einer fast schon arroganten Unbescheidenheit, mit unangemessenen Mitteln unrealistiD E R
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sche Ziele gesetzt und unerfüllbare Erwartungen geweckt. Wir brauchten fast ein Jahrzehnt, die nötige Demut vor der Realität zu erlernen. Aber das haben wir jetzt getan.“ Frank-Walter Steinmeier war zwischendurch Außenminister, ist jetzt Fraktionsvorsitzender der SPD. Es sei sicherlich „zu anspruchsvoll“ gewesen, was man sich und für Afghanistan versprochen hatte. Deshalb habe man das Ziel korrigiert: „Die Musterdemokratie nach westeuropäischem Modell ist ja schon seit Jahren nicht mehr das propagierte Ziel“, sagt er. „Eine realistische Hilfestellung um Sicherheit, Achtung von Menschenrechten und Respektierung von Wahlergebnissen zu erreichen, das war schon schwierig genug.“ Zudem müsse man sich fragen: „Wo stünden wir, wenn wir uns da rausgehalten hätten?“ Der frühere Bundesinnenminister Otto Schily sagt: „Wir sind da in einen Konflikt geraten, der manchen Fehler zwangsläufig entstehen lässt.“ Wenn man ein Dorf bombardiere, um einen Terroristen zu töten, „dann haben Sie einen Terroristen getötet und hundert neue geschaffen“. Er schweigt eine Weile, sagt dann: „Meine Skepsis, was Afghanistan angeht, ist sehr gewachsen. Das gebe ich zu.“ Von Otto Schilys Kanzlei am Berliner Gendarmenmarkt aus kann man das Büro von Joschka Fischer sehen. Fischer ist jetzt Berater. „Unsere Entscheidungen damals waren richtig“, sagt Fischer. „Das sage ich nicht im Eindruck dessen, was in den Jahren danach folgte, sondern im Lichte der Situation des 11. September.“ Die Unterscheidung ist ihm wichtig. Gerhard Schröder hat ein neues Büro in Hannover bezogen. Er sagt, er hätte nicht damit gerechnet, zehn Jahre später noch über einen laufenden AfghanistanEinsatz reden zu müssen. Drei bis fünf Jahre, das war seine Erwartung. Ob er noch eine Vorstellung davon habe, was man dort wolle? „Schwierige Frage“, sagt er. Die Grundlage seiner Entscheidung sei die Bündnissolidarität gewesen. Er habe nie gesagt, die Freiheit des Westens werde dort verteidigt. Schröder findet nicht, dass sein Sicherheitsberater Steiner recht hatte mit der Warnung vor unbegrenzter Solidarität. Aber er findet inzwischen, dass Johannes Rau ein gutes Gespür gehabt habe, damals vor zehn Jahren. RALF BESTE, ULRIKE DEMMER, CHRISTOPH HICKMANN, MARC HUJER, CHRISTOPH SCHWENNICKE, HOLGER STARK, RAINER STAUDHAMMER, KLAUS WIEGREFE
Im nächsten Heft: 11. September (3): Wie die Konservativen Amerikas Muslimen den Krieg erklärten 87
Ausland
LI BYEN
Die Stunde null Der Tyrann ist gestürzt, aber sein Geist noch nicht vertrieben. Die Rebellen bemühen sich um Ordnung im Chaos, der Militärplaner des Aufstands erzählt erstmals, wie die Revolutionäre an Waffen kamen, Kontakt mit der Nato hielten und die Hauptstadt eroberten. Von Christoph Reuter
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len des Gaddafi-Clans, doch die Anarchie währte nicht lang. Die Villen der Verwandten und Günstlinge wurden unter Bewachung gestellt. Menschen, die zwei Generationen lang nichts anderes kannten als eine das Volk schikanierende Obrigkeit, organisieren die Millionenmetropole Tripolis nun Straße um Straße, Viertel um Viertel. Die Moscheen sind innerhalb weniger Tage
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Nun ist Tripolis gefallen, eingenommen von ein paar tausend verwegen ausschauenden Kämpfern, die in zerschossenen, verbeulten Pick-ups mit aufmontierten Geschützen durch die Straßen rasen, als seien sie der Kulisse eines endzeitlichen Action-Films entsprungen. In den ersten zwei, drei Tagen des Sturms stapften wütende Revolutionäre und Plünderer durch die verlassenen Vil-
Revolutionäre in Tripolis: Ein paar tausend verwegen ausschauende Kämpfer
PHILIP POUPIN / DER SPIEGEL
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er Krieg ist vorüber in Tripolis, doch jede Nacht beginnt die Schlacht aufs Neue. Gegen zehn, elf startet das Rattern der Kalaschnikows, hört man die Schläge der Maschinengewehre. Wenn die Flugabwehrkanonen einzeln oder in Salven wummern, zittert die Luft. Die Revolutionäre schießen Nacht um Nacht, als müssten sie Gaddafi immer wieder besiegen. Im Zentralkrankenhaus werden nach und nach die leichter verletzten Kämpfer entlassen, aber die Betten sind trotzdem nicht leer. Immer neue Verletzte mit Schusswunden, verursacht von herabstürzenden Kugeln des Freudenfeuers, kommen an. „Auf der Kinderstation sind das jetzt die Hälfte der Fälle“, sagt Dr. Ahmed. Während der Visite zeigt er seine neuen Patienten: „Hier die 9-jährige Hanadi, im Rücken getroffen, als ihr Nachbar mit der Kalaschnikow in die Luft schoss. Da der 14-jährige Hani, den Schrapnelle beim Familienausflug zu Gaddafis Hauptquartier in Bauch und Bein trafen.“ Er tritt von Bett zu Bett, lacht. „Wir sollten mal mit den Jungs reden, dass sie das lassen.“ Wenn die denn mal vorbeikämen. Bislang hat sich von all den neuen Komitees, Räten, Ausschüssen noch niemand im Krankenhaus blicken lassen. Die Evakuierung des Personals, den Wassertransport haben die Ärzte selbst organisiert, Medikamente vom Roten Kreuz bekommen. „Wir sind derzeit ein vollkommen autonomes Krankenhaus“, sagt Dr. Ahmed. Tripolis in der Stunde null, 42 Jahre nach Beginn der monströsen Diktatur, das ist eine Mischung aus wilder Ballerei und ungeahntem Bürgersinn, aus Lynchjustiz und Milde, aus Verwirrung, Courage und Opportunismus an allen Fronten. Der Bruch ist radikaler als in Tunesien und Ägypten, wo die jeweilige Armee ihrem Präsidenten sagen konnte, wann es Zeit war zu gehen. Nicht so in Libyen, wo Gaddafi fast alles schleifen ließ, was einen Staat ausmacht. Es gab keine Verfassung mehr, Institutionen wurden ersetzt durch Revolutionskomitees, Milizen und Volkskongresse, die nur einem Ziel dienten: Gaddafis Herrschaft auf ewig zu sichern. So rasch der Aufstand im Februar begonnen hatte, so zäh und blutig hatte er sich über Monate hingeschleppt.
Verteilung von Trinkwasser in der libyschen Hauptstadt: Ungeahnter Bürgersinn D E R
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zu Bürgerzentren geworden: Hier geben Es ist Mittag, Hunderte von Männern mehr in die Luft zu schießen. Ein Polizeireuige Plünderer einen Teil ihrer Beute in ihren besten Anzügen sammeln sich offizier in Zivil fragt Revolutionskämpfer ab, deponiert der Rote Halbmond Milch- zum Totengebet, der Imam spricht vom an einem Checkpoint, wem seine Beampulver und Trinkwasser zur Verteilung. Sieg, von den toten Freunden, dann ver- ten denn nun berichten sollten. Sie würBekanntmachungen an den Mauern bit- sagt ihm die Stimme. Ein Schluchzen ist den gern wieder zum Dienst antreten, ten um Ruhe und Respekt vor dem Eigen- zu hören, er stellt das Mikrofon ab, sein nur wüssten sie nicht, wie. Es ist eine Bürgerrevolution wie aus tum anderer, fordern Ladenbesitzer auf, leises Weinen dringt durch den Raum, es umgehend ihre Geschäfte wieder zu öff- ist ganz still. Bis er weiterspricht: „Wir dem Bilderbuch, der zerfallenen Macht nen, und mahnen „Haltet die Preise sta- wollen nicht so sein wie Gaddafi, wir sind folgt der Versuch der Ordnung im Chaos. bil! Kein Wucher!“ Aus dem Umland nicht wie er! Geht nicht los und tötet! Gleichzeitig verweigern an einer der Villen Gaddafis drei mürrische Jungrevolutrauen sich Bauern mit Obst und Gemüse Wir sind doch ein Volk.“ Draußen, danach, der Sarg wird gerade tionäre den Einlass: „Das Komitee hat gewieder in die Stadt, Tanklaster mit Wasser sind Tag und Nacht unterwegs, nur verladen, wollen sie reden, alle zugleich. sagt, hier kommt keiner rein! Das Komi„Wir sind nicht aus Hunger aufgestan- tee muss entscheiden!“ Und merken Benzin bleibt Mangelware. In der Abu-Madi-Moschee im alten den“, sagt ein Architekt. „Wir wollen end- nicht, dass sie dabei wie eine Kopie jenes Viertel Intisar hatten ein libyscher Arzt lich frei atmen“, sagt ein Ladenbesitzer. Regimes klingen, das sie doch gerade geund drei philippinische Krankenschwes- „Wir wollen in Freiheit leben, in Würde“, stürzt haben. Warum das Komitee selbst über ein tern des nahe gelegenen Hospitals noch ergänzt ein Flugzeugingenieur. An einer Straßenecke wird die erste Foto eines Hauses entscheiden müsse? vor den Kämpfen eine kleine Notfallklinik eingerichtet, behandelten in den Zeitung verteilt: eine halbe DIN-A4-Seite „42“, brüllt einer, als sei dies die Antwort Tagen des Kampfes über hundert Verletz- Text ohne Bilder, mit der Warnung, Gad- auf alle Fragen, „42 Jahre mussten wir te aus dem Viertel. Einer ist nach dem dafi könnte als Frau verkleidet unterwegs diesem Monster gehorchen.“ Sein Vater sein, gefolgt von der Bitte, abends nicht sei noch klein gewesen, als Gaddafi Sieg nun doch noch gestorben. putschte. Das System, dessen Frontfigur sie mit solcher Leidenschaft hassen, hat sie mehr geprägt, als sie ahnen. Es ist schwierig, dieser Tage in Tripolis zu erkennen, wann etwas zu Ende ist. 1969, dem Jahr, in dem Gaddafi und seine „freien Offiziere“ sich so mühelos an die Macht putschten, gaben die Beatles ihr letztes öffentliches Konzert, betrat Neil Armstrong den Mond, wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Die Welt dort draußen drehte sich weiter, in Libyen stand sie fortan still. Es gab nur noch Gaddafi und seinen Apparat, der sich in nie nachlassendem Eifer um den „Bruder Revolutionsführer“ drehte. In der ausgeweideten Abhörzentrale des Inlandsgeheimdienstes, vor der an einem Morgen bizarrerweise niemand Wache hält, läuft sogar der Strom noch, nur die Apparate fehlen. Irgendwo aus der Tiefe des Raumes pfeift beständig eine Fehlermeldung des Systems. Meter um Gaddafi-Buch: „Wir sind nicht wie er“ Meter reihen sich die Spitzelberichte und Abhörprotokolle in den Regalen. Das Herz eines paranoiden Staates, der Tausende Akten anlegen ließ mit Vorgängen zu echten und vermeintlichen Dissidenten, zu libyschen Studenten, die in Saudi-Arabien studierten, zu den Offizieren der eigenen Streitkräfte. Anti-Gaddafi-Sprüche in Moscheen sind im Ordner „al-Qaida“ abgelegt worden, als könne nur dieser dramatische Titel der Ungeheuerlichkeit gerecht werden, den Halbgott Gaddafi zu beleidigen. Sie misstrauten sogar dem Wind: Der Aktenvermerk 5581/2008 auf der Rückseite eines Fotos gibt Aufschluss über den Ermittlungsbedarf des abgebildeten Vorgangs: Der Führer ist zerknautscht worden! Ein riesiges Glückwunschplakat zum 39. Jahrestag seines Putsches hatte sich losgerissen und dabei das Bild Gaddafis geknickt. War es wirklich nur der Wind? Oder doch ein Anschlag? Libyer am Pool einer Gaddafi-Villa: Das System hat sie mehr geprägt, als sie ahnen D E R
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Kinder mit Munition in Tripolis: Verletzte durch Freudenfeuer
Alles und jeden verdächtigten sie. Aber tausendfach welche verteilen ließ.“ Mit es gab nichts, was diesen Apparat im In- dem Geld reicher Geschäftsleute wurde nersten zusammenhielt außer Macht und der Aufkauf organisiert, sickerten GrupPrivilegien. Zu wenig, wie sich zeigte. pen aus der Stadt in die Nafusa-Berge im Denn während Abhörprotokolle noch aus Westen. Rund 20 Mann seien dort ausgeden Monaten April und Mai die Angriffs- bildet worden mit elektronischen Geräten pläne der Rebellen verzeichnen, hatten zur Zielerkennung. 3000 Kämpfer konnten so ausgerüstet die Aufständischen ihrerseits bereits Inwerden, was Gaddafis Schergen nicht verformanten im Herzen des Regimes. Der rasante, bislang unerzählte Erfolg borgen blieb. Fieberhaft suchten sie nach des finalen Sturms auf Tripolis nach Mo- dem Kämpfer „Alewa“, dessen wirklinaten der Stagnation ebenso wie die ziel- chen Namen kannten sie nicht. Als eine genauen Bombardements der Nato in der Gruppe am 21. Juli das Sheraton-Hotel Hauptstadt hängen maßgeblich mit der im edlen Andalus-Viertel angriff und daUntergrundarbeit eines Mannes zusam- bei Gaddafis obersten Geheimdienstchef men, der unter dem Codenamen „Alewa“ Abdullah al-Sanussi leicht verletzte, veragierte und den Gaddafis Dienste jagten riet ein Festgenommener unter Folter wie keinen zweiten. Den sie sogar fest- Noahs Namen. Am 22. Juli wurde er vernahmen, aber aus einem anderen Grund, haftet und von Sanussi persönlich verhört. „Eine Ehre, die man für gewöhnlich und dessen wahre Identität sie erst erfuhnicht überlebte“, so Noah, dessen Zweitren, als es schon zu spät war. Ihn nun zu treffen, selbst nach dem identität sie aber auch da noch nicht kannSturz, braucht Tage der Überzeugung ten. Ausgerechnet Sanussi sei gegen seine misstrauischer Mitstreiter, erst dann stellt Erschießung gewesen: „Dann haben wir sich der 1992 wegen mangelnder System- nichts mehr von ihm.“ Die Vorbereitungen gingen ohne ihn treue unehrenhaft entlassene Hauptmann Mustafa Noah einem Gespräch. Der Mili- weiter. Als Stichtag zum Losschlagen wurtärplaner des Aufstandes in Tripolis trägt de der 20. August festgelegt. „Der Nato ein schwarzes T-Shirt zur Khaki-Hose und war das zu früh“, erinnert sich Mogibt erstmals Einblicke in die Vorberei- hammed Umaisch, der Koordinator der „Koalition vom 17. Februar“, einer Dachtungen des Endkampfes. Mit Codenamen und den Telefonkar- organisation verschiedener Gruppen in ten abgereister Ausländer hätten sie Tripolis, „aber die Männer wollten nicht schon im Februar ihre Kernzelle aufge- länger warten.“ Gaddafis Truppen waren baut, Tripolis in 18 Bezirke unterteilt und über die Monate zu Gejagten der Bomes den Kommandeuren dort überlassen, bardements geworden. Überdies erwies eine vertrauenswürdige Gruppe aufzu- sich eine simple Idee als genial: in allen bauen. Verbindungsmänner im tunesi- Vierteln gleichzeitig loszuschlagen. Binschen Djerba leiteten die Informationen nen vier Tagen kollabierte das System, über Gaddafis permanente Verlegungen und Noah alias Alewa floh aus dem Gevon Kommandozentralen und Geheim- fängnis. Am Ende habe Sanussi wohl gewusst, wer er wirklich sei, mutmaßt der diensteinheiten an die Nato weiter. „Quellen in den Geheimdiensten, der Mann, „aber da war er schon mit seiner Armee und sogar in Gaddafis Umfeld eigenen Flucht beschäftigt“. Abdullah al-Sanussi ist mit Gaddafi verhielten uns auf dem Laufenden“, sagt Noah. „Nur bis Juni hatten wir ein großes schwunden, sein Haus in Tripolis schon Problem. Wir hatten keine Waffen in Tri- vor Monaten zu einem Schutthaufen bompolis. Das änderte sich erst, als Gaddafi bardiert worden. Um es zu sehen, bedürfe 92
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es einer Genehmigung des örtlichen Komitees, sagt der Revolutionswächter am Checkpoint. Der Weg führt zurück zur Abu-Madi-Moschee, wo nur Tage zuvor der letzte Märtyrer zu Grabe getragen wurde. Hier habe auch das Stadtteilkomitee seinen Sitz. Doch morgens um zehn ist noch keiner da. Der Wachhabende Mohammed Raid zupft etwas betreten an seinem Vollbart. Es ist ihm unangenehm. Aber man müsse warten. Es dauert. Ob man, schlägt Raid vor, nicht in der Zwischenzeit die Gefangenen sehen wolle. Sie hätten da drei Frauen, mutmaßliche Milizkämpferinnen Gaddafis. Er geht voran in ein Nebengebäude, die Haustür ist abgeschlossen, die Zimmertür im zweiten Stock nur angelehnt. Er klopft. Die drei Frauen sitzen in Nachthemd, Pullovern und Kleidern auf Polstern, sogar eine Klimaanlage läuft. Die Restbestände von Gaddafis legendärer Amazonenmiliz sehen traurig aus. Sie seien, so die einander gleichenden Geschichten, da irgendwie hineingeraten. Suhaila, mit 21 die Jüngste, sei Schreibkraft bei der 32. Brigade von Gaddafis Sohn Chamis gewesen. Hanan, mit 32 die Älteste, habe für 50 Dinar pro Woche, knapp 30 Euro, wochenlang in Gaddafis Hauptquartier Bab al-Asisija als menschlicher Schutzschild gewohnt und die Kalaschnikow nur zur Selbstverteidigung dabeigehabt. Karima, 25, komme von außerhalb, habe niemanden in Tripolis und deswegen mit nigerianischen Söldnern in einer Wohnung in Abu Salim gewohnt. Raid redet mit ruhiger Stimme auf sie ein wie auf Kinder, die etwas ausgefressen haben: „Es mag stimmen, was ihr sagt. Aber ihr wurdet mit Waffen festgenommen, also muss das Komitee klären, ob es Zeugen gibt.“ Dann stapft plötzlich ein Rambo in Kampfmontur mit Kalaschnikow und Handgranaten am Gürtel in den Raum und herrscht die ausländischen Journalisten an: „Wo ist eure Genehmigung des Rates, mit den Gefangenen zu sprechen?!“ Deswegen seien wir hierhergekommen, eine Genehmigung zu erhalten. „Ihr braucht eine Genehmigung!“ Noch mal: Darum seien wir doch hier. „Raus!! Ich kenne mich aus mit Medien, wahrscheinlich seid ihr alle Spione! Raus hier!!“ Zwei Revolutionäre, zwei Welten. Draußen ist inzwischen der Vertreter vom Stadtteilkomitee angekommen: jener Flugzeugingenieur, der vom Leben in Würde und Freiheit gesprochen hatte. Eine Genehmigung für ein Foto von Sanussis Haus gebe es nur über den neuen Stadtrat. Wo der tage? Keine Ahnung. Video: Wie der Libyen-Krieg einem Gastarbeiter alles nahm Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.
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Der ehrliche Richter Mustafa Abd al-Dschalil gilt in Libyen als Architekt des Übergangs.
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IAN LANGSDON / DPA
tolz schritt der schmächtige kenschwestern und einen palästinenNicht immer konnte sich der JustizMann im dunklen Anzug über sischen Arzt verhängt worden waren, minister gegen die Staatssicherheit den Hof des Elysée-Palastes auf weil sie angeblich Hunderte Kinder durchsetzen; von den Auseinandersetden Hausherrn zu. Die beiden Män- aus Bengasi mit dem HI-Virus infiziert zungen zermürbt, reichte er im Januar ner begrüßten sich wie alte Bekannte, hatten. Präsident Nicolas Sarkozy 2010 sogar seinen Rücktritt ein. Doch würdevoll – Partner, ja Komplizen im machte aus dem Fall eine Cause célè- Gaddafi nahm die Demission nicht an, riskantesten und spektakulärsten Um- bre. Seine damalige Frau Cécilia setzte er hielt den Reformer wohl für ein sturz, den die arabische Welt seit Be- sich persönlich in Libyen für die Frei- nützliches Aushängeschild. ginn ihres Völkerfrühlings erlebt hat. lassung der Verurteilten ein und flog Im Februar 2011 schickte der Diktator Für Mustafa Abd al-Dschalil, 59, den schließlich mit ihnen nach Sofia. ihn nach Bengasi, um die dort aufkeiPräsidenten des Nationalen ÜbergangsGaddafis Sohn Saif al-Islam, der mende Rebellion zu entschärfen. Zurates in Libyen, war es ein Triumph, politische Kronprinz des Diktators, soll gleich aber ließ Gaddafi auf die Deder internationale Abschluss einer Re- es gewesen sein, der Abd al-Dschalil monstranten schießen. Wenige Tage bellion, die vor gut sechs Monaten 2007 zum Justizminister machte, um nach seiner Entsendung schloss sich begonnen hatte. 30 Staats- und Regie- dem Regime einen Anschein von Öff- Abd al-Dschalil der Opposition an – zu rungschefs, dazu führende Vereinem Zeitpunkt, als deren treter internationaler OrganiLage noch prekär schien. sationen, hatten sich am DonAn seiner revolutionären Gesinnung ließ er seitdem keinerstag in Paris versammelt, ne Zweifel mehr und schaffte um dem „neuen Libyen“ ihre es, aus einem zusammengeUnterstützung zuzusagen und würfelten Protesthaufen eine damit auch Abd al-Dschalil, halbwegs kohärente politische dem Architekten des Wandels, Bewegung zu machen – und ihre Reverenz zu erweisen. dem Übergangsrat ein Gesicht Mit jedem Wort und jeder nach außen zu geben. „Er ist Geste unterstrich Abd aljemand, der ohne falsches HelDschalil in Paris, dass er das dentum glaubt, dass er seine exakte Gegenteil des gestürzAufgabe in dieser Welt erst erten Diktators ist: zurückfüllt habe, wenn er nach dem haltend statt überschäumend, Sturz Gaddafis das Land zu bescheiden statt großmannseiner Verfassung und an die süchtig, besonnen statt verSchwelle der Demokratie gerückt, langweilig und grau führt hat“, sagt der Philosoph statt exzentrisch. „Toleranz Politiker Abd al-Dschalil (M.)*: Besonnen statt verrückt Bernard-Henri Lévy. und Vergebung müssen obsiegen, das Recht muss in Libyen herr- nung zu verleihen. Tatsächlich bemühDoch es gibt auch andere Stimschen“, verkündete er. Gewöhnlich te sich der neue Mann, die Zahl der men. Mohammed Umaisch von der verhaspelt er sich bei seinen Auftrit- todeswürdigen Straftatbestände zu be- „Koalition vom 17. Februar“ krititen, verpasst mit sicherem Gespür die grenzen und willkürliche Verhaftun- siert, dass Abd al-Dschalil nach der Pointe. Auch auf Pressekonferenzen gen einzudämmen. Eroberung noch immer nicht in der zitiert er gern den Koran. Westliche Menschenrechtsorganisa- Hauptstadt war: „Wenn er jetzt Abd al-Dschalil ist ein unwahr- tionen wurden auf ihn aufmerksam, nicht hier ist, was für ein Präsident scheinlicher Tyrannen-Bezwinger: als er sich für die Freilassung der In- will Abd al-Dschalil sein? Führer gläubiger Muslim, Vater von acht Kin- sassen des Gräuelgefängnisses von müssen doch Präsenz zeigen, an der dern, tief konservativ, begann er seine Abu Salim einsetzte. Dort waren 1996 Front sein!“ Die Rebellen fühlen sich Karriere 1978 als Richter in seiner Ge- mehr als 1000 Häftlinge nach einer von den Führungskadern aus dem burtsstadt Baida. Bis zum Präsidenten Meuterei massakriert worden. Die Ge- Osten bevormundet. Sie wollen nicht des Berufungsgerichts in Tripolis be- fangenen hatten für bessere Haft- hinnehmen, „dass uns irgendjemand fördert, fiel er bald durch Urteile auf, bedingungen und Familienbesuche de- aus Bengasi eine Regierung vordie dem Willen des Machtapparats zu- monstriert. Daraufhin ließ Gaddafi sie schreibt“. widerliefen – eine Ausnahme in ei- hinrichten. Erst jetzt können VerDennoch: Der wichtigste Schritt in nem Justizapparat, der den Willen wandte nach Spuren ihrer Angehöri- ein neues Libyen ist getan. Der stille Gaddafis zum Gesetz erheben sollte. gen in dem Gefängnis suchen. Richter will sich zurückziehen, wenn Einen kapitalen dunklen Fleck gibt der bewaffnete Kampf zu Ende ist, es indes in seiner Rechtsprechung: * Mit dem Vorsitzenden des Exekutivrates Mahmud der Übergang vollzogen und das neue, Zweimal bestätigte er die Todesurteile, Dschibril und Frankreichs Präsident Nicolas Sar- freie Libyen geboren. die 2004 gegen fünf bulgarische Kran- kozy. VOLKMAR KABISCH, ROMAIN LEICK
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AP (L.); SCOTT NELSON / DER SPIEGEL (U.)
Proteste in Syrien: „Die Bürger müssen geschützt werden“ SYRIEN
„Ich sehe keine Reformen“ Generalsekretär Nabil al-Arabi über die Bedenken der Arabischen Liga zu Maßnahmen gegen das Assad-Regime und die Spannungen zwischen Israel und den Palästinensern SPIEGEL: Libyen ist von Gaddafis Unrechts-
regime befreit worden. In Syrien gibt es inzwischen mehr zivile Opfer, als die Revolutionen in Ägypten und Tunesien zusammen gefordert haben – aber die Liga hält sich zurück. Warum verschonen Sie das syrische Regime? Arabi: Syrien ist nicht Libyen. Libyen war schon immer weitgehend isoliert. Was sich dort abspielte, hatte kaum Auswirkungen auf die Nachbarländer. Mit Syrien ist das völlig anders. Das Land hat eine Schlüsselposition in der Region. Was dort passiert, hat direkten Einfluss auf den Libanon und den Irak. Auch hat Gaddafi von Anfang an schwere Waffen eingesetzt, Assad nicht.
SPIEGEL: Aber es fahren doch längst Panzer durch Hama, Homs und Latakia. Arabi: Als ich zehn Tage nach meinem Amtsantritt nach Syrien flog, wollte man mir jedenfalls noch weismachen, dass es weder in Aleppo noch in Damaskus zu Ausschreitungen gekommen sei. Nur in einigen grenznahen Ortschaften hätte es Schusswechsel gegeben, weil dort auf die Sicherheitsorgane gefeuert worden sei. SPIEGEL: Das entspricht doch nicht den Tatsachen. Arabi: Ich habe Baschar al-Assad eine klare und unmissverständliche Botschaft überbracht. Ich habe von ihm Reformen, die Einstellung von Gewalt und einen
Die Arabische Liga
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wird seit Anfang Juli von dem ägyptischen Juristen Nabil al-Arabi, 76, geführt. Sein populärer Vorgänger Amr Mussa wird demnächst als Kandidat bei den ägyptischen Präsidentschaftswahlen antreten. In den Fluren vor Arabis Büro am Kairoer Tahrir-Platz hängen noch immer, ein halbes Jahr nach Beginn des Arabischen Frühlings, Bilder vergangener Gipfeltreffen mit Husni Mubarak, Zine el-Abidine Ben Ali und Muammar alGaddafi, den mittlerweile gestürzten Staatschefs Ägyptens, Tunesiens beziehungsweise Libyens. Erst vor kurzem ließ der Generalsekretär Libyens grüne Flagge gegen die schwarz-rot-grüne Trikolore der Rebellen austauschen. Arabi hat Erfahrung mit historischen Zäsuren: 1978 beriet er Mubaraks Vorgänger Anwar al-Sadat bei den Verhandlungen zum Camp-David Abkommen, das zum Friedensvertrag mit Israel führte. D E R
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friedlichen Übergang in eine neue Ära gefordert. SPIEGEL: Das hören wir zum ersten Mal. Arabi: Ich konnte es damals nicht öffentlich machen, das war im Sinne der Sache. Assad versprach mir, Veränderungen einzuleiten. Aber nun sind fast zwei Monate vergangen, und ich sehe keine Reformen. SPIEGEL: Was verlangen Sie? Einen Regimewechsel? Arabi: Das soll das syrische Volk selbst entscheiden. Niemand kann einem souveränen Staat vorschreiben, wie er sich verändern soll. SPIEGEL: Was müsste passieren, damit sich die Liga, ähnlich wie in Libyen, eindeutiger gegen das syrische Regime stellt? Arabi: Die Dinge sind doch noch im Fluss. Nur die Vereinten Nationen sind berechtigt, über Gewaltanwendung zu entscheiden. Auch die Arabische Liga hat kein Mandat, in einem Mitgliedstaat irgendetwas zu erzwingen. SPIEGEL: Aber die Arabische Liga war früher durchaus militärisch aktiv. 1961 etwa schützte sie Kuwait mit einer Spezialtruppe vor einer bevorstehenden irakischen Invasion. Brauchen Sie nicht eine derartige Einsatztruppe – ähnlich den Blauhelmen der Vereinten Nationen? Arabi: Das halte ich angesichts der Mehrheiten innerhalb der Liga für nicht realistisch. Aber ich bestehe auf die Einhaltung der Menschenrechte. Die Bevölkerung, die Bürger müssen geschützt werden, nicht nur in Syrien. SPIEGEL: Viele Araber halten Ihre Institution inzwischen für wenig effizient. Arabi: Der historische Moment des Wandels hat die ganze Region erfasst und wird früher oder später alle arabischen Staaten verändern. Jawohl, die Liga muss sich dem anpassen. Wir müssen in der Lage sein, auf unvorhergesehene Entwicklungen schnell zu reagieren. SPIEGEL: Aber einige Mitgliedstaaten, allen voran Saudi-Arabien, werden derartige Veränderungen schwerlich mittragen. Arabi: Auch ich habe da meine Zweifel. Wir müssen es trotzdem versuchen und die von der Uno festgeschriebenen Menschenrechte, die alle Staaten der Liga anerkannt haben, ernst nehmen. SPIEGEL: Wie erklärt Saudi-Arabiens Außenminister, dass sein Land einerseits die syrische Opposition unterstützt, gleichzeitig aber Truppen nach Bahrain schickt, wenn Sie ihn danach fragen? Arabi: Ich stelle ihm diese Fragen nicht. Das müssen Sie tun. Sie sind die Journalisten. SPIEGEL: Unterstützen Sie die Palästinensische Autonomiebehörde in ihrem Streben, im September die Gründung eines Staates Palästina von der Uno-Vollversammlung absegnen zu lassen? Arabi: Die Uno-Resolution 181 von 1947 ist die Geburtsurkunde zweier Staaten, Israels und Palästinas. Was ist falsch
INTERVIEW: CHRISTOPH SYDOW, VOLKHARD WINDFUHR
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daran, wenn sich die Palästinenser nach 20 Jahren Verhandlungen mit Israel wieder direkt an die Völkergemeinschaft wenden? Sie könnten noch weitere 20 Jahre ohne Ergebnis weiterverhandeln, weil die israelische Regierung den Konflikt im Grunde gar nicht aus der Welt schaffen will. Ernst meinen es die Israelis nur, wenn es um zusätzlichen Landgewinn und den Ausbau der Siedlungen geht. SPIEGEL: Sie unterstützen also die palästinensische Initiative? Arabi: Unterstützen? Wir setzen uns mit aller Macht dafür ein. SPIEGEL: Die Amerikaner haben für diesen Fall harte Konsequenzen angedroht … Arabi: Das ist eine inakzeptable Haltung, die wir nicht hinnehmen! Das stärkste und reichste Land der Welt ist nicht fähig, sich festzulegen. Stattdessen schreibt ihnen jemand aus Tel Aviv oder Jerusalem vor, was sie zu tun haben. SPIEGEL: Wird diese Haltung nicht zu Spannungen zwischen der Arabischen Liga und den USA führen? Arabi: Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Wenn die Amerikaner ihre vor vielen Jahren gemachten Versprechungen erfüllt und die Israelis zu ernsthaften Verhandlungen gezwungen hätten, wäre das Problem längst gelöst. SPIEGEL: Auch die Bundesregierung hat angekündigt, den Plan der Palästinenser nicht zu unterstützen. Arabi: Ich habe gehört, was Angela Merkel sagte. Sie verwies auf die besondere Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden. Doch die Deutschen tragen auch Verantwortung für die Palästinenser. SPIEGEL: Auch die radikal-islamische Hamas, die im Gaza-Streifen an der Macht ist, erkennt Israel nicht an. Arabi: Hat Israel die Hamas anerkannt? So etwas beruht auf Gegenseitigkeit. SPIEGEL: Aber die Islamisten im GazaStreifen feuern schließlich Raketen auf israelische Städte. Arabi: Das darf nicht sein, das ist falsch, und das sagen wir ihnen auch. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas beschwört sie täglich, den Raketenbeschuss nicht länger zuzulassen. Tatsache ist, dass es auf beiden Seiten Extremisten gibt. SPIEGEL: Wird es wegen Palästina jemals wieder zu einem Krieg zwischen einem arabischen Staat und Israel kommen? Arabi: Vollkommen ausgeschlossen. SPIEGEL: Sie haben den Posten als Generalsekretär vor zwei Monaten in einer turbulenten Zeit angetreten. Halten Sie es für möglich, dass Sie Ihr Amt aufgeben, wenn der Druck unerträglich wird? Arabi: Ja, durchaus. Das liegt in meiner Natur. Ich bin in der Tat nicht sicher, ob ich das noch lange aushalten kann.
Sozialist Strauss-Kahn, Ehefrau in Washington: Lächerlicher Absturz FRANKREICH
Der gefallene Sohn Die Heimkehr von Dominique Strauss-Kahn belastet den Präsidentschaftswahlkampf. Die Sozialisten üben sich in vorsichtigen Absetzbewegungen.
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in politisch Totgesagter hält die Lebenden in Atem. Alle redeten über ihn, warteten auf ihn, starrten auf ihn, als hinge von seiner wundersamen und doch unheimlichen Wiederauferstehung Wohl und Wehe der Nation ab. Ganz Frankreich schien vorige Woche in einem surrealistischen Countdown der angekündigten Rückkehr des gefallenen Sohnes Dominique Strauss-Kahn entgegenzufiebern. Am Donnerstag wurde der Startschuss wie zur ersten Etappe einer Tour de France besonderer Art vermeldet: DSK und seine ebenso treue wie duldsame Frau Anne Sinclair hatten da gerade ihr Anwesen in Washington verlassen; das Air-France-Ticket war gebucht. Was würde der Heimkehrer sagen? In welcher Rolle würde er zurückkommen? Als Triumphierender, den Klauen der USJustiz entronnen? Oder als Demütiger, der nicht freigesprochen und schon gar nicht für unschuldig erklärt ist, sondern seinen spektakulären, aber auch lächerlichen Absturz allein sich selbst zuzuschreiben hat? Präsident Frankreichs kann StraussKahn im nächsten Frühjahr nicht mehr werden, auch wenn er vor seiner Begegnung mit dem Zimmermädchen Nafissatou Diallo in einer New Yorker Hotelsuite Mitte Mai als geradezu unschlagbar D E R
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galt. Nun liegt sein Schatten dunkel wie der eines außerirdischen Raumschiffs über dem Wahlkampf, der jetzt beginnt. Und in ihm verdüstern sich ganz besonders die Aussichten der vier Männer und zwei Frauen, die im Oktober in einer Urwahl der Sozialistischen Partei den Fahnenträger der Linken für den Kampf um den Elysée-Palast bestimmen wollen. Denn sie treten allesamt als zweite Wahl an, als Ersatz minderer Güte für den Supermann, der sie zu einem strahlenden und vermutlich sicheren Sieg hätte führen sollen. Das Unbehagen ist deshalb groß und die Heuchelei in der Vorfreude auf den Wiedergänger DSK so offensichtlich wie bedrückend. So wie die Umfragen stehen, haben nur zwei der sechs Anwärter eine realistische Chance, zum Herausforderer des Amtsinhabers Nicolas Sarkozy ausgerufen zu werden: Martine Aubry, 61, bis zu ihrer Kandidatur Parteivorsitzende der Sozialisten und Tochter des inzwischen nostalgisch verklärten Europapolitikers Jacques Delors. Und François Hollande, 57, Aubrys Vorgänger als Sozialistenchef und Ex-Partner von Ségolène Royal, der anderen Kandidatin. Für Aubry ist der Wirbel um DSK am schädlichsten. Vor dessen Fehltritt in New
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drückten Völker in der arabischen Welt an der Seite von David Cameron und Barack Obama. „Zum ersten Mal haben die Europäer in Libyen bewiesen, dass sie fähig waren, in einem Konflikt zu intervenieren, der vor ihrer Tür ausbrach“, pries er die Rolle Frankreichs vor seinen versammelten Botschaftern vorige Woche im Elysée. Der Präsident ist überzeugt, dass es in turbulenten Zeiten wie den gegenwärtigen am Ende vor allem auf eines ankommt: Glaubwürdigkeit. Damit konnte er nicht immer protzen, aber inzwischen sind die Zeiten andere. Minderwertigkeitskomplexe, die ihn früher plagten, etwa gegenüber seinem Vorgänger Jacques Chirac, hat er abgelegt. Ohne Aubry und Hollande zu unterschätzen, hält er die eine für altmodisch, den anderen für zu wenig charismatisch. „Wenn man Zahnschmerzen hat“, so kommentierte einer seiner Berater die Wirtschafts- und Finanzprobleme, „geht man nicht zu einem neuen Arzt, sondern zu dem Mann, der sein Können schon bewiesen hat.“ Gerüchte über die vielen Leichen, die Sarkozy angeblich im Keller habe, geschildert in einem am vergangenen Donnerstag mit viel Getöse erschienenen Buch („Sarko m’a tuer“, „Sarko hat mich getötet“), erwiesen sich vorerst als nicht brandgefährlich. Der Elysée ließ dementieren, dass Sarkozy Bargeld in Umschlägen entgegengenommen habe. Die Krankenschwester der reichen L’Oréal-Erbin Liliane Bettencourt, die im Buch zitiert wird, wollte ihre Aussage nicht bestätigen. So bleibt Sarkozy tatsächlich der Einzige, der Strauss-Kahn souverän ignorieren kann. Nicht einmal als ausgewiesener Finanzexperte, glaubt er, könne der ihm gefährlich werden. Bei seinem Abschied von den Mitarbeitern des Internationalen Währungsfonds in Washington rühmte Strauss-Kahn seine von Sarkozy entsandte Nachfolgerin Christine Lagarde als großartige Wahl. Und entschuldigte sich gleich mehrmals für seinen „Fehler“ und die Folgen. Die meisten Sozialisten hoffen, dass er es auch in Frankreich so halten wird. Der Abgeordnete Arnaud Montebourg, einer der sechs Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur, ein Mann mit einem Urteil, so scharf wie das von Robespierre, hat es so ausgedrückt: StraussKahn solle sich für den Schaden entschuldigen, den er in der Linken gestiftet habe. Und danach einfach den Mund halten. ROMAIN LEICK REGIS DUVIGNAU / REUTERS
York hatte sie einen stillschweigenden als unterhaltsamer Redner, schlagfertig, Pakt mit Strauss-Kahn geschlossen: Sie ironisch, geistreich, dem guten Leben und wollte ihm das Tor zur Siegesstraße of- der intellektuellen Leichtigkeit zugetan. fenhalten und selbst nicht kandidieren. Mit einer asketischen Abmagerungskur Nun steht sie als Lückenfüllerin wider versuchte er, präsidiale Statur zu gewinWillen da, hin und her gerissen zwischen nen. Weit mehr als Aubry stellt er seine Loyalität und Emanzipation. Eine Frau Persönlichkeit in den Mittelpunkt, muss überdies, deren Worte von den Wähle- sich von der Konkurrentin aber sagen lasrinnen besonders gewogen werden, wenn sen, dass er keine Regierungserfahrung sie, wie geschehen, Freude über die Ein- habe, weil er nie Minister war und ihr stellung des Verfahrens gegen Strauss- noch dazu die Partei als erbärmlichen Kadaver hinterlassen habe. Unablässig ziKahn in New York äußert. An der Unschuldsvermutung festzuhal- tiert Aubry im beginnenden Wahlkampf ten, ohne das Verhalten des notorischen die „vier Prioritäten von Martine“: BeFrauenbedränglers zu entschuldigen, das schäftigung, Bildung, Kaufkraft, innere ist ein nahezu unmöglicher Akt politi- Sicherheit. Auch ohne die Einmischung von scher und moralischer Äquilibristik. Vorige Woche versuchte Aubry es trotzdem Strauss-Kahn zwingt das Verfahren der und drehte Pirouetten dabei. Erst erklärte Kandidaten-Auslese die Sozialisten zu sie, sie denke „das Gleiche wie viele Frau- einem seltsamen Schattenkampf. Die en über die Haltung von DSK gegenüber sechs Bewerber müssen direkte Angriffe Frauen“ – eine fast grotesk gewundene aufeinander vermeiden, weil sie ja anKritik, ergänzt durch die Untertreibung, schließend gemeinsam Sarkozy schlagen Strauss-Kahns Verhalten habe „manche wollen. Zugleich muss jeder seine Differenzen und Eigenarten herausstellen – geschockiert, ich kann das verstehen“. War das alles? Offenbar schon zu viel. gen die anderen, denn eine Wahl ist imKaum waren die Worte gefallen, rief sie mer ein Vergleich, der aber hier nur imunbeirrbare DSK-Freunde in der Partei plizit gezogen werden kann. Das grenzt an und warb um Verständnis für ihre an absurdes Theater. „Meine Tochter ist zaghaften Absetzbewegungen. Dabei die Beste“, verkündete der alte Helmutstellte sich heraus, dass der Ex-Ange- Kohl-Freund und frühere EU-Kommisklagte Strauss-Kahn in seiner erzwunge- sionspräsident Jacques Delors. „Als Vater nen Klausur in Washington und New hat er das Recht, das zu sagen“, entgegYork sorgfältig Buch führte über alle Äu- nete Hollande darauf. So beschleicht die Sozialisten inzwißerungen, die seine Genossen daheim schen eine leise Beklemmung. Sie hatten machten. „Wir haben darüber gesprochen“, ge- sich beste Chancen ausgerechnet, den unstand sie, „er hat auch mit mir über mich ter Popularitätsschwund leidenden Sargesprochen, über das, was er mir vorwer- kozy verjagen zu können, und noch befen konnte. Wenn man befreundet ist, stärken die Umfragen sie darin: Sowohl Hollande wie Aubry würden gegen den spricht man über alles.“ Eine selbstbewusste Kandidatin klingt amtierenden Präsidenten gewinnen. Der anders. Ihr Konkurrent Hollande, der in aber bleibt erstaunlich gelassen und warletzten Umfragen 14 Punkte vor Aubry tet, ganz gegen sein Temperament, ruhig liegt, ließ sich diese Gelegenheit nicht ab. Seinen Wahlkampf will er erst Anfang entgehen. „Nach all diesen Erklärungen nächsten Jahres beginnen. Bis dahin tut er, was ein Präsident tun unverbrüchlicher Freundschaft zwischen Martine und Dominique und den regel- muss: Er präsidiert, mal als Euro-Krisenmäßigen Auskünften über ihre täglichen manager an der Seite von Angela Merkel, telefonischen Unterhaltungen“, so hieß mal als wehrhafter Streiter für die unteres aus seiner Umgebung, „waren wir etwas überrascht über die Worte von Martine.“ Hollande steht als derzeitiger Favorit nur scheinbar bequem da. Er hatte seine Kandidatur schon erklärt, bevor Strauss-Kahn vom Staatsanwalt in New York daran gehindert wurde, sich der Urwahl zu stellen. Doch diese Unabhängigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er gegen einen unbelasteten DSK wohl keine echte Chance gehabt hätte. Lange fehlte es Hollande in den Augen der Öffentlichkeit an Seriosität, er galt vor allem Kandidaten Aubry, Hollande: Ersatz minderer Güte
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Vor der Sintflut Während Europa versucht, die römischen Finanzen zu retten, leistet sich der Premier den nächsten Sexskandal – und kippt auch noch sein Sparprogramm.
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passiert mitunter, dass er ihnen sogar noch etwas hineinsteckt. Eine halbe Million Euro soll Giampaolo Tarantini, 36, ein Beinprothesen-Unternehmer aus Bari, dafür bekommen haben, dass er schweigt über Berlusconis Sexorgien. Dass er nicht plaudert über die Erlebnisse von 30 Prostituierten, die er auf Partys im römischen Palazzo Grazioli
INSIDEFOTO / ACTION PRESS
er meistzitierte Satz aus dem Munde von Silvio Berlusconi in diesen Tagen lautet: „Wir greifen den Italienern nicht in die Taschen!“ Seit Donnerstag vergangener Woche haben die Italiener begriffen, wie er zu verstehen ist, dieser Satz ihres Premierministers. Silvio Berlusconi greift den Italienern nicht in die Taschen, im Gegenteil. Es
Ministerpräsident Berlusconi: „Ich bin sauber in allem, was ich tue“
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geschleppt und im Auftrag von Berlusconi bezahlt haben soll. Alles gelogen, sagt der Premier. Tarantini wurde festgenommen mitsamt seiner Ehefrau, sie betrieben ein florierendes Familienunternehmen, das spezialisiert war auf Herrscher-Erheiterung, nicht unüblich in Italien. Und wie reagierte Silvio Berlusconi? Er soll vor Wut getobt haben über die Auszüge aus seinen abgehörten Telefonaten, die italienische Medien nun wieder genüsslich zitieren. Der neue Skandal um Berlusconis Sexaffären ist ein Symbol für das, was in Italien schiefläuft: Es wird weiter korrumpiert, vertuscht und schamlos gelogen – trotz des Drucks der EU und der Europäischen Zentralbank, trotz schwarzer Freitage an Mailands Börse und der Zinsaufschläge, die Italien Milliarden Euro kosten könnten. Es ist das alte Berlusconi-Prinzip: viele Worte, große Gesten, ein ewiges Ablenken von den desolaten Zuständen des Landes. Dabei klang die Sorge des Premiers um Italien in den letzten Wochen fast aufrichtig. Noch vor der Sommerpause wurde, als Reaktion auf den Börsencrash, das erste Sparpaket verabschiedet – in Höhe von immerhin 47 Milliarden Euro. Dann aber kam ein Brief vom Chef der Europäischen Zentralbank, in dem er härtere Maßnahmen forderte, und zwar sofort. Am Freitag vor Ferragosto, den italienischen Badeferien im August, lenkte Berlusconi ein: Weitere 45 Milliarden wollte er einsparen. Dafür gab es viel Lob aus Brüssel, es schien, als hätte Italien den Warnschuss gehört, die EZB kaufte italienische Staatsanleihen, die Panik ließ nach. Aber dann wurde bekannt, dass es sich bei dem Sparprogramm um einen faulen Zauber handelt, um jene Beschwichtigungstaktik, mit der er das Land seit 17 Jahren lähmt. Nach Protesten von Bürgermeistern und Gewerkschaften kippte Berlusconi das Paket nach nur 18 Tagen. Die Reichensteuer, die Italiener mit mehr als 90 000 Euro Jahreseinkommen mit bis zu zehn Prozent zusätzlich belasten sollte, ist abgeschafft. Ebenfalls gestrichen: Einsparungen bei lokalen Verwaltungen – und an der längst überfälligen Rentenreform wird weiter gebastelt. Es fehlen jetzt, laut „La Repubblica“, mindestens vier Milliarden Euro im Sparpaket, es steht ein heißer Herbst bevor mit Streiks und Vertrauensabstimmungen, und es ist nicht abzusehen, wie der chronisch verschuldete Haushalt bis 2013 ausgeglichen werden soll. Laut Banca d’Italia wächst die Wirtschaft auch noch langsamer als erwartet. Portugal dagegen hat vergangene Woche vorgemacht, wie der Kampf gegen ein Haushaltsdefizit geführt werden muss: Senkung der Staatsausgaben, Einfrieren der Löhne im öffentlichen Dienst, Steuer-
erhöhung für Gutverdienende. Zwei Drittel der Einsparungen im Sanierungspaket sollen durch Ausgabenkürzungen erreicht werden. Es ist der härteste Belastungstest seit der Revolution von 1974, wie Premier Pedro Passos Coelho warnte. Ganz anders Italien. „Besorgt“ zeigt sich jetzt die EU-Kommission; dass Berlusconi die Lücken wie angekündigt durch ein schärferes Vorgehen gegen Steuerhinterzieher füllen will, halten sie dort, in Brüssel, für einen Witz. Denn in der Kommission wissen sie genau, dass Berlusconi als Unternehmer denkt, nicht als Staatsmann. Wir werden sie wuppen, die Krise, hat er stets behauptet. Wie? „Indem Italiener in meine Unternehmen investieren.“ Was wie einer seiner berüchtigten Flachwitze klang, war diesmal Ernst. Auch wenn er nicht viel taugt als Politiker: Berlusconi kennt die desolate Lage an den Finanzmärkten, privat ist er längst Opfer der Krise. Seit 1994 profitierte das Familienunternehmen Mediaset immer wieder von seinem Staatsamt. Dieses funktionierte wie ein Rettungsschirm, es schützte ihn vor Prozessen wegen Steuerhinterziehung oder mafiöser Verstrickungen. Sanken die Einschaltquoten seiner Sender, gab es immer noch Werbeeinnahmen von Firmen, die sich Vorteile von der Nähe zur Macht versprechen konnten.
ITALIENS GEFLEDDERTES SPARPAKET*
Steuereinnahmen erhöhen Gefängnisstrafen für Hinterzieher von Steuermillionen, höhere Steuern auf Kapitalerträge, Abbau von Steuervergünstigungen für Unternehmen, Zusatzsteuern für Besserverdiener
Verwaltung straffen Kleine Kommunen sollen verwaltungstechnisch zusammengelegt werden
Produktivität steigern Renteneintrittsalter wird erhöht, Feiertage werden abgeschafft *Stand: Ende August
Q umstritten bzw. wieder verworfen Damit ist es jetzt vorbei. In der Aufregung um die Finanzkrise ging bisher fast unter, dass Berlusconis Mediaset-Aktien innerhalb eines Jahres um die Hälfte an Wert einbüßten und Ende August nur noch bei 2,58 Euro lagen. Auf der Liste der reichsten Investoren an der Mailänder Börse rutschte er ab auf Platz sieben. Eine Ausschüttung der Familien-Holding Fininvest fiel flach dieses Jahr, dafür wird
eine Strafe von 560 Millionen Euro fällig, die Berlusconi wegen Richterbestechung an seinen Erzrivalen, den früheren Mondadori-Verleger Carlo De Benedetti, zahlen muss. Sie scheint vorüber, die lange Glückssträhne des Cavaliere. Italiener wollen kein Bunga Bunga mehr auf allen Kanälen, längst wandern Zuschauer und Werbekunden ab ins Internet oder zu Rupert Murdochs Erfolgssender „Sky Italia“. Im Zuge der Ermittlungen um Mädchenbeschaffer Tarantini kam nun auch heraus, was der Regierungschef wirklich denkt über sein Land, das er angeblich von ganzem Herzen retten will. Mitte Juli wurde Berlusconi abgehört, als er sagte: „Ich bin sauber in allem, was ich tue. Man kann mir nichts vorwerfen. Dass ich herumbumse, das ist das Einzige. In ein paar Monaten werde ich abhauen und mich um meinen eigenen Kram kümmern.“ Kurz: Er plane, das „paese di merda“, dieses Scheißland, bei dem ihm „das Kotzen“ komme, zu verlassen. Nach mir die Sintflut, sollte das heißen, Worte eines unverbesserlichen Zynikers, der diesen Monat 75 Jahre alt wird. Die Frage lautet nicht mehr, ob Berlusconi geht, sondern nur noch: wann. Und wann Italien vom Berlusconismus genesen sein wird. Vor dem Bankrott seines Landes – FIONA EHLERS oder danach?
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VÖLKERMORD
Der Menschenversenker
Angeklagter Mladić vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
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SERGE LIGTENBERG / GETTY IMAGES
Er steht in Den Haag vor Gericht, angeklagt des schlimmsten Massakers in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch der serbische General Ratko Mladić ist sich keiner Schuld bewusst, auch nicht am Selbstmord seiner Tochter. Das Porträt eines Besessenen. Von Erich Follath
Bei der ersten Anhörung ist der körder Uno unter dem Kennzeichen IT-0992 zusammengefasst sind, solch grausa- perliche Verfall des Generals zu besichtimer Taten wurde nach den Nürnberger gen: Da steht kein bulliger Hüne, rotgeProzessen gegen die Nazi-Größen in sichtig und strotzend vor Lebenskraft, wie er aus dem Bürgerkrieg in Erinnerung Europa niemand mehr angeklagt. Die erste Anklage gegen Mladić ist. Sondern ein fahler, gebückt gehender, stammt aus dem Jahr 1995, fast 16 Jahre eisgrauer Mann, der älter wirkt als 68 Jahlang war er ein gesuchter Mann – und da- re. Wenn er aber die Stimme erhebt, dann mit fast so lange wie dieser andere unter ist der Ton ganz der gewohnte, raue, arden „Most Wanted“ auf der Flucht, Osa- rogante: Als „General“ wolle er angesproma Bin Laden. Für den General a. D. wie chen werden, verfügt er barsch, es seien für den Top-Terroristen war eine Beloh- „monströse“ Vorwürfe, die da gegen ihn nung in zweistelliger Dollar-Millionen- vorgebracht würden, er erkenne im Übhöhe ausgesetzt. Und beide konnten sich rigen das Gericht gar nicht an. Auftritt den internationalen Verfolgern so verblüf- eines Unbelehrbaren. Und bei einer weiteren Anhörung profend erfolgreich nur entziehen, weil sie von höchsten politischen, militärischen voziert Mladić dann mit seinen Pöbeleien oder geheimdienstlichen Stellen gedeckt gegenüber dem niederländischen Richter Alphons Orie einen handfesten Eklat. wurden.
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
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er diesem Hobby verfallen ist, muss ein bisschen Diktator sein und ein bisschen auch Diener. Er muss die ihm anvertrauten Völker genau kennen. Er darf nicht von Skrupeln geplagt sein, wenn ihm der eine oder andere seiner Zöglinge wegstirbt, nicht zimperlich werden, wenn ein Stich ihn selbst schmerzlich trifft. Ratko Mladić weiß das alles. Ratko Mladić kennt sich aus mit Überleben und Sterben, mit erzwungenen und freiwilligen Opfern, mit Volksschädlingen und ihrer Bekämpfung. Ratko Mladić ist der perfekte Bienenzüchter. Vertraut wie kaum ein anderer sei er mit dem Bau von Waben, der Betreuung des komplexen Kollektivs – darin sind sie sich ausnahmsweise einig, die alles entschuldigenden Freunde ebenso wie die erbitterten Feinde des Generals. Ein Imker par excellence, der seine Leidenschaft seit frühester Jugend und bis zu seinen letzten Tagen in Freiheit mit Begeisterung und Hingabe verfolgt hat. Meist verschenkte er den Honig, manchmal verkaufte er ihn auch in kleinen Mengen. Wer die Chance bekommt, ihn zu probieren, solle das auf jeden Fall tun, sagen die Kenner. Es ist ein liebevoll erzeugtes, durch und durch reines Spitzenprodukt. Bio vom Balkan, made by Mladić. Ansonsten aber scheiden sich bei der Nennung dieses Namens die Geister. Der ehemalige Oberbefehlshaber der bosnischen Serben gilt einer knappen Mehrheit der Menschen in Belgrad immer noch als Held, als ein Patriot, der bei seinen rücksichtslosen militärischen Kreuzzügen nur von dem Streben nach nationalem Stolz, nach Würde, nach der Rache für das von seinem Volk empfundene Unrecht geleitet war. Mehr als zwei Drittel seiner Landsleute hätten, wären sie über das Versteck im Bilde gewesen, seinen geheimen Aufenthaltsort nicht verraten und damit seine Überstellung an das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien in Den Haag gern verhindert. Kroaten, Kosovaren und vor allem die muslimischen Bosnier sehen ihn ganz anders – als Inbegriff des Teuflischen. Und auch für die allermeisten im Westen ist Mladić der Mann, der die schlimmsten Massaker an Zivilisten in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. Der Belagerer von Sarajevo, wo in über dreieinhalb Jahren währendem Dauerbeschuss mehr als 10 000 Menschen starben. Der Schlächter von Srebrenica, dessen Schergen in einem Blutrausch über 8000 Jungen und Männer zwischen 11 und 77 Jahren umgebracht haben. Völkermord gleich in zwei Fällen, Verbreitung von Terror, Geiselnahme, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – es sind die furchtbarsten Vergehen, die das Strafgesetz kennt, die da von den Juristen
Särge muslimischer Mordopfer bei Srebrenica: „Er hat keinen Hauch von Reue gezeigt“
Mladićs Leben im Untergrund verlief lange Zeit viel abenteuerlicher, abwechslungsreicher und absurder noch als das Bin Ladens. In den letzten Tagen seiner Freiheit war er aber wie der Terroristenchef reduziert auf minimale Kontakte zur Außenwelt, auf familiäre Hilfe, auf ein dunkles, kleines Versteck – eine karge Klosterzelle, den halbverfallenen Schuppen eines Bauernhauses. Damit allerdings enden die Parallelen: Bin Laden wurde Anfang Mai von USSoldaten im pakistanischen Abbottabad gezielt getötet, seine Leiche wohl im Indischen Ozean entsorgt, die Chance für eine juristische Bewältigung seiner Untaten vereitelt; Mladić wurde von einer serbischen Spezialeinheit am 26. Mai in Lazarevo gefasst und fünf Tage später an das internationale Gericht ausgeliefert. Die Anhörungen gegen ihn laufen. Wie schwierig die Aufarbeitung der Gräuel noch werden wird, das zeigte sich schon bei den bisherigen Auftritten des Angeklagten in Den Haag im Juni und Juli. D E R
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– Herr Mladić, seien Sie so nett und setzen Sie bitte während der Verhandlung Ihre Mütze ab. – Ohne die ist es mir kalt. – Würden Sie dem Gericht bitte die Ehre erweisen und die Mütze jetzt abnehmen. – (Mladić nimmt widerstrebend seine graue Kappe vom Kopf.) Was ist das denn überhaupt für ein Gericht? Sie wollen meine Verteidigung bestimmen. – Wir zwingen Ihnen gar nichts auf, die Frage Ihrer Verteidigung wird noch diskutiert. – Nein, nein, nichts lesen Sie mir vor aus der Anklage. Ich will das nicht hören. – Herr Mladić, Sie werden bald die Gelegenheit bekommen, sich zu äußern. – Sie lassen mir ja nicht mal die Möglichkeit zum Atmen. Mit welchem Recht? Wer sind Sie denn schon? – Herr Mladić, ich verfüge Ihre Entfernung aus dem Gerichtssaal. Wenn sich ein Angeklagter zu den erhobenen Vor101
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General Mladić (M.), Mitkämpfer in der Nähe der bosnischen Stadt Goražde 1994: „Ein charismatischer Mörder“
würfen nicht äußert, werten wir das als Willensbekundung für nicht schuldig. Immer wieder hat Mladić die Zuschauer im Gerichtssaal fixiert, die erhobenen Finger aus ihrer Richtung mit abfälligen Gesten beantwortet. „Er hat nichts begriffen, keinen Hauch von Reue gezeigt“, sagt unter Tränen Munira Subasić, die mit einigen anderen aus Srebrenica gekommen ist. Nie wird sie diesen heißen Sommertag 1995 vergessen, an dem sie General Mladić zuletzt gesehen und ihn auf Knien gebeten hat, doch ihren 18-jährigen Sohn zu schonen. „Allah kann euch jetzt nicht helfen, aber ich kann es. Keine Sorge, gute Frau, es wird ihm nichts passieren“, hat Mladić ihr versichert. Er brach sein Wort, ihr Sohn wurde fortgeführt. Er ist nie wieder aufgetaucht, nicht einmal begraben konnte Frau Subasić ihn. Keine Knochen, kein erfolgreicher DNAAbgleich, kein eigener Gedenkstein. „Hollywood könnte keinen überzeugenderen Darsteller für einen Kriegsverbrecher finden“, hat der 2010 verstorbene amerikanische Unterhändler Richard Holbrooke in seiner Bosnien-Bilanz über Mladić geschrieben. „Er war eine dieser furchtbaren Gestalten, welche die Geschichte immer wieder hervorbringt: ein charismatischer Mörder.“ Ganz anders sieht ihn Sohn Darko Mladić, der in Belgrad als Informatiker arbeitet und seinen Vater bis heute zum Vorbild stilisiert. Der habe sich, wenn möglich, immer für Frieden entschieden, ansonsten nur tapfer und ehrlich sein Land verteidigt. Ein so liebevoller Familienmensch könne die ihm angelasteten Grausamkeiten gar nicht befohlen haben. Warum aber konnte der General, der so gern Gott spielte, dann nicht verhindern, dass sich seine Tochter gegen ihn 102
richtete und Selbstmord beging? Wo lernte er, Völker des Tierreichs zu lieben und Menschen bis zum Völkermord hin zu verachten? Und wenn dieser Mann wirklich ein „Monster“ ist, wie das US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ formulierte – wie wurde er es?
seiner Landsleute geläufig ist, die für ihn aber stets mehr war: eine Handlungsanleitung zur Rache, zur Wiederherstellung der „Ehre“ seines Volkes. Sein Auftrag. Was für ein merkwürdiger Zufall, dass sich die Linien zwischen Helden und Hassenswerten gerade am letzten Fluchtort des Generals überschneiden. In Lazarevo, n Ratko Mladićs Weltbild, in seiner Le- Anfang des 19. Jahrhunderts von deutschbensgeschichte gibt es zwei klar umris- sprachigen Donauschwaben gegründet, sene Gruppen: seine böswilligen Verfol- 86 Kilometer nördlich von Belgrad. Dort, wo sie ihn vor drei Monaten morgens geger, seine idealistischen Retter. Den Part des Bösen spielen die Deut- gen fünf aus dem Haus seines Cousins schen. Er war noch nicht einmal zwei Jah- zerrten und ihm Handschellen anlegten. Flirrend heiß ist jetzt die Luft über der re alt, als die kroatischen Nazi-Verbündeten von der Ustascha 1945 in der Herze- Provinz Vojvodina, flach und eintönig die gowina unweit von Sarajevo seinen Vater Landschaft – so, als sei sie von einer umbrachten. Später dann, im Jahr 1991, riesigen Dampfwalze plattgedrückt worhaben deutsche Politiker durch ihre „Ser- den. Vogelgezwitscher in früchtesatten benfeindlichkeit“ und die Anerkennung Zwetschgenbäumen, das Summen von des abspenstigen Kroatiens „sein“ Jugo- Bienen: Wie aus der Zeit gefallen wirkt slawien zerstört und sich auch noch „mit dieses Idyll am Rande Europas. Das gelbe Schild am Rand der Provinzden Muselmanen“ gemeingemacht. Die Vorbildrolle gebührt Fürst Lazar straße 7 – 1 hat jemand mit schwarzer Farund seinen Kämpfern, die sich 1389 bei be übersprüht, den alten Ortsnamen der Schlacht auf dem Amselfeld seiner durchgestrichen, durch einen neuen erÜberzeugung nach für Serbien und das setzt: Mladićevo. 3000 Einwohner, zwei Christentum geopfert haben – eine Groß- Kneipen, ein Hauch von Globalisierung. tat, die als Nationalmythos den meisten Die Gaststätte links, orange gestrichen, setzt auf Volksmusik und Slibowitz, die 50 km rechte, rot gestrichen, spielt Lady-GagaSongs unter Sonnenschirmen mit Beck’sLazarevo KROATIEN Bier-Reklame. Der Gemischtwarenladen nebenan wird von einer Einwanderin aus Belgrad Shanghai betrieben. Während die MänBOSNIENner sich feindselig hinter ihren Krügen HERZEGOWINA Srebrenica SERBIEN verschanzen, als brauchten sie die drinSarajevo gend als Schutzschilde gegen Eindringlinge, beschreibt die Chinesin bereitwillig MONTEAd den Weg zum Mladić-Haus. ria NEGRO KOSOVO Kann das sein: ein ganzes Dorf von Bosnisch-kroatische Republika Srpska Verschwörern und Verheimlichern, LazaFöderation revo gegen den Rest der Welt?
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Ausland Vorbei am Friedhof mit den verwitterten Grabsteinen der Müllers und Schneiders, vorbei am Puppenstuben-Postamt, die lange, von den deutschen Siedlern adrett geplante Hauptstraße hinauf, dann in die Karadžić-Gasse nach rechts (nein, sie ist nicht nach Radovan, diesem anderen mutmaßlichen Massenmörder, benannt, sondern nach dem schon von Goethe gepriesenen serbischen Dichter Vuk Karadžić). Da steht, unscheinbar und der gelbe Putz schon abblätternd, das Haus Nummer zwei. Branko Mladićs Heim. Im unkrautübersäten Vorgarten ist ein schrottreifer Golf geparkt, an der Wand zum Schuppen lehnt ein rostiger Rechen. Das Grundstück war wie so viele hier lange im Besitz von Donauschwaben. Als Hitlers Wehrmacht in die Region vordrang, haben sich wohl manche der Lazarfeld-Deutschen gegenüber den Serben als Herrenmenschen aufgeführt; nach der Rückeroberung des Banats durch die Truppen Titos und der Roten Armee Ende 1944 traf die Kollektivstrafe dann alle, sie wurden vertrieben, ihre Häuser beschlagnahmt. Zu den aus Bosnien Zugezogenen, die von dieser ethnischen Säuberung profitierten und sich hier ansiedeln durften, zählte auch die MladićSippe: Vier Häuser in Lazarevo gehören den Cousins des Kriegsverbrechers. Branko Mladić, 59, in dessen Haus sie den Berüchtigten verhafteten – „Gratu-
„Ratko Mladić hat zwei Monate vor seiner Verhaftung hier einen Herzinfarkt erlitten.“ liere, ihr habt den Richtigen“, soll Ratko laut offiziellem Protokoll gesagt und widerstandslos Personalausweis und zwei Pistolen abgegeben haben –, kommt spätabends mit dem Traktor angeknattert. Pranken, die so aussehen, als könnten sie rohe Kartoffeln zerquetschen: ein Held der Arbeit, wie dem Gemälde eines Sozialistische-Ideale-Malers entsprungen. Er ist kein Mann vieler Worte, kein Freund von Fremden. Als die Journalisten am Tag nach der Festnahme ins Dorf einfielen, verjagte er sie alle. Und auch jetzt spricht der misstrauische Junggeselle nur, weil die Schwester eines Nachbarn ein gutes Wort einlegt und selbst übersetzt. Weil die Hühner versorgt sind und der Tagesstress langsam abfällt und man sich zwanglos auf die Treppen vor dem Haus setzt: ein Plausch, kein Interview. – Mögen Sie Ihren Cousin? – Die allermeisten Serben verehren Ratko Mladić. – Sie glauben nicht, dass er an Kriegsverbrechen beteiligt war? – Es herrschte damals Krieg. Grausamkeiten gab es von allen Seiten, gerade auch die Muslime begingen sie. Aber die D E R
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Welt spricht nur von den serbischen. Den angeblich von Ratko angezettelten. – Ihr Cousin war 16 Jahre lang auf der Flucht und wurde bei Ihnen im Haus verhaftet. Wie lange hat er hier gelebt, wie lange haben Sie ihn versteckt? – Kann ich nicht sagen. Ich wurde fünf Stunden lang vernommen, bevor man mich dann freigelassen hat … – … unter der Auflage zu schweigen, weil die Regierung sonst zugeben müsste, wer Ratko Mladić alles geschützt hat? – Sie waren korrekt zu mir, aber ja, es gab schon Auflagen. – War Ratko Mladić bettlägrig, als er bei Ihnen wohnte? – Er hat zwei Monate vor seiner Verhaftung hier einen Herzinfarkt erlitten. – Und Sie haben ihn gepflegt? Allein oder mit ärztlicher, mit kirchlicher Hilfe? – Kein Kommentar. Aber das werde ich jetzt verraten: Ratko hat mich vor einigen Tagen aus Den Haag angerufen. Ich glaube, gesundheitlich bekommt ihm Den Haag ganz gut – und auch sonst wirkt er sehr kämpferisch. Er wollte Papiere … – Welche Papiere? – Nein, das war’s jetzt wirklich mit meinen Erzählungen. Ich muss ins Bett, morgen geht’s wieder ganz früh raus. Zwei Monate in Lazarevo, das könnte hinkommen, sagt später einer der Freunde Branko Mladićs, der die Unterhaltung auf den Treppenstufen beobachtet hat und deshalb Vertrauen fasst. Der Cousin sei meist im Schuppen versteckt gewesen, alle hätten ihn gedeckt. So ganz ohne Gegenleistung? „Das war doch eine Frage der Ehre. Aber Branko hat uns in diesen Tagen immer mal wieder etwas geschenkt. Einweckgläser, die sein Cousin nach Lazarevo mitgebracht hatte. Gläser mit Honig, köstlichem Honig.“
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ielleicht weil er seinen Vater so früh verloren hat, vielleicht weil die Mutter überfordert war und er bei seinem Onkel Mile aufwuchs, hat Ratko Mladić immer die Familie als etwas Heiliges hochgehalten, fast so wichtig für ihn wie die heilige serbische Nation. Er sei ein „vorbildliches, höfliches Kind“ gewesen, sagt der Verwandte, der immer noch in dem Kaff Kalinovik nahe Sarajevo lebt. Die einzige Chance, schnell aufzusteigen, sieht Ratko im Militär. An der Belgrader Militärakademie für Offiziere schneidet er 1965 als einer der Besten ab – und dient sich die Ränge hoch. Präsident Josip Broz Tito hält damals den Vielvölkerstaat Jugoslawien noch mit eiserner Hand zusammen, nationalistische Töne haben erst nach dem Tod des kommunistischen Diktators in den achtziger Jahren Erfolg. Im Mai 1992 – Bosnien hat gerade, nach einer von den Serben boykottierten Volksabstimmung mit der Mehrheit der dort le3 6 / 2 0 1 1
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Ausland benden Muslime seine Unabhängigkeit erklärt – wird Mladić in der Region Kommandeur der Serben, die sich in einer eigenen „Republika Srpska“ organisieren. Mit der Rückendeckung Belgrads beginnt Mladić die Belagerung Sarajevos. Seine Truppen vergöttern ihn. Er ist keiner dieser Generäle, die sich im Krieg selbst bereichern, die saufen und herumhuren und ihre Autorität nur von ihrem Rang ableiten. Er robbt mit seinen Männern durch den Schlamm, und als er einmal durchnässte und frierende Soldaten sieht, soll er aus seinem Geländewagen gestiegen sein und Wasser über seine Uniform gekippt haben, um anschließend bis zum nächsten Stützpunkt an ihrer Seite zu bleiben. Mladić ist ein Überzeugungstäter, ein Mann mit Mission. Ein Kreuzzügler für Nation und orthodoxes Christentum – die Serben verteidigten sich nur in einem ihnen aufgezwungenen Waffengang und korrigierten historisch erlittenes Unrecht, behauptet er: „Glaubt jemand, es macht Spaß, Krieg zu führen? Wenn es nach mir ginge, ich würde alle Waffen verbieten, sogar Kriegsspielzeug für Kinder.“ Er wird an der Front gebraucht. Aber wann immer er kann, reist er zur Familie nach Belgrad. Der Kämpfer mit den kalten, stahlblauen Augen zeigt da seine sanfte Seite. Er hat eine ihm treuergebene Frau gefunden, die er zärtlich mit Kosenamen „Bosa“ nennt, er verwöhnt Sohn Darko; Ana, die Tochter, ist das über alles geliebte Nesthäkchen. Dass die Medizinstudentin Bestnoten nach Hause bringt, scheint Mladić mindestens so viel Genugtuung zu verschaffen wie das allmähliche Erwürgen des Widerstands in Sarajevo und die ethnische „Säuberung“ der Region. Oder der jüngste Hochzeitsflug seiner Bienenköniginnen. Ljiljana Bulatović, 71, die langjährige Vertraute der Familie und Verehrerin des Generals, erzählt, dass an den Familienwochenenden auf Vater Ratkos Wunsch in der Wohnküche Schiffeversenken gespielt wurde. Dabei hat der Hausherr manchmal sogar zugunsten der Tochter geschummelt und die Selbstdemontage herbeigeführt – H 4, tatsächlich, ein Treffer, U-Boot versenkt: Kriegs-Spiel in heimischer Idylle. Politische Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen über Opfer im realen Krieg waren dagegen tabu. Und auch Ana hält sich daran. Bis zum Februar 1994. Sie verliebt sich in einen Kommilitonen, gemeinsam mit ihm und einer Gruppe anderer Medizinstudenten besucht sie einen Fachkongress in Moskau. Der Vater ist gegen die Reise. Die Mutter hat ihm die Bedenken ausgeredet, Ana und ihr neuer Freund Goran erleben in der russischen Hauptstadt romantische Tage. Immer wieder aber sehen sie in den TV-Nachrichten furchtbare Bilder aus Sarajevo, die Taten Ratko Mladićs. Goran, 104
Familienvater Mladić, Frau Bosa, Tochter Ana in Belgrad um 1992: „Er war so herzlich“
wie Ana 24 Jahre alt, aber in einer Familie von Menschenrechtsaktivisten sozialisiert, nimmt seine Geliebte ins Gebet. Er sagt, sie müsse ihren Vater stellen, sich mit den Gräueln auseinandersetzen, sonst habe ihre Beziehung keine Zukunft. Sie streiten. Ana weint, sie wähnt dunkle Mächte am Werk, die ihren Vater verleumden. Aber sie will mit Goran zusammenleben, Kinder haben. Schließlich verspricht sie ihrem Freund die Aussprache. Was dann folgt, wird Goran M. nie vergessen – und weil er bis heute Angst hat vor dem langen Arm des Ratko Mladić und dessen militanten Mitstreitern, besteht er auf der Verfremdung seines Namens. Er arbeitet als Arzt an einem Belgrader Krankenhaus, seine Verbindung zu Ana ist nur wenigen bekannt. Wer ihn
Ana Mladić nimmt die Lieblingspistole ihres Vaters und schießt sich in den Kopf. so sieht in einem Café der Belgrader Fußgängerzone Skadarlija, braungebrannt und sportlich, ahnt, warum die junge Frau sich in Goran verliebt hat. Und wie schwer er sich immer tun wird, die damalige Auseinandersetzung zu verdrängen. Goran zitiert sie so: – Ana, hast du mit deinem Vater über Sarajevo gesprochen? – Ich wollte es, ich habe zweimal angesetzt … – Und was hat dich zurückgehalten? – Er war wieder so herzlich. Die ganze Familie saß zusammen, es war ja auch nur ein kurzer Besuch von der Front. Er hatte ein Geschenk mitgebracht … – Du hast es also nicht geschafft. Du wirst es nie schaffen. Du kannst nicht akzeptieren, dass du einen Kriegsverbrecher als Erzeuger hast. – Hör auf damit, bitte. – Ich höre nicht auf, ich kann so nicht D E R
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mit dir leben. Du hast dich offensichtlich entschieden. – Warte doch. Ich habe Papa gesagt, ich kann nicht fertigstudieren, ich will als Krankenschwester an die Front, um mir selbst ein Bild zu machen. Aber er hat nur gelacht und gesagt: Mach mal halblang, mein Engelchen … – Du getraust dich nicht, du wirst dich nie getrauen. Der Abend endet im Streit. Es ist das letzte Mal, dass Goran seine Ana sieht. In der nächsten Nacht begeht sie, die den Vater nicht konfrontieren kann, die ultimative Tat, um ihn zu bestrafen, zu zerstören, zu demütigen – und schafft so auch ein Vermächtnis für ihren Verlobten. Sie sucht sich aus dem Schrank, in dem drei Waffen Ratko Mladićs aufgehoben sind, dessen Lieblingspistole heraus. Es ist sein stolzester Besitz, Auszeichnung für den Erfolg an der Militärakademie. Diese Waffe, hat der Vater geschworen, werde nur aus Freude abgefeuert und zum ersten Mal, wenn Ana ihm ein Enkelkind schenke. Sie nimmt die Pistole und schießt sich in den Kopf – kein Abschiedsbrief, aber für die Familie eine unmissverständliche Botschaft: Auf diese Weise, muss Ana gedacht haben, erhält Vater sein Urteil, mein Urteil. Das wird ihn für immer begleiten. Es lautet: lebenslänglich. Natürlich kann der General den Suizid seines Engels nicht akzeptieren; ein Mord müsse es gewesen sein, behauptet er nach seiner hastigen Rückkehr zur Familie steif und fest, obwohl es dafür keine Indizien gibt. Er fährt ins Leichenschauhaus, um sich tränenüberströmt eine Locke von Anas Haar abzuschneiden. Und bringt ihren Schminkkasten mit, Rouge und Lidschatten, um sie noch einmal auf Schönheit zu trimmen, herzurichten für ein neues Leben, wer weiß, vielleicht nach hundert Jahren. Sein Schneewittchen. Und lässt erst ab, als er am zerstörten Körper
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Innenstadt von Sarajevo nach Granatenangriff 1995: „Glaubt jemand, Krieg macht Spaß?“
steht und sieht, dass das nicht geht. Beim der Anruf aus Belgrad – Sohn Darko mit Abschied von der Toten im engsten der Schreckensmeldung. Und trotz des Freundeskreis eine Woche nach der Be- stechenden Schmerzes eine kaltblütige erdigung ist auch Ljiljana Bulatović ein- Reaktion. „Wo? Zu Hause? Rühr jetzt geladen. Die Wegbegleiterin erzählt von nichts an, bis ich komme …“ einem Vater in tiefer Trauer, der die VerAuf dem Tisch, erinnert sich Bulatović, wirrung seiner Tochter nach der Moskau- standen bei der Feier drei Fotos der Toten. Reise bestätigt. Am letzten Abend habe Zwei mit Familienmitgliedern, das dritte, sie über starke Kopfschmerzen geklagt, das frischeste, das sie gerade abgezogen davon gesprochen, an der Front als Kran- hatten und auf dem Ana besonders kenschwester dienen und ihr Studium erst hübsch und glücklich aussah, mit einem später beenden zu wollen. „Meine Toch- Mann, der ihnen allen unbekannt war, ter, die Bienenfleißige, als Versagerin, na, „wohl ein Freund aus Moskau“. das wär ja mal was Neues“, habe er geDer General funktioniert weiter professcherzt. sionell als Oberbefehlshaber. Aber er reAber Ratko Mladić wäre nicht Ratko duziert seine sozialen Kontakte auf ein Mladić, würde er nicht auch noch in der Minimum, brüskiert den politischen FühStunde der Trauer seine eigene Legende rer der bosnischen Serben, Radovan Kaspinnen. Nachts sei er schweißgebadet radžić, indem er der Hochzeit von dessen aufgewacht und habe sofort gewusst, dass Tochter fernbleibt. Im Kampf wird er noch etwas Schlimmes passiert sei. Habe alle rücksichtsloser, noch unmenschlicher, Kommandoposten anwählen lassen, kei- Muslime werden für ihn zu Objekten, die ne besonderen Vorkommnisse. Und dann es zu zerstören gilt. Selbst dem brutalen
Politiker an seiner Seite wird das unheimlich, der General habe „den Verstand verloren“, er sei „ein Psychopath“, sagt der gelernte Psychiater Karadžić. Mladić wütet, ein selbsternannter Rächer. Er rächt alles Leid, das den Serben zugefügt wurde und seiner Meinung nach immer noch zugefügt wird; er rächt seinen Vater, indem er den „langen Arm der deutschen Eroberer auf dem Balkan“ bekämpft; er rächt mit jedem Getöteten vielleicht auch seine tote Tochter. Als er Mitte Juli 1995 nach Potočari kommt, in ein Dorf, in das damals 28 000 muslimische Bosnier von Srebrenica geflohen sind, ruft er nach Aussage der Augenzeugin Nedzida Sadiković seinen Truppen glückstrunken zu: „Da sind so viele, das wird ein Fest! Das Blut wird euch bis an die Knie stehen!“ Sind die Kameras an, kann Mladić immer noch den Charmeur spielen. Bewirtet und beflirtet in seinem Hauptquartier nordöstlich von Sarajevo die SPIEGELKorrespondentin Renate Flottau. Stellt sich auch deren kritischen Fragen. Protestiert nur verhalten, als sie Menschenrechtsverletzungen anspricht: „Seit je werden Grenzen mit Blut gezogen.“ Bei den Blauhelmen der Uno, die Srebrenica zur „sicheren Zone“ deklariert haben, aber laut Auftrag auf den Feind nicht schießen sollen, erkennt Mladić mit sicherem Instinkt entscheidende Schwächen. Er nimmt Geiseln, er brüllt und beschwichtigt so lange, bis die niederländischen Spitzenmilitärs vom Dutchbat-Regiment nur noch daran denken, ihre eigene Haut zu retten, und ihm die Schutzbefohlenen überlassen. Für Mladić heißt das: zum Abschlachten. Darauf trinkt er dann mit Kommandant Thom Karremans („Ich bin doch bloß der Klavierspieler, erschießen Sie nicht den Klavierspieler!“) gern ein Gläschen.
Aber es gibt nicht nur die Eingeschüchterten, es gibt auch die Überzeugten. Die Autorin Bulatović hält Mladić bis heute für einen verkannten Friedensstifter, eine Art Mahatma Gandhi des Balkans. Die Zuneigung ist gegenseitig. So bedingungslos, dass er ihr seine geheimen Srebrenica-Tagebücher anvertraut hat – das behauptet jedenfalls die selbstbewusste Dame im schlichten Kostüm. Sie berät sich mit ihm über einen serbischen Anwalt seiner Wahl, seit neuestem vertritt ihn der Landsmann Branko Lukić. Aber sie sei sicher, sagt sie und nimmt einen letzten Schluck Tee, bevor sie sorgfältig das weiße, gefaltete Spitzentaschentuch in ihr Täschchen zurücksteckt, Den Haag sei ein abgekartetes Spiel. „Er wird keinen fairen Prozess bekommen, die Welt hat sich gegen uns Serben verschworen. Und gegen ihren militärischen Führer.“
FILIP HORVAT
Ausland
ach dem Versagen der Uno Wandmalerei in Belgrad: „Er wird keinen fairen Prozess bekommen“ in Srebrenica im Juli 1995, nach einem neuen, fürchterlichen Grana- Verfolgungseifer, der wahrscheinlich für schaft – und die serbisch-orthodoxe Kirteneinschlag auf dem Marktplatz von Sa- Djindjićs gewaltsamen Tod verantwort- che. Als das Haus im Belgrader Diplomarajevo, bombardiert die Nato Serbien. Am lich ist. Mitglieder einer Spezialeinheit tenviertel, in dem seine Frau und der 21. November 1995 wird unter amerikani- des früheren Regimes lauern ihm am 12. Sohn wohnen, mehrfach durchsucht wird, scher Vermittlung von allen Kriegspartei- März 2003 auf und erschießen ihn vor muss er den Kontakt abbrechen. Eine Krebserkrankung mit anschließender en der Friedensvertrag von Dayton unter- dem Regierungsgebäude. Die Gerüchte wollen nicht verstum- Chemotherapie zwingt ihn angeblich zu zeichnet. Er zementiert die Teilung Bosniens, und er bestätigt auch den für die men, auch der französische und russische einem mehrwöchigen KrankenhausaufSerben nicht unerfreulichen Status quo; Geheimdienst hätten zeitweise ihre schüt- enthalt; unter falschem Namen wird er zende Hand über Mladić gehalten. Die von einem Mediziner-Freund in Belgrad die Republika Srpska bleibt autonom. Mladić war nicht in Dayton, spielte ehemalige Chefanklägerin des Den Haa- behandelt. Sobald er wieder auf den Beibeim Friedensschluss keine Rolle. Er ist, ger Tribunals, Carla Del Ponte, klagt in nen ist, verlässt er die Hauptstadt. Er so könnte man denken, von seinem ihren Memoiren über die mangelnde Ko- macht sich auf ins Banat, zu den GeistliFreund, dem Immer-noch-Präsidenten operation der CIA. Einmal wird ihr die chen seines Vertrauens. Und findet mit und serbischen Kriegstreiber Slobodan geheime Information zugespielt, Mladić ihrer Hilfe ein perfektes Versteck: das Milošević, im Stich gelassen worden. halte sich „in der Nähe von Valjevo in ei- Kloster der heiligen Melanie bei ZrenjaDoch das scheint nur so. Der General hat nem Feriendorf der Armee auf und gehe nin. Der General, gewohnt an das Herumkommandieren von Männern, lebt nun nichts zu befürchten, der Haftbefehl aus dort dem Hobby der Imkerei nach“. Ein gutes halbes Jahr nachdem die unter Nonnen und deren Regiment. Den Haag, ausgestellt schon am 25. Juli Ja, gelegentlich habe man zahlende 1995, wird nicht vollstreckt – Mladićs ebenso unerbittliche wie umstrittene ErNetzwerk von Freunden und Beschützern mittlerin Ende 2007 das Tribunal nach Hausgäste angenommen, sagt später eine reicht offensichtlich bis nach ganz oben. achtjähriger Amtszeit verlassen hat, feiert Nonne unwirsch zum SPIEGEL, Ratko Während am Flughafen und an den ihr Nachfolger einen Durchbruch: Ka- Mladić habe sie hier nie gesehen. Die Grenzübergängen sein Steckbrief hängt, radžić wird gefasst und Den Haag über- Oberin ist nicht zu sprechen. Aber einer lebt Mladić jahrelang unbehelligt in sei- geben. Der Psychiater hat sich einen Bart der Klosterlieferanten, der hier ein- und nem Haus im Belgrader Diplomatenvier- wachsen lassen und im Untergrund eine ausgeht, sagt bereitwillig: „Natürlich war tel. Die Fahndung nimmt teilweise gro- neue Existenz aufgebaut, als esoterischer er hier. Die Nonnen beteten für ihn, als teske Züge an. Europas Meistgesuchter Heiler. In Sachen Mladić gilt weiter: viele es ihm immer schlechter ging, sprachen sie sogar davon, ihm in der Krypta ein sitzt während des Fußball-Länderspiels Fährten, wenig Fortschritte. Doch die Politik treibt ihn nun in die Ehrengrab mit Sarkophag herzurichten.“ gegen China in der Ehrenloge des Partizan-Stadions, isst mehrfach mit Freunden Enge. Der neue serbische Präsident Boris Dann habe sich der Patient erholt, sei in im Restaurant Ruderclub an der Donau Tadić hat erkannt, dass sein wirtschaftlich der Gegend sogar auf die Jagd gegangen. Ende 2010 wird offensichtlich auch der Fisch. Und noch Jahre bezieht er seine zurückgebliebenes Land nur eine Perspektive innerhalb der EU hat. Aufnah- Druck auf die Orthodoxen zu stark: MlaMilitärpension. Die Farce findet erst ein Ende, als Zo- meverhandlungen aber macht Brüssel ab- dić muss verschwinden. Er geht in die ran Djindjić im Jahr 2001 die Wahlen ge- hängig von einer Verhaftung und Auslie- Nachbarschaft, zu den Verwandten. Vom winnt und Milošević nach Den Haag aus- ferung Mladićs. Ende 2008 muss er unter- Kloster bis zum Haus des Neffen sind es nicht einmal zehn Kilometer. Ob seine geliefert wird; der prowestliche Djindjić tauchen. Verlass, so muss er damals gedacht ha- Verfolger ihn schon in Zrenjanin beschatwill auch Mladić loswerden, beauftragt seine Militärs mit der Verhaftung – ein ben, ist wohl nur noch auf die Verwandt- tet haben, ob sie ihm erst in Lazarevo
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durch einen Tipp auf die Spur kamen – Und dem sie sagten, er könne bleiben, er bis heute bleibt das unklar. habe ja einen Vertrag mit der WeltorgaBekannt ist nur der letzte Wunsch Mla- nisation, aber nicht seine Familie, die dićs vor seiner Auslieferung: Er will noch müsse das Uno-Quartier leider verlassen. einmal zum Grab seiner Tochter. Dem „Ich habe ihnen das übersetzt, wir wussSchlächter, der so wenig Mitleid mit an- ten, das ist ihr Todesurteil.“ Hasan wüsste deren hatte, wird Mitleid zuteil, eine hu- gern, wie er nicht weiter hassen sollte. Er manitäre Geste. Er verabschiedet sich auf schafft es nicht. dem Waldfriedhof Topčider in Belgrad Beim Jugoslawien-Tribunal in Den das vermutlich letzte Mal von Ana. Er Haag könnte man zufrieden sein: 161 darf – streng bewacht – einen kleinen Ro- Haftbefehle wurden ausgestellt, alle 161 senstock vor die granitschwarze Gedenk- mutmaßlichen Täter sind ausgeliefert, als platte pflanzen. Die Blumen gedeihen letzter der Anführer der kroatischen Serprächtig, stehen jetzt in voller roter Blüte. ben Goran Hadžić vor sechs Wochen. In Geradezu unsterblich schön. Den Haag verkneift man sich aus gutem Grund Triumphgefühle. Verurteilt wurrebrenica heute, das ist ein verwun- den bis jetzt eher die kleinen Fische. Und deter Ort. Mehrheitlich leben hier Serben, aber immerhin sind auch einige hunDer Traum von Jugoslawien bedert muslimische Bosnier zurückgekomsteht nur noch an einem Ort – im men, meist Frauen. Junge Familien gibt Gefängnis der Kriegsverbrecher. es fast gar nicht. Ein Hauch von Neuanfang: eine kleine Moschee im Bau, eine gerade eröffnete Bar namens Acapulco, es stehen zähe Prozesse bevor, mit allen mit EU-Geldern wiederaufgebaute Häu- Winkelzügen erfahrener Anwälte und unser am Stadtrand. Alles wirkt noch pro- einsichtiger Angeklagter. visorisch, als wagte man nicht, an die ZuZwischen den Balkan-Völkern bleiben kunft zu glauben. auch nach der Aufteilung Jugoslawiens Vor den Toren des Ortes liegt die Fa- in Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnienbrikhalle, in der die Menschen damals zu- Herzegowina, Montenegro, Mazedonien sammengepfercht waren. „United Na- und Kosovo schwere Spannungen. Die tions“ steht an den verfallenden Wänden, Kosovaren und die Serben lieferten sich jemand hat das zweite Wort durchgestri- erst Ende Juli blutige Grenzstreitigkeiten. chen und „United Nothing“ daraus ge- In Bosnien-Herzegowina scheint das ethmacht – das „Vereinte Nichts“. An der Ge- nische Gleichgewicht fragiler denn je. Der denkstätte mit den weißen Stelen über Traum von den „Jugoslawen“, die sich den Gräbern ist in einen Stein eine Zahl untereinander verstehen, ist Geschichte. eingraviert, hinter ihr drei Punkte: 8372 Aber ist er wirklich ganz ausgeträumt? … Jeder begreift: Es dürften noch mehr Gescheitert? Überall? Jugoslawien existiert noch – im GefängOpfer werden, deren Gebeine man findet. „Es sollten alle hierher kommen, die nis von Scheveningen. Dort, wo die Unteres getan haben, und alle, die es nicht ver- suchungshäftlinge des Jugoslawien-Tribuhindert haben“, sagt der Bosniake Hasan nals sitzen und man beim Spaziergang auf Nuhanović, der damals als Übersetzer für dem Gefängnishof das Salz des nahen Meedie holländischen Uno-Offiziere arbeitete. res riechen kann, so, wie an der einst um-
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kämpften dalmatinischen Küste, gibt es nach Aussagen des Wachpersonals keinerlei Probleme. Die Männer, die ihre Völker gegeneinander aufgehetzt haben, gehen zivilisiert miteinander um, spielen Karten, haben sogar für die Witwe eines verstorbenen Mithäftlings gemeinsam ein Geschenk gekauft, wie die Autorin Slavenka Drakulić recherchiert hat. Sie verstehen sich. Wie sich Ratko Mladić da einfügen wird: Man weiß es noch nicht. Wie alle hat er in seiner bequemen Zelle Anspruch auf die Zuschaltung von TV-Satellitensendern seiner Wahl, auch solchen vom Balkan. Er kann ankreuzen, ob er morgens zum Frühstück Marmelade oder Honig will – wohl keine schwere Entscheidung für Mladić, den ewigen Imker. Im Augenblick beschränkt er seine Sozialkontakte auf ein Minimum, hält sich von den gemeinsamen Spielabenden fern, will an seiner Verteidigung feilen. Die Ironie wird ihm nicht entgangen sein, dass wieder einmal ein Deutscher in sein Schicksal hineinpfuscht: Christoph Flügge, 64, Ex-Justiz-Staatssekretär aus Berlin, ist einer der Richter in dem Verfahren. Der mutmaßliche Massenmörder mit dem Hang zur Familie empfängt derzeit nur Frau und Sohn. Vielleicht aber wird er, wenn die Einsamkeit in der Zelle in ihm hochkriecht, die Mithäftlinge zu einer Runde Schiffeversenken auffordern. Und sie alle von der Karte radieren, die kroatischen Kreuzer, die slowenischen Kampfschiffe und vor allem diese besonders lästigen bosnisch-muslimischen UBoote. Er wird siegen wollen, es ihnen allen zeigen, er, Ratko der Rächer, der große Menschenversenker. An die Bienenvölker wird der Angeklagte Mladić wohl auch häufiger denken. Und an Ana. Seine Königin, die den Stachel gegen sich selbst gerichtet hat. Und gegen ihn, den Übervater.
Ausland
DUBAI
Schäumende Luxusgüter Global Village: Wie eine Norddeutsche in Dubai die Kamelwäsche revolutioniert
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MARTIN VON DEN DRIESCH / DER SPIEGEL
as Oldenburger Münsterland ist Essener Unternehmer Heinrich Wilms. se sie aber nachbessern: „Da muss dann bekannt für seine Hühnerbarone, „Alles auf organischer Grundlage“, sagt eben noch Satinband an die Decke.“ Wööööorrhhh. Geduld, al-Dahab. eher weniger für Schwielensohler. Kemphues, und dass die Kiefer als solche Gleich wird das Tier noch mit „Wilms ein sehr gesunder Baum sei. Aber das muss ja nicht so bleiben. Sie wischt sich mit dem Handschuh die PineFauna Aufbaugel“ eingecremt, eben„Kamele sind Luxusgüter“, sagt Birgit Maria Kemphues in einer der Wüsten von Haare aus der Stirn: „More water, Samir.“ falls „made in Osnabrück“ und sehr orDubai, „die wollen gepflegt sein. Kamele Ein Kamelpfleger aus Bangladesch dreht ganisch: „Ich benutze es ja auch.“ Seit sieben Jahren lebt Birgit Kempstehen ja hier an erster Stelle, noch vor den Schlauch auf. Kemphues gibt noch den Frauen.“ Kemphues hat einen Weg- etwas Shampoo aufs Fell („Eine Kappe hues aus Kemphausen in den Arabischen werf-Overall übergezogen und trägt ei- für ein großes Kamel“) und fängt an, Emiraten, sie unterrichtet „Eventmanagekreisförmige Bewegungen mit ihrem ment“ an der Universität von al-Ain und nen Massagehandschuh. Das Luxusgut neben ihr macht jetzt Handschuh zu machen. Das Kamel riecht hat jetzt ein Vertriebssystem für das ein Geräusch wie aus „Jurassic Park III“. jetzt ein wenig nach Münsterländer Wald Shampoo aufgebaut. Sie hat sich durchboxen müssen, als alleinstehende NordWööööorrhhh. Ein Dino-Brüllen, das aus und Bio-Sauna. Al-Dahab ist eingeschäumt. Das Tier deutsche in der Wüste. „Jeder Tag hier den Tiefen jenes mächtigen Körpers kommt, der da im Wüstenstaub liegt, liegt mit eingezogenen Vorder- und Hin- ist interkulturelles Training“, sagt sie. Aber jetzt wolle sie gar nicht klatschnass, etwas schaumig mehr weg. und sehr weit entfernt vom Das geht manchen DeutMünsterland. schen so. Eine Allgäuer TierDas Kamel heißt al-Daärztin, die über Fußerkranhab, das Goldene, es hat kungen von Jagdfalken prosanfte, etwas müde Augen movierte, leitet heute das und eine stark ausgeprägte Falken-Hospital in Abu DhaUnterlippe. Wer den Jungen bi. Die erste Kette von BioDeutschen Film liebt, muss Supermärkten wird gerade jetzt an Rüdiger Vogler denvon einem Deutsch-Syrer ken. aufgebaut. Und eine RavensBirgit Kemphues denkt burgerin ist seit Jahren als nicht daran. Die 43-jährige „Kamel-Uschi“ bekannt, inGeschäftsfrau aus Kemphauzwischen hat sie ihre eigene sen bei Damme, Landkreis Karawane. Vechta, leidet. Sie leidet an Deutschland ist nicht mehr dem Schweiß, der ihr in die nur das Land der Maschinen Augen trieft, und an der Sonund Autos. Längst ist es eine ne. Vor allem aber leidet sie Hegemonialmacht in grünem unter dem Anblick der Ka- Kamel-Shampoo-Präsentation: Mit Kokosnussöl und Kamille Weltanschauungsbedarf gemelhaut, wie sie in vielen Farmen der Vereinigten Arabischen Emi- terläufen auf dem Boden, macht wieder worden, von Windkraft bis zu Körnermühseinen Saurierton und will nicht mehr len. Die neue Sanftheit der Deutschen hat rate anzutreffen ist. etwas Missionarisches, aber schließlich Denn nicht alle Kamele werden auch nass sein. Natürlich ist das nur ein Vorführtermin, geht es ums Überleben der Spezies. wie Luxusgüter behandelt. Die meisten Kemphues gehört nicht zu den Öko-PreTiere laufen frei herum und fressen, was eine Produktpräsentation, um die Kamelin den Weiten der Wüste herumliegt. Plas- farmer von den Vorzügen des „Wilms“- digern. Sie ist Geschäftsfrau. Und sie ist tiktüten aus Supermärkten etwa. Das Phä- Shampoos zu überzeugen. Kemphues hat in diese Tiere vernarrt. „Es sind sehr sennomen hat so zugenommen, dass die Re- anderthalb Millionen Euro in die Entwick- sible Wesen. Sie kommunizieren miteinangierung bis 2013 ein Verbot von Plastik- lung der nachhaltigen Kamelwäsche in- der“, sagt sie und macht ein paar rollende R-Laute. Al-Dahab versucht, sich aus seivestiert. Allerdings kein eigenes Geld. tüten durchsetzen will, inschallah. Die Anschubfinanzierung sei von ner Brathähnchen-Position zu befreien, Auch mit dem Fell der Kamele steht es nicht zum Besten. „Die meisten Far- höchster Stelle gekommen, erzählt sie. aber wird vom Bangladescher wieder auf mer waschen ihre Tiere mit ordinärem Aus der Familie des Emirs. Aus jenen den Boden gezogen: erst noch trocknen. Kemphues sagt, man merke es den TieWaschpulver und Haarspray“, so Kemp- Herrschaftsregionen, wo für ein Kamel hues. „Das greift die Haut an und das einige Millionen bezahlt werden und man ren an, wenn sie gut gewaschen seien: Fell. Stellen Sie sich einfach Schuppen- die Renntiere von Reitrobotern in Form „Wenn sich ein Kamel nach der Wäsche wohl fühlt, dann hört man das. Es hoppelt halten lässt. flechte vor.“ Birgit Kemphues sagt, sie habe im vor Freude und wirft die Hinterbeine Deshalb gibt es nun „Wilms Camel Shampoo“ aus dem Extrakt von Kiefern- Münsterland auch eine Bio-Kameldecke hoch.“ Sie mag diese Tiere. Vielleicht ist es doch der Rüdiger-Vogkernholz, Kokosnussöl, Kamille und deut- entwickeln lassen, mit Kiefernraspeln geschem Kristallsalz, entwickelt vom Bad gen Milben. Für den hiesigen Markt müs- ler-Blick. ALEXANDER SMOLTCZYK 108
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Sport
Szene L E I C H TAT H L E T I K
„Null Toleranz“ A
uch auf Drängen von Fernsehsendern beschloss der Leichtathletik-Weltverband vor zwei Jahren, künftig solle jeder Fehlstart zur Disqualifikation führen. Damals sah der US-Sprinter Tyson Gay das Unheil kommen: „Wenn dies Usain Bolt passiert, ist die Aufregung groß.“ Vorvergangenen Sonntag war es so weit: Weltrekordler Bolt sprang im 100-Meter-Finale bei der WM in Daegu zu früh aus den Blöcken, der Superstar aus Jamaika wurde vom Wettkampf ausgeschlossen. Bis 2009 ist erst der zweite Fehlstart eines Rennens geahndet worden, dennoch sehen Funktionäre und Veranstalter keinen Anlass, die Regel zu überdenken. „Wer viel Geld bezahlt, um in Las Vegas einen Boxkampf zu sehen, muss auch damit rechnen, dass der Kampf in der ersten Runde zu Ende ist“, sagt Sebastian Coe, Organisationschef der Olympischen Spiele 2012. Auch Gerhard Janetzky, Organisator des Leichtathletik-Meetings am Sonntag in Berlin, begrüßt die rigide Fehlstartregel: „Null Toleranz für alle, das ist fair.“ Dass Sportler Startgeld kassieren, wegen eines Fehlstarts aber gar nicht laufen, muss er nicht befürchten. Ausbezahlt werde nur, „wenn der Athlet gültig antritt“.
2,6 Millionen TV-Zuschauer sahen in Deutschland das Finale der Leichtathletik-WM über 100 Meter.
Bolt bei Fehlstart in Daegu
KIM KYUNG-HOON / REUTERS
AMIN AKHTAR / DER SPIEGEL
„Total entspannt“ Friederike Janofske, 57, Psychologin und Mentaltrainerin von Doppelolympiasiegerin Britta Steffen, über das Scheitern der von ihr betreuten Sportlerin bei der SchwimmWM in Shanghai SPIEGEL: Britta Steffen fuhr als Titelverteidigerin zur WM, belegte Platz 16 im Vorlauf über 100 Meter Freistil und reiste vorzeitig wieder ab. Steffen schweigt bislang zu den Gründen. Warum konnte sie die Erwartungen nicht erfüllen? Janofske: Britta musste wegen einer langwierigen Viruserkrankung ein Jahr mit dem Training aussetzen. Sie hat nach dieser Pause eine starke Muskulatur aufgebaut, es aber in
Shanghai nicht geschafft, die Kraft im Wasser umzusetzen. Sie spürte keinen „Druck auf der Hand“ – wie Britta es formulieren würde. Daran werden wir in den nächsten Wochen arbeiten. SPIEGEL: Steffen wirkte verwundert und verunsichert. Janofske: Sie fühlte sich sehr stark. Sie war stolz auf ihre körperliche Kraft und Energie und war voller Selbstbewusstsein. Im Training schwamm sie wieder Bestzeiten. In Shanghai zeigte sich jedoch, dass die Reserven für eine Weltmeisterschaft noch nicht ausreichten. SPIEGEL: Wird Britta Steffen trotzdem bei den Olympischen Spielen in London im nächsten Jahr starten? Janofske: Natürlich. Diese Realitätsprüfung hat uns Steffen D E R
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allen gezeigt, worauf wir uns nun konzentrieren müssen. Das Training ist ohnehin auf die Olympischen Spiele ausgerichtet. Bis dahin werden wir alle Faktoren optimiert haben, so dass ihre Kräfte im Wasser wieder richtig freigesetzt werden können. Ich bin da total entspannt. Und Britta ist es mittlerweile auch wieder. SPIEGEL: Steffen wurde vom Verband wegen der vorzeitigen Abreise hart kritisiert. Haben Sie ihr zur Flucht geraten? Janofske: Nein. Ich habe zweimal eine Stunde lang mit ihr telefoniert, damit sie im Vorlauf starten kann, von der Abreise habe ich jedoch erst im Nachhinein erfahren. Ich empfinde diese Aufregung trotzdem als völlig überzogen und unangebracht. BERND THISSEN / DPA
SCHWIMMEN
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Sport
FUSSBALL
Zicke zacke hoi hoi hoi Die TSG Hoffenheim, mit dem Geld des Milliardärs Dietmar Hopp in die Bundesliga gekommen, will jetzt sparen und gemocht werden. Fans der Konkurrenz nehmen den neuen Kurs allerdings noch nicht zur Kenntnis.
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TEAM 2 / IMAGO
ie TSG 1899 Hoffenheim wird In ihrem vierten Bundesligajahr liegt jetzt ein ganz normaler Fußball- die von Dietmar Hopp gepäppelte TSG verein, sparsam und erdverbun- immer noch wie ein Fremdkörper im den, sympathisch außerdem, wirtschaft- Organismus Profifußball, nicht dort gelich unabhängig von den Zuwendungen wachsen, sondern von außen hineinihres milliardenschweren Mäzens. geraten wie eine verschluckte Gräte. Seit Das ist kein Witz. Am Samstag vor ei- drei Wochen halten die Diskussionen ner Woche saß der Sportmanager und Ge- über die sogenannte Lärmkanone an, schäftsführer Ernst Tanner, 44, in einem eine Affäre, die das alte Vorurteil auf Besprechungsraum der RheinNeckar-Arena, 90 Minuten vor Beginn der Bundesligapartie gegen Werder Bremen nahm er sich Zeit, bei stillem Wasser aus der Flasche alles in Ruhe zu erklären. Es ging um einen neuen Sparkurs auf dem Spielermarkt, um eine professionellere Jugendförderung und ein „teilweise erschreckendes Bild“ in der Außendarstellung. Es seien Fehler gemacht worden, sagte Tanner: „Wir kamen oft als zu hochnäsig, zu wenig volksnah und besserwisserisch rüber.“ Eine Stahltreppe weiter oben, jetzt nur noch 15 Minu- Hoffenheimer Mäzen Hopp: „Nicht steuerbar“ ten vor Spielbeginn, waren die Hoffenheimer Fans zu hören, sie san- die schrulligste Weise bestätigte: Hoffengen ihre Hymne vom „kleinen Dorf am heim brauche, um sich wehren zu könWald“, und darin: „Lästerei und Neiderei nen, fremde und irgendwie unlautere gehen uns am Arsch vorbei.“ Hilfe. Ist das hochnäsig? Besserwisserisch? In diesem Fall räumte ein vereinsangeKaum war die erste Halbzeit gespielt, stellter Hausmeister ein, gegen Schmähmachte der Ordnungsdienst von seinem gesänge von Gäste-Fans einen selbstHausrecht Gebrauch und stürmte, auch gebastelten Apparat eingesetzt zu haben, nicht wirklich volksnah, den Fanblock der auf Tastendruck laute Quietschtöne der Bremer Gäste. Der Zugriff galt einem erzeugt. Die Polizei ermittelt noch, ob Zuschauer, der eine Rauchbombe gezün- die Töne gesundheitsgefährdend waren; det hatte, und mündete in eine Massen- elf Dortmunder Fans haben Anzeige weschlägerei. Eine Bremer Fanbetreuerin gen Körperverletzung erstattet. nannte das Vorgehen der Ordner später Das Schlimmste für die Außenwirkung „unverhältnismäßig“. war, dass Hoffenheim und insbesondere Sie können sich noch so viel Mühe ge- Dietmar Hopp den Eindruck erweckten, ben, ein Besuch in der schicken neu- sie wollten den Hausmeister eher für seien Arena in Sinsheim, Dietmar-Hopp- ne Zivilcourage loben als für einen BäStraße 1, ist kein normaler Stadionbesuch. rendienst tadeln. Hopp sieht sich und den Irgendetwas wirkt immer unverhältnis- Club einer „Treibjagd“ ausgesetzt und mäßig, zu laut, zu aggressiv oder zu be- nimmt die fortlaufenden Beleidigungen – leidigt bei dem Verein, der neuerdings meist besingen sie ihn als „Sohn einer ein besserwisserisches „1899“ im Namen Hure“ – richtiggehend persönlich: Seine führt, um zu betonen, dass er eigentlich Mutter sei eine herzensgute Frau gewegar nicht aus der Retorte komme. sen, wendete er ernsthaft ein. 110
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Die Frage ist, ob der frühere SoftwareUnternehmer und SAP-Mitbegründer Hopp, 71, die Fußballkultur dieser Fans versteht, ihre Provokationen, ihre Rituale und auch ihren Humor. Er war jetzt im Urlaub. Hopp schläft nicht gern in Hotels, deshalb reist er mit seiner Frau Anneli in seine eigenen Häuser. Und weil er keine überfüllten Golfkurse mag, hat er sich in Südfrankreich ein eigenes Golfresort zugelegt, ein Refugium nach eigenem Geschmack: Terre Blanche, ein 266-Hektar-Areal mit zwei 18-LochPlätzen, einem Fünf-SterneHotel, seiner eigenen 400Quadratmeter-Villa sowie rund hundert Parzellen, die er verkaufen ließ. Da wohnen nun andere Villenbesitzer, die für 50 000 Euro Aufnahmegebühr ebenfalls Golf spielen – ein Millionärspark hinter einem zwei Meter hohen Zaun mit Infrarotkameras, weit weg von der Basis der Fans. Der hannoversche Konfliktforscher Gunter A. Pilz spricht von einer „Pöbelkultur“ der sogenannten Ultra-Szene, die dem reichen Gönner unterstellt, die sozialen Wurzeln des Fußballs zu verraten. Diese Fans könnten wohl nur mit einem Ehrenkodex gestoppt werden, meint Pilz. Wenn man als Betroffener auf sie reagiere, „gibt man ihnen nur eine Steilvorlage“. Plötzlich machten sich jetzt sogar die Fans des FC Augsburg, der selbst von einem Mäzen am Leben gehalten wurde, johlend über Hopps „Kunstprojekt“ Hoffenheim lustig. Dortmunder Anhänger verspotteten Hopp nach der Quietschtonaffäre als „Sohn einer Hupe“. Der Mäzen betont, wenn er für sein Engagement kritisiert wird, dass er „kein Abramowitsch“ sei, auch kein Investor, der sich vom Fußballgeschäft eine satte Rendite verspreche. Hopp fördert von jeher den Nachwuchs in der Region, im Handball, im Eishockey; nur bei seinem Heimatclub Hoffenheim sei er „so hineingeschlittert“ in die große Fußballwelt mit ihrer eigenen Dynamik. Sein Geld sollte
ARP / IMAGO
Dortmunder Fußballfans 2008: „Gefährliche Entwicklung“
nur eine Anschubfinanzierung sein; mit dem Eintritt in die Bundesliga sollte sich das Projekt selbst tragen. Es war ein Fass ohne Boden. Seit 2006 hat Hopp Verluste von insgesamt mehr als 80 Millionen Euro ausgeglichen. Er bittet Gesprächspartner gern in den Konferenzraum des Golfclubs St. LeonRot, Hopp ist dessen Gründer, Eigentümer und Präsident. Auch den Hoffenheimer Mannschaftsrat hat er schon dorthin bestellt, es ist auch formell die Machtzentrale des Bundesligisten. 66 Prozent der Anteile von Hoffenheims Spielbetriebsgesellschaft hält der Golfclub. Wenn Hopp im Konferenzraum etwas braucht, drückt er auf einen Knopf auf dem Tisch. Dann kommt jemand, um zum Beispiel ein Blatt zu kopieren. Der Hausherr spricht mit leicht brüchiger Stimme, manchmal lacht er, auch über sich selbst, über die eigene Biederkeit. Neulich hatte er sich eine Warze wegschneiden lassen, über das Wort „Schönheitsoperation“ schüttelte er sich belus-
tigt: Für derlei Eitelkeiten würde er sich Der wollte in die Champions League; Hopp genügt die Bedeutung in der Proin seinem Alter „genieren“. Der Profifußball, sagt er, sei „eine an- vinz. Bei SAP war er „Vadder Hopp“, weil dere Welt, die ich so nicht gekannt habe“; ständig werde gemeckert. Als er noch er sich für überdurchschnittliche Gehälter zweistellige Millionenbeträge in die einsetzte und einjährige LohnfortzahlunMannschaft pumpte, hielten das Reprä- gen im Krankheitsfall. Nach dem Rücksentanten von Traditionsclubs für Wett- zug aus der Firma verlegte er sich auf bewerbsverzerrung. Als er im Winter Wohltätigkeiten: Seine Stiftung schüttete dann gemeinsam mit Manager Tanner seit 1995 mehr als 250 Millionen Euro für den Brasilianer Luiz Gustavo an Bayern soziale und medizinische Projekte aus soMünchen verkaufte und erklärte, man wie für den Sportnachwuchs; Hopps Liebmüsse Transfererlöse erzielen, auch mit lingsprogramm heißt „Anpfiff ins Leben“. Er hat öfter als gelegentlich mit MenBlick auf die künftigen Finanzregeln der Uefa, da brandmarkten Kritiker dies als schen zu tun, die ihm dankbar sind. In unbotmäßige Einmischung – ins Club- Hoffenheim steht das Dietmar-Hopp-Stageschäft und in die Belange des Trainers. dion und in Zuzenhausen der DietmarHopp nennt das „hysterisches Ge- Hopp-Sportpark, es gibt die Dietmarschrei“. Seit 2006 hat er mehr als 240 Mil- Hopp-Allee in Walldorf, die Dietmarlionen Euro in Hoffenheims Fußball ge- Hopp-Straße in St. Leon-Rot und nun steckt, davon mehr als die Hälfte in die auch in Sinsheim. Ein Kleinplanet wurde Infrastruktur. Zuletzt lag das Saisonminus „Dietmarhopp“ genannt. Auch in seinem Fußballclub, sagt ein bei rund 30 Millionen. Das Projekt sei ihm „auf die Füße gefallen“ in der Zeit früherer Mitstreiter, treffe der Mann auf des ehrgeizigen Trainers Ralf Rangnick. keinen Widerspruch. „Die Leute sind fast D E R
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Sport
KLAUS SCHWABENLAND / SPORTSWORD
devot.“ Ein hochrangiger TSG-Angestell- nur rund drei Millionen Euro ausgegeben, ter beklagt: „Er ist für uns nicht steuer- vor zwei Jahren waren die Transferkosten bar.“ Als ihn jemand darauf hinwies, dass siebenmal so hoch. Die Nachwuchsfördeer sich nicht für alles öffentlich rechtfer- rung ist dafür kein Breitensport mehr, tigen müsse, beschied Hopp: Er werde sondern leistungsorientiert; Tanner ließ sich nicht ändern. dort die Trainer austauschen. Irgendwie muss er dauernd seine Un„Wir geben im laufenden Betrieb nicht schuld beweisen, das ist wie ein Tick. mehr Geld aus als andere Vereine“, sagt Zum Interview kurz nach der Trennung Tanner, der vom Traditionsclub 1860 von Ralf Rangnick, mit dem er sich über München kam. „Wenn wir so arbeiten, den Gustavo-Transfer zerstritt, kam er werden wir auch akzeptiert.“ Vielleicht mit einem roten Aktenordner. Darin lag ist es aber bereits zu spät. ein Blatt mit der Überschrift: „Protokoll „Das Feindbild begann doch schon abder Ereignisse im Zusammenhang mit zuklingen“, meint Schmitz-Günther, doch dem Ausscheiden von RR“. Er hatte den dann sei die Lärmkanone gegen die GäsE-Mail-Verkehr aufgelistet. tefans gekommen. Wie in vorauseilenHopp selbst beschwerte sich auch mal dem Gehorsam hatte da jemand den guper Mail beim Trainer über einen Spie- ten Menschen Hopp hupend schützen lerwechsel: Auswärts beim VfL Wolfsburg wollen, das war ja kein Zufall. Sie haben hätte er gern den damaligen TSG-Vertei- sich da in Hoffenheim an eine Wagendiger Christian Eichner nach der Pause burgmentalität gewöhnt, an der Rolle des im Einsatz gesehen. Er mochte Eichner, Außenseiters Gefallen gefunden. „Nicht denn der kam aus der Region. Hopp, sondern der Mob“ schade dem Manchmal scheint DietFußball, stand jetzt auf eimar Hopp noch in jener nem Bettlaken im Stadion. Welt des Fußballs zu leSie sind empfindlich, weben, in der er selbst für jenigstens das hat Tradition. des Tor, das er für HoffenEinmal beanstandete der heim in der Kreisklasse Mainzer Manager Christian schoss, eine Dose LeberHeidel, der künstlich beatwurst als Prämie bekam. mete Club nehme einem Als Mäzen betrat er nach der richtigen Vereine im dem Bundesligaaufstieg die Profifußball den Platz weg. Mannschaftskabine und rief Da forderte Hopp den Deut„Zicke zacke, zicke zacke“; schen Fußball-Bund auf, die Profis mussten zurückHeidel wegen Diskriminierufen: „hoi hoi hoi“. rung zu bestrafen. In der Regionalliga, vor TSG-Zugang Stanislawski Das erinnerte an früher, fünf Jahren, hatte der Club Charismatischer Trainer als Hopp wegen seiner Stifaus dem 3000-Seelen-Dorf tung zu Unrecht Ärger mit noch eine Handvoll Fans, die eingezäunt der Justiz bekommen hatte. Er gründete hinter dem Tor standen, sie nannten sich schlankweg eine weitere Stiftung, die sich Zwingerclub. Heute gibt es über hundert gegen staatsanwaltliche Willkür einsetzt. Fanclubs und einen Fanverbandssprecher. „Hopp will von allen gemocht und nie Er heißt Thomas Schmitz-Günther und kritisiert werden“, urteilt ein früherer war früher Fraktionsvorsitzender der Grü- TSG-Mann. Zumindest möchte der Milnen in Neckargemünd. liardär die Beschimpfungen bei AuswärtsSchmitz-Günther war bei jenem Tref- spielen nicht mehr ertragen. Er sagt, dass fen, bei dem die irritierten TSG-Fans Aus- er die Partien in seinem Wohnort ankunft begehrten über den Wandel vom schaue, in der neuen Vereinsgaststätte ambitionierten Spitzenclub zum „Ausbil- des FC Astoria Walldorf. Das klingt nach dungsverein“. Hopp selbst kam aus dem bodenständiger Gesellschaft. Florida-Urlaub in seinem Haus in Naples, Das Vereinsheim des Oberligisten ist um vor fast 400 Leuten Rechenschaft über ein gediegenes Restaurant mit terrakotden neuen Sparkurs abzulegen – „wie vor tafarbenen Wänden; man kann Tourneeinem Aufsichtsrat“, sagt der Fansprecher dos oder Lammrücken auf Pfifferlingen. stolz. Schon deshalb klang plötzlich alles Ein Nebenraum hat einen Flachbildfernplausibel. seher mit den Ausmaßen einer mittleren Der Club hat nun einen Finanz- Stadion-Anzeigetafel. geschäftsführer, der aufs Geld aufpasst, Dort sitzt Dietmar Hopp wie in einer und einen ehemaligen SAP-Vertriebsleiter, Loge. Die feindliche Außenwelt muss er der auf die Außendarstellung guckt. Mit nur noch bei Heimspielen wahrnehmen, Holger Stanislawski kam ein charismati- sie steht dann im Gästeblock seiner Arescher Trainer; den Namen des Vorgängers na. Dortmunder Fans bezeichneten ihn Marco Pezzaiuoli konnte Hopp noch nicht als das Gesicht einer „gefährlichen Entaussprechen, da war er schon weg. wicklung“ und wollen jetzt mit ihm disHoffenheim soll in drei bis fünf Jahren kutieren. Hopp überlegt ernsthaft, die ohne Hopps Geld auskommen. Für die Einladung anzunehmen. Er will zeigen, JÖRG KRAMER Neuzugänge in diesem Sommer wurden dass er recht hat. D E R
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EXTREMSPORT
Fledermäuse im Sturzflug
MICHAEL BUHOLZER / REUTERS
Das Schweizer Dorf Lauterbrunnen ist zur Pilgerstätte für Basejumper geworden. In der Hochsaison stürzen sich dort im Minutentakt Springer von den Felswänden – und immer wieder gibt es Tote.
Basejumper im freien Fall: Plage des Himmels
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evor Dominik Loyen, 43, in den Abgrund springt, setzt er seine Sonnenbrille auf. Der Basejumper aus Deutschland steht am Rand einer 800 Meter hohen Felswand im Berner Oberland. Unten im Tal liegt das Dorf Lauterbrunnen. Der Himmel ist klar, in der Ferne funkeln Gletscher. Loyen macht zwei schnelle Schritte nach vorn und stürzt sich in die Tiefe. Er rauscht, Kopf voraus, knapp an einem Felsvorsprung vorbei. Nach 18 Sekunden im freiem Fall, rund 150 Meter über dem Boden, zieht Loyen den Fallschirm. Kurz darauf landet der Springer weich auf einer Wiese im Tal. Basejumping ist eine Variante des Fallschirmspringens, ein Sekundenkick für Adrenalinjunkies. Basejumper hechten nicht aus Flugzeugen, sondern von Hochhäusern oder Brücken. Wer wirklich das Gefühl vom Fliegen haben will, kommt nach Lauterbrunnen. Das Dorf ist das Dorado für Basejumper. Gigantische Felswände ragen hier bis zu 1100 Meter senkrecht empor. Aus aller Welt kommen Extremsportler, um sich den ultimativen Kick zu holen. Rund 15 000 Absprünge gab es vergangenes Jahr in Lauterbrunnen. 114
Viele Einheimische sind allerdings nicht glücklich über die Besucher. 28 Basejumper sind in Lauterbrunnen bereits umgekommen. Im Juni stürzte beispielsweise ein Springer aus Frankreich in den Tod. Sein Fallschirm hatte sich nicht geöffnet. Die Leute im Ort sehen in den Basejumpern eine Plage des Himmels. Dominik Loyen stammt aus Viersen am Niederrhein, er lebt seit sechs Jahren in Lauterbrunnen. In Deutschland braucht er für jeden Sprung eine Genehmigung, Absprungstellen und Landeplätze müssen freigegeben sein. In der Schweiz sind keine Behördenstempel nötig. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich, die Klippen gehören allen“, sagt Loyen. Er liebt den Moment kurz vor dem Absprung. „Jedes Haar stellt sich auf, der Körper sträubt sich gegen das, was der Kopf will. Wenn man es schafft, in dieser extremen Situation die Kontrolle zu behalten, gibt einem das einen Kick, man fühlt sich überlegen, groß“, sagt Loyen. Im Sommer ist Hochsaison für die Basejumper in Lauterbrunnen. An der Touristeninformation hängt ein Plakat mit einem Hinweis für sie. „Respect your limits“ steht darauf: „Respektiert eure Grenzen“. Schon frühmorgens marschieD E R
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ren die Sportler, bepackt mit Rucksack, Helm und Fallschirm, zur Talstadion der Seilbahn. Eine Gondel bringt die Basejumper hinauf zu den Bergdörfern Mürren und Winteregg. Nach einer kurzen Wanderung gelangen die Springer zu den Absprungstellen, den sogenannten Exits. Sie haben Namen wie „Nose“, „High Ultimate“ oder „Via Ferrata“. Manche Basejumper tragen „Wingsuits“, Ganzkörperanzüge mit Stoffflächen unter den Armen und zwischen den Beinen. Die Spezialkluft verleiht den Springern im Flug Vortrieb. Mit ausgebreiteten Armen schießen sie im Sturzflug ins Tal, sie sehen aus wie Fledermäuse. Wegen der Luftströmung entsteht ein Geräusch, ein feines Rauschen, das klingt wie ein weit entferntes Düsenflugzeug. Jeder in Lauterbrunnen kennt diesen Ton. Die Wand, von der die Basejumper springen, grenzt unmittelbar an das Dorf. Bei gutem Wetter sieht man Batman im Minutentakt auf den Ort zufliegen. Gleich neben der Gondelstation liegt die Grundschule Stechelberg. Auch von hier aus hat man einen guten Blick auf die Wand. Anfang Juli feierten die Schüler ihr Jahresabschlussfest. Es gab eine Theatervorführung, später wurde auf
HERBERT ZIMMERMANN / 13PHOTO / DER SPIEGEL
Extremsportler im Berner Oberland: „Jeder ist für sich selbst verantwortlich“
muss damit rechnen, mit der Wand zu kollidieren. Dann gibt es keine Rettung mehr. In den vergangenen zwölf Monaten stürzten sechs Basejumper in Lauterbrunnen in den Tod. Aber die Gemeinde will das Springen nicht verbieten. Die Region gehört zu den wenigen in der Schweiz, die im Sommer ein besseres Tourismus-
HERBERT ZIMMERMANN / 13PHOTO / DER SPIEGEL
dem Fußballplatz ein kleines Buffet aufgebaut. Es war ein Tag mit stahlblauem Himmel. Basejumper-Wetter. Immer wieder waren die Fluggeräusche der Springer zu hören – und einmal ein gellender Schrei. „Wir sahen, wie ein Springer ein paarmal gegen den Fels knallte. Am Ende ist der Mann leblos in einem Waldstück am Hang liegengeblieben“, erzählt Rahel Charrois. Die Lehrerin ist heute noch fassungslos. Charrois sagt, sie habe noch kein Jahr ohne Unfälle erlebt. 2009 musste eine Klasse bei einer Fahrradtour miterleben, wie sich ein Basejumper in den Tod stürzte. Der Preis für den Nervenkitzel sei zu hoch, sagt die Lehrerin: „Wir bringen den Kindern bei, dass es wichtig ist, vorsichtig über die Straße zu gehen. Wie sollen wir ihnen gleichzeitig erklären, dass Menschen Basejumping machen?“ Der Unmut im Dorf wächst. Schon seit längerem beschweren sich Bauern über die Basejumper, weil die in ihren Wiesen landen. Aus dem plattgetrampelten Gras können sie kein Heu mehr machen. „Das Schlimmste aber sind die Toten“, sagt der Landwirt Mathias Feuz. Er sitzt in seinem Stall auf einem Schemel. Früher hatte Feuz eine Abmachung mit zwei Basejumpern, sie und ihre Freunde durften auf seinen Feldern landen. Er sei kurz davor gewesen, den Sport zu akzeptieren. Dann sind beide Männer tödlich verunglückt. Insgesamt sieben Unfälle hat Feuz von seinem Hof aus mit ansehen müssen. Er erträgt es nicht mehr. „Ich will nicht, dass weiterhin auf meinem Grund und Boden Menschen sterben“, sagt Feuz. In Lauterbrunnen prallen jetzt die Welten aufeinander. Die Einheimischen im Alpenidyll fühlen sich als Bewohner einer Todeszone. Den Basejumpern geht es einfach nur um den nächsten Adrenalinrausch. Kommende Woche soll im Lauterbrunnental ein Basejump-Weltcup ausgetragen werden. In der Nähe der Gondelstation haben die Springer ein kleines Camp eingerichtet, das Basehaus. Es ist eine Blockhütte mit Feuerstelle davor. Auf einem Plastikstuhl sitzt Jonathan, ein junger Amerikaner aus Kalifornien. Er hat rot unterlaufene Augen und eine Narbe auf der Stirn. Er wurde erst vor kurzem aus dem Krankenhaus entlassen. Bei einem Sprung in Frankreich war er an einem Baum hängengeblieben. Ein Ast bohrte sich in seinen Unterleib, seine Blase riss. Die Ärzte erklärten ihm, mit einer leeren Blase wäre das nicht passiert. Ab jetzt würde er vor seinen Sprüngen immer pinkeln gehen, sagt Jonathan. Ans Aufhören habe er noch nie gedacht. Die Basejumper in Lauterbrunnen gehen ein hohes Risiko ein. Wer falsch abspringt, den Wind nicht richtig einschätzt,
Landwirt Feuz
Bewohner einer Todeszone D E R
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geschäft machen als im Winter. Auch wegen der Basejumper. Peter Wälchli, der Bürgermeister von Lauterbrunnen, sitzt an seinem aufgeräumten Schreibtisch in der Gemeindeverwaltung, ein großer Mann mit rundem Gesicht. „Wir haben hier für unsere Gäste alles, außer dem Meer. Diese Vielfalt möchten wir erhalten und nicht einzelne Sportarten verbieten“, sagt Wälchli. Dann spricht er vom Zivilgesetzbuch und vom Luftfahrtsrecht. Er kennt sich gut aus. Nach jedem Todesfall flammten ja im Ort die Diskussionen auf. Wälchli sagt dann immer: „Die Basejumper bewegen sich im legalen Umfeld, sie verstoßen nicht gegen Gesetze.“ Landwirt Feuz gerät in Rage, wenn er seinen Bürgermeister so reden hört. Neulich ist ein Australier verunglückt, er blieb mit dem Schirm in den Seilen der Gondelbahn hängen. Es ist eine Frage der Zeit, bis es zur nächsten Tragödie kommt. „Die Gemeinde will das Springen nicht verbieten, weil auch ein toter Basejumper noch Geld bringt“, schimpft der Bauer. Viele im Ort würden daran verdienen, „der Arzt, die Bergrettung“ und auch das Gastgewerbe – „wenn die Angehörigen anreisen“, sagt Feuz. LUKAS EBERLE 115
Prisma ARCHÄOLOGI E
Ritter mit Wackelfuß
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IMAGO
Saalfelder Feengrotten in Thüringen
KLIMA
Fieberkurve aus der Unterwelt
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ünftig sollen Deutschlands Grotten der Klimaforschung dienen. Über 10 000 Eis-, Gips- und Tropfsteinhöhlen ziehen sich vom Harz bis zu den Alpen durch den Untergrund. „Die Grotten reagieren auf die weltweite Erwärmung mit teils erstaunlichen Temperaturveränderungen“, erklärt Christiane Grebe von der „Arbeitsgruppe Höhlenund U-Bahn-Klimatologie“ der Universität Bochum. Das Projekt sieht vor,
die Kavernen mit Messfühlern auszustatten, um Temperatur und Luftfeuchte zu ermitteln, und die Daten in einem Klimakataster zu vereinen. Zu den kalten Höhlen der Republik gehört das rekordverdächtige „Riesending“ bei Berchtesgaden, (Tiefe: über tausend Meter), in der es bis zu 1,5 Grad kalt wird. Noch kühler ist die „Schellenberger Eishöhle“: Darin herrschen bis zu 10 Grad unter null.
m späten 7. Jahrhundert starb bei Würzburg am Westrand des Steigerwaldes ein humpelnder Ritter mit einer seltsamen Gehhilfe („Orthese“) am Fuß. Das unlängst entdeckte Gerät bestand aus zwei U-förmigen Eisenbändern, eins verlief unter dem Fußgewölbe, das andere um die Achillesferse. Medizinern zufolge könnte der Krieger (der am anderen Bein einen Sporn trug) beim Absteigen vom Pferd umgeknickt sein und sich einen Bänderriss zugezogen haben, der zu einer Instabilität des Sprunggelenks führte. Um den wackeligen Fuß zu stützen, baute ihm wohl ein Schmied die Knöchelschiene. „Fußkranke gab es zu allen Zeiten“, erklärt der Generalkonservator Egon Johannes Greipl vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, „Gehhilfen aus dem Frühmittelalter aber sind etwas ganz Neues.“
Orthopädische Knöchelschiene Rekonstruktion des frühmittelalterlichen Grabfundes
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Keuchende Köter
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ARIANE LOHMAR / MAURITIUS IMAGES / IMAGEBROKER
er Trend zu plattnasigen Rassehunden hat Schattenseiten. Nicht nur der Modewauwau Mops leidet häufig an Atemproblemen und Herz-
Mops 116
Kreislauf-Attacken, sondern zunehmend auch der „Englisch Bulldog“. Grund für die Misere: Züchter zielen auf Welpen mit immer größeren Köpfen und kürzeren Schnauzen ab – mit der Folge, dass die Vierbeiner keuchend die heimische Sofalandschaft bevölkern. Viele Jung-Möpse stammen von Billigfarmen in Polen, Rumänien und Slowenien, wo sie einem unkontrollierten Wildwuchs ausgesetzt sind. Im Fall des Bulldog, bekannt als Griesgram aus den „Tom und Jerry“-Filmen, hat der Verband für das Deutsche Hundewesen (VDH) nun die Notbremse gezogen. Ende August entzog er dem offiziellen deutschen BulldogClub die „Züchtungshoheit“. Die Tiere seien zum Teil so einseitig getrimmt worden, sagt VDH-Sprecher Udo Kopernik, „dass ihr Leben eine einzige Quälerei ist“. D E R
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U-förmige Eisenbänder
Holzschale mit Lederbesatz
Wissenschaft · Technik Kleiner Kratzer
GETTY IMAGES
Mit ihren Klauen umklammert diese etwa drei Millimeter große Kopflaus ein menschliches Haar. Ihr Speichel löst Juckreiz aus.
PSYCHOLOGI E
MEDIZIN
Kampfbereit wie Löwinnen
Ärzte unter Verdacht
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merikanische Mediziner pfuschen – das jedenfalls behaupten häufig ihre Patienten. Besonders betrifft das Neuro- und Herzchirurgen. Fast jeder fünfte Vertreter dieser Fachrichtungen wird einmal pro Jahr eines Kunstfehlers verdächtigt. Das geht aus einer im „New England Journal of Medicine“ erschienenen Hitliste hervor. Hoch ist auch die Unzufrie-
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Risiko für Mediziner Anteil verklagter Ärzte in den USA pro Jahr in Prozent ausgewählte Fachrichtungen, Zeitraum 1991 – 2005 0 5 10 15
PETE SALOUTOS / CORBIS
tillen macht Mütter zornig und wehrhaft. Das berichtet das Fachblatt „Psychological Science“ in seiner September-Ausgabe. An der University of California in Los Angeles wurden Mütter mit Säuglingen und kinderlose Frauen in einen Wettkampf geschickt, in dem es um Reaktionsschnelligkeit ging – und dabei gezielt provoziert und gereizt. Auffälliger Befund: Die stillenden Testpersonen pöbelten mehr als doppelt so lang und laut zurück wie die kinderlosen Frauen. Erstaunlicherweise stieg ihr systolischer Blutdruck dabei nur geringfügig an. Die Studienleiterin Jennifer Hahn-Holbrook vermutet hinter dem Verhalten ein urzeitliches Erbe. Ähnlich wie Löwinnen oder andere weibliche Säugetiere, die ihren Nachwuchs aggressiv bewachen, seien stillende Mütter bei drohender Gefahr angriffslustig und behielten trotzdem einen kühlen Kopf. Das befähige sie zu einer „effektiveren Gegenreaktion“.
denheit mit Knochenoperateuren und Vertretern der ästhetischen Chirurgie. Selbst Pathologen (die Tumorgewebe auf Krebs prüfen) sahen sich mit einer Reihe von Haftungsklagen konfrontiert. Wenig Ärger haben die Kinderärzte – die für nachgewiesene Fehler allerdings die höchsten Entschädigungssummen zahlen müssen (im Schnitt rund 521 000 Dollar pro Kind). Erfolgreich sind die meisten Klagen indes nicht: Nur in 22 Prozent der Fälle mussten die Versicherungen wirklich Schmerzensgeld zahlen.
Forscher vor CT-Bild eines Gehirns D E R
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Neurochirurgen Herzchirurgen Unfallchirurgen/ Orthopäden Plastische Chirurgen Frauenärzte Notfallmediziner Pathologen Allgemeinmediziner Kinderärzte Psychiater
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Quelle: New England Journal of Medicine
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Schädel im Computertomografen: Stück um Stück entsteht ein Archiv der Familiengeschichte des Homo sapiens
VOLKER STEGER
PA L Ä O A N T H R O P O L O G I E
Rivalen um die Weltherrschaft Glich der Neandertaler dem modernen Homo sapiens? Oder war er ein radikaler Gegenentwurf der Natur? Mit Hilfe eines mobilen Computertomografen versuchen Max-Planck-Forscher, das Wesen des rätselhaften Vetters des Menschen zu verstehen – und revolutionieren dabei ihr Fach.
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rei Totenköpfe empfangen den Besucher, aus den Augenhöhlen blicken ihm Muschelschalen entgegen. An dem Tisch dahinter zeichnet eine Studentin millimetergenau die Zahnhöcker eines Menschengebisses ab. Die bizarre Knochenkammer liegt ebenerdig hinter einer schlichten Tür aus Stahl. Eher wäre hier, gleich neben dem Lieferanteneingang des Anatomischen Instituts der Universität von Tel Aviv, der Geräteschuppen des Hausmeisters zu erwarten. Nichts deutet darauf hin, dass hinter dieser Tür eine der großen Schatzkammern der Menschheitsgeschichte verborgen ist. In blauen Blechschubladen verstaut, liegen darin, gebettet auf Schaumstoff, bröckelnde Arm- und Schenkelknochen, Handgelenke, Kinderschädel, Rippen, Kiefer und jede Menge Zähne: einzigartige Fossilien, die von einer der Schlüs118
selepisoden in der Geschichte der menschlichen Spezies erzählen. Aus den Höhlen im Norden Israels haben die Paläoanthropologen die Gebeine von gut drei Dutzend Individuen aus dem Fels gekratzt. Das Besondere: Die Knochen stammen von zwei verschiedenen Menschenarten. Räumlich mitunter kaum mehr als einen Steinwurf voneinander entfernt, siedelten moderner Mensch und Neandertaler. Aber lebten die beiden Vettern hier auch zur gleichen Zeit? Sind sie einander begegnet? Kam es also in der Levante zum ersten Showdown der beiden Rivalen um die Weltherrschaft? Die Entzifferung des Neandertaler-Erbguts lieferte im vergangenen Jahr ein gewichtiges Argument für diese These: Einen kleinen Teil seiner DNA-Sequenz, so der Befund der Forscher um den Leipziger Paläogenetiker Svante Pääbo, hat der D E R
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moderne Eurasier vom Neandertaler geerbt. Zwischen beiden Menschenarten muss es folglich zur Vermischung gekommen sein. Und mehr noch: Auch den Zeitraum des folgenreichen Zusammentreffens konnten die Genetiker eingrenzen. Zum Techtelmechtel kam es demnach vor 65 000 bis 90 000 Jahren nach der Ankunft des modernen Menschen auf der eurasischen Landmasse – vermutlich am östlichen Mittelmeerrand. In welcher Beziehung aber standen die Bewohner der israelischen Höhlen zu den Begründern des heutigen Eurasier-Geschlechts? Finden sich in ihren fossilen Überresten noch Spuren des Zusammentreffens der beiden Menschenspezies? Fast wird Jean-Jacques Hublin, 57, ein wenig sentimental, wenn er behutsam die Schädel und Kiefer aus ihren Schubladen hebt: „Die gehören für mich sozusagen zur Familie“, sagt der Paläoanthropologe
Wissenschaft
Zwischenmenschliche Begegnung Wie sich Homo sapiens und Neandertaler vermischten
NEANDERTALER HOMO SAPIENS Vor rund 100 000 Jahren drang der moderne Homo sapiens erstmals bis auf die eurasische Landmasse vor. Vermutlich am östlichen Mittelmeerrand begegnete er dem aus dem Norden stammenden Neandertaler, wobei es vereinzelt zur Vermischung kam. Genetische Spuren des Neandertalers finden sich daher im Erbgut heutiger Menschen.
VOLKER STEGER
vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Hier in Israel sammelte er schon vor 36 Jahren Erfahrungen als Jungwissenschaftler. Mit Hilfe eines Hubschraubers, erzählt Hublin, hätten sie damals gewaltige Felsbrocken aus der Qafzeh-Höhle nahe Nazareth gehievt. Nun ist er, inzwischen eine der führenden Kapazitäten seines Fachs, zurückgekommen, um den Fundstücken, die er seinerzeit zu bergen half, ihre Geheimnisse zu entlocken – und so das rätselhafte Wesen des Neandertalers besser zu entschlüsseln. Staunend, aber auch misstrauisch haben die Hüter des israelischen Fossilienschatzes die Ankunft der Max-Planck-Forscher in ihrem Institut verfolgt. Zwar sind sie Besuch gewohnt. Von überall her pilgern die Forscher, um die berühmten Stü-
cke der Sammlung zu inspizieren. Diesmal aber ist es anders. Denn Hublin und seine Mannschaft sind nicht mit Zeichenblock und Gleitzirkel angereist. Sie hatten tonnenschweres Hightech-Gerät im Gepäck. Mit Hilfe eines mobilen Computertomografen wollen sie von möglichst vielen der Fossilien digitale Abbilder fertigen. „Das wird die Paläoanthropologie grundlegend verändern“, verkündet Hublin. Statt von Museum zu Museum reisen zu müssen, könnten die Forscher künftig am heimischen Bildschirm Fundstücke aus aller Welt untersuchen – und dabei oft sogar Details erkennen, die dem bloßen Auge unzugänglich sind. Nach Südafrika, Kenia, Marokko, Kroatien und Russland ist Hublin mit seiner Ausrüstung bereits gereist, um alle Vorund Urmenschen-Fossilien, deren er habhaft werden konnte, zu durchleuchten. Stück um Stück setzt er so ein digitales Archiv der Familiengeschichte des Homo sapiens zusammen. Um zu zeigen, wie die Zukunft seines Fachs entsteht, überquert Hublin den Hinterhof des Tel Aviver Anatomie-Instituts. Neben den Mülltonnen steht dort ein 20-Fuß-Container, in dessen Schatten israelische Techniker ihre Zigaretten rauchen. Von außen lässt sich nicht erahnen, dass sich im Innern dieses Kastens ein weltweit einzigartiges Urmenschen-Labor befindet.
Paläoanthropologe Hublin*
Entdeckungen mit der Computermaus
* Im Leipziger Virtual-Reality-Labor. D E R
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In der engen, frostig klimatisierten Kammer im Innern des Containers verbringt Patrick Schönfeld seine Tage. Die Aufgabe des Systemtechnikers ist es, den Tomografen zu justieren. Durch eine Scheibe kann er verfolgen, wie der Röntgenstrahl die langsam kreisenden Fossilien abtastet. Vier, sechs, manchmal auch acht Stunden währt die Prozedur. Am Ende verwandelt die Software den gewaltigen Datenwust in ein bis auf wenige Tausendstel Millimeter genaues Abbild des Fossils. Das Original wird längst wieder in seiner Schublade ruhen, wenn die Max-Planck-Forscher es daheim im Leipziger Virtual-Reality-Labor drehen, wenden oder kippen. Und wenn sie sich für ihre Forschung doch etwas zum Anfassen wünschen, dann stellen sie es sich eben her: Kaum eine halbe Stunde dauert es, dann hat der 3-D-Drucker ZCorp Spectrum Z510 eine maßgenaue Kopie aus Gips gefertigt. Die Paläoanthropologen allerdings sind eine streitbare Zunft. Und nicht bei allen Kollegen stößt Hublin mit seiner Vision einer digitalisierten Urmenschen-Forschung auf Begeisterung. Israel Hershkovitz etwa, der Kurator der Sammlung in Tel Aviv, verhehlt nicht sein Unbehagen. In seinem Büro umgeben ihn Dutzende Schädel. „Jeder von ihnen“, sagt er, „erzählt eine Geschichte.“ Der eine, mit einem Einschussloch in der Kalotte, zeuge von den Hinrichtungen der napoleonischen Belagerungstruppen. Ein anderer wurde von einem steinzeitlichen Chirurgen geöffnet. „Wir gehen davon aus, dass er mit Bienenwachs die Blutung stoppte“, sagt Hershkovitz. Eine Wundertüte voll solcher faszinierender Geschichten – so sieht der israelische Anthropologe sein Fach. Und ob all die teuren Apparate und die aufwendige Software der Max-Planck-Forscher dafür nötig sind, da hat er seine Zweifel. Gewiss, meint Hershkovitz, er wolle das Projekt der Leipziger nicht ganz in Frage stellen. Gerade in einer so unsicheren Region wie dem Nahen Osten sei es sicher gut, digitale Sicherungskopien der kostbarsten Fundstücke anzulegen. Denn Beispiele für unersetzliche Verluste für die Forschung gebe es genug: Im Zweiten Weltkrieg etwa ist die kostbare Urmenschen-Kollektion der Chinesen unauffindbar verschwunden. Und auch im Libanon ging in den Wirren des Bürgerkriegs das einzigartige Skelett eines steinzeitlichen Kindes verloren. Auch dass bei der Arbeit am digitalen Abbild das zerbrechliche Original keinen Schaden nehmen kann, betrachtet Hershkovitz durchaus als Vorteil. Schließlich komme es immer wieder vor, dass ein Fossil geklebt werden müsse, weil ein Student damit ungeschickt hantiert habe. Und trotzdem, beharrt Hershkovitz, sei er ein Freund der alten Schule. „Mir ist 119
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im Inneren des Schädelknochens. Die Art, wie die Bogengänge in seinem Innenohr geschwungen sind, spricht dafür, dass der Neandertaler behäbig einhertrottete. Das bestätigt ein weiterer Befund der Leipziger Wissenschaftler: Das schwammartige Gerüst im Inneren des Schienbeins ist beim Neandertaler anders strukturiert als bei seinem modernen Vetter. Um festzustellen, wie solche Unterschiede entstehen können, ließen die Wissenschaftler Schafe mit angewinkelten Beinen über Laufbänder humpeln. Täglich eine halbe Stunde reichte, um die Knochenstruktur merklich zu verändern. Wieder lautete der Schluss der Forscher: Der Neandertaler war ein guter Wanderer. Wenn es jedoch ums Sprinten oder Springen ging, dann war ihm der moderne Mensch überlegen. Noch bedeutsamer aber könnte ein weiterer Unterschied der beiden Menschenarten sein, den die Röntgenanalyse zutage förderte: Der Neandertaler lebte gleichsam im Zeitraffertempo. Diese Erkenntnis entlockten die Forscher dem Gebiss beider Arten. Denn aus hauchdünnen Schichten des Zahnschmelzes können sie das Alter eines Kindes bestimmen. Dabei stellte sich heraus, dass der Nachwuchs der Neandertaler deutlich schneller reifte: Zwei bis drei Jahre früher als die modernen Menschen war er erwachsen. Die kurze Kindheit, die Spurtschwäche und der zupackende Biss: Je mehr die Forscher suchen, desto mehr sieht sich Hublin in seinem Verdacht bestätigt – die Ähnlichkeiten beider Menschentypen werden übertrieben. In Museen und Fachbüchern, sagt Hublin, komme der Neandertaler inzwischen meist wie ein völlig moderner Mensch daher. Hublin dagegen tritt dafür ein, den Blick für die Unterschiede zu schärfen. Deshalb hat es ihn auch gestört, wie begeistert vielerorts gefeiert wurde, dass noch im heutigen Europäer Erbgut des Neandertalers fortlebt. „Die Leute haben daraus eine rührende Lovestory gemacht“, spottet er. Dabei lehre die Geschichte, dass auch Frauenraub und Vergewaltigung am Anfang genetischer Vermischung stehen könnten. Viel zu friedfertig stellten sich auch viele Forscher das Zusammenleben der beiden Rivalen vor. Hublin zumindest hält es für wahrscheinlich, dass es der moderne Mensch war, der dem Neandertaler das Verderben brachte. Eines aber habe er inzwischen gelernt: „Wenn ich so etwas öffentlich sage, dann ernte ich wütende Proteste.“ JOHANN GROLLE JOHANN GROLLE / DER SPIEGEL
das alles zu virtuell“, sagt er über die Ar- wo die Max-Planck-Forscher in akribischer Detektivarbeit ein immer detailgebeit seiner Leipziger Kollegen. Hershkovitz sieht sich als Anwalt der naueres Bild des Neandertalers zusamArchäologen, die all die Schätze seiner mensetzen. Auf dem Monitor von Adeline Le CaSammlung zusammengetragen haben. Die hätten meist Jahre oder gar Jahrzehn- bec kreist der mächtige bunteingefärbte te im Feld geschuftet, bis sie schließlich Eckzahn eines Mitglieds dieser Spezies. eine Handvoll Knochen mit nach Hause Rillen und Kratzer durchfurchen seine bringen konnten, und nun sollten andere Oberfläche. „Das sind die Folgen des Abmit Hilfe virtueller Kopien die wissen- riebs“, erklärt die Forscherin. „Ich habe schaftlichen Früchte dieser Arbeit ernten? sogar Zähne gesehen, die so weit abge„Die Anthropologen“, so formuliert es nutzt waren, dass der Nerv freiliegt. Da Hershkovitz, „sind Aasfresser, die sich will man sich gar nicht vorstellen, wie vom Schweiß der Archäologen nähren.“ das weh getan haben muss.“ Eine so wuchtige Zahnwurzel wie diese Vor allem aber ist dem israelischen Kurator der Einfluss der Leipziger nicht ge- hier, sagt Le Cabec, finde sich beim moheuer. „Da ist ein Mega-Zentrum der Ur- dernen Menschen selten. Dass das Kinn menschen-Forschung entstanden“, meint bei diesem so markant hervortritt, ist vor Hershkovitz. Zunehmend werde in Leip- allem Folge der Rückbildung des Kauzig über die neuen Trends der Paläoan- apparats. Ganz anders dagegen beim Neanderthropologie entschieden. „Und zu viel Macht an einer Stelle kann gefährlich taler, dessen Gebiss sich viel weiter vorsein.“ Am Ende laufe es darauf hinaus, dass die Leute, die an seinen Fossilien arbeiten wollten, zwar nicht mehr nach Tel Aviv, dafür aber nach Leipzig kommen müssten. Hublin ist diese Art von Widerstand gewohnt. Auf den rasant gestiegenen Einfluss seines Instituts ist er ja durchaus stolz: „Vor 15 Jahren“, sagt er, „gab es Leipzig noch gar nicht auf der Landkarte der Paläoanthropologie. Heute steht dort das vielleicht größte Institut der Welt.“ Kein Wunder, dass das den Neid der Kollegen weckt – zumal sich Hublin sehr wohl bewusst ist, dass er mit seinem Digitalisierungsprojekt die Machtverhältnisse in seinem Fach gefährdet. Bisher, so sagt er, sei es üblich, Fossilien aus der Frühzeit des Menschengeschlechts „wie Reliquien oder nationale Heiligtümer“ zu behandeln. Und den Kuratoren komme dabei die Rolle der Gralshüter zu. Damit aber sitzen diese gleichsam am Schalthebel der wissen- Kurator Hershkovitz: „Mir ist das alles zu virtuell“ schaftlichen Macht. Denn für eine Forscherlaufbahn ist der Zugang zu wölbte. Er malmte offenbar mehr mit seiden Fossilien von entscheidender Bedeu- nem Kiefer. Doch wozu? Kaute er auf Holz? Reinigte er mit seitung. „Wem der verwehrt ist, der bringt nen Zähnen Tierhäute? Nagte er an Knoes zu nichts“, sagt Hublin. Dieses System könnte ein virtuelles chen herum? Um das herauszufinden, hat Fossilien-Archiv aushebeln. „Jetzt“, fol- Le Cabec für ihre Doktorarbeit rund 400 gert Hublin, „fürchten die Kuratoren, die Zähne in den Scanner geschoben. Besonders die Eck- und Schneidezähne, so zeigKontrolle zu verlieren.“ Aber nicht nur für den Wissenschafts- te sich dabei, sind viel fester im Kiefer zebetrieb, auch für die Forschung selbst be- mentiert als beim modernen Menschen – deutet es eine tiefgreifende Veränderung, ein Indiz dafür, dass der Neandertaler sie wenn viele große Entdeckungen nicht als zupackendes Werkzeug nutzte. Und auch in ihren Bewegungen untermehr mit dem Hammer im Sedimentgestein, sondern mit der Maus am Compu- schieden sich die beiden Menschenarten. ter gemacht werden. Das zeigt sich der- Das verriet den Max-Planck-Forschern zeit in der Knochenkammer von Tel Aviv, das Studium des Gleichgewichtsorgans
Ethanolproduktion in Brasilien
AURORA / BILDERBERG
Bedrohung des Regenwalds?
Ethanol pro Jahr, soll die Produktion binnen fünf Jahren mehr als verdoppeln und dann weltweiter Marktführer sein. Das Engagement erscheint ebenso profitversprechend wie ernüchternd. Shell Der Ölkonzern Shell setzt neuer- förderte bisher Technologien der sogenannten zweiten Generation; Kraftstoffe, dings auf ein altbewährtes Biodie nicht aus Essbarem, sondern aus Ernsprit-Rezept: Ethanol aus Zucker- teabfällen, Holz oder Stroh gemacht werrohr. Die Erträge sind enorm – den sollen – zieht sich nun aber aus solchen Aktivitäten zurück. Die Unterdie ökologischen Risiken auch. stützung des sächsischen Unternehmens er ergiebigste Lieferant vegetari- Choren, das aus Holzresten Diesel maschen Autofutters ist ein Halm, so chen wollte, hat Shell unlängst aufgegedick wie ein Spazierstock. Er ben; Choren ist inzwischen insolvent. Shell-Direktor Mark Williams, verantwächst im Laufe eines Jahres über vier Meter in die Höhe und besteht in seinem wortlich für den weltweiten KraftstoffInneren aus einer weißen, süßen Sub- markt, sieht nichts Ehrenrühriges in diesem Kurswechsel: „Die Erträge aus Zustanz. Schon in den Ölkrisen der siebziger ckerrohr“, sagt er, „sind heute schon so Jahre entdeckte Brasilien ein Agrarpro- gut wie die Aussichten der Techniken der dukt als Ersatz für fossilen Brennstoff: zweiten Generation.“ Raízen sei deshalb „die WachstumsEthanol, gewonnen aus heimischem Zuckerrohr. Knapp 30 Milliarden Liter Auto- plattform für Biokraftstoffe“ im Konzern. schnaps pro Jahr decken im größten Staat Und Wachstum bedeutet vor allem wachSüdamerikas inzwischen nahezu die Hälf- senden Landverbrauch: Derzeit bedient te des heimischen Benzinbedarfs. Anders als Deutschland, wo Getreide6000 vergärungen ärmliche Ausbeuten zeitiJährliche Brutto-Erträge gen, der Bio-Zusatz ökopolitische Sinn- von Rohstoffpflanzen, krisen auslöst und der Massenboykott in Liter pro Hektar von E10 nun die Benzinpreise hochtreibt, Quelle: Bundesforschungsanstalt erscheint Brasilien wie ein Schlaraffen- für Landwirtschaft land nachwachsenden Brennstoffs. Die 2800 Hektarausbeute liegt dort bei sagenhaften 6000 Litern pro Jahr; der Netto-Energieertrag ist zweieinhalbmal so hoch wie bei 1300 der Ethanolproduktion aus Weizen. Solche Werte haben nun auch den ÖlRaps Weizen Zuckerrohr konzern Shell motiviert, groß in dieses Biodiesel Ethanol Geschäftsfeld einzusteigen. Für zwölf Milliarden Dollar gründete er zusammen mit Jährliche Energieerträge dem brasilianischen Ethanolproduzenten in Gigajoule pro Hektar Cosan das Unternehmen Raízen. Es hat seinen Sitz wie Cosan in São Paulo, er38 40 102 zeugt derzeit bereits 2,2 Milliarden Liter VERKEHR
Süße Illusionen
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Brennstoffernte
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sich Raízen aus einer Ackerfläche von 860 000 Hektar; im Jahr 2015 sollen es 1,4 Millionen sein. Und das, sagt das Management, könne Brasilien gut vertragen. Das Unternehmen veröffentlicht ein Schaubild, das auf amtlichen Zahlen basiert und das Land schematisch wie ein rechteckiges Kuchenstück zeigt. Über die Hälfte nimmt ein krauses Grüngebiet ein, das Tropenwald und geschützte Reservate der Ureinwohner darstellen soll. Der übrige Raum ist im Wesentlichen von Acker- und Weideland für die Viehzucht belegt – dem mit Abstand größten Landverbraucher der Zivilisation. Auf Zuckerrohr entfallen 8,14 Millionen Hektar – nur knapp ein Prozent der Staatsfläche. Raízen-Präsident Vasco Dias sieht somit ein „sehr großes Potential für nachhaltige Expansion“ und Zuckerrohr keinesfalls in der Rolle des Urwaldkillers: „Selbst wenn ich ein böser Mensch wäre und den Regenwald zerstören wollte, würde ich dort kein Zuckerrohr anbauen.“ Tatsächlich stehen die Monokulturen der Energiepflanze nicht im Äquatorraum, sondern – meist bewässerungsintensiv – weit südlich des Amazonasgebiets, wo Brasilien etwa so exotisch aussieht wie die Magdeburger Börde. Gleichwohl warnen unabhängige Fachleute vor süßen Illusionen. Zuckerrohr bedroht den Regenwald – wenn auch nur indirekt. Die Ausweitung der Felder führt schon heute zu einer Verdrängung der Viehzüchter in den Äquatorraum. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Meteorologie und anderer Experten sagt eine Urwaldrodung von über sechs Millionen Hektar bis zum Jahr 2020 voraus, die mittelbar auf den wachsenden Landverbrauch durch Zuckerrohr zurückzuführen sei. Shell hat sich in einen delikaten Industriezweig eingekauft, der dem Ölkonzern wenig Spielraum lassen wird, sich als grüner Innovationstreiber zu profilieren. Die technologische Krönung des Engagements soll dereinst die Gewinnung von Zellulose-Ethanol aus den faserreichen Resten der Zuckerpflanze, der sogenannten Bagasse, sein. Diese Enzymbehandlung zählt zu den Verfahren der zweiten Generation. Shell erforscht sie mit seinem kanadischen Partner Iogen seit neun Jahren ohne kommerzielle Erfolge, hat das Projekt aber noch nicht aufgegeben. Nach Berechnungen der Konzernforschung ließe sich der Kraftstoffertrag aus Zuckerrohr dank dieser Technik sogar verdoppeln. Eine Verbesserung der energetischen Nutzung dürfte daraus kaum erwachsen. Die Bagasse wird längst sehr effizient in Kraftwerken verbrannt. CHRISTIAN WÜST 121
Wissenschaft Opfer werden können. Nun aber könnte bedrohlich. Selbst wenn nur einige dieser seine Krankengeschichte dazu beitragen, Bausteine schwächeln, ist die gesamte Stadas Leben anderer Menschen zu retten – tik des Pumporgans in Gefahr. Im Alltag bleiben solche Schäden meist wenn Lehren aus ihr gezogen würden. Jacobs ist als Fallbeispiel dabei, wenn unentdeckt. Beim Sport aber können sie sich am kommenden Wochenende welt- Rhythmusstörungen auslösen. „Der Athweit führende Herzspezialisten in Heidel- let stirbt dann nicht wegen des Sports“, berg treffen, um ihre Kenntnisse über sagt Hubert Seggewiß, Chefarzt am Leoangeborene Herzfehler auszutauschen. poldina-Krankenhaus in Schweinfurt, Forscher haben neue Waffen Genetiker und Kardiologen fordern Kon- „sondern er stirbt wegen seiner erblichen gegen den plötzlichen sequenzen aus der jüngsten Forschung: Krankheit beim Sport.“ Herztod entdeckt. Aber in nämlich routinemäßig alle jungen SportSeggewiß betreut den Handball-Bundesler ab einem gewissen Leistungsniveau ligisten TV Großwallstadt. Vor jeder SaiDeutschland werden auf erbliche Herzfehler zu kontrollieren. son checkt er das Herz der Spieler. Aber sie bisher kaum eingesetzt. Tests der wichtigsten Gene könnten das nicht alle Sportler mögen die Vorsorgeuns gab eine Zeit in den achtziger Jah- Hinterfragen der Familiengeschichte, re- tersuchungen. Oft fürchten Profis das ren, da fühlte sich Gerd Jacobs gelmäßige EKG und Ultraschalluntersu- Ende ihrer Karriere, wenn der Doktor etstark. Unangreifbar. Der Mann aus chungen ergänzen und die Zahl plötz- was findet. So berichtet Seggewiß von einem Athleten, bei dem er einen erblichen Ost-Berlin war Kugelstoßer, eine interna- licher Herztode erheblich reduzieren. Oft sind es kleinste Veränderungen, die Herzdefekt diagnostizierte. Doch statt den tionale Karriere schien nicht fern. Und so schluckte er auch jene Anabolika, die große Wirkung zeigen, weil das Herz re- Leistungssport zu beenden, wechselte der ihn die Kugel ein paar Zentimeter weiter gelmäßig in Leistungsbereiche gejagt Spieler lieber den Verein, um dem Einfluss wird, die Nichtsportler so gut wie nie er- des Professors zu entkommen. stoßen ließen. Heute ist Jacobs 51 Jahre alt und ein reichen: 50-mal schlägt das Sportlerorgan Inzwischen schreibt der Handballbund gebrochener Mann. Ein Frührentner, dem im Regelfall pro Minute in Ruhe, unter internistische Kontrollen für seine Erstligaprofis vor. Auch beim Fußball-Bund sind Funktionsweise des Defibrillators Herzuntersuchungen in den obersten Ligen obligatorisch, nachdem der Profi Gerald Asamoah 1998 nach einem Match im VIPRaum des Stadions von Hannover 96 zusammenbrach. Mediziner entdeckten eine um sechs Millimeter verdickte Herzscheidewand – die Veränderung war auch hier Impulserblich bedingt. generator In anderen Sportverbänden ist das Thema hingegen nicht angekommen. KardioHerz loge Seggewiß hält die Ignoranz für „unverantwortlich“. Andere Länder sind da Sonde fortschrittlicher als Deutschland. In Italien etwa müssen sich alle jungen KaderathleDas Defibrillatorsystem misst über Sonden ten einem Herztest unterziehen. Die Uniden Herzrhythmus. Treten Störungen versität Padua richtete eigens eine zenauf, sendet das Gerät Stromimpulse oder trale Stelle ein, die alle Daten auswertet. Energieschocks, um den Herzschlag wieder Wenn deutsche Spitzensportler mit guzu normalisieren. tem Beispiel vorangingen, so der Molekularbiologe Franke, könnte auch manInvalide Jacobs: Anabolika für ein paar Zentimeter Extraweite cher Normalbürger vor dem plötzlichen Ärzte ein fremdes Herz eingepflanzt ha- Anstrengung steigt die Frequenz auf bis Herztod bewahrt werden. Das Phänomen ben. Ohne das Spenderorgan wäre er zu 200-mal. Der hohe Puls ist nicht ge- komme häufiger vor als bisher angenomfährlich. Wenn das Herz jedoch aus dem men – weil nur ein geringer Prozentsatz längst tot. Für Wissenschaftler des Max-Delbrück- Takt gerät, wenn es erst unregelmäßig, der Verstorbenen post mortem gründlich Centers für Molekulare Medizin in Berlin dann immer schneller schlägt und schließ- untersucht werde. Eine Forschergruppe war Jacobs’ Herz ein ideales Forschungs- lich nur noch unkontrolliert zuckt, ist das aus Groningen fand zuletzt heraus, dass jeder 200. Herztote einen genetischen objekt. Nach der Entnahme untersuchten Leben unmittelbar bedroht. Die Erblichkeit vieler Herzfehler ist be- Fehler hatte. In einigen Regionen wie auf sie es mit Akribie, stellten einen genetischen Defekt fest und vermochten ihn bis kannt, den Ursachen der Defekte sind der griechischen Insel Naxos sind angeins letzte Detail zu analysieren – zum ers- Molekularbiologen aber erst in den ver- borene Defekte auffallend häufig. Vorsorgeuntersuchungen halten Fachten Mal bei einem deutschen Spitzen- gangenen Jahren auf die Spur gekommen. sportler. Das Resultat: Ein wichtiges Mo- So entdeckte Werner Franke vom Heidel- leute besonders bei familiär vorbelasteten berger Krebsforschungszentrum eine Rei- Menschen für sinnvoll – zumal es bei der lekül war bei Jacobs verändert. An sich hätte der Berliner mit diesem he von Mutationen im Erbgut der Herz- beängstigenden Diagnose nicht bleiben Herzfehler niemals Leistungssport trei- zellen; auch die Sequenz des schadhaften muss. Denn es gibt praktische Hilfen. So pflanzen Kardiologen einen Miniben dürfen und schon gar nicht Doping- Gens, das man bei Jacobs fand, hat er als Defibrillator unter den Brustmuskel. mittel einnehmen. Jedes Jahr erliegen Erster veröffentlicht. Um ihre harte Arbeit leisten zu können, Wenn das Herz zu flimmern beginnt, rund 900 Sportler dem plötzlichen Herztod. Defekte des Pumporgans, Kardio- müssen sich die Zellen im Herz wie mit setzt das Gerät kontrollierte Stromstöße myopathie genannt, sind die mit großem Klettverschlüssen aneinanderheften. Hal- ab, die das Pumporgan wieder in den geAbstand häufigste Ursache unter jungen ten diese Verschlüsse der Kraft der Herz- wohnten Rhythmus bringen sollen. Athleten. Auch Jacobs hätte leicht so ein kontraktionen nicht stand, wird es lebensUDO LUDWIG MEDIZIN
Gebrechliche Herzen
CHRISTIAN JUNGEBLODT / LAIF
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Chuuk-Lagune
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Im Inselparadies Mikronesiens liegt der spektakulärste Schiffsfriedhof der Erde. Die Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg drohen auseinanderzubrechen. Forscher befürchten eine Ölpest.
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ie ersten US-Bomber kamen schon vor dem Morgengrauen. In mehreren Wellen jagten sie über das mikronesische Chuuk-Archipel hinweg. Zwei Tage dauerte der Bombenhagel der Operation „Hailstone“. Dann hatte sich der Lagunengrund des Inselreichs in einen riesigen maritimen Schrottplatz verwandelt. Die Bombardierung am 17. und 18. Februar 1944 zerstörte eine der stärksten Marinebasen der Japaner. Mit der tödlichen Macht von 12 Flugzeugträgern und 589 Kampfjets rächten sich die Amerikaner für den Angriff auf Pearl Harbor. Mit fast 7000 Tonnen Bomben legten die Amerikaner das Inselreich in Schutt und Asche. In wenigen Tagen verlor Japan gut 400 Flugzeuge und über 50 Kriegsschiffe. Rund 4000 Japaner kamen ums Leben. Seither hat sich der spektakulärste Schiffsfriedhof der Erde zum exotischen Taucherparadies gewandelt. Doch nun droht dort eine beispiellose Umweltkatastrophe. Denn in den inzwischen von Korallen überwucherten Wracks lauern viele Tonnen zähen Öls und Diesels. Auf Millionen von Litern schätzen Experten die Menge des schwarzen Drecks. Mindestens fünf der Wracks sollen bereits kleine Lecks aufweisen. Brechen die rostigen Kriegsschiffe auseinander, droht dem tropischen Inselparadies eine Ölpest. „Wenn plötzlich Tausende Tonnen giftigen Ölschlamms freigesetzt würden, hätte das verheerende Auswirkungen auf die 124
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Gespenstisch schön Lagune“, warnt der Korrosionsexperte heraus, überzogen von dicken Schichten Ian MacLeod vom Western Australian leuchtend bunter Korallen. Komplette Museum in Fremantle. Auch der Chef der Kampfjets und Militärlaster stehen noch mikronesischen Umweltbehörde, Andrew auf den Decks. Die rostigen SchiffsYatilman, ist besorgt: „Die Lebensgrund- skelette sind Tummelplatz für Myriaden lage der Menschen von Chuuk ist unmit- farbenfroher Korallenfische. Hinter den verkrusteten Stahlwänden telbar bedroht – früher oder später werlauert jedoch das dreckige Erbe. Experten den die Wracks aufbrechen.“ Die Ölfracht im Krieg versenkter vermuten, dass allein in drei versunkenen Schlachtschiffe ist ein weltweites Pro- Tankern 32 000 Tonnen Öl schlummern. blem. Insgesamt liegen rund 8600 Wracks Und mit Macht nagt der Zahn der Zeit mit Dieseltanks oder Ölladungen auf den an den Stahlplatten. „Pro Jahrzehnt verliert Stahl im Meer Ozeanböden. Drei Viertel dieser Schiffe versanken während des Zweiten Welt- etwa einen Millimeter an Dicke“, erläukriegs. Mindestens 2,5 Millionen Tonnen tert MacLeod. Sobald die Bleche über ein Öl schwappen in den Rümpfen – doppelt Viertel ihrer Stärke verloren hätten, droso viel, wie bei der Ölkatastrophe im Golf he ein Wrack unter dem eigenen Gewicht zu zerbersten. Der Forscher fürchtet, dass von Mexiko ins Meer geflossen ist. Und die ersten Schiffswände schwä- es für die Chuuk-Wracks bald so weit sein cheln: Im August 2001 etwa begann in könnte: „Ein starker Taifun, und die ersder Lagune des mikronesischen Ulithi- ten Schiffe könnten auseinanderbrechen.“ Vor allem der Tanker „Hoyo Maru“ beAtolls der Militärtanker USS „Mississinewa“ zu lecken. Das Schiff war im Novem- reitet den Experten Sorge. Das Schiff liegt ber 1944 mit 20 000 Litern Kerosin und nur einen Kilometer vor der Küste der Dieselöl an Bord von den Japanern ver- Chuuk-Insel Fefan kieloben auf Grund. senkt worden. 57 Jahre hielt der Rumpf. „Ein starker Ölgeruch hängt dort in der Dann kam ein Taifun. Am nächsten Mor- Luft; auf dem Wasser liegt ein öliger gen verschmierte zähes Öl die Traum- Schleier“, berichtet Anthony Talouli, Umweltberater des Pacific Regional Environstrände des Atolls. In der Chuuk-Lagune droht eine noch ment Programme. Taucher haben im weit größere Umweltkatastrophe. Die Rumpf der „Hoyo Maru“ bereits kleine Tonnage der versenkten Fregatten, U-Boot- Löcher entdeckt, aus denen wabernde ÖlJäger, Zerstörer und Frachter summiert blasen austreten. Talouli hat analysiert, was das Öl in sich auf etwa 200 000 Tonnen. Die nautische Altlast ist gespenstisch der Lagune anrichten könnte. Einmal freischön. Geschütze ragen aus den Wracks gesetzt, würde es die Mangroven an den D E R
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MIKRONESIEN
HUBERT KANUS / SÜDD. VERLAG
ChuukLagune
Wrack „Hoyo Maru“
Fefan 20 km
Tropenparadies Chuuk: Eine Ölpest würde die Wirtschaft für Generationen ruinieren
Küsten verkleben. Die ausgedehnten Wurzelsysteme der Bäume sind die Kinderstube vieler Fische und Krebse der Region. Auch Korallenriffe und Strände könnten unter einer Schicht giftigen Ölschlicks verschwinden. „Die Einheimischen leben vom Reichtum des Meeres“, sagt Talouli. Fischerei und Tourismus ernähren die Bewohner des Pazifikarchipels. Etwa 3500 Sporttaucher kommen jährlich, um die Wracks zu erkunden – die Haupteinnahmequelle des Inselreichs. Eine Ölpest würde die Wirtschaft von Chuuk „für Generationen ruinieren“, warnt Talouli. Was also kann getan werden? Die Insulaner reagieren mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Trotz auf die drohende Katastrophe. „Wir haben ein paar Ölbarrieren, die wir einsetzen könnten“, sagt Jack Sham von der Chuuk Environmental Protection Agency. Andere wie Mason Fritz, der Chef des Chuuk Visitors Bureau, wollen sich ihr Inselreich nicht schlechtreden lassen. „Ich tauche seit Jahrzehnten zu den Wracks und frage
mich, wo dieses ganze Öl versteckt sein soll, von dem die Leute reden“, sagt der Tourismusmanager. „Wir wissen noch nicht einmal, ob in den Schiffen überhaupt Öl ist; vielleicht war nie viel an Bord, vielleicht ist es längst ausgelaufen.“ Doch Wrackexperten wie MacLeod widersprechen. „Viele der Schiffe sind in kürzester Zeit gesunken – das Öl ist noch in den Tanks“, sagt der Forscher. Er fordert, umgehend Probebohrungen in die submarinen Rostlauben zu treiben, um die Menge des Öls zu ermitteln. Eine Methode, um den Dreck anschließend abzusaugen, ist längst erprobt. Die Experten führen dafür eine Art Tauchsieder in die Tanks ein, um den zähen Brei zu verflüssigen. Dann kann abgepumpt werden. „Hot tapping“ heißt die SchlüssellochOperation. Leider ist das Verfahren extrem teuer. Rund fünf Millionen Dollar kostete es zum Beispiel, den Bauch der USS „Mississinewa“ in der Lagune des Ulithi-Atolls zu leeren. Talouli: „Und das nur für ein einziges Schiff!“
Den Mikronesiern ist längst klar, dass sie das Problem aus eigener Kraft nicht werden lösen können. Der Staatenverbund ist arm. In Chuuk reicht das Geld noch nicht einmal aus, um die Schlaglöcher in den Straßen zu stopfen. „Wir haben weder die Expertise noch die finanziellen Ressourcen, das Öl selbst zu bergen“, räumt Umweltbehördenchef Yatilman ein. Er hofft auf internationale Hilfe und auf die Einsicht der Schiffseigner. Internationales Seerecht nämlich besagt, dass der Eigner eines Schiffs auch nach einer Havarie verantwortlich bleibt. Doch wem gehören die Schiffe? Immer noch den Japanern, für die der symbolträchtige Ort auch als Soldatenfriedhof Bedeutung hat? Oder sind die zerbombten Kähne nach der Kapitulation des Kaiserreichs automatisch in die Hände der Amerikaner gefallen? „Beide Länder haben eine moralische Verpflichtung, die Kosten zu übernehmen“, findet MacLeod. Noch lange auf fremde Hilfe zu warten sei allerdings fahrlässig: „Uns rennt die Zeit davon.“ Bis das Öl geborgen wird, hat der Australier daher einen anderen Plan. MacLeod möchte die fast magisch anmutenden Kräfte der Elektrochemie nutzen, um den Zerfall der Schiffe zu stoppen. „In Chuuk gibt es sehr viele Autowracks“, erläutert er, „die Einheimischen könnten sich selbst helfen, indem sie die Motoren dieser Autos sammeln und neben den Schiffswracks in der Lagune versenken.“ Mit Elektrokabeln will MacLeod die Aluminiumblöcke der Motoren anschließend mit dem rostigem Schiffsstahl verbinden. Die Metallpaarung hätte verblüffende Wirkung: Während das Aluminium korrodiert, würden die Wracks nicht PHILIP BETHGE mehr weiterrosten.
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„Merk dir so wenig wie nötig“ Der Bonner Psychologe Gert Mittring, 45, über seinen Sieg bei der Weltmeisterschaft im Kopfrechnen, seine Liebe zum Wurzelziehen und Hirndoping mit Schokolade SPIEGEL: Zum achten Mal in Folge haben Sie bei der „Mind Sports Olympiad“ in London in der Disziplin Kopfrechnen gewonnen. Was macht Sie so unschlagbar? Mittring: Kollegen aus Südafrika und Indien waren auch stark. Mein schärfster Konkurrent, der Engländer George Lane, kam mit 521 Punkten auf den zweiten Platz. SPIEGEL: Sie hatten 686 Punkte, ein Titelgewinn mit großem Vorsprung. Mittring: Okay, ich war in guter Form. Wohl auch wegen der Nervennahrung, die ich zu mir nahm. In London habe ich eine 300Gramm-Tafel Schokolade und mehrere süße Riegel verspeist und dazu Cola getrunken. Das stärkt bei mir die Aufmerksamkeit. SPIEGEL: Wie lange dauerte die Grübel-WM? Mittring: Drei Stunden. Die Aufgaben waren diesmal ungeheuer schwierig. Die Veranstalter denken sich immer härtere Tests zum Zerlegen in Primfaktoren oder zur Geometrie von Kreisflächen und Dreiecken aus. Beim Bruchrechnen habe ich mehrere Aufgaben ausgelassen. Eine lautete: Wie viel sind 10 16/53 x 11 12/49 : 17 17/33? Um die Lösung zu finden, hätte ich minZahlenkünstler Mittring destens zehn Minuten lang brüten müssen. Das war mir zu viel. SPIEGEL: Die vierte Wurzel aus 0,000313 Testfragen der „Mind Sports fanden Sie schneller? Mittring: Klar, Wurzelziehen ist mein Olympiad“ 2011 Rechenzeit des Weltmeisters Hobby. Einmal ist es mir gelungen, im Beisein eines Mathe-Professors aus Düssel- Was für ein Wochendorf die 11 111. Wurzel aus einer Zahl mit tag war der 111 111 Ziffern zu ziehen – in etwa 30 Se- 11. Januar 1883 ca. 2 Sek. kunden. Der Mann war sehr erstaunt. SPIEGEL: Was geht da in Ihrem Gehirn vor? Mittring: Ich strebe elegante, knappe Lösungen an. Mein Motto: Merke dir so we- 78 x 37 x 54= ca. 4 Sek. nig wie nötig. Dazu nutze ich verkürzte Rechenwege und zahlentheoretische Formeln. Wissen Sie, welcher Wochentag der 96 x 142 x x 237 x 21= 13. März 2545 sein wird? 23474876544 ca. 45 Sek. SPIEGEL: Wir könnten raten. Mittring: Ein Samstag. Auch das hat nichts mit Hexerei zu tun. Beim Datumrechnen gerundet auf müssen Sie nur jedem Monat eine Kenn- 115,73278 = 6 Stellen hinter dem Komma ziffer geben und dann mit den sogenann- 364,72523 ca. 1 Min. ten Siebenerresten aus dem Wochenzyklus operieren.
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M AT H E M AT I K
SPIEGEL: Danke für den Tipp. Aber wie viel sind denn 83,24 x 0,00508 x 19,3 x 615,32? Mittring: 5021,738 und ein paar Zerquetschte. Diese Frage aus dem Testbogen in London war wirklich eine harte Nuss. Ich bin fast an meine Grenzen gestoßen. Der Grund: Sie müssen sich mehrere ungemütliche Zwischenergebnisse merken, ohne sie aufschreiben zu dürfen. SPIEGEL: Wer hat den Wettkampf überwacht? Mittring: Im Turnierraum der University of London gingen Schiedsrichter auf und ab. Selbst auf die Klotür achtete ein Aufpasser. Erlaubt ist nur lautloses Rechnen, ohne Gemurmel. Ich schreibe manchmal Zahlen in die Luft, gelegentlich schaue ich starr auf den Fußboden. SPIEGEL: Woher haben Sie dieses beeindruckende Talent? Sind Sie mit Adam Riese verwandt? Mittring: Mein Vater war Pfarrer, also eher mit irrationalen Größen vertraut. Ich erinnere mich, dass ich bereits als Junge von drei Jahren großen Spaß am Rechnen hatte: Wenn meine Mutter einkaufen ging und im Supermarkt die Waren in den Korb legte, addierte ich heimlich die Preise auf den Schildern und nannte ihr an der Kasse die Gesamtsumme. Meine Liebe zu höheren Algorithmen entdeckte ich dann im Alter von sechs. SPIEGEL: Da spielen andere Kinder im Sandkasten. Mittring: Ich versuchte eher, die Zahl der Sandkörner in der Kiste durch Volumenabschätzung zu ermitteln. SPIEGEL: Nach Ihrem wiederholten Sieg bei der Denksport-Olympiade wäre Abwechslung nicht schlecht. Wo ist der Nachwuchs-Archimedes, der Sie schlagen könnte? Mittring: Das macht mir auch Sorge. Unsere Schüler greifen schon beim kleinen Einmaleins zum Taschenrechner. Viele Lehrer halten Kopfrechnen für altmodisches Zeug. Dabei ist es ein gutes Training, um das Merk- und Abstraktionsvermögen einzuüben. Hier gilt es umzusteuern. Deshalb veranstalten wir im Oktober eine deutsche Kopfrechenmeisterschaft für Kinder und Jugendliche. Unser Motto lautet: Kniffeln macht Spaß. SPIEGEL: Sie sind jetzt 45. Wie lange kann das Superhirn aus Bonn noch ganz vorn mithalten? Mittring: Ich fühle mich fit und hoffe, dass es mir wie einem Kollegen aus Holland ergeht. Der hat sich immer weiter gesteigert und vorletztes Jahr bei der MindSports-WM schließlich die Bronzemedaille geholt. Da war er fast 70 Jahre alt. INTERVIEW: MATTHIAS SCHULZ
Hamburger SPIEGEL-Kantine
DESIGN
Kantine ins Museum D
er geneigte Leser mag es möglicherweise noch nicht mitbekommen haben, aber der SPIEGEL wird in zwei Wochen umziehen. In einen Neubau, ein paar hundert Meter nur entfernt vom in die Jahre gekommenen alten Hochhaus in der Hamburger City. Alles neu, alles schön, alles modern und auch ökologisch ohne jeden Fehl und Tadel, und doch geht die Redaktion nicht ganz leichten Herzens. Was auch damit zu tun haben könnte, dass man Abschied nehmen muss von Verner Pantons legendärer, 1969 erschaffener Kantine, die wie ein
KUNSTMARKT
„Exquisite Herkunft“ Der Düsseldorfer Galerist Herbert Remmert, 58, über die Entdeckung von vier Aquarellen des Malers Otto Dix, die er nun ausstellt und verkauft SPIEGEL: Herr Remmert, Sie haben vier verschollene Werke des deutschen Malers Otto Dix aus den zwanziger Jahren entdeckt. Wo findet man Bilder eines so wichtigen Künstlers? Remmert: Sie lagerten bei der Stiefenkeltochter von Otto Dix in Oberbayern. Die Ehefrau des Künstlers, Martha, war in erster Ehe mit dem Düsseldorfer Arzt Hans Koch verheiratet und hatte zwei Kinder mit ihm. Koch war ein großer Kunstsammler und besaß zahlreiche Dix-Aquarelle. Seine Kinder erbten die Sammlung und gaben sie dann an ihre Kinder weiter.
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Raumschiff auf LSD leuchtete und tatsächlich bei mancherlei Besuchern (und nicht nur bei denen) halluzinogene Effekte produzierte. Die Idee des dänischen Designers: eine neue Einheit von Raum und Funktion zu gestalten. Boden, Wände, Decken flossen ineinander und strahlten in grellsten Rottönen. Sie waren Teil eines umfassenden Farbkonzepts für das ganze Haus, jede Etage leuchtete in einem anderen Ton. Der Rest wurde nach und nach übergepinselt, die Kantine blieb. 1998 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Am 16. September wird es dort zum letzten Mal etwas zu essen geben, danach wird sie auseinandergebaut. Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe soll sie wieder auferstehen. Traumatisierte SPIEGEL-Redakteure allerdings müssen sich gedulden: Erst im kommenden Jahr ist die alte Kantine der Öffentlichkeit zugänglich.
SPIEGEL: Wie konnten die Aquarelle so
lange unentdeckt bleiben? Remmert: Das Schaffen von Otto Dix ist zwar weitgehend erforscht, aber einige Bilder sind immer noch verschollen. Die einen sind durch den Zweiten Weltkrieg verlorengegangen, die andeVG BILD-KUNST, BONN 2011; OTTO DIX / COURT. GALERIE REMMERT UND BARTH
FELIX BORKENAU
Szene
Dix-Aquarell „Soubrette“, 1922 D E R
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ren befinden sich noch im Familienbesitz. Die Stiefenkelin wollte ihren Nachlass zusammenhalten und hat ihn deshalb nicht publik gemacht. Erst nach vielen Jahren der Vertrauensbildung ist es mir gelungen, die Aquarelle ausstellen zu können. SPIEGEL: Sind Sie sich sicher, dass die Aquarelle echt sind? Remmert: Das Wichtigste bei derartigen Funden ist, dass sie einwandfreier Herkunft sind. Und die Koch-Sammlung ist sehr exquisit. Hinzu kommt, dass die Aquarelle typische Dix-Merkmale aufweisen, etwa die rückseitigen Betitelungen und Widmungen. SPIEGEL: Sind weitere Entdeckungen zu erwarten? Remmert: In allernächster Zeit wohl eher nicht. Dass aus der oberbayerischen Quelle aber irgendwann noch etwas auftaucht, ist relativ gewiss. Dix’ Stiefenkelin besitzt etwa noch ein gemaltes Kinderbuch, das der Künstler einst ihrer Mutter geschenkt hatte. Einmal durfte ich es kurz anschauen.
Kultur L I T E R AT U R
Stumpf ist Trumpf
Wetterleuchten der Langeweile
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D Guetta (l.)
genhaft erfolgreich, tatsächlich ist ihm in den vergangenen Jahren gelungen, was als letzter Europäer vor ihm wohl nur der Disco-König Giorgio Moroder Ende der Siebziger geschafft hat: den Gang des schwarzen amerikanischen Pop zu beeinflussen. Viele der großen US-Stars haben mit Guetta zusammengearbeitet, auf „Nothing But the Beat“ sind Will.i.am und Usher dabei und sein aktueller Remix von Snoop Dogg. Es hilft nichts, diese Musik ist von ausgesuchter Schrecklichkeit.
PIFFI MEDIEN
inen DJ, dessen Ruhm sich auf eine Partyreihe in Ibiza gründet, die den schönen Titel „Fuck Me I’m Famous“ trägt, muss man eigentlich mögen. Es könnte aber der einzige Grund sein, eine tiefere Zuneigung zu dem französischen DJ und Produzenten David Guetta, 43, zu entwickeln. Zu mehr reicht es beim besten Willen nicht, auch nach seinem neuen Album „Nothing But the Beat“, einer DoppelCD. Dazu ist Guettas Aufkochen der ewig gleichen Dance-Music-Klischees und der Dauereinsatz von Auto-Tune, einer Stimmmanipulations-Software, zu nervtötend. Wobei es fast bewundernswert ist, wie es Guetta gelingt, völlig vorhersehbare Musik zu machen, Stücke, bei denen jeder weiß, wie es in den nächsten Takten weitergehen wird. Deshalb ist Guetta so sa-
ABACA PRESS / ACTION PRESS
POP
Szene aus „Gerhard Richter Painting“ FILM
Nicht öffentlich
W
enn ein Mann, der als der wichtigste Künstler der Gegenwart gilt, in sein Atelier einlädt, dann ist das eine Sensation, zumal Gerhard Richter von sich sagt, er sei „nicht für die Öffentlichkeit gemacht“. Nun hat der Maler der Filmemacherin Corinna Belz erlaubt, ihm beim Arbeiten zuzusehen. Belz darf dokumentieren, mit welcher konzentrierten Kraft der scheue Richter Kunst schafft, wie ernsthaft er mit ihr hadert. Das betrifft nicht nur seine Gemälde, sondern das ganze Drehprojekt, er fühle sich ausgeliefert, sagt er in solchen Momenten, das Malen sei schließlich eine heimliche Angelegenheit. Es ist ein ruhiger,
auch intensiver Film geworden, getragen von einer leisen Spannung, und er dauert einen ganzen, abstrakten Bilderzyklus lang. Richter öffnet sich durchaus, spricht über sein Künstlersein, ein wenig auch über sein Leben, seine Herkunft. Seine freundlich vorgetragenen Sätze irritieren, etwa der, dass man bereits als Kind den eigenen Eltern misstrauen muss. Im kommenden Februar wird der Künstler 80 Jahre alt, der Film, „Gerhard Richter Painting“, der an diesem Donnerstag in den Kinos anläuft, ist eine erste von vielen Würdigungen. Inzwischen, so hat es Belz herausgefunden, hat er eines der Gemälde wieder zerstört, mit denen er während der Dreharbeiten regelrecht gekämpft hat. Auch das war, so befand Richter augenscheinlich, nicht für die Öffentlichkeit gemacht. D E R
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ie flammende, unwiederholbare Jugend war das Thema des Romandebüts von Paul Ingendaay, als er vor fünf Jahren die Nöte und die Seligkeit der Schüler eines katholischen Internats am Niederrhein in Sätze fasste, die eines Salinger würdig sind. Ingendaay, Kulturkorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen“ in Spanien, schreibt nun mit „Die romantischen Jahre“ das Schicksal seines Helden fort, das in „Warum du mich verlassen hast“ begann. Marko Theunissen ist nach einer verkrachten Bildungskarriere Versicherungsmann geworden. Er hat Büro, Sekretärin und eine große Wohnung für sich allein und hält sich nach Kräften die Frage vom Leib, ob das nun alles gewesen sein soll: Glorioses Scheitern sieht anders aus, glorioses Gelingen auch. „Sonntags hängt über allem, was ich tue, ein Hauch von Wehmut, und ich spüre das dringende Bedürfnis, mein Leben auszutauschen. Das Modell, das ich stattdessen wählen würde, hängt aber gerade nicht auf dem Bügel.“ Die Affäre mit einer Kundin sorgt für das nötige Maß an Dramatik, das Langeweile und Depression zur fern wetterleuchtenden Drohung machen; der Konkurrenzkampf mit einem Kollegen hält nicht nur den Roman, sondern auch seinen Protagonisten auf solidem Spannungsniveau. Das alles hat Witz, ist mit Charme und Klugheit erzählt. Dennoch ist Ingendaays zweiter Roman der kleine Bruder des ersten, was poetische Intensität anbelangt: Die Mittel der Distanzierung und Ironie, die der Herzensschrift seines Debüts so viel Zauber verleihen, fungieren im Kosmos der Durchschnittlichkeit, in dem Ingendaays Held nun lebt, vor allem als Plauderei. Denn nun gilt es nicht, ein existentielles Drama erträglich zu machen, sondern nur, eine subtil empfundene Leere von sich und dem Leser fernzuhalten. So folgt man PAUL der Erzählung des wort- INGENDAAY gewandten Helden mit Die romanVergnügen, aber ohne tischen Jahre tiefere Folgen für GePiper Verlag, müt und Gedächtnis. München; Glorioses Gelingen sieht 480 Seiten; anders aus, glorioses 19,99 Euro. Scheitern aber auch. 129
Kultur
ZEITGEIST
Walross und Welpe „New York Times“-Kolumnist Thomas Friedman ist die wichtigste Ein-Mann-Meinungsmaschine der USA: Er plädierte für den Irak-Krieg, pries die Globalisierung und forderte die Öko-Revolution. In seinem neuen Buch hat er ein neues Mantra: Amerika, wir sind am Ende. Von Georg Diez
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AMIN AKHTAR / LAIF
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homas Friedman hat einen Schnurrbart wie ein Walross und ein Wesen wie ein Welpe. Der Schnurrbart sagt Pessimismus, der Rest sagt Optimismus. Wäre das hier eine von seinen Kolumnen, so würde sie „Das Walross und der Welpe“ heißen. So funktioniert Friedmans Welt: Reduziere alles auf ein Bild, eine Analogie, eine Metapher. Und wiederhole das so oft, bis der Rest der Menschheit dir glaubt. Globalisierung, Globalisierung, die Welt ist flach, so ging das ein paar Jahre. Grün, grün, grün, sonst werden wir alle untergehen, das kam danach. Amerika, Amerika, wir sind am Ende, das ist das neue Mantra. „Message discipline“, so nennt das ein Kollege von der „New York Times“: Bleib bei deiner Botschaft, die Welt ist kompliziert genug. So ist Friedman Corp. entstanden, die erste One-Man-Meinungsmaschine des 21. Jahrhunderts. „Die Menschen fragen mich oft, ob ich nicht in die Politik gehen will“, sagt Friedman, 58, an einem Morgen in Washington. „Ich sage dann: Gern, aber ich gehe nirgendwohin ohne meinen Colt.“ Der Colt, das ist seine Kolumne. Seit 16 Jahren schreibt er sie, 840 Wörter, immer mittwochs und sonntags in der „New York Times“. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Journalist der Welt und wird dafür von seinen Kollegen vor allem verspottet. Zu einfach, zu amerikanisch, zu Holzhammer, sagen sie. „Um etwas angemessen zu vereinfachen, muss man es erst umfassend verstanden haben“, sagt Friedman. Der Banken-Crash von 2008: „das 9/11 der Finanzwelt“. Der 11. September 2001: „der Beginn des Dritten Weltkriegs“. Amerika: „die größte Innovationsmaschine, die Gott je erschaffen hat“. Alles Schüsse aus dem Colt. Es war aufregend und unterhaltsam, Thomas Friedmans Kolumnen zu lesen und ihn in diesem turbulenten, traurigen, krassen Jahrzehnt nach dem 11. September 2001 dabei zu beobachten, wie er früh recht hatte, wie er sich fürchterlich irrte, wie er durch die Welt raste, um herauszufinden, was hinter der nächsten Ecke wartete.
Autor Friedman: „Ich gehe nirgendwohin ohne meinen Colt“ D E R
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bänke sind aus dunklem Leder, Friedman trägt Shorts. Er isst ein Omelette, low carb, nur Eiweiß, kein Käse. Neben ihm auf der Bank liegt das Buch, das am Montag dieser Woche in den USA erscheint und ziemlich Lärm machen dürfte – in diesem stolzen, verunsicherten Land, das regiert wird, so scheint es manchmal, von mutierten, übersexualisierten Blondinen auf Fox News, die reden wie Maschinengewehre, wenn sie ihre Meinung unters Volk feuern und von Obama nur als „this guy“ sprechen.
SCOTT HOUSTON / CORBIS
ANDREW MOORE
Er schlug mit Schlagworten die großen Linien, er hatte den Weltgeist neben sich in der Business Class, er kämpfte für den Irak-Krieg und für Obama, es waren Reisedepeschen eines rasenden Reporters, Bangalore, Davos, Grönland, Kairo. „Die besten Kolumnisten sind alle Reporter“, sagt er, der dreifache PulitzerPreisträger. „Ich frage mich täglich aufs Neue: Was passiert gerade?“ Thomas Friedman, kurz Tom, sitzt im Daily Grill des Hyatt Hotels in Bethesda, einem Vorort von Washington. Die Sitz-
Fabrikruine, Unterschicht im Bundesstaat Ohio: Die verlorenen Jobs kommen nicht zurück D E R
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„That Used to Be Us“, heißt das Buch, das er mit seinem Freund, dem Politikprofessor Michael Mandelbaum, geschrieben hat. Und wie immer bei Friedman ist das Buch ein großes Ausrufezeichen: Es handelt davon, wie Amerika zurückgefallen ist „in der Welt, die es erfunden hat“; und wie es wieder aufholen kann. Aber dieses Mal ist etwas anders: Friedman nimmt die Kränkung Amerikas persönlich. Vier Gründe nennen Friedman und Mandelbaum für dieses „defekte Land“. Amerika hat seine Probleme jahrelang ignoriert: Erziehung, das Defizit und die Schulden, Energiepolitik und Klimawandel. Amerika hat nicht genug in Infrastruktur und Bildung investiert. Amerika hat eine politische Krise und eine Krise der Werte. Amerika hat sich nicht gefragt: In welcher Welt leben wir eigentlich? „Weißt du“, sagt er, „ich bin nicht so sehr wütend, ich bin besorgt. Ich glaube, dass die Welt ein unsicherer Ort ist ohne ein starkes Amerika. Michael und ich, wir sind beide Patrioten. Wir sind 4th-of-JulyGuys. Wir sind Optimisten, aber frustrierte Optimisten. Seit zwei Jahren haben wir über den Niedergang Amerikas gesprochen, bis unsere Frauen sagten: Schreibt das doch einfach mal auf.“ Und so ist das Buch beides: Es hat das friedmansche Peng-Peng-Peng. Es hat aber auch den melancholischen Ton zweier nicht mehr ganz junger Männer, die nach ihrer verlorenen Welt suchen. „Ich bin in einem Vorort von Minneapolis groß geworden“, sagt Friedman, „in der unzynischsten Umgebung, die man sich vorstellen kann. Ich habe immer geglaubt, dass Politik die Dinge zum Besseren verändern kann. Ich bin mit einem Lächeln im Gesicht aufgewachsen.“ Das war das Amerika des 20. Jahrhunderts. Das Amerika des 21. Jahrhunderts ist ein Empire am Rand des Abgrunds. „Wir haben zwei große Fehler in den vergangenen 20 Jahren begangen: Wir haben 1989 das Ende des Kalten Kriegs falsch interpretiert. Wir dachten, das sei unser Sieg. Dabei war es unsere größte Herausforderung: Auf einmal gab es Hunderte Millionen Menschen auf der Welt, die die gleichen Wünsche und Möglichkeiten hatten wie wir. Wir haben unsere Füße hochgelegt genau in dem Moment, als wir unsere Schuhe hätten schnüren sollen.“ Er hat diese Sätze schon hundertmal gesagt, bei Talks, auf Panels, bei einem Abendessen mit Bill Gates. Trotzdem ist er aufgeregt. Das ist der Welpe in ihm. „Der zweite Fehler war, dass wir nach dem 11. September 2001 die Verlierer der Globalisierung gejagt haben, also Osama Bin Laden und al-Qaida, während wir uns eigentlich um die Gewinner der Globalisierung hätten kümmern sollen, also China, Indien, Brasilien. Das, was nach 9/11 passiert ist, war ein verlorenes, ein 131
Kultur fatales Jahrzehnt für Amerika. Mich macht das sehr traurig.“ Warum war er für den Irak-Krieg? „Es stand 52 zu 49 Prozent. Die Leute sagten zu mir: Die Rechnung geht nicht auf. Und ich sagte: Ich weiß. Mir ging es darum, Demokratie in den Mittleren Osten zu bringen. Ich sah die autokratischen Regime, die ihrer eigenen Jugend die Zukunft rauben und antimoderne religiöse Führer hervorbringen. Mir ging es nicht um Massenvernichtungswaffen, mir ging es um Massenvernichtungsmenschen.“ Ein typischer Friedman. Etwas schief, das Bild, aber stimmig in seinem Denken. Er redet schon wieder vom nächsten großen Ding, von Ägypten und den Revolutionären vom Tahrir-Platz. Menschen in Bewegung. Er unterbrach sein Buch, um dabei zu sein, er war beeindruckt, weil er es kommen gesehen hatte. „Ich habe doch erlebt, wie sehr die Araber ihre Regierungen hassen. Wie sehr sie uns hassen. Gebt ihnen was, sagte ich, auf das sie stolz sein können. Gebt ihnen etwas, das sie besitzen. Niemand hat je ein geliehenes Auto gewaschen. Das war mein Hauptargument für den Irak-Krieg.“ Friedman kannte den Nahen Osten, er war von 1982 bis 1988 Bürochef der „New York Times“ in Beirut und Jerusalem. Seine Vorfahren sind Juden aus Rumänien, Lettland, Litauen, sie wanderten Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika aus. „Meine Highschool-Zeit war eine einzige, lange Feier des Siegs von Israel im SechsTage-Krieg 1967.“ „Ich war besessen von Israel, ich dachte über nichts anderes nach. Ich war dabei immer für die Zwei-Staaten-Lösung. Aber in letzter Zeit bin ich müde, wenn es um Israel geht. Ich habe keine Worte mehr und keine Ideen. Israel hat zurzeit eine gehirntote, inzestuöse, erstickende Regierung wie nie zuvor.“ Und jedes dieser Worte spuckt er hervor mit einem Spaß, als wäre auch diese Konversation eine seiner Kolumnen, aus denen später Bücher werden, voller Anekdoten, persönlicher Betrachtungen, Reportagen. Kritiker nennen sie zusammengeschustert. Tatsächlich sind sie schnell geschrieben, fast in einer Art Kontinuum, so wie Friedman auch arbeitet: dauernd. Sie sind eine eigene Gattung, offen, flexibel, kampagnenfähig, sie haben Wirkung und Wucht im Internetzeitalter gerade wegen ihrer antiquarischen Anmutung: als Buch. Sie sind nicht gereiftes Denken, sie sind mehr „eine Denkrichtung“, wie Friedman sagt. Die Globalisierungsfibel „Die Welt ist flach“ verkaufte sich weltweit mehr als vier Millionen Mal und wurde in 37 Sprachen übersetzt, „Was zu tun ist“, eine Art Neuerfindung des Kapitalismus im grünen Anstrich, war ebenfalls ein Besteller. 132
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Bestseller Belletristik 1
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Charlotte Roche Schoßgebete Piper; 16,99 Euro
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Jussi Adler-Olsen Schändung dtv; 14,90 Euro
P. C. Cast / Kristin Cast Verbrannt – House of Night 7 FJB; 16,95 Euro
Markus Heitz Die Legenden der Albae – Vernichtender Hass Piper; 15,99 Euro Benedict Wells Fast genial Diogenes; 19,90 Euro
Hinreißendes Roadmovie in Buchform: Ein Jugendlicher, der per Samenspende gezeugt wurde, sucht seinen unbekannten Vater
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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Sachbücher Heribert Schwan Die Frau an seiner Seite – Leben und Leiden der Hannelore Kohl Heyne; 19,99 Euro 2 (17) Thorsten Havener Denk doch, was du willst 1
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Götz Aly Warum die Deutschen? Warum die Juden? S. Fischer; 22,95 Euro Richard David Precht Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann; 14,95 Euro Margot Käßmann Sehnsucht nach Leben adeo; 17,99 Euro
Joachim Fuchsberger Altwerden ist nichts für Feiglinge Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro
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15 (13) Bud Spencer mit Lorenzo De Luca und David De Filippi Mein Leben, meine Filme – Die Autobiografie Schwarzkopf & Schwarzkopf; 19,95 Euro
16 (–) Philipp Lahm mit Christian Seiler
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Eigentor des NationalelfKapitäns: Das Ausplaudern angeblicher Kabinengeheimnisse geriet zum Skandal
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20 (18) Henry Kissinger China C. Bertelsmann; 26 Euro D E R
Für einen Vortrag bekommt er bis zu 75 000 Dollar. Er checkt kurz seine E-Mails auf dem BlackBerry, „wait, let me just get this“, dann stellt er fest, dass der Dow schon wieder gefallen ist, während wir hier frühstücken. Friedman wohnt in der Nähe, „palastähnlich“ sei sein Haus, schrieb eine Zeitung, zehn Millionen Dollar wert, 1000 Quadratmeter Wohnfläche, die er zusammen mit seiner Frau Ann bewohnt, einer Lehrerin, Tochter eines Immobilienmilliardärs, dessen Firma nach der Finanzkrise im Jahr 2009 Bankrott erklärte. Die Nähe zu seinem Haus ist der eine Grund, warum wir uns im Daily Grill treffen. Der andere ist die Rolltreppe. Wieder so eine Friedman-Geschichte, sie findet sich am Anfang seines neuen Buchs: Vor dem Daily Grill führt eine Rolltreppe hinunter zur U-Bahn, mit der Friedman zur Arbeit nach Washington fährt. Sechs Monate lang war diese Rolltreppe defekt, täglich stauten sich die Menschen, sie nahmen es ruhig hin. Dann flog Friedman mal wieder nach China, die Konferenz fand in einem riesigen neuen Kongresszentrum statt, Baubeginn am 15. September 2009 und fertiggestellt im Mai 2010. „Das wären dann“, sagt Friedman und zählt an den Fingern ab, „acht Monate.“ Das Schlimme, sagt er, sei gar nicht, dass die Reparatur einer Rolltreppe sechs Monate dauert. Das Schlimme sei, dass sich die Amerikaner mit solchen Zuständen abgefunden haben. „That Used to Be Us“ ist ein Buch über die Krise des Westens, vorgeführt am Beispiel Amerikas. Ein Buch über die Engstirnigkeit der Politik, wo sich zwischen den zwei radikalisierten Lagern der Demokraten und der Republikaner die Zukunft des Landes zerreibt. „Unser Kongress ist organisierte Bestechung“, sagt Friedman, „und die Wähler sind politisch längst nicht so polarisiert, wie uns die Politiker einreden.“ Und dann kommen wieder ein paar Schüsse. „Wir haben keine wirtschaftliche, sondern eine politische Krise.“ Oder: „In den vergangenen 60 Jahren haben die Politiker vor allem an die Menschen verteilt. In den nächsten Jahrzehnten wird es darum gehen, den Menschen etwas wegzunehmen.“ Da geht es um Verteilungskämpfe und Anspruchsdenken, um die alternde Gesellschaft und die Frage, wie wir die zahlenmäßig so große Generation der Babyboomer in Rente schicken und im Alter betreuen können, wo doch heute schon die letzten zwei Monate der Großmutter im Krankenhaus oft so viel kosten wie vier Jahre College für die Enkel. Da geht es auch um eine Wirtschaft, wo die Jobs nicht einfach zurückkommen, wenn die Rezession vorbei ist, so wie es früher war, „sie kommen nicht zurück,
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Kultur
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Ein Akt der Befreiung“ Unter Lateinamerikas zumeist linken Autoren gilt der Liberale Mario Vargas Llosa als Außenseiter. Ein Gespräch mit dem Literaturnobelpreisträger über Schreiben und Rebellion.
JORDI SOCIAS / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
sie kommen einfach nicht zurück“, sagt Friedman sehr sanft und mitleidig. Da geht es um eine Zukunft, für die der Westen zweimal so hart arbeiten muss, wenn er mithalten will. Und für die Bildung der Schlüssel ist. Es ist wie oft bei Friedman: Er erzählt nichts wirklich Neues, das aber effektiv. Es geht bei alldem um eine einfache Frage: Was sind in Zukunft die Prioritäten, nach denen wir Entscheidungen treffen? „Das Problem ist nicht China“, sagt er, „das Problem sind wir.“ Für Amerika bedeutet das: „Schocktherapie. Das System braucht eine Schocktherapie, sonst kommen wir aus dem Sumpf nicht wieder raus.“ Friedman, der immer für die Demokraten gestimmt hat, sieht nur einen Ausweg: „Ich erkenne die Politik nicht mehr in diesem Land“, sagt er. „Ich fühle mich entfremdet. Das Einzige, was uns helfen würde, wäre ein ernstzunehmender Präsidentschaftskandidat 2012, der von keiner der beiden Parteien unterstützt wird. Michael Bloomberg wäre so jemand.“ New Yorks Bürgermeister Bloomberg ist ein guter Freund, die beiden sprechen oft. „Michael würde nur antreten“, sagt Friedman, „wenn er die Chance hätte zu gewinnen. Und das dürfte sehr schwierig werden. Ein unabhängiger Kandidat hätte vor allem die Chance, den Mitbewerbern aus den beiden großen Parteien eine andere, zukunftsoffenere Agenda aufzuzwingen. Nichts wäre mehr wie vorher. Am besten sollten Michael und mein Freund Bill Gates gemeinsam antreten.“ Der Dow ist inzwischen weiter gefallen, 500 Punkte insgesamt. In „That Used to Be Us“ steckt der Wunsch nach einer neuen Republik, die Blaupause einer neuen Demokratie, die die Politik wieder von den Zwängen der Partikularinteressen emanzipiert und zum Wohl des Ganzen definiert. Minnesota, circa 1960. Im Grunde will Friedman eine Art von „nation building at home“. Sonst? „Sonst werden wir bald ein fußlahmes Land sein. George W. Bush hat die große Chance verpasst, nach dem Angriff vom 11. September Amerika zu mobilisieren. Er hätte alles verlangen können, eine Patriotismus-Steuer etwa, mit der wir uns vom Öl unabhängig hätten machen können, und eine ganz neue Art der Energieversorgung hätten aufbauen können.“ Stattdessen kamen zwei Kriege und eine riesige Steuersenkung. Stattdessen kamen comicgroße Autos, die aussahen, als hätte sie jemand mit einer Luftpumpe aufgeblasen und vergessen, die Pumpe wieder zu entfernen. Stattdessen kam die Finanzkrise, kam Obama, der seine Chance hatte, kam die Tea Party. Es sind radikale Zeiten. „Wir haben noch eine Chance“, sagt Thomas Friedman. Amerika braucht mal wieder eine Revolution.
Schriftsteller Vargas Llosa: „Aber seine politischen Ideen – du lieber Gott!“ D E R
S P I E G E L
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Vargas Llosa, 75, ist einer der bedeutendsten und produktivsten lateinamerikanischen Romanciers und Essayisten. International Aufsehen erregte der Peruaner erstmals 1962 mit dem Roman „Die Stadt und die Hunde“, dem vier Jahre später sein wohl bestes Werk „Das grüne Haus“ folgte. 1990 bewarb er sich ohne Erfolg um das peruanische Präsidentenamt. Im Dezember 2010 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. In seinem neuen Buch „Der Traum des Kelten“, das jetzt im Suhrkamp Verlag erscheint, befasst sich Vargas Llosa mit dem Schicksal des in Irland geborenen britischen Diplomaten Roger Casement (1864 bis 1916), der Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag der Londoner Regierung die katastrophalen Lebensbedingungen der Schwarzen im Kongo und der Indianer am Amazonas untersuchte und später den irischen Freiheitskampf unterstützte, bis er schließlich im August 1916 in London hingerichtet wurde. Meisterhaft zeichnet Vargas Llosa den Traum des Kelten Casement von einer freien, gerechten Welt in all seinen inneren und äußeren Kämpfen nach.
lästig sein. Aber natürlich wird man dafür entschädigt. SPIEGEL: Der Nobelpreis wurde Ihnen zugesprochen für Ihre „Kartografie der Machtstrukturen und die gestochen scharfen Bilder des individuellen Widerstands, des Aufruhrs und der Niederlage“, wie das Komitee in seiner Würdigung schrieb. Das würde bestens auf einen linken Rebellen passen. Vargas Llosa: Das Lob ist ziemlich verwirrend, aber ich war sehr glücklich damit,
MAGGIE STEBER / REDUX / LAIF
SPIEGEL: Herr Vargas Llosa, Ihr literarisches Werk zeugt von einem tiefen humanitären und sozialen Engagement. Auch in Ihrem neuen Roman „Der Traum des Kelten“ erzählen Sie vom tragischen Kampf eines Idealisten für die Entrechteten. Wo stehen Sie politisch? Vargas Llosa: Ich bin ein Liberaler, ein liberaler Demokrat im klassischen Sinn. In den USA wird ja liberal oft mit sozialistisch gleichgesetzt. Das darf nicht verwechselt werden. SPIEGEL: Macht Sie das zu einem Außenseiter, sogar zu einer Kuriosität unter den lateinamerikanischen Intellektuellen? Vargas Llosa: In gewisser Weise schon. Viele Jahre war ich so etwas wie eine Ausnahme, aber nach und nach hat sich die Einstellung auch in Lateinamerika geändert. Die Schriftsteller sind nicht mehr so revolutionär wie in der Vergangenheit. SPIEGEL: Lateinamerika galt lange als der revolutionäre Kontinent schlechthin. Sind diese Träume endgültig verflogen? Vargas Llosa: Die meisten meiner Kollegen begeistern sich vielleicht noch nicht so richtig für die Demokratie, aber sie haben sich, na ja, mit ihr abgefunden. Sie haben gelernt, dass der Staat nicht die Lösung für alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme ist. Diese Hoffnung hat getäuscht. Es gibt immer noch nicht viele Liberale unter den Schriftstellern, aber viel mehr Demokraten als früher und vermutlich viel weniger Revolutionäre. SPIEGEL: Hat das auch den Blick auf Sie in Lateinamerika verändert? Der geliebte Sohn waren Sie ja nie. Vargas Llosa: Lange war ich es gewohnt, zu lesen und zu hören: Nun ja, seine Ro-
mane sind in Ordnung, vielleicht manchmal sogar sehr gut, aber seine politischen Ideen – du lieber Gott! Da hat sich ein bisschen was gebessert. Manche sagen jetzt: Er mag politisch ein Neoliberaler sein, aber seine Romane sind links; er weiß es selbst nicht, aber er hat das Herz auf dem richtigen, dem linken Fleck. SPIEGEL: Befriedigt Sie das? Vargas Llosa: Das ist okay, ich habe keine Probleme mit den Etiketten.
Autor García Márquez bei Fidel Castro 1984: „Ich rede nicht über ihn“ SPIEGEL: War der Literaturnobelpreis, den Sie im vergangenen Jahr erhielten, nicht nur eine Auszeichnung Ihres literarischen Schaffens, sondern auch eine Anerkennung Ihres Streitens für Demokratie? Vargas Llosa: Zunächst einmal war der Preis eine totale Überraschung. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. SPIEGEL: Weil er so spät kam? Vargas Llosa: Nein. Ich dachte, ich hätte alles getan, um ihn nicht zu bekommen. Ein Lateinamerikaner, ein Liberaler und der Nobelpreis für Literatur – das war doch ein Ding der Unmöglichkeit! Ich war völlig fassungslos. Wunder geschehen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Es war eine sehr interessante Erfahrung, wenn auch ein bisschen destruktiv. SPIEGEL: Inwiefern? Es muss doch eine Genugtuung für Sie gewesen sein. Vargas Llosa: Es ist schwer, mit dem Schreiben so diszipliniert fortzufahren, wie ich es gewohnt bin, wenn Sie so etwas wie ein Darsteller im Medientheater werden. Das ist nicht lustig, es kann sogar sehr D E R
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denn ich beziehe es auf die rebellische Einstellung, die meine Romanfiguren zur Wirklichkeit und zum Gefüge der Gesellschaft haben. Diese Haltung, die Welt herauszufordern, gefällt mir. SPIEGEL: Sind Sie also doch ein verkappter Linker? Vargas Llosa: Ich glaube, ein echter Liberaler tendiert eher nach links als nach rechts. SPIEGEL: So? Das klang vorhin noch anders. Was ist denn ein echter Liberaler? Vargas Llosa: Was ihn zunächst und vor allem auszeichnet, ist Toleranz. Mit der Möglichkeit rechnen, dass man sich in seinen Überzeugungen und Glaubenssätzen irrt. Den anderen in seinem Denken, Glauben, Reden akzeptieren. Toleranz schafft den gemeinsamen Nenner für das friedliche Zusammenleben in einer Welt, in der nicht das Gesetz des Dschungels herrscht. Daraus ergibt sich die Ablehnung jeder Form von Totalitarismus. SPIEGEL: Liberalismus als Laisser-faire schafft Ungleichheit und Ungerechtigkeit. 135
Kultur beizwingen will, schafft man die Hölle. Perfektion kann man in der Kunst anstreben, in der Literatur, vielleicht sogar im persönlichen Schicksal. Vielleicht gibt es das perfekte Leben. Aber nicht die perfekte Gesellschaft. SPIEGEL: Ihr Liberalismus ist weniger Doktrin als Moral? Vargas Llosa: Eine moralische Haltung, ja. Die Entdeckung des Sozialphilosophen Karl Popper und die Lektüre seines großen Werks „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ waren für meine moralische und politische Entwicklung von absolut zentraler Bedeutung, als ich in den siebziger Jahren eine ernste politische Krise durchmachte und dem Linksutopismus abschwor. Popper war mein intellektuelles Erweckungserlebnis, viel mehr noch als andere liberale Denker wie Raymond Aron und Isaiah Berlin. SPIEGEL: In Ihrem Buch „Der Traum des Kelten“ versammeln Sie wieder alle Motive Ihrer erzählerischen Welt: Einsamkeit, Leidenschaft, Grausamkeit, Machtmissbrauch, Auflehnung, Kolonialismus und Nationalismus. Sind das immer noch die Brandsätze, die die Welt auch heute in Flammen versetzen können? Vargas Llosa: Die Nachwirkungen all dieser Dämonen der Geschichte sind immer noch äußerst stark, nicht nur in Lateinamerika. Die koloniale Welt ist unterge-
gangen, aber ihre zerstörerischen Kräfte sind noch lebendig, im Kongo zum Beispiel, dessen endlose Tragödie ihre Wurzeln in den Jahren der brutalen belgischen Kolonialherrschaft hat. SPIEGEL: Diese Schreckenszeit mit ihren Menschenrechtsverletzungen, der Ausbeutung der Schwarzen und der Korruption ist ein zentrales Kapitel Ihres Romans: Sie markiert den Wendepunkt im Leben Ihres Protagonisten Roger Casement. Vargas Llosa: Ja, ich habe den Roman nicht geschrieben, weil ich das Unrecht jener Jahre noch einmal anprangern wollte, sondern weil mich diese Figur faszinierte. SPIEGEL: Wie sind Sie auf Roger Casement gekommen? Vargas Llosa: Ich las eine neue Biografie über Joseph Conrad, einen Autor, den ich immer sehr bewundert habe, und war sehr beeindruckt, als ich darin erfuhr, dass Casement die erste Gewährsperson war, die Conrad bei seinem einzigen Aufenthalt im Kongo getroffen hatte. Casement war zu diesem Zeitpunkt schon seit sechs Jahren mit den Verhältnissen im Kongo vertraut. SPIEGEL: Er wurde später von der britischen Regierung beauftragt, einen Bericht über die Zustände dort zu schreiben, der großes Aufsehen erregte und unmittelbare politische Folgen hatte.
CHARLES HAMMARSTEN / IBL BILDBYR / PICTURE-ALLIANCE
Vargas Llosa: Demokratische Werte müssen Freiheit mit Gerechtigkeit und Fairness verbinden. Die Freiheit des Individuums, autonom über seine eigene Lebensform zu entscheiden, setzt dem Staat die Grenzen der Intervention. Die wirtschaftliche Freiheit kommt für mich zuletzt, obwohl die freie Marktwirtschaft natürlich die beste und einzige Weise ist, den Wohlstand der Nationen zu mehren. Wenn der Staat das Monopol auf ökonomische Wertschöpfung hat, ist das Ergebnis Ineffizienz und Korruption. Das hat die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte in überwältigender Manier bewiesen. SPIEGEL: Schön und gut, nur erleben wir gerade die Verheerungen des Marktliberalismus und Finanzkapitalismus. Vargas Llosa: Die ökonomistische Betrachtungsweise, die den Wert jedes Menschen nach seiner wirtschaftlichen Leistungskraft berechnet und ihn so auf eine Ziffer reduziert, ist für mich nicht das Wesen des Liberalismus, sondern dessen Verirrung, die Ausnahme. Die Ökonomisierung des Lebens ist eine Entmenschlichung. Das sollte aus uns aber keine Nihilisten oder Skeptiker machen. Moralischer und zivilisatorischer Fortschritt ist möglich, wir können das Leben verbessern, Schritt für Schritt, Stück für Stück. Aber die vollkommene Gesellschaft ist unerreichbar. Wenn man sie her-
Nobelpreisträger Vargas Llosa bei der Verleihung in Stockholm 2010: „Wunder geschehen, wenn man sie am wenigsten erwartet“
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* Oben: Illustration von 1916; unten: mit den Redakteuren Volker Hage und Romain Leick in Madrid.
Vargas Llosa beim SPIEGEL-Gespräch*
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denen Lateinamerikas komme einem moralischen Verbrechen gleich. Vargas Llosa: Wenn Sie in einem Land leben, in dem die Grundprobleme nicht gelöst sind, in dem Sie nicht wissen, ob morgen oder übermorgen noch Freiheit herrscht, in dem Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen alltäglich sind, dann müssen Sie als Schriftsteller etwas tun. Ohne Überheblichkeit, ohne Anspruch, auf alles eine Antwort zu wissen, aber stets mit dem Ziel, Gewalt zu bekämpfen, Gewalt, die in den meisten Ländern der Dritten Welt die Politik prägt, durch die Macht der Worte abzulösen. SPIEGEL: Ihre politischen Ansichten haben zu einer tiefen Feindschaft mit Ihrem früheren Freund Gabriel García Márquez geführt, den Sie einmal als Höfling Castros bezeichneten. Ist keine Versöhnung in Sicht? Vargas Llosa: Ich rede nicht über García Márquez. SPIEGEL: Ach? Vargas Llosa: Nein. Überlassen Sie diese Frage den Biografen, wenn wir beide denn Biografen verdienen. SPIEGEL: Schmerzt es Sie noch, dass Sie 1990 die Präsidentschaftswahl in Peru gegen Ihren Konkurrenten Alberto Fujimori verloren? Vargas Llosa: Ich habe damals viel über meine völlige Ungeeignetheit als Politiker gelernt. Ich habe dann aus dieser Erfahrung ein Buch gemacht, „Der Fisch im Wasser“. Das war meine Katharsis. Ich hatte natürlich eine Enttäuschung erlebt, aber ich fühlte mich auch befreit. SPIEGEL: Vielleicht war diese Niederlage in der Politik ein Gewinn für die Literatur? Vargas Llosa: Das will ich doch hoffen. Mein Gegner verbüßt jetzt eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen. Ich bekam den Literaturnobelpreis, was in meiner Heimat auch als Auszeichnung für Peru gefeiert wurde. SPIEGEL: Ist der Künstler, allen voran der Schriftsteller, auf seine Art auch ein Revolutionär? Vargas Llosa: Ja. Jeder Kreative ist ein Unzufriedener. Der Schriftsteller hält die utopische Hoffnung auf eine andere, bessere Welt am Leben. Das macht ihn in den Augen der Machthaber so gefährlich. Die Schönheit, die Perfektion des von der Phantasie ersonnenen literarischen Entwurfs ist das Gegenmodell zur schlechten Realität. Und darin liegt der Keim der Rebellion. Schreiben ist ein Akt des Widerstands und der Befreiung für mich seit meinen Jugendjahren. SPIEGEL: Herr Vargas Llosa, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. MARY EVANS / INTERFOTO
JORDI SOCIAS / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
Vargas Llosa: Casement öffnete Conrad die Augen für Dinge, die damals nur wenige Europäer kannten. Das machte mich neugierig. Wer war dieser Mann, der einen Blick ins Herz der Finsternis geworfen hatte? Und dann entdeckte ich, dass er bald erneut einen Auftrag erhalten hatte, um die Gräuel an den Amazonas-Indianern aufzudecken, die Zwangsarbeit für ein mit britischem Kapital tätiges Kautschukunternehmen leisten mussten, zu Tausenden missbraucht, gefoltert, massakriert wurden. Am Anfang war mein Buch gar kein literarisches Projekt, es speiste sich aus dem Interesse an einer historischen Figur. Erst nach und nach, als ich das Material zusammentrug und Notizen zu machen begann, spürte ich, dass darin der Romanvorbild Casement*: „Heldenhaft und düster“ Stoff für einen Roman steckte. SPIEGEL: Casement näherte sich danach echten Helden. Er war kein Fanatiker – immer mehr der katholisch-irischen Un- naiv gewiss, aber dabei immer von Prinabhängigkeitsbewegung an. Er reiste so- zipien und Überzeugungen gelenkt, nicht gar zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach von Interessen. Alles ist zwiespältig an Berlin, um deutsche Militärhilfe für den ihm. Vielleicht macht gerade das einen irischen Freiheitskampf zu organisieren. modernen Charakter aus ihm, mysteriös Die Briten outeten ihn als Homosexuel- und pragmatisch zugleich. len, um seinen guten Ruf endgültig zu SPIEGEL: Muss ein Schriftsteller, ganz beruinieren. Er wurde schließlich wegen sonders einer aus der Dritten Welt, sich Hochverrats hingerichtet. Ist Ihr Buch politisch engagieren, um wahrhaftig zu auch die Rehabilitation eines tragisch sein? Vargas Llosa: Es gibt wunderbare SchriftVergessenen? Vargas Llosa: Er war ein ungewöhnlicher steller, die nicht an Politik interessiert Held. Wir neigen dazu, Helden als voll- sind; in den Erzählungen, Gedichten und kommene Gestalten von der Geburt bis Kurzgeschichten von Jorge Luis Borges zum Tod zu betrachten. Casement war zum Beispiel kommt Politik schlichtweg das genaue Gegenteil, ein wahres mensch- nicht vor. Ich bin da ein wenig altmoliches Wesen, voller Widersprüche, fehl- disch: Ein Schriftsteller sollte sich nicht bar, heldenhaft in einer Hinsicht und düs- scheuen, sich die Hände schmutzig zu ter in einer anderen. Deshalb beunruhigte machen, sich hineinzuknien, mitzuer alle, die Engländer wie die Iren. War mischen in der politischen Debatte der er ein Verräter oder ein Patriot? Er wollte Demokratie, Schlagwörter durch Ideen das eine sein und wählte den Weg des zu ersetzen, bleibenden Sinn statt flüchtige Aktualitäten zu suchen, die Spraanderen. SPIEGEL: Solche Widersprüche geben eine che zu klären, dem Wesentlichen der menschlichen Existenz nachzuspüren. gute Romanfigur her. Vargas Llosa: Eine geschichtliche Figur, die Literatur muss immer auf Transzendenz dazu prädestiniert war, ein Romanheld zielen, sonst verkommt sie zu Propazu werden. Roger Casement stand an der ganda. Spitze der Probleme seiner Zeit, als in SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, nur ein Europa die Erkenntnis dämmerte, dass Künstler sein zu wollen in Ländern wie der Kolonialismus das Gegenteil dessen war, was er zu sein behauptete: die Antizivilisation, der Antihumanismus, die Barbarei. SPIEGEL: Den Titel Ihres Buchs, „Der Traum des Kelten“, haben Sie einem langen Gedicht von Casement entliehen. Umfasste sein Traum mehr als die irische Unabhängigkeit? Vargas Llosa: Er wollte, dass Gerechtigkeit geschehe. Und das macht ihn zu einem
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Kultur
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Deutschland, ein Wirtshaus Der Schauspieler Josef Bierbichler hat mit 63 einen großartigen Debütroman geschrieben: „Mittelreich“ schildert ein Katastrophenjahrhundert aus der Perspektive einer Dorfwirtsfamilie.
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aus Ostpreußen, von sexueller Unterdrückung und dem Aufruhr dagegen, von der Abschaffung des Landlebens durch die Wirtschaftswundergesellschaft der jungen Bundesrepublik: von 70 Jahren deutscher Geschichte zwischen 1914 und 1984. Der Schauspieler Bierbichler wirkt zufrieden mit dem, was ihm da gelungen ist.
ZUMA PRESS / ACTION PRESS
r hat neben schönen Schauspielerinnen wie Juliette Binoche und Karoline Herfurth vor der Kamera gestanden, er hat mit Regisseuren wie Michael Haneke, Tom Tykwer und Werner Herzog gedreht, er war auf der Bühne der Doktor Faust, der König Lear und der Big Daddy in der „Katze auf dem heißen Blechdach“. Vermutlich hat der Schauspieler Josef Bierbichler aber keine andere Rolle so abgründig gespielt wie die des Kaufmanns Lopachin in Anton Tschechows „Kirschgarten“. Dieser Lopachin ist ein Kerl, den alle unterschätzen – und der dann umso verblüffender auftrumpft. Er ist ein Fremdling inmitten einer Gesellschaft verzärtelter Snobs, ein Aufsteiger unter Untergehern, ein Reicher unter Verarmten. In Peter Zadeks Wiener Inszenierung von 1996 spielte Bierbichler diesen Lopachin als cleveren Sehnsuchtsmann, als einen, der sich zugleich schämt und stolz ist auf das, was in ihm steckt, als eine nicht durchweg sympathische, stets aber leuchtende, geheimnisumwitterte Figur. Der wichtigste Satz dieses Lopachins lautete: „Man darf nicht vergessen, wer man ist.“ Der Schauspieler Bierbichler, Sohn eines Bauernhof- und Wirtshausbesitzers aus einem Dorf am Starnberger See, hat nie vergessen, wer er ist. Dafür haben ihm in den vergangenen Jahrzehnten viele Kritiker bescheinigt, dass er über eine große Darstellungskunst verfüge, aber auch über eine limitierte. Die Bierbichler-Fans wie die Bierbichler-Verächter behaupten, dass er eine Naturgewalt sei – und am besten, wenn er sich überhaupt nicht verstelle. In diesem Lob liegt auch eine Schmähung: Der kann nur eine Sorte Kunst. Das allerdings ist eine fahrlässige Unterschätzung. Nun hat Bierbichler einen Roman geschrieben, der in einer klaren, poetischen Sprache von den Schrecken und Torheiten des 20. Jahrhunderts erzählt. Er ist ein Ereignis in diesem Bücherjahr. Klar geht es in „Mittelreich“, so heißt Bierbichlers vom Suhrkamp Verlag groß präsentiertes Romandebüt, unter anderem auch um das Schicksal eines Bauernhofund Wirtshausbesitzers in einem bayerischen Ort am See, der im Roman Seedorf heißt**. Aber im Zentrum handelt das Buch von Krieg und Gemeinheit und verdruckster Liebe, vom Mord an den Juden und von der Vertreibung der Deutschen
Im Theater und vielleicht überhaupt in der Kunst gebe es bei vielen Leuten „eine religiöse Hingabe, so was Esoterisches. Das finde ich bei mir nicht. Ich glaube, dass ich dann nichts zustande brächte. Für mich war das Theaterspielen nie ein religiöser Akt. Ich prüfe das Material, und wenn es gut ist, versuche ich damit ein Spiel“. Beim Schreiben sei es womöglich genauso. „Mittelreich“ setzt im Jahr 1984 ein und ist als Rückblick erzählt, von einem meist sehr hoch über den Geschehnissen schwebenden Erzähler, in einem anfangs irritierend väterlichen Chronistenton, wie man ihn von den Magischen Realisten Südamerikas kennt. Mit ein paar Strichen ist das Wirtshaus am See skizziert, ein Postbote, der mehrmals die Woche übers Wasser rudert. Und eines Tages im Jahr 1914 ruft dieser Postbote: „Mobilmachung
Darsteller Bierbichler*: „Man darf nicht vergessen, wer man ist“
Seine Augen zwinkern, er sitzt in einer Pizzeria am Fußballplatz von Münsing, ein paar Kilometer von dem Ort entfernt, wo er bis heute lebt: dem Haus des Gasthofs „Zum Fischmeister“ am Dampfersteg in Ambach am Starnberger See, das ihm gehört. Der Gasthof ist verpachtet, Bierbichler kümmert sich neben der Schauspielerei vor allem um den familieneigenen Wald. Er spielt seit vielen Jahren nicht mehr fest in einem Theaterensemble. In Filmen spielt er noch seltener, und wenn, dann des vielen Geldes wegen, wie er öfter sagt; einer seiner letzten, der skurrile Krimi „Der Knochenmann“, war ein Kinohit. Das Schreiben sei in den vergangenen fünf Jahren eine Art Beschäftigungstherapie für ihn gewesen, sagt Bierbichler. * Im Kinofilm „Winterreise“ von Regisseur Hans Steinbichler, 2006. ** Josef Bierbichler: „Mittelreich“. Suhrkamp Verlag, Berlin; 392 Seiten; 22,90 Euro. D E R
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is! Endlich!“ Der Erzähler aber fügt hinzu: „Überall im Land schwollen die Köpfe zu ungesunder Größe, und es leuchteten die Gesichter in einem irrlichternden Wahn.“ So ist in Bierbichlers Roman Familiengeschichte auf ruppig beiläufige Weise stets als Weltgeschichte beschrieben. Der älteste Sohn des Seewirts zieht in den Ersten Weltkrieg, „spätestens auf Kirchweih sind wir wieder da!“, heißt es, doch es werden vier Jahre draus, und der Sohn bekommt im Krieg eine Kugel in den Kopf, die ihm den Geist verwirrt. Deshalb bricht Pankraz, der jüngere Seewirtssohn, seine Sängerausbildung ab und tritt das Erbe an. Im Zweiten Weltkrieg wird Pankraz als Soldat nach Frankreich geschickt und seinerseits halb totgeschossen, nach der Heimkehr heiratet er eine Nachbarstochter. Er muss Naturkatastrophen erleben, jahrelangen Streit
30 Kindern durch Nazi-Soldaten, an die Anlaufstelle für all jene, die das komplisich der Seewirt Pankraz, ein Mittäter, zierte Kulturleben im Süden Deutschlands zu begreifen versuchen. Als magischer Ort. plötzlich erinnert. Vor zehn Jahren hat Bierbichler sein Die Schriftsteller Frank Wedekind und erstes Buch veröffentlicht, den Band „Ver- Wolfgang Hildesheimer haben hier draufluchtes Fleisch“, in dem er übers Theater ßen am See viel Zeit zugebracht, Tankred und die Welt räsonierte. Viele schöne, Dorst hat hier lange gewohnt und Loriot aber auch viele verdrehte Sätze waren nur ein paar hundert Meter seeuferaufdarin zu lesen, Flüche und Verwünschun- wärts. Im Gasthof haben Ulrich Beck und gen gegen die Politik und die Medien, ein Jürgen Habermas getafelt, jede Menge polterndes Nachdenken darüber, was der Schauspieler und noch mehr Journalisten Autor selbst will mit seiner Kunstfertig- gehen hier ein und aus, die kleine Fischkeit: „Ich produziere in ununterbroche- meister-Badestelle ist an Sommerabenden ner Abfolge Komplexe, die mir mit dem überfüllt. Ende einer jahrhundertealten bäuerlichen Der Schriftsteller und China-Experte Lebensweise zugewachsen sind.“ Tilman Spengler lebt seit zweieinhalb In „Mittelreich“ hat er nun einen leich- Jahrzehnten hier draußen, er gehört zu teren Ton gefunden. Die Verwandlung Bierbichlers Freunden. „Der Ort hat eine des Bauerndorfs am See ist eines der merkwürdige Anziehungskraft“, sagt er, Hauptthemen des Romans. Ein „neuer „auf die verschiedensten Menschen. Vor 1933 waren viele Juden hier draußen in Ambach, die dann von hier vertrieben wurden. Nach dem Krieg kamen viele Leute, die hier ihr Exil gefunden haben.“ Mit „Mittelreich“ habe sich Bierbichler freigeschrieben, sagt Spengler. „Er hat sich emanzipiert von allen Vorbildern. So wie er beim Schauspielern immer weniger spielt, so schreibt er beim Schreiben immer weniger Literatur.“ Im Buch gibt es ein starkes Missbehagen gegenüber den Fremden unter den Dorfbewohnern. Bierbichler spricht von der „Puffwerdung“ des Dorfs. Er vertreibe jedes Filmteam und jeden Modefotografen vom Grund des Wirtshauses, sagt Bierbichler, „sonst würden die jede Woche einen Film oder eine Modestrecke machen“. Viel entschiedener in der Abwehr seien aber die Neuzugänge in Ambach: „Die verteidigen ihr Refugium jetzt gegen alle Nachkommenden, als ob sie schon ewig hier wären. Das ist wirklich beeindruckend.“ Bierbichler mag sich mit niemandem gemeinmachen. Er pflegt seinen Einzelgängerstolz. Mittendrin im Roman „MitGasthof „Zum Fischmeister“ in Ambach: Warnung vor der „Puffwerdung“ eines Dorfs telreich“, auf Seite 286, findet sich der Lieben aufgeladen wird. Und es gibt ein Reichtum“ habe Einzug gehalten, als zu Brief eines 17-Jährigen aus dem katholipaar sensationell gespenstische Szenen Beginn des 20. Jahrhunderts die Münch- schen Internat. Es ist nicht das Internat in wie die, in der dem Seewirt im Jahr 1954 ner nach Seedorf kamen, heißt es im Donauwörth, in dem Josef Bierbichler in in einer stürmischen Februarnacht das Buch, die bis dahin brachliegende und den sechziger Jahren vier Schuljahre verDach über dem Haus wegfliegt und im feindlich angesehene Naturlandschaft bracht hat. Aber sein Romanheld, der JunGarten landet, worauf er erst seiner Frau wird von einem aufstrebenden Mittel- ge Semi, erzählt von den „grüblerischen etwas vorheult und dann hinausgeht ans stand „entdeckt und erobert“. Durch Mu- Gedanken, die mir die Seele aufgerissen Seeufer und über die krachenden Eisschol- siker, Maler und andere Kulturmenschen, und sich im Kopf quergestellt haben wie len hinweg ein Lied in den Sturm hinaus- die sich im Sommer einquartieren, ge- Fischgräten im Hals“, von der „stinkenden schmettert: „Ganz wie von selber fängt es winnen die Seedorfer einen „Weltblick“. Fleischlichkeit“ im Knabeninternat, von leise an in ihm zu singen, steigt auf und Aber zugleich zieht der Zweifel ein, ob der Fremdheit der eigenen Eltern bei seidehnt sich, bis es Ton voll Inbrunst wird.“ das eigene Leben das Richtige sei. „Man nen Heimatbesuchen – und von der Erlösung, die er in der Kunst findet. Überhaupt hebt stets, wenn der Rus- genügte sich nicht mehr.“ Hier aber geht das Spiel des Autors BierDer Knabe Semi tritt im Schultheater tikalnaturalismus überhandzunehmen droht, die Handlung jeweils kurz ab ins bichler mit der Realität, die er eigentlich in Stücken von Ludwig Thoma und anSurreale. Da berichtet der Erzähler zum nur als Anschubser brauchen will, nicht deren auf. „Ich bin errettend vereinnahmt Beispiel von der feierlichen Abschlachtung auf: Die Behauptung, Seedorf sei irgend- vom Theaterspiel, das mich sanft macht, einiger Mitglieder der entmachteten baye- ein Dorf am Starnberger See, wie auch wenn ich oft auf unerklärliche Art erregt rischen Königsfamilie im Seewirtshaus; das Wirtshaus eben nur irgendein Wirts- und aufgebracht und aggressiv bin“, von der blutigen Rache an jenem Mönch, haus sei, ist Kasperltheater. Dafür sind schreibt er. „Das Spiel mit der Sprache der sich über Jahre am Gastwirtssohn ver- Ambach und der Gasthof „Zum Fischmeis- und mit den Figuren schützt mich davor gangen hat; oder von der Ermordung von ter“ viel zu berühmt, auch als touristische zu morden.“ WOLFGANG HÖBEL mit einquartierten Flüchtlingen und die Eroberung des Dorfs durch Wochenendausflügler und großstädtische Zuzügler, noch mehr aber durch moderne Erntemaschinen und Fernsehapparate. Das Buch „Mittelreich“ schildert grauenvolle Episoden wie den Missbrauch des Seewirtssohns Semi im Klosterinternat, es schildert die sexuellen Nöte eines Hermaphroditen und die eines Knechts, der ein passionierter Voyeur und Selbstbefriediger ist. Und es schildert die Verstörung, welche die sexuelle Freizügigkeit der Hippies in den siebziger Jahren unter den Dörflern bewirkt. Es gibt haufenweise beschädigte Figuren in diesem Roman, „fremden Seelenmüll“, wie es einmal heißt, der in der Gaststube oder in der Küche des Wirtshauses dem Seewirt Pankraz und seinen
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PAULUS PONIZAK / DPA
WA RU M ICH K E I N E AN T WORT E N AU F DI E FRAGE N NACH M E I N E M G ROS SVAT E R GE BE N KA N N VON FE RDI NAN D VON S CH I RACH
Reichsjugendführer Schirach (r.) mit Adolf Hitler beim NSDAP-Parteitag in Nürnberg 1936, Enkel Ferdinand: „Manchmal ist es zu viel“
Schirach, 47, ist Strafverteidiger in Berlin und hat bislang zwei Erzählbände („Verbrechen“ und „Schuld“) veröffentlicht, die international zu Bestsellern wurden. Jetzt ist sein erster Roman „Der Fall Collini“ (Piper Verlag) erschienen. Darin erzählt er den Mord eines italienischen Werkzeugmachers an einem deutschen Großindustriellen; ein junger Rechtsanwalt übernimmt die Verteidigung, obwohl der Ermordete der Großvater seines besten Freundes war, und er findet heraus, dass dieser großväterliche Freund die Erschießung italienischer Partisanen zu verantworten hatte. Aber das eigentliche Thema des Romans ist die zweite Schuld der Deutschen, sind die Skandale der Nachkriegsjustiz bei der Aufarbeitung der NS-Taten, und am Ende stellt er auch die Frage, wie die Generation der Enkel mit der Schuld der Großväter umgehen kann. Schirachs eigener Großvater Baldur war ab 1931 Reichsjugendführer der NSDAP und ab 1941 Reichsstatthalter in Wien, wo er verantwortlich war für die Deportation der Wiener Juden. Er wurde 1946 in Nürnberg zu 20 Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Baldur von Schirach starb 1974. 140
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ls ich ein kleiner Junge war, kam mein Großvater aus dem Gefängnis. Ich war damals zwei Jahre alt. Meine Familie wohnte in München-Schwabing, in einem hübschen Haus aus dem 18. Jahrhundert, bewachsen mit Efeu und wildem Wein. Die Korridore waren ein wenig schief, ein paar Steinplatten zerbrochen, die Eingangstür klemmte. Ein dunkelgrünes Tor führte zur Kopfsteinpflasterstraße draußen, hinter dem Haus waren ein Labyrinth aus Rosenbüschen und ein Brunnen mit einem nackten Amor – er hatte nur noch den Bogen, der Pfeil war verlorengegangen. Ich erinnere mich nicht an die Entlassung meines Großvaters. Alles, was ich weiß, stammt aus Erzählungen, von Fotos und aus Filmen. Mein Vater und seine Brüder holen ihn in einem schwarzen Wagen vor dem Gefängnistor ab. Davor steht die Pressetribüne, nur für diesen einen Tag gezimmert. Mein Vater trägt einen engen dunklen Anzug, er ist sehr jung und sehr unsicher. Mein Großvater ist dünn. Dann die Bilder aus dem Garten in München: Henri Nannen sitzt neben ihm auf einem alten Gartenstuhl aus Eisen, er führt die ersten großen Interviews. Meine Familie steht weiter hinten unter einer Kastanie. Mein Großvater spricht langsam, ein seltsamer Akzent: wei-
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marisch. Wenn man die Interviews hört, ist man irritiert, dass an diesem Nachmittag zu erklären, was der Nationalsozialismus diese Leute auch einen Dialekt hatten – Speer sprach badisch. sei, was mein Großvater gemacht habe und warum er ins GeDamals sagten alle, mein Großvater rede „druckreif“, aber das fängnis gekommen sei. Es war noch immer verwirrend und ist Unsinn: Die Fragen der Journalisten waren abgesprochen, klang nach einer Geschichte aus einem J. R. R.-Tolkien-Buch die Antworten hatte er eingeübt. Mein Großvater sagte nichts, mit fremden Wesen. Mit zwölf Jahren begriff ich das erste Mal, wer er war. In unwomit ich hätte etwas anfangen können. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in die Nähe von Stuttgart serem Geschichtsbuch war ein Foto von ihm: „Reichsjugendzu der Familie meiner Mutter. Mein Großvater kam kurze Zeit führer Baldur von Schirach“. Ich sehe es noch vor mir: Mein später nach. Wir wohnten in einem Park, den mein Urgroßvater Name stand tatsächlich in unserem Schulbuch. Auf der anderen noch vor dem Ersten Weltkrieg angelegt hatte: hohe alte Bäu- Seite war ein Foto von Claus von Stauffenberg, darunter: „Wime, ein Haus mit Säulen und Freitreppe, Teiche, eine Gärtnerei. derstandskämpfer“. Kämpfer klang viel besser. Neben mir saß Mein Vater ging mit mir fischen und nahm mich mit auf die ein Stauffenberg, ein Enkel wie ich, wir sind heute noch beJagd. Es war eine Welt für sich. Meistens war ich alleine. Ich freundet. Er wusste auch nicht mehr als ich. wusste immer noch nicht, wer dieser Großvater war. Er hatte eine Sammlung Gehstöcke, in manchen waren Schnapsflaschen s dauerte noch eine Zeit, bevor der Nationalsozialismus oder Uhren eingebaut, einer enthielt ein Florett, ein anderer durchgenommen wurde. Damals gab es in meiner Klassah aus wie der Stock des kleinen Muck. senstufe auch einen Speer, einen Ribbentrop und einen Wir machten jeden Tag einen Spaziergang zu einem Kiosk Lüninck. Nachfahren der Täter und des Widerstands – alle im außerhalb des Parks. Er musste langsam gehen, im Gefängnis selben Klassenzimmer. Meine erste große Liebe war eine Witzwar er auf einem Auge fast blind geworden, Netzhautablösung. leben. Geschichte schien eine Sache zu sein, mein Leben eine Manchmal sprachen ihn Leute auf der Straße an, aber das ganz andere. mochte ich nicht. Und wir spielten jeden Tag Mühle, er gewann Zu Hause konnte ich später mit allen über diese Zeit reden. immer mit dem gleichen Trick. Irgendwann dachte ich so lange Es gab keine Geheimnisse – der einzige Vorteil mit so einem darüber nach, bis ich verstand, wie er das machte. Danach Namen ist vielleicht, dass nichts verborgen bleiben kann. Wir spielte er nicht mehr mit mir. Ich war damals fünf, sechs Jahre führten endlose Diskussionen, einer meiner Onkel schrieb ein alt. Man sprach bei uns nicht viel mit den Kindern. Buch über ihn. Ich habe nie begriffen, warum mein Es hatte auch etwas Gutes: Wir wurden in Ruhe Großvater der wurde, der er war. Sein älterer gelassen, wir lebten in unserer eigenen Welt. Aber Bruder Karl beging in seinem Internat, in RoßleAuf seinen irgendetwas umgab mich, das ich nicht erklären ben, Selbstmord. Er wurde 18 Jahre alt. Es heißt, Grabstein konnte. Ich wuchs anders auf als die Kinder im er habe es nicht verkraftet, dass der Kaiser abgeOrt, ich hatte kaum Kontakt zu ihnen. Mir blieben dankt hatte, aber ein Buch mit Buddhas Reden ließ er die Dinge fremd, und ich fühlte mich nie ganz zu lag aufgeschlagen auf seinem Tisch, als er starb. schreiben: Hause. Ich konnte das niemandem sagen, vielleicht Seine Schwester Rosalind wurde Opernsängerin. können Kinder so etwas nie. Sein Vater war Intendant am Weimarer Theater, „Ich war Zu Hause sagte niemand „Gefängnis“, es hieß seine Mutter war Amerikanerin. Ich habe ein Bild einer einfach nur „Spandau“. Aber irgendwann hörte von ihr, eine schöne Frau mit einem schmalen Hals. ich von einem Besucher, mein Großvater sei lange Sie stammte von den „Mayflower“-Einwanderern von euch“. eingesperrt gewesen. Ich fand das aufregend, weil ab, ein Vorfahre hatte die amerikanische Unabich ein Buch über den Piraten Sir Francis Drake hängigkeitserklärung mit unterzeichnet, ein angelesen hatte. Ich bewunderte Drake sehr, und der wurde dau- derer war Gouverneur von Pennsylvania. Die Schirachs waren ernd eingesperrt. Ich fragte meine Mutter, was mein Großvater Richter, Historiker, Wissenschaftler und Verleger gewesen, gemacht habe. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte, es war eine die meisten dienten dem Staat, seit 400 Jahren hatten sie Büsehr lange Erklärung mit lauter Wörtern, die ich nicht kannte. cher geschrieben. Mein Großvater wuchs in dieser großbürAber ich erinnere mich noch an ihre Stimme, die jetzt anders gerlichen Welt auf, ein behütetes, weiches Kind. Auf frühen als sonst klang. Es muss etwas Schlimmes sein, dachte ich, viel- Bildern sieht er wie ein Mädchen aus, bis zu seinem fünften leicht ein Fluch wie in den Märchen. Lebensjahr sprach er nur Englisch. Er war 17, als er Hitler kenPlötzlich war er weg. Er hatte sich nicht bei mir verabschie- nenlernte, mit 18 trat er in die NSDAP ein. Warum begeistert det. Viel später erfuhr ich, dass er alleine sein wollte. Er zog sich jemand, der während des Studiums morgens im Englian die Mosel in eine kleine Pension. Es war wohl alles zu viel schen Garten ausreitet, für das Dumpfe und das Laute? Warum nach 20 Jahren in der Zelle. Kurz vor seinem Tod habe ich ihn ziehen ihn Schläger, rasierte Stiernacken und Bierkeller an? noch einmal dort gesehen. An diesem Tag interessierte ich Wieso begreift er, der gerne über Goethe schrieb und Richard mich für den Fluss und die Weinberge und einen Esel, der dort Strauss zum Patenonkel eines Sohnes machte, nicht schon bei lebte und dauernd die Zähne bleckte. Mein Großvater war ein der Bücherverbrennung, dass er jetzt auf der Seite der Barbaalter Mann mit einer Augenklappe, den ich nicht kannte. Ich ren steht? War er zu ehrgeizig, zu ungefestigt, zu jung? Und erinnere mich nicht, ob er an diesem Tag überhaupt mit mir für was wäre das überhaupt wichtig? „Was war mit mir?“, solgesprochen hatte. Auf seinen Grabstein ließ er schreiben: „Ich len seine letzten Worte gewesen sein – eine gute Frage, aber war einer von euch“. Ein entsetzlicher Satz. keine Antwort. Später, während des Studiums, habe ich alles über die Nürnit zehn Jahren kam ich auf ein Jesuiteninternat. Na- berger Prozesse gelesen. Ich habe versucht, die Mechanismen türlich war ich viel zu jung, aber irgendwie ging es dieser Zeit zu verstehen. Aber die Erklärungsversuche der Hisschon, weil wir alle zu jung waren. Wir bekamen Post- toriker taugen nichts, wenn es der eigene Großvater ist. Er sparbücher mit unserem Taschengeld, vier Mark pro Monat. ging in seine Loge in der Wiener Oper, ganz der sogenannte Am ersten Montag im Monat gaben uns die Patres die Bücher, Kulturmensch, und ließ gleichzeitig den Hauptbahnhof zum und wir gingen zur Post, um das Geld abzuheben. Es war jedes Abtransport der Juden sperren. Er hörte 1943 in Posen HimmMal eine lange Schlange, der Beamte trug die Zahlen noch lers Geheimrede über die Ermordung der Juden – er wusste von Hand ein. Beim dritten oder vierten Mal winkte er mich ohne jeden Zweifel, dass sie umgebracht wurden. Unzählige Male wurde ich auf ihn angesprochen. In jeder nach vorne. Er sagte, er habe meinen Großvater gekannt, seine Augen glänzten. Ich könne nun immer an der Schlange vorbei nur denkbaren Form: offen, unverschämt, wütend, bewundirekt zu ihm kommen. Ich lief weg. Ein Pater versuchte mir dernd, mitleidig, aufgeregt. Es gab Morddrohungen und Schlim-
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Kultur meres, manchmal ist es zu viel. Aber das alles wird gleichgültig, wenn ich an Wien denke, belanglos. Jetzt werde ich in den Interviews zu meinem neuen Buch wieder nach ihm gefragt. Man will wissen, ob mein Leben ohne diesen Namen anders verlaufen wäre, ob ich einen anderen Beruf gewählt hätte, ob ich mich seinetwegen mit Schuld beschäftige. Solche Fragen müssen wohl sein. Die Journalisten bleiben höflich, aber sie finden es auch ein wenig seltsam, wie ich mich verhalte: Ich sage Termine ab, wenn ich glaube, es gehe zu sehr um ihn. Sie denken, ich wiche aus – und sie haben damit recht. Ich kann keine Antworten geben: Ich kannte ihn nicht, ich konnte ihn nichts fragen, und ich verstehe ihn nicht. Deshalb dieser Text. Es ist das erste Mal, dass ich über ihn schreibe, und es wird das letzte Mal sein.
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or Gericht werden Verbrechen untersucht. Der Richter prüft, ob der Angeklagte der Täter war, danach wiegt er seine Schuld. Die meisten Verurteilten unterscheiden sich nicht sehr von uns. Sie strauchelten, fielen aus der normalen Gesellschaft, sie glaubten, ihr Leben sei ausweglos. Oft ist es nur Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Geliebtentötung und Selbstmord liegen nah beieinander. Das, was mein Großvater tat, ist etwas völlig anderes. Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise. Sie wurden am Schreibtisch geplant, es gab Memoranden dazu, Besprechungen, und immer wieder traf er seine Entscheidung. Der Abtransport der Juden aus Wien sei sein Beitrag zur europäischen Kultur, sagte er damals. Nach solchen Sätzen ist jede weitere Frage, jede Psychologie überflüssig. Manchmal wird die Schuld eines Menschen so groß, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Natürlich, der Staat selbst war verbrecherisch, aber das entschuldigt Männer wie ihn nicht, weil sie diesen Staat erst erschufen. Mein Großvater brach nicht durch
eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein Missgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit. Heute fragen wir in einem Strafverfahren, ob dem Angeklagten bewusst war, was er tat, ob er es noch verstehen, ob er noch Recht von Unrecht unterscheiden konnte. Das alles ist für meinen Großvater schnell beantwortet. Gerade seine Schuld wiegt schwer: Er stammte aus einer Familie, die seit Jahrhunderten Verantwortung trug. Seine Kindheit war glücklich, er war gebildet, die Welt stand ihm offen, und er hätte sich leicht für ein anderes Leben entscheiden können. Er wurde nicht unschuldig schuldig. Es sind immer auch die Voraussetzungen eines Menschen, die am Ende das Maß seiner Schuld bestimmen. Die Schuld meines Großvaters ist die Schuld meines Großvaters. Der Bundesgerichtshof sagt, Schuld sei das, was einem Menschen persönlich vorgeworfen werden könne. Es gibt keine Sippenhaft, keine Erbschuld, und jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Biografie. In meinem Buch schreibe ich nicht über ihn und nicht über seine Generation. Ich weiß nichts von diesen Männern, was nicht schon tausendfach gesagt und erforscht wurde. Unsere Welt heute interessiert mich mehr. Ich schreibe über die Nachkriegsjustiz, über die Gerichte in der Bundesrepublik, die grausam urteilten, über die Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten. Es ist ein Buch über die Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen wir heute noch scheitern. Wir glauben, wir seien sicher, aber das Gegenteil ist der Fall: Wir können unsere Freiheit wieder verlieren. Und damit verlören wir alles. Es ist jetzt unser Leben, und es ist unsere Verantwortung. Ganz am Ende des Buches fragt die Enkelin des Nazis den jungen Strafverteidiger: „Bin ich das alles auch?“ Er sagt: „Du bist, wer du bist.“ Das ist meine einzige Antwort auf die Fragen nach meinem Großvater. Ich habe lange für sie gebraucht.
Wunder geschehen Filmkritik: Aki Kaurismäkis seltsam realistischer Märchenfilm „Le Havre“
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MARJA-LEENA HUKKANEN / SPUTNIK OY / PANDORA FILM
an weiß nicht, was genau sie er- steller namens Marcel, einen erfolglosen in Anwesenheit des französischen Einwanderungsministers. wartet haben am Ziel ihrer Reise, natürlich. Am Ende seiner Suche weiß Marcel, Kaurismäki hat Marcels Modernisieeine Reise, die in Gabun in Westafrika begann und eigentlich in London rungsverlierer-Karriere konsequent wei- dass es für Idrissa nur einen Ausweg gibt: enden sollte. Vermutlich war es die Hoff- tergesponnen: Bohemien ist er immer Menschenschmuggler müssen den Junnung auf ein besseres Leben, auf überhaupt noch, mittlerweile verheiratet mit seiner gen per Fischerboot nach England brinein Leben, die ein Dutzend afrikanische großen Liebe Arletty (Kati Outinen, noch gen, bevor ihn Kommissar Monet (JeanFlüchtlinge dazu brachte, in einen dunklen eine Kaurismäki-Stammkraft), er arbeitet Pierre Darroussin) erwischt. Doch wer Schiffscontainer zu steigen und dort so jetzt als Schuhputzer, kein einfacher Job, soll das bezahlen? „Es gibt oft auch lange auszuharren, bis irgendjemand die wenn Menschen lieber Sneakers tragen Wunder“, sagt eine Figur in „Le Havre“. „In meinem Viertel nicht“, entgegnet die Tür öffnen würde, idealerweise bevor sie als Lederschuhe. Einer von Marcels wenigen Kunden andere. alle verhungert oder erstickt wären. Darf man das? Passt das zusammen, Aber sie schaffen es nicht bis nach Lon- wird sogar vor seinen Augen erschossen. don, sondern nur nach Le Havre in der Die Szene darf trotzdem als gutes Omen Kaurismäkis kunstvoll stilisierte Trinkeridylle, inszeniert in Normandie. Ein Irrtum, Kneipen, die zwar „La und als sie endlich beModerne“ heißen, aber freit werden, ein Nachtso aussehen, als wären wächter hat ein Baby Einrichtung und Gäste weinen hören, wartet seit 50 Jahren dieselschon die Polizei, um sie ben – und dazwischen festzunehmen und abzudie Ärmsten der Armen, schieben. Flüchtlinge, die noch In Tragikomödien wie ganz andere Sorgen ha„I Hired a Contract Kilben als die Frage, wie ler“ oder „Der Mann sie den nächsten Drink ohne Vergangenheit“ hat bezahlen sollen? der finnische Regisseur Es passt. Denn in Aki Kaurismäki bislang Wahrheit dreht Kaurisimmer seltsame Märmäki seit Jahrzehnten chen aus einer Welt erFlüchtlingsfilme. Oft zählt, in der die Zeit stillging es um die Sehnzustehen scheint, düster sucht nach einem andewie eine finnische Winren Leben, um Flucht ternacht und normavor der Tristesse, vor lerweise nur bevölkert dem finnischen Winter von Melancholikern mit und den Verheerungen, Hang zu sanftem Sarkasdie er in der Seele anmus und harten Getränrichten kann (Kaurismäken. Diesmal aber, in Darsteller Wilms, Miguel in „Le Havre“ ki selbst verbringt meh„Le Havre“, seinem ersrere Monate im Jahr in ten Film seit fünf Jahren, Portugal). dringen diese afrikaniDer Gag bestand meist darin, dass die schen Flüchtlinge ein in Kaurismäkis wun- gelten: Kurz vor seinem Tod hat der Flucht nicht klappte, dass die Helden nederbar künstliche Welt wie Boten aus der Mann noch bezahlt. Marcel ist ein guter Mensch: Er ver- ben ihren Wodkagläsern sitzen blieben, Wirklichkeit. Einem von ihnen, Idrissa (Blondin steckt Idrissa in seiner Wohnung. Dort stoisch wie der Stummfilmstar Buster Miguel), fast noch ein Kind, gelingt die ist gerade Platz, denn Marcels Frau muss Keaton und fast ebenso schweigsam, toFlucht. Er rennt durch diese fremde ins Krankenhaus. Arletty ist todkrank, tale Kunstgeschöpfe, aber mit echter WürStadt, die er für London hält, bis er zu- aber das ahnt er nicht, als er sich auf de. Und wenn sie doch mal irgendwo anfällig Marcel begegnet, der gerade am die Suche nach den Angehörigen des Jun- kommen, wie die Musiker in „Leningrad Hafen Mittagspause macht und der die gen macht, eine Odyssee durch Migran- Cowboys Go America“ (1989), dann nur, Polizisten, mehr aus Gewohnheit als in tenviertel, Abschiebegefängnisse und um noch grandioser zu scheitern als zu Hause. böser Absicht, in die falsche Richtung Flüchtlingslager. Warum der Film nicht in seiner Heimat So realistisch wie in diesen Szenen sah schickt. Marcel (André Wilms) ist ein alter Be- die Welt bei Kaurismäki noch nie aus: spiele, wurde Kaurismäki bei der Premiekannter im Kaurismäki-Kosmos. Vor fast hartes Neonlicht, Sicherheitsschleusen, re von „Le Havre“ auf dem Festival von 20 Jahren spielte Wilms, mittlerweile 64, ruppige Vollzugsbeamte, das Ganze an- Cannes gefragt. Antwort: „Niemand ist in Kaurismäkis Künstlergroteske „Das gereichert mit echten Fernsehberichten so verzweifelt, dass er nach Finnland Leben der Boheme“ (1992) einen Schrift- von der Räumung eines Flüchtlingslagers kommen will.“ MARTIN WOLF D E R
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Medien
PEMAX / IMAGO
Trends
INTERNET
„Genauso liberal“ SCANPIX / DANA PRESS
Jan Helin, 44, Chefredakteur des schwedischen Boulevardblatts „Aftonbladet“, über anonyme Kommentare auf der eigenen Website SPIEGEL: Sie haben sich nach dem
Amoklauf in Norwegen dafür entschieden, dass nur noch Leser mit einer Facebook-Identität auf Ihrer Website Kommentare hinterlassen können. Warum?
SPIEGEL: Kritiker bemängeln, dies sei eine
Helin: Es werden auf schwedischen Websites ähnliche islamfeindliche Gedanken geäußert wie im Manifest von Anders Breivik. SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, durch eine solche Einschränkung auf einer Website einen Amoklauf verhindern zu können? Helin: Darum geht es doch gar nicht. Es ist eher eine publizistische Diskussion, ob ich als Chefredakteur solche Kommentare auf meiner Website verantworten kann.
Einschränkung der Meinungsfreiheit. Helin: Ich habe die Diskussion nie verstanden. Es ist doch genauso demokratisch und liberal, wenn ich mit meinem Namen zu dem stehe, was ich auf einer Website poste. Es wäre eine andere Dimension, wenn der Staat diese Regeln vorgeben würde. SPIEGEL: Das Problem bleibt aber doch bestehen, solange man sich bei Facebook ein Pseudonym zulegen kann. Helin: Wir haben noch nicht die perfekte Lösung. Daran arbeiten wir. SPIEGEL: Wollen Sie ein Vorbild für andere Medien in Europa sein? Helin: Ich würde es mir wünschen.
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Kritik an Glücksspiel-Show
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Sex sells nicht immer
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m besten Fall hätte Diskret.de das schwindende Kleinanzeigengeschäft der hauseigenen Zeitungen ausgleichen können – laut Bundesanzeiger aber kostet ihr sogenannter Online-Erotikführer die Mediengruppe M. DuMont Schauberg mehr als er einbringt. Hätte das Mutterhaus
nicht auf die Rückzahlung von Darlehen in Höhe von 242 500 Euro verzichtet, wäre die Diskret GmbH im Geschäftsjahr 2010 bilanziell überschuldet gewesen. Das Portal kooperiert mit den Internetseiten der DuMont-Zeitungen „Express“, „Berliner Kurier“ und „Hamburger Morgenpost“. Neben nackter Haut finden sich auf Diskret.de Angebote wie „Ölmassage“, „Fußerotik“ oder „gerne mit Paaren“. D E R
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ANDREW GOMBERT / PICTURE ALLIANCE / DPA
em Sender Das Vierte droht wegen der Ausstrahlung der Spielshow „Tag des Glücks“ eine förmliche Beanstandung der Landesmedienanstalten. Die Kommission für Zulassung und Aufsicht, zentrales Gremium der 14 Landesmedienanstalten, wird sich am 13. September mit dem Format beschäftigen. Die Show mit Matthias Opdenhövel verstößt möglicherweise gegen den Glücksspielstaatsvertrag. Dieser schreibt fest, dass Werbung für Glücksspiele im Fernsehen verboten ist. Der Sender Das Vierte ist nach wie vor der Meinung, das Format „rechtmäßig ausgestrahlt“ zu haben.
12,5 Millionen Dollar kassierte News-Corp-Boss Rupert Murdoch für das Ende Juni abgelaufene Geschäftsjahr allein als Bonuszahlung. Kurz danach geriet sein Imperium ins Wanken.
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Medien
INTERNET
Die Kernschmelze Im Netz sind 251 287 ungeschwärzte Botschaftskabel aufgetaucht. Der Daten-GAU gefährdet nicht nur das Leben von US-Informanten, sondern auch die Zukunft von WikiLeaks. Von Holger Stark
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siblen, heiklen, lebensgefährdenden Details sind nicht länger vertraulich. Der Fallout ist verheerend, nur wie schlimm es wird, ist noch nicht absehbar. Für Informanten, deren Namen in den US-Berichten auftauchen. Für WikiLeaks, das Konkurrenzprojekt OpenLeaks und alle Beteiligten. Und für die Zukunft des Whistleblowing an sich, jener Methode, die sich die Stärken des Internets zunutze macht, um geheime Informationen ihres Geheimnisses zu entkleiden und damit die Demokratie stärken will. Wie die Lage sei, wollte ich von Assange wissen. Ernst, antwortete er. Er wusste, dass die Vertrauenswürdigkeit eines Projektes in Frage stand, das von Vertrauen lebt. Einer Idee, die davon getragen wird, politische und gesellschaftliche Abgründe mit Idealismus und technischer Raffinesse auszuleuchten, die Informanten braucht, die etwas riskieren, weil sie sich von WikiLeaks geschützt fühlen. Wenn es sich erweisen sollte, dass Daten bei WikiLeaks, bei OpenLeaks oder sonst einem Leaking-Projekt am Ende nicht sicherer sind als auf den löchrigen Regierungsservern, von denen Informanten sie zuvor heruntergeladen haben, dann hat die technische Revolution ihre Kinder gefressen, bevor sie erwachsen geworden sind. Als Julian Assange WikiLeaks gründete, ging es ihm um nicht weniger, als „einen Stern am Firmament der Menschheit zu platzieren“. Er hatte sich in einem ehemaligen Studentenwohnheim in Mel-
MIGUEL VILLAGRAN / GETTY IMAGES
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or einigen Tagen war ich in Ellingham Hall, dem gregorianischen Landsitz zwei Eisenbahnstunden von London entfernt. Julian Assange wartet hier – elektronisch fußgefesselt – auf die Entscheidung der britischen Justiz über seine Zukunft. Eine lange Auffahrt führt vorbei an einem gusseisernen Gatter zu dem dreigeschossigen Herrenhaus, Pferde grasen auf der Koppel, am See hinter der Terrasse wogt das Schilf im Spätsommerwind. Im Wohnzimmer hängen die Porträts der adligen Vorfahren von Vaughan Smith, dem britischen Journalisten und Hausherren, der Assange Unterschlupf gewährt. Unter den kritischen Blicken der Ahnen blinken ein halbes Dutzend Computer, der Raum ist das temporäre Hauptquartier von WikiLeaks. Wir wollten über die Zukunft von WikiLeaks sprechen, aber an diesem Tag holte Assange die Vergangenheit ein. Er hielt ein Klapphandy an sein Ohr und sprach mit Jakob Augstein, dem Verleger der Wochenzeitung „Freitag“ und Miteigentümer des SPIEGEL. Der „Freitag“ arbeitete an einem Artikel, in dem es um eine ungeschwärzte Version der 251 287 diplomatischen Berichte des amerikanischen Außenministeriums ging, deren Inhalt Ende 2010 die Welt bewegt hatte. Diese Sammlung von geheimen Rohdaten sei nun im Internet verfügbar, hatte der „Freitag“ vom WikiLeaks-Aussteiger Daniel Domscheit-Berg erfahren. Assange bat Augstein darum, den Artikel nicht zu veröffentlichen, es stehe das Leben von Menschen auf dem Spiel. Augstein antwortete, der „Freitag“ werde verantwortungsvoll mit den Details umgehen. „Uff“, seufzte einer von Assanges Unterstützern, als das Telefonat beendet war, die „Kernschmelze“ sei gerade noch abgewendet worden. Welch ein Irrtum. Die Kernschmelze hat soeben begonnen. Seit vergangener Woche zirkuliert nicht nur die Datei mit den unbearbeiteten Depeschen der US-Regierung im Internet, sondern auch das dazugehörige Passwort. In der Nacht zu Freitag reagierte WikiLeaks und publizierte wie verschiedene andere Web-Seiten den gesamten Datenbestand. Die vertraulichen Regierungsdokumente, mit all ihren sen-
Außenministerin Clinton, Präsident Obama
Einige der besten Quellen verloren D E R
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Aktivist Assange mit elektronischer Fußfessel
bourne eingeschlossen, ein Dutzend Unterstützer um sich, sie malten Organigramme, programmierten viel und schliefen wenig. Aus WikiLeaks sollte „der mächtigste Geheimdienst der Welt werden, ein Geheimdienst des Volkes“, dieser Traum steht in der Selbstbeschreibung des Projekts. An Hybris hat es Assange noch nie gemangelt. Getrieben war die Idee von einer tiefen Skepsis, vielleicht auch Abneigung gegen den klassischen Journalismus, die „Mainstream-Medien“, wie Assange sie nennt. Den Journalisten wirft er vor, sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangiert zu haben, Teil des Systems geworden zu sein, saturiert, bequem, angepasst. Journalisten von „El País“ diktierte er im Oktober vergangenen Jahres in die Blöcke: „Mein Fazit ist, dass das Umfeld der internationalen Medien so schlecht und verzerrt ist, dass es uns besser gehen würde, wenn es keine Medien gäbe.“ Mit WikiLeaks gebe es ja ein Werkzeug, das neuer, moderner, besser wäre, das schwang dabei mit. Wir kommunizierten mit Assange per verschlüsseltem Chat, folgten ihm auf den Kurznachrichtendienst Twitter, Informationen wurden nicht physisch, sondern per Link ausge-
KIRSTY WIGGLESWORTH / AP
in Ellingham Hall: Eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen war
tauscht. Manchmal fühlten wir uns alt. Es sah so aus, als ob der Journalismus um eine zusätzliche Dimension erweitert werden könnte. An dieser Entwicklung hatte WikiLeaks großen Anteil. Im Sommer vergangenen Jahres saßen wir mit Julian Assange in einem Café in London. Wir waren dabei, die Publikation der Afghanistan-Kriegstagebücher vorzubereiten und wollten mit ihm darüber sprechen, welche Informationen WikiLeaks veröffentlichen würde und welche nicht. Assange hatte einen RoteBete-Salat mit Ziegenkäse und einen Kaffee geordert und dachte einen Moment über die Frage nach, die wir uns jeden Tag stellen: Welche Informationen veröffentlichen wir und welche nicht? Prinzipiell gehe jede Information online, wenn sie denn stimme, antwortete er. Für WikiLeaks gelte ein Dreiklang aus politischer, ethischer oder historischer Relevanz. Sei eines dieser Kriterien erfüllt, habe er seinen Quellen versprochen, auch zu publizieren. Die Quellen selbst sollten entscheiden, was wichtig sei. In jenen Sommernächten 2010 ist in London aus dem Dreiklang ein Vierklang geworden. Gemeinsam mit den Kollegen vom „Guardian“ haben wir WikiLeaks
damals überzeugt, die Namen von Informanten zu schwärzen, deren Leben durch die Veröffentlichung gefährdet sein könnte. Als der SPIEGEL, der „Guardian“ und die „New York Times“ am 26. August 2010 Geschichten über die 92 000 Armeeberichte aus dem Afghanistan-Krieg veröffentlichten, verzichtete WikiLeaks darauf, das Material ungeschwärzt ins Internet zu stellen. Als wir die Irak-Tagebücher Ende Oktober 2010 publizierten, hatte WikiLeaks in einem mühsamen Redaktionsprozess nicht nur die Namen von Zuträgern entfernt, sondern auch geografische Koordinaten. Und bei den Depeschen waren es die Medien, die die Drahtberichte aus den US-Botschaften auf heikle Passagen untersuchten und gegebenenfalls schwärzten. Diese Arbeit funktionierte über viele Monate erstaunlich erfolgreich. Assange hatte seinen drei Prinzipien ein viertes hinzugefügt: das des mitunter restriktiven Umgangs mit Informationen. Seit vergangener Woche gibt es dieses Prinzip nicht mehr, und das hat viel mit einem Bruderkrieg der Internetaktisten Assange und Daniel Domscheit-Berg zu tun, die beide Egos haben, die auf keine handelsübliche Festplatte passen. Assange D E R
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wird weltweit als „Freiheitskämpfer“ gefeiert und mit Neo aus der „Matrix“-Trilogie verglichen, er ist eine Projektionsfläche der Rebellion, eine Mischung aus Michael Moore und einem digitalen Che Guevara. Keinen dieser Vergleiche fände er unangemessen. Als ein isländischer WikiLeaks-Helfer im vergangenen Jahr seine Führungsrolle in Frage stellte, antwortete er: „Ich bin das Herz und die Seele dieser Organisation, ihr Gründer, Sprecher, der erste Programmierer, Finanzier und ganze Rest. Wenn du ein Problem damit hast, verpiss dich.“ Assange lächelte schief, als wir ihn später auf diesen Satz angesprochen haben. „Es ist vielleicht kein schöner Satz“, sagte er, „aber er stimmt.“ Domscheit-Berg war einmal Assanges bester Freund, zumindest dachte er das. Er trägt stets einen Bart, schwarze Kleidung, eine dunkelrandige Brille und hat sich mittlerweile mit dem artverwandten Projekt OpenLeaks selbständig gemacht. Zeitweilig wohnte Assange bei ihm, in einer kleinen Wohnung in Wiesbaden. Wenn Assange beim Abendessen mehr Leberkäse abbekam als sein Gastgeber, ärgerte sich Domscheit-Berg. Ansonsten glaube er sagen zu können, „dass wir zu147
Medien Hall zu WikiLeaks, eine Kopie fand sich auch in Tauschbörsen im Internet wieder, als Sicherungskopie, eingespeist von WikiLeaks-Unterstützern ohne Wissen Assanges, falls wikileaks.org offline bleiben sollte. Seitdem geistern die Kabel durch das Netz, wandern von Festplatte zu Festplatte, werden getauscht, tausendfach, verschlüsselt, aber irreversibel präsent. Im Februar veröffentlichten die inzwischen mit Assange verfeindeten „Guardian“-Journalisten David Leigh und Luke Harding ein Buch, in dem sie ihre Kooperation mit WikiLeaks schildern. Auf Seite 135 beschreibt Leigh, wie er an die Kabel kam, inklusive Passwort. Wer die 58-stellige Kombination aus Buchstaben und Ziffern mit der im Internet kursierenden Datei ergänzte, konnte alle Kabel öffnen. Der Zusammenhang fiel sieben Monate lang nicht auf, bis zur Veröffentlichung im „Freitag“ vor gut einer Woche. Domscheit-Berg hatte die Panne gestreut, er
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sammen die beste Zeit unseres Lebens verbracht haben“. Im Laufe des vergangenen Jahres entfremdeten sich die beiden immer mehr, und im September zerbrach die Allianz. Domscheit-Berg saß mit uns im Berliner SPIEGEL-Büro zusammen und erklärte uns sichtlich erschüttert, warum er aussteige (SPIEGEL 39/2010). Dann räumte er zusammen mit einem deutschen Programmierer, der die Einsende-Software geschrieben hatte, den WikiLeaks-Server leer und schrieb ein Aussteiger-Buch. Im Sommer 2010 hatte Assange auf wikileaks.org ein geheimes, unsichtbares Unterverzeichnis eingerichtet, in dem er eine verschlüsselte Datei mit den 251 287 Kabeln ablegte. Die Adresse und das Passwort vertraute er im August 2010 dem „Guardian“-Reporter David Leigh an, der Zugang zu den Berichten des State Departement erhalten sollte. Leigh lud die Datei herunter, entschlüsselte sie und begann in einem Ferienhaus in den schotti-
Aussteiger Domscheit-Berg: „Kinder sollten nicht mit Waffen spielen“
schen Bergen mit der Lektüre. Der Mann vom „Guardian“ sagt, Assange habe ihm damals erklärt, das Passwort würde nach kurzer Zeit automatisch gelöscht; aber das ist bei dieser Verschlüsselung technisch nicht möglich. Assange wollte die sensible Datei wieder entfernen, doch dazu kam es nicht mehr. Mit dem Inhalt des Servers nahmen die Dissidenten auch die verschlüsselte Depeschensammlung mit. Zwischen den einstigen Freunden Domscheit-Berg und Assange begannen zähe Verhandlungen, Vermittler wurden eingeschaltet, später auch Rechtsanwälte. Assange wollte die Daten zurück, Domscheit-Berg weigerte sich, erklärte sich aber bereit, zumindest die veröffentlichten älteren Dokumente zu übergeben. Anfang Dezember händigte er einem Unterhändler von Assange eine Festplatte mit 18 Gigabyte Daten aus – darunter versteckt und verschlüsselt die US-Kabel. Und dann passierte im Dezember etwas, mit dem keiner gerechnet hatte: Die Festplatte mit dem veröffentlichten Material wanderte nicht nur nach Ellingham 148
wollte damit beweisen, dass WikiLeaks eine unsichere Organisation ist. „Kinder sollten nicht mit Waffen spielen“, das ist Domscheit-Bergs Sicht auf Assange. Dass er damit auch sein eigenes Projekt OpenLeaks schwer beschädigte, hat er vielleicht übersehen. Nachdem die Gerüchte anschwollen, überschwemmte WikiLeaks das Netz mit mehr als 100 000 eher unspektakulären Kabeln, die weitgehend unbearbeitet waren. Am Ende war es wie bei einer Kernschmelze. Es reihte sich Fehler an Fehler, jeder einzelne für sich genommen eine kleine Panne, aber durch die Veröffentlichung wurde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen war. Nicht von Assange, nicht von DomscheitBerg, nicht von der amerikanischen Regierung, die uns im November in diversen Fällen darum gebeten hatte, keine Details aus den Depeschen zu publizieren. Dem sind wir mehrheitlich nicht nachgekommen, aber wenn die Kabel die Namen eines Informanten in der chinesischen Regierung oder eines Aktivisten in Teheran enthielten, dann war für uns klar, dass D E R
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diese Menschen geschützt werden mussten. Dieser Schutz, den auch die Kollegen bei „El País“, „Le Monde“, der „New York Times“ und dem „Guardian“ beachteten, ist nun hinfortgespült. „Wir werden denjenigen beistehen, die durch diese illegale Veröffentlichung in Gefahr gebracht wurden“, sagt eine Sprecherin des State Departments. Mehr als hundert Personen gelten in Washington als besonders gefährdet. Schon vor Monaten hat die US-Regierung damit begonnen, einzelne Kontaktpersonen auszufliegen. Es sei „zwar nicht der Himmel über den Vereinigten Staaten zusammengestürzt“, so Philip Crowley, der mittlerweile zurückgetretene Sprecher Hillary Clintons, „aber er ist über einigen unserer besten Quellen zusammengebrochen.“ Die Akteure beschimpfen sich jetzt gegenseitig. Leigh habe „rücksichtslos und ohne unsere Zustimmung bewusst das Passwort enthüllt“, heißt es in einer WikiLeaks-Erklärung. Der „Guardian“-Reporter wirft Assange seinerseits vor, „geistesgestörten Unsinn“ zu verbreiten. Domscheit-Berg sagt, er habe sich verpflichtet gefühlt, vor der Gefahr zu warnen. Mit dem Datenleck holen WikiLeaks die Ereignisse eines Jahres ein, das die Organisation an den Rand ihrer Möglichkeiten und darüber hinaus getrieben hat. Die Gruppe ist bis heute strukturiert wie eine Bürgerinitiative, die die Regierung der mächtigsten Nation der Welt herausgefordert hat, mit einem charismatischen und intelligenten Kopf an ihrer Spitze. Die Konfrontation mit den USA wäre allein Aufgabe genug gewesen, aber dazu kamen die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange in Schweden und die Spaltung der Gruppe. Für WikiLeaks war 2010 in jeder Hinsicht ein Jahr der Superlative, positiv wie negativ. Die durchgesickerten Daten sind ein Ausdruck dieser Überforderung, an deren Ende nun, mit zwölfmonatiger Verzögerung, ein entscheidender Kontrollverlust steht. Julian Assange kam in Ellingham Hall in einem grauen Morgenmantel die Treppe herunter, es war kurz vor halb elf, er stieg in blau-gelben Socken in ein Auto, die Strümpfe eine Reminiszenz an die schwedische Justiz, die ihn jagt. Ein paar Minuten später musste er sich auf der Wache melden, eine Auflage des Gerichts. Er wartet noch immer auf eine Entscheidung über seine Auslieferung nach Schweden, seit neun Monaten mittlerweile. Assange muss sich in den nächsten Wochen juristisch verteidigen und zugleich die Kernschmelze stoppen. Er muss beweisen, dass der Datenverlust eine einmalige Panne war, dass das Vertrauen, das Whistleblower in seine Organisation setzen, gerechtfertigt ist. Davon wird nicht nur die Zukunft von WikiLeaks abhängen, sondern auch die Zukunft einer großen Idee. MITARBEIT: MARC HUJER
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ARD-Moderatoren Frank Plasberg, Sandra Maischberger, Jauch, Will, Reinhold Beckmann: Bisher hat die Vermehrung der Worte funktioniert T V- S E N D U N G E N
Ein Brei der Meinungen Es gibt mehr Polit-Talks im Fernsehen als je zuvor. Vom Ersatzparlament früherer Tage sind die heutigen Diskussionsrunden aber weit entfernt.
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olfgang Herles nimmt einen mentation, die er gemacht habe. „Aber Kaffee und etwas Leichtes zum an keine einzige Talkshow.“ Die beiden Kontrahenten seines tragiFrühstück im Café Einstein von Berlin. Die vielen Datteln haben etwas komischen Talkshow-Romans heißen Toangesetzt. Herles kommt gerade von ei- bel und Klamm, beides sind süddeutsche nem langen Dreh aus der arabischen Welt Synonyme für Schluchten, Abgründe. zurück, er arbeitet an einer großen Do- Und die tun sich auch in dem Buch auf, kumentation, und Datteln haben sehr vie- ein irrwitziger Plot von Sex, Suff, Intrigen und Paranoia. le Kalorien. „Beide Figuren bin ich“, sagt Herles, Herles war früher auch mal Talkmaster beim ZDF, drei Jahre lang. Und er hat ei- „was da drinsteht, habe ich mehr oder nen Roman geschrieben, „Die Tiefe der weniger so erlebt.“ Vor einigen Jahren Talkshow“. Es war auch therapeutisches hat Herles einmal bei einer Tagung von Talkern aus seinem Buch gelesen. Keiner Schreiben. Herles sagt, er könne sich noch an jede hat gelacht – und hinterher habe auch große Reportage erinnern, an jede Doku- keiner mit ihm geredet, sagt er. 150
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Herles hat klare Ansichten über den Amüsierbetrieb der Talkshow. Die Quote sei „das Evangelium“, die Sendungen verkommen zu Freakshows mit grellen Durchgeknallten oder Promis. „Da muss sich dann Moritz Bleibtreu zur RAF äußern“, seufzt Herles. Gedanken auszuformulieren sei „nicht vorgesehen“. Zwei Fragen gebe es, die einem Talkmaster immer im Kopf herumgingen: Erstens: „Wie kriege ich es hin, dass es knallt?“ Zweitens: „Wie schaffe ich es, den, der gerade redet, zu unterbrechen?“ Für Herles hat das Gebaren in den Talkshows Folgen, die über die Sendezeit der Sendungen hinausgehen: „Das, was wir über das politische Geschäft beklagen, hängt mit der Veränderung der Diskussionskultur zusammen, und daran hat die Talkshow einen unseligen Anteil.“ Einige Wochen lang war Ruhe, aber nun quatschen sie wieder – mehr als je zuvor. Die Sommerpause ist zu Ende, in der vergangenen Woche begann Anne Will auf ihrem neuen, ungeliebten Sendeplatz am Mittwochabend um 22.45 Uhr. Die neue Saison wird bereichert um einen
Medien weiteren Kontrahenten, der die ohnehin eifersüchtigen Talker nervös macht, schon bevor er seine erste Frage gestellt hat. Am historischen 11. September übernimmt Günther Jauch von Will den Termin der Termine, Sonntag nach dem „Tatort“ in der ARD. Bisher hat die Vermehrung der Worte funktioniert. Doch vielen dämmert: Wir talken uns zu Tode, fünf Abende, fünf Köpfe, allein bei der ARD, und neben den Polit-Talkern drängen auch noch Unterhaltungs-Talker wie Markus Lanz oder Johannes B. Kerner ins ernste Fach. Am Ende könnte einer oder eine auf der Strecke bleiben. Da lohnt es sich, noch einmal die klassische Medienkritik von Neil Postman zur Hand zu nehmen. „Wir amüsieren uns zu Tode“, befand der amerikanische Medienwissenschaftler vor 25 Jahren und kriti-
chen Talkshows richten mit ihrem immer gleichen Personal einen Meinungsbrei an, der dem letzten Zuschauer die Hoffnung nimmt, es könne bei politischen Themen noch Gründe geben, die zählen.“ Aktive Politiker haben die Konsequenzen gezogen. Viele gehen gar nicht mehr hin. Die meistgesehenen Talkshow-Gäste des vergangenen Jahres waren Hans-Olaf Henkel, Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler und der unvermeidliche Arnulf Baring. Die Ewigen-Besten-Liste von Sabine Christiansen umfasste einst noch Guido Westerwelle, Angela Merkel, Hans Eichel, Oskar Lafontaine oder Friedrich Merz. Lauter klingende Namen. Bei Christiansens Nachfolgern sitzen heute Leute wie der FDP-Abgeordnete Otto Fricke und allenfalls noch Gregor Gysi. Die Redaktionen sagen, sie wollten die Spitzenpolitiker gar nicht mehr. Kann sein.
Talkshowdown auf ARD und ZDF 21.00 Uhr
Sonntag Montag Dienstag
22.00 Uhr
23.00 Uhr
„Günther Jauch“ „Hart aber fair“ „Menschen bei Maischberger“ „Markus Lanz“* „Anne Will“ „Markus Lanz“*
Mittwoch Donnerstag
00.00 Uhr
„Maybrit Illner“
„Markus Lanz“* „Beckmann“ * ungefähre Sendezeit
sierte die politische Urteilsbildung im Wichtiger aber ist: Die Spitzenpolitiker Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Wie wollen selbst nicht mehr. Unionsfraktionsdas „Guck-guck-Spiel der Kinder“ ruhe chef Volker Kauder klagte kürzlich über die Fernsehwelt abgeschlossen in sich. Da- die Talkshows, „in denen die wirklich gegen sei auch gar nichts einzuwenden, komplexen Themen kaum noch erklärt aber: „Luftschlösser bauen wir alle, pro- werden und die leider nur noch auf das blematisch wird es erst, wenn wir versu- Entfachen von Streit angelegt sind“. chen, darin zu wohnen.“ CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer, Was von Postman vor einem Viertel- eigentlich der politischen Keilerei nicht jahrhundert aufgeschrieben wurde, liest abhold, geht ebenfalls nicht mehr hin. sich wie die aktuelle Studie der Otto Bren- Durch die „Vermassung“ der Talkshows ner Stiftung, die die Inszenierungen der hätten sie ihren Stellenwert und ihre KulPolitik unter der Überschrift „… und un- tur eingebüßt. „Früher waren Talkshows seren täglichen Talk gib uns heute“ gründ- für mich ein Ort, politische Entscheidunlich aufarbeitet. gen zu erläutern. Heute scheitert das Diese „Simulation von Politik“ in den schon daran, dass auch bei komplexen Talkshows kritisierte unlängst Bundes- Fragen, oder gerade da, der Moderator tagspräsident Norbert Lammert (SPIE- nach 20 Sekunden dazwischengeht.“ GEL 12/2011). Wie Herles bemängelte er, Mit seiner gefürchtet scharfen Zunge dass die Talk-Kultur einen ganz bestimm- spottet SPD-Spitzenmann Peer Steinten Politikertypus herausbildet: den brück über die Quasselbuden im FernseSchwätzer – und nicht unbedingt den hen, die wegen ihrer kompletten FolgenDenker und Entscheider. losigkeit beim Publikum den Eindruck Schon im April klagte der Philosoph „einer weitgehenden politischen OhnJürgen Habermas in der „Süddeutschen macht“ erzeugten. Steinbrück ist deshalb Zeitung“ über den politischen Flurscha- in diesen Runden inzwischen nicht mehr den der permanenten Quasselei: „Die zu sehen, es sei denn, er hat gerade ein munteren Moderator(inn)en der zahlrei- Buch zu vermarkten. D E R
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Es gibt Politiker, die nach wie vor gern in Talkshows gehen. Aber es werden weniger. Über Politik soll paradoxerweise dennoch geredet werden, aber lieber mit Schauspielern und Sternchen. Lars Kühn war lange befasst mit der Talkshow-Beschickung. Als Sprecher der SPD hat er in sieben Jahren für vier Parteivorsitzende gearbeitet. Den Auftritt der SPD in den Talks zu organisieren gehörte zu seinen Aufgaben: Wer geht wann wohin und spricht zu welchem Thema? In seinen Augen hat sich Grundlegendes geändert. Früher, sagt er, „da konnte man schon was bewegen“. „Sabine Christiansen“ am Sonntag sei ein politisch relevanter Ort gewesen, dafür hätten sich die Politiker gezielt Botschaften zurechtgelegt, Franz Müntefering von der SPD genauso wie Guido Westerwelle von der FDP. „Da ist hinterher drüber geredet worden, und da ist drüber geschrieben worden“, sagt Kühn. Am Montag sei die Sendung im Präsidium und Vorstand der SPD regelmäßig Thema gewesen. Aber heute: „Diese Konkurrenz, das ist der Killer.“ Früher war es so: Man konnte die Sendung von Sabine Christiansen mögen oder hassen. Aber kein Politiker oder politischer Korrespondent konnte sie ignorieren. Auf dem Sideboard von Sabine Christiansen in ihrem Büro in Berlin-Charlottenburg stehen drei goldene Bambis in zwei Größen, noch ein paar andere Tiere und weitere Trophäen. Christiansen ist selten da, meistens jettet sie in der Welt umher. Ihre Firma produziert eine Reihe über Vorstandschefs von großen Unternehmen, das heißt: Shanghai, Dubai, New York. Vor einigen Monaten räumte sie in einem Interview ein, dass sie kaum noch Talkshows schaue. Heute will sie das nicht so gemeint haben, wie es klingt. Sie verbringe eben die meiste Zeit in Paris. Aber kürzlich ist ihr am Münchner Flughafen doch etwas Lustiges passiert. Ein Mann sei auf sie zugestürzt und habe ihr vorgeschwärmt von einer Frage, die sie US-Präsident George W. Bush in einer Sendung gestellt habe. Das Gespräch mit Bush ist mehr als fünf Jahre her. „Wenn ich heute jemanden, der alle Talkshows von Sonntag bis Freitag gesehen hat, frage: In welcher saß Gregor Gysi?, dann kann Ihnen das keiner mehr sagen“, sagt Christiansen. Das sei der Unterschied: Alles fließe ineinander, ein Bilderbrei, ein Meinungsbrei, ein Stimmenbrei. Und die Parteien hätten ihre klaren Kanten verloren, die CDU ist grün, die Grünen sind bürgerlich, alles verschwimme auch dort. „Wir haben“, sagt Christiansen, „zu viel vom Gleichen.“ Demnächst haben wir davon noch mehr. CHRISTOPH SCHWENNICKE
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In dem zwölfstündigen Programm rekonstruieren die SPIEGEL TVAutoren Karin Assmann, Jens Nicolai, Thomas Schaefer und Nanje Teuscher in „Stundenprotokollen“ die wichtigsten Ereignisse des Tages: vom Check-in des Terroristen Mohammed Atta und seiner Gefolgsleute in Portland, Boston und Washington über den Einschlag der Flugzeuge in die Türme des World Trade Center und das Pentagon bis
THEMA DER WOCHE
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Woche der Entscheidung: Das Bundesverfassungsgericht urteilt, ob die Milliardenhilfen für Europas Schuldenländer rechtmäßig sind. Angela Merkel muss im Bundestag ihr Krisenmanagement verteidigen. SPIEGEL ONLINE berichtet aus Karlsruhe und Berlin:
Terrorangriff auf das World Trade Center
zum Einsturz der Twin Towers. Die sich jeweils anschließenden Dokumentationen liefern ausführliche Hintergrundinformationen zum bislang schlimmsten Terroranschlag in der
Kippen die Richter das Euro-Rettungsprogramm? Kann die Kanzlerin ihre Kritiker beschwichtigen? Wie reagieren die Börsen? SPIEGEL TV
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Schwarz-gelbe Schicksalstage
KULTUR | Harte Kante im Quotenkampf
Flüchtende New Yorker
„Hart aber fair“-Moderator Frank Plasberg spricht im Interview über die Kunst der Konfrontation, den Fluch seines neuen Sendeplatzes – und seinen Konkurrenten Günther Jauch.
NETZWELT | Drohne für den Hausgebrauch Neue Mini-Helikopter mit Fernsteuerung und Kamera machen nicht nur Spaß – sie erlauben auch den Blick über den Gartenzaun. SPIEGEL ONLINE hat einen Spionage-Quadcopter getestet.
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| Was für ein Blech! Mehr als 240 000-mal vergaben deutsche Bundespräsidenten seit 1951 den höchsten Orden des Landes – und langten dabei auch mal kräftig daneben. Zum 60. Geburtstag des Bundesverdienstkreuzes blättert einestages.de in der Liste der ausgezeichneten Würdenträger – darunter Diktatoren, Nazi-Schergen und Steuerflüchtlinge.
www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist D E R
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Geschichte. Sie gehen den Fragen nach: Wie bereiteten sich die Attentäter in Hamburg vor, und wie hielten sie ihre Pläne geheim? Wie wurde aus dem Millionenerben Osama Bin Laden der meistgesuchte Terrorist der Welt? Und: Wie sieht es am Ground Zero heute aus? Kommentiert werden die Ereignisse unter anderen von den Journalisten Peter Kloeppel, Claus Kleber und Patricia Schlesinger und den SPIEGEL-Redakteuren Thomas Hüetlin, Alexander Osang und Gerhard Spörl. SONNTAG, 11. 9., 22.05 – 22.50 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN
Schimmel, Dreck und Kakerlaken – Behörden gegen Ekelrestaurants; Schutzhaft vor den Taliban – Im afghanischen Frauenknast; Mit Fäusten und Pistolen – Verkehrsrowdys in Russland.
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Register David Edwards, 96. Der Gitarrist und
GESTORBEN
MARC SCHULTZ-COULON / T&T
der Leinwand hat sie in den siebziger und achtziger Jahren glänzende Erfolge gefeiert, und doch ist daraus nicht der große Bogen entstanden, den man Karriere nennt. Dazu war sie, die dickköpfige Tochter eines Berliner Binnenschiffers, zu sehr auf Unabhängigkeit bedacht, auf Distanz zur Kantinen-Intimität eines Ensembles. Niemals ein Star, doch eine Person ganz für sich, eigentlich bodenständig, wie es die Schreibweise ihre Vornamens betonte. Sie konnte sich mit dem Glamour preußisch-nordischer Arroganz wappnen, etwa als Hedda Gabler in Peter Zadeks vielgefeierter Bochumer Ibsen-Inszenierung von 1977 oder in ihrer alles überragenden Filmrolle als Ufa-Diva in Rainer Werner Fassbinders „Die Sehnsucht der Veronika
VALERIE MACON / AFP
Rosel Zech, 69. Auf der Bühne wie auf
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Wolfgang Lauth, 80. Geradezu exempla-
ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO
Voss“ 1982 – doch in der einen wie in der anderen Figur brach ein selbstzerstörerischer Furor die noble Haltung: die dunkle Leidenschaft einer Kamikaze-Frau, die sie zum ersten Mal wohl als Kleists Penthesilea unter der Regie von Klaus Michael Grüber (in Stuttgart 1970) entfesselt hat. Etwa ein Jahrzehnt lang gehörte Rosel Zech neben Ulrich Wildgruber, Hermann Lause und Eva Mattes zum unentbehrlichen Kern der Zadek-Truppe in Bochum und Hamburg, wo auch ihre vitale Komödienlust zum Zuge kam, bei Oscar Wilde, Alan Ayckbourn oder in Molières „Menschenfeind“. Später wollte sie sich wohl nie mehr fest an eine Bühne binden: große Auftritte mit Tschechow in Berlin, mit Schiller in München, mit O’Neill in Wien, doch ein Leben für sich. Auch dem Fassbinder-Clan fühlte sie sich nicht zugehörig, obwohl sie den charismatischen Regisseur für das „einzige Genie“ hielt, das ihr je begegnet sei. In jenem Alter aber, wo die Hauptrollen rar werden, hat Zech in der TV-Serie „Um Himmels Willen“ in der Rolle der „Mutter Oberin“ an der Seite von Fritz Wepper eine Popularität gewonnen, die sie geradezu überwältigte, die ihrem Wesen aber entsprach: hinter aller Herzlichkeit eine unüberwindbare Distanz. Rosel Zech starb am 31. August in Berlin an Krebs.
Sänger war einer der letzten Vertreter des Delta-Blues – der wohl einflussreichsten Musik des vergangenen Jahrhunderts, die in fast allen Spielarten von Rock und Pop Spuren hinterlassen hat. Der in Mississippi geborene Sohn von Pachtfarmern verließ schon in jungen Jahren sein Zuhause, um mit Musikern durch die Lande zu ziehen. Dabei lernte er den sagenumwobenen Bluesmann Robert Johnson kennen und spielte mit ihm in den Kaschemmen des amerikanischen Südens. 1942 machte „Honeyboy“ – wie er genannt wurde – seine ersten Aufnahmen und ging Anfang der fünfziger Jahre nach Chicago. Wie so viele Bluesmusiker lebte er von Aushilfsjobs und spielte nachts in den Clubs. Noch mit über neunzig gab die „wandelnde Jukebox des Blues“ um die hundert Shows pro Jahr, sein letztes Konzert fand im April statt. David Edwards starb am 29. August in Chicago. risch verkörperte der gebürtige Ludwigshafener die erste Generation des deutschen Nachkriegs-Jazz, die einen kulturellen Neuanfang wagte. Sein Schlüsselerlebnis hatte der junge Musikstudent 1952, als er den afroamerikanischen Pianisten Jimmy Bunn kennenlernte, der ihm den Bebop näherbrachte. Zwei Jahre später gründete Lauth ein eigenes Quartett. Beim Deutschen Jazz Festival in Frankfurt 1955 wurden seine Kompositionen, bei denen Klavier und Gitarre in sehr eigenwilliger Art polyphon geführt wurden, begeistert aufgenommen und brachten ihm einen Plattenvertrag ein. Die Fusion aus Bebop und Barock, die seine Liebe zur Alten Musik dokumentierte, trug Lauth auch auf seiner erfolgreichen Tournee mit dem Jazzkritiker und -produzenten JoachimErnst Berendt vor. Statt amerikanische Standards zu spielen, spezialisierte sich der „Jazzmusiker des Jahres“ (1955 und 1956) auf Originalkompositionen, aber auch deutsche Operetten- und Schlagermelodien („Kauf Dir einen bunten Luftballon“). In den Sechzigern schuf er drei vielbeachtete Ballettkompositionen für das Nationaltheater Mannheim. Später arbeitete er für verschiedene Radiosender. Wolfgang Lauth starb am 30. August in Mannheim.
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Personalien Gerhard Schröder, 67, Alt-Bundeskanzler, konnte sich jüngst von seiner ungebrochenen Prominenz überzeugen. Bei einem Spaziergang im heimischen Hannover kreuzten sich die Wege des früheren Regierungschefs und zweier etwa acht bis neun Jahre alter Grundschüler. „Hey, das ist doch der Schröder!“, rief der eine Dreikäsehoch und knuffte seinem Kumpel in die Seite. „Das weiß ich doch“, gab sich der ganz weltläufig, „den kenn ich noch aus meiner Kindheit.“
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EVELIN FRERK
MICHAEL CZOGALLA
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Kris Carr, 40, krebskranke Amerikanerin aus Woodstock, rühmt sich, eine regelrechte „cancerlebrity“ („Krebsprominente“) zu sein. Mit 31 Jahren wurde bei Carr ein seltener Blutkrebs entdeckt, mit Tumoren in Leber und Lunge. Carr war damals ein New Yorker Partygirl, das tagsüber modelte, Theater spielte und sich von Mikrowellengerichten ernährte. Ihre Odyssee zu Onkologen und Heilern ließ Volker Bouffier, 59, hessischer Ministerpräsident, erlebte vergangene Woche bei die Patientin von Anfang an von einem einem Arbeitsbesuch in den USA ungewohnte Harmonie in einer interfraktioFilmteam begleiten; 2007 erschien Carrs nellen Reisegruppe. Als ein US-Parlamentarier in einem Gespräch mit Bouffiers Dokumentarfilm „Crazy Sexy Cancer“. Delegation den Atomausstieg Deutschlands kritisierte, verteidigte ausgerechnet Sie heiratete den Regisseur und schrieb Grünen-Fraktionschef Tarek Al-Wazir als Erster die Politik der schwarz-gelben zwei erfolgreiche Bücher über ihren UmBundesregierung. Danach bekannten sich auch Landtagsabgeordnete von CDU gang mit der Krankheit: Gemüse essen, und SPD in trauter Eintracht zum Ausstiegskurs. Bestärkt wurde das Gemeinbuddhistisch denken, poppig-peppig aufschaftsgefühl der Besucher vom alten Kontinent durch das Eingeständnis mehrerer treten. Die Blondine wurde Dauergast in US-Politiker, in Sachen effizienter Energie von Deutschland lernen zu können. Talkshows und gründete die Beratungs„Es tut ganz gut, wenn unser Rat anderswo gefragt ist“, freute sich Bouffier, der firma „Crazy Sexy Wellness“. Ihr drittes im Gegenzug auf einem Zwischenstopp in Milwaukee, Wisconsin, einen emisBuch, „Crazy Sexy Diet“ (Verrückte sexy sionsarmen Stadtroller ausprobierte. Diät), schaffte es dieses Jahr auf die Bestseller-Liste der „New York Times“ – sogar ohne Hinweis auf das Leiden der Autorin. Rüdiger Weida, 60, Mitglied der „Kirche Niels Annen, 38, lange als Bummelstu- Sie sei nicht nur eine Krebsüberlebende, des Fliegenden Spaghettimonsters“, darf dent verspotteter SPD-Politiker, hat end- so Carr über ihre Krankheit, sondern eine sich in Piratenlook als Führerscheinin- lich höhere akademische Weihen erlangt. „Krebsflorierende“. haber ausweisen. Sein schwarzes Kopf- An der renommierten School of Advantuch mit aufgedrucktem Fischskelett ist ced International Studies der Johns Hopals Zeichen von Weidas Religionszugehö- kins University in Washington legte Anrigkeit anerkannt worden. Die zuständige nen den „Master of International Public Fahrerlaubnisbehörde in der Uckermark Policy“ ab. Der Abschluss ist eine späte ließ sein Konterfei mit Kopfbedeckung Genugtuung für den Hamburger, den die auf dem Ausweis daher amtlich zu. Die Boulevardpresse oft als „ewigen Studen„Pastafaris“, zu denen sich Weida be- ten im Bundestag“ gepiesackt hatte. 2008 kennt, sind seit April eine gemeinnützige hatte der ehemalige Juso-Chef sein GeKörperschaft. Mit ihrer Satirereligion ma- schichtsstudium nach 14 Jahren abgebrochen sich Mitglieder wie Weida alias chen, weil er durch das vorgeschriebene „Bruder Spaghettus“ Latinum gefallen war. Als er nach der dafür stark, Glauben Bundestagswahl 2009 nicht mehr im Parals Privatsache zu be- lament saß, machte Annen an der Berliner handeln. Den Mann Humboldt-Universität zunächst den – latinumfreien – Bacheaus Templin erreichen lor. Über sein Studienbereits Bitten von jahr in Washington Nachahmungsfreudisagt der Graduierte: gen, ihnen schriftlich „Ich war überrascht, zu bestätigen, dass dass die mich überdas Tragen des Pirahaupt genommen hatentuchs zur Pflicht eiben.“ Mittlerweile ist nes Pastafari gehöre. Annen zurück in BerWeidas nächster Plan lin und arbeitet bei steht in zwei Jahren der SPD-nahen Friedan: Dann läuft sein rich-Ebert-Stiftung. Personalausweis ab. Weida Annen Carr 3 6 / 2 0 1 1
Dorothee Bär, 33, CSU-Vize-Generalse-
THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET
kretärin, vermisst Kartengrüße aus dem Urlaub. Im Parteiorgan „Bayernkurier“ beklagte sich die Politikerin kürzlich, kaum jemand verschicke noch Ansichtskarten aus den Ferien, die man sich als Erinnerung an den Kühlschrank kleben könne. Schuld sei die Kommunikation per Mail und SMS. Flammend appellierte die Bundestagsabgeordnete an die Leser des Blattes, wieder Postkarten aus aller Welt zu verschicken: „Pflegen wir diesen Brauch!“ Dass ausgerechnet Bär für Handgeschriebenes Bär plädiert, amüsiert indes ihre Parteifreunde: Die fränkische Politikerin hält mit den Kollegen am liebsten engen Kontakt per SMS und gilt in der CSU als eine der eifrigsten Nutzerinnen von Facebook und Twitter.
Angelo Dundee, 90, US-Boxtrainer, hat
Jason Momoa, 32, hawaiianischer Schauspieler, fühlt sich einem anderen Zeitalter zugehörig. Momoa und seine Frau Lilakoi Moon – als Filmschauspielerin unter ihrem früheren Namen Lisa Bonet bekannt – sowie ihre Kinder Lola Iolani und Nakoa-Wolf leben ohne Fernseher und Computer. Er besitze auch kein Handy und habe „noch nicht einmal E-Mail“, gab der Hollywood-Star jetzt zu, der im September als Barbar „Conan“ in die deutschen Kinos kommt. Mit dieser Rolle wagt sich der ehemalige „Baywatch“- und Science-Fiction-Serienheld an ein großes Vorbild: Arnold Schwarzenegger wurde als Conan 1982 weltberühmt. Momoa ist es inzwischen leid, mit dem gebürtigen Österreicher verglichen zu werden. Er habe keine politischen Ambitionen wie der Ex-Gouverneur von Kalifornien. Seine höchsten Ziele seien, „meine Frau glücklich zu machen und die Kinder gut zu erziehen“. D E R
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DAN GROSSI / DAPD
WARNER BROS.
mit einem Mythos aufgeräumt. Bisher galt sein legendärer Schützling Muhammad Ali, 69, als Urheber jener brillant-bösen Zweizeiler, mit denen der schwarze Champion seine Gegner verhöhnte, wie etwa Sonny Liston: „Liston is great / But don’t make me wait / I’ll whup him in eight“ (Liston ist großartig. Aber lasst mich nicht warten. Ich schlag ihn in der achten Runde). In Wahrheit aber hatte offenbar der schlagfertige Italo-Amerikaner Dundee in seiner Ecke den maßgeblichen Teil der Box-Poeme ausgeheckt. Dies steckte der inzwischen mit Rollator
Ali, damals Cassius Clay, Dundee 1962
ausgerüstete Greis einem NDR-Filmteam zu Hause in Tampa, Florida. Damals sei er gern hinter den Größten aller Zeiten zurückgetreten, erklärte Dundee, denn „wen hätte es beeindruckt, wenn ein älterer weißer Mann so etwas dichtet?“ 157
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Tagesspiegel“ über den Schauspieler Ashton Kutcher: „Kutcher ließ sich für die Serie schulterlanges Haar mit Schnurrbart wachsen, bescheinigt sich selbst jetzt einen ,Jesus-Look‘.“
Zitate Die Hamburger Edeka-Filiale Hallerstraße zum SPIEGEL-Titel „Loriot – Eine Verneigung“ (Nr. 35/2011):
Aus dem „Südkurier“: „Die meisten Todesopfer in den Südstaaten wie North Carolina und Virginia wurden von Bäumen oder Trümmerteilen erschlagen.“
Aus einer dpa-Meldung
Bildunterschrift aus den „Kieler Nachrichten“: „Der kleine Plöner Bahnhof in historischer Hülle leuchtet von innen und wird dadurch größer.“
Aus der „Holsteiner Allgemeinen“ Aus dem „Jahresprogramm des Festspielhauses Baden-Baden 2011/2012“: „Wieder einmal haben wir Nils Landgren und sein Quartett eingeladen. Landgren ist so etwas wie der Niccolò Paganini der Posaune, nur dass Niccolò tot ist.“ Aus der „Welt“: „Merkel weiß, wie vermient das Geländer ist, wenn man unabhängige Institutionen attackiert.“
Aus der „Berliner Zeitung“ Aus den „Husumer Nachrichten“: „Für den Zeitraum der Übung war in dem Gebiet zwar der Luftraum gesperrt – für Schiffe galt dies jedoch nicht.“ 158
MARTIN WOLF/DER SPIEGEL
Aus der „Stuttgarter Zeitung“: „… und so geht es dann auch in der Stuttgarter Turbinenhalle zu: herrlich fleischig-saftigsämig-organische Klänge, bauchzerwühlende Rhythmen, die unsere Ohren putzen wie die Scheuerseite vom Waschschwamm die alte fettige Pfanne.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ über die schwierige Rolle, die dem SPIEGEL zufolge Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) derzeit hat („Die Watschenfrau“, Nr. 32/2011): Aus den Misstönen, die ihre Pläne für eine Bildungsreform in der Partei ausgelöst haben, ist ein großer Krach geworden. Und dabei, das macht die Sache für Schavan so schwierig, geht es den Kritikern inzwischen auch um den Krach selber … Die Attacken gegen Schavan sind quasi zu einem Ventil für das aufgestaute Unbehagen geworden. Die Ministerin bekommt auch Zorn ab, der sich eigentlich gegen andere richtet, nicht zuletzt gegen Angela Merkel. Der SPIEGEL nennt Schavan treffend die „Watschenfrau“. Das „Handelsblatt“ über das Buch von SPIEGEL-Reporter Alexander Osang und seiner Frau Anja Reich („Wo warst Du? Ein Septembertag in New York“. Piper Verlag, München; 272 Seiten; 19,99 Euro): Im schnellen Hin und Her entstehen zwei hinreißend niedergeschriebene Erzählungen, die den außergewöhnlichsten Tag von New York City mit den gewöhnlichen Problemen einer Expat-Familie verweben: Die Geschichte eines fanatischen, mitunter lebensmüden Reporters und seiner gelangweilten Ehefrau benötigt nicht den Schrecken des 11. September. Sie lebt allein von einem Metier, das Reich und Osang beherrschen wie nur wenige andere: der Reportage – auf ChampionsLeague-Niveau. D E R
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