Gruselspannung pur!
Der Ring des Nostradamus
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Jochen Probstier verteilte Gül...
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Gruselspannung pur!
Der Ring des Nostradamus
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Jochen Probstier verteilte Gülle auf seinem Acker. Er ahnte nicht, daß sich derweil Unheil über ihm zusammenbraute. Eine Wolke in der Form einer riesigen Sense erschien am Winterhimmel. Schwarze, unheimliche Augen zeichneten sich wie unheilverkündende Vorboten auf dieser Horror-Wolke ab. Der stämmige Bauer saß auf seinem schweren Traktor und zog den Gülletankwagen hinter sich her. Die stinkende Brühe wurde dabei auf den noch ungepflügten Acker gespritzt. Es war Anfang Januar und viel zu warm für die Jahreszeit. Zum Glück, so brauchte er die Gülle nicht zur teuren Entsorgung ins Klärwerk zu transportieren. Sie auf gefrorenen Böden auszubringen, war verboten. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Der stämmige Bauer drehte seine Kreise und dachte dabei über die für ihn damals guten Zeiten des Sozialismus nach, als ihm die Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften - die LPGs Schutz und Unterstützung gewährt hatten. Der Grüne Plan nach der Wende gefiel ihm viel weniger. Probstier schneuzte sich kräftig über den Daumen, um seiner Verachtung dafür Ausdruck zu verleihen. Plötzlich spürte der kräftige Mann, in derber Cordhose und Joppe, mit Schal und in Gummistiefeln, wie ihn ein eiskalter Schauer überlief. Probstier spürte die Ausstrahlung des Unheimlichen, Drohung und große Gefahr. Er stoppte den Traktor, ließ ihn im Leerlauf tuckern und schaute sich um. Er sah niemanden. Achselzuckend wollte er wieder losfahren. Doch das komische Gefühl ließ ihn nicht los. Abermals schaute er hinter sich, dann hinauf zum Himmel über den Grunstedter Tannen. Vor diesem Flurstück zwischen Niedergrunstedt, Gelmeroda und Legefeld, in der Nähe von Weimar, befanden sich Probstlers Äcker. Der rothaarige Mann mit den kräftigen Händen und den zahlreichen Sommersprossen erstarrte. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Am Himmel über dem Waldstück sah er die düstere Wolke in der exakten Form einer Sense. Unheildrohend zog sie heran. Eine schwefelfarbene und dunkelrote Aura umgab sie. Der rothaarige Bauer schluckte. Er hatte schon viele Naturphänomene gesehen und erlebt, und er wußte, daß Wolken seltsame Formen annehmen konnten. Entfernt und verzerrt konnten sie an Männerköpfe, galoppierende Pferde und alles mögliche erinnern, je nach Phantasie des Betrachters. Bei dieser Wolke jedoch war es anders. So exakt konnte keine Sense dargestellt werden. Die Wolke war wie eine klaffende Wunde am Himmel, ein Tor in eine andere, eine höllische Dimension. Auch die aus ihr hervorspähenden zwei Augenpaare entgingen dem Bauern nicht. Er kniff sich in den Unterarm und blinzelte mehrmals. Aber das Bild blieb. Es war keine Halluzination. Während Probstier emporschaute und sich überlegte, worauf dieses Phänomen zurückzuführen sein konnte, ritt aus der Sensenwolke eine unheimliche Gestalt heraus. Sie saß auf einem Knochenpferd, trug einen schwarzen Umhang mit einer Kapuze und hielt in der einen Hand eine Sense und in 3
der anderen ein Stundenglas. Probstier war sozialistisch und als Atheist erzogen, doch er wußte genau, wen er da vor sich hatte. Den Gevatter Tod, wie ihn die alten Legenden und Märchen schilderten. Den Knochenmann persönlich, der irgendwann jeden Menschen aufsuchte und dessen Leben beendete. Namenloses Grauen ergriff den Bauern. »Nein!« rief er. »Ich will noch nicht sterben. Ich bin doch erst vierzig! Es ist viel zu früh!« Eine Teufelsfratze lugte nun aus der sensenförmigen, unheimlichen Wolke hervor. Eiskalter Hauch blies den Bauern an. »Hol ihn, Gevatter Tod«, hörte Probstier eine hohle Stimme, von der er nicht hätte sagen können, in welcher Sprache sie sich mitteilte. »Das Finstere Zeitalter beginnt, die Apokalypse. Er soll unser erstes Opfer sein. - Dann, wehe Weimar und wehe der Welt, so wahr ich Mephisto heiße!« Jetzt war sich Probstier sicher, daß es ihm an den Kragen gehen sollte. Flucht war seine erste Reaktion. Ich muß heim nach Niedergrunstedt, zuckte es Probstier durch den Kopf. Dort werde ich in der Kirche Zuflucht suchen. Gott im Himmel, stehe mir bei! Erbarme dich, rette mich vor dem Schrecken! Schon während der DDR-Zeit hatte seine Großmutter Probstier im christlichen Glauben unterrichtet. Jetzt waren es deshalb nicht Marx oder Lenin, bei denen er in seiner Not Zuflucht suchte. Außerdem standen sie bei den meisten Bürgern nicht mehr so hoch im Kurs wie früher. Probstier kuppelte den Gülleanhänger automatisch vom Fahrersitz aus ab und gab Vollgas. Der Motor röhrte auf. Der schwere Traktor beschleunigte. Fetter, schwarzer Dieselqualm stieg aus dem Auspuff. Mit vierzig Stundenkilometern jagte Probstier über das Feld, über Wiesen und Äcker. Er wollte nur weg. Die kleineren Vorderräder und die fast mannshohen Hinterräder wühlten sich durch den Boden. Manchmal schaute Probstier zurück. Der Reiter auf der Knochenmähre näherte sich. Er schwang seine Sense. Obwohl es eigentlich gar nicht sein konnte, hörte der Bauer Hufschlag. Er gelangte auf einen Feldweg und konnte dort noch etwas schneller fahren. Der Knochenreiter holte jedoch auf. Auf den anderen kahlen Feldern und Wiesen war niemand zu sehen. Doch auf der B 85, auf der Strecke zwischen Gelmeroda und 4
Weimar, fuhren Autos. Die Fahrer bemerkten den in irrsinnigem Tempo quer übers Feld rasenden Traktor und die Horrorgestalt, die ihn verfolgte. Auch die sensenförmige, von düster glühendem Schein umgebende Wolke war deutlich zu sehen. Ein paar Autofahrer stoppten, stiegen aus und blickten auf das sich ihnen darbietende Schauspiel. Der in der Luft dahingaloppierende Reiter im schwarzen Umhang mußte etwa zweieinhalb Meter groß sein. Es handelte sich um ein Skelett, das auf der beinernen Mähre saß. Seine Kapuze war zurückgefallen und gab einen Totenschädel frei. Die Knochenhände hielten die Sense. Das Stundenglas war verschwunden. Der Knochenreiter ritt nun direkt neben dem Traktor in der Luft. Er wich ein paar Weiden aus, die bei einem Bach wuchsen, und holte zu einem sausenden Schlag aus. Probstier duckte sich. Die Sense, die ihn sonst enthauptet hätte, pfiff haarscharf über seinen Kopf weg. Der Knochenreiter blieb neben ihm und lachte dumpf. »Das hilft dir nichts, Menschlein. Ich bin der Gevatter Tod! Mir entkommt keiner.« Drei Rentner, die einen Spaziergang durchs Feld unternahmen, hörten die Worte und sahen den Schrecken. Sie duckten sich hinter einer Hecke und bekreuzigten sich. Der reitende Tod beachtete sie nicht. Die Teufelsfratze spähte immer noch aus der Wolke über dem Waldstück. »Hilfe!« schrie Probstier aus Leibeskräften. »Erbarmen!« Statt den Gevatter Tod hätte er auch einen Stein um Gnade anflehen können. Der Traktor holperte über eine Bodenwelle. Schon sah Probstier die Häuser von Niedergrunstedt vor sich. Sie scharten sich um die kleine Kirche, deren Turm mit dem Wetterhahn sich gen Himmel reckte. Im Hintergrund waren die Häuser von Weimar zu erkennen, der tausendjährigen Stadt, in der Goethe und Schiller gelebt und die der europäischen Kultur und Geschichte maßgebliche Anstöße gegeben hatte. Probstier dachte im Moment an alles andere als an Kultur. Seine Hilfeschreie gellten. Der Knochenreiter Gevatter Tod holte abermals mit der Sense aus. Der Bauer trat voll aufs Gas. Trotz der stufenlosen Kupplung ruckte der Traktor. 5
Die Sense zischte durch die Luft. Probstier brüllte in Todesangst. Dann traf ihn die Sense. Jäh brach sein Schrei ab. Probstiers Kopf wurde ihm glatt von den Schultern getrennt, flog meterweit weg auf den Boden und rollte ein Stück, ehe er liegenblieb. Es war grauenvoll. Über die Lippen des armen Opfers drang noch ein Seufzen. Die Augenlider flatterten. Das letzte, was Probstiers Gehirn noch aufnahm und verarbeitete, war das Bild von seinem dahinrollenden Traktor mit seinem kopflosen Rumpf auf dem Fahrersitz. Dann breiteten sich gnädig die Schleier des Todes über Probstiers Bewußtsein und löschten für ihn alles aus. Der Traktor rollte weiter, einen Hang hinunter und nach Niedergrunstedt hinein. Der kopflose Tote saß auf dem Fahrersitz wie angegossen. Seine Hände umkrallten das Lenkrad in der Totenstarre mit eiserner Kraft. Es war später Vormittag. In dem Weiler in der Nähe von Weimar war wenig los auf der Straße. Ein paar Autos fuhren. Hausfrauen erledigten ihre Einkäufe. Vier Männer saßen auf einer Bank an einer öffentlichen Grünfläche. Die Aufmerksamkeit der Autofahrer und Passanten wurde auf den Traktor gelenkt. Der schwere Massey-Ferguson, wuchtig und klotzig, über zwei Meter hoch, war nicht zu übersehen. Er rumpelte dröhnend dahin. Der kopflose Tote hatte den Fuß noch immer auf dem Gaspedal! Der Traktor geriet von der Straße ab und fuhr in einen Vorgarten hinein, durchbrach dabei den niederen Mauersockel mit dem Lattenzaun. Der Traktor wäre noch weiter gefahren, doch jetzt endlich kippte Jochen Probstiers kopfloser Rumpf vom Fahrersitz! Der Fuß verschwand vom Gaspedal, und die Totmann-Bremse, die in dem Fall ihren Namen wahrhaftig verdiente, sprach an. Der Leichnam kippte in den Vorgarten. Der Traktor stand. Die Hausbesitzerin, eine Frau Ende Dreißig, riß im Erdgeschoß ein Fenster auf. Sie schrie und kippte dann rücklings ohnmächtig um, als sie sah, was sich in ihrem Vorgarten befand. Hoch in der Luft hielt der Knochenreiter mit Umhang und Kapuze die Sense in der angewinkelten rechten Hand. Er beobachtete mit grauenvoller Genugtuung die Szene unter sich. Autofahrer, Passanten und die Einwohner von Niedergrunstedt, die nun aus ihren Häusern eilten, sahen den Sensenmann und die Sensenwolke weit hinter ihm. Eine dumpfe 6
Stimme erklang. »Die Pest wird ganz Weimar ausrotten. Wehe euch Menschenkindern! Die Apokalypse beginnt. Die Schwarze Magie feiert Triumphe. Mephisto regiert die Welt.« Damit trabte der Knochenreiter davon und verschwand in der unheimlichen Wolke, wo ihn die Teufelsfratze erwartete. Der Reiter, die Wolke und der gehörnte Teufelskopf verschwanden und lösten sich auf wie Rauch im Wind. Der Traktor und die kopflose Leiche blieben. * »Mmmm. - Mmmmmhhhh. - Hah. - Bist du mir jetzt wirklich treu?« Auf dem breiten Bett in meiner loftähnlichen Dachgeschoßwohnung in der Florian-Geyer-Straße in Weimar war ich mit Tessa gerade bei jener Tätigkeit zugange, die man als unser beider liebstes Hobby bezeichnen konnte. Die Frage traf mich unvermittelt, gerade als mich Ekstase erfüllte. Jetzt »Nein« zu sagen, hätte schwere Probleme bedeutet. Außerdem hatte ich meine Einstellung wirklich geändert: In der Gegenwart gab es für mich nur Tessa Hayden. »Ja, Darling. Natürlich. Immer nur dich.« Wir vergaßen alle Probleme und Fragen für einen unendlichen Augenblick. Tessa wand sich über mir. Als wir allmählich in die Normalität zurückkehrten, klingelte mein Telefon. Gleichzeitig meldete sich Tessas Handy. Erhitzt, mit aufgelöstem Haar und ohne einen Faden am Leib angelte sie es sich vom Nachttisch. Mein Apparat schaltete um auf den Anrufbeantworter. Ich wußte, daß jetzt der kurze, neutrale Ansagetext ertönte. Gleich darauf hörte ich Pit Langenbachs Stimme. »Mark? Bist du zu Hause? Dann geh ran.« Ich erhob mich, ebenfalls nackt, und wieselte zu dem Bord, auf dem das Telefon stand. Ich nahm den drahtlosen Apparat von der Unterlage und schaltete mich ein. »Hier ist Mark. Wo bist du?« »Im Dienstwagen unterwegs nach Niedergrunstedt. Dort ist ein Spuk aufgetreten. Entsetzlich. Es hat einen Toten gegeben. Kannst du sofort kommen? Ernst-Rensch-Straße, direkt am 7
Ortseingang.« »Ich bin schon unterwegs.« »Ist Tessa bei dir?« »Zufällig ja.« »Wo sollte sie auch sonst sein, wenn sie dienstfrei hat? Bring sie bitte mit. Sie soll meine Assistentin in diesem Mordfall sein.« Damit schaltete der Kripohauptkommissar Peter »Pit« Langenbach, mein bester Freund, bereits ab. Tessa war von ihrer Dienststelle bei der Polizeidirektion Weimar angerufen worden. Sinngemäß hatte sie das gleiche erfahren wie ich. In fliegender Eile zogen wir uns an, küßten uns zwischendurch noch einmal und flitzen kurz darauf aus dem Haus. Tessa hatte ihr Motorrad neben der Garage abgestellt, und zwar so, daß sie die Einfahrt nicht blockierte. Trotzdem rannte mein Vermieter, der kurzgewachsene Sachse Artur Stubenrauch, gleich um die Ecke. »Einen Moment, Fräulein Kommissar.« So nannte er Tessa immer. »Sie behindern mich und die anderen Mieter bei der Einund Ausfahrt. Das verbitte ich mir. Gerade Sie als Polizistin sollten für andere ein Vorbild sein.« »Nehmen Sie Ihre Plattfüße weg, oder ich fahre Ihnen drüber!« faßte sich Tessa kurz. Sie hatte ihren Lederdreß angezogen. Eng wie eine zweite Haut saß er an ihr und modellierte ihren schlanken, reizvollen Körper sowie die langen Beine. Ich war in meine Jeanskluft geschlüpft, hatte die Cowboystiefel und die gefütterte Lederjacke angezogen und wie Tessa einen Sturzhelm mit Visier aufgesetzt. Meinen Einsatzkoffer hielt ich unter dem Arm. Mein Handy steckte in der Tasche. Ich saß hinter meiner Dauerfreundin und Beziehungskiste Tessa auf dem Sozius der Suzuki. Tessa kickte die Maschine an und gab Gas. Artur Stubenrauch sprang zur Seite. Gerade noch rechtzeitig. Drohend schüttelte er die Faust hinter uns her. Der einssechzig kleine Sachse, mein Intimfeind, der gegen mich einen ständigen Kleinkrieg führte, trottete ins Haus. In seiner mit Stilmöbeln übermäßig bürgerlich eingerichteten Erdgeschoßwohnung wandte er sich an seine bessere Ehehälfte Mathilde. Stubenrauch stand schwer unter dem Pantoffel seiner »Gattin«. Von einem zierlichen Püppchen hatte sie sich zu einer stattlichen 8
Walküre von hundertachtzig Pfund entwickelt. »Die Hayden hat mich fast überfahren«, beklagte sich Stubenrauch. »Das ist eine Verrohung der Sitten. Zu DDR-Zeiten hätte es das nicht gegeben.« »Reg dich ab, Artur. Die Vopos hatten noch ganz andere Methoden drauf. Daß du dich auch immer an Mark Hellmann reiben mußt. Laß ihn doch einfach in Ruhe, solange er pünktlich die Miete bezahlt und sich einigermaßen an die Hausordnung hält.« »Ein Herumtreiber ist er, ein dubioses Subjekt. Eine Sumpfblüte des Kapitalismus, der uns nichts Gutes beschert hat. Das Politbüro hat schon gewußt, weshalb sie '61 die Mauer bauen ließ, um die Imperialisten mit all ihren dekadenten Auswüchsen abzuhalten. Die DDR ist doch das bessere Deutschland gewesen. Da war jeder abgesichert.« »Und jeder wurde überwacht und bespitzelt. Das hast du vergessen aufzuzählen.« Die resolute Mathilde hielt ihrem wesentlich kleineren Ehemann den Mund zu. »Sag das mit der Mauer bloß nicht laut, Artur. Das bringt uns nur Ärger. Du kannst den Lauf der Welt nun mal nicht ändern. Die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland hat stattgefunden. Das ist gut so, sonst würde uns dieses schöne Haus nicht gehören. Im Paradies der Arbeiter und Bauern hat es kein solches Privateigentum gegeben.« Das stimmte zwar, doch Stubenrauch paßte es dennoch nicht. Das Haus war nämlich auf den Namen seiner Frau eingetragen. Sie hatte es geerbt, nachdem sich nach der Wiedervereinigung auch die Gesetzgebung geändert hatte. Stubenrauch ließ seinen Unmut, weil er bei seiner Frau nicht viel zu melden hatte, gern an seinen Mietern aus. »Jetzt ist Hellmann sogar noch prominent«, meckerte der verhinderte Hausbesitzer Stubenrauch. »Störtebekers Schatz will er auf Usedom gefunden haben (Siehe MH 15)! Das ist doch ein ausgemachter Schwindel. Ständig reist er umher, tut geheimnisvoll und spielt sich als Okkultist und Dämonenbekämpfer auf. Das wird nicht lange gutgehen. Irgendwann holt ihn sicher der Teufel.« »Mit den Mächten des Bösen soll man nicht scherzen«, ermahnte Mathilde ihren Ehemann. »Man soll den Teufel nicht mal beim Namen nennen. In Weimar und Umgebung ist im 9
letzten Jahr allerhand passiert, was nicht geheuer ist.« »Daran ist sicher der Hellmann schuld«, bemerkte Artur Stubenrauch. »Er ruft solche Vorkommnisse hervor oder sorgt dafür, daß sie von der Presse aufgebauscht werden, damit er sich profilieren kann. Schließlich ist er einmal Reporter gewesen und kennt Max von Unruh, den Chefredakteur der 'Weimarer Rundschau', und andere gut. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er den Teufel beschworen hätte, den ich einmal leibhaftig in seiner Wohnung gesehen habe.« »Womöglich ist er mit dem Leibhaftigen im Bunde«, malte Mathilde ein Horrorszenario in die Luft. »Wir sollten uns vor ihm in acht nehmen.« »Ich würde ihm lieber heute als morgen kündigen«, erwiderte Artur Stubenrauch. »Sobald er mir dazu auch nur den geringsten Anlaß gibt, fliegt er raus.« Bis dahin würde der Vermieter einen verbissenen Kleinkrieg gegen den Mieter Hellmann führen und ständig auf der Lauer liegen, um ihm etwas anhängen zu können. Ich wußte längst, daß Stubenrauch mich nicht mochte. Es war mir herzlich egal. Die Miete war in ihrer Höhe vertretbar, die Wohnung gefiel mir. Stubenrauch, den Schrumpfgermanen und Haustyrannen, ignorierte ich meist oder grüßte ihn mit gebremster Höflichkeit. Tessa und ich knatterten durch Weimar. Wir umfuhren den historischen Stadtkern mit dem Nationaltheater, dem Stadthaus, Cranachhaus, dem in Thomas Manns verfilmten Roman »Lotte in Weimar« erwähnten »Hotel Elephant«. Ich war hier aufgewachsen. Seit meinem elften Lebensjahr lebte ich hier. Was zuvor geschehen war, wer meine Eltern waren, wo und wie ich während meiner ersten zehn Lebensjahre gelebt hatte, wußte ich nicht. Eine Sperre blockierte mein Bewußtsein und die Erinnerung. Schreckliches mußte passiert sein. Alpträume plagten mich öfter. Dann spürte ich über mir den Schatten von einem drohenden Verhängnis. Nur meine Aufgabe als Träger des magischen Rings und Kämpfer der Weißen Magie bewahrte mich letztendlich davor, völlig den Verstand zu verlieren. Wir fuhren an den Friedhöfen am südlichen Stadtausgang von Weimar vorbei auf der Berkaer Straße in Richtung Gelmeroda. Der Fahrtwind umpfiff uns tüchtig. Ich hielt mich an Tessa fest. 10
»Kannst du denn nie an etwas anderes denken?« rief sie mir zu. »Wo greifst du denn hin?« »Die Frauen denken auch immer nur an das eine«, versuchte ich mich zu verteidigen. »Soll ich vielleicht vom Motorrad fallen? Etwas mehr Sachlichkeit, bitte. Wir sind in einer sehr ernsten Angelegenheit unterwegs.« Tessas Antwort verstand ich nicht. Jegliche Lust zum Scherzen verging uns, als wir von der B 85 abbogen und auf einer Nebenstraße nach Niedergrunstedt fuhren. Böse Zungen behaupteten, hier würde der Mond mit der Stange hochgeschoben, und seit Goethes Zeiten hätte sich keine Sensation mehr ereignet. Dem wurde jetzt abgeholfen. Von weitem schon sahen wir eine Menge von neugierigen Zuschauern sowie vier Polizeiautos. Der Kleinbus der Mordkommission näherte sich uns von hinten. Natürlich war auch schon die Presse informiert. Bei den zahlreichen Zeugen in Niedergrunstedt konnte von polizeilicher Geheimhaltung keine Rede sein. Langsam rollte Tessa bis ins Zentrum des Geschehens. Sie zeigte dabei ihren Dienstausweis als Fahnderin bei der Weimarer Kripo vor. Uniformierte Polizisten, im Kripojargon »Trachtengruppe« genannt, sperrten den Ort ab, an dem sich die Leiche befand. Beim Anblick des kopflosen Toten mußte ich schlucken, obwohl ich allerhand gewöhnt war. Pit Langenbach, einsneunzig groß, dunkelhaarig und schnauzbärtig, hatte den Fall übernommen. Das Motorrad war aufgebockt. Tessa und ich begrüßten den Hauptkommissar Langenbach kurz. Er zeigte eine todernste Miene. Mein silberner Ring schickte ein Prickeln durch meine Hand. Er leuchtete außerdem schwach: ein sicheres Anzeichen für eine dämonische Aktivität. Wir standen beim Vorgarten mit dem Traktor und der kopflosen Leiche. Die Polizei sperrte den Ort ab und drängte die Neugierigen hinter die Plastikbänder zurück. Verschiedenfarbige, um den Toten herum in den Boden gesteckte Fähnchen wiesen auf Besonderheiten hin. Der Polizeiarzt untersuchte den Toten, ob er außer dem fehlenden Kopf noch andere Besonderheiten aufwies. Die gründliche Obduktion würde dann in der Kriminalpathologie vorgenommen werden. Der Fotograf der Mordkommission knipste die Leiche und filmte den Platz mit der Videokamera. 11
»Wer hat das getan?« fragte ich Langenbach. »Ein Knochenreiter«, antwortete er und schilderte knapp und präzise, was ihm die Augenzeugen bereits berichtet hatten. »Bei dem Toten handelt es sich um den vierzigjährigen Bauern Jochen Probstier aus Niedergrunstedt. Er hinterläßt eine Frau und drei Kinder.« »Wie furchtbar«, flüsterte Tessa. »Sind die Angehörigen schon verständigt worden?« »Das habe ich selbstverständlich veranlaßt.« Pit Langenbach beschrieb den Knochenreiter. »Zweieinhalb Meter groß, schwarzer Umhang und schwarze Kapuze. Dunkle, leere, unheimliche Augenhöhlen. Bewaffnet mit einer gewaltigen Sense.« »Gevatter Tod«, sagte ich sofort. Mein Ring leuchtete stärker, was mit meinen Gedanken zusammenhängen mußte. Siedend heiß fiel mir ein, wie ich dem Gevatter Tod erstmalig begegnet war. Es war im Jahr 1198 nach Christus gewesen (Siehe MH 2). Gegen Ritter und den Gevatter Tod hatte ich da antreten müssen. Es war meine erste Zeitreise in die Vergangenheit gewesen. Seitdem hatte ich noch weitere unternommen. Viel Wasser war seitdem die Ilm hinuntergeflossen, den Fluß, an dem Weimar lag. Ich hatte turbulente Zeiten erlebt und bis in die Hölle und eine andere Dimension, nämlich die Streamer-Welt, vorstoßen müssen (Siehe MH 19), wo ich auf Stratophanus traf. Mein Leben hatte sich vollständig gewandelt, zum zweiten Mal, seit ich im Alter von zehn Jahren nach der Walpurgisnacht nackt und umherirrend in der Weimarer Altstadt aufgegriffen worden war. Das Rätsel meiner Vergangenheit hatte ich noch längst nicht gelöst. Gevatter Tod war ein starker, ein übermächtiger Gegner. Zudem schilderte uns Pit Langenbach noch die sensenförmige Wolke und verwies auf die Aussagen von Zeugen, die darin eine Teufelsfratze gesehen hatten. »Dann müssen wir auch mit Mephisto, meinem Erbfeind, rechnen«, sagte ich zu Tessa. Sie musterte mich kritisch. »Klingst du etwa niedergeschlagen, Mark?« »Niemals.« Auch wenn ich die Mächte der Hölle bekämpfte und ganz oben auf ihrer Abschußliste stand, ging ich deshalb nicht mit 12
Leichenbittermiene umher. Sondern ich genoß mein Leben, so gut und so lange ich es konnte. Von einer sensenförmigen Wolke, die sich am Himmel über Weimar und der Umgebung zeigte, hatte ich in den letzten Tagen bereits mehrmals gehört. Sogar in der Zeitung hatte eine Meldung darüber gestanden. Ich selbst hatte diese Wolke nicht gesehen und das Phänomen bisher auf die leichte Schulter genommen. Ich hatte andere Sorgen, als in den Himmel zu gucken und mich über die Wolkenformen aufzuregen. Wir schauten uns die Leiche genauer an. Dabei paßten wir selbstverständlich auf, damit wir keine Spuren zertrampelten. Anschließend fuhr ich mit Tessa dorthin, wo noch Probstiers Gülletank stand. Er war inzwischen leergelaufen. Die sensenförmige, unheimliche Wolke über den Grunstedter Tannen, einem Waldstück, war längst verschwunden. Pit Langenbach war mit einem Streifenwagen auf dem Feldweg bis in die Nähe gefahren. Jetzt stiefelte er über den Acker, in seiner schwarzen Lederjacke, die Hände in den Taschen vergraben, einen Zigarillo im Mundwinkel. Diesmal hatte ich das Motorrad gefahren. Es stand auf dem Acker. »Was meinst du?« fragte Pit Langenbach, als er uns erreichte. »Eine böse Geschichte«, erwiderte ich. »Doch das ist erst der Anfang. Gevatter Tod kann aus seinen leeren Augenhöhlen sämtliche Seuchenkeime speien. Er vermag ganze Landstriche zu infizieren. Die Beulenpest, Typhus und Cholera, die Lepra in ärgsten Formen und alle möglichen anderen Infektionskrankheiten schlummern in ihm. Das habe ich teils bei meiner Zeitreise ins Jahr 1198 erfahren.« »Ein unangenehmer Zeitgenosse«, meinte mein Freund Pit. »Kannst du ihn denn überhaupt vernichten?« »Das wird sich herausstellen.« Ich schwang meinem Einsatzkoffer hin und her. Den Griff hielt ich mit der Hand, an der ich den matt glänzenden magischen Siegelring trug. Dieser silberne Ring wies die altertümlich gezeichneten Buchstaben M und N auf. Sie waren von einem stilisierten Drachen und ein paar Runensymbolen umgeben. Nur diesen Ring hatte ich dabeigehabt, als mich mein späterer Adoptivvater Ulrich Hellmann in der Bachgasse aufgriff. Es war 1980 gewesen, noch zur DDR-Zeit; Vater war damals Angehöriger 13
der Weimarer-Kripo. Plötzlich geschah es! Mein Ring prickelte, erwärmte sich und leuchtete auf. Ich schaute zum Waldstück. Von dort ging die Aktivierung des Rings aus, der dämonisches Wirken anzeigte, mir die Zeitreise ermöglichte und mit dem ich, wenn ich ihn aktivierte, zudem magische Waffen erzeugen konnte. Tessa und Pit schauten ebenfalls hin. Wie von einer Schnur gezogen, drehten sie sich um. Und da zeigten sie sich - ein unheiliges, schauriges Trio -, gaben sich als unsere Erzgegner zu erkennen und ließen erkennen, was auf uns zukam. Gevatter Tod trabte auf seiner beinernen Mähre aus dem Wald. Dumpf, hohl und schaurig, als ob es aus den Abgründen der Erde erschallen würde, wieherte das Knochenpferd. Die schwarzen, unheimlichen Augenhöhlen des Seuchendämons glotzten uns an. Und in unseren Gehirnen verstanden wir seine Worte, als er grollte: »Uralt bin ich, genau wie Mephisto. Noch ehe der Mensch war, schritt ich über die Erde. Werwölfe, Nachtmahre und Dämonen, die schon lange vergingen oder in der Hölle ihr Dasein fristen, waren meine Gespielen. Kochender Schlamm und Magma bedeckten die Erde. Ich sah, wie der Kontinent Xanadu, lange vor Atlantis, vor vielen Äonen dem Ozean entstieg - und wie er wieder versank. Die Sphinx erhob ihre Schwingen und wurde bei Gizeh zu Stein. Priester des finsteren Seth träumten in Prunksärgen in geheimen Pyramidenkammern tief unter der Erde von der fernen Zukunft, in der sie wieder zum Leben erwachen und anstelle der Pharaonen herrschen würden. Sie nährten mir meine Seuchenkeime. - Wer bist du gegen mich, sterblicher Wurm, der du dich Mark Hellmann nennst? Du kennst ja nicht mal deinen wirklichen Namen, noch weißt du, wer dein Vater ist.« Tief in meinem Innern erbebte ich. Dennoch führte ich den Ring an das siebenzackige, sternförmige Mal in der Herzgegend unterm Hemd. Damit aktivierte ich ihn vollends. Jetzt sandte er einen laserartigen, kurzen Lichtstrahl aus, mit dem ich Zeichen auf den Boden, auf Gegenstände oder auch in die Luft schreiben konnte. Mit den Runenbuchstaben des keltischen Futhark-Alphabets vermochte ich normale Waffen und Gegenstände in magische zu verwandeln. 14
»Weißt du, woher dieser Ring ist?« donnerte Mephisto, der mit seinem Adlatus Samiel am Waldrand erschienen war. Wie wir später erfahren sollten, konnten nur wir drei das dämonische Trio sehen. »Nein«, antwortete ich auf Mephistos Frage. »Ich habe drei Ringe«, donnerte er. Wie der sprichwörtliche Teufel zeigte er sich - übergroß, mit Hörnern, Huf und einem langen Schwanz. Mit Teufelsfratze, spitzem Kinn und Bocksbart. Seine Augen glühten rot. »Den vierten habe ich dir überlassen. Er wurde im Feuer der Hölle geschmiedet. Von daher hat er seine Kraft. Du bist nämlich mein geliebter Sohn und der Höllenprinz. Ja, alles, was du bisher im Kampf gegen die Mächte der Finsternis erreichtest, ist nur ein Bluff und eine Farce gewesen, um dich zu schulen und deine Kräfte zu stärken. Jetzt fängt das Finstere Zeitalter an. Von Weimar aus soll es ausgehen, eine Blasphemie nach allem, was sich mit diesem Ort verbindet.« Mephisto brüllte los, daß die Erde bebte: »Mark Hellmann, ich bin dein Vater. Bei einem Hexensabbat wurdest du gezeugt, und du lebtest deine ersten zehn Lebensjahre unter meiner Regie, ehe ich dich nach Weimar schickte.« Pit und Tessa starrten mich fassungslos an. »Du lügst, Mefir!« rief ich. »Du willst uns verwirren.« Mephisto lachte mich aus. Mephir tophel - Lügenverbreiter hieß er auf Hebräisch. Mit dem Namen Mefir ärgerte ich ihn. Er zitierte mitunter gern aus Goethes »Faust«: »Vor aller Augen muß ich mich verstecken, im Höllenpfuhl die Teufel zu erschrecken.« Damit fuhr er unter Hinterlassung von Schwefelgestank in die Erde hinein. Samiel, sein Adlatus, vertrat ihn. Der Gevatter Tod verharrte ruhig wie eine Statue auf seinem Knochenpferd. Samiel war eine schleimige, kriecherische Kreatur, ein ewig vor seinem Herrn und Meister buckelnder Unterteufel von ungeheurer Grausamkeit und Heimtücke. Er zeigte sich in der Gestalt eines mittelgroßen, gebückt gehenden Mannes mit dünnen, schwarzen Haarsträhnen, die wie angeklebt auf seinem Kopf lagen. Zwei kleine Hörner wuchsen ihm aus dem Schädel. Er trug modrige, schwarze Kleidung. Sein Gesicht war grünlich und fahl wie das einer Wasserleiche. Er rollte oft mit den Augen, schnitt Grimassen, und ein Tic verzerrte ihm das Gesicht. Samiel hatte einen leichten Buckel und 15
Krallenhände. Er bewegte sich ungelenk, konnte jedoch blitzschnell sein; er hatte eine widerliche, schleimige Art. Jetzt rieb er sich raschelnd die Krallenhände. »Habe die Ähre, bin ich der Samiel, und ist es mir eyn Vergniegen«, sagte er in seiner verdrehten Grammatik und seinem Dialekt. »Jungchen Mark Hellmann, wie du dich nennst, hab ich dich schon auf den Knien gewiegt und war ich dabey, als sich Mephisto, Megadämon der große, seynen Finger hat durch die Brust in deyn Herz gesteckt und in dein Herz geschrieben, was deine Bestimmung ist. - Bist du der Höllenprinz und sollst vollenden die Prophezeyung. Zweytausend Jahre nach jenen anderen, dessen blauäugige Lehren niemals bewirkten, was sie sollten, vollendest du, was bestimmt ist. - Und der Satan wird kommen, wird Mephisto Herr auf Erden seyn, wie Lucifuge in der Hölle. - Niemand wird das verhindern. Deyn Hexen- oder auch Teufelsmal zeigt, was du bist, Jungchen. - Bin ich deyn treuer Oheim, der Samiel, bei dem du das Laufen gelernt hast. Du bist gezeichnet von den Mächten der Hölle. Du trägst das Mal auf der Brust, den siebenzackigen Stern. Du bist einer von uns. Alles andere, hähähä, ist doch bloß Kokolores.« Raschelnd rieb er sich die Hände. Samiel war so widerlich, daß man ihn hätte ohrfeigen können. »Lügner!« rief ich abermals, zog die Pistole unter der Jacke hervor und stärkte ihre Silberkugeln mit dem Strahl aus dem Siegelring. Die keltischen Worte für »Waffe« und »Tod« schrieb ich in Futhark-Runen aus der vorchristlichen Zeit auf das Magazin. Die bläulichen Neun-Millimeter-Silberkugeln leuchteten durch den Pistolengriff. »Ihr lügt alle!« fuhr ich fort. »Mephir tophel heißt Mephisto auf Hebräisch. Es steht längst geschrieben, daß der Satan in den Abgrund gestürzt wurde und letztendlich zertreten und ausgerottet wird.« Samiel kicherte. Gevatter Tod lachte hohl. Der scheußliche Samiel, der Tessa schon einmal als Gefangenenwächter in seiner Gewalt gehabt hatte (Siehe MH 14), erklärte uns etwas. »Woher willst du denn wissen, daß unsere Seite verliert?« fragte er höhnisch. »Jede Seite hat ihre Feindpropaganda. Du mußt nicht alles glauben, was gepredigt und niedergeschrieben wurde. Wir werden natürlich gewinnen. 16
Jetzt erfolgt nämlich die Wende. Im Jahr 1999. Das Jahr Zweitausend ist zugleich das Jahr Eins des Zeitalters Satans. Von da an wird n. T. gezählt - nach dem Teufel. Oder n. A. - nach der Apokalypse. Für uns ist 1999 das Jahr Null, in dem alles, was vorher war, wie Kreide von einer Tafel gelöscht wird.« »Dummes Zeug!« rief ich, hob blitzschnell die Pistole, ging in den Cambatanschlag und gab drei Schüsse auf Samiel ab. Ich traf ihn in sein Wasserleichengesicht und erwischte den modrigen Frack in Brusthöhe. Samiel heulte auf. Mephisto hätte die Schüsse leicht pariert. Doch sein Unterteufel und Adlatus war weniger stark als er. Samiel brüllte. Ich rief zudem eine Beschwörungsformel, inzwischen hatte ich ja einiges gelernt. Samiels Gesicht verlief zu einer grünen Masse. In seiner Brust entstand ein rauchendes Loch. Ein schwarzer Skorpion und ein paar Asseln fielen heraus und krochen über den Boden. »Ei-ei-jei, weh!« schrie der Unterteufel. »Hat sich geschossen Samiel Hellmann Mark, der Verdammte? Soll er das büßen. Ist er auf unserer Seite.« »Davon weiß ich nichts!« rief ich und verpaßte ihm gleich noch eine Kugel. Sie riß ihm das linke Horn ab. Samiel packte nun das andere Teufelshorn und warf es. Wie ein glühender Pfeil raste es auf mich los. Meine blitzschnellen Reflexe retteten mich. Ich wich aus und vollführte eine Bewegung mit der Rechten. Der einen Meter lange Lichtstrahl, den mein Ring aussandte, erwischte das Teufelshorn. Es zerplatzte in tausend Stücke. Eine Rauchwolke blieb und verflüchtigte sich. »Ei«, heulte Samiel wieder. »Er ist einer von uns, aber noch ungezogen. Ist verwirrt, greift die eigene Seite an. - Bring ihn zur Strecke, Gevatter Tod. Wenn wir ihn wieder zum Leben beschwören, vergehen ihm seine Flausen. Dann weiß er, wohin er gehört, sobald ihn die Schwarze Magie beseelt, ihn, der noch nicht wahrhaben will, wofür er bestimmt ist.« Alpträume, Träume, strahlendes Licht, das ich in Visionen gesehen hatte, und eine wohltönende, starke Stimme, die mir eine ganz andere Bestimmung verkündete. Ich glaubte ihr, nicht dem Teufel. Doch glauben heißt, etwas nicht zu wissen. »Lügner!« schrie ich. »Zur Hölle mit dir!« Samiel löste sich zu einem schleimigen Klumpen auf, in dem es 17
wimmerte: »Ja, gäh ich zur Hölle. Wohne ich da in dem Höllenpfuhl. - Man sieht sich, Mark Hellmann.« Mit diesem durchaus modischen Gruß löste sich der Unterteufel vollständig auf und versickerte im Boden. Natürlich war die Hölle nicht, wie man im Mittelalter glaubte, im, Innern der Erde, die sich die Zeitgenossen damals als eine Scheibe vorgestellt hatten. Samiel war jedenfalls weg und hinterließ scheußlichen Gestank nach faulen Eiern und Schwefel. Tessa hielt sich die Nase zu. »Der Bursche stinkt mir gewaltig«, stellte sie fest. »Er lügt doch ganz sicher, genau wie Mephisto«, bemerkte Pit Langenbach und schaute mich fragend an. »Glaubst du etwa das Gegenteil?« fragte ich. »Wir sind doch Freunde, oder?« In dem Moment konnte ich Pits Gedanken lesen oder glaubte es jedenfalls. Der Freund eines Teufels! dachte er nämlich entsetzt, und Mephistos Sohn! Sekundenlang zweifelte er an mir. Dann ertönte dumpfer Hufschlag. Der Seuchendämon ritt an. Gevatter Tod schwang die Sense. Schon einem hatte er an dem Tag den Kopf vom Rumpf abgetrennt. Jetzt sollten wir an der Reihe sein. »Achtung, er kommt!« rief Tessa unnötigerweise. Und »Wie tötet man nur den Tod?« Das war eine gute Frage. Gevatter Tod schwang die Sense, um uns alle abzuschlachten. Das Sensenblatt pfiff auf mich zu. Dabei ließ Gevatter Tod Tessa nicht aus den Augen. Dunkle Schatten voller Krankheitskeime rasten heraus, Pestilenzen, die innerhalb kürzester Zeit einem Menschen den Tod bringen konnten. Ich hörte noch die Sense zischen. * Seit mehreren Jahren schon bewohnten der pensionierte Kripobeamte Ulrich Hellmann und seine Ehefrau Lydia ein Reihenhaus in der Siedlung Landfried, am Stadtrand von Weimar. In der Nähe befanden sich Kleingärten, und es war eine hübsche, gepflegte, beschauliche und ruhige Gegend. Im Januar war der Vorgarten kahl. In der Küche drinnen stand Lydia Hellmann, Marks Adoptivmutter, am Herd und kochte das 18
Mittagessen. Ulrich Hellmann schaute in die Küche und schnupperte. Als er den Topfdeckel hochheben wollte, klopfte ihm Lydia leicht auf die Finger. »Hier wird nicht in die Töpfe geguckt. Geh lieber in dein Arbeitszimmer und tu noch was. Ich rufe dich, wenn es Zeit zum Mittagessen ist.« Ulrich Hellmann schnupperte wieder. »Das riecht nach Sauerbraten mit Klößen. Eine meiner Leibspeisen.« »Du bist mir ein Kriminalist. Erst willst du mir in den Topf gucken, dann sagst du, du riechst sowieso, was es ist. - Hast du schon die Nachricht von Dr. Paul Abaringo übers Internet erhalten?« Ulrich Hellmann hatte sich in seinem Reihenhaus ein umfangreiches okkultes und parapsychologisches Archiv aufgebaut. Übers Internet und auf andere Weise stand der pensionierte Kripomann weltweit mit einigen Spezialisten in Verbindung, die über besondere Kenntnisse verfügten oder sich dem Kampf gegen die Mächte des Bösen verpflichtet fühlten. Dr. Paul Abaringo, ein Farbiger aus Kapstadt, Südafrika, war einer von ihnen. Die Vereinigung dieser Spezialisten nannte sich ganz neutral Die Liga. Ulrich war Mark eine große Hilfe im Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Besonders das Organisatorische nahm er ihm ab, so daß sich Mark mit aller Energie seinen Aufgaben widmen konnte. »Klar, eine neue Dämonenbeschwörung und Angaben über Buschdämonen am Kongo. Den Grünen Tod und den Buschteufel. Die verborgene Stadt Saba und die Pygmäen und Medizinmänner, die ihren Geist auf Reisen schicken können. Die Welt ist voller Wunder, und es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt.« »Sagte Shakespeare. Kannst du, da wir in Weimar sind, nicht Goethe oder Schiller zitieren?« »Da werden Weiber zu Hyänen. Lied von der Glocke. Schiller.« »Raus aus der Küche! Heute gibt es nur Wasser und trocken Brot für dich. Goethe lobte die Frauen. Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir Männer goldene Äpfel legen, sagte er.« »Womit er sicher meinte, daß man als Mann immer draufzahlt.« Der weißhaarige Ulrich Hellmann trat neben Lydia und faßte sie bei der Hand. Jetzt scherzte er nicht mehr. »Was hast du, Liebe?« 19
fragte er. »Ich spüre seit Tagen, daß du bedrückt bist. Ich habe dich aufheitern wollen, doch es gelingt mir nicht.« Er war sehr ernst geworden. Lydia rührte im Topf. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts.« »Natürlich hast du was. Irgend etwas bedrückt dich. Mir kannst du es nicht verheimlichen. Wir sind über vierzig Jahre verheiratet.« Jahrzehnte schon hatten sie zusammenverbracht. 1956, zur Zeit des Aufstands gegen die kommunistische Diktatur in Ungarn, hatten sie in Eisenach den Bund der Ehe geschlossen. Standesamtlich natürlich, kirchliche Trauungen gab es in der damaligen DDR höchstens heimlich. 1961 war die Berliner Mauer gebaut worden, 1989 war sie gefallen. Die Ära Ulbricht und die Ära Honecker hatten Ulrich und Lydia Hellmann gemeinsam erlebt und durchlebt, die Aufbruchsphase in der Mitte der Siebziger Jahre, als der Sozialismus mit seiner Planwirtschaft anscheinend eine große Zukunft hatte. Es war eine lange gemeinsame Zeit mit unglaublichen Umbrüchen und Veränderungen. Auch in das neue Jahrtausend wollten Lydia und Ulrich gemeinsam treten und ihr Alter genießen, wenn es denn keine größeren Probleme gab. Die Ehe von Mark und Lydia Hellmann war kinderlos geblieben. 1980, als Ulrich Hellmann nach der Walpurgisnacht den Jungen ohne Gedächtnis auflas und mit nach Hause brachte, hatte Lydia spontan den Entschluß gefaßt, diesen zu adoptieren. Nach den Buchstaben M und N auf dem Siegelring suchten die Hellmanns die Vornamen Mark und Nikolaus aus. Aus einem völlig verstörten, von Alpträumen und Ängsten geplagten Kind wurde ein selbstsicherer, stattlicher junger Mann. Mark hatte das Abitur an der EOS - Erweiterte Oberschule gemacht und danach in Jena Völkerkunde, Geschichte und Vorgeschichte studiert. Er war Thüringischer Landesmeister im Zehnkampf. Bequem war er nie gewesen, hatte seinen Eltern öfter Probleme bereitet, weil er sich höchst ungern unterordnete und höchst individualistisch dachte. Besonders zu DDR-Zeiten, noch in seiner Schülerzeit, war das ein Problem gewesen. Die Stasi hatte sich für Mark interessiert, der Westmusik hörte und überhaupt nicht 20
einsah, weshalb er sich den Richtlinien der SED und ihrer straff organisierten Jugendgruppen unterwerfen und den Sozialismus als das einzig Wahre betrachten sollte. Die Jugendweihe hatte Mark höchst widerwillig über sich ergehen lassen. Er wäre bestimmt in einem Umerziehungslager gelandet, wenn nicht sein Vater Ulrich Hellmann die schützende Hand über ihn gehalten hätte. Durch seinen Beruf kannte Ulrich Hellmann sehr viele Funktionäre. Und bei ihnen warb er um Verständnis für seinen Jungen und versprach gleichzeitig, ihm die Vorzüge der sozialistischen Werteordnung einzubläuen. Dieser väterliche Einsatz ersparte Mark Zwangsmaßnahmen, auf die andere in seinem Alter auch gerne verzichtet hätten. Und da es sich bei dem Filius um ein Sport-As handelte, dessen Erfolge der Sozialismus sicherlich mal für sich reklamieren konnte, erhielt Mark immer wieder eine neue Chance, obwohl sich mancher Funktionär die Glatze raufte und wetterte, daß Mark ein Symbol westlicher Dekadenz wäre. Viel mehr als der Konflikt zwischen Ost und West betraf der Kampf zwischen Gut und Böse die Familie Hellmann. Das Vermächtnis des Rings und Marks Aufgabe in diesem Ringen wurde offenbar, als im Sommer 1998 die Schreckenstage von Weimar anbrachen (Siehe MH 1) Vorher schon hatte sich Ulrich Hellmann stellvertretend für den damals noch zu jungen Mark einem Kampf gegen Mephisto gestellt. Der Kripokommissar hatte nur knapp überlebt und war seitdem Invalide. Sein linkes Handgelenk und sein rechter Fuß waren seitdem steif. Ulrich Hellmann, ansonsten sehr rüstig mit seinen fünfundsechzig Jahren, mußte einen Krückstock benutzen und trug eine Ledermanschette um das Gelenk seiner linken Hand. Ein Lederband verlief zwischen Daumen und Zeigefinger und stützte sie zusätzlich. Ulrich war stattlich und hatte dichtes, schlohweißes Haar, Brille und Schnauzbart. Seine Frau Lydia, die jetzt im dunkelblauen Kleid in der Küche stand, war drei Jahre älter als er, etwas mollig, sehr mütterlich und hatte silbergraues Haar. Auch sie trug eine Brille und hatte eine ruhige, bedächtige Art. »Was sollte ich denn wohl haben?« fragte sie jetzt. »Es hängt mit unserem Jungen zusammen, mit Mark«, sagte ihr Ulrich auf den Kopf zu. »Du verheimlichst mir etwas. In den 21
vergangenen Jahren hatte ich manchmal den Eindruck, daß du Angst hast und schwermütig wirst, wenn es sich um Marks Zukunft handelt. Jedesmal, wenn ich einen Vorstoß unternahm und dich befragte, hast du geschauspielert und behauptet, das würde ich mir nur einbilden. Das wären Hirngespinste.« Lydia schaute ihren Gatten merkwürdig an und schwieg. »Seit ein paar Tagen ist es ganz schlimm mit dir«, sagte Ulrich. »Warum vertraust du mir nicht? Ich bin doch dein Mann. Wir hielten stets zusammen, in guten wie in schlechten Tagen. Es schmerzt mich, daß du mich nicht ins Vertrauen ziehst.« »Ich mußte mein Wort geben, daß ich schweige und zu niemandem darüber rede. Sonst ist es Marks Ende, wurde mir glaubhaft versichert. Dann erleidet er ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod.« »Wer hat das zu dir gesagt?« fragte Ulrich. »Nostradamus.« »Der berühmteste aller Seher und Astrologen?« fragte Ulrich Hellmann skeptisch. »Der im sechzehnten Jahrhundert lebte und vieles voraussagte, was sich später bewahrheitete? Nach seinen Prophezeiungen soll im Jahr 3797 die Welt untergehen. Wann hast du ihn getroffen?« Lydia druckste herum. Die mollige Frau mit dem silbergrauen Haar wirkte verlegen. »Das darf ich dir nicht verraten. Es ist jedenfalls kein Zufall, daß Mark zu uns kam und wir ihn adoptierten.« »Jemand hat ihn geschickt?« fragte Ulrich Hellmann skeptisch. »Lydia, wenn ich dich nicht schon so lange und so gut kennen würde, würde ich sagen, du hast etwas Verkehrtes gegessen oder getrunken.« »Meine Lippen sind versiegelt«, antwortete Lydia mit ungewohntem Ernst. »Die Vorzeichen sind eingetreten. Die sensenförmige Wolke wurde gesehen. Als nächstes wird der Gevatter Tod antreten. Dann beginnt das Finstere Zeitalter mit der Apokalypse. Ganz Weimar wird von der Pest ausgerottet.« »Bist du verrückt?« fragte Ulrich Hellmann. »Was redest du da? Mark wird das verhindern.« »Gerade er soll die Prophezeiung erfüllen«, flüsterte Lydia, als ob sie Angst hätte, daß jemand sie hören könnte. »Kennst du den 35. Vers im sechsten Buch von Nostradamus Vorhersagungen?« »Diese Voraussagen kann man so oder so auslegen«, 22
antwortete Ulrich Hellmann. »Was steht in diesem Vers geschrieben?« »Übersetzt heißt es: Der Ringträger wird den Augenlosen auf dem Rasen besiegen. Doch Tod bringt, was nicht sterben kann. Im Jahr ihres höchsten Ruhms fällt der Tod in der Stadt ein. Jahrhunderte nach den Dichterfürsten regieret die Pest.« »Der Ringträger könnte Mark sein«, überlegte Ulrich Hellmann laut. »Den Augenlosen kenne ich nicht. Dieses Jahr ist Weimar die europäische Kulturstadt, es ist also das Jahr ihres höchsten Ruhms. Mit den Dichterfürsten müßten Goethe und Schiller gemeint sein. Aber die Pest ist ausgerottet. Warum in aller Welt sollte sie in Weimar wieder ausbrechen?« »Nostradamus hat es vorhergesagt«, flüsterte Lydia. »Schon einmal war er bei mir. Wenn er wiederkehrt, geschieht das Schreckliche. Teufels Sohn bringt die Finsternis, sagte er mir.« Ulrich Hellmann überlief es eiskalt. Er fror plötzlich in dem gut geheizten Zimmer. »Mark hat ein Hexenmal auf der Brust«, sagte er. »Nein, das kann aber nicht sein. Er ist ein Auserwählter, ein Kämpfer. Viele Dämonen und Horrorgeschöpfe hat er schon vernichtet. Er würde nie mit dem Teufel paktieren.« »Vielleicht weiß er selbst nicht, was in ihm steckt.« Lydia setzte sich auf den Küchenstuhl und verbarg das Gesicht in den Händen. Das Essen auf dem Herd hatte sie glatt vergessen. »Warum fragst du mich diese Dinge, über die ich nicht reden will? Ich weiß selbst nicht mehr, was ich noch denken soll. Natürlich habe ich eine letzte Hoffnung.« Ulrich legte ihr dem Arm um die Schultern und versuchte, seine Frau aufzumuntern. »Noch ist nicht aller Tage Abend, Lydia. Beruhige dich. Gemeinsam werden wir diese Gefahr bestehen, wenn es überhaupt eine gibt. Ich muß Mark erreichen. Er muß herkommen, damit wir die Sache besprechen können.« Das Telefon in der Diele klingelte. Ulrich Hellmann holte den drahtlosen Apparat, während sich Lydia wieder um das Essen kümmerte. Ulrich reichte seiner Frau den Hörer. »Es ist deine Freundin Else aus Niedergrunstedt.« Lydia nahm den Hörer und meldete sich. Ulrich kriegte nicht mit, was ihr erzählt wurde. Lydia fragte zweimal »Stimmt das wirklich?« Anscheinend wurde es ihr bestätigt. Sie wurde kreidebleich und mußte sich wieder setzen. Sie preßte die Hand 23
aufs Herz. »Was ist?« fragte Ulrich besorgt, als das Telefonat beendet war. »Die nächste Stufe ist erreicht«, erzählte ihm Lydia. »Else Müller berichtete mir, daß ein Knochenreiter einem Bauern aus Niedergrunstedt mit der Sense den Kopf abgeschlagen hat. Er ritt aus der Sensenwolke. Eine Teufelsfratze grinste daraus hervor. Die Mordkommission unter Hauptkommissar Langenbach ist in Niedergrunstedt schon bei der Arbeit. Mark befindet sich ebenfalls dort, zusammen mit Tessa. Mehr konnte mir Else nicht sagen.« »Mein Gott!« brachte Ulrich zunächst hervor. Dann sagte er: »Ich muß sofort nach Niedergrunstedt.« »Was willst du dort erreichen? Mark ruft dich, wenn er dich braucht.« In dem Moment pochte es dreimal dumpf an der Haustür. Ulrich Hellmann ging hin und schaute durch den Spion. Ein bärtiger Mann in altertümlicher Kleidung aus einem längst vergangenen Jahrhundert stand vor der Tür. Er hatte ein schwarzes Samtbarett auf dem Kopf und trug einen dunklen Umhang, was ihm ein würdevolles Aussehen verlieh. Rotblond war sein spitz zulaufender Bart, der über die weiße Halskrause fiel. Groß und visionär seine Augen, die von einem hellen, strahlenden Blau waren. Er war um die Einsachtzig groß, stattlich gebaut, jedoch nicht dick. Vom Alter her konnte er Ende Fünfzig sein. Ulrich Hellmann starrte ihn an. Er wußte, er hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Ein Porträt fiel ihm ein, das jeder kannte, der sich mit Astrologie, Okkultem und Weissagungen beschäftigte. »Laß mich rein«, erklang eine wohltönende Baritonstimme. »Meister«, stammelte Ulrich Hellmann. Eine andere Bezeichnung für jenen Mann vor seiner Tür fand er nicht. Er nahm die Sperrkette weg und öffnete die Tür. Die Sonne schien hell. Ein paar Vögel zwitscherten. Für Mitte Januar war es untypisch warm. »Sie sind...?« stammelte Ulrich Hellmann. »Nostradamus«, ergänzte würdevoll der Besucher. Er trug Kniehosen unter dem bis zu den Knien fallenden, vorn offenen Gelehrtentalar. Gamaschen bedeckten die Beine unterhalb der Knie. Die über dem Rist offenen Schuhe in der Mode des 16. Jahrhunderts entsprachen. »Wo finde ich Lydia Hellmann?« Er redete tadellos Deutsch. Ulrich Hellmann war wie vor den 24
Kopf geschlagen. »Ihr kennt euch also tatsächlich«, sagte er. »Ich fürchte, meine Frau erwartet Sie bereits, Monsieur.« Lydia erschien im Flur. Sie wirkte gefaßt. »Ist es soweit?« fragte sie. Nostradamus nickte. »Das Finstere Zeitalter steht vor der Tür«, sagte er. »In diesem Moment beginnt die Apokalypse.« Weltuntergang bedeutete das. Der Schrecken aller Schrecken. Die Hölle spuckte ihre sämtlichen Kreaturen über die Welt aus. Die Sterne fielen vom Himmel, und wenn alles vorbei war, würde nichts mehr so wie vorher sein. Nostradamus reichte Lydia Hellmann die Hand. »Wollen Sie mit uns essen, Meister?« »Dieser Leib bedarf keiner Speise.« Lydia bat den Besucher, mit ihrem Gatten Ulrich im Wohnzimmer zu warten. Sie nahm das Essen vom Herd, es hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Ulrich Hellmann saß dem großen Wahrsager gegenüber, der genauso gekleidet war und aussah, wie ihn ein erst im 18. Jahrhundert erstelltes Porträt zeigte. Demnach mußte es nach einem älteren, authentischen Bild gemalt worden sein. Ulrich Hellmann war wie erschlagen. Was fragte man den berühmtesten Seher aller Zeiten, wenn er einem plötzlich ins Haus schneite und die Apokalypse voraussagte? Ulrich, sonst nicht auf den Mund gefallen, fiel dazu nichts ein. Lydia trat ein. »Soll ich Mark anrufen?« fragte sie. »Ihr meint, mit der Stimme, die über große Entfernungen spricht? Die Fische aus Eisen, die ich prophezeite und die Menschen tragen, sind in Eurer Zeit Wahrheit geworden? Genauso das Fliegend Feuer, eisern Gerät, in dem Menschen durch die Wolken reisen? Die Kapitäne jener geflügelten Luftschiffe können über große Entfernungen miteinander sprechen, auch mit der Erde.« »Ja«, sagte Lydia. »Ich will telefonieren.« Ulrich fügte hinzu: »Natürlich kennen wir Flugzeuge. Es muß sehr verwirrend für Euch sein, all diese Wunder zu erfahren. Als solche müssen sie Euch erscheinen, da ihr die technischen Grundlagen, auf denen sie basieren, nicht versteht und nicht kennt.« Unwillkürlich sprach Ulrich anders als zuvor mit Nostradamus. 25
Der pensionierte Kripobeamte hatte den ersten Schock überwunden. Sein Beruf hatte Ulrich Mißtrauen gelehrt. Er überlegte, ob der vor ihm sitzende Mann ein Schwindler war. Es drängte ihn danach, Nostradamus anzufassen. Er wollte wissen, wie er sich anfühlte, so wie ein normaler Mensch oder vielleicht eisig kalt? Zudem hegte Ulrich Hellmann noch einen anderen Verdacht. Mephisto, Marks großer Gegenspieler, vermochte jede beliebige Gestalt anzunehmen. Er hatte schon viele getäuscht. Dem Dr. Faust war er in Goethes Studierzimmerszene zunächst als ein Pudel erschienen. Ulrich tippte also den linken Arm des Besuchers an. Zu seiner Überraschung spürte er keinen Widerstand. Seine Hand drang wie in einen Nebelstreif. Dabei hatte Nostradamus Lydia erst kurz zuvor die Hand gegeben. Der Seher schien nicht zu bemerken, daß Ulrich ihn berührte. Er sagte zu Lydia: »In diesem Moment faßt der Tod deinen Sohn an.« Er meinte Mark Hellmann. Den feinen Unterschied mit dem Adoptivsohn machte er nicht. Lydia erschrak. Es war ein Tag voller unangenehmster Überraschungen. * Ich duckte mich unter der Sense weg, spürte den Luftzug und vollführte mit dem strahlenden Ring einen Halbkreis. Mit donnerndem Hufschlag jagte der Knochenreiter an uns vorbei. Eine silberne Barriere, von dem Strahl meines Rings erzeugt, fing Gevatter Tods Seuchenkeime auf. Die Barriere absorbierte sie, flackerte und erlosch. Doch die tödliche Seuchensaat erreichte uns nicht. Ich kreiselte herum und schoß mit der SIG Sauer auf den Rücken des Knochenreiters. Die Kugeln fielen jedoch abgeplattet herunter, während der Tod weiterritt. Der Erzdämon war viel zu stark, als daß ihn die Kugeln gefährdet hätten. Gevatter Tod ritt in die Luft. Vor einer normalen Wolke zügelte er seine Knochenmähre, ließ sie sich aufbäumen und fuchtelte mit der Sense herum. Er war über zweihundert Meter weit entfernt. Pit Langenbach und Tessa stellten sich neben mich. Rasch verwandelte ich auch 26
ihre Schießeisen in magische Waffen. Dabei hoffte ich, daß die konzentrierte Feuerkraft dem Seuchendämon zusetzen würde. Er nannte sich auch der Alte des Schreckens, ein Prädikat, das sich der Blutdruide und Vampir Dracomar ebenfalls verliehen hatte (Siehe MH 1). In Niedergrunstedt schien man den Erzdämon nicht zu sehen. Das entnahm ich den erstaunten Gesten der Polizisten und Zuschauer am Ortsrand. Anscheinend kapierten sie nicht, weshalb ich, wie sie es einschätzten, in die Luft schoß und weshalb wir entsetzt in den Himmel starrten. Eine weitere Aktion unserer Gegner, um Verwirrung zu stiften. Was Mephisto gesagt hatte, daß er mein Vater sei, setzte mir schwer zu. Doch mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Gevatter Tod ritt wieder an. »Ich lege euch den Kopf vor die Füße, ihr Würmer!« donnerte er. Wir feuerten alle drei unten vom Acker aus. Genausogut wie mit magisch aufgeladenen Kugeln zu schießen, hätten wir den Dämon mit Erbsen bewerfen können. »Hinwerfen!« rief ich Pit und Tessa zu, als der Seuchendämon wie eine teuflische Ein-Mann-Armee heranjagte. Er schleuderte die Seuchenkeime aus seinen leeren Augenhöhlen, in denen tief im Hintergrund ein winziger Funke glomm. Und er schwang seine Sense. »Huieehhh! Hoyahhh!« brüllte er. Wieder bewegte ich den Ring rasch hin und her und schuf mit dem hellen Strahl einen magischen Schutzschild. Dennoch schien ein Seuchenkeim Pit Langenbach zu erwischen. Der Hauptkommissar wurde krebsrot im Gesicht, griff sich an den Hals und zuckte heftig. Er röchelte. Blut drang ihm aus Mund und Nase. Ich fürchtete schon, daß er die Lungenpest hätte. Ich hatte den Einsatzkoffer geöffnet. Der armenische Dolch, den mir Rudi Oertzner im Jahr 1975 bei einer Zeitreise in Eisenach vererbt hatte, war schon mit dem Ring magisch beschworen. Der Dolch flimmerte bläulich. Gevatter Tod schlug mit der Sense nach mir. Tessa und Pit lagen am Boden, sie hatten meinen Befehl, sich hinzuwerfen, zum Glück befolgt. Der Tod änderte die Richtung seines Sensenschlags. Statt mir den Kopf vom Rumpf zu trennen, wollte er mir die Beine abhacken. 27
Ich sprang hoch. Knapp unter meinen Füßen zischte die Sense hin und haute mir die Absätze von den Cowboystiefeln. Diesmal ritt der Gevatter Tod nicht so weit weg, sondern wendete sein fahl leuchtendes Knochenpferd auf der Hinterhand. Abermals griff er an. Dabei hatte er es hauptsächlich auf mich abgesehen. Tessa und Pit interessierten ihn wenig. Ich wich seinem Sensenschlag aus, griff in die Zügel des Knochenpferds und versuchte, den Dämon zu Fall zu bringen. Es mißlang gründlich. Die Zügel zerrissen, doch das Knochenpferd von den Hufen zu reißen, war mir nicht möglich. Statt dessen erhielt ich einen Huf schlag der Mähre, daß ich glaubte, ein paar meiner Rippen wären gebrochen. Während ich noch taumelte, versetzte mir der Gevatter Tod einen Schlag mit der Faust. Ich stach mit dem Dolch nach ihm. Die Pistole hatte ich fallen gelassen. Den Dolchstich schien er doch zu spüren, jedenfalls ritt er ein Stück zur Seite. Ich hielt mir die Seite. Die Luft blieb mir weg. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Bis ich die ärgste Not überwunden hatte, vergingen ein paar Sekunden. Während der Zeit war ich stehend k.o. und sah Sterne. Aus diesen schälte sich der Gevatter Tod heraus und gewann an Konturen, als er abermals anritt. Diesmal hätte ich seinem Sensenschlag nicht entgehen können. Ich war noch zu langsam. Huftritt und Faustschlag hatten mich fast gelähmt, noch war ich angeschlagen. Tessa rettete mich. Die Angst um mich verlieh der durchtrainierten Kriminalbeamtin Riesenkräfte. Katzenhaft geschmeidig schnellte sie sich dem Tod entgegen. Das zweieinhalb Meter große Skelett im schwarzen Umhang packte sie mit gewaltiger Kraft. Der Sensenhieb gegen mich blieb aus. »Dich nehme ich mit zur Hölle!« brüllte Gevatter Tod. Tessa schrie gellend um Hilfe. Ich warf den bläulich strahlenden Dolch und traf den davonreitenden Tod zwischen die Schulterblätter. Der Dolch bohrte sich durch seinen Umhang. Er blieb stecken. Ob er sich in einen Knochen gebohrt hatte oder durch Magie in dem Dämon haftete, wußte der Teufel. Jedenfalls schrie der Gevatter Tod auf. Das Knochenpferd bäumte sich wiehernd auf. Aus zehn Meter Höhe sank es bis fast auf den Boden. Gevatter Tod hielt die 28
strampelnde, schreiende Tessa vor sich. Mir blieb fast das Herz stehen. Was war, wenn er ihr seinen Pestatem einhauchte, die Lepra, Cholera oder sonst eine Krankheit verpaßte? Ich mußte Tessa retten. Um ihr zu helfen, überwand ich die Benommenheit und die Schwäche und verbiß mir den Schmerz. Ich nahm einen Anlauf und sprang hinter dem Gevatter Tod auf sein Knochenpferd, packte ihn und klammerte mich an ihm fest. Mit dem leuchtenden Ring, der sich deutlich erwärmt hatte, hämmerte ich auf den Seuchendämon ein. »Sei gebannt!« rief ich dazu. »Fahr aus, fahr zur Hölle! Im Namen des Lichts befehle ich dir, diese Welt zu verlassen!« Gevatter Tod brüllte und röhrte. Er ließ Tessa los. Sie fiel auf den Boden. Ich packte den armenischen Dolch und wollte Gevatter Tod damit den Kopf vom Skelettrumpf trennen. Doch die Klinge schlug klirrend wie gegen Stahl. Der Dolch prallte ab, eine Abstoßungsreaktion erfolgte, so heftig, daß er mir aus der Hand geprellt wurde. Ich rang buchstäblich mit dem Tod. Er hatte die Sense fallen gelassen, die niederfiel und sich tief in den Boden bohrte, so daß sie verschwand. Ich saß dem Gevatter Tod im Nacken. Er schlug mit der Knochenfaust nach hinten. Mit der ringbewehrten Faust hämmerte ich auf ihn ein. Gevatter Tod war ungeheuer stark, viel stärker als ich, der unter seinesgleichen nicht gerade als ein Schwächling anzusehen war. Wie sich herausstellte, konnte ich mit dem Lichtstrahl, den mein Ring aussandte, wie mit einem Laser in die Gebeine des Gevatter Tod hineinschneiden. Die Wunden schlossen sich jeweils wieder, doch ich fügte ihm »Schmerzen« zu, und die kosteten ihn Energie. Der Tod rüttelte und schüttelte sich, um mich loszuwerden. Sein Umhang war zerfetzt, die Kapuze von seinem Totenschädel gesunken. Wir ritten mal zweihundert Meter hoch, dann nur fünfzig, in einem Höllengalopp. Immer wieder bäumte sich das Knochenpferd auf, überschlug sich in der Luft und stellte sich sogar auf den Kopf, um mich abzuwerfen. Ich krallte mich mit Händen und Füßen an dem riesigen Skelett fest. »Sei vernichtet, Tod, fahr zur Hölle! Ich kämpfe für das Licht und das Leben!« 29
Gevatter Tod brüllte in einer altertümlichen Sprache, die ich nicht verstand. Meine Kräfte ließen nach. Ich näherte mich bereits der totalen Erschöpfung, während der Tod unermüdlich war. Noch einmal bot ich die letzten Reserven auf. Ein gewaltiger Schlag ließ den Totenschädel dröhnen und krachen. Blitze stoben ihm aus den Augenhöhlen und aus dem Rachen. Dann spürte ich einen Ruck und flog weg vom Skelett. Wir ritten gerade in zwanzig Meter Höhe über dem Boden, direkt über den Grunstedter Tannen. Ich stürzte ab ohne Fallschirm und glaubte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Die Luft pfiff an mir vorbei. Gevatter Tod klammerte sich über mir an sein Knochenpferd. Ich hatte ihm zugesetzt; ihm dröhnte der Schädel. Die Tannenwipfel rasten auf mich zu, jedenfalls hatte es für mich den Anschein. Es krachte und prasselte, als ich sie erreichte. Instinktiv packte ich zu, hielt mich fest, so gut es ging. Die Tannenzweige bremsten meinen Fall ab, sonst hätte ich mir das Genick und noch ein paar Knochen dazu gebrochen. So landete ich hart, aber ziemlich unversehrt auf dem Boden. Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, daß meine Knochen noch heil waren. Bis auf ein paar Schrammen war ich heil davongekommen. Ich hinkte nun aus dem Wald und blickte hinauf zum Gevatter Tod. Ohne Sense, mit zerfetztem Umhang, schaute er aus hundert Meter Höhe auf mich hinunter. Drohend schüttelte er seine Knochenfaust. Ich hob den hell strahlenden Ring. Daraufhin verzichtete der Seuchendämon darauf, seine Krankheitskeime auf mich niederprasseln zu lassen. »Wir sehen uns in der Hölle wieder, Mark Hellmann!« rief er herab. »Dein Vater Mephisto wartet auf dich. Du wirst deinem Schicksal nicht entrinnen. Du bist der Höllenprinz und der Wegbereiter des Finsteren Zeitalters.« »Niemals. Verschwinde, du Oberbazillus! Hau ab, Gevatter Tod!« So verhöhnte ich ihn. Der Seuchendämon bewegte die Knochenhand. Ein finsterer Schlund tat sich wie ein Tor ins Jenseits vor ihm auf, und er verschwand darin. Aufatmend ging ich quer über den Acker zu Tessa Hayden und Pit Langenbach. Tessa war unversehrt. Glücklich strahlte sie mich an. Mir blieb keine Zeit, sie zu umarmen. Sie deutete sofort auf Pit 30
Langenbach. Er krümmte sich am Boden, ein Bild des Jammers. Pit lag in den letzten Zügen. Er röchelte, sein Gesicht war totenblaß und eingefallen. Sein Blick flackerte, Blut sickerte ihm aus den Mund, und immer wieder schüttelte ihn ein dumpfer Husten, der ihn sehr schmerzte. Er kriegte kaum noch Luft. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde ich nun meinen besten Freund verlieren. »Pit stirbt!« rief Tessa verzweifelt. »Unternimm doch etwas, Mark.« Nur der Ring konnte helfen. Ich berührte den Kripohauptkommissar mit dem Siegelring an der Stirn und sprach beruhigend auf ihn ein. Pit entspannte sich ein wenig. Der Lichtstrahl, den mein Ring ausschickte, wurde schwächer und erlosch völlig. Die Energie des Rings war nicht unbegrenzt. Aus mir unbekannter Quelle mußte er sich wieder aufladen und an Kraft gewinnen. Der Ring war ein Mysterium. Noch kannte ich seine Herkunft nicht. Warm war er immer noch, und er leuchtete schwach. Ich fuhr Pit mit dem Ring über den Körper und konzentrierte mich dabei auf seine kranken Lungen. Ohne den Lichtstahl schrieb ich das keltische Wort für »Heilung« auf seine Brust. Diesmal waren keine leuchtenden Futhark-Runen zu erkennen. Pit konnte etwas leichter atmen. Sein Gesicht gewann ein wenig an Farbe. Das furchtbare Rasseln beim Atemholen wurde leiser, und es sickerte ihm kein Blut mehr aus dem Mund. Aber Pit konnte nicht allein aufstehen. Der Gevatter Tod hatte ihn böse erwischt, aber die Lungenpest schien es doch nicht zu sein, was er ihm verpaßt hatte. Ich konnte froh sein, daß Tessa unversehrt geblieben war und ich noch lebte. Zuerst holte ich mir den armenischen Dolch und die Pistole, die auf dem Acker lagen, und steckte sie weg. Dann halfen Tessa und ich Pit Langenbach auf die Beine. Wir mußten ihn stützen. Gekrümmt wankte er zwischen uns zu dem Weiler Niedergrunstedt. Von dort näherten sich sechs Polizisten und Beamte der Weimarer Kripo, die nach dem Rechten sehen wollten. Außerdem eilten Sanitäter mit einer Trage herbei. Ein Notarztwagen befand sich bei den übrigen Einsatzfahrzeugen. Ich fragte mich, ob die Leute im Dorf meine Kapriolen in der Luft beim Kampf mit Gevatter Tod gesehen hatten. Der Kampf 31
mit dem Erzdämon war für mich mörderisch gewesen. Ich spürte ihn noch in allen Knochen und war total ausgelaugt. So erschöpft und ausgepumpt war ich nicht mal nach meinen schwersten Wettkämpfen gewesen. Mein Handy war weg, das fand ich auch nicht wieder. Tessa hatte ihr Handy noch in der mit einem Reißverschluß verschlossenen Tasche ihrer Motorradkluft. Es tutete. Tessa zog es hervor, meldete sich und gab es mir. »Für dich, Mark.« Pit Langenbach hielten wir zwischen uns. Als ich mich meldete, war meine Mutter Lydia am Apparat. Sie hatte, als ich mich nicht meldete, Tessas Handynummer gewählt, um mich über sie zu erreichen. »Was gibt es, Mutter?« »Ist bei dir alles in Ordnung, Mark?« »Das kann man so sagen.« »Gut.« Das klang tief erleichtert. »Du mußt schnellstens herkommen, Mark. Wir haben Besuch. Da ist jemand, den du unbedingt kennenlernen mußt.« Mir war nicht nach Witzen zumute, sonst hätte ich gefragt: »Ist es die Tante Frieda aus Sachsen, die immer erzählt, daß sie das schönste Mädchen von Leipzig gewesen sei und einmal sogar Ulbricht ihr nachgestellt hätte?« Dem Spitzbart hob' ich een Gorb gegeben, behauptete sie dann jedesmal. Der ist mir nisch an die Wäsche gegommen. Jetzt fragte ich sachlich: »Wer ist es?« »Hört uns niemand ab?« »Wir sind nicht mehr zu Stasizeiten.« »Es ist - Nostradamus. Er hat eine Prophezeiung speziell für dich. Beeil dich, lange kann er nicht mehr bleiben. Gewaltige Kräfte zerren an ihm und wollen ihn in seine Zeit zurückholen. Ganz Weimar ist in Gefahr.« Der sonnige Tag verdunkelte sich für mich abermals. Der Schrecken war noch längst nicht vorbei. Im Gegenteil, er trumpfte jetzt noch stärker auf. * Die Sanitäter verluden Pit Langenbach in den Krankenwagen. 32
Auf der Trage liegend machte er mir das V-Zeichen und grinste schwach. »Beunruhige meine Frau nicht unnötig«, sagte er zu mir. »Sie und Floh sollen erst verständigt werden, wenn mich die Ärzte untersucht haben.« »Gute Besserung, alter Junge.« »Unkraut vergeht nicht.« Aber Pit hustete und spuckte schon wieder Blut. Die Tür des Krankenwagens wurde geschlossen. Mit Blaulicht fuhr er von Niedergrunstedt Richtung Hufeland-Kliniken, wo sich Spezialisten um den Kripohauptkommissar kümmern sollten. Der stämmige, glatzköpfige Oberkommissar Hartmann, sein momentaner Stellvertreter, übernahm in Niedergrunstedt vor Ort das Kommando. Für das, was er oben am Kopf zu wenig hatte, trug Hartmann als Ausgleich einen Drei-Tage-Bart. Vom Aussehen und der Statur aus ähnelte er einem beliebten Schauspieler, der noch zu DDR-Zeiten von dort ausgebürgert worden war und im Westen Karriere gemacht hatte. Hartmann fragte mich, wo ich gewesen sei und weshalb wir auf dem Acker solche Kapriolen aufgeführt hätten. »Ihr habt in die Luft geschossen. Dann war zuerst Tessa verschwunden. Danach nahmen Sie einen Anlauf und waren plötzlich verschwunden. Tessa tauchte wieder auf. Eine Weile später traten Sie aus dem Wald. Wie ist das möglich?« »Fragen Sie mich was Leichteres«, antwortete ich. Während des mörderischen Kampfes mit dem Gevatter Tod war ich unsichtbar gewesen, genau wie der Knochenreiter. In dem speziellen Fall hatte der Erzdämon das bewirkt. Ich hatte keine Lust, Hartmann die Einzelheiten zu erklären. Das sollte später Pit Langenbach erledigen, wobei ich sehr hoffte, daß er bald genas. »Übernatürliche Kräfte«, murmelte der 42jährige Oberkommissar. »Parapsychologie. Als ob wir nicht schon Probleme genug hätten, muß man sich damit auch noch herumschlagen. Hoffentlich ist der Chef bald wieder auf dem Damm.« Hartmann war ein erstklassiger zweiter Mann und Befehlsempfänger. Mit dem selbständigen Denken hatte er allerdings so seine Schwierigkeiten. Deshalb hielt er sich, wenn es kein anderer für ihn besorgte, vorzugsweise an die Dienstvorschriften, gemäß der Maxime, daß dort nie etwas Verkehrtes stand. Bei Spuk und Horror jedoch konnte er mit ihnen sowie der Fahndungsroutine nur wenig ausrichten. 33
Es war schlecht möglich, von Mephisto oder dem Gevatter Tod die Fingerabdrücke zu erhalten. Ihnen eine Vorladung schicken, sie vor Gericht stellen und einsperren konnte man sie auch nicht. Dazu hätte der Oberkommissar Hartmann schon in die Hölle gemußt. Ich war dank meiner Erfolge und meines Freundes Pit Langenbach zum freien Mitarbeiter in unterschiedlichen Fällen avanciert. Mein Rat und meine Aufklärungsarbeit bei Übernatürlichem wurde nicht besonders gut honoriert, aber immerhin gab es Geld dafür; entsprechend kleiner waren deshalb seit kurzem meine finanziellen Sorgen. In manchen Fällen konnte ich fast offiziell auftreten, hatte Recherche- und Fahndungsmöglichkeiten, die ich sonst nicht gehabt hätte. Zwar bin ich ein ausgeprägter Individualist, doch ein gewisses Maß an Organisation und Koordination muß sein. Nur ein Dummkopf schlägt Hilfe und Unterstützung aus, wurstelt allein, wo er delegieren oder rückfragen kann, und verschwendet damit Zeit, Geld und Energie. Wir stiegen auf Tessas Motorrad. Der Kopf des unglücklichen Jochen Probstier war bereits vom Acker aufgelesen worden. Jammernd brach seine Frau, die inzwischen herbeigeeilt war, an dem Transportsarg zusammen, in den die sterbliche Hülle gelegt worden war. Probstiers drei Kinder, das älteste Mädchen war zwölf Jahre alt, waren zu Hause geblieben. Ihre Großmutter paßte auf sie auf. Grausam hatte der Gevatter Tod dem Bauern mit der Sense den Kopf abgeschlagen, ein Akt von dämonischer Willkür. Das war nur geschehen, weil die Mächte der Hölle auftrumpfen und zeigen wollten, daß es in Weimar mal wieder zur Sache ging. Genausogut hätte es einen anderen treffen können. Probstier hatte das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Ich fuhr die Suzuki, obwohl mir nach dem Kampf mit dem Seuchendämon noch alle Knochen schmerzten. Tessa saß auf dem Sozius und klammerte sich an mir fest. Wir hatten den Tag so begonnen, wie es Liebespaare am liebsten zu tun pflegten, und wir waren ganz und gar nicht darauf eingerichtet, uns mit Höllendämonen herumzuschlagen. Wir fuhren wieder durch Weimar, wo das Jahr der Kulturstadt Europas mit all seinen Veranstaltungen und Festivitäten begonnen hatte. Am 28. 8. 1999 würde Goethes 250. Geburtstag 34
sein. Um diesen Zeitpunkt herum gruppierten sich einige Höhepunkte der Veranstaltungen meiner Heimatstadt Weimar. Goethe und Schiller hatten hier gelebt und sich in ihrem Wirken gegenseitig befruchtet. Herder, Cranach, der Komponist Liszt und andere große Namen verbanden sich mit dem 60.000-EinwohnerStädtchen Weimar, das das kulturelle Angebot mancher Großstadt übertraf. Die Weimarer Republik war hier gegründet worden. Doch auch ein Schandfleck deutscher Geschichte, das Konzentrationslager Buchenwald, befand sich in der Nähe. Auch für Mark Nikolaus Hellmann, Träger des Rings und Kämpfer gegen das Böse, stand Weimar, eine vielschichtige, facettenreiche Stadt, die unter ihren Dächern mehr barg, als man erahnen konnte. Manchmal allerdings gingen mir der kulturelle Anspruch und das ganze Getue um Kunst und Dichtung ganz schön auf den Geist. Besonders dann, wenn wichtigere Themen wie Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität in den Hintergrund gedrängt wurden. Wer mag auch schon gern in einem Musentempel wohnen? Zum Glück gab es auch Jazzkeller, Biergärten, Discos und hübsche Mädchen, nur mit dem Geist Goethes und Schillers und der klassischen Vergangenheit hätte ich es in Weimar nicht aushalten können. Jetzt griff die Hölle nach dieser Stadt! Unterwegs erhielten wir übers Handy, von der Polizei weitergeleitet, einen Anruf aus den Hufeland-Kliniken. Ein Spezialist teilte uns mit, daß Pit Langenbachs Zustand ernst, seine Krankheit jedoch nicht ansteckend sei. »Bestellen Sie dem Hauptkommissar unsere besten Grüße und Genesungswünsche«, sagte Tessa am Sozius. »Wir besuchen ihn bald.« »Hauptkommissar Langenbach ist leider nicht ansprechbar.« Wir erschraken. Tessa bedankte sich für den Anruf und beendete die Verbindung. Wir erreichten das Reihenhaus meiner Eltern. Ulrich Hellmann stand vor der Tür. Er winkte uns aufgeregt zu. »Beeilt euch, wenn ihr Nostradamus noch sprechen wollt.« Ich hatte Tessa, die ich über alles liebte und zu der ich vollstes Vertrauen hatte, einiges mitgeteilt. Wir eilten ins Haus. Im Wohnzimmer saß eine stattliche, altertümlich gekleidete Gestalt. Ich erkannte Nostradamus nach einem Porträt, das ich von ihm 35
gesehen hatte. Und eine andere, ältere, fast verschüttete Erinnerung regte sich in mir. Ja, ich hatte ihn schon einmal gesehen, war ihm begegnet, ehe der Vorhang fiel, der vor meinem Auftauchen als geistig verwirrter Zehnjähriger in Weimar meine Erinnerung abtrennte. Ein Zipfel von dem Vorhang wurde nun gelüftet. Außerdem erinnerte ich mich an ein flackerndes Feuer, den Teufel und einen Mann, der... Der Schleier senkte sich wieder über mein Gedächtnis. Ich wußte nichts mehr. »Markus«, sagte Nostradamus. »Mein geliebter Sohn. Endlich sehe ich dich wieder.« Ich stand wie vom Schlag gerührt. Auch Tessa verharrte. Mit ausgebreiteten Armen schritt Nostradamus auf mich zu. Mein Ring reagierte nicht. Der 1503 in Saint-Remy-de-Provence geborene Seher umarmte mich. Er war durchaus stofflich und kein Schwächling. Unter seinem Talar spürte ich feste Muskeln und starke Knochen, die mehr vermochten, als nur einen Federkiel zum Wahrsagungsniederschreiben zu halten. Ich roch das Parfüm in Nostradamus' Bart, als er meinen Kopf niederzog und mich auf beide Wangen küßte. Er zauste mich bei den Haaren. »Es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen«, sagte er tief gerührt. »Du bist mein Erbe, mein Sohn.« Allmählich verstand ich überhaupt nichts mehr. Viele Jahre hatte ich mich gefragt, wer mein leiblicher Vater war. Niemals hatte sich jemand als solcher zu erkennen gegeben. Jetzt traten gleich zwei auf, die behaupteten, mein Erzeuger zu sein: Mephisto und Nostradamus. Unterschiedlichere Väter konnte man sich gar nicht vorstellen. Plötzlich verschwammen die Konturen des Nostradamus wie ein unscharfes Bild am Fernseher. Sie flackerten. Ich spürte die Berührung des Sehers nicht mehr. Als ich nach ihm griff, durchdrang meine Hand seinen Körper. »Ich muß zurück«, sagte er wie aus weiter Ferne, »in meine Zeit. Nicht länger kann ich der kosmischen Kraft widerstehen, die mich dazu zwingt. Die Zeit ist reif, Markus. Jetzt oder nie. Mephisto. Der Gevatter Tod, der schleimige Samiel und die Teufelin Sumer. - Die Apokalypse steht unmittelbar bevor. Wehe, wenn die Sense am Himmel erscheint und der Tod aus den 36
Wolken hervorreitet. Schrecken über Weimar. Pesttote liegen in den Häusern, auf den öffentlichen Plätzen und in den Straßen. In den Hotels und Kulturhäusern stapeln sich Leichen. Schrecken über Schrecken. Ein Reiter ist angekündigt, und er sitzt auf einem Pferd. Höllenprinz ist sein Name. Seuchen und Hunger, Not, Krieg, Mord, Verrat und Tod gehen in seinem Gefolge.« Entsetzlicher Schrecken ergriff mich. Mephisto, der Gevatter Tod und auch Samiel hatten mich als den Höllenprinzen bezeichnet. Jetzt erwähnte Nostradamus den Namen und bestätigte die entsetzlichen Schrecken, die der Höllenprinz bringen sollte. Ich hatte viel über Nostradamus gehört und seine Wahrsagungen, die Centuries, gelesen. Ich nahm ihn durchaus ernst. »Gibt es eine Möglichkeit, das Unheil abzuwenden, großer Nostradamus?« Die Gestalt vor mir wurde noch blasser. Ich sah durch den Schemen des Nostradamus die Möbel und die Tapete des Zimmers. »Achte auf den Ring.« Der Schemen des Nostradamus war kaum noch zu erkennen. »Bist du mein Vater?« stellte ich laut die Frage, die mir am meisten am Herzen lag. »Oder ist es gar Mephisto?« Doch Michel de Notre Dame, wie Nostradamus richtig geheißen hatte, schaute mich schweigend an. »Stammt mein Ring von Mephisto?« fragte ich ihn. »Der Ring ist.« hörte ich ein leises Wispern. Mehr nicht. Der Schemen des Nostradamus verschwand völlig, ohne mir die erwünschte Aufklärung zuteil werden zu lassen. Innerlich aufgewühlt, verwirrt und zutiefst beunruhigt blieb ich zurück. Was mir an dem Tag alles widerfahren war, mußte ich erst einmal verdauen. Ich schaute Tessa sowie Ulrich und Lydia Hellmann an. Genauso wie ich waren sie tief beunruhigt. Jetzt war guter Rat teuer. Wir setzten uns im Wohnzimmer zusammen und berieten, was weiter zu tun sei. Nostradamus hatte uns ein ebenso großes Rätsel hinterlassen, wie die Aussagen in seinen Centuries es waren. »Es kann nur einer mein leiblicher Vater sein«, sagte ich, nachdem wir uns eine ganze Weile die Köpfe heiß geredet und zerbrochen hatten. »Nostradamus oder Mephisto.« 37
»Oder keiner von beiden«, bemerkte Ulrich Hellmann. Im Moment konnten wir nicht viel mehr tun, als abzuwarten, ob Nostradamus zurückkehrte. Wie sich die Dinge in und um Weimar entwickelten, war noch völlig offen. »Noch ist nicht aller Tage Abend«, sagte Lydia Hellmann, »und noch ist in Weimar nicht die Pest ausgebrochen. Wir wollen erst einmal essen. Auch in schwersten Zeiten und Krisen soll man das leibliche Wohl nicht vernachlässigen. Der Sauerbraten ist fertig.« So hatte Lydia seit jeher gedacht. Essen und Trinken hielt Leib und Seele zusammen. Es nutzte niemandem, wenn man sich bei Problemen völlig zermarterte, nicht mehr schlief und nicht aß, abmagerte und völlig den Kopf verlor. Als wir bei Tisch saßen, klingelte es wieder an der Tür. Diesmal war es nicht Nostradamus, der draußen stand, sondern Max Unruh persönlich, der Chefredakteur der »Weimarer Rundschau«. Einen seiner Reporter und einen Fotografen hatte er im Schlepptau. Unruhs schwerer Mercedes parkte um die Ecke. Der Chefredakteur war der Jahreszeit entsprechend angezogen. Ein breitkrempiger Hut bedeckte seine jupiterhafte Stirnglatze, und er trug einen weißen Schal um den Hals. Unruh war Mitte Fünfzig, recht groß, massig und schwergewichtig. Ein alter Hase im Zeitungsfach, der bei seinen Mitarbeitern geachtet, aber auch gefürchtet war. Ich kam bestens mit ihm aus, oder anders ausgedrückt, ich wußte Unruh zu nehmen, um hier und da noch mit ihm zusammenarbeiten zu können. »Darf ich eintreten?« fragte Unruh und kam ins Haus, ohne die Antwort abzuwarten. »Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, muß der Berg zum Propheten gehen.« Damit meinte er mich und sich. Er schnupperte. »Hier riecht es gut. Darf ich mich einladen?« Das war einer seiner Scherze. Unruh gab sich gern jovial, verstand allerdings keinen Spaß, wenn es um seine Autorität ging. »Es reicht nicht für Gäste«, antwortete Lydia. »Was verschafft uns die Ehre?« »Die Vorfälle in Niedergrunstedt. Ich erwarte einen Exklusivbericht, Mark. Dafür zahlen wir dir gerne ein Sonderhonorar.« »Über die Vorfälle in Niedergrunstedt kann ich Ihnen nichts 38
berichten, Herr Unruh.« Der Fotoreporter knipste mich, Tessa und meine Adoptiveltern, ohne daß es ihm jemand erlaubt hätte. Mit einem schnellen Griff nahm ich ihm die Kamera weg und holte den Film heraus. Belichtet nutzte er ihm nichts mehr. »Was soll das, Mark?« fragte Unruh. »Früher warst du froh, wenn du für uns arbeiten konntest und wenn wir dir deine Artikel und Fotos abkauften.« »Früher ist nicht heute, Herr Unruh. Ich habe Ihnen meine Mitarbeit auch nicht aufgekündigt, kann Ihnen aber jetzt leider nicht helfen. Wir haben in der Familie etwas Dringendes zu besprechen. Bitte gehen Sie jetzt.« »Du wirfst mich hinaus?« fragte der Chefredakteur und schaute Ulrich Hellmann an. »Wir schmeißen niemanden hinaus, Herr Unruh, möchten Sie aber dennoch bitten, jetzt zu gehen. - Tun Sie, was mein Sohn sagt.« Unruh spielte den Beleidigten. »Meinst du, weil du Störtebekers Schatz gefunden hast und im Fernsehen auftratest, könntest du dir alles erlauben? Deine Prominenz ist nur vorübergehend, du selbsternannter Dämonenjäger.« »Wir wollen nicht streiten«, besänftigte ich ihn. Unruh besann sich. Er kannte meinen Eigensinn. »Du weißt, wo du mich erreichen kannst, Mark. Die 'Rundschau' hat immer ein offenes Ohr für dich. Wir sind an deiner Berichterstattung nach wie vor interessiert.« »Wenn ich es für angebracht halte, werde ich darauf zurückkommen, Herr Unruh. Bis dann.« Unruh preßte die Lippen zusammen. Die kühle Abfuhr, die ich ihm erteilte, wurmte ihn. Doch er besann sich seiner sprichwörtlichen Gelassenheit und brummte »Wie du meinst« und »Da kann man nichts machen« und verließ mit seinen beiden Begleitern das Haus. Ich sah ihn durchs Fenster im Mercedes vorbeifahren. Noch bevor wir uns wieder zu Tisch setzten, klingelte das Telefon in dem Reihenhaus. Man hatte bemerkt, wo ich mich aufhielt. Der Bürgermeister von Weimar und andere riefen an und wollten von mir Informationen über die Vorfälle in Niedergrunstedt und die weitere Entwicklung. Mein Ruf als Dämonenbekämpfer hatte sich herumgesprochen. Ich war »der Hellmann, der gegen das Böse kämpfte«. Auch 39
wenn mich manch einer für einen Spinner hielt, wenn es hart auf hart ging und darauf ankam, wandte man sich an mich, um übernatürliche Phänomene aufzuklären oder zu bekämpfen. Ich ging nicht ans Telefon, sondern trug meinem Vater auf, die Anrufer jeweils abzuwimmeln. Schließlich war ich, was den Kampf gegen das Böse sowie Mephisto und Konsorten betraf, nicht in die Stadtverwaltung integriert. Ich bestimmte, mit wem ich zusammenarbeitete und von wem ich Weisungen entgegennahm. Für mich hatte sich einiges geändert, auch was die Bewertung von hohen Beamten und sonstigen Koryphäen betraf. Wer gegen die Mächte der Hölle kämpfte, dem konnten ein Landrat oder auch ein Minister nicht mehr so sehr imponieren. Nicht, daß ich dadurch überheblich geworden wäre. Aber ich wußte, daß ich meinen eigenen Weg gehen mußte, und ich wollte mich davon nicht abbringen lassen. Wir stellten das Telefon leise, um nicht mehr gestört zu werden, und ließen die Anrufe auf das Band gehen. Anrufe übers Handy nahm die Mailbox entgegen. Falls Tessa von ihrer Dienststelle in Weimar dringend gebraucht wurde, sollte man sie benachrichtigen. Mein Kampf gegen den Gevatter Tod, bei dem ich mit knapper Not mit dem Leben davongekommen war, steckte mir noch in den Knochen. Ich berichtete Ulrich und Lydia darüber. Lydia strich mir mütterlich über die Haare und faßte mich am Arm. »Paß bloß auf dich auf, Junge.« Jetzt fragte ich sie: »Wann hast du Nostradamus schon einmal gesehen, Mutter? Was hat er dir prophezeit?« Lydia berichtete. * Weimar, 1982 Es war Winter, die Ilm war zugefroren. Auf dem Dach des Weimarer Schlosses und den Dächern der Stadt lag Schnee. Im Park an der Ilm fuhren Schulkinder Schlitten, immer denselben Hang hinunter. Lydia Hellmann stand oben am Weg und schaute den fröhlichen Kindern zu. Ihr Adoptivsohn Mark tummelte sich unter ihnen. Er war groß und kräftig für sein Alter, seine Wangen von der Kälte gerötet. Lydia war froh, daß sie ihn über den Berg hatte und 40
er nicht mehr vor sich hinbrütend zu Hause in ihrer Drei-ZimmerWohnung in der Bachgasse in der Weimarer Altstadt hockte. Und nicht mehr jede Nacht schreiend aufschreckte und tagsüber verstört war. Es hatte Lydia viel Mühe und Nerven gekostet, Mark seine Ängste zu nehmen. Oder ihn soweit zu bringen, daß er sie überwand, damit zu leben und am normalen Leben teilzunehmen vermochte. Nach jener Walpurgisnacht, als Ulrich Hellmann ihn aufgegriffen hatte, war der Junge äußerst schwierig gewesen. Lydia hatte ihren Beruf als Erzieherin aufgegeben, um sich Mark widmen zu können. Vorher war sie als Leiterin einer Kinderkrippe tätig gewesen. Im Sozialismus hatte jedes Kind einen Krippenoder Kindergartenplatz. Frauen konnten voll berufstätig sein. Politische Schulung und Lehrgänge nahmen allerdings sehr viel Zeit in Anspruch. Die Planwirtschaft funktionierte nur mühsam und hinkte meist hinter dem Plansoll her. Die Berliner Mauer, der Schutzwall gegen den Kapitalismus und den Imperialistischen Klassenfeind, verhinderte die Republikflucht. Westberlin war eine Enklave. In der Bundesrepublik Deutschland, dem als feindlich angesehenen Bruder der Deutschen Demokratischen Republik, regierte die sozialliberale Koalition unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt. In der UdSSR war der schwerkranke Generalsekretär der KPdSU und zugleich Staatspräsident Leonid Breschnjew an der Macht. Der Mann mit den unergründlichen asiatischen Augen regierte mit harter Hand das kommunistische Ostblock-Imperium. Man betrieb eine Wett- und Aufrüstungsrepublik gegen den Westen. Als 40. US-Präsident entwarf der frühere Filmschauspieler Ronald Reagan ein Star-Wars-Raketenabwehrsystem, das die Vereinigten Staaten von Amerika immun gegen atomare Schläge machen sollte. Reagan, von Intellektuellen als »Cowboy im Weißen Haus« bespöttelt, nannte die UdSSR häufig das »Reich des Bösen«. Seine Wettrüstungspolitik war es, die zusammen mit der 1979 beginnenden Afghanistan-Krise und dem daraus resultierenden Krieg schließlich die UdSSR in den Bankrott und die Auflösung trieb. Auf beiden Seiten lief die Propagandamaschine. Des öfteren wurde auf Zonenflüchtlinge geschossen. Die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten wurde ihrem Namen als Demarkationsund Todeslinie gerecht. 41
Amerikanische Spionagesatelliten meldeten hochmoderne mobile Mittelstreckenraketen in den Ländern des Warschauer Pakts. Feindliche Weltanschauungen - Kommunismus und Kapitalismus - standen sich gegenüber. In der DDR meldete Eduard Schnitzlers »Schwarzer Kanal« die absurdesten Horrornachrichten über die dekadenten Zustände in der BRD: Scharen von Arbeitslosen, die es damals aber noch längst nicht gab, Drogen und sonstige Kriminalität, Sumpffluten, die gegen das »Paradies der Arbeiter und Bauern anbrandeten« und die Ideale von Marx und Lenin wegspülen wollten. Dafür sendeten die westdeutschen Sender kräftig ihr Werbefernsehen in die DDR und warben mit allen Luxusgütern. Den Ostdeutschen, denen ihre Funktionäre ständig die sozialistischen Parolen in die Ohren paukten, sollte weisgemacht werden, das im Werbefernsehen Gezeigte wäre in der BRD der normale Standard. Glückliche Hausfrauen in Superluxusküchen, schnelle Autos, Urlaubsreisen, Konsumgüter in Massen quasi zum Nulltarif. Man konnte die DDR und die BRD als feindliche Brüder bezeichnen. Industriell immer weiter gegen den Westen zurückfallend, ließ die DDR nur Rentner, Politfunktionäre und Handelsdelegationen in den Westen, außerdem Scharen von Agenten, die alles auszuspionieren hatten. Wer Karriere machen wollte, mußte linientreu und Parteimitglied sein. Noch zeigte die Sowjetunion Stärke und verkündete ihre Führungsspitze im Brustton der Überzeugung den Sieg der Weltrevolution und eine kommunistische Welt im bevorstehenden nächsten Jahrtausend. Lydia Hellmann war politisch geschult, daran führte kein Weg vorbei, sonst hätte sie stumm, dumm und taub sein müssen. Sie war Parteimitglied. Mit ihrem Ehemann Ulrich, der vieles ganz anders sah und den Sozialismus skeptisch beurteilte, hatte sie deswegen manchmal Meinungsverschiedenheiten. Nie wäre sie jedoch dem Gedanken verfallen, den Kripokommissar deshalb anzuprangern oder gar bei der Stasi anzuzeigen. Bei der Erziehung des kleinen Mark hielt sie sich mit Politparolen zurück. Da hatte sie andere Sorgen. Auf keinen Fall wollte sie, daß der Junge in einem Kinderheim verschwand. Noch war Lydia aber von der Überlegenheit des sozialistischen Systems überzeugt. Ihr Hauptinteresse galt jedoch Mark. Spät war sie, wenn auch durch 42
Adoption, Mutter geworden, was sie mit glühender Liebe und fast schon Fanatismus verteidigte. Als ein Funktionär im vergangenen Jahr vorgeschlagen hatte, Mark von den Hellmanns wegzunehmen und seine Erziehung dem Staat zu überlassen, hatte Ulrich Hellmann seine sonst immer ruhige Frau nicht wiedererkannt. »Nur über meine Leiche!« hatte Lydia ausgerufen. »Mark gebe ich niemals her!« Die Alpträume des Jungen hatten nachgelassen. Er kam in der Schule gut mit, erwies sich als intelligent und war ein ausgezeichneter Sportler. In der DDR war das einer Karriere sehr förderlich. Spitzensportler genossen wie die Funktionäre Privilegien, von denen der Normalsterbliche allenfalls träumen durfte. Bei den Olympiaden mußten Medaillen gescheffelt werden, um die Überlegenheit über den »Klassenfeind« zu demonstrieren. Auch die ältesten Knacker wurden noch in Betriebskampfgruppen aufgerüstet und erhielten erzählt, die »eroberungslüsternen Westdeutschen« warteten nur auf ein Zeichen von Schwäche, um in die DDR einzumarschieren. Boshafte Zungen behaupteten später im Westen, Honecker hätte gern einen Krieg gemacht, er sei dazu aber immer zu arm gewesen. Lydia sah zu, wie ihr Mark von ein paar Jungs mit Schneebällen beworfen wurde. Ehe sie eingreifen konnte, schnappte er sich einen der Übeltäter, steckte ihn in einen Schneehaufen und »seifte« ihn tüchtig ein. Lydia lächelte. Mark hatte sich Respekt verschafft. Seine Mutter schaute auf die Uhr und ging los, weil sie noch einige Einkäufe zu erledigen hatte. Die Schlange vor dem Laden, wo sie Fleisch und Margarine kaufen wollte, gefiel ihr überhaupt nicht. Seufzend wollte sie gerade hingehen, die Einkaufstasche unterm Arm, und sich einreihen, als sich ein Mann aus dem Schatten der Hauswand löste und auf sie zutrat. Er war groß, dunkel gekleidet, stämmig und bärtig, hatte seltsam durchdringende, strahlende Augen und wirkte irgendwie fremdartig. »Auf ein Wort«, sagte er völlig akzentlos in tadellosem Deutsch zu Lydia und zog sie auf die Seite. Die Stasi! dachte die damals 51jährige Frau und erschrak. Was habe ich denn verbrochen? Der Mann im dunklen Mantel deckte, was er ihr zeigen wollte, gegen die Menschen in der 43
Warteschlange und Passanten ab. Lydia erwartete, einen Stasiausweis gezeigt zu bekommen. Ihre erste Sorge legte sich. Schließlich war ihr Mann bei der Kripo und hatte Verbindungen. Er wußte allerhand, auch über höhere Funktionäre. Da paßte es manchem gut, wenn man ihn ruhig hielt. Der würdevolle Mann mit dem beeindruckenden rötlichblonden Löwenhaupt zeigte jedoch keinen Ausweis, sondern wies auf ein leuchtendes Hexagramm in seiner rechten Handfläche. Das Sechseck in seiner Handfläche leuchtete blau, rot und golden. Es wies kabbalistische Symbole und Zeichen auf sowie lateinische Worte, Hieroglyphen und Runen. Ein stilisierter Drache war zu erkennen, der mal deutlicher, dann wieder schwächer hervortrat. Und zwei Buchstaben in altertümlicher, verschnörkelter Schrift: M und N. Lydia staunte. Drache und Buchstaben waren mit denen auf dem Siegelring identisch, den Mark an einem Lederband um den Hals getragen hatte, als Ulrich Hellmann ihn am 1. Mai 1980 aufgriff. Von einem Stasiabzeichen war das, was der Fremde Lydia an diesem bereits dämmernden Nachmittag zeigte, so weit entfernt wie der Mond von der Erde. »Was wollen Sie von mir?« fragte Lydia den geheimnisvollen Fremden. »Wer sind Sie eigentlich?« »Michel de Notre Dame ist mein Name«, wisperte der Fremde geheimnisvoll. »Ein Franzose? Was haben Sie als Westler bei uns zu suchen?« »Für mich haben die Grenzen von Zeit und Raum eine andere Bedeutung als für die normalen Menschen«, erhielt sie zur Antwort. »Regionale halten mich nicht. Mein Geist sieht bis in die fernste Zukunft. Weder Mauer noch Kerker vermögen mich zu halten, wenn ich meine sterbliche Hülle verlasse, und tausende von Kilometern reise ich in einem Augenblick mit der Schnelle des Gedankens.« Lydia überlief es kalt. Hatte sie einen Wahnsinnigen vor sich? Solche Leute sollte man am besten nicht reizen. »Schön für Sie. Und worüber möchten Sie mit mir sprechen? Ich habe sehr wenig Zeit. Ich werde dringend erwartet. Mein Mann kommt gleich, um mich abzuholen.« Das stimmte nicht. Lydia wollte den seltsamen Mann nur 44
abwimmeln, weil er ihr nicht geheuer war. Es mißlang ihr. »Ich bin Nostradamus, der Seher. Es handelt sich um das Kind, dem ihr die Namen Mark Nikolaus gegeben habt und das du wie deinen Sohn betrachtest.« »Mark ist mein Sohn. Was weißt du über ihn?« Lydias Angst wich dem Drang, hier vielleicht Näheres über Marks Herkunft zu erfahren. Den Namen Nostradamus hatte sie schon einmal gehört, wußte jedoch wenig damit anzufangen. In der DDR wurden seine Weissagungen dem dekadenten, überholten System zugerechnet, das man für überwunden hielt. »Großes Unheil droht, wenn der Ring seine Kraft entfaltet«, orakelte Nostradamus. »Satan, Tod, der Bucklige und die Höllenhure erscheinen auf Erden. Weimar wird heimgesucht. Der Schwarze Tod hält reiche Ernte, wenn die Sense am Himmel steht. Der Knochenreiter trabt über die Felder.« »Was soll das denn bedeuten?« Nostradamus' Griff an Lydias Arm verstärkte sich und wurde zur eisernen Klammer. »Er, den du Mark nennst, ist in großer Gefahr«, wisperte er. »Finsternis fällt über das Land und bedeckt die Welt. Satan sät seine Schrecken. Es gibt kein Entrinnen, wenn sich der Träger des Rings verwandelt. Luzifer sitzt auf dem Höllenthron. Mephisto regiert als sein Kanzler. Mark ist der Höllenprinz, vermählt mit der Teufelin, wenn sich die Zeichen erfüllen.« Grauen erfüllte Lydia. Doch sie war eine beherzte Frau. »Was für ein Unsinn!« fuhr sie den Bärtigen an. »Glauben Sie nur nicht, Sie können mir Angst einjagen, nur weil Sie sich irgendein leuchtendes Zeug in die Hand gemalt haben. Was für Beweise haben Sie denn? Mark ist doch ein Kind.« »Aus dem Samen wird eine Rose; die Rose welkt und vergeht. Die Jahre eilen dahin. Nimmer kehrt eines zurück. Der eilende Finger schreibt, und keiner löscht aus, was er geschrieben ins Buch der Zeit. Dein Land wird untergehen. Im siebenten Jahr von dem heutigen fällt eine Mauer. Ich sehe Menschen in einem ummauerten Bezirk, wo sie in Freiheit sind. 'Wir sind das Volk!' rufen Stimmen. Männer in Talaren predigen von der Kanzel und läuten die Glocken der Freiheit. Wenn der große, beleibte Mann Bruders Land regiert, fallen die Grenzen. Karawanen von eisernen Kutschen ohne Rösser rollen nach Westen. Überfluß wartet, aber der Geist wird darben. Roter Stern vergeht. Noch einmal ein 45
Jahrzehnt, einig ist längst das Land. Die Stadt der beiden Dichter wird hoch geehrt in Europa. In diesem Jahr zeigt sich, kaum daß es angebrochen, die Sense am Himmel. Wehe dem Kind, das du aufzogst. Unheil kommt über die Welt. Ein Schwert des Schmerzes wird dein Herz durchbohren, Weib, und die Beulen der Pest bringen dir peinvollen Tod. Vorher kehrt dein Gatte aus dem Grab zurück, Mörder mit Mörderhand, beseelt von dem Keim des Bösen. - Merke dir meine Worte.« »Sie sind verrückt! Hauen Sie ab, Sie - Nostradamus! Oder ich schreie um Hilfe. Sie gehören in eine geschlossene Anstalt.« Der unheimliche Fremde zeigte ein mitleidvolles Gesicht. »Ich, der ich Frau und Kinder durch die Pest verlor, weiß, was du erleiden wirst. Weil ich ein Mensch bin, will ich versuchen, das Unmögliche zu erreichen. Wenn du mich wiedersiehst, haben sich die Vorzeichen erfüllt. - Ich, Nostradamus, werde zu dir zurückkehren.« »Ich will Sie nie wiedersehen. Gehen Sie!« Der Fremde verbeugte sich, trat zurück und verschwand in einer dunklen Gasse. Das Hexagramm in seiner rechten Handfläche leuchtete. Lydia ging ein paar Schritte vor und beobachtete, wie der Fremde von einer Sekunde zur andern verschwand. Es war, als ob er sich in Luft auflösen würde. Lydia war so geschockt, daß sie ihre Einkäufe vergaß. Sie begab sich zur Bachgasse. Ihr Mann machte Überstunden. In tiefes Sinnen versunken saß Lydia Hellmann im Dunkeln, bis der damals noch nicht zwölfjährige Mark hereinstürmte. Seine Wangen waren gerötet. Er brachte einen Hauch von Kälte in seinen Kleidern mit. »Mama, ich habe Hunger. Es war einfach toll beim Rodeln. Wir haben einen Schneemann gebaut, und ich bin mit Nachbars Grefe zusammen auf meinem Schlitten gefahren. Sie hat mir einen Kuß auf die Nase gegeben.« Lydia vergaß momentan ihren Schock. Sie strich Mark übers Haar. »Sieh an, das nenne ich frühreif. Ha, wir haben nichts zu essen im Haus.« Wie sich herausstellte, war aber doch etwas da. Es gab Pellkartoffeln und Quark. Später, als Mark müde im Bett lag und schlief, redete Lydia mit ihrem Mann über ihr seltsames Erlebnis. Ulrich Hellmann beruhigte sie. 46
»Der Mann hat sich nicht in Luft aufgelöst. Das sah nur so aus, weil er dunkel gekleidet war und in der Dunkelheit verschwand. Ich rufe die Dienststelle an, man soll nach ihm fahnden. Den Vogel fassen wir schon. Das war ein Geistesgestörter.« Der Fremde konnte jedoch in ganz Weimar nicht gefunden werden. Lydia vergaß ihren Schock und die Prophezeiung. Doch 1989, als Ausreisewillige in der Prager Botschaft auf die Ausreise in den Westen warteten und die Grenzen geöffnet wurden, fiel sie ihr wieder ein. Den Ruf »Wir sind das Volk!« hatte Nostradamus wörtlich vorausgesagt. * Gegenwart, Januar 1999: »Alles paßte«, berichtete Lydia. »Pastoren und Pfarrer beteiligten sich wesentlich an dem Umbruch. Mit dem großen, beleibten Mann, der Bruders Land die BRD - regiert, meinte Nostradamus den Kanzler Kohl. Trabikarawanen rollten 1989 zu den Grenzübergängen: die eisernen Kutschen ohne Rösser. Das Jahr der Kulturstadt Weimar hat Nostradamus mir genauso vorausgesagt wie den Untergang der Sowjetunion.« Lydia fing laut zu weinen an. »Dann wird auch das andere stimmen. Nostradamus suchte mich auf, wie er es ankündigte. Mark, was sollen wir denn nur tun?« »Abwarten, wie beschlossen«, antwortete ich und nahm Lydia in den Arm. »Nostradamus ist immerhin auf unserer Seite.« »Wer weiß, ob er ein Kämpfer der Weißen Magie ist«, murmelte Ulrich Hellmann. »Er war schon bei seinen Zeitgenossen umstritten. Am Hof des Königs Heinrich II. von Frankreich, wohin er 1556 auf Drängen der Königin Katharina berufen wurde, hatte er Feinde und Neider.« »Jeder neue Stern, der aufgeht, hat solche«, sagte Tessa, die immer noch ihre Motorradkluft trug. »Er, den du Mark nennst, vollendet das Verderben«, zitierte sie, was uns Lydia vorgetragen hatte. »Satan, der Tod, der Bucklige und die Höllenhure erscheinen. Mephisto, Gevatter Tod, der bucklige Schleimer Samiel - aber die Teufelin ist nicht in Erscheinung getreten.« 47
»Noch nicht«, sagte Ulrich düster. »Was sollte mir denn bevorstehen?« Ich brachte es nicht über die Lippen. Mein Vater sagte es selbst: »Daß ich umkomme und als Zombie zurückkehre.« »Schweigt!« rief Lydia. »Es ist zu entsetzlich.« »Es hilft nicht, den Kopf in den Sand zu stecken«, sagte ich. »Auch wenn Nostradamus den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung Deutschlands, den Zusammenbruch des Kommunismus und das Auftreten des Knochenreiters Gevatter Tod und die Sense am Himmel richtig vorausgesagt hat, bedeutet das nicht, daß er in allem anderen ebenfalls recht hat.« Ich schnippte mit den Fingern. »Wer sagt denn, daß er es ehrlich mit uns meint? Er könnte mit der Gegenseite unter einer Decke stecken. Das ergibt einen Sinn, wenn er uns einschüchtern und mich dazu bringen will, Mephisto freiwillig meinen Ring abzuliefern.« »Er redete aber anders«, wandte Lydia ein. »Nostradamus sprach immer vieldeutig, wie das Orakel von Delphi«, erwiderte ich. »Dieses wurde zur Zeit der alten Griechen von einem Herrscher, der einen Krieg beginnen wollte, gefragt, ob er seine Feinde besiegen würde. Greife an, und du wirst ein großes Reich vernichten, sagte ihm das Orakel. Das nahm er als Siegesverkündigung. Er eröffnete den Krieg und verlor Reich und Leben. Das Reich, das er vernichtet hatte, war das seine.« »So einfach ist es bei Nostradamus nicht«, widersprach Ulrich Hellmann. »Viele seiner Weissagungen, die in wunderlichem Stil abgefaßt sind, boten sich Deutungen zu Ereignissen an, die sich erst Jahrhunderte nach dem Tod des Sehers zugetragen haben. Sogar Namen sind identisch. Das werde ich euch beweisen.« Ulrich eilte hinauf in sein Arbeitszimmer, so schnell er konnte. Mit einem Buch kehrte er zurück, blätterte darin und las uns vor. »Dem getrennten Gatten wird eine Mitra aufgesetzt werden, zurückgekehrt - Kampf wird entstehen über dem Ziegel. Durch fünfhundert - ein Verräter wird Narbon heißen.« Tessa schnaubte durch die Nase und sagte: »Was für ein blühender Unsinn.« »Warte ab, bis du die Deutung hörst«, erklärte ihr Ulrich. »Sie bezieht sich auf gewisse Ereignisse der Französischen Revolution. Ludwig XVL, König von Frankreich, von seiner Gattin MarieAntoinette getrennt, wurde von den Jakobinern mit der 48
phrygischen Mütze (Mitra) und der Kokarde der Trikolore, der französischen Nationalflagge, gekleidet, um ihn zu verhöhnen. Dies geschah nach seiner Rückkehr von Varennes, wo die flüchtende königliche Familie verhaftet worden war. Der Konflikt brach zwei Monate später in einer ehemaligen Ziegelei, aus. Er wurde durch den Widerstand der aus fünfhundert Mann bestehenden Schweizer Garde ausgelöst. Der Verräter, der Graf Narbonne-Lara, war der Kriegsminister, den Ludwig kurzerhand wegen Verdachts auf Landesverrat entlassen hatte.« Die entfernt einer Mitra ähnelnde Jakobinermütze war ein Symbol der Französischen Revolution. Sie war rot gewesen, blutfarben. Tessa war sichtlich beeindruckt von der Exaktheit von Nostradamus' Prophezeiungen, was ihre Anwendung auf die Französische Revolution betraf. Mein Vater und ich brachten noch weitere Beispiele für die Weissagungen des berühmtesten aller Seher. »Das wird immer verdrehter und mystischer«, meinte Tessa. »Diesen eigenartigen Schreibstil hat Nostradamus natürlich mit Absicht gewählt, um die Wichtigkeit seiner Prophezeiungen hervorzuheben. Klar und deutlich konnte oder wollte er sich wohl nicht ausdrücken.« »Die rätselvolle Ausdrucksweise läßt eine Zuordnung der Vorhersagen mit den tatsächlichen Ereignissen immer erst dann zu, wenn diese vorüber sind«, sagte ich. »Wenn er Namen verwendete, dann meist jene von Randfiguren der Geschichte wie bei Narbon - Graf Narbonne-Lara - und Sauice für den bis auf die Auslieferung der königlichen Familie unbedeutenden Jakobiner Sauce.« »Komplizierter geht es wirklich nicht mehr«, sagte Tessa. »Vielleicht wäre es Nostradamus sonst zu einfach gewesen«, sagte ich. »Möglicherweise wollte er auch Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, oder er konnte nicht anders. Ich nehme sogar an, daß seine prophetische Gabe nicht anders in Worte gekleidet werden konnte. Sonst wären die Voraussagen niemals eingetroffen und hätten sich selbst außer Kraft gesetzt.« Ich fuhr fort: »Würde er zum Beispiel vorausgesagt haben 'Der Graf Montgomery verwundet König Heinrich beim Hochzeitsturnier der Prinzessin Margarete tödlich am Auge', würde das Lanzenduell niemals stattgefunden haben.« 49
»Das ist einleuchtend. Gibt es noch weitere Beweise für Nostradamus' Sehergabe?« fragte Tessa. Lydia entgegnete fragend, ob seine Voraussage, die er ihr 1982 über den Niedergang des Kommunismus sowie der DDR und die Wiedervereinigung gemacht hatte, ihr nicht ausreichen würde? Tessa wollte jedoch Historisches hören, was sich jetzt bereits zuordnen ließ. Viele Prophezeiungen des Nostradamus erfüllten sich auf schreckliche Weise. So hatte er Königin Katharina, der Gemahlin des Königs Heinrich II, die Zukunft ihrer drei Söhne prophezeit. Alle drei Prinzen würden einst einen Thron einnehmen, erklärte er ihrer Mutter. Sie saßen dann auf demselben Thron. Ihr Schicksal war tragisch. Franz, der erste Sohn, bestieg mit sechzehn Jahren als Franz II den Thron von Frankreich. Er starb ein Jahr später. Sein Bruder Karl wurde daraufhin als Karl IX. schon mit zehn Jahren unter der Regentschaft seiner Mutter König. Er starb mit zweiundzwanzig und ließ Frankreich nach dem Hugenottensturm und der blutigen Bartholomäusnacht 1572 im Chaos zurück. In der Bartholomäusnacht waren in Paris sämtliche Hugenotten niedergemetzelt worden. Der letzte der Prinzen wurde als Heinrich III. gekrönt. Er war der Zauberei und dem Okkultismus zugetan und führte gräßliche Beschwörungen durch. »Es ist nicht gut, die ganze Wahrheit zu kennen, sagte Nostradamus«, erklärte ich. »Man kann, wie es heißt, die Atombombe, den Ersten und Zweiten Weltkrieg und vieles andere herauslesen.« Einen Teil von dem, was ich vorbrachte, wußte ich auswendig. Einiges hatte ich am Deckblatt und im Vorwort des Buches, das vor uns auf dem Tisch lag, nachgelesen. »Wenn es so ist, müßte Nostradamus doch auch das Finstere Zeitalter vorhergesagt haben, falls es eintritt«, wandte Tessa ein. »Dann müßtest du als der Höllenprinz erwähnt worden sein, Mark.« Ulrich Hellmann ging wieder selbst hoch, um eine Übersetzung der Centuries des Nostradamus zu holen. Wir rätselten daran herum. Klug wurden wir aus den Centuries nicht, was die Zukunft betraf. Mir rauchte schon bald der Kopf. Was Nostradamus 1982 meiner Adoptivmutter vorausgesagt hatte, stand so nicht in seinen Versen. 50
Ich legte das Buch mit den Vierzeilern weg. »Was hier steht, kann ein Satanisches Zeitalter und allerlei anderes bedeuten«, sagte ich. »Wie bei Nostradamus üblich, wissen wir erst hinterher, was er meinte.« »Dann ist es zu spät«, kommentierte Ulrich. »1982, als er Lydia begegnete, hat er sich jedenfalls klar genug ausgedrückt.« »Ja«, stimmte ich zu. »Doch in seinen Centuries steht nicht, was er 1982 zu Lydia sagte. Du weißt also seit 1982 um die Vorhersage des Nostradamus an Lydia, Vater. Warum habt ihr mir nie davon berichtet?« »Damals hatte sich deine psychische Verfassung gerade erst stabilisiert«, sagte Ulrich. »Du warst viel zu jung, als daß wir dich damit hätten behelligen wollen. Wir wollten dich nicht auch noch mit jener Geistererscheinung und ihren Prophezeiungen in Verwirrung bringen. Außerdem wollten wir erst einmal abwarten, ob von den Vorhersagen überhaupt etwas eintreffen würde.« »Und als das geschah? Warum habt ihr dann weiterhin geschwiegen?« »Weil wir schon zu lange geschwiegen hatten«, antwortete Lydia. »Wozu bei der Wiedervereinigung damit anfangen? Ich sprach mit deinem Vater darüber. Wir wurden uns einig, daß wir abwarten wollten, bis die Sense am Himmel erschien und Nostradamus zurückkehrte.« Die Entscheidung mußte ich respektieren. Was hätte es auch geändert, wenn sie mich früher schon eingeweiht hätten? Zumal da noch keine Klarheit geherrscht hatte. Jetzt hatten wir sie, bis auf das, was Nostradamus' Position und sein Wirken betraf. Das Finstere Zeitalter stand bevor, Mephisto behauptete, mein Vater zu sein. Ich wäre also der Höllenprinz! In Weimar sollte die Pest ausbrechen. Es war ein Szenario des Schreckens. Lydia fing an zu weinen. Es schnitt mir ins Herz. Ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten und aufzurichten. »Es wird alles gut, Mutter«, sagte ich und versuchte, selber daran zu glauben. »Vertrau mir.« Lydia lächelte unter Tränen. Tessa, schlank, bildhübsch, hochintelligent, leidenschaftlich und clever, schaute mich vertrauensvoll an. Sie stand immer zu mir, und ich freute mich, daß ich mich für sie entschieden hatte. Treu wollte ich ihr in Zukunft bleiben. Ob mir das gelang, wo ich doch nur ein Mann 51
war und diese Kerle angeblich Schweine sind? Jedenfalls oder zumindest in diesem Hit der Ärzte. * Wir tauschten weitere Informationen über Nostradamus aus. Der große Seher hatte zu seiner Zeit behauptet, er hätte jedem seiner Verse ein Datum zuordnen können. Davon habe er abgesehen, um nicht der Hexerei angeklagt zu werden. Es war nie klar geworden, ob Nostradamus' Prophezeiungen nur auf astrologischer Basis beruhten oder ob kabbalistische Künste bei ihrem Zustandekommen eine Rolle spielten. Bei der Kabbala handelte es sich um die jüdische Mystik und ihre Überlieferungen. Michel de Notre Dame konnte eine echte visionäre Begabung gehabt haben. Daß er meiner Adoptivmutter Lydia im Jahr 1982 in Weimar begegnet war und uns jetzt - im Januar 1999 - wieder aufgesucht hatte, bewies, daß er Zeitreisen unternehmen konnte. Der große Seher wurde für mich immer geheimnisvoller. Er wurde 1503 in Saint-Remy-de-Provence als Sohn einer jüdischen Familie, die zum katholischen Glauben übergetreten war, geboren. Frühreif und hochintelligent hatte er von seinem Großvater klassische Sprachen, Mathematik, Astrologie und ein umfangreiches medizinisches Wissen sowie die Kräuter- und Mineralienkunde erlernt. Später studierte er Philosophie und Naturwissenschaften an der Universität von Avignon. Anschließend wandte er sich der Medizin zu und schrieb sich als Student an der Hochschule von Montpellier ein. Mit Fug und Recht konnte man ihn als ein Universalgenie bezeichnen. Er war einer der größten Ärzte seiner Zeit gewesen. Es hieß, er wäre Wohlgestalt und den Frauen zugetan gewesen. Schon als Student an der Universität Montpellier unterbrach er seine Studien, um bei der Bekämpfung der Pest mitzuwirken, die damals in mehreren Provinzen wütete. Nostradamus war anscheinend gegen die Beulenpest, die Geißel des Mittelalters, immun. Er reiste von Stadt zu Stadt und hatte erstaunliche Heilerfolge. In Aix boten ihm die dankbaren Bürger eine Pension an, die er jedoch unter Witwen und Waisen verteilte. Er beendete dann 52
seine Studien und wurde Doktor der Medizin, eine überragende Persönlichkeit, über die ein Füllhorn von Gaben und Begabungen ausgeschüttet worden war. Hoch angesehen als Jüngling schon, gerühmt, geachtet, gefeiert. 1532 hatte er geheiratet, eine junge Frau von hohem Stand, sehr schön und sehr liebenswert. Zwei Kinder wurden geboren. Nostradamus erlebte drei glückliche Jahre, die schönsten seines Lebens. Nichts schien sein Glück antasten zu können. Doch dann brach wieder die Pest aus. Nostradamus' ärztliche Kunst, die so viele geheilt hatte, versagte bei seiner Frau und bei seinen beiden Kindern. Er mußte mit ansehen, wie sie qualvoll starben, entstellt von der Beulenpest. Es brach ihm das Herz. Er verkaufte seinen gesamten Besitz und ging auf Wanderschaft. Sechs Jahre lang reiste er durch Frankreich und Italien und pflegte Gedankenaustausch mit Gelehrten und Ärzten. Dabei lieferte er auch bereits einen Beweis seiner prophetischen Gabe, die ihn zum größten Seher aller Zeiten machen sollte. In Italien, in der Nähe von Pisa, begegnete er einem einfachen Franziskanermönch, verneigte sich vor ihm und nannte ihn »Eure Heiligkeit«. Damals deutete nichts daraufhin, daß jener einfache Mönch, Feiice Peretti, jemals zu hohen kirchlichen Würden aufsteigen könnte. Doch das geschah: Im Jahr 1585, lange nach Nostradamus' Tod, bestieg er als Papst Sixtus V. den Stuhl Petri in Rom. Eine andere Geschichte bestätigte, wie überzeugt Nostradamus von seiner prophetischen Gabe und seinem Zweiten Gesicht war. Als der Seher einmal auf einem Schloß in der Lorraine weilte, wollte ihn der Schloßherr, Seigneur de Florinville, auf die Probe stellen. Um Nostradamus zu verspotten, führte er ihm zwei Schweine vor, ein schwarzes und ein weißes. »Könnt ihr mir ihre Zukunft voraussagen?« fragte er. »Das schwarze Schwein werdet ihr verzehren«, antwortete ihm der Seher. »Das weiße wird von einem Wolf gefressen.« De Florinville ließ daraufhin das weiße Schwein schlachten, um es zum Abendessen auftragen zu lassen. Als der Braten auf dem Tisch stand, verspottete er Nostradamus. »Eure Sehergabe ist nichts wert, wenn sie nicht mal die Zukunft von einem Schwein erkennt, Seigneur. Ihr solltet Euch eine andere Profession suchen.« 53
»Ihr irrt, Seigneur de Florinville. Meine Vorhersage war richtig. Dies ist das schwarze Schwein.« »Ha!« rief der Adlige. »Holt mir den Koch. Ihr seid sehr verbohrt, Seigneur de Notre Dame, wider besseres Wissen auf Eurer Vorhersage zu beharren.« Der Koch erschien an der Tafel. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Der Edelmann setzte ihm den Dolch an die Kehle. »Rede, von welchem Schwein ist der Braten?« »Es hat ein Malheur gegeben. Ich kann nichts dazu. Ein junger Wolf drang in die Küche ein und fraß das bereits geschlachtete weiße Schwein. Ich wollte Euch nicht erzürnen; schließlich kenne ich Euren ungestümen und strengen Sinn. Deshalb habe ich als Ersatz das schwarze Schwein zubereitet.« »In deine Küche, Kanaille! Komm mir so schnell nicht mehr unter die Augen.« De Florinville starrte den jungen Arzt an. »Es scheint, daß ich Euch unterschätzt habe, Seigneur de Notre Dame. Laßt uns den Braten genießen. Dann sagt mir meine Zukunft.« Nostradamus weigerte sich. Erst beim Verlassen des Schlosses klärte er de Florinville auf. »Ihr werdet Euch an einem Steigbügel erhängen.« Der cholerische Landedelmann regte sich wieder auf. »Jetzt weiß ich, daß Ihr doch ein Schwätzer und Narr seid. Ich mich erhängen, niemals! Dazu noch an einem Steigbügel. Hat man dergleichen Unsinn schon einmal gehört? Wer wird sich an einem Steigbügel aufhängen?« Zehn Jahre später verunglückte de Florinville bei der Jagd im Wald. Er stürzte vom Pferd und verfing sich mit dem Fuß so unglücklich in seinem Steigbügel, daß ihn das durchgehende Pferd zu Tode schleifte. So hatte er sich zwar nicht am Hals an einem Steigbügel erhängt, war aber an einem solchen hängengeblieben und dadurch gestorben. Um das Jahr 1544 kehrte Nostradamus in die Provence zurück, wo er herstammte und die ihm am liebsten war. Als gefragter Arzt reiste er umher und heilte Krankheiten und Gebrechen. 1547 ließ er sich im Städtchen Salon im Herzen der Provence nieder, das durch ihn berühmt wurde. Dort gründete er zum zweiten Mal eine Familie und verlegte sich mehr und mehr auf das Verfassen von Weissagungen, zunächst Almanachen, die jeweils die Ereignisse des kommenden Jahres voraussagen sollten. 54
Astrologie und Magie halfen ihm mit, sie zu erstellen, sagten die Zeitgenossen. Der erste Almanach erschien 1550. Nostradamus Ehrgeiz zielte jedoch auf mehr. Er begann seine Centuries zu schreiben, die bis ins Jahr 3797 reichten. Königin Katharina von Medici, als Gattin Heinrichs II. auf dem Thron Frankreichs sitzend, holte ihn 1556 an den Hof. Zehn Jahre später starb der große Seher unter Umständen, die er selbst vorausgesagt hatte. Zuletzt noch war er von Karl IX. zum Hofrat und Leibarzt des Königs ernannt worden. Er hatte an Wassersucht gelitten, einer damals unheilbaren Krankheit. * Es war Nachmittag. Unsere Nostradamus-Retroperspektive war beendet. Der große Meister war erschienen, hatte Verwirrung gestiftet und war wieder verschwunden. Wir blieben in Weimar, ich konnte mich mit den Mächten der Hölle herumschlagen. Irgendwann schaute ich auf meinen Ring. Er zeigte keinerlei dämonische Aktivität an. Bei Nostradamus hatte er nicht reagiert! Wenn mein Ring ein Werkzeug der Weißen Magie ist, kann Nostradamus kein Dämon sein, dachte ich. Doch wenn es stimmt, daß der Ring in den Feuern der Hölle geschmiedet wurde, wie Mephisto sagte, kann der Seher mit deren Mächten paktieren. Ich hätte mir lieber einen einfacheren Verbündeten gewünscht als den Seher Nostradamus. Andererseits war für ihn vielleicht alles klar, nur wir anderen waren blind. Ich sagte: »Es nutzt nichts, wenn wir herumsitzen und grübeln. Tessa, du fährst zu deiner Dienststelle. Vater und Mutter, ihr haltet hier die Stellung. Wir bleiben in ständiger Verbindung.« »Paß auf dich auf, Junge!« sagte Lydia wie immer. Ulrich fragte mich, wo ich hinwollte. »In die Hufeland-Kliniken. Ich will nach Pit Langenbach sehen. Sein Zustand ist ernst. Vielleicht kann ich jetzt mit dem Ring eine Heilung bei ihm herbeiführen. Seine Kraft ist wieder stärker geworden.« Vor der Tür warteten ein paar Reporter, als Tessa und ich das Haus verließen. Schweigend stieg ich hinter meiner Geliebten auf das Motorrad und ignorierte die an mich gestellten Fragen. »Kein 55
Kommentar«, sagte der israelische Geheimdienst Mossad, »ist auch schon ein Kommentar.« Also hielt ich den Mund. Das Motorrad knatterte, wir fuhren an den Reportern vorbei. Ein paar letzte Blitzlichter zuckten. »Der Hellmann ist hochnäsig geworden«, hörte ich noch. »Früher hat er oft auf dem letzten Loch gepfiffen und war froh, wenn er seine Reportagen und Fotos loswerden konnte. Jetzt hat er's wohl nicht mehr nötig. Der wird sich noch wundern.« Ich bedauerte, daß man so schlecht von mir dachte. Tessa fuhr mich in die Florian-Geyer-Straße. Die bildhübsche Kripobeamtin verabschiedete sich mit einem Kuß von mir. Artur Stubenrauch, mein Vermieter, glotzte neugierig aus dem Fenster. Er sagte zu seiner Frau in der Stube: »Sie knutschen sich ab. Empörend! Die legen sich bestimmt gleich hin. Diese Leute haben keine Hemmungen.« »Das war nur ein Kuß«, sagte die füllige Mathilde neidisch, deren Kleid vom Stoff her gut und gern für ein Zwei-Mann-Zelt gereicht hätte. »Das waren noch Zeiten, als du mich so küßtest, Artur.« »Man wird älter.« Stubenrauch trank heutzutage lieber eine Flasche Bier und schaute in die Glotze, als daß er sich seiner Gattin widmete. Die ehelichen Pflichten erfüllte er nur noch selten, er meinte, aus dem Alter sei er heraus. »Gegen Dämonen kämpft er, der Hellmann«, sagte der kleine Sachse. »Spuk und Horror haben sich in Weimar ereignet. Zu Zeiten des Sozialismus hat es das bei uns nicht gegeben. Das hat alles der Kapitalismus gebracht, genau wie die Arbeitslosigkeit, die Langhaarigen und die Drogen.« »Artur, ich bitte dich, laß das niemanden hören«, ermahnte Malhilde den unzufriedenen Stänkerer. »Es ist nun mal so, wie es ist.« »Hast du vorhin die Nachrichten gehört?« fragte ihr Mann. »Ein Knochenreiter wurde am Himmel gesehen. In Niedergrunstedt hat es einen Toten gegeben. Und das 1999, wo die Veranstaltungen zum Jahr der europäischen Kulturstadt Weimar gerade anlaufen. Goethe und Schiller würden sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüßten. Für den Tourismus und den Kulturbetrieb wird das schlimme Folgen haben.« 56
»Abwarten«, sprach Mathilde. Ich scherte mich nicht um die Sorgen des Kulturbetriebs, sondern stieg in meinen BMW. Tessa war weg. Ich fuhr durch die Stadt zu den HufelandKliniken bei der Friedensstraße und dem Jakobsplan. Dort ging ich zur Inneren Medizin, doch Pit Langenbach lag noch auf der Intensivstation. Ich fand Pit unter einem Sauerstoffzelt. Sein Zustand hatte sich weiter verschlechtert. Ich durfte Pit nur durch eine Glasscheibe sehen und erschrak. Der schnauzbärtige Hauptkommissar war leichenblaß. Sein Gesicht wirkte eingefallen. Schläuche führten in seine Nase, und er war an verschiedene medizinische Geräte angeschlossen. Pit war bewußtlos. Susanne, seine Ehefrau, war ebenfalls verständigt worden. Sie stand mit mir hinter der Scheibe. Susanne kleidete sich stets elegant und erinnerte vom Typ her, zart wie sie war, an eine Fee. Sie und Pit waren glücklich verheiratet. Sie hatten eine Tochter, die achtjährige Anna, die sie Floh nannten. Floh war zu Hause. »Wie konnte das nur geschehen, Mark?« fragte die in einem engen grauen Wollkleid mit schwarzem Schal steckende Susanne. »Wird Pit es überleben?« »Ja«, sagte ich und verbarg meine Angst. »Die Ärzte können seine Krankheit nicht zuordnen. Es ist etwas mit der Lunge. Da, jetzt blutet er wieder aus dem Mund.« Ein Blutfaden sickerte hervor. Susanne klingelte. Ein Arzt und eine Krankenschwester liefen herbei und kümmerten sich um den Schwerkranken. Susanne schluchzte. Ich sprach ihr Mut zu und bat sie, nach Hause zu ihrer Tochter zu gehen. »Hier kannst du doch nicht helfen. Du reibst dich nur auf. Das nützt niemandem.« »Pit ist mein Mann. Ich gehe nicht weg.« Da war ich machtlos. Nachdem der Arzt und die Ärztin Pits Blutung gestoppt hatten, bat ich sie, direkt zu ihm gelassen zu werden. Auf meine dringende Bitte hin erlaubte man es mir. Mit Mundschutz, Arztkittel und einem antiseptischen Tuch über dem Kopf konnte ich an das Krankenbett. Eins der medizinischen Geräte piepte monoton. Ich aktivierte den Ring und schrieb mit leuchtenden Futhark-Runen das keltische Wort für »Heilung« auf die Brust des Schwerkranken. 57
Zwei Ärzte und eine Krankenschwester schauten mich an, sagten jedoch nichts. Ich hatte bereits einen gewissen Ruf in Weimar und war offiziell anerkannt. Ein Zucken durchlief Pits Körper. Seine Lider flatterten. Dann spürte ich einen kalten Hauch im Zimmer. Auf der Anzeigeskala des Oszillators mit der flachen Zackenlinie erschien für einen Moment Mephistos Gesicht als eine Teufelsfratze. Er grinste höhnisch. Am Kopfende von Pits Krankenbett gewahrte ich einen Schatten. Er war groß, dunkel und starrte mich an. Da stand der Tod, das spürte ich. Außer mir sah niemand den Spuk. Doch die Ärzte und die Krankenschwester spürten die Nähe des Todes. »Der Patient steht auf der Schwelle des Todes«, sagte die Krankenschwester. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, bemerkte der eine Arzt. »Was bedeuten Ihre Zeichen? Sind Sie neuerdings unter die Wunderheiler gegangen, Herr Hellmann?« »Manchmal«, antwortete ich, ohne nähere Erklärungen abzugeben. Wunden, die die Magie geschlagen hatte und von ihr verursachte Krankheiten vermochte mein Ring manchmal zu heilen. Sein Strahl erlosch, als ich ihn einmal um die Achse drehte. Wir verließen das Krankenzimmer. Der Tod war noch gegenwärtig, ihn vermochte ich nicht zu vertreiben. Es war nicht der Gevatter Tod, jener uralte Seuchendämon und Pestilenzverbreiter, sondern jener, der jeden einmal bei der Hand nimmt. Susanne hatte sich draußen auf einen Stuhl gesetzt. Sie befand sich in einer Art Vorzimmer, in das die Tür vom Flur hereinführte. Ich drückte ihr die Hand und bat, mich sofort zu verständigen, wenn sich an Pits Zustand etwas änderte. Auf dem Korridor begegnete ich Oberkommissar Hartmann. Mit Anzug, Kahlkopf, Drei-Tage-Bart und Handy sah er sehr wichtig aus. Ich hatte meinen Einsatzkoffer im Auto. Die SIG Sauer mit magisch gestärkten Silberkugeln trug ich bei mir. »Hauptkommissar Langenbach liegt im Koma, Herr Hartmann«, erklärte ich. »Dann kann ich nicht mit ihm reden. Schade.« Oberkommissar Hartmann gestand ehrlich: »Bei okkulten Fällen fühle ich mich 58
überfordert. Da weiß ich nicht recht, wie ich ran soll.« »Was haben Sie denn getan?« »Per Computer beim BKA wegen Gevatter Tod nachgefragt. Fahndungsname: Tod. Da sind einige Verbrecher mit Nachnamen Tod, Toth, Todt und auch Tott gespeichert. Die Gästeverzeichnisse der Weimarer Hotels habe ich überprüfen lassen. Zur Zeit ist ein österreichischer Philologieprofessor mit Namen Todt im 'Schwarzen Roß' abgestiegen, mit Frau und erwachsener Tochter, anläßlich einiger Veranstaltungen der Weimar Kulturszene.« »Diese Familie lassen Sie am besten in Ruhe.« »Was soll ich statt dessen tun?« »Ihnen fällt schon was ein.« Hartmann verabschiedete sich. »Halten Sie mich auf dem laufenden. Ich verständige Sie, wenn ich Sie brauche.« Hartmann war ja so dankbar, und ich war froh, daß er mich nicht länger störte. »Vielleicht sollte man ein Fahndungsmotto festsetzen«, schlug er noch vor. »Tod dem Tod wäre gut.« Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte ruhig zu bleiben, um ihm nicht gleich zu sagen, daß ich davon überhaupt nichts hielt. Hartmann öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu, weil ihm aufging, daß er sich nur blamierte. Er nickte und ging. Ich wollte die Klinik wieder verlassen, als ich eine ganz leichte Berührung spürte, zart wie ein Hauch. Ich schaute mich um. Nostradamus stand vor mir. Er mußte gerade aus dem Jenseits erschienen sein, wie immer er auch das fertigbrachte. Der Schemen des Sehers aus dem 16. Jahrhundert war durchsichtig. Ich sah die Wand hinter ihm. Eine Stationsschwester ging vorbei und schob einen Wagen mit Arzneimitteln durch Nostradamus' Schemen hindurch, ohne etwas zu bemerken. Die adrette Krankenschwester lächelte mich an. »Was führt dich her, Meister Nostradamus?« fragte ich, ohne mich um die Schöne zu kümmern. »Dein Freund soll geheilt werden. Ich werde dir eine Arznei nennen, Markus. Davon wird er genesen. Schreib dir die Zutaten auf.« Ich besorgte mir einen Block und ging in das leere Zimmer neben der Stationszentrale. Nostradamus' Schemen, nur für mich sichtbar, schwebte neben mir dahin. Der Seher sah genauso aus, 59
wie ich ihn in dem Reihenhaus meiner Adoptiveltern angetroffen hatte: mit Bart, Barett und Talar. Seine Sternenaugen schauten mich an. Aus dem Kopf diktierte er mir die Zutaten für die Arznei, die Pit Langenbach heilen sollte. Es handelte sich um ein Naturheilmittel, zu dem verschiedene Kräutersäfte gemischt und ein zermahlener Rubin sowie eine aufgelöste Perle von einer bestimmten Sorte hinzugegeben werden sollte. »Dazu muß man hundert Tropfen Wasser geben, die bei Morgengrauen von Friedhofsrosen gesammelt wurden, beim ersten Hahnenschrei. Und eine zerstoßene Alraunenwurzel, auf die der Schatten eines Gehenkten fiel.« Im Mittelalter waren solch seltsame Zutaten gang und gäbe gewesen. »Kannst du mir das nicht besorgen, Meister Nostradamus?« »Nur einmal vermochte ich einen Gegenstand bei meiner Geistreise zu befördern.« Nostradamus hatte also auch Zeitreisen unternommen, was seine Prophezeiungen teils erklärte. Offensichtlich jedoch andere als ich. Er war jeweils in die Zukunft gereist, was ich nicht vermochte. »Doch es mag genügen, wenn du das Rosenwasser und das Alraunenpulver mit deinem Ring berührst. - Heile Pit Langenbach! - Jetzt muß ich dich verlassen, Markus, mein Sohn.« Instinktiv wollte ich ihn am Ärmel festhalten, griff aber hindurch. »Einen Moment noch, Meister. Was hat es mit meinem Ring auf sich? Stammt er von Mephisto, und wurde er tatsächlich im Feuer der Hölle geschmiedet, die Menschen damit zu versklaven?« »In dem Jahr, in dem die Dichterstadt hoch geehrt ist, wird das Geheimnis des Rings offenbar. Im Herz des Starken liegt das Geheimnis, Kampf wird entstehen, wo das Grauen war. Der Drache breitet die Flügel aus. Tod durch die Sense.« Das war genau die Sprache, in der er seine Verse verfaßt hatte. Noch einmal murmelte Nostradamus: »Tod durch die Sense.« Dann war er wieder verschwunden und ließ mich mit meiner Verwirrung allein. Seine in seiner üblichen Weise formulierten prophetischen Worte sollte ich mit der Zeit noch ergründen. Bei einem meiner Aufsätze auf der EOS hatte der Deutschlehrer mal dazugeschrieben: »Dem Aufsatzstil mangelt es an der Klarheit.« Was hätte er wohl bei Nostradamus auszusetzen gehabt? Der 60
Seher war als Verbündeter schwierig. Ich stand noch da, als Susanne Langenbach auf dem Korridor meinen Namen rief. Die Stationsschwester schickte sie zu mir. Susanne klagte: »Mark, es ist gräßlich! Pit ist gerade gestorben.« Sie sank mir in die Arme und schluchzte bitterlich. »Mein Mann ist tot.« Ihre Fäuste trommelten gegen meine Brust. »Du hast ihn zu diesen Abenteuern verleitet. Du bist schuld daran, du, du.« * Tessa saß an ihrem Schreibtisch und tippte eine Fahndungsmeldung ein. Sie hatte eine Menge zu tun und konnte sich nicht nur auf den Fall mit dem Tod des Bauern Probstier konzentrieren. Was diesen betraf, hatte sie in der Dienststelle die Leitung, solange Hauptkommissar Langenbach im Koma lag und der Oberkommissar Hartmann außer Haus war. Die hübsche Fahnderin musste häufig Fragen nach Langenbachs Befinden beantworten. Immer wieder erschienen Polizeibeamte oder riefen an und erkundigten sich. Pit Langenbach war beliebt und erstklassiger Kripobeamter. Tessas Handy meldete sich. Meine Freundin war erstaunt, die Stimme ihrer Schwester Annette zu hören. »Tessa, nur du kannst mich retten! Ich bin in Lebensgefahr. Schlimmer noch, ich befinde mich in der Gewalt von Mephisto.« Die Fahnderin zuckte zusammen. »Ist das wahr?« »Natürlich. Denkst du, ich scherze damit? Der Satan hat mich entführt, wie dich damals der Skelettpirat Jan van Duiwel.« »Wo bist du?« »Am Galgenberg, bei der Teufelskrippe. Nähe KZ Buchenwald. Du mußt sofort kommen! Mephisto will mir dir verhandeln. Wenn du dich weigerst oder auch nur ein Wort zu Mark Hellmann oder sonst jemandem sagst, bringt er mich und die Kinder um. Dann schmoren wir in der Hölle.« Tessa war wie elektrisiert. Sie sagte, sie würde sofort losfahren, meldete sich bei ihren Kollegen mit einer dringenden Fahndung ab und beantwortete keinerlei Fragen. Sie fegte hinaus, den Motorradhelm unterm Arm. Auf dem Weg zum Parkplatz schlüpfte 61
sie in ihre Lederjacke. Eine Minute später fuhr sie bereits auf der Ettersburger Straße nach Norden, zum Ettersberg, gleichermaßen in die Richtung KZGedenkstätte und Schloß Ettersburg. Kalter Fahrtwind umwehte Tessa. Nach dem ersten Schrecken dachte sie wieder logisch. Ihre Schwester Annette war zwei Jahre jünger als sie und verheiratet mit dem Studienrat Uwe Braun. Sie wohnten im Seebad Bansin auf der Insel Usedom und hatten zwei Kinder, die dreijährige Ines und den vierjährigen Christian. In ihrem Beisein war Tessa vor etlichen Monaten von dem Skelettpiraten Jan van Duiwel und seinen Piraten in die Vergangenheit entführt worden (Siehe MH 10: Ich war Störtebekers Maat). Mark Hellmann und der Pirat Störtebeker hatten sie im Jahr 1401 aus den Klauen jenes Satans befreit. Die Fahnderin hielt an. Sie wählte per Kurzwahl die Telefonnummer ihrer Schwester in Bansin. Uwe Braun meldete sich. »Hier ist Tessa. Kann ich mit Annette sprechen?« »Leider nicht. Wenn ich bloß wüßte, wo sie steckt. Sie ist spurlos verschwunden. Dabei hatten wir fest verabredet, daß sie um halb drei nach Hause kommt. Bei unseren Bekannten kann ich sie nicht erreichen.« »Ich bin in Eile und rufe später wieder an.« Tessa beendete das Telefonat und bog nach links auf die Blutstraße ab. Es stimmte also, Annette war nicht zu Hause. Die Fahnderin gelangte zum Ehrenhain bei der Gedenkstätte. Sie fuhr zu der Teufelskrippe. Dort hatte alles begonnen, als drei junge Leute in der verrufenen Selbstmördergrotte im August des vergangenen Jahres den Teufel beschworen und der Blutdruide Dracomar auftauchte (Siehe MH 1). Die Schreckenstage von Weimar fanden statt. Mark Hellmann erkannte seine Bestimmung als Kämpfer gegen das Böse und als Träger des Rings. Tessa folgte ihrem Gefühl und rollte in langsamem Tempo mit dem Motorrad auf einem Pfad durch den Wald, am Galgenberg hoch. Der Winterhimmel war graublau, die Sonne schon untergegangen. Ein unheimliches Gefühl beschlich Tessa. Sie stoppte bei einer vom Blitzschlag verkrüppelten alten Eiche und schaute sich um. Es war bereits düster im Wald. 62
Plötzlich schrie dumpf und unheimlich ein Uhu. »Uhu. U-huuu.« Der Großvogel hockte auf einem Eichenast. Er war fast einen Meter groß, viel größer als eine normale Eule. Mit gelblich glühenden Augen schaute er Tessa an. Sie wußte es sofort. Das war kein normaler Uhu! Die Fahnderin hatte den Motor ihrer Suzuki abgestellt. Sie griff nach dem Kreuz, das sie um den Hals hängen hatte. Dann tastete sie nach den beiden Magazinen mit Mark Hellmanns Silberkugeln in ihrer Jackentasche. »Ich bin Mephisto«, sagte der Uhu. »Ich habe Gesellschaft mitgebracht. Wir haben uns heute schon einmal gesehen.« »Wo ist meine Schwester?« »In Bansin, wo sie hingehört. Ihr Menschen unterschätzt mich immer wieder. Denkst du, ich könnte kein Telefonat mit der Stimme deiner Schwester manipulieren - und wenn du zurückrufst, vortäuschen, daß du mit ihrem Mann sprechen würdest? Du bist in die Falle gegangen wie eine Närrin.« Tessa hatte das in Erwägung gezogen, das Risiko jedoch auf sich genommen. Der Uhu wurde noch größer und war bald so groß wie ein Bär. Ein Gehenkter manifestierte sich an einem Ast der Eiche und schwang am Strick umher. Es war Samiel, der schleimige Unterteufel. Er vollführte Kapriolen, schwang am Strick hin und her, zog sich dann daran hinauf und setzte sich auf einen Ast. Sein grüngelbes Wasserleichengesicht glotzte Tessa an. »Satan zum Gruß, scheene Frau. Ist es mir eyn Vergniegen.« Dumpfer Hufschlag erscholl. Unheildrohend trabte der Gevatter Tod auf seinem Knochenpferd zwischen den Bäumen hervor, zweieinhalb Meter groß. Er schwang seine Sense. Noch jemanden sah Tessa. Auf einem anderen Baumast links von Mephisto, dem Uhu, erschien ein bildhübsches, aufreizend sexy gestyltes Teufelsweibchen mit üppigen, nackten Brüsten, Hörnern, einer brandroten Haarmähne, einer Art goldfarbenen Hotpants, endlos langen, bildschönen Beinen, von denen das eine erst ganz unten zu einem zierlichen Pferdefuß wurde. Die Teufelin hatte einen langen Schwanz mit einer punkfarbenen Quaste am Ende. Sie sah aus wie die Sünde persönlich. Einmal, als Tessa hinsah, hatte sie Teufelsflügel. Dann 63
waren diese verschwunden, und bis auf die kleinen Hörner waren an der Teufelin keine Teufelsattribute mehr zu erkennen. »Ich bin Sumer«, sagte sie. Tessa verstand jedes Wort. »Die schönste Teufelin im gesamten Höllenfeuer. Lilith und Asenath heißen meine Schwestern. Jeder Mann verfällt mir, wenn er mir in die meergrünen, glühenden Augen schaut. Nachdem ich ihm teuflische Lüste bereitete und selber welche empfing, sauge ich ihm das Blut aus.« Sie seufzte. »Leider sind richtige Männer selten geworden. Lilith, die man auch die Große Hure von Babylon nannte, hat die meisten davon verschlissen. Ich will mit dem Höllenprinz Hochzeit halten. Wir werden das Herrscherpaar im Zeitalter der Finsternis sein.« »Ihr seid wahnsinnig!« sagte Tessa. Ihr graute es, doch sie riß sich zusammen und bewahrte Haltung. »Was wollt ihr von mir?« Sumer kicherte. »Hol Mark Hellmann her, damit ich ihn in die Arme schließen und ihm Feuer der Lust durch die Adern jagen kann«, sagte sie und spuckte ein Flämmchen aus. »Sterbliche, ich weiß, daß du ihn liebst. Aber er ist der ausersehene Höllenprinz und Mephistos Sohn. Er soll jetzt seiner Bestimmung gerecht werden.« »Niemals rufe ich Mark.« Alle vier lachten Tessa aus. Ihre Augen, auch die des übergroßen Uhus, glühten auf. Tessa wurde in einen hypnotischen Bann geschlagen. Sie kämpfte dagegen an, umkrampfte das Kreuz. Verzweifelt versuchte sie, die Pistole mit den geweihten Kugeln zu ziehen. Doch ihre Hand ließ sich nicht bewegen. »Ruf ihn an!« verlangte Mephisto, der Uhu. Einem Zwang gehorchend, der stärker war als sie, tippte Tessa die Kurzwahl von Marks Handy ein. Er meldete sich. »Ich bin in den Hufeland-Kliniken bei Pit Langenbach«, sagte er, als er Tessas Namen hörte. »Es ist etwas passiert. Er.« Tessa unterbrach ihn. »Mark, ich stecke schwer in der Klemme. Ich bin am Galgenberg. Mephisto, Samiel, der Gevatter Tod und eine Teufelin haben mich in ihrer Gewalt.« Mephisto gab Tessa einen Gedanken ein, den sie weitermeldete. »Du kannst mich gegen deinen Ring austauschen, oder ich muß in die Hölle. Liebster, du bist meine letzte Hoffnung.« »Was?« schrie Mark Hellmanns Stimme aus Tessas Handy. 64
Mephisto nahm seine Teufelsgestalt an. »Mark Hellmann«, brüllte er, »komm, oder du wirst Tessa vor höllischen Qualen schreien und wimmern hören. Jetzt sollst du erfahren, was Sache ist, Höllenprinz. Nostradamus kann dir nicht helfen.« Mephisto kicherte bei diesem Hohn. »Wer ist er gegen mich?« »Ich bin schon unterwegs«, lautete Marks Antwort. »Und ich komme allein.« »Das ist eine Bedingung.« Damit beendete Mephisto die Verbindung. Er schaute den berittenen Seuchendämon an. »Hetze sie über die Felder, wenn Mark Hellmann kommt. Wir wollen uns ein wenig ergötzen. Wozu braucht man sie noch? Dann schlag ihr den Kopf ab mit deiner Sense. Mark Hellmann soll es mit ansehen. Dann vollende ich das, was ich schon 1980 in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg beim Hexensabbat tun wollte. Er, der sich Mark Hellmann nennt, soll seiner Bestimmung zugeführt werden.« »Dein würdiger Sohn«, sagte Sumer. »Der Höllenprinz.« Sie kicherte ebenfalls. »Tessa Hayden soll auf ihrem Motorrad losfahren und seinetwegen den Kopf verlieren. Ich bin seine Gefährtin, er ist mein Prinz. Wir werden ein schönes Paar sein, wenn er erst Teufelshörner und einen Pferdefuß hat.« Tessa versuchte, die Lähmung abzuschütteln und die Hypnose loszuwerden. »Er hat euch heute schon einmal bekämpft und gesiegt«, sagte sie. »Das wird ihm wieder gelingen.« »Das war nur ein Vorspiel, ein Geplänkel, ein Trick und ein Schabernack«, erhielt sie von Mephisto zur Antwort. »Das hat nichts zu bedeuten.« * Susanne Langenbach hämmerte im Krankenhaus mit den Fäusten auf mich ein. Sie gab mir die Schuld am Tod ihres Mannes. Sie war völlig durchgedreht. Ich verübelte es ihr nicht. Mit beiden Händen hielt ich sie an den Handgelenken fest. Ein Arzt, ein Pfleger und eine Krankenschwester erschienen. Susanne erhielt ein Beruhigungsmittel und wurde in ein Krankenbett 65
gelegt. »Pit ist tot«, schluchzte sie. »Nein«, sagte der Arzt, der ihr die Beruhigungsspritze gegeben hatte. »Es sah nur so aus. Er hatte einen kurzfristigen Herzstillstand. Dann war sein Puls so flach, daß die Geräte nichts mehr anzeigten. Doch wir haben ihn schon reanimiert. Ihm wurden Mittel gespritzt. Sein Kreislauf hat sich wieder stabilisiert.« »Er liegt aber immer noch im Koma?« fragte ich den Arzt. »Leider.« Susanne hatte einen voreiligen Schluß gezogen, als die Ärzte auf das Signal der Geräte, an die Pit angeschlossen war, herbeistürzten. Die blonde Susanne hatte das Wort »Herzstillstand« gehört und einen Schock erlitten. Sie stand nun aus dem Krankenbett auf. Benommen folgte sie uns ans Bett ihres Mannes; sie war noch völlig angezogen. Dort überzeugte sie sich, daß er noch am Leben war. »Gott sei Dank«, sagte sie aus tiefstem Herzen. »Mark, bitte, verzeih mir.« »Schon gut.« Ich wandte mich mit dem Nostradamus-Rezept an den Oberarzt. Er verständigte die Krankenhaus-Apotheke. Es bereitete einige Mühe, die ausgefallenen Ingredienzien des NostradamusRezepts aufzutreiben. Ein Weimarer Juwelier stellte die aufgelöste Perle und den gemahlenen Rubin zur Verfügung, was mich einige Überredungskünste am Telefon kostete. Der Krankenhaus-Apotheker hatte eine Alraunenwurzel in seiner Sammlung und zerkleinerte das gute Stück in einem Mörser. Wasser wurde mit Rosenblättern vermischt, was ebenfalls in der Krankenhausapotheke geschah. »Der Schatten eines Gehenkten«, murmelte der Apotheker, zu dem ich geeilt war. Der Apotheker war ein jüngerer, schlanker, kahlköpfiger Mann. Wir kannten uns aus meiner aktiven Sportlerzeit. Der Apotheker war ein erstklassiger Sprinter gewesen. »Rosenwasser, bei Tagesanbruch gesammelt. Zermahlene Edelsteine. Wenn ein anderer als du zu mir käme und eine solche Arznei hergestellt haben wollte, würde ich ihn in die Klapsmühle einweisen lassen.« »Sei froh, daß wir keinen Krötenschweiß und kein Jungfrauenblut brauchen. Die Arzneien und Tränke der 66
Alchimisten des Mittelalters hatten oft ausgefallenste Zutaten. Je ausgefallener, desto angesehener und besser.« »Im Krankenhaus finden wir keine Jungfrau, jedenfalls nicht bei den Schwestern. - Da hast du den Trank, Mark.« Im Nebenraum des Apothekenlabors schrieb ich Futhark-Runen auf den Trank in einem Meßbecher. Die leuchtenden Runen drangen in die Flüssigkeit ein und blieben darin. Mit dem Heiltrank eilte ich dann, vom Apotheker gefolgt, zur Intensivstation der Inneren Medizin. Der Klinikleiter und ein ganzes Gremium von Medizinern warteten, daran kam ich nun mal nicht vorbei. »Quacksalberei«, sagte der hochgewachsene, silberhaarige Klinikchef. »Ich bedaure, daß ich das zulassen muß.« »Ich bestehe darauf, daß mein Mann dieses Medikament verabreicht bekommt«, forderte Susanne Langenbach, die mit im Vorzimmer dabei war. Mediziner und Krankenhauspersonal drängten sich sogar auf dem Gang. Ich zog den Kittel über, streifte das Tuch übers Haar, nahm den Mundschutz und bekam die Handschuhe angezogen. Dann betrat ich Pit Langenbachs steriles Krankenzimmer, wo er unterm Sauerstoffzelt lag, wieder aus dem Mund blutend, ein Bild des Jammers. Mittlerweile war es 17 Uhr geworden. Die Sonne war bereits untergegangen. Vorsichtig flößte ich Pit Langenbach den Heiltrank aus einer Schnabeltasse ein. Zuerst konnte er kaum schlucken. Ich hielt ihm den Kopf hoch, von einer vietnamesischen Krankenschwester mit sachter Hand unterstützt, und sprach ihm gut zu. Pit lag noch im Koma. Er schluckte jedoch. Von der pastellfarbigen Flüssigkeit rann ihm ein wenig aus dem linken Mundwinkel. »Der arme Mann«, sagte die Krankenschwester. Sie und ich waren als einzige bei Pit Langenbach in dem Zimmer. Die anderen schauten von draußen durch die große Glasscheibe zu. Susanne Langenbachs Gesicht war eine Studie. Sie fieberte voller Spannung, wie es ihrem Mann entging, und sie schluckte mit, wenn er schluckte. Dann trank Pit eine der leuchtenden Runen. Ein Zucken durchlief seinen Körper. Pit bäumte sich auf, riß die Augen auf. Der Hauptkommissar röchelte. Wir erschraken. Pits sehniger Körper spannte sich wie ein großer Bogen. 67
»Ich hab's ja gesagt«, äußerte draußen der Klinikchef inmitten seiner Schar von Weißkitteln. »Quacksalberei. Jetzt haben sie ihn vergiftet.« Doch Pits Haltung entspannte sich. Er schaute normal, war sichtlich bei sich, ergriff erst die Schnabeltasse und dann den Meßbecher selbst und leerte beide mit großen Schlucken. »Ahhh!« Der Heiltrank belebte ihn zusehends. Pit schwang die Beine aus dem Bett. Er schaute sich um. »Wie bin ich hierhergekommen? Wie lange war ich bewußtlos? Das letzte, woran ich mich erinnere, war die Fahrt in dem Krankenwagen.« »Du bist wieder fit, alter Junge«, sagte ich und schlug Pit, außer mir vor Freude, auf die Schulter. »Gevatter Tod hat dir einen Krankheitskeim verpaßt. Du befandest dich an der Schwelle des Todes.« »Hmmm? Jetzt fühle ich mich jedenfalls wie neugeboren. Aber was soll denn der Auflauf hier? Wieso starren mich alle an.« »Nostradamus hat dich geheilt. Er gab mir das Rezept für den Heiltrank.« »Das Zeug hat es in sich. Ich fühle mich wie ein Zwanzigjähriger. Ich könnte reihenweise hübsche Mädchen vernaschen.« »Das verschieb mal lieber. Draußen wartet Susanne.« »Das Zeug mußt du mir öfter geben, Nikolaus.« Mein zweiten Vornamen hörte ich nicht besonders gern. Pit sprach ihn auch immer so gekünstelt aus. Susanne Langenbach stürmte herein. Mit einem Jauchzer umarmte sie ihren Mann und küßte ihn ab. Freudentränen strömten ihr über die Wangen. »Peter, ich bin ja so froh, daß du wieder gesund bist. Ich habe solche Angst ausgestanden.« Wir freuten uns alle, nicht zuletzt Pit Langenbach selber, daß er dem Gevatter Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war. Nur der Klinikchef zog ein saures Gesicht. Der Erfolg meiner »Quacksalbermethoden« gefiel ihm nicht. »Mittelalterliche Methoden sind das«, murmelte er. »Möchte wissen, woher der Hellmann das hat?« Das hatte ich außer Susanne Langenbach niemandem verraten. Schon glaubte ich, einen Sieg gegen die Höllenallianz Mephisto, Samiel und Gevatter Tod errungen zu haben. Da meldete sich 68
mein Handy, das ich Susanne gegeben hatte, während ich Pit den Heiltrank einflößte. Susanne reichte es mir. Ich meldete mich. Tessa rief mich in ihrer Not an. Dann brüllte Mephisto dicht hinter ihr, daß der Handylautsprecher knackte. Entsetzt beendete ich die Verbindung und wollte sofort los, um zum Galgenberg zu fahren. Pit Langenbach hielt mich zurück. Er war wieder voll einsatzfähig und erkundigte sich, was denn los sei. In aller Eile informierte ich ihn flüsternd. »Du willst wirklich allein hin?« »Das muß ich«, war meine Antwort. »Willst du deinen Ring hergeben?« Ich schaute den Ring an. »Ungern. Eigentlich nicht. Aber Tessas Leben steht auf dem Spiel, mehr noch, denn sie soll in die Hölle fahren. Ich muß sie retten!« »Wir halten uns bereit«, sagte Pit Langenbach. »Ich werde mal mit einem Polizeihubschrauber über den Großen Ettersberg und den Galgenberg fliegen. Vielleicht kann ich dir helfen. Wir bleiben in Verbindung.« Mephisto holte zum großen Schlag aus. Ich spurtete durch die Klinikkorridore, zum Parkplatz, sprang in meinen BMW und fuhr los. Das Tageslicht war bereits diffus, als ich beim KZ von der Blutstraße abbog und in den Wald fuhr. Mein Ring leuchtete, hatte sich erwärmt und prickelte. Er zeigte mir den Weg. Den offenen Einsatzkoffer hatte ich auf dem Beifahrersitz, die SIG Sauer mit durch den Ring magisch aufbereiteten Silberkugeln steckte in meiner Schulterhalfter. Dann hörte ich donnernden Hufschlag vom Feld her, stieß zurück und verließ den Wald wieder. Im schwindenden Tageslicht bot sich mir eine schreckliche Szene. Zunächst wollte ich meinen Augen kaum trauen. Tessa raste mit ihrem Motorrad über die Felder und wurde von gleich vier Horrorgestalten gejagt. * In Dasdorf am Berg, einem Weiler im Hintergrund, brannten schon die Straßenlaternen. Tessa fuhr kreuz und quer über den Acker. Ihre teuflischen Feinde spielten ein böses Spiel mit ihr. Gevatter Tod galoppierte durch die Lüfte, schwang seine Sense. 69
Der Umhang flatterte hinter ihm her und jagte Tessa. Mephisto sauste in Teufelsgestalt durch die Luft und bedrängte Tessa von der anderen Seite. Samiel, ein glühender Komet mit grünlicher Fratze, jagte sie gleichfalls, kam von vorn und raste direkt auf Tessa zu. Erst im letzten Moment wandte er sich nach oben. Sie duckte sich über den Lenker, und er verfehlte sie knapp. Eine bildhübsche, halbnackte Teufelin mit großen Fledermausflügeln flatterte über Tessa. Ich stieß mit dem BMW weiter zurück, geriet auf den Acker und blieb stecken. Rasch sprang ich aus dem Auto, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und brüllte so laut ich konnte: »Hierher, Tessa!« Tessa hörte mich. Sie stoppte, daß die Grassoden vom Acker von den Stollen ihres Hinterrads flogen. Das Vorderrad stieg hoch. Doch Tessa, eine geübte Motocrossfahrerin, blieb im Sattel. Sie beherrschte die Maschine. Der Gevatter Tod holte mit der Sense aus. Ich schrie: »Achtung, Tessa!« Tessa warf sich blitzschnell auf den Acker. Die tödliche Sense, die ihr sonst glatt den Kopf abgetrennt hätte, zischte über sie hinweg. Der Tod trieb sein falbes Pferd in die Höhe, hielt an und schaute herunter. Mephisto packte Tessa, die sich verzweifelt sträubte. Doch gegen den Erzdämon hatte sie nicht die geringste Chance. Ich ging auf ein Knie nieder, legte an und schoß mit der Pistole, während ich Beschwörungen rief. Doch die vier Höllenkreaturen lachten mich aus. Meine Silberkugeln scheiterten an Mephistos Magie. Abgeplattet fielen sie auf die Erde. Samiel schleimte mich an: »Macht er Jahrmarktsschießen, denkt er, wir sind Tontauben? Was will er gegen die Höllenfirst, Todchen, Sumer und mich? Habe die Ehre, Höllenprinz, wirst du bald einer der unsrigen sein. Finstriges Zeitalter angebrochen ist bald.« Sein Geschwätz juckte mich nicht. Sumer, die Schöne, vollführte eine unanständige Geste und spreizte die Beine. Auf ihren Brustwarzen erschienen tanzende Flämmchen. »Mein Prinz, schöner Höllenprinz, heißer als Höllenfeuer brennt die Glut meiner Liebe!« Ich riß ein einfaches Holzkreuz aus dem Einsatzkoffer. Es 70
handelte sich um eine Reliquie, die ich noch nicht lange hatte. Es hieß, der Heilige Petrus habe dieses Kreuz selbst geweiht. »Apanage, Satanas!« rief ich und fügte eine weitere Beschwörung hinzu. »Fahre aus, Satan! Entferne dich in den Höllenpfuhl, Dämon.« Mephisto, ein drei Meter großer, schrecklich anzusehender Teufel, hielt Tessa zur Seite. Wie eine Taube in den Fängen eines Adlers hing sie in seinem Griff. Das Kreuz beeindruckte weder ihn noch seine Genossen. »Mein geliebter Sohn«, säuselte Mephisto. »Sieh zu, wie ihr Kopf fällt. Dann komm zu uns. Gib mir deinen Ring, sei mir gehorsam, Sohn. Wenn das Finstere Zeitalter beginnt, wirst du mit Sumer bei mir auf dem Thron sitzen.« »Darauf lege ich keinen Wert.« »Ja, weil er sie liebt!« rief die rothaarige Teufelin Sumer in Bezug auf Tessa. »Hau ihr den Kopf ab, Gevatter.« Der Tod holte zum Sensenhieb aus. Ich verschoß die letzten Kugeln. Doch ich konnte Tessa nicht retten. Der Sensenhieb mußte sie töten. Es gab keine Rettung mehr. Da erschien übergroß die obere Hälfte der Gestalt des Nostradamus am Himmel, von einem hellen Lichthof umgeben. Der Seher hatte sein Barett auf und hielt ein Buch unter dem Arm. Die andere Hand reckte er dem Teufelsquartett entgegen und rief: »Nostra damus refugium! Wir geben Schutz.« Und in Latein fuhr er fort: »Weiche, Höllenbrut! Der Schlange wird nun der Kopf zertreten. - Xywoleh vay barec het vay yomar! Het vay yomar! Ha elohe elohim.« Es waren die Worte des Schlüssels Salomon. Eine Flamme schlug aus seinem Mund. Von seiner ausgestreckten Hand zuckten Blitze. Selbst der Gevatter Tod duckte sich. Sumer kroch fast in den Boden. Samiel bohrte sich in die Erde. Mephisto ließ Tessa los, die davontaumelte. Ich riß den armenischen Dolch, der schon mit dem Ring präpariert war und in bläulichem Licht strahlte, aus dem Einsatzkoffer und spurtete über den Acker. Von Weimar her näherte sich dröhnend ein Polizeihubschrauber. Pit Langenbach mußte an Bord sein. Mephisto wurde noch größer. Seine Aufmerksamkeit galt der Erscheinung des Nostradamus. »Du«, heulte er, »wieder du. Diesmal vernichte ich dich.« Was er tat, konnte ich nicht erkennen. Er bewegte die Hände, 71
kehrte mir den Rücken zu. Nostradamus' Erscheinung schrumpfte zusammen. Dann erreichte ich den Megadämon Mephisto. Er drehte sich um, von seinem Instinkt gewarnt. Seine Augen glühten mich an. Riesig überragte er mich. Ich hechtete ihn an und rammte ihm den armenischen Dolch genau in die Brust. Mit den Worten »Stirb, du Satan!« begleitete ich die Aktion. Es gab einen Donnerschlag, und ich wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Für mehrere Augenblicke war ich völlig benommen. Dann bekam ich allmählich wieder mit, was um mich her vorging. Tessa hatte meinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Der Hubschrauber landete neben uns auf dem Acker. Samiel, Sumer und Nostradamus waren verschwunden. Doch Mephisto stand, etwas kleiner geworden, ein Stück entfernt und war unverletzt. Mich schmerzten alle Glieder. Mein Schädel brummte. Ich hatte einen magischen Schlag erhalten und zudem einen Schock erlitten. Vor meinen Augen sah ich leuchtende Punkte flimmern. Man griff nicht ungestraft einen Erzdämon an. Gevatter Tod hielt auf seinem Knochenpferd in der Luft. Mephisto streckte die Hand aus. »Gib mir den Ring!« befahl er. Mein Ring leuchtete stark. »Niemals«, antwortete ich. »Tessa stirbt, wenn du ihn nicht herausrückst«, drohte der Höllenfürst. »Mit ihr viele, andere! Die Pest über Weimar.« Er deutete gebieterisch. Aus den Augenhöhlen von Gevatter Tod sprangen schwarze Schatten. Die Seuchensaat traf Tessa voll. Der Ring konnte sie diesmal nicht abwehren. Tessa bäumte sich auf. Schwarze Pusteln bedeckten sie plötzlich. Innerhalb weniger Sekunden sank sie todkrank nieder und konnte nur noch schwach röcheln. Hohnlachend ritt der Tod in die Luft und verschwand am Himmel. Mephisto löste sich in Luft auf. Ich hörte noch seine Stimme: »Du kannst mich jederzeit rufen, wenn du mir den Ring geben willst. Bis dahin wird in Weimar die Pest wüten. - Die Apokalypse beginnt - jetzt!« Etwas wie eine riesige Glocke stülpte sich über Weimar und schirmte die Stadt von der Außenwelt ab. Die magische Sphäre verhinderte jeden Kontakt. Pit Langenbach stieg aus dem Hubschrauber, der auf dem Feld gelandet war, und lief herbei. 72
Rasch luden wir Tessa ein und flogen sie zu den HufelandKliniken, wo sie in die Quarantänestation mußte. Dort wurden wir alle untersucht, weil ihre Krankheit ansteckend sein konnte. Noch ehe die Untersuchung vorbei war, erhielt Pit Langenbach per Handy die Meldung, daß der Gevatter Tod durch die Straßen von Weimar ritt und die Pest aussäte. Zahlreiche Opfer sanken nieder. Dem Wüten des Seuchendämons schien kein Einhalt zu gebieten zu sein. Was Nostradamus zu meiner Mutter Lydia gesagt hatte, als er ihr 1982 zum ersten Mal begegnete, fiel mir ein: »Satan, Tod, der Bucklige und die Höllenhure erscheinen auf Erden. Weimar wird heimgesucht. Der Schwarze Tod hält reiche Ernte, wenn die Sense am Himmel steht. Der Knochenreiter trabt über die Felder.« Jetzt war es soweit. Und es schien keine Rettung zu geben. * Tessas Krankheit war nicht ansteckend. Dann wurden Susanne Langenbach und die achtjährige Anna in die Hufeland-Kliniken gebracht. Die Pest hatte sie befallen. In der Quarantänestation, diese Art Pest war ansteckend, wurden sie untergebracht. Pit Langenbach sah die Qualen seiner geliebten Frau und seiner achtjährigen Tochter. Er kehrte zu Tessa und mir in die andere Abteilung zurück. Tessa lag in einem Vier-Betten-Zimmer. Drei von Gevatter Tod mit nicht ansteckenden Krankheiten geschlagene Frauen verschiedenen Alters lagen in den anderen drei Betten und röchelten vor sich hin. In den Hufeland-Kliniken herrschte Hochbetrieb. Der Katastrophenschutzdienst und die anderen Hilfsdienste waren in Weimar im Einsatz. Panikstimmung herrschte, Einwohner und Touristen verkrochen sich in den Häusern. Die Straßen gehörten dem Gevatter Tod, der wie das verkörperte Unheil dahertrabte, grimmig die Seuchensaat streuend. Schon hatte es Todesopfer gegeben. Von Nostradamus war weit und breit nichts zu sehen. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Pit Langenbach zog seine Dienstpistole und richtete sie auf mich. Schweiß bedeckte sein Gesicht; wirr hing ihm das Haar in 73
die Stirn. »Floh stirbt«, sagte er und entsicherte seine Waffe. Ich schaute in die tödliche Mündung. »Der Arzt sagt, sie hat nur noch fünf Minuten zu leben. Susanne ist fast genauso schlecht dran. Gib Mephisto den Ring, Mark! Sofort! Rufe ihn an, oder ich schieße dich nieder und gebe ihm deinen Ring.« Hörte ich Mephisto irgendwo höhnisch lachen? »Sag ihm, er soll meine Frau und mein Kind verschonen, dafür, daß du dich ihm unterwirfst, Mark.« »Das kannst du nicht von mir verlangen, Pit. Das darfst du nicht.« »Ich kann, und ich darf. Susanne und Floh sind für mich die wichtigsten Menschen auf der Welt. Ohne sie hat das Leben keinen Sinn mehr für mich.« »Denk an die anderen Menschen, die du dem Teufel ausliefern willst. Denk an die Apokalypse.« Pit schrie: »Sie hat schon begonnen. Die Stunde Null ist vorbei. Der Countdown für das Finstere Zeitalter läuft. - Rette meine Frau und meine Tochter!« »Pit, nimm Vernunft an!« »Rette Susanne und Floh. Ich zähle bis drei. Dann erschieße ich dich. - Eins. - Zwei.« Ich stand ruhig da. Pit war ein viel zu guter Schütze, als daß ich eine Chance gehabt hätte, ihn zu überrumpeln und zu entwaffnen. Ich wartete auf den Tod. Pit war wie von Sinnen. Da stand die todkranke Tessa aus dem Krankenbett auf und stellte sich vor mich, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. »Bevor du Mark tötest, Pit, mußt du mich erschießen. - Was soll das? Leg die Pistole weg. Willst du, daß Mephisto die Welt regiert? Nimm doch Vernunft an. Wenn du Mark umbringst, nimmst du uns die letzte Möglichkeit, ihn zu bekämpfen.« Pits Hand zitterte. Dann steckte er seine Waffe weg, sank auf einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten. Der starke Mann weinte. »Was soll ich denn tun? Wenn Susanne und Floh sterben, sterbe ich auch.« Pits Nerven versagten völlig. Vielleicht wirkte die Krankheit, von der ihn Nostradamus' Heiltrank kuriert hatte, noch bei ihm nach. Tessa konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich fing sie 74
auf, als sie niedersank, und legte sie in ihr Bett. Pit eilte hinaus, er wollte zu seiner Frau und der Tochter. Tessa flüsterte: »Rufe Nostradamus. Nur er kann noch helfen.« Ich stand auf, aktivierte meinen Ring an dem Hexenmal an meiner Brust und schrieb Nostradamus' Namen in die Luft. Dabei rief ich dreimal laut den Namen des Sehers. Die todkranken Frauen im Bett merkten kaum auf. Eine Krankenschwester trat ein. Ich schickte sie wieder weg. Die Luft flimmerte. Nostradamus war da! * »Diesmal«, ertönte des Sehers Stimme, »folge ich deinem Ruf.« »Was soll ich tun, Meister?« »Vertreibe den Tod.« »Womit denn, mit welcher Waffe?« »Schild und Schwert.« »Ist Mephisto mein Vater?« »Nein, Markus. Der Lügenverbreiter hat dich angelogen. Er wollte aus dir schon einmal den Höllenprinz machen. Mit seinem Finger wollte er dir in die Brust fassen und dein Herz umwandeln. Es war beim Hexensabbat am Blocksberg, damals, als deine Mutter starb, von Mephisto ermordet, der auch deinen Vater tötete.« »Du nanntest mich Sohn, Nostradamus.« »Das ist eine Redensart. Auch ein Geistlicher kann jemanden Sohn nennen, ohne daß er sein leiblicher Vater ist. Du kannst mich als deinen geistigen Vater und Mentor betrachten.« »Wer sind meine richtigen Eltern, Nostradamus? Wo stamme ich her? Wo bin ich aufgewachsen? Wo habe ich vor dem Walpurgisnacht 1980 gelebt?« »Das wirst du alles erfahren, wenn die Zeit dafür reif ist. Heute sollst du erfahren, was es mit deinem Ring auf sich hat. Ich habe ihn dir gegeben. Die magische Entladung schleuderte dich nach Weimar. Durch Zeit und Raum ging die Reise.« Nostradamus, im schwarzen Talar des Gelehrten, breitete die Arme aus. »Nach den Lehren des Hermes Trismegistos, des dreimal größten Hermes, des Königs der Alchimisten, habe ich die 75
Legierung für diesen Ring in einem kosmischen Ofen hergestellt. Der Stein der Weisen gab dazu die Kraft. Runenzauber der Kelten ging in den Ring ein. Der große Drache der Weißen Magie ist in jenem Ring enthalten, der als einziger die Kraft besitzt, den drei im Höllenfeuer geschmiedeten Ringen Mephistos Paroli zu bieten. Meine prophetische Fähigkeit und Visionen zeigten mir, was zu tun sei. Ich selbst kann nicht der Träger des Rings sein. Ich sah das Unheil voraus, das im späten 20. Jahrhundert beginnen sollte. Der Ring mußte an den gehen, der die Kraft hat. Mephisto wollte dessen Kräfte für seine Zwecke nutzen.« »Und mich zum Höllenprinz machen«, sagte ich. Nostradamus nickte. Er schaute mich mit seinen Sternenaugen durchdringend an. Ich hatte eine Vision. Ich sah Nostradamus in ferner Vergangenheit in einer Alchimistenwerktstätte. Der kosmische Ofen war eine mittelalterliche, für mich eher wunderliche Vorrichtung mit mehreren übereinander gelegenen Fächern, Destillierkolben und Abläufen. Eine Esse, vom Blasebalg angefacht, heizte ihn an. Daneben stand ein gemauerter Ofen, in den ein Rohr aus dem metallenen Ofen und eines zurück führte. Nostradamus werkte an diesem Ofen. Ein Diener half ihm dabei. Ich konnte in den Ofen hineinsehen und erblickte einen Kolben aus durchsichtiger Materie, in dem ein herrlich bunter Pfau trotz größter Hitze entstand, sich zu Metall verwandelte, wieder ein Pfau wurde, dann einem Drachen glich und als silbrige Flüssigkeit in die nächste Abteilung destilliert wurde. »Alchimie«, sagte ich. Die Alchimisten des Mittelalters hatten alles versucht, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Bei diesen Experimenten sind viele andere Dinge entdeckt worden. »Weiße Magie«, kommentierte Nostradamus. »Weißt du, was ein Alkahest ist?« »Ein Elixier, das alle festen Stoffe aufzulösen vermag. Deinen Ring jedoch nicht. Ich habe ihn damit geprüft. Ich schuf diesen Ring als Mittel gegen Mephisto. Doch ich vermag nicht, ihn zu tragen. Dafür brauchte ich einen Auserwählten, den meine Visionen mir zeigten. Dich. - Die Buchstaben M und N auf deinem Ring sind die Zeichen von unserem Bund: Markus und Nostradamus. Gleichzeitig sind sie die Initialen meines Namens: Michel de Notre Dame. Meinen Visionen folgend, schuf ich den 76
Ring für den Kampf gegen das Böse und die Mächte der Finsternis. Trage ihn immer. Mehr kann ich dir heute nicht sagen. Kosmische Kräfte führen mich weg. Vernichte. Gevatter Tod. Rette. Weimar.« Nostradamus verschwand. Was er mir geraten hatte, war leichter gesagt, als getan. Ich küßte Tessa. Für mich war sie schön, obwohl die Krankheit sie entstellt hatte. Die Prophezeiung, die Nostradamus bei seinem vorigen Erscheinen genannt hatte, fiel mir ein: »In dem Jahr, in dem die Dichterstadt hoch geehrt ist, wird das Geheimnis des Rings offenbar. Im Herz des Starken liegt das Geheimnis. Kampf wird entstehen, wo das Grauen war. Der Drache breitet die Flügel aus. Tod durch die Sense!« Das Geheimnis des Rings war mir offenbar geworden - und von wem er stammte. Mephisto hatte mein Herz in das eines Teufels verwandeln wollen. Vielleicht rührte daher auch mein Hexenmal. Doch es war ihm nicht gelungen. Der letzte Kampf stand bevor. Der Drache, der meines Rings, entfaltete wohl seine Kraft. Es gab keine Zeit zu verlieren. Ich verließ die Hufeland-Kliniken, holte mir ein Schwert und einen Schild aus einem Museum und begab mich zum Weimarer Marktplatz. Die Straßen waren wie ausgestorben. Nur manchmal sah man eine Funkstreife oder ein Fahrzeug des Katastrophenschutzdienstes einsam dahinfahren. Mich hielt niemand auf. Fahlgelb war der Himmel, obwohl es schon Nacht sein mußte. Vor dem »Hotel Elephant« lag die Leiche des Portiers auf den Stufen unter dem Baldachin. Gräßlich sah er aus, von schwarzen Pestbeulen entstellt, die Uniform noch am Leib. Vor dem Cranachhaus, 1547-49 erbaut, in dem der berühmte Maler mehr als ein Jahr bis zu seinem Tod 1553 gewohnt hatte, lag eine tote Frau. Im Zweiten Weltkrieg hatten Bomben und Granaten die historischen Gebäude teils zerstört. Später waren sie exakt wieder aufgebaut worden. Aus einem Fenster des im Renaissancestil erbauten Stadthauses schaute eine männliche Leiche. Sie lag über der Fensterbank. Die Arme baumelten herunter. Das Grauen ging um in meiner armen Heimatstadt. Manchmal hörte ich dumpfen Huf schlag. Den Gevatter Tod sah ich jedoch nicht. Meine Pistole und einen kurzen Dolch, magisch mit dem Ring hergerichtet, hatte ich noch dabei. Der armenische Dolch 77
war ausgeglüht, nachdem ich ihn Mephisto tief in die Brust gestoßen hatte. Er war im Moment nicht zu gebrauchen. Mein Handy klingelte, einigermaßen gespenstisch, wo hier das Grauen umging. Die Funktelefonverbindung funktionierte jedoch, wenn auch nur innerhalb der magischen Sphäre. Mein Vater meldete sich. »Mark«, sagte er. Schon an seiner Stimme hörte ich, daß etwas Entsetzliches passiert sein mußte. »Mutter hat die Pest. Sie stirbt.« »Verlier nicht den Mut, Vater. Nostradamus hat mir einen Weg genannt, wie ich das Grauen beenden kann.« »Nostradamus. Hätten wir ihn doch nie gesehen!« Damit endete die Verbindung. Ich stand nun vorm Goethe-undSchiller-Denkmal vorm Nationaltheater, im Januar des Jahres der Kulturstadt Weimar, 1999. Dem 250. Jahr nach der Geburt Goethes. Ausgerechnet jetzt, im Goethejahr, sollte die Apokalypse beginnen. Ich wartete. Der Himmel verdunkelte sich. Ein gewaltiger Schatten erschien. Gevatter Tod trabte auf seinem Knochenpferd heran. »Da bist du ja, Hellmann. Hast du es dir überlegt? Gibst du mir deinen Ring?« »Niemals. Stell dich zum Kampf. Seuchendämon! Ich will dir den Kopf vom Rumpf hauen.« »Haha. Niemals gelingt dir das. Erst töte ich dich, damit Mephisto dich wiederbelebt und du der Höllenprinz wirst. Ich schlag dir den Kopf ab. Zur Strafe für deine Widerspenstigkeit sollst du ihn dann nach hinten tragen.« Das riesige Skelett griff mich an. Ein furchtbarer Kampf entbrannte. Gevatter Tod war mir auf vielfache Weise überlegen. Er war beritten, ich nicht. Er konnte aus der Luft auf mich niederstoßen, sein Knochenpferd sich aufbäumen lassen, um mich mit der Sense zu erschlagen, und vieles mehr. Er war größer und stärker, seine Kraft war unerschöpflich, und er hatte eine viel größere Reichweite. Meine Pistole nutzte mir gar nichts. Nach zwei ergebnislosen Schüssen ließ ich sie fallen. Trotz oder gerade wegen des Kampflärms wagte sich niemand aus dem Haus. Der Tod und ich waren ganz allein. Ich steckte fürchterliche Prügel ein. Bald blutete ich aus mehreren Wunden. Der Schild war zerhauen, das bläulich 78
leuchtende Schwert von der Sense des Todes, mit dem ich es gekreuzt hatte, mit Scharten versehen. Wenigstens erwischten mich, die Krankheitskeime des Gevatters Tod nicht. Das verhinderte der Ring. Das Schicksal von ganz Weimar stand auf dem Spiel. Meinetwegen hätte ich längst aufgegeben. Ich dachte an Tessa, an Floh, an Susanne Langenbach, an meine Mutter. Das gab mir die Kraft, weiterzukämpfen. Es wurde jedoch immer schwerer. Ich war sozusagen stehend k.o. »Hui, hui«, ertönte es aus den Lüften. »Jetzt kriege ich dich!« Der Hufschlag des Knochenpferds donnerte in der Luft, unlogisch, aber wahr. Gevatter Tod jagte heran. Die Sense pfiff durch die Luft - und haute der Schillerfigur von dem Goethe-undSchiller-Denkmal vor dem Nationaltheater den Kopf ab. Er rollte mir vor die Füße. Besser Schiller als ich, dachte ich. Der Dichterfürst war aus Stein, ich jedoch nicht. Der Gevatter Tod ritt über das Nationaltheater weg. Gleich würde er wieder eingreifen. Plötzlich hatte ich eine Idee. Aus meinem innersten Kern holte ich die letzten Reserven. Rasch wie zu Beginn des Kampfes, nachdem ich völlig erledigt geschienen hatte, bewegte ich mich. Zudem beseelte mich ein grimmiger Mut, den Tod zu besiegen. Ich schrieb die Runen für »Waffe« auf den Schillerkopf. Als der Tod wieder anpreschte, packte ich den bläulich leuchtenden Steinkopf, hob ihn mit beiden Händen über den Kopf und schleuderte ihn dem Tod mit gewaltiger Kraft wie eine Kanonenkugel entgegen. Krachend traf ich Gevatter Tod vor die Brust, daß es ihn glatt aus dem Sattel seines Knochenpferds haute. Der Seuchendämon fiel hart auf den Boden. Sein Knochenpferd galoppierte an mir vorbei in die Luft und preschte über die historischen Gebäude am Marktplatz weg, Richtung Schloß. Der Tod stand wieder auf. Nostradamus' Worte fielen mir ein: »Tod durch die Sense.« Gevatter Tod war noch etwas wacklig auf den Beinen. Die Schillerlocke, die ich ihm entgegenwarf, hatte er schlecht vertragen. Ich sprang vor, rannte ihm den Dolch durch den Umhang. Er brüllte. Seuchenkeime sprangen aus seinen Augen und wurden von dem Leuchten meines magischen Rings abgefangen. 79
Wir rangen um die Sense. Mit einem Judofußfeger brachte ich den Gevatter Tod von den Beinen, daß er sich in der Luft fast auf den Kopf stellte und krachend mit dem Genick landete. Er kam wieder hoch. Ich ergriff seine Sense. Die Knochenhände vorgereckt, tappte der Tod heran. »Jetzt reiße ich dich in Stücke, Mark Hellmann! Dein verdammtes Herz reiße ich dir aus der Brust. Jetzt ist mir egal, ob Mephisto dich als Höllenprinz will oder nicht.« »Dir werde ich es geben!« Die Sense Gevatter Tods war schwer, aber handlich. Ich schwang sie, haute ihm das linke Skelettbein ab und schlug wieder zu, als er einbeinig auf mich loshüpfte. Diesmal kostete ihn der Schlag ein paar Rippen, deren Stücke davonflogen. Rasend vor Zorn griff er an. Ich drehte die Sense im Rückhandschlag, traf ihn am linken Kiefergelenk seines Totenkopfs und haute ihm den halben Kopf weg wie eine Eierschale. Schwarze Skorpione, Spinnen, Asseln und Ungeziefer krochen aus dem gespaltenen Schädel. Der Tod löste sich auf. Ungeziefer lief weg. Ein wütendes Zischen war zu hören. Ein Aufschrei erklang: »Wir sehen uns wieder, Mark Hellmann! Das sollst du mir büßen! Den Tod kannst du nicht töten.« Im nächsten Moment gab es einen lauten Knall. Ein gewaltiger Blitz zuckte über den Himmel und zerspaltete die magische Sphäre, die Weimar überdeckte. Die Lichter flackerten, gingen aus. Als sie wieder aufstrahlten, fand ich mich am Rand des Marktplatzes in einem völlig veränderten oder vielmehr normalen Weimar wieder. * Festlich gekleidete Menschen strömten ins Nationaltheater. Das Denkmal davor mit den zwei Dichterfürsten und Geistesheroen war unversehrt. Friedrich Schiller hatte eine Menge im Kopf gehabt, besonders, wenn man diesen dazu benutzte, ihn in steinerner Form gegen den Tod zu werfen. Das Haupt, dem das »Lied von der Glocke« entsprungen war, hatte mir viel genutzt. 80
Ich ordnete meine Kleidung und wandte mich an ein Paar, das zum Nationaltheater wollte. »Ist Ihnen etwas von einem Knochenreiter bekannt? Hat es in Weimar eine Pestepidemie gegeben?« »Vor Jahrhunderten mag hier die Pest gewütet haben«, antwortete mir der Mann. »Was wollen Sie überhaupt? Was reden Sie da? Wollen Sie uns anbetteln, oder sind Sie verrückt?« »Keins von beiden.« Damit ging ich weg. Bald darauf sollte ich erfahren, daß in dem Moment, als ich den Gevatter Tod besiegte, die teuflische Magie endete. Es gab so etwas wie einen Zeitsprung oder eine Korrektur der Geschehnisse. Die magische Sphäre wich. Die Erinnerung der Menschen in und um Weimar wurde geändert. Nur wenig von dem, was durch Mephisto und seine Verbündeten geschehen war, wirkte nach. Der Bauer Probstier blieb tot. Die Pestepidemie hatte jedoch nicht stattgefunden oder war ausgelöscht worden. Es gab keine weiteren Toten. Wenige direkt Beteiligte konnten sich noch an manches entsinnen. Susanne und Anna Langenbach genasen in dem Moment, als der Gevatter Tod von mir erschlagen wurde. Pit Langenbach konnte sie mit nach Hause nehmen. Auch Tessa genas, genauso Lydia, meine Mutter. Ich konnte Tessa, nachdem ich mit einem Taxi zu meiner Wohnung gefahren war und mich umgezogen hatte, glücklich in die Arme schließen. Ihre Haut, soweit ich sie sehen konnte, war rein von den schwarzen Pusteln. »Sind die Pusteln alle verschwunden?« fragte ich Tessa. Sie lächelte schelmisch. »Du willst wohl gleich überall nachsehen? Das sieht dir ähnlich. Du denkst auch immer nur an das eine.« Später, in meiner Wohnung, unterhielten wir uns. Tessa lag glücklich in meinen Armen. »Was ist mit Gevatter Tod?« überlegte sie laut. Obwohl ich keine prophetische Gaben hatte wie Nostradamus, erlebte ich eine Eingebung, auch eine Art Vision. Ich spürte den Haß des Seuchendämons. Nach seiner Niederlage gegen mich hatte er sich irgendwo auf der Welt in ein Seuchengrab verkrochen und mästete sich mit Krankheitskeimen, die er in sich weiterentwickelte und pervertierte. Eine dämonische Produktionsstätte bakterieller Waffen 81
gewissermaßen. Gestärkt würde er wieder auferstehen, um sich bei mir zu revanchieren für das, was ich ihm angetan hatte. Ich dachte auch an Nostradamus. Mir war, als ob ich seine wohltönende Stimme hörte. »Gut gemacht, Markus.« Wir würden uns wiedersehen. Unsere Wege würden sich wieder kreuzen, und dann würde ich mehr über meine Herkunft erfahren, wer meine leiblichen Eltern waren. Was bei jenem Hexensabbat geschehen war, wie ich Mephisto entrann und nach Weimar gelangte. Wir gehörten zusammen. M und N stand auf meinem Siegelring. Mark und Nostradamus.
ENDE Die Blut-Schamanin hatte ein Herz aus Stein. Ob in der Gestalt eines Elches oder eines Wolfes. Für sie zählte nur das Blut von jungen und kräftigen Menschen, denn sie brauchte es für ihre höllischen Rituale.
Die Blut-Schamanin heißt C.W. Bachs 32. »Mark Hellmann«-Roman, in dem die gefährliche »Dame« ihren großen Auftritt hat und ihre Opfer das Fürchten lehrt. Gruselspannung pur, von der ersten bis zur letzten Zeile!
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