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Ein zweiter Erdmond? So lange es Menschen auf unserer Erde gibt, wandert über ihnen am Himmel der Mond, der Begleiter unseres Planeten. Wir kennen nur diesen einen Erdtrabanten, und das ist – verglichen mit den anderen Planeten – nicht gerade viel; denn Mars hat beispielsweise zwei, Saturn zehn und Jupiter – soviel wir bis heute wissen – zwölf Monde. Allerdings hat es nicht an Vermutungen gefehlt, daß auch die Erde einen zweiten Trabanten hätte. Er müßte freilich äußerst klein sein, sonst wäre er wohl nicht bis heute selbst den schärfsten Instrumenten verborgen geblieben. Seit der Erfindung des Fernrohres gab es auch immer wieder Beobachter, die ihn – als dunklen Punkt vor der Sonnenscheibe – gesehen haben wollten. Die letzten dieser angeblichen Beobachtungen stammen aus dem Jahre 1923. Aber eine Bestätigung haben sie bislang nicht gefunden. Damit soll nicht gesagt sein, daß es diesen „Schwarzen Mond“, wie ihn die Astronomen des 17. Jahrhunderts nannten, bestimmt nicht gäbe. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß er eines Tages doch noch aufgefunden wird. Welche Bedeutung seine Entdeckung für die Raumfahrt haben könnte, erfahren wir in der neuesten UTOPIA-Erzählung.
von Alf Tjörnsen „Ich hätte nicht nach Krasnograd gehen sollen. Der Teufel selbst muß mir die Hand geführt haben, als ich den Vertrag unterschrieb – damals vor drei Jahren.“ Wie oft schon hatte Professor Angelo diese Worte in bitterer Selbstanklage ausgestoßen, wenn er in seinem stillen Arbeitszimmer am Fenster stand und mit leerem Ausdruck auf das Bild starrte, das sich seinen Blicken bot: Inmitten einer Landschaft, die von Horizont zu Horizont nichts anderes zeigte als eine gleichförmige, öde Fläche, nur an einer einzigen Stelle von einem mageren Birkenhain unterbrochen, standen die Baracken von Krasnograd, der geheimen Forschungsstadt im fernsten Winkel der Welt, die keine Landkarte verzeichnete. Diese öde Ebene lag während der längsten Zeit des Jahres unter einer Schneedecke begraben. Und wenn der lang ersehnte kurze Frühling endlich gekommen war und die Sonne den Schnee besiegt hatte, dehnten sich Wüste und dürre Steppe anstelle der weißen Flache. Auch im Sommer verlor das Bild nichts von seiner Traurigkeit. 3
Professor Angelo hatte sich in früheren Zeiten immer eingebildet, er wäre durch seine Umwelt unbeeinflußbar, er könnte überall leben, wo man ihn seiner Arbeit nachgehen ließe. Doch das war früher, als er noch in seiner heiteren, sonnigen Heimat lebte. Heute dachte er anders darüber, heute wußte er, daß ein Mensch an einer Landschaft leiden, daß er vor Heimweh wohl gar sterben konnte … Vor drei Jahren freilich hatte Angelo nichts davon geahnt. Er hätte solche Gedanken als Hirngespinste verlacht, er würde jeden als Narren bezeichnet haben, der ihm davon gesprochen hätte. Aber es kam noch etwas anderes hinzu: das Bewußtsein der Gefangenschaft – das Gefühl des Umlauertseins. Überall unsichtbare Augen und Ohren, die einen auf Schritt und Tritt verfolgten. Nichts blieb hier unbemerkt. Keiner in Krasnograd traute dem anderen. Man tat gut daran, sich seine geheimsten Gedanken nicht anmerken zu lassen. Diese Atmosphäre, so völlig fremd jener Welt der freien Forschung, wie Professor Angelo sie seit seiner Jugend kannte und lieble, veränderte die Menschen innerlich und äußerlich. Sie machte sie verschlossen, mißtrauisch und schweigsam. Schneller alterten sie und welkten dahin, als dies unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. Aber was war hier in Krasnograd schon „normal“? Mit einem tiefen Seufzer wandte Angelo sich vom Fenster ab. Ein lautes Klopfen an der Tür. Auf das „Herein!“ des Professor betrat ein untersetzter Mann mit einem Kugelkopf und kurzgeschorenen Haaren, in der Uniform eines Obersten, den Raum. Ein freundliches Grinsen stand in seinen Zügen. „Nun, Professor“, begann er, als er dem Gelehrten gegenüber am Schreibtisch Platz genommen hatte, „mir scheint, Sie haben Langeweile?“ Professor Angelo lächelte bitter. „Das ist es nicht allein, Herr Oberst. Ich dachte an die alte Heimat. Vertragsgemäß hätte ich 4
schon vor einem Jahr zurückkehren sollen. Statt dessen hocke ich noch immer in Krasnograd und …“ „Sie sind ungerecht, Professor“, ereiferte sich Oberst Wladimir. „Denken Sie doch auch mal an Ihre Arbeit. Die ‚alte Heimat’ bot Ihnen keine Möglichkeit, sich auf Ihrem speziellen Interessengebiet zu betätigen. Dagegen finden Sie in den großzügigen Anlagen von Krasnograd alles, was das Herz begehrt.“ „Gewiß, gewiß“, gab Angelo zu. „Aber seit Jahr und Tag tue ich hier mit meinen Mitarbeitern nichts anderes, als Flugbahnen für Weltraumraketen zu berechnen, die nachher doch nicht gebaut werden. Bericht auf Bericht wird geschrieben – alles graue Theorie – und wandert auf Nimmerwiedersehen in irgendwelche geheimen Staatsarchive. Eine nutzlose, sterile Arbeit, zu der ich hier verdammt bin.“ „Aber ich bitte Sie, Professor! Sie sind schließlich der technische Direktor von Krasnograd, dem größten Raketenforschungszentrum des Ostens …“ „Technischer Direktor“, wiederholte der Gelehrte ironisch. „Welch schöner Titel! Wäre ich nur lieber als kleiner Hilfsarbeiter nach Orion-City gegangen, ich hätte beim S.A.T. * auf jeden Fall mehr in meinem Fach leisten können als hier.“ „Gewiß – das S.A.T. hat einen gewaltigen Vorsprung“, erklärte Oberst Wladimir ernst. „Aber nicht mehr lange, Professor. Wir haben eine lange Anlaufzeit gebraucht, aber jede gute Sache braucht eben ihre Zeit, wenn sie gelingen soll. Und jetzt ist es so weit. Wir holen auf, und bald werden wir den Weltraum erobern!“ Lange blickte der Professor den Oberst, der – als militärischer Kommandeur der Versuchsstelle Krasnograd – sein unmittelbarer Vorgesetzter war, ungläubig an. Schließlich fragte er leise: „Die Regierung hat sich also entschlossen …?“ *
S.A.T. = Staatliches Atom-Territorium der USA
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„Pst!“ machte der Oberst geheimnisvoll und holte aus seiner Aktentasche eine Mappe aus rotem Leder hervor, die in großen schwarzen Lettern die Aufschrift „Streng geheim!“ trug. „Das Ministerium hat den Startschuß gegeben“, sagte er und reichte die Mappe dem Professor hinüber. „Sie können noch heute mit der Montage der ersten Weltraumrakete beginnen.“ „Das ist doch aussichtslos!“ wehrte Angelo müde ab. „Ich habe oft genug darauf hingewiesen, daß bei Weltraumexpeditionen ein Start von der Erde aus nicht in Frage kommt. Ohne einen Stützpunkt im Raum, eine künstliche Außenstation, ist eine Weltraumfahrt nicht möglich.“ „Das ist uns nicht neu“, bemerkte Oberst Wladimir trocken. „Jedes Kind weiß, daß es seit Jahren solch eine Station gibt. Sie nennt sich ‚Luna nova’ und …“ „… und gehört dem S.A.T. Sehr richtig, Herr Oberst! Aber Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß man Ihnen großzügigerweise ein Mitbenutzungsrecht einräumen würde?“ „Hehehe! So naiv bin ich allerdings nicht. Und der Minister denkt auch nicht daran. Wir werden eben eine eigene Außenstation bauen.“ „Ein Riesenprojekt“, meinte Professor Angelo kopfschüttelnd. „Darauf sind wir in Krasnograd in keiner Weise eingerichtet.“ „Ein großes Projekt ist es schon“, erwiderte Wladimir stolz, „aber dennoch im Bereich unserer Möglichkeiten. Wir brauchen es schließlich nicht genau so zu machen, wie die Kerle vom S.A.T., die die ganze Station – in Einzelteile zerlegt – auf der Erde aufstapeln und dann mit Zubringerraketen zur kosmischen Baustelle hinaufschießen ließen. O nein, das machen wir ganz anders. Schauen Sie her, Professor!“ Oberst Wladimir ging eilfertig um den Schreibtisch herum und klappte die geheimnisvolle Ledermappe auf. Nach kurzem Blättern entfaltete er eine seltsame Skizze. Aus dem Rumpf ei6
ner großen Weltraumrakete ragten seitliche Verstrebungen, die in einen Kranz von Ringen ausliefen. „Diese Rakete ist die Kernzelle des Ganzen“, erklärte der Oberst. „Sie startet zuerst und spreizt, wenn sie die erforderliche Geschwindigkeit und Höhe erreicht hat, ihre Haltevorrichtungen aus. Von der Erde, das heißt von Krasnograd, aus werden dann weitere Raketen hinterhergeschickt. Sie werden nach ihrem Eintreffen in den Ringen mit der ersten Rakete fest verankert. Und so entsteht die Weltraumstation aus lauter einzelnen Raketenschiffen …“ „… was allerdings großes navigatorisches Können voraussetzen würde“, meinte Professor Angelo skeptisch. „Ein interessantes Projekt. Allerdings scheint mir die Idee nicht ganz neu zu sein.“ „Sie wurde vom Ministerium eigens für diesen Plan entwickelt“, sagte der Oberst mit Nachdruck. „Ich weiß“, lächelte Angelo spöttisch. „Bekanntlich gibt es ja keine Erfindung in der ganzen Welt, die nicht irgendein Angehöriger Ihrer großen Nation schon vorher erfunden hätte!“ Oberst Wladimir grinste. Er gehörte zu den wenigen, die in diesem Lande die Wahrheit vertrugen, und Professor Angelo wußte das. „Also, Professor“, sagte er, sich verabschiedend, „vertiefen Sie sich in das Projekt ‚Iltis’ und nehmen Sie es unverzüglich in Angriff. Das Ministerium legt allergrößten Wert darauf, daß die Arbeiten noch in diesem Jahre zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Versäumen Sie keine Stunde. Guten Abend!“ * „Guten Abend, Papa!“ Professor Angelo fuhr aus tiefen Gedanken auf und blickte zur Tür, von wo die frisch klingende Stimme seiner Tochter ihn 7
grüßte. Nur undeutlich konnte er zwei Gestalten in der Dämmerung erkennen, die den Raum fast ganz erfüllte: Irene und Doktor Uralski, seinen Assistenten. „Du wirst dir die Augen verderben, Papa“, sagte das junge Mädchen vorwurfsvoll und knipste die Schreibtischlampe an. „Kennst du denn gar nichts mehr, außer deiner Arbeit? Du hättest lieber mit uns einen Spaziergang machen sollen. Denke dir nur, am Rand des Wäldchens ist der Schnee schon weggetaut. Ein paar Tage noch, dann werden wir die ersten Blumen finden.“ „Du warst am Birkenhain, Irene?“ fragte Angelo besorgt. „Ich sehe es nicht gern, wenn du dich so weit vom Lager entfernst. Es ist doch noch keine vier Wochen her, da kamen die Wölfe bis an die Umzäunung …“ „Du machst dir viel zu viel Sorgen um mich, Papa“, lachte Irene. „Außerdem hatte ich ja einen Beschützer. Doktor Uralski war so freundlich, mich zu begleiten.“ Der junge Assistent trat ein paar Schritte näher und musterte interessiert die Mappe, die aufgeklappt auf dem Schreibtisch seines Chefs lag. Ein fragender Blick aus seinen klugen, aber merkwürdig kalten Augen traf den Professor. „Projekt ‚Iltis’“, brummte Angelo. „Streng geheim. Schön, daß Sie da sind. Wir können die Sache mal gleich zusammen durchsehen. Scheint mir ein paar ziemlich faule Stellen zu enthalten.“ „O weh!“ rief Irene entsetzt. „Nun geht die Fachsimpelei wieder los. Ich will lieber verschwinden und euch einen Tee kochen.“ Als Irene eine halbe Stunde später mit dem dampfenden Samowar zurückkehrte, fand sie die beiden Herren in erregtem Disput. Ihr Vater klopfte mit seinem Füllhalter auf eine Zeichnung und rief laut: „Und das ist der wundeste Punkt an der ganzen Geschichte! Dieses Manöver können nur erfahrenste Weltraumpiloten ausführen. Wir stehen aber noch völlig am Anfang, wir haben keinen Mann, dem wir diese Aufgabe anvertrauen könnten.“ 8
„Man sollte versuchen, einen tüchtigen Piloten vom S.A.T. zu gewinnen“, sagte Doktor Uralski. „Bei einem entsprechenden Gehaltsangebot …“ „Bilden Sie sich nur nicht ein, daß einer von den S.A.T.Männern darauf hereinfiele“, unterbrach ihn Angelo böse. „Das sind nicht solche Kamele, wie ich – leider Gottes – eins gewesen bin.“ Schweigend servierte Irene den Tee. Uralski folgte mit den Augen ihren Bewegungen und lächelte. „Ich wüßte einen Weg. Wollen Sie uns helfen, Irene?“ „Gern – wenn ich kann, Fedor.“ „Sie können, sofern Sie wollen. Wie mir bekannt ist, stehen Sie doch mit einem S.A.T.-Piloten namens Kent in Verbindung.“ „Gewiß, wir sind Jugendfreunde. Edgar und ich besuchten dasselbe College, damals, während meiner Studienzeit in Iowa. Aber was hat das mit Ihrer Arbeit zu tun?“ „Vielleicht sehr viel“, lächelte Uralski geheimnisvoll. „Hätten Sie nicht Lust, Herrn Kent einmal wiederzusehen? Vielleicht schon recht bald?“ „Aber ja!“ Frohlocken klang in der Stimme des jungen Mädchens. „Aber – daraus wird wohl so bald nichts werden …“ „Warum nicht, Irene? Laden Sie ihn doch ein, Sie hier zu besuchen. Sicher wird er nicht zögern, Ihrem Ruf zu folgen. Alle Unkosten gingen natürlich zu unseren Lasten.“ Jetzt erst verstand Irene, worauf Fedor Uralski hinauswollte. Zornesröte stieg in ihrem Gesicht auf. „Man sollte meinen, Sie kennten mich ein wenig besser, Doktor Uralski. Wie können Sie es wagen, mir solch einen Vorschlag zu machen?“ Auch der Professor winkle ärgerlich ab. „Daraus wird nichts, Uralski. Das sind Methoden, die an Menschenraub grenzen. So etwas lehnen wir ganz entschieden ab.“ Der Assistent zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Komische Leute, diese Italiener! Vor lauter unbegreiflichen Hemmungen 9
würden sie es nie zu etwas bringen. Da war es schon besser, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Schon hellten sich Uralskis Züge wieder auf. „Herr Professor“, sagte er verbindlich lächelnd und stand auf, „darf ich Sie um einen achttägigen Urlaub bitten?“ „Was? Ausgerechnet jetzt, wo ich jeden Mann für das ‚Iltis’Projekt brauche? Das Ministerium hat uns einen verteufelt knappen Termin gesetzt. Jede Minute ist kostbar.“ „Ich möchte am Gau-Parteikongreß teilnehmen“, erwiderte Uralski höflich. „So – hm – na, dann kann man wohl nichts machen. Aber lieb wäre es mir schon, wenn Sie nicht zu lange ausblieben.“ „Ich werde mein möglichstes tun, um bald wieder hier zu sein“, versprach Fedor Uralski und verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung. * „Festhalten, Gentlemen! Achtung – Bremsschuß!“ Mit dem Düsenende voran stürzte die Wasserstoffrakete H 11 des S.A.T. der Erdoberfläche entgegen. Vollgeladen mit den Bodenschätzen des Mondes, kehrte das Transportraumschiff – eins der modernsten aus der großen Weltraumflotte des Staatlichen Atom-Territoriums – nach der Forschungsstadt OrionCity zurück. H 11 hatte auf dieser Fahrt prominente Passagiere an Bord. In der engen Führerkabine lagen Kommodore Parker und sein treuer Kamerad Fritz Wernicke in den Hängematten und kämpften gegen den Andruck, den der kräftige Bremsschuß für Sekundendauer auslöste. „Machen Sie immer so aufregende Landungsmanöver, Kent?“ fragte der Kommodore den jungen Raumschiffkommandanten. 10
Edgar Kent lachte „Man muß seinen Gästen doch etwas bieten. Hallo, White: welche Distanz, bitte?“ Aus dem Lautsprecher kam die Stimme des Mannes, der im Geräteraum die Radar-Anlage bediente. „32 250 Kilometer von der Erdoberfläche. Käpten.“ „Sie haben noch Zeit genug für Ihre Bremserei“, maulte Fritz Wernicke vorwurfsvoll. „Wirklich gar kein Grund vorhanden, uns solchen Unbequemlichkeiten auszusetzen.“ Sprach’s und angelte aus den Taschen seiner Kombination eine Whiskyflasche mit verheißungsvollem Etikett hervor. Erwartungsvoll entkorkte er sie und führte das edle Labsal zum Munde. Doch der kleine, ewig durstige Weltraumpilot sollte nicht zu dem erhofften Genuß kommen. Wieder klang die Stimme des Funkers White aus dem Bordlautsprecher – diesmal atemlos und gehetzt: „Käpten, Käpten – fremder Körper steuerbord mit hoher Geschwindigkeit im Anflug, quer zu unserer Fahrtrichtung!“ „Entfernung?“ „2 200 Kilometer.“ „Caramba!“ Edgar Kent war an eins der Beobachtungsfenster geeilt und starrte durch den Feldstecher in die Schwärze des Himmels. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Fritz Wernicke entdeckte den winzigen Lichtpunkt zuerst, der langsam vor dem dunklen Hintergrund der nächtlich-dunklen Erdscheibe dahinzog. „Da vorn – auf halbem Wege zwischen Erdrand und Lichtgrenze!“ „Scheint nicht viel Fahrt zu machen“, meinte Edgar Kent. „Kommt uns aber trotzdem verdammt schnell näher“, sagte Fritz Wernicke besorgt. „Oder wir ihm“, korrigierte Jim Parker, „was aber praktisch aufs gleiche hinauskommt. Los, Kent, jetzt bremsen Sie, was das Zeug hält! Sonst gibt’s ’ne Karambolage.“ 11
„Festhalten! Zündung!“ Die Alarmklingeln schrillten in allen Räumen des Schiffes. Unter der Gewalt des Bremsschusses ächzte das Material, vibrierten die Wände. Die Besatzung kämpfte stöhnend gegen den Riesen„Andruck“, der ihre Leiber zu zerquetschen drohte. „Achtung! Wir stoßen zusammen!“ Irgend Jemand schrie es mit überschnappender Stimme. Vor den Fenstern der Steuerbordseite schoß etwas heran, ragte riesengroß auf – grell im Sonnenlicht gleißend, … … und glitt in Gedankenschnelle unter dem Raumschiff vorbei. Die Männer im Führerstand sahen sich an, blickten in bleiche, verzerrte Gesichter. Edgar Kent tastete nach dem Zündhebel und schaltete das Triebwerk aus. Die Rakete, die durch die Bremsung zum Stillstand gekommen war, fing wieder an, in Richtung zur Erde zu fallen. Der starke Andruck war absoluter Schwerelosigkeit gewichen. Ein Aufatmen ging durch die Besatzung. „Das ging um Haaresbreite“, stellte Jim Parker grimmig fest. „Gut gemacht, Kent!“ „Möchte wissen, was für ein kosmischer Sonderzug das war“, sagte der Raumschiffkommandant. „Im Kursbuch steht er jedenfalls nicht.“ Angestrengt spähte er dem entschwundenen Himmelskörper durch das Backbordfenster nach. Aber er konnte ihn nicht mehr erkennen, da der Körper dem Raumschiff jetzt seine unbeleuchtete Seite zukehrte. „Wir sind noch einmal davongekommen“, erklärte Fritz Wernicke gewichtig. „Darauf einen doppelten Whisky. Prost, Kameraden!“ *
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Als Edgar Kent am Abend dieses ereignisreichen Tages in der Kantine des Zentralflughafens saß und sein Erlebnis im Kreise der Kameraden zum besten gab, begegnete er allenthalben Spott und Unglauben. Ein alter Raumschiffkapitän, der die Mondroute befuhr, seitdem das S.A.T. seine erste Niederlassung auf dem Erdtrabanten gegründet hatte, klopfte Edgar väterlich auf die Schulter. „Sie sind überarbeitet, Kamerad, und sehen Gespenster. Was soll denn das für ein mysteriöser Körper sein, der in 30 000 km Höhe herumschwirrt? So was gibt es doch gar nicht.“ „Vielleicht ein Meteorit?“ warf ein sommersprossiger Bordingenieur ein. „Wir erlebten auf der letzten Venusfahrt solch einen Zusammenstoß, kamen aber mit einem Loch im Leitwerk davon.“ „Ach, Quatsch“, rief Edgar ärgerlich. „Das war kein Meteorstein. Das kam auf uns zu, wie eine Wand – riesengroß …“ „Sagtest du nicht, Fritz Wernicke wäre mit an Bord gewesen?“ kicherte ein kleiner, hagerer Weltraumpilot. „Da ist es bestimmt verdammt feuchtfröhlich bei euch zugegangen.“ „Rede keinen Mist, Wilton!“ Edgar wurde nun wirklich böse. „Der Kommodore war schließlich auch dabei. Und wenn du’s nicht glauben willst, dann frage doch meinen Radartechniker. Er hat das Ding als erster festgestellt.“ „Vielleicht ein Planetoid?“ mischte sich wieder ein anderer ein. „Das halte ich für ausgeschlossen“, erklärte Edgar bestimmt. Aber er sollte nicht mehr dazu kommen, seine Ansicht zu begründen; denn aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme: „Hallo, Kent – Ferngespräch für Sie. Bitte, kommen Sie an den Apparat!“ Eine unbekannte Stimme war es, die Edgar Kent vernahm, als er sich gleich darauf in der engen Telefonzelle meldete. Sie sprach ein perfektes Englisch, doch offenbar mit fremdländischem Akzent: 13
„Ist dort Mister Edgar Kent? Hier spricht Maine, M–A–I– N–E …“ „Maine? Kenne ich nicht. Offenbar falsch verbunden.“ „Aber nein, Mister Kent. Es hat alles seine Richtigkeit. Ich soll Ihnen herzliche Grüße bestellen. Raten Sie mal, von wem?“ „Rätselraten war nie meine starke Seite“, sagte Edgar ungeduldig. „Sie scheinen viel überflüssiges Geld für kostspielige Ferngespräche zu haben, mein Lieber. Von wo sprechen Sie überhaupt?“ „Ich befinde mich in El Paso, Mister Kent, und ich komme im Auftrag einer gewissen – Signorina Angelo …“ „Von Irene?“ brüllte Edgar freudestrahlend. „Hurra! Ja, Menschenskind, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wie geht es ihr? Was macht sie? Wann kommt sie endlich zurück aus dieser traurigen Eiswüste? So reden Sie doch schon, Mann, ich krepiere ja vor Ungeduld!“ „Langsam, langsam“, lachte der andere. „Vorläufig lassen Sie mich ja gar nicht zu Worte kommen mit Ihren tausend Fragen. Also, hören Sie: Ich habe Ihnen viel zu erzählen und viel zu bestellen, aber telefonisch geht das nicht. Das käme tatsächlich zu teuer. Wie wär’s, können Sie nicht auf einen Sprung nach El Paso ’rüberkommen? Ich muß zwar morgen nachmittag nach dem Osten weiterreisen, stehe Ihnen jedoch bis dahin zur Verfügung.“ Edgar überlegte blitzschnell. Seine H 11 sollte morgen gründlich überholt werden und brauchte erst in frühestens zwei Tagen wieder startbereit zu sein. Zeit genug hätte er, und sein Chef würde gewiß mit sich reden lassen. „Gut, Sir“, erklärte er kurz entschlossen. „Ich komme mit dem fahrplanmäßigen Flugzeug von Phoenix, das gegen acht Uhr früh eintrifft.“ „Ich hole Sie am Flugplatz ab, Mister Kent. Mit einem schwefelgelben Ford. Wünsche eine angenehme Heise.“ Mister Maine hatte eingehängt. Edgar Kent holte Mütze und 14
Mantel und eilte zum Kommando der Mond-Transportschiffe, um sich „zur Regelung dringender Familienangelegenheiten“ einen Sonderurlaub geben zu lassen. Erst jetzt kam ihm das Sonderbare der ganzen Geschichte zum Bewußtsein. Wer war dieser Mister Maine, und was hatte er mit Irene zu tun? Sie hatte ihn in keinem ihrer Briefe erwähnt. Was mochte es sein, das Mister Maine zu bestellen hatte? Nun, in weniger als zwölf Stunden würde er es bereits wissen. * „War ’ne ziemliche Schnapsidee vom Boß, uns in die öden Wüsten von New Mexico zu verbannen“, sagte Fritz Wernicke weinerlich und sah mitleidheischend zu dem Kommodore hinüber, der ihm gegenüber in den Polstern lehnte. Sie saßen im Passagierraum des großen DüsenPassagierflugzeugs, das sie von Orion-City nach El Paso bringen sollte. Von dort war es nicht mehr weit bis zu dem großen Raketenversuchsfeld White Sands in New Mexico, auf dem zur Zeit die Erprobung einer Schubrakete von bislang unerreichten Dimensionen lief. Ted S. Cunningham, der Generaldirektor des Staatlichen Atom-Territoriums, hatte seine beiden tüchtigsten Weltraumpiloten entsandt, um den Versuchen als Sachverständige beizuwohnen. „Schätze, auch in den ‚öden Wüsten von New Mexico’ wird es sich ganz gut leben lassen“, lächelte Jim Parker, „wenigstens für ein paar Tage. Und nebenbei werden die Jungens in White Sands gewiß etwas Anständiges zu trinken haben.“ Die Miene des kleinen Steuermanns hellte sich sichtbar auf. „Oh, Jim, das möchte ich ihnen auch geraten haben. Apropos ‚Trinken’: Wie wär’s mit einer kleinen Stippvisite in der Bar, großer Häuptling?“ 15
„So, wie ich dich kenne, Whiskytöter, würde aus dieser Stippvisite unfehlbar eine Dauersitzung – wenn wir nicht ohnehin bald in El Paso landen würden“, sagte Jim ernsthaft. „Also komm, old fellow!“ Am Eingang zur kleinen Bar des komfortabel eingerichteten Stratokreuzers blieben die beiden Freunde wie angewurzelt stehen. „All devils!“ rief Fritz Wernicke ungläubig. „Ist das nicht …“ „Edgar Kent“, sagte der Kommodore und schüttelte dem Jungen Weltraumpiloten, der – nicht minder überrascht – von seinem Hocker herunterrutschte, die Hand. „Das ist ja ein unverhofftes Wiedersehen. Wollen Sie etwa auch nach den White Sands?“ Während Fritz Wernicke sich bereits am dritten Gin pur labte, erzählte Kent in großen Zügen von den Gründen, die ihn zu seiner plötzlichen Reise nach El Paso veranlaßt hatten. Jim Parker hörte nur mit halbem Ohr zu. Doch irgend etwas kam ihm an dieser Sache sonderbar vor. Sein Unterbewußtsein machte sich unauffällig Notizen. Gerade wollte er eine Frage stellen, als der Flugzeugführer die Passagiere durch die Lautsprecheranlage aufforderte, ihre Plätze einzunehmen. Der große Vogel setzte zur Landung an. Tief unter ihnen dehnte sich der Flughafen von El Paso in der Morgensonne. Man war am Ziel. Nach kurzem Abschied von ihrem Kameraden schritten die beiden Freunde zum Gelände der Funkleitung hinüber, um sich nach dem Sonderflugzeug zu erkundigen, das sie nach den White Sands bringen sollte. Sie wollten gerade eintreten, als Wernicke den Kommodore am Arm faßte und mit einer Kopfbewegung über den Zaun deutete, der den Flugplatz gegen die Außenwelt abgrenzte. „He, Jim! Verdammt komfortabler Wagen, mit dem der gute Kent da abgeholt wird.“ 16
Jim Parker stutzte. Dieser schlanke, dunkelhaarige junge Mann mit den leicht asiatischen Zügen, der mit vollendeter Höflichkeit den Hut vor Edgar Kent zog und den Weltraumpiloten in den alten gelben Ford hineinkomplimentierte – das war also der Mister Maine, von dessen etwas geheimnisvollem Anliegen der Kommodore kurz zuvor, im Barraum des Stratokreuzers, gehört hatte. Hm – die Sache kam ihm irgendwie nicht ganz geheuer vor. Der Fremde gab dem Fahrer, einem verwildert aussehenden Cowboy, ein Zeichen. Klappernd setzte sich die gelbe Karre in Bewegung und verschwand in einer Wolke von Qualm und Staub – westwärts, dem Rio Grande und der Grenze von New Mexico entgegen. Parker und Wernicke wechselten einen raschen Blick. Sie machten kehrt und traten an den Zaun, um dem entschwindenden Vehikel nachzuschauen … „Hallo, Tommy!“ rief Jim Parker und winkte einen halbwüchsigen Negerjungen heran, der unweit am Zaun lehnte und ebenfalls dem gelben Ford nachsah. „Kennst du zufällig die Gentlemen in dem alten Klapperkasten da vorn?“ Einladend ließ er ein paar Geldstücke in der Rechten klimpern. „Ich nicht heißen Tommy“, sagte der Schwarze. „Ich heißen Jim – so, wie große Kommodore – oh, oh …“ Er hatte Jim Parker, den er wie einen Halbgott verehrte, erkannt und riß entgeistert die Augen auf. Jim drückte ihm die Münzen in die Hand und fuhr fort: „Also, Jim heißt du. Das freut mich. Nun, willst du uns helfen?“ „Oh, Jim gern helfen großes Kommodore. Was Jim sollen tun?“ „Erzähle uns doch mal, wem der gelbe Kasten gehört, der hier gerade. .“ „Der gehören nach Red Snake Ranch – drüben, in New Mexico. Massa von Red Snake Ranch sehr böse Mann. Jim noch mehr wissen …“ 17
„So, das ist ja fein, Jim.“ Mit einem Satz war der Kommodore über den Zaun, augenblicklich gefolgt von dem tatenhungrigen Wernicke. „Und nun erzähle uns mal alles, was du weißt.“ * So ganz geheuer war dem guten Edgar Kent diese Geschichte von Anfang an nicht vorgekommen. Schon als sie den Rio Grande hinter sich gelassen hatten und auf einem „Weg“, der diesen ehrenvollen Namen gar nicht verdiente, einem geheimnisvollen Ziel entgegenschaukelten, hatte er immer wieder versucht, seinen Begleiter zum Reden zu bringen. „So sagen Sie es mir doch schon, Mister Maine, was ist es denn, das Miß Angelo mir ausrichten läßt? So sprechen Sie doch schon …“ Aber stets hatte der schweigsame Mister Maine nur gelächelt und bedeutungsvoll gesagt: „Später – nur noch ein klein wenig Geduld, dann werden Sie alles erfahren.“ Schließlich hatte Edgar sich seufzend in sein Schicksal ergeben. Und während das furchtbar rumpelnde Vehikel ihm systematisch alle Knochen durcheinander rüttelte, gaukelte ihm die Phantasie seltsame Wunschgebilde vor. Er sah den Wagen im Geist vor einem feudalen Ranchhaus halten. Eine prächtige weiße Veranda rahmte die Vorderfront des Gebäudes ein, und auf dieser Veranda saß unter einem großen Sonnenschirm eine sommerlich gekleidete Frauengestalt. Jetzt erhob sie sich und trat an die hölzerne Brüstung. Es war … „Irene!“ Verdutzt fuhr Edgar hoch und riß die Augen weit auf. Die Gestalt des jungen Mädchens war verschwunden. Er blickte verständnislos in das lächelnde Gesicht Mister Maines und sah sich im Kreise um. Auch das feudale Ranchhaus war nicht mehr da. Nur ein paar elende, halb verfallene Buden, hinter denen 18
sich dürftige Korrale mit schadhaften Zäunen erstreckten, standen staubbedeckt in der Gegend herum. „Sie haben geschlafen, Mister Kent.“, lächelte Maine verbindlich. „Es war das Vernünftigste, was Sie tun konnten. Die Landschaft hier ist wirklich alles andere als reizvoll. Doch nun sind wir am Ziel.“ Edgar Kent fand nur schwer in die Wirklichkeit zurück. „Das hier …“, stotterte er verständnislos. „… ist die Red Snake Ranch“, erwiderte Mister Maine höflich. „Darf ich Sie bitten auszusteigen? Wir werden bereits erwartet.“ Noch halb benommen labte sich Edgar an den Erfrischungen, die ihm und seinem Begleiter in einem ebenerdigen Raum der größten unter den Bretterbuden von einer alten und offenbar tauben Negerin vorgesetzt wurden. Doch schließlich riß ihm der Geduldsfaden. Ärgerlich schob er das Limonadenglas zurück und wandte sich seinem Tischgenossen zu: „Nun rücken Sie endlich mit der Sprache ’raus, Mister Maine. Was soll dieses ganze Affentheater hier? Haben Sie diese ‚Fahrt ins Blaue’ eigens inszeniert, um mir Grüße von Miß Angelo zu überbringen? Dahinter steckt doch irgend etwas anderes – kommen Sie doch endlich zur Sache!“ „Mit dem größten Vergnügen“, beeilte sich Mister Maine zu versichern. Und dann wurde er äußerst redselig. Als er nach einer halben Stunde geendet hatte, wußte Edgar Kent zwar auch nicht mehr über Irene, als ihm aus ihren Briefen längst bekannt war, aber dafür hatte er eine offizielle Einladung nach Krasnograd erhalten, das er bislang nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte; denn der Briefwechsel mit Irene lief stets über eine Deckadresse. Die Bedingungen lauteten günstig – geradezu verdächtig verheißungsvoll, und die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen mit Irene war verlockend. Doch dann kam es dem jungen Weltraumpiloten zum Bewußtsein, auf welch plumpe 19
Art man ihn übertölpeln wollte, und eine maßlose Wut packte ihn. Edgar Kent stand so heftig auf, daß der Stuhl krachend umstürzte. Mit geballten Fäusten und weißem Gesicht fuhr er den überraschten Maine an: „Das haben Sie sich fein ausgedacht. Sir. Darum also diese Geheimnistuerei. Möchte nur wissen, wie ausgerechnet ich zu der Ehre komme.“ „Das ist leicht gesagt“, lächelte Maine. „Es ist uns bekannt, daß Sie seinerzeit beim Bau der Weltraumstation ‚Luna nova’ mitgemacht und als Kommandant einer Zubringerrakete außergewöhnliche navigatorische Geschicklichkeit bewiesen haben. Sie sind genau der Mann, den wir für das Projekt ‚Iltis’ brauchen.“ „Wirklich zu liebenswürdig“, verbeugte sich Edgar ironisch. „Dennoch muß ich Sie und Ihre Auftraggeber leider enttäuschen, Mister Maine. Ich habe keineswegs die Absicht, auf Ihr schmeichelhaftes Anerbieten einzugehen.“ „Oh“, machte Mister Maine gedehnt, „das bedauere ich außerordentlich. Aber Sie werden es sich ganz gewiß noch anders überlegen. Ich gebe Ihnen gern Bedenkzeit bis heute abend – sagen wir: bis neun Uhr.“ „Geben Sie sich bitte keine Mühe“, antwortete Edgar unfreundlich. „Und jetzt lassen Sie mich nach El Paso zurückbringen. Ich darf das Flugzeug um 17.30 Uhr nicht verpassen. Mein Dienst in Orion-City beginnt um Mitternacht.“ Mister Maine räusperte sich. „Ahem – Mister Kent, Sie sind sich doch hoffentlich klar darüber, daß ich Sie auf keinen Fall nach Orion-City zurückkehren lassen kann. Sie wissen bereits viel zu viel. Ihr Weg führt nach Krasnograd. Ob freiwillig oder unfreiwillig – das liegt ganz bei Ihnen.“ Edgar hatte ohne weitere Worte den Raum verlassen wollen. Aber an der Tür standen plötzlich zwei verwegen aussehende Cowboys, die Hände lässig an die Kolben der Revolver gelegt. 20
Da hatte er begriffen, daß er in der Falle saß, daß jeder Widerstand zwecklos sein würde. – Im matten Licht des zunehmenden Mondes, das durch das vergitterte Fenster in den Raum fiel, las Edgar seine Armbanduhr ab. „Zehn Minuten vor neun!“ Er hatte den Nachmittag auf der alten, abgenutzten Couch verträumt und war wohl schließlich eingeschlafen. Noch zehn Minuten – dann würde man ihn holen und ihn vermutlich über die nahe mexikanische Grenze schaffen. Es würde der Anfang einer langen, abenteuerlichen Reise sein. An ihrem Ende war dieses geheimnisvolle Krasnograd – und vielleicht Irene … Er fuhr aus seinen Träumen auf, als Mister Maine in Begleitung eines vierschrötigen bärtigen Mannes, der eine Petroleumlampe trug, das Zimmer betrat. Maine stellte seinen Begleiter als „Mister Delano“, den Besitzer der Red Snake Ranch, vor und forderte Edgar auf, ihm zu folgen. Überzeugt, daß jeder Widerstand vergeblich sei. erhob sich der junge Mann und gehorchte achselzuckend. Auf dem Hof, der im schwachen Licht des Mondes lag, stand bereits der alte Ford mit abgeblendeten Lichtern. Edgar mußte neben Mister Delano im Fond des Wagens Platz nehmen. Maine setzte sich neben den ruppigen Cowboy, der wieder das Steuer führte. Der Wagen war gerade angefahren, als der Knall von Schüssen durch das Motorengeräusch peitschte. Scheinwerfer flammten auf. Der öde Platz war plötzlich von Gestalten erfüllt, die mit raschen Sprüngen auf das Ranchhaus zueilten. Instinktiv gab der Fahrer Gas. Er steuerte den Wagen mitten in die heranströmenden Männer hinein, die links und rechts zur Seite sprangen. Nur ein einziger schnellte sich vor, landete neben Mister Maine auf dem Trittbrett, krallte sich an der Tür fest … „Vorsicht, Kommodore!“ schrie jemand hinterher. Der Kommodore! In Edgars Seele frohlockte es. Jim Parker 21
war gekommen, um ihn zu befreien. Jetzt sollten sie sich nur in acht nehmen, diese komischen Schießbudenfiguren! Edgar Kent stemmte sich hoch und warf sich so ungestüm auf den neben ihm sitzenden Delano, daß dessen Revolver im Bogen aus dem Wagen flog. Unter der Wucht dieses Ansturms verlor der Rancher das Gleichgewicht und kippte über den Wagenrand. Im Fallen riß er seinen Angreifer mit. Schwer schlugen die beiden Körper in den Wüstensand, überschlugen sich noch ein paarmal und blieben dann regungslos liegen. Jim Parker, der vom Trittbrett aus Mister Maine in Schach zu halten suchte, wandte sich für die Dauer eines einzigen Augenblicks nach den Hinausgestürzten um. Doch sein Gegner hatte die Chance wahrgenommen. Der Kommodore erhielt einen Stoß in die Magengegend, daß er zusammenknickte. Er verlor den Halt und schlug hart auf. Tiefe Finsternis umfing seine Sinne … * „Oh, Sie Riesenmondkalb erster Klasse“, rief Ted S. Cunningham, der dicke Generaldirektor des S.A.T., händeringend, als er den Bericht seines Raumschiffkommodores entgegengenommen hatte. „Da hatten Sie alles so prächtig eingefädelt, die Ranch war von allen Seiten von Grenzpolizei umstellt, keine Maus hätte nach menschlichem Ermessen entwischen können, und Sie – Sie Unglücksrabe, lassen sich k. o. schlagen und lassen den wichtigsten Mann laufen. Was hätte der Kerl uns alles erzählen können, wenn …“ „Sorry“, unterbrach Jim Parker den Redestrom seines Chefs und grinste verlegen. „Ich möchte mich am liebsten selbst ohrfeigen, aber das brächte uns diesen geheimnisvollen Mister Maine auch nicht zurück.“ „Möchte übrigens wetten, daß ‚Maine’ gar nicht sein wirkli22
cher werter Name ist“, bemerkte Fritz Wernicke und hob sein Glas. „Prost, Gentlemen!“ „Sie merken wieder mal fast alles“, grunzte der dicke Atomboß unwillig. „Sagen Sie, Mortimer, was haben die polizeilichen Ermittlungen bisher ergeben?“ Die vier Herren saßen um den runden Tisch im Arbeitszimmer des Generaldirektors im Hauptverwaltungsgebäude des S.A.T. in Orion-City. Durch die halbgeöffneten Fenster drang aus der Ferne der vielstimmige Lärm der großen Forschungsstadt herein. „Tja“, machte der lange, hagere Sicherheitschef und drehte mit gewandten Fingern eine seiner mit Recht so gefürchteten Zigaretten. „Die Hauptfigur ist uns ja leider durch die Lappen gegangen. Kradfahrer und berittene Grenzpolizei konnten die Spur des gelben Ford noch drei Meilen weit südwärts verfolgen. Leider begann an dieser Stelle unser schönes Nachbarland Mexiko, und unsere Leute mußten wohl oder übel umkehren.“ „Hat man denn nicht sofort die nötigen Fahndungen in die Wege geleitet?“ fragte Cunningham. „Selbstverständlich. Durch Vermittlung der Weltpolizei wurde der gesamte mexikanische Polizeiapparat mobil gemacht. Aber bis dahin war kostbare Zeit vergangen, und unser Vogel war längst davongeflogen. Immerhin – die Geschichte war auch ohnedies sehr lohnend.“ „Sie meinen – wegen dieser Red Snake Ranch?“ „Allerdings“, bestätigte Oberstleutnant Mortimer grimmig und stieß eine Wolke übelduftenden Zigarettenqualms aus. „Diese vermaledeite Bruchbude war eines jener Löcher in der Mauer unseres Abwehrsystems, durch das seit Jahr und Tag geheime Agenten herein- und Spionagematerial hinausgeschleust werden. Dieser alte Gauner Delano und seine Halunken haben mehr auf dem Kerbholz als sie jemals absitzen können. Höchste Zeit, daß ihnen der Betrieb geschlossen wurde.“ 23
„Und außerdem“, meinte Jim Parker nachdenklich, „haben wir ja noch die Aussage unseres Freundes Kent. Sie erlaubt uns einen interessanten Einblick in die Absichten unserer ‚Konkurrenz’ …“ „Sofern nicht alles Bluff ist“, knurrte der Atomboß. „Das glaube ich nicht“, versicherte Mortimer mit Nachdruck. „Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß die Geschichte Wort für Wort stimmt.“ „Wir haben nie davon gehört, daß diese Herrschaften sich auch für Raumschiffahrt interessieren“, meinte Cunningham. „Das war unser eigenes Pech. Mich wundert es jedenfalls nicht, daß dort drüben ähnliche Pläne wie bei uns verfolgt werden. Und jetzt haben wir die eindeutige Bestätigung dafür.“ Minutenlang herrschte Schweigen. Dämmerung erfüllte den Raum. Nur hin und wieder huschte der Scheinwerferstrahl eines Autos über die Wände, das draußen am Rande des Zentralparks vorbeifuhr. „Nun“, ließ sich endlich die Stimme des Kommodores vernehmen, „wenn dem so ist, dann dürften wir wohl demnächst Besuch auf ‚Luna nova’ bekommen.“ „All devils!“ Der dicke Atomboß schoß förmlich von seinem Sitz in die Höhe. „Unsere Außenstation – sie ist in größter Gefahr. Mortimer, Menschenskind, reden Sie doch! Was kann man da tun? So unternehmen Sie doch schon irgend etwas!“ „Langsam, Boß, langsam“, beschwichtigte der lange Oberstleutnant den aufgeregten Generaldirektor, aber auch seine Stimme klang sehr ernst. „Noch ist es ja gar nicht so weit. Und wenn eines Tages ein fremdes Raumschiff ‚Luna nova’ anläuft, dann kann es ebensogut auch in friedlicher Absicht geschehen.“ „Oder auch nicht, Mortimer“, ereiferte sich Cunningham. „Nun, in diesem Falle würden die ungebetenen Gäste bitterböse Erfahrungen machen.“ Der Sicherheitschef erhob sich zu seiner ganzen, respekteinflößenden Länge. „Auf jeden Fall 24
werden wir auf der Hut sein. Noch heute nacht werde ich Captain Howard mit einem Sonderkommando von dreißig Mann zur Außenstation abkommandieren.“ * Inzwischen ging in Krasnograd das Projekt „Iltis“ mit Riesenschritten seiner Vollendung entgegen. Professor Angelo hätte in diesen Wochen keinen Grund mehr gehabt, sich über die Nutzlosigkeit seiner Arbeit zu beklagen. Im Verein mit seinen Mitarbeitern schuftete er fast pausenlos – und man sah jetzt wenigstens auch, was man schaffte. Tag und Nacht rollten die Transportkolonnen, die Material und Apparaturen aller Art nach Krasnograd brachten, und in der rasch vergrößerten Montagehalle wuchsen die Weltraumraketen zusehends und nahmen mehr und mehr Gestalt an: die mächtige „A 1“, die als Kern für die Weltraumstation gedacht war, und die kleineren Raketen „A 01“ bis „A 09“. Aber auch dieses ständige Eingespanntsein, dieses Arbeiten bis zur Erschöpfung, konnte die drückenden Sorgen nicht verdrängen, die Professor Angelo quälten. Die Last der Verantwortung schien fast unerträglich für ihn zu werden. Gewiß, auf dem Papier sah das alles klar und einfach aus. Die Rechnung ging auf. Aber in Wirklichkeit … „In Wirklichkeit ist und bleibt es eine Rechnung mit tausend Unbekannten“, sagte er eines Abends zu seiner Tochter, als sie ihm das Abendbrot auf seinem Schreibtisch servierte. „Es fehlt uns jegliche praktische Erfahrung.“ „Aber Papa“, sagte Irene erstaunt. „Ich dachte, die Sache ginge hundertprozentig klar? Doktor Uralski war vollkommen siegesgewiß. Er erzählte mir vorhin …“ „Irene“, sagte der Professor ernst und legte den Arm um die Schulter seiner Tochter, „Doktor Uralski ist ein tüchtiger Inge25
nieur. Aber in diesem einen Punkt ist für ihn der Wunsch der Vater des Gedankens. Sein Ehrgeiz geht mit ihm durch, er verleitet ihn zu einem gefährlichen Optimismus. Und überhaupt …“ „Was, Papa?“ fragte Irene und sah ihren Vater lächelnd an, als er verlegen schwieg. „Es will mir nicht so recht gefallen, Kind, daß ihr so viel zusammen seid. Ich fürchte, er würde für dich eines Tages doch eine Enttäuschung sein und …“ Irenes klingendes Lachen ließ ihn abermals verstummen. „Aber wo denkst du hin, Papa? Ich empfinde nicht so viel für den guten Fedor.“ Wegwerfend schnippte sie mit den Fingern. „Er bedeutet mir nicht mehr als ein kluger und angenehmer Gesellschafter in dieser Einsamkeit, und sonst gar nichts. Nein, Papa, du weißt doch – ich erzählte dir schon oft von Edgar …“ „Dann bin ich beruhigt, Kind“, sagte Angelo aufatmend. Und er hatte wahrhaftig allen Grund, so zu sprechen; denn der Seitensprung seines Assistenten, der in der Maske eines harmlosen „Mister Maine“ den mißglückten Versuch unternommen hatte, Edgar Kent zu entführen, war auf Umwegen auch ihm bekanntgeworden und hatte tiefste Entrüstung bei ihm ausgelöst. Irene verabschiedete sich, als Oberst Wladimir erschien und sich mit ungemein dienstlichem Gesicht an ihren Vater wandte. „Guten Abend, Professor! Um gleich zum Zweck meines Besuchs zu kommen: Wie weit sind Sie mit dem Projekt ‚Iltis’? Das Ministerium verlangt, daß der Start der ‚A 1’ um vierzehn Tage vorverlegt wird.“ „Um vierzehn Tage? Das ist unmöglich, Herr Oberst. Der ursprünglich vorgesehene Termin ist – wie Sie wissen – schon reichlich knapp bemessen.“ Oberst Wladimir hob die Schultern. „Ich weiß, Professor, ich weiß. Aber was nützt uns das schon? Das Ministerium befürchtet mit Recht, daß durch das mißglückte Abenteuer eines gewissen jungen Mannes – äh, Sie verstehen schon – die Aufmerk26
samkeit ausländischer Kreise in höchst unwillkommener Weise auf unser Projekt gelenkt worden sei. Verschiedene Beobachtungen deuten darauf hin, daß man Gegenmaßnahmen in Erwägung zieht, um unsere Pläne zu vereiteln. Dem müssen wir zuvorkommen. Der Tag X sollte ursprünglich …“ „… der 20. November sein“, warf der Gelehrte trocken ein. „Sehr richtig, und nun ist es eben der 6. November. Der Befehl ist unabänderlich. Wir müssen es schaffen, Professor.“ Professor Angelo trat ans Fenster und blickte lange hinaus. Trotz der späten Stunde war das sonst so öde Feld von lebhaftem Treiben erfüllt. Im Schein der Bogenlampen hasteten Arbeiter hin und her. Ein schwerer Lastwagen mit zwei Anhängern rumpelte der Montagehalle zu, deren Fenster in grellem Licht erstrahlten und aus der das Knattern der Niethämmer herüberdröhnte. Der Gelehrte wandte sich ins Zimmer zurück. „Seit Wochen und Monaten arbeiten wir ununterbrochen in drei Schichten, Tag und Nacht. Jeder Mann ist bis zum Äußersten seiner Kraft ausgelastet. Mehr können wir nicht leisten, Herr Oberst.“ Der Kommandeur nickte trübe. „Sie haben natürlich recht, Professor, aber das Ministerium würde kein Verständnis dafür aufbringen. Ich will versuchen, Ihnen zusätzliche Arbeitskräfte zu beschaffen. Die Materiallieferungen sollen beschleunigt werden. Ich werde tun, was ich kann, nur – halten Sie den Termin ein!“ Professor Angelo seufzte. „Also am 6. November. Wir werden unser möglichstes tun.“ * Oberstleutnant Mortimer hatte die Angelegenheit nicht auf die leichte Schulter genommen. Er war auf der Hut. Wer konnte wissen, was für Pläne die geheimnisvolle Konkurrenz ausbrütete? Die Weltraumstation „Luna nova“ war das wichtigste Glied in 27
der gesamten Raumfahrtorganisation des S.A.T. Hier liefen alle Fäden zusammen. Sie war der kosmische Umsteigebahnhof für die Fahrt zu den Kolonien auf dem fernen Planeten Venus. Jeder Vorstoß in die Tiefen des interplanetarischen Raumes nahm auf „Luna nova“ feinen Anfang. Ja, ohne die Außenstation gäbe es praktisch keine Weltraumfahrt. Aber „Luna nova“ war zugleich auch das am meisten gefährdete Glied in dieser Kette großer technischer Projekte, und es galt, die Station doppelt und dreifach zu schützen. Diesmal waren es nicht kosmische Gefahren, die ihr drohten, wie Meteorsteine und vernichtende Strahlungen. Die Gefahr hatte ihren Ursprung auf der Erde, und Mortimer war entschlossen, ihr zu begegnen. Im Auftrage des Sicherheitschefs war Captain Howard mit dreißig auserwählten und schwerbewaffneten Männern in einem Kurierschiff nach „Luna nova“ gestartet. Ihm folgte drei Tage später Leutnant Turner mit weiteren zwanzig Mann und den modernsten Atomwaffen. Nach menschlichem Ermessen war nunmehr alles getan worden, um jeden Versuch eines Überfalls auf die Station schon im Keim zu ersticken. Der erwartete Anschlag blieb aus. Monat um Monat ging dahin, ohne daß sich auch nur das geringste ereignete. Doch Mortimers Schutztruppe wurde nicht zurückgezogen, und Henri Lasalle, der Kommandant der Außenstation, überzeugte sich täglich höchstpersönlich davon, daß die Wachsamkeit der Sicherheitsmänner nicht ermüdete. Es war an einem Abend im Oktober, als der kleine Franzose auf seinem Kontrollgang durch die Station in den Raum für Erdbeobachtungen trat und die beiden Wachposten mit gespanntester Aufmerksamkeit durch eines der großen Fenster Ausschau halten sah. „Hallo, Messieurs, was ist denn los? Kommen unsere ungebetenen Besucher nun doch noch?“ 28
„Hol’ mich der Teufel, wenn ich weiß, was für ein Ding das ist“, knurrte Leutnant Turner und reichte Lasalle den Feldstecher. „Sehen Sie doch – dort drüben, knapp über dem Dunstkreis am Erdrand.“ Henri Lasalle sah zuerst gar nichts. Doch dann hatte er es im Blickfeld … „Sacré nom d’un chien!“ Ein winziger flackernder Körper zog dort in großer Höhe vor dem dunklen Himmelshintergrund dahin. War es ein Himmelskörper – ein künstliches Gebilde von Menschenhand? Die Form ließ sich nicht eindeutig erkennen. Schon war der flinke Franzose am Telefon und rief das astronomische Observatorium der Station an: „Rätselhaftes Objekt nahe über dem Ostrand der Erde, zehn Grad nördlich des Äquators. Verwenden Sie stärkste Optik!“ Doch ehe der diensttuende Beobachter den merkwürdigen Körper im Sucher seines Refraktors hatte, war dieser schon hinter den trüben Schichten der irdischen Lufthülle untergetaucht. Als Henri Lasalle später im Kreise einiger Raumschiffkapitäne, deren Schiffe die Station angelaufen hatten, von seiner Beobachtung erzählte, sprang einer von ihnen, Edgar Kent, erregt auf. „Wie groß war der Abstand des Körpers von der Erde, Sir?“ „Das ist schwer zu sagen“, überlegte Lasalle. „Ich schätze, so etwa 20 bis 30 000 Kilometer.“ „Also doch!“ rief Kent. „Dann ist es dasselbe Ding, mit dem ich damals im Frühjahr um ein Haar zusammengerasselt wäre – damals, als ich noch auf der Mondroute fuhr.“ Betroffen sahen sich die übrigen Raumschiffpiloten an. *
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Der Morgen des 6. November war angebrochen – ein Morgen, wie jeder andere, in allen Ländern der Erde, über denen die Sonne schien, gingen die Menschen ihren gewohnten Beschäftigungen nach. Nichts deutete darauf hin, daß gerade heute ein besonderes Ereignis eintreten sollte. Niemand ahnte etwas davon – mit Ausnahme jener Männer in Krasnograd, die in vielmonatigem, rastlosem Schaffen dieses Ereignis vorbereitet hatten, und einiger weniger Eingeweihter in den höchsten Stellen der Regierung. Bereits in aller Frühe hatten sich in Krasnograd die Tore der großen Montagehalle geöffnet. Von starken Schleppern gezogen, war das riesige Weltraumschiff „A 1“ auf mehrrädrigen Schienenwagen langsam zum Startplatz gerollt. Da stand es nun, ein Kilometer von den Werkanlagen entfernt, und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Ursprünglich war der Start auf 12 Uhr mittags festgesetzt worden. Aber es wurde Nachmittag und es wurde Abend, ehe die Vorbereitungen zum Abschluß kamen. Irene bekam ihren Vater in diesen Stunden nur hin und wieder flüchtig zu sehen, obwohl sie unablässig und besorgt nach ihm Ausschau hielt. Professor Angelo wirkte alt und verfallen. Nur hin und wieder geisterte eine fiebrige Röte über sein graues Gesicht. 30
In Begleitung von Oberst Wladimir und zwei hohen Regierungsvertretern ging der Professor mit hastigen, nervösen Schritten am Rande des Startplatzes auf und ab. Es war bereits 19.30 Uhr, als Doktor Uralski plötzlich vor ihm stand und das Raumschiff „A 1“ startklar meldete. In den Zügen des jungen Assistenten stand eine Mischung von Erschöpfung und Fanatismus, die ihm einen ganz neuen, fremdartigen Ausdruck verlieh. Angelo bemerkte es mit Unbehagen. „Es gibt nicht mehr viel zu sagen, Uralski“, begann er und reichte seinem Mitarbeiter die Hand. „Wir haben alle Möglichkeiten bis in die letzten Einzelheiten wieder und wieder durchgesprochen. Nach menschlichem Ermessen wurde alles einkalkuliert, was nur irgendwie schiefgehen könnte. Der Start selbst und das Einlenken in die Kreisbahn in 1730 Kilometer Höhe dürften keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Das eigentliche Problem beginnt erst, wenn die nächsten neun Raketen eintreffen. Gehen Sie dann mit äußerster Behutsamkeit vor, Uralski. Sie werden bei diesem Manöver ganz auf sich allein gestellt sein. Nur Ihre eigene Geschicklichkeit kann …“ „Ich werde es schon schaffen“, erklärte der Assistent zuversichtlich, und wieder trat ein fanatischer Glanz in seine Augen. „Meine Herren, wenn Sie Herrn Direktor Uralski noch etwas zu sagen wünschen …“, wandte sich Angelo an seine Begleiter. „Nein, nein“, wehrte Oberst Wladimir ungeduldig ab. „Es ist spät genug geworden. Leben Sie wohl, Uralski, und machen Sie Ihre Sache gut.“ Er schüttelte dem jungen Mann die Hand und griff grüßend an die Mütze. Auch die beiden Regierungsvertreter verabschiedeten sich und grinsten verbindlich. Es war genau 20 Uhr, als das mächtige, gedrungene Weltraumschiff, das den Kern der neuen Außenstation bilden sollte, mit brausenden Düsen empor zum Himmel schoß. 31
* Im Hauptverwaltungsgebäude des Staatlichen Atom-Territoriums zu Orion-City ging es zu wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Zwar hatte man schon seit Monaten auf diese Meldung gewartet, doch jetzt, da das Ereignis endlich eingetreten war, wirkte es wahrhaft alarmierend. „Zum Teufel! Was ist denn nun eigentlich los?“ wetterte der dicke Atomboß und stemmte seine Massen hinter dem Schreibtisch hoch, als der Chef des Sicherheitsdienstes seinen Arbeitsraum betrat. „Nette Überraschungen sind das, die einem am frühen Morgen, auf nüchternen Magen, beschert werden, Mortimer.“ Der Lange konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sorry – hätte ich gewußt, Boß, daß Sie noch nicht gefrühstückt hatten …“ „Aufhören!“ brüllte Cunningham und ließ die fleischige Faust krachend auf die Tischplatte fallen. „Vielleicht ist unsere Außenstation in diesem Augenblick bereits erobert – zerstört – vernichtet – und wer weiß, was sonst noch alles! Wollen Sie mir nicht gefälligst sagen …“ „Ich will ja schon“, unterbrach Mortimer den Tobenden, „aber Sie lassen mich gar nicht zu Wort kommen.“ Er ließ sich in einen der schweren, bequemen Ledersessel fallen und streckte die langen Beine weit von sich. „Also, Boß, die Sache ist folgendermaßen: Heute früh, 9.12 Uhr Mountain-Time, meldete die Zubringerrakete H 18, sie sei bei Rückkehr vom Mond in 1000 Kilometer Höhe einem großen Stufenraumschiff unbekannter Nationalität begegnet, das am Bug lediglich die Bezeichnung ‚A 1’ trug. Das Schiff habe auf Anruf über S.A.T.-Welle nicht geantwortet.“ „Hm. Und weiter?“ „Genau 18 Minuten später stellte die Radarstation von ‚Luna 32
nova’ einen unbekannten Körper innerhalb der Kreisbahn der Station fest, der sich schnell näherte. Das Observatorium der Außenstation stellte ein Raumschiff ungewöhnlich großer Dimensionen fest, von einem Typ, wie er beim S.A.T. heute nicht mehr gebräuchlich ist.“ „Offenbar diese geheimnisvolle Rakete ‚A 1’?“ „Allerdings. Lasalle setzte die Station sofort in Alarmzustand. Alles rechnete mit einem Angriff. Aber das fremde Raumschiff überholte ‚Luna nova’ in geringem Abstand und blieb weiter im gleichen Abstand von der Erde, offenbar bemüht, seine Bahngeschwindigkeit durch Bremsschüsse zu verringern.“ „Und es ist tatsächlich nichts passiert?“ wunderte sich Cunningham. „Nicht das geringste, Boß. Lasalle versuchte, mit dem Schiff in Funkverkehr zu treten, doch bekam er keine Antwort. Andererseits zeigte das fremde Raumschiff keinerlei feindselige Absichten …“ „Das kann Verstellung sein“, ereiferte sich der Atomboß. „Ganz bestimmt verfolgen diese Kerle irgendeine üble Absicht. Sie wollen die Aufmerksamkeit der Besatzung von ‚Luna nova’ einschläfern, um die Station eines Tages kurzerhand zu überrumpeln.“ „Sie sehen bestimmt zu schwarz, Boß“, meinte Mortimer zweifelnd. „Unsere Leute sind auf der Hut. Die Aufregung, die hier bei uns herrscht, dürfte ziemlich unbegründet sein.“ „Ihre Sorglosigkeit in Ehren“, grunzte Cunningham und griff zum Telefonhörer. „Was mich betrifft, so werde ich nicht eher Ruhe haben, als bis ich Jim Parker an Ort und Stelle weiß.“ *
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Jim Parker saß gerade im behaglichen Wohnzimmer seines Bungalows mit Fritz Wernicke am Frühstückstisch, als das Telefon nebenan im Arbeitszimmer Sturm läutete. Elastisch sprang der Kommodore auf und eilte in den Nebenraum. Der kleine Wernicke ließ sich indessen nicht stören. Mit vollen Backen kauend, verzehrte er mit bestem Appetit eine Portion Eier und Schinken, groß genug, um eine mehrköpfige Familie zu sättigen. Sodann ließ er sich schluckweise ein Wasserglas voll Whisky durch die Gurgel rinnen – der besseren Bekömmlichkeit wegen. Doch mitten in dieser erquickenden Beschäftigung hielt er inne. Er war mit einemmal ganz Ohr. Was war das für ein seltsames Telefonat, das sein großer Freund da führte? Fritz Wernicke hörte nur abgerissene Sätze, aber er war sofort im Bilde: „Wie bitte? – Ja, Boß, ich verstehe. – Was, von ‚Luna nova’? – Also nun doch? Lange genug haben sich die Brüder ja Zelt genommen. – Allerdings ziemlich verdächtige Geschichte. – Stimmt, der lange Mortimer scheint wirklich reichlich sorglos zu sein. – Selbstverständlich. Ich breche sofort auf. So long.“ Als Jim Parker über die Schwelle des Wohnzimmers trat, stand Wernicke schon sprungbereit. Seine Augen sprühten vor Abenteuerlust. „Was ist los, Jim? Die Konkurrenz …“ „… ist ohne viele Umstände in der AS-Bahn * aufgetaucht und scheint sich in der Nachbarschaft von ‚Luna nova’ häuslich niederlassen zu wollen. Sie scheint irgend etwas Bestimmtes im Schilde zu führen.“ „Prächtig, Jim! Und wann fahren wir?“ „Sofort, Fritz. Los, mach dich fertig!“
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AS = Außenstation, der künstliche Stützpunkt im Weltraum
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* Die beiden Freunde, die an Bord von Edgar Kents Wasserstoffrakete H 11 in „Luna nova“ eintrafen, fanden die ganze Station in erhöhter Alarmbereitschaft vor. Captain Howard erstattete seine Meldung, als der Kommodore in der Luftschleuse aus dem Raumtaxi stieg. „Des fremde Raumschiff will offenbar hier in der Nähe ‚vor Anker gehen’, Sir. Es versucht bereits seit Stunden, seine Fahrt auf Kreisbahngeschwindigkeit herunterzudrücken und mit uns in die gleiche Bahn zu kommen. Vom Observatorium aus können Sie es genau verfolgen.“ Das Observatorium lag in der „Achse“ der Station, die – im ganzen gesehen – die Gestalt eines riesigen rotierenden Rades hatte. Während im allgemeinen in sämtlichen Räumen von „Luna nova“ durch die Fliehkraft ein Zustand hervorgerufen wurde, welcher der gewohnten Erdschwere entsprach, herrschte hier in der Achse Schwerelosigkeit. Als der Kommodore mit seinen Begleitern das Observatorium betrat, kam ihm bereits Henri Lasalle entgegen. Mit weitausholender Geste wies er auf einen Kometensucher, ein starkes Fernrohr, das sich mit seinem großen Gesichtsfeld vorzüglich zur Himmelsüberwachung eignete. „Willkommen, Kameraden! Mister Wernicke, seien Sie mir gegrüßt. Ich hatte gewußt, daß Sie kommen würden. Da – sehen Sie sich doch die Bescherung mal aus der Nähe an.“ Schweigend blickte Jim Parker eine Weile durch das Okular. „Eine ziemlich plumpe Kiste, wie mir scheint. Ist mit viel zu hoher Geschwindigkeit gestartet. Jetzt können die Burschen zusehen, wie sie in die richtige Bahn kommen. Da – wieder ein Richtungsschuß! Viel zu kräftig – die Kerle haben überhaupt keine Erfahrung. Aber Schneid haben sie – das muß man ihnen lassen.“ 35
„Was soll das Ganze wohl bezwecken, Kommodore?“ fragte Henri Lasalle. „Rechnen Sie auch mit einem Angriff?“ „Ich glaube kaum“, meinte Jim Parker. „Die Chancen ständen in diesem Fall für einen Angreifer zu schlecht, und das dürfte er auch wissen.“ „Aber ich verstehe nicht … – ja, was ist denn, Petersen?“ In der Tür des Observatoriums erschien ein Funker und reichte dem Kommodore eine Meldung. „Von denen da drüben“, sagte er bedeutungsvoll. Jim Parker las laut vor: „Wir grüßen unsere Kollegen in ‚Luna nova’ und hoffen auf gute Nachbarschaft im Weltraum. Uralski, Kommandant der Raumstation A.“ „Unverschämtheit!“ knurrte Lasalle in das entstandene Schweigen hinein. * „Das wundert mich gar nicht“, sagte Professor Angelo erregt und deutete mit zitternder Hand auf die Funkmeldung, die soeben von Bord des Weltraumschiffes „A 1“ eingegangen war. „Ich hatte es gewußt und immer wieder vor Übereilung gewarnt. Der Weltraum ist für uns absolutes Neuland. Wir verfügen nicht über die langjährigen praktischen Erfahrungen des S.A.T. Keiner unserer Piloten ist jemals über die Stratosphäre hinausgekommen. Und jetzt verlangt man von ihnen nicht mehr und nicht weniger, als daß sie sich in allen Schlichen und Kniffen der Astronautik auskennen sollen, wie die ältesten Raketenkapitäne. Mit neuartigen Treibstoffen allein ist es wahrhaftig nicht getan. Wir hätten diese Männer zuerst in einstufige Raketen setzen, hätten sie mindestens ein Jahr lang trainieren lassen müssen. Statt dessen …“ „Ja, ja“, unterbrach Oberst Wladimir den erzürnten Gelehrten verlegen, „das mag ja sein. Aber das Ministerium …“ 36
„Das Ministerium hat keine Ahnung“, rief Angelo. „Keinen blassen Dunst haben diese Bürokraten. Sie setzen in verantwortungsloser Weise Menschenleben aufs Spiel, nur um ihr Prestige zu wahren.“ „Was teilt Uralski denn nun eigentlich mit?“ Oberst Wladimir war offensichtlich bemüht, dem peinlichen Gespräch eine andere Richtung zu geben. „Uralski hat Schwierigkeiten, die ‚A 1’ im befohlenen Abstand in der Kreisbahn zu halten. Er bittet um Geduld für unbestimmte Zeit.“ „Ich fürchte, daraus wird nichts“, erwiderte der Oberst mit belegter Stimme. „Ich habe Ihnen nämlich den ausdrücklichen Befehl zu überbringen, die Raketenschiffe ‚A 01’ bis ‚A 09’ unverzüglich folgen zu lassen.“ „Aber das ist ganz unmöglich, Herr Oberst! Das würde das ganze Projekt ‚Iltis’ zum Scheitern bringen. Die neun Zusatzraketen können erst dann starten, wenn Uralski die ‚A 1’ vollkommen störungsfrei in die Kreisbahn einreguliert hat. Erst dann – und keine Sekunde früher.“ Der Kommandant von Krasnograd schien ehrlich betrübt zu sein. „Ich weiß, ich weiß, Professor. Aber wir können es doch nicht ändern. Befehl ist Befehl.“ Ratlos kratzte er seinen Kugelkopf. Professor Angelo stand schwer atmend auf. „Also gut, Herr Oberst, ich füge mich. Die Raketen werden heute nacht um 3 Uhr starten. Aber ich lehne jegliche Verantwortung ab.“ Das wird dir nicht viel nützen, wenn die Sache schiefgeht, dachte Wladimir. Aber er behielt den Gedanken für sich und verabschiedete sich mit auffallender Hast. Irene fand ihren Vater an diesem Abend bedrückter als je zuvor. Seine Gestalt war in sich zusammengesunken, das Antlitz von tiefen Schatten umwölkt. Erschrocken legte sie ihm die schlanken Hände auf die Schultern und sah besorgt zu ihm auf. 37
„Du bist ja total am Ende, Papa. Es war einfach zu viel für dich – diese pausenlose Arbeit in den letzten Monaten. Du mußt jetzt unbedingt ausspannen. Laß dir doch endlich deinen Urlaub geben, der dir schon so lange zusteht.“ „Es ist weniger die Überanstrengung, Kind“, lächelte der Gelehrte müde. „Es sind andere Sorgen, die mich schier erdrücken.“ Und er erzählte seiner Tochter von Uralskis Funkspruch und dem Gespräch mit Oberst Wladimir. „Und du willst die neun Raketen wirklich starten lassen?“ fragte Irene, die aufmerksam zugehört hatte. „Es bleibt mir keine andere Wahl. Heute nacht, Punkt 3 Uhr …“ Erst jetzt vernahm Irene die vielfältigen, verworrenen Geräusche, die von draußen hereinklangen. Kommandos ertönten. Scheinwerferkegel geisterten durch die Nacht. Die Weltraumraketen „A 01“ bis „A 09“ wurden betankt. „Du hast beizeiten gewarnt, Papa“, sagte das junge Mädchen zuversichtlich. „Wenn der Versuch wirklich schiefgeht, ist es natürlich furchtbar. Die armen Menschen, die dabei womöglich ums Leben kommen. Aber dir könnte bestimmt niemand einen Vorwurf machen.“ „Unter normalen Verhältnissen bestimmt nicht – aber hierzulande?“ Professor Angelo griff nach Hut und Mantel und verließ mit gesenktem Haupt das Zimmer, um zum Startplatz der Raketen zu fahren. * Die ausgedehnten Anlagen des großen Observatoriums auf dem Mount Palomar in Kalifornien, der größten und modernsten Sternwarte der Welt, lagen im silbernen Licht des Vollmondes. Trotz des klaren, wolkenlosen Himmels blieben die Spalte der Beobachtungskuppeln in dieser Nacht geschlossen. Die Astronomen konnten unbesorgt schlafen; denn das helle Mondlicht 38
überstrahlte alle anderen Himmelsobjekte, so daß irgendwelche wissenschaftlichen Beobachtungen nicht möglich waren. Nur in einem einzigen Beobachtungsraum herrschte zu dieser späten Stunde Leben. Das verschiebbare Schutzdach wurde abgefahren und gab ein kurzes, dickes Fernrohr mit erstaunlich großer Linse frei. Zwei Männer machten das Instrument zum Gebrauch fertig. Sie schalteten das Uhrwerk ein und richteten das Rohr direkt auf die helle Mondscheibe. „Möchte nur wissen, was Sie auf dem alten Mond suchen, Mister Douglas. Sie wollen wohl die sagenhaften Mondkälber im warmen Sonnenschein grasen sehen?“ fragte der ältere von beiden, der einen Monteuranzug trug und zur großen Schar der Mechaniker des Mount-Palomar-Observatoriums gehörte. Es klang ein wenig spottend, aber doch gutmütig. „Offen gestanden, Leslie, ich weiß es selber nicht“, bekannte Robert Douglas, der junge Observator, ehrlich. „Aber seitdem mir mein Freund Jim Parker, der Kommodore von Orion-City, von dem seltsamen Himmelskörper erzählte, mit dem er im Frühjahr zwischen Erde und Mond fast zusammengestoßen wäre, läßt es mir keine Ruhe mehr.“ „Wird wohl so ’ne Art von besonders großem Meteorstein gewesen sein“, meinte der Mechaniker sachverständig. „Soll ja hin und wieder verdammt dicke Brocken von der Sorte geben. Wenn man zum Beispiel an den berühmten Chubb-Krater in Kanada denkt …“ Robert Douglas antwortete nicht. Er schraubte ein mattes Dämpfglas vor das Okular und begann, die leuchtende Mondscheibe systematisch zu durchmustern. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn veranlaßte, sich dieser scheinbar völlig sinnlosen Beschäftigung zu widmen. Es mußte wohl so eine Art Intuition gewesen sein. Doch diese Intuition sollte ihm eine ganz ungewöhnliche Entdeckung einbringen. „Thunderstorm! Was ist denn das für ein komisches Ding?“ 39
Der Observator hatte gerade den Krater Meton im Fadenkreuz, nahe dem Nordpol des Mondes. Und da – bewegte sich dort nicht etwas? Ein winziger Schatten zog über den Mondboden dahin, näherte sich jetzt dem Mondrand und verschwand. Und jetzt leuchtete unweit der Mondscheibe ein schwaches Sternchen auf und entfernte sich rasch von dem helleuchtenden Erdtrabanten. „Stärkere Vergrößerung! Schnell, die Okulare!“ Leslie reichte bereits den Okularkasten herüber. Der Astronom wählte die stärkste Vergrößerung, regulierte die Feineinstellung und suchte aufgeregt Schließlich hatte er das Objekt wieder im Blickfeld. Was mochte das sein? Ein kleines, unregelmäßig geformtes Scheibchen mit gezackten Rändern. Offenbar also kein Weltraumschiff und auch sonst kein Erzeugnis menschlicher Technik. War es ein Komet, ein Riesenmeteorit oder gar ein kleiner Planet, der sich in die Nähe der Erde verirrt hatte? Robert Douglas ließ auch den Mechaniker hindurchblicken. Der sah zuerst gar nichts. Schließlich meinte er trocken: „Komisches Ding. Was machen wir damit?“ Ja, eben – etwas mußte geschehen. „Machen Sie das Chronometer fertig, Leslie! Wir wollen ein paar Örter messen und dann die Yerkes- und die McDonald-Sternwarte benachrichtigen, damit sie sich an der Jagd beteiligen.“ Die Astronomen arbeiteten exakt und verbissen, bis das rätselhafte Objekt im Dunst des Horizonts verschwand. Man war mit den Ergebnissen zufrieden. Sie würden ausreichen, um eine allererste, provisorische Bahnrechnung durchzuführen, nach der man das Wiederauftauchen des kleinen Himmelskörpers mit einiger Aussicht auf Erfolg vorhersagen konnte. *
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In der kleinen behaglichen Offiziersmesse von „Luna nova“ saßen an diesem Abend fünf Herren zusammen und ließen sich – nach dem anstrengenden Wachdienst der vergangenen Tage – die Pfeifen und Zigaretten munden. Fritz Wernicke hatte gerade ein lustiges Abenteuer aus seinem bewegten Leben zum besten gegeben und erntete lebhaften Beifall. Aber so sehr sich auch jeder bemühte, sich selbst und die anderen abzulenken, stets kehrte das Gespräch nach kurzer Zeit wie von selbst zu dem Thema zurück, das alle Insassen von „Luna nova“ ganz erfüllte: die fremde Weltraumstation! Da draußen schwebte sie, im Abstand von wenig mehr als drei Meilen. Wiederholt schon war sie „Luna nova“ so dicht auf den Pelz gerückt, daß Lasalle auf dem Funkwege dringende Warnungen aussenden mußte. Der fremde Kommandant hatte dann jedesmal ein paar Korrektionsmanöver ausgeführt und sein Raumschiff in respektvolle Entfernung gebracht. „Ich verstehe das nicht“, meinte Edgar Kent kopfschüttelnd. „Da schwebt diese ‚A 1’ nun ständig in unserer Nachbarschaft herum, pendelt hin und her – und es geschieht überhaupt nichts weiter.“ „Worüber ich – offen gestanden – ganz froh bin“, seufzte Henri Lasalle. „Feindliche Absichten scheint man jedenfalls da drüben nicht zu haben“, stellte Captain Howard fest. „Jedenfalls haben sich die Herrschaften bisher völlig korrekt verhallen. Sie scheinen sich für uns überhaupt nicht näher zu interessieren.“ „Ja, bei allen Planeten! Was wollen die Kerle denn eigentlich?“ rief Fritz Wernicke und schwenkte sein Whiskyglas. „Ich kann mir keinen Vers darauf machen. Wenn dahinter nur nicht irgendeine Teufelei steckt.“ „Irgend etwas, das uns keine Freude machen wird, dürfte schon dahinter stecken“, sagte Jim Parker nachdenklich. „Aber vorläufig werden wir es kaum erfahren. Die Besatzung 41
der ‚A 1’ scheint noch alle Hände voll zu tun zu haben, um ihr Schiff in der Kreisbahn zu halten und nicht die Balance zu verlieren.“ „Meine Herren!“ rief Edgar Kent und schüttelte den Kopf. „Die brauchen ja verdammt lange. Da hatten wir damals ein anderes Tempo drauf, als wir ‚Luna nova’ bauten – was, Kommodore?“ Jim Parker nickte. „Das will ich meinen. Vergessen Sie aber nicht, Gentlemen, daß wir zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre praktischer Werkerfahrung auf dem Buckel hatten. Ein ganzes Heer von ausgebildeten Weltraumpiloten stand uns zur Verfügung. Die Herren von der Konkurrenz dagegen müssen all ihre schlechten Erfahrungen selbst sammeln.“ Henri Lasalle öffnete bereits den Mund zu einer neuen Frage, als ein Klingelzeichen schrill die Unterhaltung beendete. Dreimal lang – höchste Alarmbereitschaft! Alle sprangen auf. „Aha – nun geht der Zauber doch noch los“, knurrte Captain Howard grimmig. „Mir soll’s recht sein. Wir sind auf alles vorbereitet.“ In der Tür prallte er mit Leutnant Turner zusammen, der aufgeregt seine Meldung stammelte: „Sie kommen, Gentlemen! Sechs – acht – neun Raketen von der Erde her. Wollen uns wahrscheinlich rammen. Die ‚A 1’ schwenkt Geschützrohre aus …“ Jim Parker drängte sich vorbei und hastete dem Observatorium zu, das den Beobachtungs- und Befehlsstand barg. Neben ihm krampfte sich Wernicke am Fensterrahmen fest. Angestrengt blickten sie durch ihre starken Marinegläser. Der Kommodore erfaßte die Situation zuerst. „Der gute Turner sieht wohl Gespenster. Da unten kommen tatsächlich neun Raketen – übrigens wieder mit einer wahren Affenfahrt –, aber ihr Besuch gilt nicht uns.“ 42
„Und die ‚A 1’, Jim? Die ausgefahrenen Atomgeschütze?“ „Sieh dir die ‚Kanonen’ lieber mal genauer an, old fellow.“ Der gute Fritz richtete sein Glas auf die fremde Station und wischte sich die Augen. Tatsächlich, die Phantasie war mit diesem jungen Mann, dem Turner, durchgegangen. Das waren keine Kanonen, das waren merkwürdige Ringe, neun an der Zahl, die ringsum aus dem Rumpf des riesigen Raumschiffes herausstanden. „Mensch, Jim, was sollen denn diese komischen Henkel vorstellen?“ „Das wirst du gleich sehen, my boy. Aufgepaßt, Gentlemen: Sie werden jetzt ein hochinteressantes Manöver beobachten können. Sie können den Alarm getrost abblasen, Captain. Rate Ihnen aber, die Rettungsraketen klar zu machen. Was die Knaben da draußen vorhaben, kann nämlich verdammt leicht ins Auge gehen.“ Der Kommodore sollte mit seiner Befürchtung nur allzu sehr recht behalten. Die neun Raketenschiffe gaben Brems- und Richtungsschüsse ab und formierten sich in drei Gruppen zu je drei Fahrzeugen. Plötzlich nahm die mittlere Gruppe wieder Fahrt auf und steuerte dichtgedrängt auf die ‚A 1’ zu. „Herrschaften, wenn das nur gut geht …“ Ein greller Blitz ließ Fritz Wernicke mitten im Satz verstummen. Dort, wo eben noch drei Raketen in enger Formation geflogen waren, taumelte nur noch eine einzige, ohne Antrieb und Richtung, durch den Raum. Aus den aufgerissenen Tanks entströmten die Treibstoffe in dichten Dampfwolken. Die beiden anderen Raumschiffe waren offenbar zusammengestoßen und explodiert. *
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An Bord des Raumschiffes „A 1“ befand sich alles im Zustand gespanntester Erwartung. Von dem Augenblick an, da Doktor Uralski den Beginn des „Manövers 0“ befohlen hatte, lief alles mit der Präzision eines Uhrwerks ab. Aus dem Schiffsrumpf heraus klappten die starken Ringe, welche die Zusatzraketen aufnehmen sollten. Sie wurden an langen Verstrebungen weit in den Raum hinaus geschoben und standen nun in gleichmäßigen Abständen um das Mutterschiff herum, so daß das Ganze aussah, wie das Gerippe eines aufgespannten Regenschirms, der den Stoff verloren hatte. Im Geräteraum, unterhalb des Führerstandes, fingen die Steuerkreisel an zu surren. Langsam drehte sich das Raumschiff, bis es mit dem Heck schräg zur Erdoberfläche stand. In der Luftschleuse drängten sich Männer in schweren Raumtaucheranzügen, mit Rückstoßpistolen und Kabelrollen ausgerüstet und bereit, die Verbindung mit den Zusatzraketen herzustellen, sobald diese in den Halteringen verankert sein würden. „Alles klar zum Manöver“, meldete der leitende Ingenieur und schaute erwartungsvoll zu Doktor Uralski hinüber, der sorgenvoll im Logbuch blätterte und den Kurs des Schiffes überprüfte. „Danke. Jetzt steht uns der heikelste Teil des ganzen Unternehmens bevor. Niemand kann wissen, wie das Manöver abläuft. Halten Sie auf jeden Fall alle Mann auf Alarmstationen, Ingenieur.“ „Sie rechnen mit Komplikationen und Zwischenfällen?“ „Ich bin auf das Schlimmste gefaßt. Es ist eine Rechnung mit lauter Unbekannten …“ „Raumschiff-Flotte achtern im Anflug“ meldete der Ausguck. Uralski trat ans Fenster und blickte hinaus. Dann nahm er das Mikrophon der Bordsprechanlage und rief den Funker: „Die Kerle sind wohl verrückt geworden. Viel zu hohe Geschwindigkeit. Geben Sie sofort durch: Geschwindigkeit dros44
seln. Dreierformation bilden. Schiffe ‚A 01’ bis ‚A 03’ mit Einlenkmanöver beginnen!“ Man konnte erkennen, wie der Befehl ausgeführt wurde. Minuten später meldete die Funkstation: „‚A 01’, ‚A 02’ und ‚A 03’ klar zum Einlenken.“ „Anfangen!“ gab Uralski zurück. „Aber langsam – und vorsichtig – vorsichtig!“ Er sah, wie die drei ersten Raketenschiffe sich wieder in Bewegung setzten und in geschlossener Formation die „A 1“ ansteuerten … Und dann geschah es! Zwei der Schiffe stießen mit voller Wucht zusammen – die Stichflamme einer fürchterlichen Explosion! Eine Dampfwolke, die sich schnell ausbreitete, aus der Wrackteile nach allen Seiten auseinanderspritzten … Auch die dritte Rakete war erledigt. Taumelnd verließ sie ihre Bahn und stürzte – rettungslos verloren – in steiler Kurve der Erdoberfläche entgegen. Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrten die Männer des Raumschiffs „A 1“ auf das furchtbare Bild. Fedor Uralski biß sich auf die Lippen, daß ihm das Blut am Kinn herunterlief. Das Riesenhafte der Verantwortung, die er auf sich genommen hatte, fiel ihm zentnerschwer auf die Seele. Durfte er weitere Menschenleben aufs Spiel setzen? Sollte er den Versuch, dessen Gelingen durch den Ausfall eines Drittels der Zusatzraketen bereits in Frage gestellt war, fortsetzen – oder war es nicht seine Pflicht, das Manöver abzubrechen und die Überlebenden zur Erde zurückzukommandieren? Er kam in diesen Augenblicken zu keinem Entschluß. Durch das Bordtelefon gab er dem Funker eine dringende Depesche auf – eine Anfrage an eine ganz bestimmte Dienststelle … Die Antwort kam sofort. Sie lautete kurz und bündig: „Projekt ‚Iltis’ ist auf jeden Fall zur Durchführung zu bringen.“ Mit einem dumpfen Stöhnen gab Uralski den Befehl, das Manöver fortzusetzen. 45
* „Aus der Traum“, verkündete Fritz Wernicke sachlich, als die erste Staffel der fremden Raumschiffe im Blitzen der Explosion zugrunde ging. „Schätze, hier gibt es nichts mehr zu retten. Und damit dürfte bei den Herrschaften wohl der Bedarf gedeckt sein.“ „Ich fürchte, du täuschst dich, Fritz. Du kennst die Mentalität der Leute nicht, die sich hinter diesem Unternehmen verbergen. Wenn die sich ein ganz bestimmtes Ziel in den Kopf gesetzt haben, dann ruhen sie nicht eher, bis sie es erreicht haben.“ Jim Parker war durch die Katastrophe, die sich vor seinen Augen in Sekundenschnelle abgespielt hatte, zutiefst erschüttert. Er sah in jenen Männern, die einen grausamen Tod in der Leere des Weltalls sterben mußten, nicht Gegner und Konkurrenten, sondern Pioniere des Fortschritts, Sendboten der Menschheit – gleich ihm selbst und seinen Kameraden. „Also ohne Rücksicht auf Verluste?“ meinte Henri Lasalle. „Mort de ma vie – das kann ja nett werden.“ Ja, es sollte noch überaus „nett“ werden, und zwar sofort. Atemlos schauten die Männer zu, die sich im Observatorium von „Luna nova“ an den Beobachtungsfenstern drängten. „Achtung – die zweite Welle!“ rief Fritz Wernicke aufgeregt. Drüben nahmen abermals drei Raketen Kurs auf das Raumschiff „A 1“. Diesmal flogen sie in respektvollem Abstand. „Viel zu hohe Geschwindigkeit“, murmelte Parker kopfschüttelnd. „Die Burschen haben auch nicht für einen Cent Fingerspitzengefühl.“ „Jetzt – jetzt gibt’s ’ne Karambolage“, jammerte Henri Lasalle. „Nein, ich kann’s nicht sehen.“ Schaudernd bedeckte er das Gesicht mit den Händen. Alles hielt den Atem an … „Alles halb so wild“, tröstete Fritz Wernicke. „Es ist ja gar nichts passiert.“ Aber auch er sah weiß um die Nase aus und 46
langte verstohlen nach der Ginflasche, deren Hals herausfordernd aus seiner Tasche schaute. „Nichts passiert?“ Der weichherzige Lasalle nahm zögernd die Hände von den Augen und besah sich erstaunt das unerwartete Bild: Die drei Raketen mußten haarscharf am Mutterschiff vorbeigeflogen sein. Auf jeden Fall hatten sie die Haltevorrichtungen verfehlt. Jetzt lenkten sie in weit ausholender Kurve ein, kehrten um und näherten sich wieder ihrem Ziel. Doch plötzlich gaben alle drei – wie auf Verabredung – Gas. Mit hoher Fahrt schossen sie an der „A 1“ vorbei und – steuerten in steiler Abstiegsbahn zur Erde zurück. „Erfolgreiche Absetzbewegungen“, grinste Fritz Wernicke spöttisch. „Heim ins Reich!“ „Das einzig Vernünftige, was sie tun konnten. Schätze, daß man in ihrem schönen Heimatland wenig Humor für solche Seitensprünge haben wird. Hallo – was ist denn das?“ Die drei letzten Raketen hatten inzwischen Fahrt aufgenommen und näherten sich, merklich vorsichtiger, dem Mutterschiff. Diesmal schien das Manöver zu gelingen. Doch plötzlich gab die „A 1“ unvermittelt ein paar Richtungsschüsse ab. Langsam pendelte sie aus ihrer Bahn und kam, um ihre Querachse rotierend, auf die kleineren Raketenschiffe zu. „Die sind wohl von allen guten Geistern verlassen!“ Henri Lasalle schrie es mit heiserer Stimme. „Es fehlt ihnen tatsächlich jede Spur von Erfahrung“, erregte sich nun auch der Kommodore. „Vermutlich wollte dieser Uralski seinen Freunden die Arbeit erleichtern, und dabei hat er aus Versehen auf den falschen Knopf gedrückt. Nein, Gentlemen, jetzt ist nichts mehr zu retten. Wette, daß da drüben alles in die Binsen geht.“ Der Kommodore hätte diese Wette gewonnen, bevor noch irgendein anderer ein Wort dazu sagen konnte. Eins der drei 47
kleineren Raketenschiffe prallte mit der riesigen, taumelnden „A 1“ zusammen, riß ihr den Rumpf auf und blieb im Gestänge der Halteringe hängen. Das zweite entging dem Zusammenstoß in scharfer Kurve und steuerte ohne weitere Umstände ebenfalls zur rettenden Erdoberfläche zurück. Die dritte Rakete fuhr dicht an der Unfallstelle vorüber. Aber sie kehrte nicht um. Aus der Luftschleuse sprang die Besatzung heraus: sechs – acht – zehn – zwölf Mann, unförmig anzuschauen in den prallen Weltraumschutzanzügen. Unbeholfen strampelten sie in der Leere herum und ließen sich durch die Feuerstrahlen ihrer Rückstoßpistolen in alle Richtung durcheinandertreiben. Ihr Schiff aber, an dessen Bug die Bezeichnung „A 09“ leuchtete, trieb unbemannt in die Weiten des Raumes davon. „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“, deklamierte Fritz Wernicke feierlich. „… und hätten es nicht einmal nötig gehabt“, vollendete Jim Parker. „Sie müssen ganz einfach die Nerven verloren haben.“ „Sehen Sie doch, Messieurs: dort drüben, die ‚A 1’!“ Henri Lasalles Ruf lenkte die Blicke der Männer auf das Wrack des Mutterschiffes, an das sie im Augenblick gar nicht mehr gedacht halten. „By Jove!“ Dem Kommodore verschlug es die Sprache. In den beschädigten Tankräumen des großen Raumschiffes war Feuer ausgebrochen. Schon glühte es grellrot hinter den Bullaugen. Jeden Augenblick konnte eine Explosion den Schiffsrumpf in Atome zersprengen. Impulsiv griff der Kommodore zum Mikrophon. „Rettungsraketen klar!“ dröhnte sein Befehl aus den Lautsprechern in allen Gängen und Räumen von „Luna nova“. „Raumschiff ‚A 1’ in höchster Gefahr. Freiwillige vor!“ In der nächsten Sekunde stürmte er bereits zu den Schleusenkammern, noch im Laufen seine Kombination zuzerrend – in seinem Kielwasser der unverwüstliche Fritz Wernicke. 48
* Als Oberst Wladimir zu früher Morgenstunde im Schlafzimmer Professor Angelos erschien und den Gelehrten aus dem ersten Schlummer aufscheuchte, wußte dieser sofort, was die Uhr geschlagen hatte. Es hätte gar nicht erst eines Blickes in das aschgraue Gesicht des Offiziers bedurft, der sich – weich in den Knien – auf die Bettkante niederfallen ließ. Der Professor hatte sich den Aufregungen des vergangenen Tages nicht gewachsen gefühlt. Er hatte noch dem Start der neun Zusatzraketen beigewohnt und sich dann – von heftigem Unwohlsein befallen – niedergelegt. Ein paar Beruhigungstabletten ließen ihn bald einschlafen. Und jetzt war da dieser Wladimir, zitternd und schreckensbleich, wie eine personifizierte Hiobsbotschaft. Professor Angelo richtete sich auf. „Das Einfangmanöver – mißglückt?“ Seine Stimme klang fremd und belegt. Der Oberst nickte düster. „Alles – alles dahin …“ „Wie meinen Sie das?“ fragte Angelo und fühlte, wie ihm die Stimme versagte. „Hatten wir – Verluste – an Menschenleben?“ Oberst Wladimir riß sich zusammen und berichtete, was bisher durch Funkmeldungen und durch direkte Fernrohrbeobachtung über die Katastrophe bekanntgeworden war. „Sie hatten recht, Professor. Wir hätten alles besser vorbereiten sollen. Wir haben ein gefährliches Spiel getrieben, ohne die Spielregeln zu beherrschen. Jetzt ist alles kaputt – die ‚A 1’ und vier der Zusatzraketen vernichtet, eine fünfte von der Mannschaft aufgegeben und verloren – wieder eine andere beim Aufsturz auf die Erde, nahe Saratow, zerstört. Die drei restlichen sind im Golf von Mexiko heruntergekommen und von den Amerikanern aufgefischt worden.“ 49
„Das ist – das ist ja entsetzlich“, stammelte der Professor, der nur allmählich die ganze Tragweite dieser Schreckensnachricht begriff. „Konnte denn sonst niemand gerettet werden? Was ist mit Uralski?“ Wladimir zuckte die Achseln. „Wir wissen noch nichts Näheres. Kommodore Parker hat – wie Radio Orion-City in einer Sondermeldung bekanntgab – von ‚Luna nova’ aus sofort eine Rettungsaktion gestartet. Es sollen 23 unserer Leute geborgen worden sein und sich unter dem Schutz des S.A.T. befinden. Über ihre Personen ist bis zur Stunde noch nichts bekannt.“ Ein bedrücktes Schweigen folgte auf diese Worte. Endlich begann der Oberst wieder: „Wissen Sie, was das für uns bedeutet, Professor?“ „Es könnte – das Ende unserer Arbeit bedeuten“, erwiderte Angelo auf die schicksalsschwere Frage seines Chefs. „Nicht nur für unsere Arbeit“, sagte Wladimir mit seltsamer Betonung. „Sie meinen …“ „… auch, für uns selbst. Jawohl, Professor, man wird uns zur Verantwortung ziehen. Ob mit Recht oder nicht – wer fragt schon danach? Man braucht Sündenböcke, auf die man die Schuld abwälzen kann.“ „Und diese Sündenböcke?“ „… sind wir. Verlassen Sie sich darauf, Professor.“ * Die Freiwilligen von „Luna nova“, die sich in großer Zahl für die Rettungsaktion gemeldet hatten, sahen sich einer schier unlösbaren und höchst gefahrvollen Aufgabe gegenüber, als sie unter Kommodore Parkers Führung in sechs kleinen, flinken Raketenschiffen an der Unfallstelle eintrafen. Es schien auf den ersten Blick völlig aussichtslos zu sein, 50
den im Innern der beiden fest ineinander verklemmten fremden Raumschiffe Eingeschlossenen Hilfe zu leisten. Der Eingang zur Schleusenkammer der kleineren Rakete – es war die „A 7“ – war durch verbogenes Gestänge hoffnungslos versperrt. Und in der Luftschleuse der großen „A 1“ wütete bereits das Feuer. Zudem konnten jeden Augenblick die Treibstoffe explodieren. Jede Sekunde war kostbar. Doch Jim Parker zeigte sich der Situation gewachsen. Er hatte an alles gedacht – auch an die Atombrenner. Mit Fritz Wernicke und zwei Freiwilligen ließ er sich ausschleusen. Einen Augenblick später krabbelten die vier Männer bereits an den Rümpfen der Wracks herum – grotesk anzusehen in ihren schweren Weltraumkombinationen. Die Atombrenner – zugleich gefährliche Waffen, wie auch äußerst nützliche Werkzeuge – traten in Aktion. Sie fraßen große Öffnungen in die metallene Haut der Raumschiffe, weit genug, um einem Menschen in voller Weltraumausrüstung Durchschlupf zu gewähren. Zischend entwich die Atemluft aus dem Schiffsinnern – dort, wo die Atomwaffen die Haut zerschnitten. „Hoffentlich waren die Nußknacker wenigstens schlau genug, in die Taucheranzüge zu steigen“, hörte man Fritz Wernickes Stimme in dem Telefon der Schutzhelme. „Sonst könnte es sein, daß wir ihnen die letzte Luft abdrehen durch unsere menschenfreundliche Hilfsaktion.“ „Red’ nicht so viel, Fritz“, mahnte die Stimme des Kommodores. „Beeile dich lieber.“ Als die Öffnungen freigelegt waren, zeigte es sich glücklicherweise, daß die „Nußknacker“, soweit sie den Zusammenstoß überlebt hatten, in den Schutzanzügen steckten. So schnell es ihre plumpe Aufmachung gestattete, drängten sie sich ins Freie, wo sie von ihren Rettern in Empfang genommen und sofort an Bord der Hilfsschiffe verstaut wurden. Der Kommodore drängte zur Rückkehr. Es geschah keine 51
Sekunde zu früh. Durch den Hagel der herumspritzenden Wrackteile, die von der gewaltigen Explosion fortgeschleudert wurden, bahnten sich die sechs Raketen ihren Weg zur Weltraumstation zurück.
Auch die zwölf Männer, die kurz zuvor aus dem Raumschiff „A 09“ ausgestiegen waren und ihr Schiff im Stich gelassen hatten, arbeiteten sich mit ihren Rückstoßpistolen nach und nach an „Luna nova“ heran und ließen sich einschleusen. Bald lag der Weltraum in der Umgebung der Außenstation genau so leer da, wie vor dem Erscheinen der fremden Raumfahrzeuge. Nichts kündete mehr von der furchtbaren Katastrophe, die sich hier abgespielt hatte. Nichts, als die von Schrecken gezeichneten Gesichter der Schiffbrüchigen, die sich jetzt in der Raumstation des Staatlichen Atom-Territoriums in Sicherheit wußten. Ihnen allen schien die Freude an der Weltraumfahrt fürs erste vergangen zu sein. Einschließlich der Besatzung der Rakete „A 09“ waren insgesamt 23 Mann gerettet worden. Unter ihnen befand sich auch 52
Fedor Uralski, der Leiter des ganzen Unternehmens. Doch als man ihn in der Raumstation aus seinem Taucheranzug schälte, fand man ihn bewußtlos und schwerverletzt. Jim Parker ließ ihn sofort ins Krankenrevier von „Luna nova“ schaffen. Es war am dritten Tage nach der Katastrophe, als der Kommodore einen längeren Funkspruch von Oberstleutnant Mortimer erhielt. Der Sicherheitschef legte Wert darauf, die Schiffbrüchigen einem ausgedehnten Verhör zu unterziehen. Danach sollte ihnen freigestellt werden, in ihre Heimat zurückzukehren, sofern sie Wert darauf legten … Das Transportraumschiff „H 11“, unter Edgar Kents Kommando, lag in Reichweite der Außenstation – bereit, die Geretteten aufzunehmen, und mit ihnen das Sonderkommando des Sicherheitsdienstes, dessen Anwesenheit auf „Luna nova“ nicht mehr erforderlich war. Auch Jim Parker und Fritz Wernicke wollten mit dem Schiff nach Orion-City zurückkehren. Nur Fedor Uralski blieb zurück. Als Jim Parker seinen Abtransport veranlassen wollte, hatte Doktor Feller, der Stationsarzt, ein entschiedenes Veto eingelegt. „Unmöglich, Kommodore. Der Patient ist noch nicht transportfähig. Die Verbrennungen. sind zu schwer, und auch die Folgen der Rauchvergiftung dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wir wollen froh sein, wenn wir ihn überhaupt durchkriegen.“ Eine Viertelstunde später nahm „H 11“ Fahrt auf und glitt in steiler Kurve der Erde und dem heimatlichen Orion-City entgegen. * Oberst Wladimir sollte mit seinen düsteren Prophezeiungen recht behalten. Allerdings blieb es ihm erspart, selbst dabei sein zu müssen, als das Unheil über seine Versuchsanstalt herein53
brach. Seine plötzliche Versetzung in eine Garnison an den Küsten des Nördlichen Eismeeres rückte seine Person für immer aus dem Gesichtskreis von Krasnograd. Es begann damit, daß das ganze Werk plötzlich von Wachmannschaften wimmelte. In allen Abteilungen drückten sich unauffällig gekleidete Zivilisten herum. Sie trugen betont uninteressierte Gesichter zur Schau und hatten die Augen und Ohren überall. Da sie ganz offensichtlich nicht auf ihre Kosten kamen und nichts Verdächtiges entdecken konnten, nahmen sie noch am gleichen Tage willkürlich ein paar Verhaftungen vor. Um Professor Angelo schien sich zunächst niemand zu kümmern. Im Laufe des Vormittags hatte er nur beiläufig von einem Wechsel im Kommando seiner vorgesetzten Dienststelle gehört. Ein gewisser Herr Konstantin sollte an Wladimirs Stelle getreten sein. Angelo hatte den Namen nie zuvor gehört. Er hielt es nicht für nötig, dem neuen Chef seine Aufwartung zu machen. Doch gegen Abend wurde er zu Konstantin gerufen und sah sich einem schlanken Mann mittleren Alters gegenüber, in dessen asketischen Zügen und dunklen Augen eine Mischung von Intelligenz und Fanatismus stand – ähnlich, wie es Angelo zuweilen bei seinem Assistenten Uralski aufgefallen war. Ansonsten war nichts als Kälte in diesem Gesicht zu finden. Professor Angelo hatte ein unbehagliches Gefühl, als sein Gegenüber mit leiser Stimme begann: „Ihr Projekt ‚Iltis’ hat sich als ein völliger Fehlschlag erwiesen, Herr Professor. Die Einbuße an Menschen, Material und Arbeitszeit ist ebenso groß, wie der Verlust an Prestige. Die Regierung …“ „Aber, erlauben Sie“, begehrte Angelo auf. „Was heißt hier mein Projekt? Ich habe das ‚Iltis’-Projekt fertig vorgesetzt bekommen und bin gezwungen worden, es geradezu sklavisch genau zu verwirklichen. Meine wiederholt vorgebrachten Bedenken wurden ja leider nicht beachtet.“ 54
„Es wird nicht leicht für Sie sein, Professor, den Beweis dafür anzutreten“, sagte Konstantin mit dem Anflug eines ironischen Lächelns. „Im Ministerium ist man jedenfalls der Ansicht, daß hier in Krasnograd geradezu sträflich leichtfertig mit dem Volksvermögen umgegangen wurde. Der Verdacht liegt nahe, daß hier Sabotage in ungeheurem Umfang geübt wurde.“ „Herr, ich verbitte mir diese grundlosen Verdächtigungen!“ Professor Angelo zitterte vor Erregung und rang erschöpft nach Luft. „Ob sie wirklich so grundlos sind, Herr Professor, das wird sich im Laufe des Untersuchungsverfahrens herausstellen, das bereits gegen Sie eingeleitet worden ist. Bis zum Abschluß des Verfahrens muß ich Sie leider ersuchen, den engeren Bereich des Werkgeländes nicht zu verlassen …“ „Also Hausarrest?“ unterbrach der Gelehrte gereizt. Herr Konstantin hob die Schultern. „Wenn Sie es so nennen wollen? Es tut mir aufrichtig leid, Herr Professor, aber ich handele selbst nur auf höheren Befehl.“ Angelo stand auf und wandte sich zum Gehen. „Eine Frage noch, Herr Konstantin: Ich hörte, es wären beim Untergang unserer Raumschiffe 23 Mann gerettet worden. Hat das S.A.T. bereits die Namen der Überlebenden bekanntgegeben?“ Konstantin wischte mit der Rechten durch die Luft. „Unwichtig, Professor.“ „Und Doktor Uralski, mein Assistent?“ „Uralski – dieser größte unter den Saboteuren? Wenn es Sie interessiert: Er liegt schwerverletzt in ‚Luna nova’ – sofern das nicht überhaupt eine faule Ausrede ist. Das Beste für diesen Pfuscher wäre, an seinen Verletzungen einzugehen; denn wenn er’s übersteht und wir ihn zu fassen kriegen …“ Herr Konstantin schloß mit einer vielsagenden Handbewegung. 55
* Robert Douglas saß in seiner kleinen Dienstwohnung auf dem Gelände des Mount-Palomar-Observatoriums am Frühstückstisch und ließ sich die leckeren Dingen munden, die Frau Betty aufgefahren hatte. Der Uhrzeiger stand schon auf elf, und wer etwa geglaubt hätte, es sei heute Sonntag oder gar ein dienstfreier Feiertag, der befand sich in einem gewaltigen Irrtum. „O Bob“, sagte die kleine Mistreß Douglas und verzog ihr hübsches Gesicht, „man hat wirklich gar nichts mehr von dir. Tag und Nacht bist du im Dienst.“ „Na ja“, kaute Robert ungerührt, „wir haben nun mal gerade eine besondere Schönwetterkatastrophe. Da ist jede Nachtstunde kostbar.“ „Zugegeben. Aber wenigstens bei Tage könntest du dich doch ein bißchen um deine Frau kümmern.“ „Bei Tage muß ich schlafen, Betty. Du hättest eben keinen Sterngucker heiraten dürfen.“ „O Bob, wie häßlich du das sagst. Aber ich will dir deine Herzlosigkeit verzeihen, wenn …“ „Wenn, Betty?“ „Wenn du endlich mal auf deine kleine Frau hörst und dir den Urlaub geben läßt, der dir nun schon so lange zusteht. Wir könnten zu Onkel Harry nach Montana fahren …“ Doch Robert Douglas sollte einstweilen nicht dazu kommen, um Urlaub zu bitten. Das Haustelefon klingelte. Robert hob ab. Sein Chef, Professor Johnson, war am Apparat. „Hallo, Douglas! Wo stecken Sie denn nur? Habe Sie schon überall gesucht. Sind Sie krank?“ „No, Sir, krank nicht gerade. Höchstens schlafkrank. Habe nämlich die ganze Nacht durch beobachtet.“ 56
„Ach so – ahem – ja, dann kommen Sie doch gleich mal rüber. Es handelt sich nämlich um dieses eigenartige Objekt, das Sie da kürzlich gefunden haben. Die Bahnbestimmung liegt jetzt fertig vor. Äußerst merkwürdige Geschichte …“ „Gut, Herr Professor, ich komme sofort.“ „Was ist denn schon wieder los?“ fragte Betty vorwurfsvoll. „Nicht mal in Ruhe frühstücken läßt man dich.“ „Halb so schlimm, Kleines. Der Alte will nur schnell mit mir über meine letzte Entdeckung sprechen.“ „Ach, Bob“, freute sich Betty und hatte ihren Groll mit einemmal vergessen, „du wirst bestimmt noch ein ganz berühmter Mann. Man wird dich zum ‚Mann des Jahres’ wählen, und ich …“ „Und du bekommst auch was ab, Kleines“, versprach Robert und drückte seiner kleinen Frau einen schallenden Kuß auf den Mund. „Denn wenn es ein kleiner Planet ist, den ich da entdeckt habe, nenne ich ihn ‚Betty’.“ – Aber es war kein Planetoid und auch sonst keins von den gangbaren Himmelsobjekten. Es war, wie Professor Johnson seinem jungen Assistenten aufgeregt auseinandersetzte, nichts anderes als ein Mond – ein zwergenhaft kleiner, zweiter Begleiter der Erde. „Dann ist es also doch wahr, was die Beobachter in früheren Zelten immer wieder gesehen haben wollten?“ fragte Douglas überrascht. „Ich verstehe nur eins nicht: Wie kommt es, daß dieser Mond stets ein umstrittenes Objekt geblieben ist, daß man ihn nie so klar und deutlich wahrnehmen konnte, wie es uns in jener Nacht gelungen ist?“ Der Professor dachte einen Augenblick nach. „Ich habe davon so meine eigene Idee, Douglas“, erklärte er vorsichtig. „Ob sie stimmt, weiß ich nicht – aber ich nehme an, daß die früheren Beobachter, die angeblich den ‚Schwarzen Mond’ gesehen haben, tatsächlich Selbsttäuschungen zum Opfer gefallen sind. Ich denke 57
dabei ebenso an Piccoli und seine vermeintliche Entdeckung am 2. September des Jahres 1618, wie an Leuwenbroock zu Beginn unseres Jahrhunderts. Diese Beobachter haben sich ganz ohne Zweifel geirrt. Es ist Ihnen, lieber Douglas, vorbehalten geblieben, der wirkliche Entdecker des ’Schwarzen Mondes’ zu sein.“ „Ja, aber – wo hat denn dieser Mond die ganze Zeit hindurch gesteckt?“ „Das kann natürlich kein Mensch mit Bestimmtheit sagen. Ich vermute jedoch – und die Bahnelemente des Objekts legen die Annahme nahe –, daß es sich bei ihm um einen Kleinplaneten handelt, der erst in jüngster Zeit in Erdnähe geriet und von der Erde eingefangen wurde. Auf keinen Fall ist er mit unserem bisher einzigen, großen Mond vergleichbar, der wohl dereinst aus dem Erdkörper selbst hervorgegangen sein dürfte.“ Robert Douglas nickte. Die Erklärung seines Chefs leuchtete ihm ein. „Inzwischen sind weitere Beobachtungen gelungen“, fuhr der Professor fort und blätterte in einem Berg von Protokollen und Telegrammen, der sich vor ihm auf dem Schreibtisch türmte. „Dabei zeigte es sich, daß der Kleinmond eine ganz merkwürdige, fast möchte ich sagen: stark veränderliche Bahn um die Erde durchläuft. Er scheint uns mit jedem Umlauf näher zu kommen. Sein ursprünglich beobachteter Abstand von rund 30 000 Kilometer ist auf knapp 24 000 zurückgegangen.“ Robert Douglas hatte noch etwas auf dem Herzen. „Ahem – sagen Sie, Herr Professor, unser jüngstes Kind muß doch auch einen Namen haben. Ich wüßte da einen sehr netten …“ „Nein, nein, Douglas“, wehrte Professor Johnson lachend ab, „geben Sie sich bitte keine Mühe. Unser Möndchen hat bereits einen Namen. Unser Vorgänger, der besagte Holländer Leuwenbroock, hat damals schon einen Namen in Vorschlag gebracht. Er nannte ihn ‚Lilith’, nach der sagenhaften ersten Frau unseres Stammvaters Adam.“ 58
„Der Name war also längst vorhanden – nur der Mond selbst mußte noch entdeckt werden?“ fragte Douglas, ein wenig enttäuscht. „Genau so ist es. Aber trösten Sie sich, mein Lieber: Soviel ich weiß, steht schon seit langem ein Preis von 500 Pfund auf die Entdeckung des Schwarzen Mondes aus. Ein Englishman namens Lewis hat ihn seinerzeit gestiftet. Ich will mich mal danach erkundigen und dafür sorgen, daß Sie ihn bekommen.“ * Die Weltöffentlichkeit nahm von der Nachricht, daß die alte Erde nicht mehr nur einen einzigen, sondern künftig zwei Monde haben würde, keinerlei Notiz. Ein zweiter Mond? Was wollte das schon viel besagen? Er war viel zu klein, als daß man ihn mit bloßem Auge bemerken konnte. Und wenn schon – schließlich war ja auch die Außenstation des Staatlichen Atom-Territoriums, die seit Jahren um die Erde kreiste, nichts anderes als ein kleiner, wenn auch künstlich geschaffener Trabant. Mochten die Sterngucker, ob sie nun ihr Handwerk als Beruf oder aus Liebhaberei betrieben, sich die Augen nach „Lilith“ ausschauen. Für die Menschheit im allgemeinen war der „Schwarze Mond“ ohne Interesse. Auch das S.A.T. kümmerte sich nicht darum. Dieser kosmische Brocken war der Erde viel zu nahe und dabei selbst viel zu winzig, als daß der Besuch eines Raumschiffes sich gelohnt hätte. Man nahm seine Ephemeride in die nautischen Jahrbücher auf und wies die Kommandanten der Raumfahrzeuge, die den Zubringerdienst zur Außenstation und den Verkehr mit den Mondwerken versahen, darauf hin, um künftig unliebsame Begegnungen zu vermeiden. 59
Und doch sollte Lilith ganz unerwartet Bedeutung erlangen … In Krasnograd lebte alles unter der Drohung eines Verhängnisses, das jeden Augenblick zur Entladung kommen konnte. Nach außen hin lief die Arbeit in allen Abteilungen auf Hochtouren. Aber es war glatter Leerlauf. Man hatte seit dem Scheitern des „Iltis“-Projekts kein bestimmtes Ziel mehr. Man schaffte ohne Lust und Liebe, nur unter dem Gebot der Angst. Ein paar Abteilungsleiter waren schon wegen „Sabotage“ oder „Nichterfüllung des Solls“ verhaftet worden, und über dem Haupte Professor Angelos braute sich ein gefährliches Unwetter zusammen. Wochenlang lief bereits die Untersuchung gegen ihn. Man schleppte ihn von Verhör zu Verhör. Er konnte noch so stichhaltiges Beweismaterial für die unbedingte Korrektheit seiner Arbeitsweise vorlegen – es half ihm alles nichts. Die Regierung brauchte einen Sündenbock. Körperlich und seelisch erschöpft kehrte der Professor eines Abends von einer solchen Vernehmung zurück und sank entmutigt in seinen Sessel. Schweigend und behutsam bemühte sich Irene um ihn. Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig geworden in diesen Wochen ewiger Angst und Sorge. „Es wird bald alles wieder gut sein, Papa“, sagte sie tröstend und versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. „Sie können dir doch gar nichts Unrechtes nachweisen.“ „Das verstehst du nicht, Kind“, erwiderte Angelo tonlos. „Sie brauchen einen Schuldigen – und wenn man einen Hund hängen will, findet man immer einen Strick.“ „Warte nur ab, Papa, bis Fedor Uralski wieder hier ist. Seine Aussage muß jeden Verdacht gegen dich zusammenbrechen lassen.“ „Uralski? Wenn er nur ein klein wenig Verstand im Kopf hat, wird er nicht wiederkommen. Das sagt ihm schon sein Selbsterhaltungstrieb.“ Der Professor schaltete mit müder Geste 60
das Rundfunkgerät ein und ließ geistesabwesend irgendeinen Nachrichtendienst über sich ergehen. Doch plötzlich war er wieder ganz da. Träumte er denn? Nein, es war Wirklichkeit: Von einem neuen Erdtrabanten war da die Rede, von einem winzigen, bisher unbekannten Mond, der die Erde in geringer Entfernung umkreiste … War es ein Wink des Himmels – die Rettung aus einer hoffnungslosen Situation? Mit jugendlichem Eifer riß Angelo Notizbuch und Drehbleistift aus der Tasche. Er lauschte gespannt, notierte ein paar Zahlen, überlegte und rechnete. Und blickte schließlich mit glänzenden Augen auf. „Irene, ich hab’s. Das ist die Rettung!“ Besorgt legte ihm das junge Mädchen den Arm um die Schultern. Was hatte der Vater nur? Spielten ihm die gequälten Nerven einen Streich? „Beruhige dich doch, Papa …“ „Ich hab’s, Kind! Das ‚Iltis’-Projekt ist gescheitert. Es mußte so kommen – es war nicht meine Schuld. Aber ich werde eine neue Weltraumstation bauen, und diesmal wird der Plan gelingen. Ich werde rehabilitiert und von jedem Verdacht gereinigt sein. Alles wird wieder gut.“ Der Gelehrte bemerkte erst jetzt den sorgenvollen und zweifelnden Blick seiner Tochter. Befreit lachte er auf. „Nein, Kind, ich bin nicht durchgedreht. Es hat alles seine Richtigkeit. Willst du mir helfen, Irene?“ „Selbstverständlich, Papa. Doch nur, wie?“ „Dann komme und setze dich an die Schreibmaschine.“ Eilig gingen sie in das Arbeitszimmer am anderen Ende des langen Barackenganges und bereiteten alles in fliegender Hast zum Diktat vor. Und Professor Angelo entwarf sein neues Projekt – das Projekt „Lilith“. Ein kühner, und dabei doch so einfacher Gedanke: Anstatt eine künstliche Außenstation unter gewaltigem Kosten61
aufwand zu errichten, brauchte man ja nur den „Katzensprung“ zum Kleinmond „Lilith“ auszuführen, um von dienern winzigen Himmelskörper Besitz zu ergreifen und ihn zu einem kosmischen Stützpunkt auszubauen. Der Plan stellte keine besonderen Anforderungen an die Werkerfahrung der Piloten und mußte schon mit verhältnismäßig geringen Mitteln zu verwirklichen sein. * Zunächst änderte sich nicht viel in Krasnograd. Professor Angelo halte sein neues Projekt noch am gleichen Abend bei seinem neuen Chef eingereicht, und dieser zögerte nicht, es durch einen Geheimkurier an das Ministerium weiterzuleiten. Und damit war die Sache fürs erste erledigt. Die Arbeit ging im alten Leerlauf weiter, die sinnlosen Vernehmungen nahmen ihren Fortgang, aber sie konnten Angelo nicht mehr sonderlich erschüttern. Er wußte: Sein Plan war gut. Man würde das Grundlose der Anschuldigungen gegen ihn einsehen müssen. Für den Professor und seine Tochter war es eine Zeit äußerster Spannung. Drei Wochen waren so dahingegangen, als endlich die ersehnte Entscheidung fiel. Herr Konstantin ließ es sich nicht nehmen, Professor Angelo höchstpersönlich in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen. Er trug eine in rotem Leder eingebundene Mappe unter dem Arm und öffnete sie mit einer gewissen Feierlichkeit. Auf der ersten Seite prangte die Aufschrift: „Projekt Lilith – Streng geheim!“ Alles erinnerte den Professor an jenen Abend vor – na, wie lange mochte es nun schon her sein? –, als der arme Wladimir bei ihm erschienen war, mit einer ganz ähnlichen Mappe … „Projekt Iltis“ hatte es damals geheißen. Angelo sandte im 62
stillen ein Stoßgebet zum Himmel. Mochte dem neuen Projekt ein besseres Schicksal beschieden sein! Draußen schien die Sonne, und ein Sonnenstrahl fiel euch in das Herz des verbitterten Mannes, als Konstantin jetzt mit verbindlichem Lächeln sagte: „Das Ministerium hat Ihren Plan eingehend geprüft und billigt ihn in allen wesentlichen Punkten. Die Einzelheiten wurden von den Sachbearbeitern festgelegt, und das Projekt ‚Lilith’ ist in der vorliegenden Form unverzüglich in Angriff zu nehmen. Vor allem soll sofort ein Raumschiff startklar gemacht werden, um den Schwarzen Mond mit Mannschaften und Material zu versorgen. Der Mond ist dann umgehend zu einer Weltraumstation auszubauen.“ „Ich schlage zu diesem Zweck die alte ‚A 0’ vor“, warf Angelo ein. „Eine kleine Rakete, Vorläuferin der unglücklichen ‚A 1’. Wir hatten sie ursprünglich für Forschungsfahrten in die Ionosphäre gebaut.“ „Ausgezeichnet, Professor! Das erspart uns viel Zeit und Unkosten. Ich werde sogleich selbst die Besatzung zusammenstellen. Selbstverständlich kommt diesmal nur ausgewähltes, unbedingt zuverlässiges Personal in Frage. Die Führung des Schiffes soll Kapitän Ney übernehmen.“ „Kenne ich nicht.“ „Ein alter Hase, den uns das Kriegsministerium leihweise überläßt. Übrigens kann ich Ihnen noch eine sehr erfreuliche Mitteilung machen, Professor. Das Ministerium hat sich entschlossen, die Untersuchung gegen Ihre Person einstweilen einzustellen. Wenn das Projekt ‚Lilith’ Erfolg hat, soll das Verfahren niedergeschlagen werden.“ Professor Angelo seufzte tief und befreit auf. Jetzt würde alles wieder gut werden … Herr Konstantin räusperte sich. „Da wären – ahem – noch ein paar kleine Bedingungen zu erfüllen, die eine erhöhte 63
Aussicht auf Erfolg garantieren und jede Möglichkeit einer eventuellen Sabotage von vornherein ausschließen sollen. Zunächst wird die Rakete nur so viel an Treibstoffen mitbekommen, wie sie benötigt, um ‚Lilith’ zu erreichen – und kein Gramm mehr.“ „Warum denn das?“ fragte Angelo verblüfft. „Durch diese Maßnahme soll vermieden werden“, grinste Herr Konstantin freundlich, „daß die Besatzung womöglich auf den Gedanken kommt, ähnliche Eskapaden zu machen, wie es bei der vorigen Aktion verschiedentlich geschehen ist.“ „Das ist aber außerordentlich gefährlich. Bedenken Sie doch, daß die Mannschaft dann auf Gedeih und Verderb an diesen unbekannten Himmelskörper gebunden ist, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr zur Erde.“ „Sehr richtig. Gerade das ist beabsichtigt. Die Mannschaft wird – aus dieser Erkenntnis heraus – bestimmt nicht auf dumme Gedanken kommen und doppelt schnell und gewissenhaft arbeiten, um möglichst bald abgelöst zu werden.“ „Und wann wird diese Ablösung durchgeführt?“ „Nicht eher, bis die Leute mit Hilfe der mitgenommenen Werkzeuge und Baumaterialien den Schwarzen Mond in eine Raumstation verwandelt haben, die unseren Anforderungen in jeder Hinsicht gerecht wird.“ Professor Angelo biß sich auf die Lippe. Das war wieder einmal die Mentalität dieses Volkes, die ihm immer fremd und unheimlich bleiben würde. Laut fragte er: „Und die übrigen Bedingungen?“ „Da wäre nur noch eine kleine, an sich belanglose Formsache“, entgegnete Konstantin und sah betont gleichgültig zum Fenster hinaus. „Das Ministerium legt Wert darauf, daß – Ihre Tochter an dieser Expedition teilnimmt – gewissermaßen als Sicherheitskoeffizient für das Gelingen der Aktion. Sie verstehen doch, Herr Professor – nicht wahr?“ 64
* Das Raumschiff „A 0“ stand startbereit. Verglichen mit der verunglückten „A 1“ wirkte diese Rakete in ihren Abmessungen geradezu zwergenhaft. Freilich waren die Anforderungen, die an sie gestellt wurden, auch ungleich geringer. Schließlich brauchte sie nicht mit ihrem Rumpf den Kern einer ganzen Weltraumstation zu bilden. Diese Station war – in Gestalt des Kleinmondes Lilith – bereits vorhanden und sollte nur noch eingerichtet werden. Als Professor Angelo von der Bedingung hörte, daß seine Tochter an der Expedition in den Weltraum teilzunehmen hätte, war er drauf und dran, von dem Plan zurückzutreten, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte. Es war klar: Man wollte ihn unter Druck setzen, wollte ihn veranlassen, alles so gewissenhaft vorzubereiten, daß ein nochmaliges Scheitern völlig unmöglich wäre. Irene – nein, er würde ihr Leben nicht aufs Spiel setzen, nie und nimmermehr! Aber seine Tochter hatte ihm die Bedenken ausgeredet. „Aber Papa, du siehst ja Gespenster“, lachte sie unbesorgt. „Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Heutzutage ist doch eine Raumfahrt längst kein Wagnis mehr. Tag für Tag fahren Menschen zum Mond, nach ‚Luna nova’, und sogar zu den Kolonien auf der Venus. Und glaubst du etwa“, fügte sie ernst hinzu, „daß mein Leben hier sicherer wäre, wenn du dich weigerst und das Verfahren gegen dich wieder aufgenommen würde?“ Da hatte Angelo sich schweren Herzens gefügt. Er durfte nur hoffen, daß dieser Kapitän Ney etwas von seinem Fach verstand und die Fahrt zu einem glücklichen Ende führen würde. Dieser Ney erwies sich als ein hagerer, brummiger Mensch mit verwittertem Gesicht und einem grauen Spitzbart. Er wirkte wortkarg und gelassen und schien die ganze Aktion nicht son65
derlich tragisch zu nehmen. Alles in allem machte er einen vertrauenerweckenden Eindruck. Dann waren da noch der leitende Ingenieur und ein Maschinist, ferner der Funker und zwei Matrosen – alle aus dem Stammpersonal der Versuchsanstalt Krasnograd und dem Professor seit Jahren als zuverlässig bekannt. Ob sie auch unter den veränderten Verhältnissen einer Weltraumreise die Nerven bewahren würden, würde sich allerdings erst erweisen müssen. Als siebtes Besatzungsmitglied stand Irene in der Reihe der Wartenden. Fremd und unwirklich erschien sie ihrem Vater in der schweren Raumfahrerkombination. Als sie seine angstvollen Blicke bemerkte, lächelte sie ihm tapfer zu. Im letzten Augenblick erschien noch ein blasser Mann mit aufgeschwemmten Zügen unter einer spiegelnden Glatze. Auch er war bereits im Weltraumdreß und wurde sofort von Konstantin beiseile genommen. Angelo konnte keine Silbe ihres hastig getuschelten Gesprächs verstehen. Aber er hatte gehört, daß Konstantin den Glatzköpfigen mit „Herr Kommissar“ anredete. Der Kerl gefiel dem Professor nicht. Er wirkte irgendwie unheimlich. Als der Kommissar sich umwandte, trat Angelo kurz entschlossen heran und stellte sich vor. „Angenehm“, murmelte der andere nur und schritt an dem Professor vorbei auf das Raumschiff zu, das im grellen Licht der Scheinwerfer stand. Die Mannschaft begab sich an Bord. Im Rahmen der Einsteigluke wandte Irene noch einmal den Kopf und nickte lächelnd zurück. Dann war sie im Inneren des Schiffes untergetaucht. Minuten später kam der Startbefehl. Brausend hob sich die Rakete vom Boden ab und schoß himmelwärts. Ihr Ziel war Lilith, der „Schwarze Mond“. 66
* „Ihre neueste Entdeckung, die gute Lilith, erlaubt sich ja schöne Geschichten, lieber Douglas“, sagte Professor Johnson mit gutmütigem Spott. „Ich muß schon sagen, die junge Dame lebt gefährlich. Und wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“ Sie saßen in einem Hörsaal des Observatoriums beim astronomischen Kolloquium – Professor Johnson und seine Kollegen vom Mount Palomar. Die Diskussion drehte sich um den zweiten Erdmond, den Robert Douglas vor einiger Zeit entdeckt hatte. „Liegen neuere Bahnberechnungen vor, Herr Professor?“ fragte Douglas erwartungsvoll. „Wir bekamen die neuesten heute aus Heidelberg“, erwiderte Johnson. „Und was daraus hervorgeht, mutet recht bedenklich an.“ „Hat sich die Bahn des Mondes weiter verengert?“ fragte ein älterer Observator und blies eine mächtige Wolke Zigarrenrauch in den Saal. „Sie verengert sich sogar ständig.“ Professor Johnson unterdrückte einen Hustenanfall und fuhr fort. „Diese Lilith rückt uns bedenklich auf den Pelz. Sie scheint selbstmörderische Absichten zu verfolgen.“ „Schade eigentlich“, bedauerte Douglas. „Ich hätte ihr ein längeres Leben gegönnt. Schon, um die Kollegen in den Recheninstituten zu ärgern.“ Ein Lachen ging durch die Reihen der versammelten Wissenschaftler. Professor Johnson ergriff wieder das Wort: „Nun, ich denke, die armen Leute an den Rechenmaschinen haben auch ohne Lilith genug zu tun. Ich jedenfalls beneide sie nicht um ihre Arbeit.“ „Wie nahe ist Lilith inzwischen herangekommen?“ 67
Der Professor suchte in seinen Notizen. „Also, hören Sie, Gentlemen: Der Kleinmond war bei seinem ersten Auftauchen schätzungsweise 30000 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt. In diesem Augenblick ist sein Abstand bereits auf die Hälfte gesunken. Er stürzt in immer steilerer Spirale um die Erde herum und wird in Kürze …“ „… uns auf den Kopf fallen“, warf ein jünger Student naseweis ein. „Das denken Sie sich so in Ihrem jugendlichen Leichtsinn, Herr Kommilitone“, entgegnete der Professor streng. „Sie haben wohl noch nie etwas von Roches Grenze gehört. Was verstehen Sie darunter? Nun, bitte?“ Der vorlaute Jüngling stand auf und wurde rot. „Roches Grenze“, stotterte er, „man versteht darunter – das heißt – das bedeutet …“ „Das bedeutet, daß Sie es offenbar nicht wissen. Sie haben noch vieles zu lernen, junger Freund. Also, geben Sie gut acht: Ein Mond darf einen ganz bestimmten Abstand von seinem Hauptkörper nicht unterschreiten, sonst wird er durch dessen Anziehungskraft zerstört. Wir nennen diese Entfernung die Rocheschen Grenze. Nähert sich der Mond dieser kritischen Entfernung, so verfällt er der Auflösung. Ein klassisches Beispiel dieser Art ist der berühmte Ring des Planeten Saturn, der bekanntlich – woraus besteht, Herr Kommilitone?“ „Aus – aus lauter einzelnen Teilchen, das heißt aus Steinen und kosmischem Staub.“ „Sehr richtig. Der Saturnring schwebt innerhalb der Rocheschen Grenze, also in einer Entfernung vom Saturn, in der ein Mond nicht existieren könnte. Vielleicht ist dieser Ring aus einem oder einigen früheren Saturnmonden entstanden, die dem Planeten zu nahe kamen und sich auflösten.“ „Und dieses unrühmliche Ende steht Lilith auch unmittelbar bevor“, sagte Robert Douglas gedankenvoll, „Wobei die Masse 68
dieses winzigen Körpers allerdings zu klein sein wird, um der Erde einen ‚Saturnring’ zu bescheren.“ „Zweifellos“, gab Professor Johnson zu „Die Bruchslücke dieses Möndchens werden bei uns höchstens als Meteore und Sternschnuppen in Erscheinung treten.“ „Und wann wird das Feuerwerk losgehen?“ fragte einer der Zuhörer. „Sobald sich Lilith uns auf rund 9500 Kilometer genähert hat; denn in diesem Abstand haben wir in unserem Fall die Rochesche Grenze zu suchen.“ „Schade“, sagte Robert Douglas noch einmal. „Dann dürften die Tage des zweiten Erdmondes also bereits gezählt sein.“ * „Das also ist der Schwarze Mond!“ Mit gemischten Gefühlen sah Irene durch das Bullauge zu dem winzigen Himmelskörper hinüber, auf den das Raumschiff „A 0“ mit voller Kraft des Raketenmotors zusteuerte. Kapitän Ney hatte ihr vor dem Start Ihren Platz in der kleinen Kabine angewiesen, die sie mit dem Funker teilen sollte. Der enge Raum, bis zum Bersten mit Geräten und Kisten vollgepfercht, bot keinerlei Bequemlichkeit. Aber die Fahrt würde nur ein Minimum an Zeit in Anspruch nehmen, und so ließ es sich schon ertragen. Das war er also, der Schwarze Mond, auch „Lilith“ genannt! Für eine unbestimmte Zahl von Tagen oder gar Wochen sollte er ihr und den Gefährten als Aufenthaltsort dienen. Wer konnte wissen, was sie auf seinem Boden erwartete? Feindselig sah er aus, kalt und zerrissen. Nicht einmal Kugelgestalt besaß Lilith, wie Irene es eigentlich von einem Mond erwartet hatte. Ein unregelmäßig gestalteter, mächtiger Brocken – schätzungsweise ein Kilometer im Durchmesser – mit kahler, rauher Oberfläche und tiefen Spalten darin – das war die ganze Herrlichkeit. 69
Irene war eigentlich enttäuscht. Ein wenig großartiger und anspruchsvoller hatte sie sich das Ziel ihrer ersten Weltraumreise doch vorgestellt. Kapitän Ney ließ jetzt die Bremsdüsen spielen. Er fluchte leise in seinen Bart. Ein Wahnsinn war es von diesen Schuften, ihm den Sprit so knapp zu bemessen. Die Fahrt hätte unfehlbar mit einer Katastrophe enden müssen, wenn die Flugzeit zu Lilith nicht kürzer gewesen wäre, als ursprünglich angegeben. Der Schwarze Mond mußte der Erde also näher sein, als man ausgerechnet hatte. Das Raumschiff flog jetzt in gleicher Höhe mit Lilith und verringerte schnell seinen Abstand. In der Schleusenkammer, deren Außentür geöffnet war, standen schon die beiden Matrosen in ihren Schutzanzügen bereit, um als erste den Sprung zu wagen. Eine Signallampe leuchtete zweimal kurz in der Luftschleuse auf. Vorsichtig stießen sich die Männer ab und schwebten zu dem ungastlichen Himmelskörper hinüber. Drüben angekommen, klammerten sie sich an Felsenvorsprüngen fest und verankerten das Raumschiff mit starken Drahtseilen. Es war für Irene ein seltsames und unheimliches Gefühl, als sie zum ersten Male in ihrem Leben den Boden eines fremden Himmelskörpers betrat. Allerdings spürte 70
sie ihn in Wirklichkeit kaum. Angesichts seiner geringen Masse hatte der Kleinmond praktisch keine Anziehungskraft. Es war gar nicht leicht, sich an seiner Oberfläche fortzubewegen. Mit jeder Bewegung, mit jedem Schritt verlor man den Boden unter den Füßen und geriet in Gefahr, hilflos in den Raum davonzuschweben. Was war das für eine Welt?! Irene sah vor sich die zerrissene Oberfläche des Schwarzen Mondes, grell gleißend überall dort, wo das Sonnenlicht sie traf, und an allen übrigen Stellen in schwärzeste Nacht getaucht. Ringsum der Sternenhimmel – und mitten darin ein riesiges, rundes Loch, an einem Rand von einer leuchtenden Sichel eingefaßt: die Erde! Sofort nach der Landung hatte der „Kommissar“ den Versuch gemacht, die Größe des Ereignisses durch eine markante Ansprache zu würdigen und die Fahne seines Landes zu hissen: „Kameraden – in diesem historischen Augenblick …“ Weiter kam er nicht. Er hatte eine schwungvolle Armbewegung ausgeführt, wie er sie wohl auf der Rednerschule gelernt hatte, und verlor dabei den Halt. Wäre er nicht durch das Telefonkabel mit seinen Gefährten verbunden gewesen – der Schwung hätte ihn zweifellos in den Raum entführt. „Festhalten in Kurven!“ grunzte Kapitän Ney ironisch. Der Herr Kommissar verzichtete auf die Fortsetzung der mißglückten Festrede. Ohne weitere Zeit zu verlieren, begann man nun mit dem Entladen des Raumschiffes. Auch Irene griff mit zu. Die Arbeit bereitete nicht die geringste Mühe, da hier, im schwerefreien Raum, alle Gegenstände ihr gewohntes Gewicht verloren hatten. Man mußte nur höllisch aufpassen, daß einem das Fehlen der Erdanziehung nicht immer wieder böse Streiche spielte. Als sämtliche Bauteile und Vorräte auf Lilith provisorisch verstaut waren, ließ Kapitän Ney im nunmehr leeren Laderaum der „A 0“ eine ausgiebige Mahlzeit auffahren. Dann ging man 71
wieder an die Arbeit. Der Kommissar verließ das Raumschiff als letzter und schloß die Einstiegluke sorgfältig ab. Den Schlüssel nahm er persönlich in Verwahrung. Der zweite Teil der Aufgabe bestand darin, die in Einzelteile zerlegten, luftdichten Arbeits- und Unterkunftsräume auf Lilith zusammenzusetzen und fest zu montieren. Inzwischen versuchte der Kapitän, in Begleitung eines Matrosen in eine Bodenspalte einzudringen, um das Innere des Kleinmondes zu erforschen. War es doch durchaus möglich, daß sich dort Höhlungen befanden, die sich mit geringer Mühe baulich auswerten ließen. Irene hatte sich den beiden Männern angeschlossen. In ihrem plumpen Weltraumdreß fiel es ihr schwer, sich durch die engen Spalten zu zwängen, und alle Augenblicke stieß sie mit dem Taucherhelm an die rauhen, steinigen Wände. In dem Augenblick, da sie unter die Oberfläche des Mondes getaucht waren, umfing die drei Menschen tiefschwarze, undurchdringliche Finsternis. Nur dort, wo das Licht der Taschenlampen auf die Wände fiel, leuchtete es grell und unwirklich auf. Hohlräume gab es freilich genug. Man hätte sich mühelos darin verirren können. Der ganze Mond wirkte locker, wie ein riesenhafter Schwamm. „Sehr vertrauenerweckend sieht es hier nicht aus“, meinte Irene zweifelnd. „Ist schon ein Wunder, daß das Ding überhaupt bis heute durchgehalten hat“, brummte der Kapitän und sah sich mißtrauisch um. „Ich für mein Teil möchte mich hier nicht häuslich niederlassen. Werde erst wieder froh sein, wenn wir hier fertig sind und abgelöst werden.“ „Glauben Sie wirklich, Herr Kapitän, daß Lilith die ideale ‚Außenstation’ ist? Ich fürchte beinahe, mein Vater hat sich getäuscht. Aber er konnte es natürlich nicht wissen.“ Kapitän Ney warf noch einen abschätzenden Blick zurück 72
und arbeitete sich weiter dem Ausgang aus diesem Labyrinth von Höhlen zu. „Ich glaube nur, es war ’ne ganz große Schnapsidee. Wollen nur hoffen, daß hier auf Lilith niemals jemand ’nen Schnupfen kriegt. Einmal kräftig niesen – und der ganze Mond fliegt auseinander.“ Sie krochen aus der Bodenspalte wieder ans Licht und wandten sich der Steile zu, an der unter Leitung des Bordingenieurs die einfachen Baulichkeiten der künftigen Station entstanden. Dabei passierten sie eine Stelle, an welcher der Boden fast völlig eben war. Plötzlich hielt Irene verblüfft inne. „Herr Kapitän – was ist denn das?“ Im Sonnenlicht deutlich erkennbar stieg eine Staubwolke aus der kleinen Ebene auf und trieb in den Raum davon. Es sah aus, als hätte ein Windstoß sie aufgewirbelt. Ein Windstoß – hier, auf dem luftlosen Kleinmond? Das war doch unmöglich … „Herr Kapitän, träume ich etwa? Oder …“ „Verdammt noch mal“, knurrte der Alte, „ich habe es auch gesehen. Da stimmt doch etwas nicht.“ Er ließ seine Blicke in die Runde schweifen, über die schroffen Felsen und die Risse im Boden des Schwarzen Mondes. Und da .. War es nicht, als wehte fortwährend Staub vom Boden auf? Trieb er nicht unablässig in trüben Schleiern davon? Oder war alles nur eine Täuschung der überreizten Augen, die durch das übergangslose Nebeneinander von grellster Helligkeit und tiefster Schwärze übermüdet waren? Kapitän Ney starrte in Gedanken auf einen kleinen Stein, der einsam auf einer nahen Felsspitze lag. Da bekam dieser Stein plötzlich Leben und schwebte auf Nimmerwiedersehen davon. „Weitergehen, Leute!“ Des Kapitäns Stimme klang fremd und gepreßt in den Kopfhörern der Taucherhelme. „Hier scheint wirklich allerlei faul zu sein.“ Im Lager war inzwischen die Funkstation als erstes Gebäude 73
fertig geworden. Sie wirkte von außen wie ein Iglu, eine Schneehütte der Eskimos. Neben dem Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift: „Achtung! Luftschleuse! Vor Öffnen der Innentür die äußere Tür fest schließen!“ „Wo ist der Kommissar?“ Der Kommissar hockte neben dem Funker. Beide hatten Kopfhörer über die Ohren gestülpt und lauschten angestrengt. Jetzt schaltete der Funker den Lautsprecher ein. Ein Ruf kam aus dem All – leise und geisterhaft. „Hier Sender ‚Luna nova’, Außenstation des S.A.T. Warnung an alle Raumschiffe auf Mondroute: Kleinmond Lilith nähert sich der Rocheschen Grenze und verfällt der Auflösung. Im Erdabstand von 10000 Kilometer und darunter ist ab sofort mit erhöhter Meteorgefahr zu rechnen. Bord-Radargeräte sind rechtzeitig in Betrieb zu nehmen. Abdichtungsplatten bei Passieren der Gefahrenzone bereit halten. Achtung! Achtung! Kleinmond Lilith löst sich auf.“ „Die neueste Greuelmeldung des S.A.T.“. erklärte der Kommissar geringschätzig. „Die Kerle wollen uns bluffen. Los, schalten Sie ab!“ * Der arme Edgar Kent hätte sich keinen ungünstigeren Augenblick aussuchen können als diese Mittagsstunde, um dem Kommodore mit seinem Anliegen ins Haus zu fallen. Jim Parker war erst am Morgen mit Fritz Wernicke von den Mondwerken zurückgekehrt. In den Tiefen des Georgia-Kraters waren neue Uranvorkommen festgestellt worden, und der Kommodore hatte – gefolgt von einem ganzen Rattenschwanz von Physikern und Prospektoren – im Schweiße seines Angesichts mit Spitzhacke und Zählrohr geschuftet, um eine Vorstel74
lung von der Ausdehnung des Erzlagers und seiner Abbaufähigkeit zu gewinnen. Mitten aus der Arbeit heraus hatte ihn der Befehl Ted S. Cunninghams geholt, sofort nach Orion-City zu kommen, um einige letzte Testflüge mit dem neuesten Langstrecken-Raketenflugzeug XS – 427 durchzuführen, bevor es in Serie gegeben werden sollte. Die Stimmung des Kommodores war daher schon beim Eintreffen auf dem Raketenflugplatz der City nicht gerade rosig. Sie wurde nicht rosiger, als es sich dann herausstellte, daß das Überschallflugzeug eine Panne am Leitwerk aufwies, deren Reparatur gut 24 Stunden in Anspruch nehmen würde. Und als dann beim Betreten seines Hauses Edgar Kent hilfeflehend auf ihn zugestürzt kam, war dem Kommodore der Appetit restlos vergangen. Die geliebte „Maza-Blend“ flog halbgeraucht aus dem Fenster. „Sie hatten mir heute gerade noch gefehlt.“ „Kommodore, helfen Sie doch“, flehte der junge Weltraumpilot aufgeregt. Er schien die unfreundliche Begrüßung gar nicht bemerkt zu haben. „Bitte, behalten Sie Platz. Darf ich Sie zum Mittagbrot einladen? Sie können meine Suppe essen. Ich habe keinen Hunger.“ Aber Edgar Kent schien keinen Wert auf die Suppe des Kommodores zu legen. „Vielen Dank – aber ich bin wirklich nicht zum Essen gekommen. So helfen Sie doch, Kommodore!“ „Ja, zum Donnerwetter, was ist denn eigentlich los?“ „Aber Kommodore, haben Sie denn noch gar nichts davon gehört? Lilith nähert sich der Rocheschen Grenze und löst sich auf.“ „Lilith? Sorry – bedauerlicher Verlust für die astronomische Wissenschaft. Ich kann es aber nicht ändern.“ Edgar Kent war der Verzweiflung nahe. „Aber wir müssen doch etwas unternehmen! Auf Lilith ist kurz zuvor ein Raumschiff aus Krasnograd gelandet. Man wollte den Schwarzen 75
Mond als Weltraumstation ausbauen, und nun sitzen die Leute da fest – hilflos der Vernichtung preisgegeben.“ „Das tut mir aufrichtig leid. Andererseits geschieht es ihnen recht. Wer sich ohne Erfahrungen und ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen auf Abenteuer im Weltraum einläßt – der muß auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Wir können dabei gar nichts machen. Ich werde mich schwer hüten, auf eigene Verantwortung die Raumstationen fremder Nationen zu besuchen. Nachher glaubt man mir die gute Absicht doch nicht und stempelt mich zum Spion. Ganz abgesehen von den unvermeidlichen außenpolitischen Folgen. Übrigens, old fellow – Sie sind ja in geradezu auffallender Weise um die Leute aus Krasnograd besorgt …“ „Ja, gewiß – Irene ist doch mit auf Lilith, Irene Angelo!“ Jim Parker erinnerte sich zwar nicht genau, wo ihm dieser Name bereits begegnet war, aber er ahnte so einiges. Nachdenklich sah er zu Edgar Kent hinüber. Dann ging er zum Telefon, rief die S.A.T.-Zentrale an und ließ sich mit Generaldirektor Cunningham verbinden. Mit höchster Spannung lauschte Kent dem Gespräch. Er konnte auch die Stimme des dicken Ted S. – zwar verzerrt, aber doch deutlich – vernehmen. „Parker“, meldete sich der Kommodore. „Hallo, Boß, verzeihen Sie die Störung! Wollte nur mal wissen, was eigentlich mit Lilith los ist.“ „Geht in die Binsen“, antwortete Cunningham. „Hat nur noch eine Galgenfrist. Wird sich in Wohlgefallen auflösen, beziehungsweise in Meteorsteine jeder Größe und Ausführung. Habe unsere Mondschiffe bereits über ‚Luna nova’ warnen lassen.“ „Und diese Herren aus – ahem – aus Krasnograd, die da oben gelandet sind?“ „Gehen mit in die Binsen. Können nicht mehr aus eigener 76
Kraft zurück und senden seit zwei Stunden dringende SOSRufe.“ „Man wird eine Rettungsexpedition von Krasnograd entsenden.“ „Möchte man bestimmt gern tun; geht aber leider nicht, weil man anscheinend kein Raumschiff mehr startbereit hat.“ „Dann müssen wir einspringen, Boß!“ „Hm. Man hat uns nicht darum gebeten und würde unsere Einmischung bestimmt in die falsche Kehle kriegen.“ „Es geht um Menschenleben, Boß.“ Pause. Dann wieder Cunninghams Stimme: „Also gut, Parker. Ich nehme die Sache auf meine Kappe. Fahren Sie sofort nach ‚Luna nova’ und starten Sie von dort aus die Hilfsaktion. Verlieren Sie keine Zeit und – seien Sie vorsichtig!“ „Danke“, grinste der Kommodore. „Keine Sorge, Boß, ich gehe schon nicht zu nahe ran. Dazu bin ich nämlich viel zu ängstlich. So long!“ * Das unangemeldete Erscheinen Jim Parkers und seiner Begleiter, Fritz Wernicke und Edgar Kent, rief auf der Außenstation einige Aufregung hervor. Vermutete man doch den Kommodore in dem fernen Mondwerk „Luna IV“. Sein plötzliches Erscheinen mußte eine ganz besondere Bedeutung haben. Doch Henri Lasalle, der Kommandant der Station, der den unerwarteten Gästen an die Luftschleuse entgegengeeilt war, kam gar nicht zur Besinnung. Jim Parker schnitt ihm die schwungvolle Begrüßungsrede mitten im Wort ab. „Wie viele Mond-Transportraketen sind auf der Station startbereit?“ „Zur Zeit nur die ‚L 28’, Kommodore. Und dann noch zwei kleinere Zubringerraketen, Nr. 106 und 145.“ 77
„Gut. Lassen Sie die ‚L 28’ und die ‚106’ sofort bemannen. Wir fahren zur Lilith. Neue Funksprüche von dort erhalten?“ „Nein, Kommodore. Bis vor einer halben Stunde kamen fortgesetzt SOS-Rufe. Dann brachen sie plötzlich ab. Unsere Sendestation hat vergeblich versucht, Verbindung aufzunehmen.“ „Aha. Scheint also Matthäi am letzten zu sein. Höchste Zeit, daß wir kommen – Kent!“ „Jawohl, Kommodore?“ „Sie übernehmen das Kommando der ‚106’. Wernicke und ich, wir fahren mit der ‚L 28’ voraus. Sie folgen uns in tausend Meter Abstand und unternehmen nichts ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Verstanden?“ „Verstanden, Kommodore.“ „Gut. Also, dann los, Boys!“ * Es waren Stunden des Schreckens, die für die Menschen auf dem Schwarzen Mond hereinbrachen. Kein Zweifel bestand mehr darüber: Lilith strebte in einer enger werdenden Spirale der Erde zu. Schon war die 10 000-Kilometer-Grenze unterschritten. Nichts konnte den Sturz ins Verderben mehr aufhalten. Die Auflösung des kleinen Himmelskörpers schritt sichtbar voran. Wie Rauchwolken wallte der Staub auf und verlor sich im Raum. Kleinere Felsgrotten bröckelten oder stürzten, wie von Geisterhand angerührt, zusammen. Wirbelnd schwebte das lockere Gestein davon. Eine dumpfe Lethargie hatte sich der meisten Männer bemächtigt. Teilnahmslos hockten sie in den notdürftig hergerichteten Räumen und dösten vor sich hin. Nur Kapitän Ney schritt wie ein gereizter Löwe in der Befehlszentrale auf und ab und 78
erging sich in heftigen Auseinandersetzungen mit dem Kommissar. Sie drohten in Tätlichkeiten auszuarten, und erst vor der schußbereiten Pistole des Kommissars wich der Schiffsführer knurrend zurück. Irene hatte sich in die Behausung des Funkers geflüchtet. Hier geschah doch wenigstens etwas, wenn es wahrscheinlich auch zwecklos war. Pausenlos funkte der Mann den Notruf ins All. Irene hatte einen Kopfhörer aufgesetzt und lauschte jedesmal angespannt, wenn der Funker auf Empfang umschaltete. Aber nichts rührte sich. Kein trostreiches Wort drang durch das Schweigen des Weltalls an ihre Ohren. Krasnograd antwortete nicht. „Und dabei möchte ich schwören, daß die Schufte uns hören“, knirschte der Funker wütend. SOS – SOS … Durch die Tür der Luftschleuse schaute plötzlich der Kommissar herein. Er öffnete das Visier seines Taucherhelms und warf dem Funker einen eng beschriebenen Zettel auf den Tisch. „Sofort nach Krasnograd durchgeben, Mann, und zwar wortwörtlich! Sonst …!“ Der Kommissar verschwand. Der Funker unterbrach den Notruf und las die Meldung durch. Irene schaute ihm über die Schulter. „Aber – das ist ja Wahnsinn!“ rief sie entsetzt. „Oh, dieser Schurke, dieser Lügner.“ Die Meldung war an Herrn Konstantin gerichtet und enthielt in dürren Worten die ungeheuerliche Behauptung, Professor Angelo habe die Vorbereitung der Expedition nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt und sich somit an ihrem unmittelbar bevorstehenden Untergang schuldig gemacht. Es sei ein klarer Fall von Sabotage. Der Gelehrte sei sofort von seinem Posten zu entheben und – auf Grund besonderer Vollmacht zu verhaften. 79
Für Irene war jetzt alles klar. Man brauchte wieder einmal einen Sündenbock, und jedes Mittel war recht, um ihn zu finden. Ihr Vater war verloren, wenn diese Depesche nach Krasnograd gelangte. „Sie dürfen das nicht durchgeben“, beschwor sie den Funker. Doch der schien sich plötzlich in einen Roboter, ein Wesen ohne Herz und Gefühl, verwandelt zu haben. „Befehl ist Befehl“, murmelte er nur und gab das Rufzeichen. Da schnellte Irene sich gegen ihn vor. Sie riß ihm das Blatt aus der Hand, zerknüllte es und wich einen Schritt zurück. Mit einem Fluch war der Funker ihr nach. Sie rangen miteinander und schwebten, sich überschlagend, in dem engen Raum herum. Hier, im Zustand der Schwerelosigkeit, gab es kein Oben und kein Unten. Alles ging drunter und drüber. Mitten in dem tollen Durcheinander gab es plötzlich ein gräßliches Klirren und Krachen. Sie hatten das unersetzliche Funkgerät umgerissen und es zertrümmert. Augenblicklich legte sich ihre Kampfeswut. Irene suchte schwer atmend einen Halt, während der verzweifelte Funker nach den Trümmern fischte, die schwerelos in der Luft herumschwebten. In das Schweigen hinein ertönte ein Bersten und Knirschen. Das unheimliche Geräusch schien aus dem Boden zu kommen. Vor dem Fenster drehte sich die wilde Landschaft des Schwarzen Mondes in einem erschreckenden, tödlichen Reigen. „Die Verankerung muß sich gelöst haben. Wir schweben mit der Funkkabine davon“, stammelte Irene. „Der Mond – er zerbricht! Es ist zu Ende – wir sind verloren – verloren!“ schrie der Funker in panischem Entsetzen. „Raus hier – schnell raus!“ „Halt – Menschenskind, schließen Sie doch wenigstens vorher den Taucherhelm!“ rief Irene zurück. „Sie ersticken ja, wenn Sie so hinausrennen.“ 80
Der Funker sah das ein. Die beiden Menschen schraubten die Sichtscheiben ihrer Helme zu und verbanden sich durch das Telefonkabel, das jeder von ihnen aufgerollt auf dem Rücken des Weltraumpanzers trug. Dann versuchten sie, einen Blick aus dem Fenster zu tun. Das Bild, das sie da sahen, machte sie schwindeln. Der Mond befand sich in völliger Auflösung. Inmitten von Staubwolken und zerbröckelnden Felsen taumelten die Geräte und Hütten herum, die man von der Erde mitgebracht hatte. Und hier und da schwamm in diesem Wirrwarr der unförmige Körper eines Menschen im dicken Weltraumschutzanzug umher, hilflos mit den plumpen, gepanzerten Gliedmaßen rudernd. Irene schloß die Augen vor diesem Bild des Grauens. Sie fühlte ihre Sinne schwinden. Eine wohltuende Ohnmacht hüllte sie ein. – * Auch in der Befehlszentrale hatte man das Auseinanderbrechen des Schwarzen Mondes bemerkt. Mit bleichen Gesichtern sahen sich die drei Männer an, die hier zusammensaßen – der Kommissar, der Bordingenieur und Kapitän Ney. Der Kapitän mußte unwillkürlich daran denken, was wohl jetzt in diesem Himmelskörper vor sich gehen mochte, dessen Inneres von Hohlräumen wie ein Schwamm durchsetzt war. Ihm wurde übel bei dieser Vorstellung. „Raus hier!“ würgte er und wollte sich zur Tür schnellen. Doch da stand schon der Kommissar im Eingang der Luftschleuse und hielt die Pistole in der Faust. „Hiergeblieben, ihr Lumpen!“ knirschte er. „Keinen Schritt, oder …“ Doch Kapitän Ney beachtete die Warnung nicht. Mit einem unartikulierten Laut sprang er vor und – prallte im nächsten Augenblick, von der Kugel des Kommissars getroffen, zurück. 81
Lautlos, wie ein Schemen, war der Kommissar verschwunden. Draußen hielt er sich nicht lange auf. Er hastete durch die Hölle des Untergangs. Was kümmerten ihn die Gefährten? Mochten sie selbst sehen, wie sie weiterkamen. Für ihn gab es nur eine Aufgabe: das eigene kostbare Leben zu retten! Und die Rettung war so nahe! Dort drüben, knapp fünfzig Meter entfernt, schwebte der mächtige Leib des Raumschiffes „A 0“, durch zwei Drahtseile mit dem berstenden Mond verbunden und wohlverschlossen. Und der Schlüssel zur Einstiegluke steckte in seiner Tasche. Der Fliehende verlor nicht einen Augenblick. Rasch löste er die Seile, hangelte sich an einem daran zum Schiff hinüber, schleuste sich ein und eilte in den Führerstand. Er nahm sich nicht einmal Zeil, den schweren Raumtaucheranzug zu öffnen. Da war das Schaltbrett, waren die Hebel, deren Bedienung er sich auf der Hinfahrt genau eingeprägt hatte. Er drückte den Anlasserknopf. Die Pumpen begannen zu arbeiten. Ein Hebeldruck – noch einer … Ein Zittern ging durch das Schiff. Schwer preßte der Andruck den Mann in den Sitz. Der Motor arbeitete. Das Schiff fuhr. Es ging zurück – zur rettenden Erde! Aufatmend griff er in die Steuerung. Doch da packte ihn ein lähmender Schreck. Das Brausen des Raketenmotors wurde schwächer. Noch ein paar heftige, unregelmäßige Stöße. Dann Stille. Auch der Andruck war verschwunden. Die Zeiger der Treibstoffuhren auf dem Armaturenbrett standen auf Null. Mit Entsetzen fiel es dem Kommissar wieder ein: Man hatte nur so viel Treibstoff mitgenommen, wie für die Hinfahrt gebraucht wurde. Die Tanks waren leer! Aufstöhnend sank der Kommissar zurück. Wie ein Meteorstein stürzte die Rakete aus dem Weltraum der Erde entgegen, mit ständig wachsender Geschwindigkeit. 82
Rot glühte ihr Körper auf, als sie in die irdische Lufthülle einschoß. Irgendwo in der einsamen Wasserwüste des Stillen Ozeans schlug sie auf und versank, zerfetzt und ausgeglüht, für immer in den Fluten. * „O Jim – das nenne ich wirklich ‚allerhöchste Eisenbahn’“, rief der kleine Fritz Wernicke, als sie mit der Mondrakete „L 28“ in die Nähe des platzenden Mondes kamen. Der Kommodore nickte grimmig. „Eine tolle Bescherung, Fritz. Habe in all den Jahren, die wir nun schon den schönen Weltraum unsicher machen, nie ein solches Gulasch von Klamotten aller Art beisammen gesehen.“ Zwischen den Staubwolken und Gesteinstrümmern, die den Ort des sterbenden Kleinmondes bezeichneten, konnte man mit dem Feldstecher einzelne Raumtaucheranzüge erkennen. „Die Kerls waren wenigstens schlau genug, beizeiten in ihre Kombinationen zu kriechen“, meinte Wernicke. „Wird aber doch verdammt schwierig sein, sie aus dieser greulichen Suppe herauszufischen.“ „Es hilft uns nichts, Fritz – wir müssen es versuchen. Schätze, wir dürfen nun nicht näher herangehen. Setz dich ans Steuer und gib gut acht, daß wir nicht mit einem von diesen lieblichen Felsbrocken aneinander geraten. Das könnte peinliche Folgen für Schiff und Mannschaft haben.“ „Und du, Jim?“ „Ich nehme mir zwei Mann mit und steige aus. Mal sehen, ob wir Freund Hein nicht doch noch ein paar Brocken wegschnappen können. Laß inzwischen Befehl an Kent durchgeben: Er soll herankommen und mit der ‚106’ in Bereitschaft bleiben. So long, Fritz.“ „Mach’s gut, Jim. Und komm wieder!“ 83
* Die beiden Raumschiffmatrosen, die Jim Parker sich als Begleiter ausgesucht hatte, waren „alte Hasen“ – mit allen Tücken des Weltraums vertraut. In ihren Raumtaucheranzügen, nur durch Sprechfunk miteinander und mit dem Schiff verbunden, bewegten sie sich mit ihren Rückstoßpistolen vorwärts und machten Jagd auf die plumpen Gestalten, die hilflos zappelnd zwischen den Trümmern herumschwebten. Alles entwickelte sich verhältnismäßig schnell. Bevor vierzig Minuten vergangen waren, befanden sich Retter und Gerettete wieder an Bord der „L 28“. Alles war ohne einen ernsteren Zwischenfall abgelaufen. Edgar Kent hatte es nicht länger in seinem Führerstand ausgehalten. Kurz entschlossen trat er das Kommando an den Ersten Maschinisten ab und eilte zur „L 28“ hinüber. Aufgeregt musterte er die Gesichter der Geretteten. Es waren im ganzen sechs. Einer von ihnen, anscheinend der Kapitän, hatte eine schwere Schußverletzung. Aber auch die übrigen trugen den Ausdruck der Erschöpfung und der kaum überstandenen Todesangst in den verzerrten Zügen. Doch Irene war nicht dabei! „Wo ist – wo ist Fräulein Angelo?“ fragte Edgar mit versagender Stimme. Die sechs Männer blickten sich erstaunt an. Erst jetzt schienen sie zu bemerken, daß sie nicht vollzählig waren. „Ich sah sie zuletzt im Funkraum“, stotterte einer von ihnen schließlich. „Und wo ist dieser Funkraum?“ Ratlos blickte der Mann durch das Fenster, zu den schwebenden Trümmern hinüber, die sich mehr und mehr verteilten. Eine Anzahl größerer Brocken hatte sich bereits aus dem 84
Haupthaufen abgesondert. Es lag auf der Hand, daß sie in Kürze auf die Erde stürzen würden. „Da!“ rief der Funker plötzlich. „Sehen Sie – da unten!“ „Was denn? Das nennen Sie ’nen Funkraum?“ fragte Fritz Wernicke mißtrauisch. „Sieht mir eher aus, wie die prunkvolle Villa von Nanuk, dem Häuptling der Eskimos.“ Der fremde Funker ließ sich nicht beirren. „Es ist der Funkraum. Da drinnen muß sie stecken – sofern sie noch lebt!“ Mit einem Sprung war Edgar Kent in der Schleusentür. „Melde mich ab, Kommodore. Ich steige aus!“ „Halt, Kent, das geht schief! Die Entfernung ist schon zu groß.“ „Können Sie nicht näher rangehen, Kommodore?“ „Unmöglich, Kent. Wir würden mit dem Schiff in den Trümmerhaufen geraten und siebartig durchlöchert werden.“ „Dann muß ich es von hier aus versuchen.“ „Auf Ihre Verantwortung, Kent. Aber lassen Sie sich wenigstens anseilen!“ Sekunden später stürzte sich der junge Weltraumpilot aus der Schleuse der „L 28“ ins Nichts. Geschickt manövrierte er sich mit der Rückstoßpistole an den abstürzenden Funkraum heran. Nach Augenblicken höchster Spannung, in denen die Zurückgebliebenen kaum zu atmen wagten, sah man Kent in dem Behälter verschwinden, der wie ein Iglu geformt war. Eine Minute dehnte sich zur Ewigkeit. Endlich tauchte der plumpe Körper wieder auf. Er zerrte einen zweiten, ähnlichen hinter sich her. Doch die beiden Gestalten rührten sich nicht vom Fleck. Verwundert blickten sich die Männer an den Fenstern des Raumschiffes an. „Seine Rückstoßpistole ist leer“, meinte Fritz Wernicke. „Richtig, Fritz, so wird es sein. Los, Leute, holt das Seil ein. Aber vorsichtig, wenn ich bitten darf“ Zwei Matrosen stürmten bereits zur Schleusenkammer, um den Befehl ihres Kommodores auszuführen. 85
Als sich die Schleusentür hinter den Geretteten schloß, gab Jim Parker das Kommando zur Abfahrt. In weitem Bogen machten die beiden Raumschiffe kehrt und nahmen Kurs auf „Luna nova“. * Fedor Uralski hatte sich von seinen Verletzungen so weit erholt, daß Doktor Feller keine Bedenken mehr hatte, ihn aus der Behandlung zu entlassen. Der junge Assistent sollte mit der nächsten fahrplanmäßigen Zubringerrakete zur Erde zurückkehren. „Sie haben unendlich viel für uns getan, Kommodore Parker“, sagte er bewegt, als Jim mit den Geretteten von Lilith zurückkam. „Ohne Ihre Hilfe und Ihren unerschrockenen und selbstlosen Einsatz wäre keiner von uns allen mit dem Leben davongekommen. Wir müssen Ihnen und Ihren Kameraden ewig dankbar sein. Wenn ich doch Irgend etwas tun könnte, um einen kleinen Teil dieser Dankesschuld abzutragen …“ Verlegen wehrte Jim Parker ab. „Lassen Sie es gut sein, Doktor. Wir haben nicht mehr getan, als unsere Pflicht – als Menschen und als Weltraumkameraden.“ „Sie könnten etwas tun, Fedor“, erklang da plötzlich Irenes Stimme, „wenn auch nicht für Mister Parker, so doch für meinen Vater – und für mich. Bitte, Fedor, helfen Sie Papa. Er ist in größter Gefahr. Man wirft ihm Sabotage vor und gibt ihm die Schuld an allem Unglück – ganz zu Unrecht, wie Sie selbst am besten wissen. Helfen Sie uns, Fedor. Wissen Sie nicht einen Weg?“ Das Gesicht des jungen Mannes wurde sehr ernst. Einen Augenblick dachte er angestrengt nach. Doch dann hellten sich seine Züge auf. „Ich will es versuchen, Irene. Vielleicht gibt es einen Weg. Er ist abenteuerlich und gefahrvoll, aber er müßte möglich sein. 86
Doch dazu brauchte ich abermals Kommodore Parkers Unterstützung.“ „Bitte“, sagte Jim Parker bereitwillig, „verfügen Sie über mich. Was soll ich dabei tun?“ „Die einzige Möglichkeit, Professor Angelo in dieser Situation noch zu retten, besteht darin, ihn – zu entführen.“ „Entführungen scheinen Ihre Spezialität zu sein, Mister – Maine“, sagte Edgar Kent ironisch. „Verzeihung – diesmal würde ich es geschickter anfangen. Und außerdem sind meine Chancen unvergleichlich höher, da ich Jim Parker nicht als Gegenspieler habe.“ „Zugegeben“, lachte der Kommodore. „Also, was kann ich für Sie tun?“ „Sorgen Sie dafür, daß man mir die XS – 427, das neue Langstrecken-Raketenflugzeug, leiht.“ Dem Kommodore blieb vor Schreck der Mund offenstehen. „Lieber Mann, wie denken Sie sich das nur? Die XS – 427 existiert bisher nur in einem einzigen Exemplar. Und dieses kostbare Stück sollen wir aus der Hand geben, sollen es sozusagen direkt in die Höhle des Löwen schicken? Der dicke Cunningham kriegt einen Schlaganfall, wenn er das hört.“ „Der Boß hat schon schwerere Sachen verdaut“, mischte sich Kent wieder ein. „Ich finde den Plan – ehrlich gesagt – nicht schlecht und stelle mich freiwillig als Pilot zur Verfügung.“ „Ich hätte – ehrlich gesagt – selbst größte Lust, mitzumachen“, lächelte der Kommodore. „Aber das würde mir Cunningham nie und nimmer gestatten. Also gut, Boys, ich will mein möglichstes tun. Vielleicht läßt der Alte mit sich reden.“ * Professor Angelo schreckte aus quälenden Träumen auf. War das nicht Irenes Stimme gewesen, die ihn rief? Aber nein – seine 87
Tochter befand sich ja auf Lilith, dem Schwarzen Mond, und er selbst lag auf seinem Lager in Krasnograd und wartete – wartete seit Tagen auf ihre Rückkehr, auf ein Lebenszeichen von ihr. – Im Laufe des vergangenen Tages mußten schlechte Nachrichten eingetroffen sein. Herr Konstantin vermied es geflissentlich, auf das Projekt „Lilith“ zu sprechen zu kommen. Einsilbig und verschlossen wich er allen Fragen des Professors aus. Und wieder breitete sich jene eisige Atmosphäre des Mißtrauens in ganz Krasnograd aus, die Angelo jedesmal beklemmend an die Kehle griff, wenn er nur daran dachte. Er horchte in die Stille hinaus, durch die nur leise der Nachtwind sang. Da – war das nicht ein schrilles Pfeifen, ein Brausen hoch in den Lüften? Ein Düsenflugzeug mußte es sein. Gleich würde, es landen. Was das wohl wieder zu bedeuten hatte? Am Barackeneingang wurden Schritte laut. Jemand sprach mit dem Wachtposten. Die Schritte kamen näher – ein energisches Klopfen an der Tür, die gleich darauf aufsprang. Ein Mann in einer fremdartigen Fliegerkombination trat ein. „Uralski!“ „Pst, Professor! Schnell, machen Sie sich fertig. Wir bringen Sie in Sicherheit – auf dem Luftwege.“ Im Herzen des alten Mannes bäumten sich Trotz und gekränktes Ehrgefühl auf. „Was fällt Ihnen ein, Uralski? Ich bin kein Verbrecher, ich habe keine Schuld an dem Mißlingen der Projekte um die Weltraumstation. Nein, nein, ich bleibe hier. Eine Flucht würde wie ein Geständnis aussehen.“ „Darum geht es jetzt nicht“, unterbrach ihn Uralski ungeduldig. „Es geht um Ihre Freiheit, um Ihr Leben. Professor. Denken Sie an Irene. Ich versprach ihr, Sie herauszuholen und …“ „Irene! Sie lebt – Sie haben mit ihr gesprochen?“ „Sie wurde gerettet und befindet sich in Orion-City in Sicherheit. Kommen Sie jetzt, Professor. Schnell!“ 88
Leise schlichen sie durch den langen Gang zur Barackentür. Der Professor stieß sie auf – und prallte zurück. Vor ihm stand Herr Konstantin und grinste sie höhnisch an. „Ich fürchte, meine Freunde, aus Ihrer netten kleinen ‚Dienstreise’ wird nichts. Es ist stets ein Fehler, sich in flagranti erwischen zu lassen.“ Zitternd wich Angelo zurück. Doch Uralski sprang mit einem knurrenden Laut vor und wollte den anderen zur Seite drängen. „Halt!“ brüllte Konstantin und hob die Pistole. Doch Uralski schoß zuerst. Der Getroffene ließ die Waffe fallen und stürzte zu Boden. An ihm vorbei eilte Uralski ins Freie. Er zerrte den entsetzten Gelehrten hinter sich her. Sie hatten etwa hundert Meter freies Gelände zu überqueren, um das startbereite Raketenflugzeug zu erreichen. Und sie mußten um ihr Leben rennen. Der Schuß hatte die Wachen alarmiert. Maschinenpistolen bellten auf, Kugeln sangen um ihre Ohren. Mit rasendem Herzen langte der Professor bei der Maschine an. Kräftige Hände zogen ihn herein. Die Stimme des Piloten mahnte: „Hasch, Uralski – rein mit Ihnen! Sie verpassen noch den Omnibus.“ Doch Uralski, dessen Finger schon den Rahmen der Einstiegluke umkrallten, zuckte plötzlich zusammen und sank zurück: Mit einem Sprung war der Pilot neben ihm und leuchtete ihm ins Gesicht. „He, Kamerad – was ist los?“ Er sah sofort, daß hier keine Hilfe mehr möglich war. Die Kugel eines Wachsoldaten hatte Uralski tödlich verletzt. „Bringen Sie – Angelo in – Sicherheit“, flüsterte er, „und grüßen Sie – Irene.“ Dann war es, als schliefe er ein … Edgar Kent turnte auf den Führersitz und schloß die Hermetiktür. Draußen kamen von allen Seiten Wachen herbeigerannt. 89
Sie hatten das Feuer eingestellt. Offenbar wollten sie versuchen, das unbekannte Flugzeug unbeschädigt zu erbeuten. Die ersten waren schon auf 30 Meter heran – auf 20, auf 15 Meter – da gab Edgar Kent Vollgas! Professor Angelo blickte aus schwindelnder Höhe zurück., Da unten, wo die Lichter blinkten und die Lichtarme der Scheinwerfer geisterhaft huschten – dort lag die Stätte, die jahrelang für ihn Arbeit und – Gefangensein bedeutet hatte. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, je wieder die Welt da draußen zu sehen. Doch nun atmete er tief auf. Auf brausenden Flammen trug ihn der silberne Vogel der Freiheit und einem neuen Leben entgegen. – Ende –
Verlag und Druck: Erich Pabel, Rastatt in Baden, 1954 (Mitglied des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger e. V.) Die Bände dieser Serie dürfen nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Scan by Brrazo 08/2010
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Lesen Sie im nächsten (22.) UTOPIA -Band: In Nordafrika geht das gewaltige technische Projekt der Bewässerung der Wüste Sahara seiner Vollendung entgegen. Kurz vor dem Abschluß der Arbeiten ereignen sich jedoch rätselhafte Zwischenfälle, die Leben und Werk der kühnen Ingenieure bedrohen. Die Weltpolizei vermutet ihre Urheber in den Reihen des „Hammada“, eines Geheimbundes fanatischer, von Fremdenhaß beseelter Araber. Als der unsichtbare Gegner zum Sturm auf die Wüstenstadt In Salah ansetzt, beginnt der große Endkampf um das Sahara-Projekt. Sollten Sie die vorhergehenden UTOPIA-Bände 1 bis 20 bei Ihrem Zeitschriftenhändler nicht mehr erhalten, dann wenden Sie sich bitte direkt an den Verlag Erich Pabel Rastatt. (Baden) Senden Sie dabei den Geldbetrag (je Band 50 Pf) auf das Postscheckkonto Karlsruhe 224 46 ein Aber hierbei nicht vergessen, die gewünschten Nummern auf der Rückseite des linken Zahlkartenabschnittes anzugeben. Auch können Sie den Geldbetrag in bar sofort Ihrer Bestellung beifügen. 92
Auf dem Wege zur Weltraumfahrt 21) Die Marsoberfläche und ihre Rätsel Keine andere Planetenoberfläche kennen wir so gut, wie die des Mars. Seine verhältnismäßig dünne, durchsichtige Atmosphäre ermöglicht uns eine Vielfalt von Beobachtungen und Messungen verschiedenster Art, so daß wir uns ein recht genaues Bild davon machen können, wie es auf unserem Nachbarn im Weltraum aussieht. Im Fernrohr erscheint die Marsoberfläche aus graugrünen und gelbroten Flächen zusammengesetzt. Wir nehmen heute an, daß die rötlichen Flecke Wüsten sind, die grünlichen dagegen einen bescheidenen Pflanzenwuchs tragen. Meere und größere Wasserflächen, wie auf der Erde, gibt es auf dem Mars nicht. Die Temperaturen liegen im Durchschnitt rund 30 Grad unter den entsprechenden irdischen. Während die Polargebiete im Winter -100 Grad Celsius zeigen, kann es am Äquator mittags bis zu -20 Grad warm werden. Im großen und ganzen herrscht also auf dem Mars ein kaltes, trockenes Wüstenklima. In der Lufthülle des Mars konnte man Sauerstoff und Wasserdampf nachweisen, wenn auch in geringeren Mengen als in der Erdatmosphäre. Der Kohlendioxydgehalt ist dagegen größer als derjenige der irdischen Luft. Die Marsatmosphäre ist wesentlich dünner als unsere Luft. Sie dehnt sich bis in höchstens 190 km Höhe über der Planetenoberfläche aus, während die äußersten Ausläufer der Erdatmosphäre in rund 500 km Höhe über dem Erdboden anzutreffen sein dürften. Auch Winde und Wolken aus Eiskristallen konnten gelegentlich in der Marsatmosphäre beobachtet werden. Mit Hilfe der Photographie und zahlreicher feiner astrophysikalischer Meßmethoden konnte man in den letzten Jahrzehnten dem roten Planeten manches seiner Geheimnisse entreißen. Doch sind noch genügend andere bis heute ungeklärt geblieben. Das interessanteste von allen sind die rätselhaften „Marskanäle“. (Fortsetzung folgt) 93
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