Auf Krishna verschwindet Igor Shtain, Beherrscher des Wirtschaftsimperiums Shtain Enterprises. Es heißt, er habe den sc...
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Auf Krishna verschwindet Igor Shtain, Beherrscher des Wirtschaftsimperiums Shtain Enterprises. Es heißt, er habe den schwimmenden Kontinent Sun quahr gesucht, ein von Piraten und anderem Gelich ter heimgesuchtes Gebiet in der Banjao See. Über den Herrscher des Sunquahr erzählt man sich schauerli che Dinge. Es sei ein mit hypnotischen Kräften ausge stattetes Ungeheuer, in dessen Gewalt sich nicht nur zahlreiche Krishni, sondern auch viele Erdenmen schen befinden. Dirk Barnevelt, PR-Mann bei Igor Shtain, macht sich auf die Suche nach seinem verschollenen Chef. Doch mehr und mehr wird es für ihn zu einer Suche nach der Prinzessin Zei, bei deren Entführung er durch Zu fall Zeuge wurde ...
Ferner liegen vor
in der Reihe der
Ullstein Bücher:
Science-Fiction-Stories
Band 1 bis Band 27
Ullstein Buch Nr. 2977 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE SEARCH FOR ZEI Übersetzung von Ingrid Rothmann
Science-Fiction-Romane:
Erstmals in deutscher Sprache Jeff Sutton:
Die tausend Augen des Krado 1 (2812)
Sprungbrett ins Weltall (2865)
Samuel R. Delaney:
Sklaven der Flamme (2828)
Cyril Judd:
Die Rebellion des Schützen Cade (2839)
Eric Frank Russell:
Planet der Verbannten (2849)
Gedanken-Vampire (2906)
Der Stich der Wespe (2965)
Larry Maddock:
Gefangener in Raum und Zeit (2857)
Bart Somers:
Zeitbombe Galaxis (2872)
Welten am Abgrund (2893)
Manly W. Wellman:
Insel der Tyrannen (2876)
Invasion von der Eiswelt (2898)
Robert Moore Williams:
Zukunft in falschen Händen (2882)
H. Beam Piper:
NULL-ABC (2888)
Murray Leinster:
Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917)
Fredric Brown:
Sternfieber (2925)
L. Sprague de Camp:
Vorgriff auf die Vergangenheit (2931)
Der Turm von Zanid (2952)
Wilson Tucker:
Die letzten der Unsterblichen (2959)
C. C. MacApp:
Söldner einer toten Welt (2968)
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1962 by L. Sprague de Camp Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02977-9
L. Sprague de Camp
Der Raub von Zei
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1
Dirk Barnevelt beugte seine elchähnliche Gestalt über die Schreibmaschine und tippte: Fünfundzwanzig Grad nördlich des Äquators des Planeten Krishna erstreckt sich die Banjao-See, die größte Wasserfläche auf diesem Planeten. Und in diesem Meer liegt der Sunqar, Ursprung unzähli ger Sagen und Legenden. Hier verrotten unter den sengenden Strahlen der heißen Sonne die Schnabelgaleeren von Dur und die behäbigen Rundschiffe aus Jazmurian, gefan gen im unerbittlichen Griff des riesigen treibenden Kontinents aus Terpahla-Seetang. Sogar die gewal tigen subtropischen Stürme auf Krishna können die Oberfläche dieses großen dahintreibenden Sumpf gebiets nur oberflächlich bewegen, in dem aber manchmal das Leben des Meeres von schrecklichen Meerestieren, wie dem Gvam oder dem Harpun fisch, wogt und schäumt. Barnevelt lehnte sich zurück. Seit mehreren Jahren schon schrieb er über die Orte, die Igor Shtain erkun dete. Würde er sie je in Wirklichkeit sehen? Wenn seine Mutter starb ... Aber das war sehr unwahr
scheinlich. Dank der modernen Geriatrie würde sie ein weiteres Jahrhundert überleben. In den Nieder landen lebte noch ein Ur-Ur-Großvater von ihm. Au ßerdem, dachte er schuldbewußt, ist das keine Art, an seine Mutter zu denken. Er fuhr also fort: Was sich einmal in diesem Pflanzengeflecht ver strickt hat, kann sich nicht wieder befreien, es sei denn, es könnte fliegen wie die Aquebats, die vom Festland herüberkommen, um die kleineren Seetie re des Sunqar zu jagen. Hier hat die Zeit jede Be deutung verloren. Es existiert nichts außer Stille, Dunst, Hitze und dem üblen Geruch der Ranken. Wenigstens war diese Arbeit an der Schreibmaschine besser als sein gescheiterter Versuch, die Köstlichkeiten der englischen Literatur den unwilligen Köpfen ländli cher Jugendlicher einzutrichtern, die nur zwei Interes sen hatten, nämlich Sex und wie man den Plackereien der Public Schools möglichst aus dem Wege ging. Igor Shtain, der gefeiertste unter den lebenden Entdeckern, plant auf seiner bevorstehenden Expe dition auf Krishna, in das Herz dieses unwirklichen Gebiets einzudringen, um ein für allemal die finste ren Legenden zu zerstören, die seit Jahren von die sem unerforschten Land ausgehen.
Barnevelt starrte in den Raum wie ein Elch, der den Paarungsruf seiner Gattung vernimmt, während er darauf wartete, daß sich in seinem Geist der nächste Satz formte. Scheußliche Sache, falls Shtain nicht wieder auftauchte und seine Expedition durchführte. Er, Dirk Barnevelt, konnte dieses Publicity-Blabla nicht veröffentlichen, bevor man den vermißten For scher gefunden hatte. Nun könnte der Leser einwenden, warum bittet Shtain nicht den Kapitän eines Raumschiffs, ihn in der Nähe dieses Meeres abzusetzen, und überfliegt das Gebiet in seinem Helikopter mit surrenden Ka meras und schußbereiten Waffen? Weil Krishna zur Klasse der H-Planeten gehört und die Bestimmun gen des Interplanetarischen Rates es den Besuchern von anderen Planeten verbieten, den eierlegenden, aber menschenähnlich aussehenden Eingeborenen von Krishna mechanische Errungenschaften und Er findungen preiszugeben; Eingeborene, die man ei nerseits als zu zurückgeblieben und kriegerisch an sieht, als daß man ihnen diese Dinge anvertrauen könnte, andererseits aber als genügend intelligent, um diese Erfindungen zu ihrem Vorteil einzusetzen. Deswegen werden auf Krishna weder Helikopter noch Waffen eingesetzt. Dr. Shtain wird den harten Weg gehen müssen. Aber wie? Den Sunqar kann
man weder zu Fuß erreichen noch durch ihn hin durchsegeln ... Barnevelt hüpfte wie eine eingeschnappte Mausefalle, als Mrs. Fischman ihm über die Schulter sagte: »Es wird Zeit für die Sitzung ...« »Welche Sitzung?« Mrs. Fischman, die Sekretärin der Firma Igor Shtain Limited, reagierte mit einem gequälten Au genaufschlag wie jedesmal, wenn Barnevelt verrückt spielte. »Die Direktoren. Sie möchten Sie sprechen.« Er folgte ihr in das Sitzungszimmer und wappnete sich gegen unangenehme Überraschungen, wie je mand, dem das Urteil eines Kriegsgerichts bevor steht. Anwesend waren die drei Direktoren der Firma Igor Shtain Limited: Stewart Laing, zugleich Vizeprä sident und Geschäftsführer, der Bankier Olaf Thorpe, und Panagopulos, Leiter der Finanzen. Obwohl der oberste Chef vermißt war, blickte sein Abbild aus dem kolorierten Bathygraph an der Wand auf sie nieder: ein kantiges rotes Gesicht, von unzäh ligen Falten durchzogen, kalt glitzernde, porzellan blaue Augen, dichtes, kupferfarbenes Haar, mit Grau durchsetzt. Auf der nichtamtlichen Seite des Tisches saßen au ßer Barnevelt der kleine Dionysio Perez, Fotograf, der große braune George Tangaloa, Xenologe, und Grant
Marlowe, Schauspieler, der dem Bild an der Wand sehr ähnlich sah, auch ohne die Schminke, die er sonst trug, wenn er Shtain am Rednerpult vertrat. »Hallo, Neger!« sagte Tangaloa grinsend. Barnevelt lächelte dünn und verkroch sich in den letzten freien Sessel. Obwohl er, wie die anderen auch, Aktionär der Gesellschaft war, war sein Anteil so gering, daß sein Wort kein Gewicht hatte. Heute fand jedoch keine formelle Direktoren- oder Aktio närsversammlung statt, sondern eine zwanglose Zu sammenkunft besorgter Fachleute, deren Zusam menwirken es zu verdanken war, daß das als Igor Shtain Limited bekannte synthetische Wesen, von dem der echte Shtain nur ein Teil war – allerdings der wichtigste – vor der Öffentlichkeit auftreten konnte. »Na, Stu?« sagte Marlowe und zündete seine Pfeife an. Laing sagte: »Nichts Neues vom Alten.« Mrs. Fischman sprudelte heraus: »Diese verdamm ten Detektive! Hunderte von Dollars pro Tag, wo chenlang, und sie finden nichts. Ich möchte wetten, die taugen überhaupt nichts.« »Aber nein«, sagte Laing. »Ugolini hat erstklassige Referenzen.« »Wenn wir nicht vorwärtskommen«, fuhr sie fort, »dann ist der Vertrag mit der Cosmic-Film nicht so viel wert wie ein Schneeball in der Hölle.«
Laing sagte: »Ugolini vertritt die Theorie, daß man den Alten auf den Planeten Krishna gebracht hat.« »Wie kommt er denn darauf?« fragte Marlowe paf fend. »Igor hatte gehofft, die Gerüchte über einen Zu sammenhang zwischen dem Sunqar und der JanruBande aufzuklären. Der Ermittlungsabteilung ist es nicht geglückt, einen Menschen in den Sunqar zu schmuggeln – oder vielmehr sind diejenigen, die man ausgeschickt hat, niemals wieder zurückgekehrt. Deswegen hofft WEA, der Alte könnte als Privat mann eher etwas in Erfahrung bringen. Nun, dank Dirks Bemühungen haben Igor und seine Safari über Mangel an Publicity nicht zu klagen. Nehmen wir einmal an, die Hauptverbindungen des Janru-Ringes befinden sich hier auf der Erde, wegen der Auswir kungen dieses Zeugs auf menschliche Wesen.« Perez machte ein Gesicht, als wolle er zu weinen anfangen. Laing fuhr fort: »Warum sollte der Janru-Ring nicht zu dem Entschluß gekommen sein, den Alten auf Eis zu legen.« Barnevelt räusperte sich. Sein längliches Pferdege sicht nahm einen verlegenen Ausdruck an, wie im mer, wenn er mit seinen Vorgesetzten sprach. »Wo her wollen Sie wissen, daß man ihn nicht umgebracht hat? Ich selbst habe oft diesen Wunsch gehegt.«
»Wir wissen es nicht, aber so einfach geht das nicht, einen Leichnam verschwinden zu lassen, und auf der Erde haben wir keine Spur von Igor gefun den.« Tangaloas Orgelbaßstimme meldete sich: »Man hat schon sehr oft Menschen an den Interplanetarischen Sicherheitseinrichtungen vorbeigeschmuggelt.« »Ich weiß«, sagte Laing. »Jedenfalls haben wir pri vate, städtische, staatliche, nationale und internatio nale Polizei auf Igor angesetzt. Mehr können wir in dieser Richtung nicht tun. Unser unmittelbares An liegen ist der Filmvertrag. Mir fällt nichts anderes ein, als daß ein paar von uns auf Krishna die Pläne Igors eben ohne ihn ausführen. Verschafft uns die 50 000 Meter Film – ein Viertel davon im Sunqar gedreht – legt sie der Cosmic vor, und dann werden wir wissen, ob der Weiterbestand unserer Firma gesichert ist. Und falls Shtain auf Krishna ist, dann rettet ihn – wenn's möglich ist.« Laings scharfer Blick ging durch den Raum. Alle nickten. Er fuhr fort: »Die nächste Frage also lautet: Wer?« Die meisten Anwesenden sahen weg und machten Gesichter, als hätten sie mit der ganzen Sache nichts zu tun. George Tangaloa tätschelte seinen Wanst: »Dio und ich, wir werden es schaffen.«
Perez sprang auf: »Ich nicht gehen! Ich nicht gehen, bevor der Ärger mit meiner Frau geregelt. Diese ver dammte Droge, die mir meine Frau gibt, nicht meine Schuld ...« »Ja, ja«, unterbrach ihn Laing. »Wir kennen deine Schwierigkeiten, Dio, aber wir können nicht einen Mann allein schicken.« Tangaloa gähnte. »Ich schätze, ich könnte es allein schaffen. Dio hat mir die Hayashi-Kamera erklärt.« Mrs. Fischman meinte: »Wenn wir George allein losschicken, kriegen wir nicht einmal so viel Film, daß wir ihn uns um den Finger wickeln könnten. In der ersten Kneipe mit guten Steaks und Bier bleibt er hängen und ...« »Aber Ruth!« sagte Tangaloa betont unschuldig. »Wollen Sie damit andeuten, ich sei nicht pflichtbe wußt?« »Ja, verdammt, du bist indolent«, sagte Marlowe, der Schauspieler. »Vermutlich das faulste Stück Fleisch, das je aus Samoa gekommen ist. Du brauchst jemanden wie Dirk, der ein Auge auf dich wirft ...« »He!« rief Barnevelt und warf die Schüchternheit ab wie einen alten Mantel. »Warum denn ich? Warum nicht Sie? Tatsächlich sehen Sie nicht nur aus wie Igor, Sie können auch seinen gräßlichen russischen Akzent nachmachen! Sie sälbst sollten gähen, mein Liebärr ...!«
Marlowe machte eine abwehrende Handbewe gung. »Für Strapazen bin ich zu alt, nur schlappe Masse. Außerdem habe ich auf diesem Gebiet keinerlei Er fahrung ...« »Ich doch auch nicht! Neulich erst haben Sie gesagt, ich wäre ein unpraktisch veranlagter Intellektueller. Wer also bin ich, daß ich die dunklen Punkte aufhel len und dem Gesetz Geltung verschaffen soll?« »Sie können mit der Hayashi umgehen, und Sie se geln eine Yacht, oder nicht?« »Ach Gottchen! Das Boot eines Freundes. Sie glau ben doch nicht etwa, ich könnte mir bei meinem Ge halt eine Yacht leisten? Wenn Sie mir natürlich mehr zahlen wollen ...« Marlowe zuckte die Achseln. »Nur die Erfahrung zählt. Wie Sie sie erworben haben, interessiert keinen. Und da Sie auf einem Bauernhof großgeworden sind, kennen Sie das einfache Leben.« »Wir hatten Strom und Fließband ...« »Außerdem haben alle außer George und Ihnen Familie.« »Ich habe meine Mutter«, sagte Barnevelt, dessen natürlich-frische Gesichtsfarbe sich zu einem Hum merrot verfärbte. Andeutungen, seinen ländlichen Hintergrund betreffend, machten ihn immer verle gen. Da er das Stadtleben vorzog, hatte er nie das Ge
fühl überwunden, daß er in den Augen dieser Stadt fräcke eine komische Figur wäre. »Unsinn!« sagte die essigsaure Stimme Mrs. Fischmans. »Wir alle kennen deine alte Dame, Dirk. Das beste für dich wäre, du kämest mal von ihren Schürzenbändern los ...« »Ich sehe nicht ein, was Sie das angeht ...« »Wir werden Ihr Gehalt während Ihrer Abwesen heit an Ihre Frau Mutter auszahlen. Sie wird schon nicht verhungern. Und wenn Sie Erfolg haben, schaut so viel für Sie dabei heraus, daß Sie endlich von Ihren Schulden herunterkommen, die Ihnen Ihre Frau Ma ma aufgehalst hat.« »Genug«, ergänzte Marlowe, »um sich ein vorneh mes Doppelappartement mit einem orientalischen Diener leisten zu können.« Tangaloa warf ein: »Hätte er mit einem französi schen Stubenmädchen nicht mehr Spaß?« Außer Barnevelt lachten alle schallend. »Nein«, sagte er mit der übertriebenen Festigkeit eines Menschen, der seine inneren Widerstände zu sammenbrechen sieht. »Ich kann mir auch ohne Igor Shtain Limited auf der Erde einen angemessenen Le bensunterhalt verdienen – besser noch als jetzt ...« »Warten Sie«, sagte Laing. »Da ist noch etwas. Ich hatte eine Unterredung mit Tsukung von der Ermitt lungsabteilung. Dort macht man sich große Sorgen
wegen des Janru-Schmuggels. Sie wissen, was Dio passiert ist, und Sie haben von dem Mord an Polhe mus gelesen. Der Extrakt ist so stark, daß man hun dert Einheiten in einer Zahnhöhle unterbringt. Er wird tausendmal verdünnt und taucht schließlich in Parfüms auf, die so klangvolle Namen wie ›Nuit d'a mour‹ oder ›Moment d'extase‹ tragen. Dank des Jan ru halten sie wirklich, was die Namen versprechen. Eine Frau kann sich mit dem Zeug einstäuben, und sobald ein Mann nur einen Hauch davon riecht, wird er so verdreht, daß sie ihn durch Reifen springen las sen kann. Aber das ist noch nicht alles. Das Zeug wirkt nur, wenn es eine Frau benützt. Da es sich so rasch ver breitet hat, fürchtet Tsukung, daß in einigen Jahr zehnten die Frauen die Männer völlig beherrschen werden.« »Wäre gar nicht so übel«, meinte Mrs. Fischman. »Sie könnten also«, fuhr Laing fort, »den männli chen Teil der menschlichen Rasse vor einem Schicksal bewahren, das ärger ist als der Tod.« Tangaloa sagte: »Sie wollen doch nicht zulassen, daß die Frauen die Männer versklaven?« »Auf diese Art wird vielleicht noch ein Mann aus Ihnen«, sagte Marlowe. »Alle Männer Ihres Alters, die noch nie verheiratet waren, brauchen etwas Dra stisches.«
»Sie werden über echte Erlebnisse schreiben kön nen«, sagte Mrs. Fischman. »Erleben Sie Ihre Abenteuer lieber rechtzeitig, so lange Sie jung und ungebunden sind«, sagte Thorpe. »Wenn sich mir die Chance böte ...« »Wir werden Ihr Gehalt erhöhen«, sagte Panagopu los. »Und mit Ihren Tagesspesen auf Krishna können Sie ...« »Denken Sie an all die seltsamen Tiere, die Sie se hen werden«, sagte Tangaloa. »Außerdem«, sagte Laing, »verlangen wir ja nicht, daß Sie auf den Mars gehen und unter diesen über dimensionalen Insekten leben und eine Sauerstoff maske tragen. Die Eingeborenen auf Krishna sehen beinahe menschlich aus.« »Und die Frauen ...« sagte Tangaloa und vollführte mit den Händen Kurvenbewegungen. »Zum Henker, dann gehe ich eben«, sagte Barne velt dann. Er wußte, daß sie ihn so oder so doch her umgekriegt hätten. »George«, sagte Barnevelt. »Was soll ich jetzt tun? Meine Versicherung erhöhen?« »Es ist schon alles arrangiert«, sagte Tangaloa. »Ich habe auf der Eratosthenes Plätze reservieren lassen. Übermorgen geht es los.« Barnevelt starrte ihn an. »Soll das heißen, ihr habt das alles im voraus arrangiert?«
»Sicher. Wir wußten, daß wir dich überzeugen würden.« Obwohl Barnevelt rot anlief und wütend etwas sa gen wollte, fügte Tangaloa ruhig hinzu: »Wann hast du gepackt?« »Das kommt darauf an. Was soll ich mitnehmen? Ohrenschützer?« »Normale Bekleidung für einige Monate. Ich habe die Kameras und andere Spezialausrüstung. Alles andere kaufen wir in Novorecife. Es hat keinen Sinn, Frachtgebühr für zusätzliches Gepäck zu bezahlen.« »Wohin fliegt die Eratosthenes? Zum Pluto?« »Nein. Vom Neptun aus werden jetzt die CetiPlaneten angeflogen. Die Amazonas nimmt uns dann vom Neptun auf den großen Sprung nach Krishna mit.«
2
Über ihnen, um die Ecke des Ganges, ihren Blicken entzogen, klappte die Tür der Luftschleuse auf. In al len Räumen der Amazonas begannen die Lautsprecher ihren Sing-sang: »Todos passageiros sai – Alles ausstei gen – Todos passageiros ...« Der neben George Tangaloa in der Schlange ste hende Dirk Barnevelt, der aufs Aussteigen wartete, bewegte sich ganz automatisch vorwärts und verrin gerte den Abstand zwischen sich und seinem Vor dermann. Durch die unsichtbare offene Tür an der Nase des Schiffes drang ein Hauch fremder Luft: feucht, mild und voll pflanzlicher Gerüche. Die Schlange der Aussteigenden bewegte sich lang sam vorwärts. Als sie sich der Schleuse näherten, konnte Barnevelt das Rauschen des Windes und das Regengetrommel, das das Füßescharren übertönte, hören. Schließlich geriet die Außenwelt ins Blickfeld, ein Rechteck von Perlgrau, das sich von dem dunkle ren Ton der Wände des Raumschiffs abhob. Barnevelt murmelte: »Fühle mich wie eine Mumie, die endlich der Gruft entsteigt. Ich wußte nicht, daß die Raumfahrt so öde ist.« Als sie sich der Schleuse näherten, sahen sie, daß das Grau draußen die Unterseite einer vorübertrei
benden Regenwolke war. Der Wind schlug gegen das Zelttuch, und durch die offenen Seiten der Gangway sprühte Regen. Als die Reihe an ihn kam und er ausstieg, hörte Barnevelt unter sich das Rumpeln von Koffern und Reisetaschen, die von ächzenden Besatzungsmitglie dern aus dem Gepäckraum in die Gepäckrutsche un ter der Rampe gehievt wurden, und dann das leise Zischen des davongleitenden Gepäcks. Ein Blick über das Geländer jagte ihm wegen der großen Entfernung zum Boden einen ordentlichen Schrecken ein. Der Wind heulte durch die nicht sehr stabile Ram penstruktur und peitschte Barnevelts Regenmantel um seine Beine. Am Fuß der Rampe mußte er feststel len, daß es bis zum Zollgebäude noch einige Minuten Fußmarsch waren. Der überdachte Gehweg ruhte auf kleinen Pfählen und führte über kahle braune Erde, durchsetzt mit Pfützen. In einiger Entfernung wurde der beim letzten Start entstandene Krater von einer Planierraupe zugeschüttet. Dahinter ragte die Amazo nas wie eine überdimensionale Artilleriegranate auf. Auf dem Weg zum Zollgebäude hörte der Regen auf. Roqirs große gelbe Scheibe trat zwischen sich auf türmenden Wolkenmassen hervor. Ein uniformierter Viagenser hielt die Tür zum Zollgebäude auf und sagte im Brasilo-Portugiesisch der Raumschiffahrt: »Passagiere, die auf Krishna
bleiben, erste Tür rechts. Transitreisende nach Ganes ha und Vishnu ...« Neun der vierzehn Passagiere drängten sich durch die erste Tür rechts und stellten sich vor dem Tisch eines großen, finster dreinblickenden Mannes auf, dessen Namensschild ihn als Afanansi Gorchakov, Zolloberinspektor, auswies. Als sie an die Reihe ka men, ließen Barnevelt und Tangaloa ihre Pässe kon trollieren und stempeln, während sie das Einreise formular unterschrieben und ihre Fingerabdrücke darauf hinterließen. Inzwischen nahmen die zwei As sistenten Gorchakovs das Gepäck auseinander. Der eine stieß auf die Hayashi-Kameras und rief Gorchakov herbei, der fragte: »Sind sie mit einem Zerstörmechanismus ausgestattet?« »Ja«, sagte Tangaloa. »Sie werden die Kameras nicht in die Hände von Krishni fallen lassen?« »Sicher nicht.« »Dann lassen wir sie durchgehen. Obwohl es ei gentlich verboten ist, machen wir hier eine Ausnah me, weil auf Krishna alles im Umbruch begriffen ist. Wenn man jetzt nicht Aufnahmen vom alten Krishna macht, dann nie wieder.« »Warum ändert sich alles?« fragte Barnevelt. »Ich dachte, ihr Leute seid darauf bedacht, die Krishni vor Einflüssen von außen zu bewahren.«
»Ja, sie haben aber trotzdem viel von uns gelernt. So hat zum Beispiel im Jahre 2130 Fürst Ferrian von Sotaspe in seinem Königreich ein Patentsystem einge führt, und das hat bereits Wirkungen gezeitigt.« »Wer ist das?« »Der Schuft, der versucht hat, eine komplette Fach bibliothek nach Krishna zu schmuggeln, und zwar in der Mumie eines seiner Vorfahren. Als wir dieses Vorhaben vereitelten, hat er seine Patentidee in die Praxis umgesetzt. Er ist auf einem seiner Besuche auf der Erde darauf gestoßen.« Tangaloa fragte: »Wer vertritt hier die Interessen der Besucher?« »Castanhoso. Warten Sie, ich werde Sie ihm vor stellen.« Nachdem alle Angekommenen einer medizinisch ärztlichen Untersuchung unterzogen worden waren, führte Gorchakov Shtains Leute einen Gang entlang in ein anderes Büro, das Herculeu Castanhoso beher bergte, den stellvertretenden Sicherheitsoffizier von Novorecife. Als Gorchakov wieder draußen war, erklärte Tan galoa Castanhoso den Zweck der Expedition und füg te hinzu: »Können wir der jungen Dame vertrauen? Wir möchten nicht, daß unsere Pläne unter den Ein geborenen bekannt werden.« Damit meinte er Ca stanhosos hübsche Sekretärin.
»Gewiß«, sagte Castanhoso, ein kleiner dunkler Mann. »Gut. Hat jemand, der Dr. Shtain ähnlich sieht, in den vergangenen Monaten den Zoll passiert?« Castanhoso studierte das Bathygraph, ein dreidi mensionales Bild, das Igor Shtain darstellte. Das drei dimensionale Konterfei starrte ihn kalt an. »Ich glaube nicht – warten Sie, da war doch einer auf dem letzten Schiff von der Erde, einer von dreien, der sagte, der König von Balhib hätte sie beauftragt, das Königreich Balhib zu vermessen.« »Wie ist das möglich, ohne gegen die geltenden Be stimmungen zu verstoßen?« »Man hätte sich auf die hier gebräuchlichen Ver messungsmethoden beschränken müssen. Doch auch in diesem Falle könnten sie weitaus genauer messen als jeder Krishni, behaupteten sie. Wenn ich es mir jetzt überlege, hat diese Geschichte sehr fadenschei nig geklungen, denn es ist allgemein bekannt, daß König Kir eine krankhafte Abneigung gegen Fremde hegt, seitdem Sir Shurgez ihm den Bart abgeschnitten hat. Ich werde bei ihm anfragen. Senhorita Foley!« »Sim?« Das Mädchen drehte sich um. Es hatte gro ße blaue Augen und sah Castanhoso atemlos an, als erwarte sie, er würde ihr eine unfehlbare Methode verraten, wie man beim Schwindel-Bridge gewinnt. »Ein Brief, por favor. Von Herculeu Castanhoso etce
tera, an seine Erhabene Hoheit, Kir bad-Balade, Dour von Balhib und Kubyab, Erb-Dasht von Jeshang, Titu lar-Pandr von Chiliag, etcetera. Wenn es Eurer Erha benen Hoheit gefällt, dem Interplanetarischen Amt von Viagens hinsichtlich nachfolgend präzisierter Angelegenheit Auskunft zu geben, nämlich ...« Als er fertig diktiert hatte, fügte er hinzu: »Überset zen Sie es in Gozashtandou und schreiben Sie es in Langschrift auf einheimisches Papier.« »Muß ein tüchtiges Mädchen sein«, sagte Barnevelt anerkennend. »Ist sie auch.« (Das Mädchen errötete sichtbar über dieses knappe Lob.) »Senhorita, das sind die Herren Jorge Tangaloa und Dirk Barnevelt. Miss Eileen Fo ley.« Barnevelt fragte: »Was hat es mit dem abgeschnit tenen Bart des Königs auf sich? Diese Menschen müs sen komische Vorstellungen von Humor haben!« »Sie haben ja keine Ahnung, wie komisch! Dieser Shurgez wurde geschickt, den Bart zu holen, weil er in Mikardand einen Mord begangen hatte. Kir tobte vor Wut, weil die Krishni praktisch keinen Haar wuchs haben und er den seinen sein Leben lang ge pflegt hatte.« »Ich kann verstehen, wie er sich gefühlt haben muß«, sagte Barnevelt. Tangaloa sagte: »Hm, interessant. Aber kommen
wir zur Sache, meine Herren: Wie kommen wir zum Sunqar?« Castanhoso trat an die Wand, wo er eine Rollkarte auszog. »Sehen Sie, Senhores. Hier sind wir. Da ist der Fluß Pichide, der das Reich Gozashtandou im Norden von der Republik Mikardand im Süden trennt. Im Osten liegt die Sadabao-See. Da ist die Pa lindos Straße, die in die Banjao-See im Süden überlei tet, und das hier ist der Sunqar. Wie Sie sehen, liegt der Hafen Malayer dem Sunqar am nächsten, doch herrscht in diesem Gebiet zur Zeit Krieg, und ich glaube mich zu erinnern, daß Malayer von den Nomaden aus Qaath belagert wird. Daher müssen Sie den Pichide flußabwärts ziehen, dann die Bahn entlang der Küste nach Jazmurian nehmen und von dort auf der Straße weiter nach Ghulinde, der Hauptstadt von Qirib, reisen. Von dort, nehme ich an, werden Sie auf dem Seeweg Weiterreisen müssen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie es von Ghulinde aus in den Sunqar weitergeht. Ich habe keine Ah nung, wie Sie auf diesen treibenden Kontinent kom men, ohne daß man Ihnen zumindest die Kehle durchschneidet. Sie werden jedoch sehen, daß Quirib von irdischen Einflüssen weitgehend frei ist. Hoffent lich finden Sie es für Zwecke der Kinematographie genügend malerisch.« Tangaloa schüttelte den Kopf. »Im Vertrag wird
der Sunqar verlangt. Aber wie kommen wir in dieses Ghulinde?« »Damit meinen wir«, erläuterte Barnevelt, »wie wir reisen sollen? Ohne Tarnung – als Menschen von der Erde?« »Das würde ich nicht empfehlen, obwohl es einigen schon geglückt ist, so durchzukommen. Unser Friseur kann Ihnen Verkleidungshilfen geben: künstliche An tennen, Ohrenspitzen und grüne Farbe fürs Haar.« »Uch«, stöhnte Barnevelt. »Wenn Sie eine Haarfärbung ablehnen, die weitere Färbungen wegen des nachwachsenden Haares nach sich zieht, dann könnten Sie sich als Männer aus Nyamadze ausgeben. Dort rasiert man die Köpfe kahl.« »Wo ist dieses Nya-Dingsda?« fragte Barnevelt. »Klingt ganz so, als wäre es der Geburtsort Igor Shtains.« »Nyah-mah-dzuh. Es liegt im Südpolargebiet, Tau sende Hoda von hier entfernt, wie Sie auf diesem Globus sehen können. Sie werden sich also als Leute aus Nyamadze ausgeben. Die kommen sehr selten so weit nach Norden. Daher wird man Ihren Akzent und Ihre Unkenntnis der hiesigen Sitten tolerieren.« Tangaloa fragte: »Wie steht es hier mit Einrichtun gen für ein Intensivsprachstudium?« »Ja, wir haben so etwas. Außerdem kann Senhorita
Foley mit Ihnen Konversation betreiben. Sie sollten überhaupt ein paar Tage darauf verwenden, sich mit den Sitten und Gebräuchen auf Krishna vertraut zu machen.« Mit dem Vorschlag, sich als Nyager zu verkleiden, waren sie einverstanden. Castanhoso sagte: »Ich wer de Ihnen Nyagi-Namen geben. Senhor Jorge, Sie sind – hm – was für Namen gäbe es da, Senhorita Foley?« Das Mädchen runzelte die zarte Stirn. »Mir fallen nur ein paar berühmte Abenteurer der Nyagi ein – Tagde von Vyutr und Snyol von Pleshch.« »Gut. – Senhor Jorge, Sie sind Tagde von Vyutr. Senhor Dirk, Sie sind Snyol von Pleshch. Zweisilbig gesprochen. Können Sie reiten und fechten?« »Ich kann beides«, sagte Barnevelt. »Außerdem kann ich im alten schottischen Dialekt Gedichte auf sagen.« Tangaloa stöhnte. »Auf einer früheren Expedition mußte ich reiten lernen, obwohl ich nicht dazu ge schaffen bin. Aber was das Hauen und Stechen an geht – nein! Überall – nur auf diese verdammten HPlaneten nicht – darf man Flugzeuge und Gewehre benutzen wie jeder vernünftige Mensch.« »Aber das hier ist kein vernünftiger Planet«, erwi derte Castanhoso. »Sie dürfen beispielsweise dieses Bathygraph von Senhor Shtain nicht mitnehmen. Es verstößt gegen die Bestimmungen. Jeder Krishni, der
ein solches dreidimensionales Bild zu Gesicht bekä me, würde sofort wissen, daß es sich um ein Zauberwerk der Erdenmenschen handelt. Aber Sie können sich einen normalen fotografischen Abzug davon ma chen lassen und diesen mitnehmen. Warten Sie«, fuhr Castanhoso fort. »Ich werde Ihnen einen Brief an Gorbovast in Majbur mitgeben, und der wiederum kann Ihnen ein Empfehlungsschreiben an die Königin von Qirib ausstellen, das Ihnen vielleicht weiterhilft. Damit man Sie nicht als Erdenmenschen erkennt – mit welcher Ausrede wollen Sie sich vorstellen?« Barnevelt fragte: »Reisen denn die Menschen nicht aus schlichten geschäftlichen Gründen an die BanjaoSee?« »Aber doch! Man jagt dort den Gvam wegen seiner Magensteine.« Tangaloa sagte: »Sie meinen das Scheusal, das wie eine Kreuzung zwischen Schwertfisch und Riesentin tenfisch aussieht?« »Das ist es. Sie werden sich als Gvam-Jäger ausge ben. Die Steine aus dem Magen dieser Tiere sind un bezahlbar, weil sie angeblich bewirken, daß keine Frau einem Mann, der einen solchen Stein trägt, wi derstehen kann.« »Dirk, das wäre doch was für dich«, sagte Tanga loa. »Ach, Unsinn«, sagte Barnevelt. »Da ich an den
Unsinn nicht glaube, fürchte ich, wäre es völlig wert los für mich. Wie spät ist es, Senhor Herculeu?« »Spätnachmittag – Büroschluß.« »Und was unternehmen Sie gegen dieses Siebzehn Uhr-Büroschluß-Gefühl?« Castanhoso grinste. »Die Nova Iorque Bar liegt gleich um die Ecke. Wenn die Herren ...«
3
Der grünliche Himmel war fast völlig klar geworden. Die untergehende Sonne Roquir zauberte Rot und Grün auf die Unterseiten der Wolkenreste. Die schlichten Betonbauten waren rechteckig angelegt. Die Straßenfronten waren kahl und glatt, da sämtli che Türen und Fenster in den Innenhöfen lagen. In der Bar sagte Castanhoso: »Versuchen Sie mal einen Krug Kvad. Auf Krishna ist es das beliebteste alkoholische Getränk.« »Hoffentlich wird das Zeug nicht von kauenden und spuckenden Eingeborenenweibern hergestellt, wie dort, wo George herkommt«, sagte Barnevelt. Castanhoso verzog das Gesicht. Als sie die Bestel lung aufgaben, rief eine barsche Stimme: »Zeft, zeft! Ghuvoi zu! Zeft!« Barnevelt spähte um die Trennwand zwischen ih rer und der benachbarten Nische und erblickte einen großen rot-gelb-blauen Papagei auf einer Stange. »Das ist Philo«, sagte Castanhoso. »Mirza Fateh hat ihn mit dem letzten Schiff gebracht, mit dem übrigens auch der Mann, der Ihr Dr. Shtain sein könnte, ge kommen ist.« »Warum hat er den Vogel hier zurückgelassen?« fragte Barnevelt.
»Die Bestimmungen verlangen, daß der Vogel hier eine gewisse Zeit in Quarantäne verbringt, und Mirza hatte es eilig, zu dem Kongreß seiner Sekte in Mishe zu kommen. Deswegen hat er den Papagei meinem Chef Abreu gegeben, der ihn dann mir überließ, nachdem das Vieh Senhora Abreu gebissen hatte. Haben die Herren vielleicht Verwendung für einen Papagei?« Als die zwei Forscher den Kopf schüttelten, kreischte der Vogel: »Zeft! Baghan!« »Jemand hat ihm sämtliche Schweinereien im Go zashtandou-Dialekt beigebracht«, sagte Castanhoso. »Wenn wir ehrbare Krishni zu Gast haben, verstecken wir das Tier.« Barnevelt fragte: »Wer ist dieser Mirza Fateh? Klingt persisch.« »Ist er auch. Er ist ein kosmotheistischer Missionar, der zwischen den Planeten des Cet-Systems hin und her pendelt und seinen Glauben predigt.« »Ich war schon mal im Iran«, sagte Tangaloa. »Scheußliches Land.« Castanhoso fuhr fort: »Wir haben Senhor Mirza seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen, da er zur Erde zurückgekehrt ist, um den Titel eines Ober haupts seines Kultes zu empfangen.« »Ein seltsamer Vogel ist er übrigens. Was seinen Glauben ans Übernatürliche betrifft, so ist er aufrich
tig und außerdem gutmütig. Doch kann man ihm nicht eine Sekunde lang trauen. Auf Vishnu hat man ihn beim Falschspiel ertappt.« Barnevelt sagte: »Ein waschechter Gauner, der als Heiliger auftritt.« »Na ja, der arme Kerl hatte es nicht ganz leicht. Vor einigen Jahrzehnten, kurz vor seiner Rückkehr zur Er de, hat er Frau und Tochter hier auf Krishna verloren.« »Ich dachte, Kosmotheisten lebten im Zölibat?« »Ja, das tun sie für gewöhnlich. Mirza hat mir unter Tränen gestanden, daß sein Unglück aus der Mißach tung eben dieses Gebotes resultiere.« »Wie ist es denn passiert?« »Sie waren mit der Bahn von Majbur nach Jazmuri an unterwegs, wohin übrigens auch Sie fahren wer den, als eine Räuberbande den Zug überfiel. Mirzas Frau wurde von einem Pfeil getötet. Mirza, der nicht eben als mutig bekannt ist, hat überlebt, indem er sich tot stellte. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Kind weg. Zweifellos haben die Räuber sie mitge nommen, um sie als Sklavin zu verkaufen.« Tangaloa sagte: »Faszinierend, aber erzählen Sie uns lieber etwas über Qirib.« »Nun, Qirib wird Königreich genannt, sollte aber treffender Königinreich heißen. Es ist ein matriarcha lisches Staatswesen, das vor langer Zeit von Königin Dejanai gegründet wurde. Die Frauen regieren nicht
nur das Land, sie huldigen auch einem seltsamen Kult. Die Königin erwählt sich einen Mann als Prinz gemahl, und wenn er ihr ein Jahr lang gedient hat, wird er unter großartigen Zeremonien getötet, und ein anderer wird gewählt.« »Ich könnte mir denken«, sagte Barnevelt, »daß sich die Bewerber um diese hohe Stellung nicht gera de reißen. Es muß doch einen leichteren Weg geben, sich den Unterhalt zu verdienen, auch auf Krishna.« Castanhoso zuckte die Achseln. »Die armen Män ner haben nichts zu sagen. Sie werden durch das Los gewählt, obwohl angeblich die Lose manchmal mani puliert werden. Es existiert dort eine Bestrebung, die tatsächliche Exekution durch eine symbolische zu er setzen – man würde den scheidenden König nur ein bißchen anritzen –, doch die Konservativen wenden natürlich dagegen ein, daß eine solche Änderung des Ritus die Fruchtbarkeitsgöttin erzürnen könnte, zu deren Ehre diesem grausigen Kult gehuldigt wird.« Barnevelt fragte: »Besteht die Möglichkeit, daß wir dieser Ehre teilhaftig werden? Ich könnte nämlich gern verzichten.« »Nein, nein! Dafür kommen nur Bürger von Qirib in Frage. Sie müssen aber auf jeden Fall irgendein Ge schenk für Königin Alvandi mitbringen.« »Hm«, sagte Barnevelt, »George, ich glaube, unser Spesensatz ...«
»Moment mal!« sagte Tangaloa, der den Papagei aus wäßrigen Augen ansah. »Wie wär's mit diesem Vögelchen? Ich nehme an, die Königin besitzt keine Vögel von der Erde?« »Genau das Richtige!« sagte Castanhoso. »Der ko stet Sie gar nichts. Ich bin heilfroh, wenn ich das Biest loswerde.« »Hm!« sagte Barnevelt, »so sehr ich Tiere liebe, aber gegen Federn bin ich allergisch!« »Das stimmt«, sagte Tangaloa. »Den Käfig werde daher ich tragen, du die übrige Ausrüstung.« Castanhoso fügte hinzu: »Sie müssen die Königin darauf aufmerksam machen, daß man Philo nicht über den Weg trauen kann.« Barnevelt sagte: »Vielleicht ist er bloß grantig, weil er schon lange kein Papageienmädchen mehr gehabt hat.« »Das wäre möglich. Da die nächste Vogeldame je doch zwölf Lichtjahre weit entfernt ist, wird er sich damit wohl abfinden müssen.« »Wie steht es mit seinem Wortschatz? Die Königin wird von seinem unkonventionellen Vokabular nicht gerade entzückt sein.« »Spielt keine Rolle. Es heißt, sie nehme selber kein Blatt vor den Mund.«
4
Das Bootshaus von Viagens wurde von einem ge schwänzten Wesen aus den Koloft-Sümpfen verwal tet, ein behaarter und ungeheuer häßlicher Kerl. Ei leen Foley übergab ihm eine Anweisung von Kom mandant Kennedy und fragte: »Hat es in letzter Zeit auf dem Pichide Räuber gegeben, Yerevats?« »Nein«, antwortete Yerevats. »Nicht seit dem gro ßen Kampf. Ich war dabei. Habe Räuber auf den Kopf geschlagen. So ...« »Diese Geschichte tischt er jedem auf, der sie sich anhören will«, sagte Eileen Foley. »Nehmen wir die ses Boot.« Sie deutete auf ein Ruderboot mit halbkreisförmi gen Dachreifen, die in Halterungen auf der Ruder bank steckten und über dem Bootskörper einen Bo gen bildeten. »Warum nicht das andere Boot da?« fragte Tanga loa und wies auf ein Motorboot. »Guter Gott, angenommen, es fiele in die Hände der Krishni! Das ist nur für Notfälle da.« Barnevelt stieg ins Boot und streckte Miss Foley eine Hand entgegen. Vizqash, der angeheuerte Führer, klet terte hinein und hielt dabei seinen Dolch umklammert. Das Boot sank deutlich tiefer ins Wasser unter Tangalo
as Gewicht. Yerevats reichte ihnen den Proviantkorb und löste die Leine. Als sie draußen im Fluß waren, sag te Tangaloa: »Ich bin zwar kein Prophet, was die hiesige Metereologie betrifft, ich wage aber die Behauptung aufzustellen, daß Regen in naher Zukunft ...« Ein Donnerschlag übertönte den Rest des Satzes. Das Getrommel der Regentropfen machte eine weite re Unterhaltung überflüssig. Vizqash holte aus einem Fach im Bug eine Regenplane, die sie über die Dachreifen spannten. »Der feuchteste Sommer, seit ich ausgebrütet wur de«, sagte der Krishni. Tangaloa bemerkte: »Wer das Ruder übernimmt, wird völlig durchnäßt.« »Lassen wir Vizqash ran«, sagte Barnevelt. »Er kennt den Kurs.« Brummend hüllte der Krishni sich in den Mantel und übernahm das Steuer, während die Erdenmen schen ruderten. Bald hörte der Regen auf und Roqir strahlte hell vom grünlichen Himmel herab, an dem sich die Ge witterwolken türmten. Sie schlugen die Regenplane zurück. Die Strömung hatte das Boot den Pichide flußabwärts getragen. Das Bootshaus von Novorecife war jetzt nicht mehr zu sehen. Tangaloa sagte: »Erzählen Sie uns von Qirib, Sen hor Vizqash, da Sie ja dort zu Hause sind.«
»Hören Sie bloß damit auf!« fauchte Vizqash. »Ein – wie sagt man? – mieses Land. Die Frauenherrschaft hat es zugrundegerichtet. Mir ist vor vielen Jahren die Flucht geglückt, und ich habe nicht die Absicht zu rückzukehren.« Das Gelände entlang des Südufers wurde flacher, bis man sehen konnte, daß sich zwischen Wasser und Himmel ein dunkelgrüner Schilfstreifen erstreckte, durchsetzt von seltsam anmutenden Bäumen. »Das ist das Sumpfgebiet von Koloft, wo Yerevats' wilde Verwandte hausen«, erklärte Eileen Foley. Tangaloa begutachtete seine Hände, als hätte er Angst vor Blasen, und sagte: »Gegen die Strömung wird man nicht so leicht rudern können wie flußab wärts.« »Wir halten uns dicht am Ufer, wo die Strömung schwächer ist«, sagte der Krishni. Ein V-förmiges Gekräusel, von einem unter Wasser schwimmenden Tier verursacht, kreuzte ihren Kurs und verschwand wieder. Barnevelt fragte: »Legen wir die ganze Strecke nach Qou im Boot zurück?« »Nein«, sagte Vizqash. »Kurz vor Qou liegt eine Landestelle gegen Süden hin.« Ein paar Aqebats erhoben sich kreischend aus dem Schilf, kreisten auf ledernen Schwingen, gewannen an Höhe und schwirrten in südlicher Richtung davon.
Hin und wieder ließ Vizqash das Steuer los und schlug nach kleinen fliegenden Insekten. »Eines hier ist sehr angenehm«, sagte Miss Foley. »Die Mücken meiden uns. Unser Geruch muß ihnen widerlich sein.« »Vielleicht sollte ich mal Ihren Planeten besuchen, wo zur Abwechslung ich nicht gestochen werde«, sagte der arme Vizqash. »Ich sehe unseren Anlege platz.« Das Schilf am Südufer war einem braunen Steilufer gewichen. Eine primitive Anlegebrücke auf kurzen Stämmen reichte an dieser Stelle in den Fluß hinein. Zwei Boote von offensichtlich einheimischer Bauart waren mit großen Vorlegeschlössern daran festgemacht. Vom Steg aus führte eine ungepflasterte Straße durch einen Einschnitt im Steilufer ins Landesinnere. Als das Boot an Land stieß, ließen sich ein paar schuppige kleine Dinger mit leisem Plumpsen vom Strand ins Wasser gleiten. Sie stiegen aus und machten das Boot fest. Vizqash führte sie die Straße entlang, die sich in Kurven nach Qou hinschlängelte. Aus einiger Entfernung ertönte ein Brüllen, worauf das Rascheln und Zirpen in den Büschen längs der Straße jäh verstummte. »Alles in Ordnung«, sagte Vizqash. »Die kommen selten so nahe an die Dörfer heran.«
Barnevelt sagte: »George, wäre dir jetzt nicht woh ler, wenn du ein Schwert gekauft hättest? Wenn ich meines nicht hätte, würde ich mich fühlen wie ein Anwalt ohne Aktenmappe.« »Mit dir und Vizqash als Beschützer fühle ich mich wie in Abrahams Schoß.« Schließlich sagte Vizqash: »Da wären wir«, und zwängte sich durch das Gebüsch auf der linken Stra ßenseite. Sie folgten ihm. Jetzt kamen sie auf die offene Sa vanne, und das Gehen wurde leichter. Nach einigen Minuten erreichten sie ein Gelände, das aussah wie eine Endmoräne, übersät mit Steinen und Geröll. Als Barnevelt näher hinsah, entdeckte er, daß die Steine von unnatürlich regelmäßiger Größe und Form und in Reihen und Gliederungen angeordnet waren. »Hier hinauf«, sagte Vizqash. Sie erklommen einen konischen Haufen längst zer fallener Reste eines runden Turmes. Von hier aus bot sich ihnen ein Überblick über das ganze Gelände. Die Ruinen erstreckten sich bis zum Fluß hin. Eine Fe stung oder ein befestigtes Lager, vermutete Barnevelt. »Hier«, sagte Vizqash und wies auf die Überreste einer Statue von dreifacher Lebensgröße. Das Piede stal und ein Bein waren noch erhalten, während Bar nevelt zwischen den um die Basis verstreut liegenden Steinen einen Kopf ausmachen konnte, dazu Teile ei
nes Armes und andere Teile der Figur. Dabei kam ihm in den Sinn: »Ich traf einen Reisenden aus uraltem Land, der sprach: zwei gewaltige rumpflose Beine aus Stein in der Wüste ... daneben im Sand, halb zerfallen, ein Antlitz. Stirnrunzeln, spöttische Lippen, und kalt be fehlende Miene bezeugen, daß ihr Schöpfer sehr wohl die Leidenschaften kannte, die diesen leblosen Din gen aufgeprägt, überdauern ...« »Was murmeln Sie da?« fragte Eileen Foley. »Entschuldigen Sie«, sagte Barnevelt. »Ich habe nur in Erinnerungen geschwelgt ...« und er trug das So nett vor. Tangaloa meinte: »Das ist doch von diesen engli schen Wirrköpfen Kelly und Sheets? Die zwei, die den Mikado geschrieben haben?« Bevor Barnevelt die Möglichkeit hatte, seinen Ge fährten zu korrigieren, mischte sich Vizqash ein: »Da sollten Sie erst das große Gedicht unseres Dichters Qalle kennen, über eine Ruine wie diese. Es lautet: ›Trübe Gedanken ...‹« »Wie wär's mit einem Bissen zu essen?« lenkte Tangaloa ab. »Das Rudern hat mich hungrig ge macht.« Beharrlich fuhr Vizqash fort: »›Trübe Gedanken beim Verzehr eines Picknicks in den moosbedeckten Ruinen von Marinjid, verbrannt von den Balhibuma
im Jahr des Val, neunundvierzigster Zyklus nach Qa rar.‹« Tangaloa bemerkte: »Nach dem Titel können wir auf den Rest verzichten ...« Doch der Krishni begann mit ausholenden Gesten und auf Gozashtandonisch ein Gedicht vorzutragen. Barnevelt mußte die Entdeckung machen, daß er höchstens jedes fünfte Wort verstand. Tangaloa sagte zu Eileen Foley: »Das haben wir nun davon, daß wir mit poetisch angehauchten Freunden unterwegs sind. Wenn Sie mich auf einen kleinen Spaziergang beglei ten wollen, bis die zwei ihre Poesie losgeworden sind, bin ich sicher, daß ich etwas Unterhaltsameres ...« In diesem Augenblick ging Vizqash der Atem aus. Er sagte bloß: »Ich könnte noch stundenlang weiter rezitieren, aber eine ungefähre Vorstellung haben Sie ja nun.« Sodann ernannte er sich selbst zum Kopf des Un ternehmens und machte sich auf die Suche nach trok kenem Holz. Obgleich sein Reisigbündel nicht sehr vielversprechend aussah, pflückte er dazu Pflanzen mit Schoten. Diese zerbrach er und schüttelte den fei nen gelben Staub auf den Holzhaufen. »Yasuvar. Wir benützen diesen Staub fürs Feuer werk«, erklärte er. Er zog einen kleinen Zylinder mit einem Kolben heraus, der genau hinein paßte und einen großen
Knopf am Ende hatte. Aus einem Schächtelchen schüttete er eine Prise Zünder in den Zylinder und drückte den Kolben hinein. »Ich ziehe diese Methode den mechanischen Feuer steingeräten vor, die Sie gekauft haben«, sagte er. »Man kann dabei weniger falsch machen.« Er nahm den Kolben aus dem Zylinder und warf glühenden Zunder ins Feuer. Der Zunder ließ das gelbe Pulver aufflammen, bis es knisterte und alles übrige entzündete. Inzwischen packte Eileen Foley den Inhalt des Kor bes aus. Vizqash nahm ein Segeltuchpäckchen und wickelte es auf. Darin lagen vier mehrgliedrige Le bewesen, ähnlich kleinen Krabben oder Spinnen. »Eine besondere Delikatesse«, sagte Vizqash. Der krampfhaft schluckende Barnevelt spürte Tan galoas belustigten Blick auf sich ruhen. Er besah sich die Tierchen genauer. Nun, man hätte ihnen noch Merkwürdigeres vorsetzen können. Hätte er jedoch diesen kulinarischen Aspekt interplanetarischer Ex peditionen eher in Betracht gezogen, so wäre sein Widerstand gegen das Projekt vielleicht stärker ge wesen. »Interessant«, sagte er mit mattem Lächeln. »Wie lange dauert es, bis sie gar sind?« »Fünf bis zehn Minuten«, sagte Vizqash. Er hatte ei nen doppelten Drahtgrill zurechtgebastelt, so daß die
vier Insekten zwischen zwei Gittern lagen. Sie brodel ten, zischten und strömten einen scharfen Geruch aus. Von der Straße her schnellten raketenartig ein Dut zend fliegender Lebewesen unter heiseren Schreien aus dem Buschwerk auf. Barnevelt sah ihnen nach und fragte sich, ob ein anschleichender Fleischfresser sie aufgescheucht hatte. Die Geräusche der Kleinle bewesen waren wieder verstummt. »Vizqash«, sagte er, »sind Sie sicher, daß es hier keine Banditen mehr gibt?« »Seit Jahren schon nicht mehr«, sagte der Krishni. Er schüttelte den Grill über dem Feuer und schürte mit zusätzlichen Zweigen die Flammen. »Warum fra gen Sie?« Tangaloa, der mit seiner Hayashi die Ruinen filmte, sagte: »Gehen wir doch zum Fluß hinunter, Dirk. Dort unten sehe ich massives Mauerwerk.« »Das Essen ist bald fertig«, protestierte Vizqash. »Wir gehen nicht weit«, sagte Tangaloa. »Rufen Sie uns, wenn die Dinger gar sind.« »Aber ...« entgegnete Vizqash. Tangaloa ging auf den Fluß zu, und Barnevelt folg te. Sie gingen zwischen den Felsen hindurch zum Nordende der Ruinen. Es war die höchste Stelle des Steilufers. Nahe der Mauer lehnte halbeingesunken und schief eine Steintafel, deren Vorderseite mit un kenntlichen Zeichen bedeckt war.
Tangaloa verschoß ein paar Zentimeter Film und sagte: »In wenigen Stunden wird die Sonne diese Zei chen sichtbar machen ...« Barnevelt warf einen Blick zurück zum Feuer und stutzte. Vizqash stand aufrecht da und winkte. »Ich glaube, er braucht uns ...« sagte Barnevelt und merkte erst jetzt, daß der Krishni nicht ihnen winkte. »He!« sagte Barnevelt. »Sieh doch, George!« »Was?« »Was bewegt sich dort im Gebüsch?« »Was? Ach, seine Freunde werden das sein ...« Eine Gruppe von Männern tauchte aus dem Ge büsch auf und lief zum Feuer. Vizqash wechselte ein paar Worte mit ihnen. Barnevelt konnte die Stimme hören, den Schwall der Krishni-Worte aber nicht ver stehen. »Meinem Gefühl nach scheinen die nicht sehr freundlich zu sein«, sagte Barnevelt. »Höchst wahr scheinlich müssen wir die Beine in die Hand nehmen oder uns wehren.« »Unsinn, Freund. Du denkst zu abenteuerlich ...« Alle bis auf Vizqash kamen auf die Erdenmenschen zugelaufen, mit Schwertern in der Hand, bis auf ei nen, der einen Bogen trug. »Verdammt will ich sein«, sagte Tangaloa. »Das sieht echt nach Ärger aus!« Er hob ein paar große Steine vom Boden auf.
Barnevelt stellte sich mit dem Rücken zur Mauer und zog den Degen. »Lassen Sie Ihren Degen fallen!« rief Vizqash. »Le gen Sie die Steine weg, dann wird Ihnen nichts ge schehen!« »Das nennen Sie ein Picknick?« fragte Barnevelt. »Ich sage doch, werfen Sie die Waffen weg! Sonst werden wir Sie töten!« Die Männer – mit Vizqash waren es neun – hielten außer Reichweite von Barnevelts Klinge an. Schließ lich überragte er und sein Gefährte die Durch schnittskrishni beträchtlich. »Und wenn wir sie wegwerfen?« sagte Tangaloa. »Sie müssen mit diesen Männern gehen. Es wird Ihnen kein Haar gekrümmt.« »Bitte, geben Sie auf«, sagte nun auch Eileen Foley, die hinter den Krishni stand. »Es ist das Beste.« »Wir haben Ihnen eine Chance gegeben«, sagte Vizqash. »Wenn Ihnen jetzt etwas zustößt, ist es Ihre Schuld.« Barnevelt sagte: »Eileen, welche Rolle spielen Sie bei dieser Sache?« »Ich ... ich ...« »Manyoi chi!« rief Vizqash barsch. Statt gleichzeitig auf sie loszustürzen – was die Be gegnung sofort entschieden hätte – näherten sich die Männer ihnen jedoch bloß zögernd und sahen einan
der dabei an, als erwarte jeder, daß der andere den ersten Schritt tue. Tangaloa schleuderte einen seiner Steine unter Aufbietung aller Kraft. »Moha raf!« kreischte Vizqash. Platsch! Der Stein traf den Bogenschützen im Ge sicht, gerade als dieser nach einem Pfeil langen woll te. Er fiel zurück, das Gesicht eine Maske aus Blut. Voller Angst, aber fest entschlossen, rief sich Bar nevelt den alten Gemeinplatz über die beste Art der Verteidigung ins Gedächtnis. Dementsprechend voll führte er gegen den nächsten Krishni eine furiose At taque-en-marchant. Eileen Foley schrie entsetzt auf. Tangaloa warf den zweiten Stein – auf Vizqash, der sich duckte, und bückte sich nach einem weiteren Stein. Barnevelt schlug seinem Gegner die Klinge aus der Hand und trieb ihn zurück. Der Krishni stolperte über einen Stein und fiel, alle Viere von sich strek kend, hin. Als er sich aufsetzen wollte, stieß ihm Bar nevelt die Klinge durch den Leib. In diesem Augenblick spürte Barnevelt einen schneidenden Schmerz an seiner linken Seite und hörte das Geräusch zerreißenden Stoffes. Er drehte sich um. Sein Angriff hatte ihn hinter die feindliche Linie getragen, und er wurde jetzt von hinten attak kiert. Er parierte einen zweiten Stoß und schlug eine aus einer anderen Richtung kommende Klinge nach
oben. Barnevelt wußte, daß sogar ein viel fähigerer Fechter als er gegen zwei auf einmal keine Chance hatte. Tangaloa hatte einen weiteren Stein geschleudert und kletterte nun auf die Mauer. Drei Krishni waren hinter ihm her und würden ihn in wenigen Sekunden aufspießen. »Lauf!« brüllte Tangaloa und sprang von der Mau er auf die andere Seite hinunter.
5
Zwei Krishni bedrohten Barnevelt unmittelbar, die anderen drängten nach. Da Eileen bei diesem Spiel auf der Gegenseite zu stehen schien, konnte er sie ru higen Gewissens vergessen. Ein Krishni befand sich direkt zwischen ihm und der Mauer. Der andere bedrängte ihn von rechts. Barnevelt machte einen Ausfall, und während des kurzen Augenblicks, als der Körper des Gegners ihn schützte, versetzte er dem Mann mit der linken Faust einen knallharten Hieb. Als der Krishni zusammen sackte, schob ihn Barnevelt weg und sprang auf die Mauer – gerade als der Hieb des anderen Degens ihm die Mütze vom Kopf fegte. Tangaloa war bereits unten am Fuß des Ufersteil hangs. Rechts von Barnevelt kletterten einige Krishni über die Mauer und nahmen die Verfolgung auf. Barnevelt sprang von der Mauer und hetzte den stei len Hang hinunter. Bei jedem Schritt versank er im weichen Boden. Vor ihm zwängte sich Tangaloa durchs Ufergestrüpp. Er rannte direkt auf den Fluß zu und stürzte sich in die Fluten. Barnevelt wußte, daß er ungünstig angezogen war, um gut schwimmen zu können, und die Krishni würden wohl kaum warten, während er sich hinsetz
te und die Stiefel von den Beinen zerrte. Er schleuder te dem Nächsten den Degen entgegen, warf sein Wehrgehänge weg, behielt nur den Dolch und sprang hinter seinem Gefährten her ins Wasser. Dieser trieb bereits wie eine dicke Schildkröte in der Flußmitte. Wisch-Platsch. Neben Barnevelt platschte etwas aufs Wasser. Ein Blick zurück zeigte ihm, daß einer der Krishni den Bogen des Mannes, den Tangaloa mit dem ersten Stein erledigt hatte, an sich genommen hatte und von der Mauer herab schoß. Eileen Foley sah zu, während Vizqash degenschwenkend herum lief und Befehle brüllte. Scht-Plumps! Zwei Krishni am Ufer warfen Ge wänder, Schuhe und alles Behindernde von sich. »Tauchen!« rief Barnevelt Tangaloa zu, der sofort verschwand. Barnevelt tat es ihm gleich. Durch das Wasser, das hier höchstens zwei Meter tief war, konnte man den sandigen Untergrund sehen. Wasserpflanzen wiegten sich leise in der Strömung. Als Barnevelt die Luft ausging, kam er an die Ober fläche und schüttelte den Kopf. Er sah zurück. Ein halbes Dutzend Krishni – so schien es – zogen sich aus oder waren bereits im Wasser und hinter ihm her. Vor ihm durchstieß Tangaloas großer brauner Schä del die Wasseroberfläche. Er schnaubte wie ein Wal roß.
Wisch-Platsch! Barnevelt holte tief Luft und tauchte wieder unter. Jetzt war der Grund fast unsichtbar und lag viele Meter unter ihm. Wieder sauste neben ihm ein Pfeil ins Wasser, von der quecksilberfarbenen Oberfläche herabkommend, und zog einen Kometen schweif von Blasen hinter sich her. Nach einem Meter hatte der Pfeil seine Geschwindigkeit verloren und trieb wieder hinauf an die Oberfläche, wo er mit der Spitze nach unten wie eine kleine Boje hängenblieb. Fünf oder sechs Krishni schwammen nun vom Ufer weg und näherten sich ihm mit kräftigen Bruststößen. Die Strömung hatte Barnevelt und Tangaloa schon ein Stück stromabwärts getragen. Barnevelt fürchtete die Krishni im Wasser nicht. Er war ein guter Schwimmer und Tangaloa sogar ein ausgezeichneter. Aber ... »George!« rief er. »Wenn wir zulassen, daß diese Kerle uns ans Nordufer folgen, erwischen sie uns dort mit Sicherheit!« Tangaloa spuckte Wasser aus. »Wir könnten im seichten Wasser warten und sie empfangen, sobald sie herauswaten!« »Wie wär's, wenn wir sie schon hier im Wasser ab fangen?« »Kannst du dem ersten unter Wasser entgegen schwimmen?« »Ich denke schon.«
»Gut. Du übernimmst Nummer eins.« Tangaloa machte eine Delphinrolle, Barnevelt folg te ihm. Vor ihm glitt Tangaloa blitzschnell unter Was ser dahin und hielt auf den zweiten Krishni zu. Von unten sahen die Verfolger wie Menschen ohne Kopf aus. Barnevelt legte sich zurecht, wie er seinen Gegner angreifen wollte. Der Mann hatte sich bis auf sein Untergewand, eine Art Lendenschurz, der ihm während des Schwimmern um die Hüften flatterte, ausgezogen. Aus dem Taillenband ragte der Griff ei nes Krishni-Dolches. Barnevelt manövrierte sich mit Wassertreten genau unter den Mann und zog dann, als der Auftrieb ihn hinaufdrückte, seinen eigenen Dolch. Er hatte seine Annäherung zeitlich genau abgestimmt. Als der Mann über ihm war, schnellte er mit scherenartigem Schließen der Beine hoch und trieb ihm von unten den Dolch in den Leib. Sogleich färbte sich das Wasser dunkel vom Blut und wurde undurchsichtig. Der Mann schlug wild um sich. In diesem Augenblick packte Tangaloa die Knöchel des zweiten Schwimmers und zog ihn unter Wasser. Barnevelt hob neben dem Erstochenen den Kopf aus dem Wasser und holte tief Luft. Die anderen Schwimmer hatten voll Entsetzen den Zwischenfall beobachtet. Inzwischen waren alle stromabwärts ge
trieben worden und befanden sich außer Sichtweite der Ruine. Der Erstochene, der mit dem Gesicht nach unten, auf der Oberfläche trieb, glitt langsam in die Tiefe. Tangaloas Schädel tauchte an der Stelle auf, wo er den zweiten Mann unter Wasser gezogen hatte. Von seinem Opfer war nichts mehr zu sehen. »Nehmen wir uns die nächsten zwei vor?« fragte Tangaloa. Die anderen Krishni jedoch machten geschlossen kehrt und schwammen ans Ufer zurück, woher sie gekommen waren. Barnevelt und Tangaloa hielten aufs andere, das Nordufer des Flusses zu. Eine lange Strecke, doch jetzt konnten sie sich ja Zeit lassen und die schwere Oberkleidung ablegen. »Wie gut, daß die nicht das Ruderboot genommen haben«, sagte Barnevelt. »Ein Ruderboot ist so schnell wie ein Kreuzer, wenn es um die Verfolgung eines Schwimmenden geht.« »Was mag bloß dahinterstecken?« fragte Tangaloa. »Diese Zicke scheint da mit drinzustecken.« Wortlos schwammen sie weiter, bis sie wieder Grund unter sich sahen. Dann wateten sie an Land und setzten sich auf einen Baumstamm. Die Verfolger zeigten sich nicht mehr. Barnevelt sagte: »He, du hast ja auch einen Schnitt abgekriegt!«
Tangaloa besah sich die Wunde an seinem linken Arm. »Ein Kratzer. Zeig mal deine Wunde!« Barnevelts Wunde pochte schmerzhaft. Das Blut lief immer noch, da es im Wasser nicht eingetrocknet war. Eine Untersuchung zeigte jedoch, daß die Spitze des Krishni-Degens die Rippe entlanggeglitten war, statt zwischen den Rippen hindurch, ohne ein le benswichtiges Organ zu treffen. Barnevelt, der sein Hemd in Streifen riß und daraus einen Verband machte, sagte: »Das nächste Mal mußt du einen Degen mitnehmen. Mit bloßen Händen kommt man in gefährlichen Situationen nicht weit.« »Vielleicht. Doch wenn wir Kettenhemden getra gen hätten, wären wir ertrunken. Möchte wissen, was diese Typen als nächstes unternehmen! Zurück nach Novorecife können sie nicht, weil sie wissen, daß wir sie hochgehen lassen.« Barnevelt zuckte die Achseln. »Falls sie sich nicht eine erlogene Geschichte zurechtlegen, daß wir Schmuggler seien oder ... Übrigens, glaubst du, daß Igor dasselbe Schicksal zugestoßen ist?« »Wäre möglich.« »Lassen wir uns das einmal durch den Kopf gehen. Inzwischen sinkt dieser nebulöse Stern, den sie hier Sonne nennen. Machen wir uns lieber auf den Weg, ehe die Drachenschlinge der Nacht den Planeten um hüllt!«
»Deine verdammte Energie, du Kraftmeier«, ächzte Tangaloa und stemmte seine Körperfülle hoch. »Im mer nur hasten, hasten, hasten! Wir Polynesier sind doch die einzigen, die zu leben verstehen.« Die Wache sagte: »Warten Sie, bis ich am Fluß-Tor rückgefragt habe und Ihre Aussage von dort bestätigt wird.« Das Fluß-Tor bestätigte tatsächlich, daß die Herren Barnevelt und Tangaloa, alias Snyol of Pleshch und Tagde of Vyutr, am Morgen durch das Tor die Stadt verlassen hatten und in Begleitung von Miss Foley vom Sicherheitsbüro und Mr. Vizqash zu einem Pick nick aufgebrochen waren. »Sie können passieren«, sagte die Wache schließ lich. »Man sieht Ihnen ja an, daß Sie Erdenmenschen sind.« »Ist es denn so auffällig?« fragte Tangaloa Barne velt. »Da wir schon davon reden – einer deiner Fühler hat sich gelockert. Stauch den Friseur zusammen!« Barnevelt gab zurück: »Mir liegt mehr daran, Viz qash und der schönen Eileen die Suppe zu versal zen.« »Ach die? Die habe ich schon vergessen. Eigentlich in der Erinnerung ganz amüsant!« »So lustig wie eine Beerdigung zu Weihnachten! Ich gehe jetzt zu Castanhoso ins Büro.«
Barnevelt marschierte durch die Niederlassung, alle Blicke ignorierend, die seinem halbnackten Zustand galten. Endlich erreichte er das an den Raumflughafen angrenzende Areal und ging den Gang entlang zu Ca stanhosos Büro. Die Tür war nur angelehnt, und er wollte eben eintreten, als er aus dem Raum Stimmen vernahm. Barnevelt hielt den hinter ihm gehenden Tangaloa mit einer Handbewegung auf. »... wir haben sie gewarnt«, hörten sie die Stimme von Vizqash, »aber nein, sie sagten, sie wären seit Verlassen der Erde nicht mehr geschwommen. Also haben sie sich ausgezogen und sind hineingesprun gen, und als nächstes hörten wir sie schreien und sa hen sie verschwinden.« »Es war schrecklich«, sagte Eileen Foley, deren Stimme vor Pathos und Verlogenheit triefte. Man hörte Castanhosos Glucksen. »Das wird Schwierigkeiten ohne Ende geben. Diese Erdenmen schen waren wichtige Leute und mir persönlich sehr sympathisch. Und die vielen Formulare, die wir jetzt ausfüllen müssen! Seltsam, daß beide gefressen wur den. Einer auf einmal ist doch alles, was ein Avval gewöhnlich vertilgen kann –« »Falls es nicht zwei Biester waren«, sagte der Krishni. »Stimmt. Aber das bringt uns diese hervorragen den ...«
Barnevelt betrat das Zimmer mit den Worten: »Ich bin froh, daß wir nicht für immer verlorengegangen sind, Senhor Herculeu. Das Picknick wurde verhagelt – von Pfeilen. In Wirklichkeit ...« Eileen Foley sprang mit einem Quietschen auf. Vizqash schnellte mit einem lauten Fluch auf den Lippen vom Stuhl hoch und zog seinen Degen. »Diesmal für immer!« rief er und stürzte sich auf die zwei Erdenmenschen an der Tür. Barnevelt wurde von Panik erfaßt. Gegen den De gen nützte ihm sein Dolch wenig. Der nächste Sessel stand außer Reichweite. Wich er nach hinten aus, so würde er bloß mit George zusammenstoßen. Er konn te also weder davonlaufen, noch kämpfen. Nachdem er heute sein Leben unter so großer Anstrengung ge rettet hatte, sollte er es wegen eines trivialen Mangels an Vorsicht nun doch verlieren ... Die Degenspitze war nur einen knappen Meter ent fernt. Barnevelt zog den Dolch, als ein ohrenbetäu bender Pistolenschuß ertönte. Vizqash fiel der Degen aus der Hand und polterte auf den Boden. Er stand jetzt unbewaffnet da, rang die Hände und wirkte nur noch albern. Castanhoso erhob sich, in der Hand die Pistole, die er aus seiner Schreibtischschublade geholt hatte. »Keine Bewegung, amigo«, sagte er. Plötzlich wimmelte es auf dem Gang draußen von
Leuten, männlichen und weiblichen, menschlichen und Krishni, in Uniform und Zivil, und alle redeten durcheinander. Vizqash nahm die Haltung eines ge kränkten Edelmannes an. »Mein lieber Castanhoso«, sagte er, »weisen Sie Ih re Leute an, mich mit dem geziemenden Respekt zu behandeln! Schließlich bin ich, der ich bin – ich bin nicht irgendwer!« »Genau«, schnarrte Castanhosos. »Sperrt ihn ein!« Der lange Tag auf Krishna war zu Ende gegangen, als man Barnevelt und Tangaloa schließlich wegschickte. Castanhoso sagte: »Sie müssen sich anziehen und es sen! Ich muß mir die Gefangenen vorknöpfen. Treffen wir uns in der Nova Iorque?« »Fein«, sagte Tangaloa. »Ich könnte was Ordentli ches vertragen. Aus dem Picknickkorb haben wir nichts bekommen ...« Zweieinhalb Stunden später saßen die Abenteurer wieder in irdischem Habitus und durch ein sehr aus giebiges Essen gestärkt in der Bar. Barnevelt hatte nach dem gefährlichen Erlebnis eine verspätete Angstreaktion erlitten und war nahe dran gewesen, die Expedition und das damit verbundene Ziel auf zugeben. Doch Tangaloa hatte während des Essens beruhigend auf ihn eingewirkt und ihm keine Gele genheit gegeben, selbst etwas zu äußern. Jetzt war
das Gefühl der Niedergeschlagenheit vergangen. Sie sahen Castanhoso eintreten und auf ihre Nische zu kommen. »Sie ist zusammengebrochen«, frohlockte der Brasi lianer. »Hoffentlich sind Sie mit der armen kleinen Frau nicht zu brutal umgesprungen«, sagte Tangaloa. »Nein, nein – nur ein scharfes Verhör unter dem Metapolygraf. Sie weiß nicht einmal genau, wer die ser Vizqash ist – falls das sein richtiger Name ist, was ich sehr bezweifle – sie glaubt aber, er gehört zum Janru-Ring. Heutzutage verdächtigt jeder jeden des Janru-Schmuggels.« Barnevelt brummte zustimmend, während er sich eine Krishna-Zigarre anzündete. Er war immer Ziga retten- und Pfeifenraucher gewesen und mußte sich jetzt auf Zigarren einstellen. »Warum hat Miss Foley mitgemacht?« fragte Tan galoa. »Eine merkwürdige Geschichte«, sagte Castanho sos und betrachtete peinlich berührt seine Fingernä gel. »Es scheint, daß sie – hm – verliebt war – in mich! Denken Sie sich, ausgerechnet in mich, obwohl sie je de Menge Verehrer hatte und genau wußte, daß ich verheiratet bin.« »Und Sie haben ihre Liebe verschmäht?« fragte Barnevelt grinsend.
»Das ist keineswegs komisch, werter Herr. Dieser Vizqash hatte ihr eine Flasche Parfüm, versetzt mit Janru, versprochen, das sie bei mir anwenden wollte. Als Gegenleistung sollte sie beim Picknick mitma chen. Sie sollte, nachdem man Sie beide erledigt hätte, nach Novorecife zurückkehren und seine Geschichte über den Avval und Ihr unrühmliches Ende im Fluß bekräftigen.« »Was ist denn das?« fragte Barnevelt. »Ein großes, schlangenartiges Tier, das im Wasser lebt. Man könnte es einen riesigen gepanzerten Aal oder ein beinloses Krokodil nennen. Im Pichide hat so ein Vieh sein Unwesen getrieben. Erst vergangene Woche hat es eine Frau aus Qou verschlungen.« »Huch! Wir sind also in bester Gesellschaft ge schwommen.« »Ja! Ich hätte Sie warnen sollen. Nachdem Vizqash Ihnen seine Leute nachgehetzt hatte – ich nehme an, er hat ihnen vom Avval nichts gesagt –, sind Sie so weit hinausgeschwommen, daß man Sie vom Ufer aus nicht mehr sehen konnte. Die Schurken haben kehrtgemacht und ihrem Anführer gesagt, daß zwei der eigenen Leute und Sie beide verschwunden wä ren. Ich nehme an, die haben deshalb gelogen, weil sie fürchteten, Vizqash würde über ihre Feigheit wü tend sein und mit der Belohnung zurückhalten. Hät ten sie ihm nämlich die Wahrheit gesagt, dann wäre
er und Miss Foley nicht nach Novorecife zurückgeru dert und hätten mir nicht die Geschichte mit dem Avval aufgetischt.« »Was wird man mit dem armen kleinen Ding ma chen?« fragte Tangaloa. Barnevelt meinte: »George, ich finde dein senti mentales Mitgefühl mit dieser jungen Lady Macbeth ermüdend.« »Dirk, dafür fehlt dir das Organ. Was wird man mit ihr machen?« Castanhoso zuckte die Achseln. »Das liegt bei Rich ter Keshavachandra. Inzwischen müssen sie sich die verlorene Ausrüstung wieder beschaffen und sich nach einer anderen Sprachlehrerin umsehen.« Sie legten die Einzelheiten ihrer Fahrt nach Qirib fest: mit dem Boot flußabwärts nach Majbur, per Bahn nach Jazmurian und mit der Postkutsche ins sa genhafte Ghulinde. »Und das alles mit dem verdammten Papagei, in dessen Nähe ich Schnupfen kriege«, sagte Barnevelt. »Und dann müssen wir uns die Gischt gefahrvoller Meere ins Gesicht blasen lassen.« »Na ja«, sagte Castanhoso, »Sie dürfen eben nicht schwimmen gehen, ehe Sie nicht wissen, wer mit Ih nen im Wasser ist. Trinken wir auf Ihren Erfolg!« »Übrigens«, sagte Barnevelt, »was sagt Vizqash?« »Das weiß ich noch nicht. Es wird bei ihm viel
schwieriger sein, weil der Metapolygraf bei Krishni nicht wirkt.« Der Brasilianer sah auf die Uhr. »Ich muß zurück und diesen Schuft verhören ... Ja, was gibt es?« Ein Mann in der Uniform der Sicherheitstruppe war eingetreten und flüsterte Castanhoso eine Nach richt ins Ohr. »Tamates!« rief Castanhoso, sprang auf und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Dieser Teufel ist aus der Zelle entsprungen! Ich bin ruiniert!« Und eilends lief er aus der Nova Iorque Bar.
6
Wieder glitt der dunkelgrüne Schilfwall des Sumpf gebietes von Koloft an Dirk Barnevelt und George Tangaloa vorüber. Diesmal ruhten sie am Bug einer Flußbarke, der Chaldir, die dank der Strömung und eines dreieckigen Segels, das an einem kurzen Mast am Bug befestigt war, den Pichide-Fluß hinunterglitt. Der vorherrschende Westwind trug ihren Zigarrenrauch flußabwärts. Weniger angenehm war ihnen der Geruch der grünen Haut der an Bord befindlichen Krishni und des Gespanns sechsbeiniger Shaihans, die das Boot auf dem Rückweg flußabwärts ziehen sollten. Um den Gestank zu töten, mußten sie kettenrauchen. Jetzt kam der Landesteg in Sicht, an dem sie die Woche vorher bei dem unter einem bösen Stern ste henden Picknick angelegt hatten, dann die Ruine, die für sich behalten hatte, was immer sie an Geheimnis sen bergen mochte. Und dann kam Qou – klein und schmutzig – am Südufer in Sicht und entglitt wieder ihren Blicken. »Zft! Chuvoi zu!« kreischte Philo, der Papagei, in seinem Käfig. Barnevelt sagte: »Es erstaunt mich immer noch, wie menschlich diese Krishni sind.«
Tangaloa hatte sich erweichen lassen, sich eine Streitkeule von einem halben Meter Länge, mit festem Holzgriff und Eisenspitze anzuschaffen. Mit der Keu le am Gürtel saß er nun da wie ein großer Bronze buddha, den Rücken gegen ihren Reisesack gelehnt, und sah in die Runde, braunäugig, mit mongolischen Zügen, als Krishni echter wirkend als er selbst, dachte Dirk bei sich. Als Zeichen, daß nun ein Vortrag zu erwarten war, räusperte sich Tangaloa und begann: »Man hat be stimmte Normen festgelegt, Dirk. Eine zivilisierte Gat tung muß bestimmte körperliche Charakteristika auf weisen: Augen zum Sehen und wenigstens einen Arm oder Fühler. Man darf weder zu groß, noch zu klein sein. Na, und mit den geistigen Eigenschaften ist es ähnlich. Intelligenz allein reicht nicht. Wenn die Gat tung in ihrem geistigen Gefüge zu gleichförmig ist, wird sie nie zu jener Arbeitsteilung gelangen, die zur Erreichung einer hohen Kultur notwendig ist – wenn sie jedoch wieder zu verschieden sind, dann werden die Intelligenten alle übrigen tyrannisieren, und das Ergebnis ist wiederum eine statische Gesellschafts form. Sind sie zu unberechenbar oder unausgeglichen, werden sie zur Zusammenarbeit unfähig sein – sind sie zu konform, dann können sie keine schizoiden Typen wie dich hervorbringen, die neue Ideen ausbrüten.« »Danke für das verhüllte Kompliment«, sagte Bar
nevelt. »Wenn ich wieder das Walten des Genies in mir fühle, werde ich es dich wissen lassen.« »Doch auch so«, fuhr Tangaloa fort, »herrschen große Unterschiede zwischen den Außerirdischen, wie zum Beispiel diesen Wesen auf Sirius neun, mit ihrer ameisenvolkähnlichen Wirtschaftsform. Zufällig sind die Krishni unter allen intelligenten Arten die humanoidesten ...« »Har 'imma! Har 'imma!« schrie Philo. »Wenn es wirklich das heißt, was ich vermute«, sagte Barnevelt, »dann muß Königin Alvandi schon sehr großzügig sein, um das zu tolerieren.« »Vielleicht versteht sie ihn gar nicht. Der QiriboDialekt unterscheidet sich beträchtlich vom StandardGozashtandou, wie du weißt.« Barnevelt machte dem Vortrag ein Ende. Er ging zu den Shainans, mit denen er dicke Freundschaft ge schlossen hatte, und kraulte ihre zottigen Schädel. Nachts gingen sie in seichtem Wasser vor Anker, da es hier keine Siedlungen gab. Roqir versank in der polychromen Pracht eines Sonnenunterganges auf Krishna hinter dem flachen Horizont. Die Frau des Kapitäns bereitete das Abendbrot zu. Übers Wasser kamen die nächtlichen Geräusche der Kleintiere, die im Schilf hausten, und die Bootsbesatzung stellte ihre kleinen Altäre auf und betete zu den zahlreichen Göt tern, ehe sie sich zur Ruhe begab.
So vergingen die Tage, während sie den Windun gen des Pichide durch die Ebene von Gozashtand, auf seinem trägen Weg zur Sadabao-See folgten. Sie stell ten Überlegungen an, wie sie sich Gorbovast in Maj bur und Königin Alvandi in Ghulinde nähern und welche Mittel sie anwenden sollten, um den Fährnis sen des Sunqar zu begegnen. Dirk Barnevelt holte sich einen Sonnenbrand auf der Nase, erwarb Ge schick im Umgang mit dem Degen und im Gebrauch der neuen Sprachen, dazu ein gewisses Selbstvertrau en, das er auf der Erde nie gekannt hatte. Schließlich wurde der Fluß so breit, daß die Häuser an den Ufern wie Streichholzschachteln aussahen und die Menschen wie Ameisen. Die Chaldir segelte an den Villen der Reichen von Majbur vorüber, deren Nachwuchs auf dem Rasen Huckepack-Polo spielte oder sich gegenseitig unter Quietschen und lautem Gelächter ins Wasser stieß. Hier herrschte dichter Verkehr auf dem Wasser: ankernde Ruderboote mit Anglern, eine Flußbarke, gleich ihrer eigenen, die über den Fluß trieb, um die Besatzung am Zugpfad des Nordufers abzusetzen. Da die tonnenförmige Chaldir schwer zu manövrie ren war, mußte sich der Kapitän seinen Weg mit lau ten Gongschlägen bahnen, wenn sie sich einem ande ren Boot näherten. Fast wäre es zu einem Zusammen stoß mit einem Bauholzfloß gekommen, das noch
schwerfälliger war und langsam in ihre Bahn trieb, bis die Flößer und die Besatzung der Chaldir sich ein ander mit langen Stangen vom Leibe halten mußten. Dabei wurden heftige Beschimpfungen ausgetauscht. Die zwei Erdenmenschen hatten eigentlich erwartet, daß die Besatzungen gleich mit Messern übereinan der herfallen würden. Die im Heck untergebrachten Shainans machten ih rem Unbehagen mit lautem Geheul Luft. Als die Bar ke aber um das Floß herummanövriert worden war, ging alles in bester Freundschaft aus. Die Villen wichen Vororten, die Vororte der Innen stadt. Sie wies weder den Reichtum an Zwiebeltür men auf wie Hershid, noch den düsteren grauen Fe stungscharakter von Mishe, sondern zeigte ganz ei genen Stil. Majbur war eine Stadt der vielfältigen, anmutigen, phantastisch geschmückten Bogen und Wölbungen, der vier- und fünfgeschossigen Häuser und des brodelnden Verkehrs, dem jeder Zeitbegriff zu fehlen schien. Am Ufer entlang wurden Kai- und Pieranlagen sichtbar, an denen viele Barken, gleich der ihren, fest gemacht hatten. Dahinter sah Barnevelt den Wald von Masten und Spieren der Tiefgang-Schiffe. Der Herr der Chaldir erspähte einen freien Anlegeplatz und manövrierte sein Schiff ans Ufer, während zwei Mann der Besatzung mit langen Rudern der Strö
mung entgegenarbeiteten. Ein Fischerboot, dessen Segel nach allen Seiten wehten, wie Wäsche auf ei nem Hinterhof am Montag, hatte denselben Anlege platz angesteuert und versuchte die Barke abzudrän gen, doch es war nicht schnell genug. Philo, der Pa pagei, bereicherte die gegenseitigen Beschimpfungen der beiden Schiffsbesatzungen durch eingestreute, selten gehörte Injurien. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Barke schließlich festmachte. Barnevelt und Tangaloa nah men Abschied vom Schiffseigner und seinen Leuten und gingen an Land. Sie wollten sich auf die Suche nach dem Amtsgebäude von Gorbovast machen. Bar nevelt verspürte dabei jenes Kribbeln in der Magen gegend, wie immer, wenn ihm eine Begegnung mit einem Fremden bevorstand und er sich mit ihm erst bekannt machen mußte. Diese Sorgen hätte er sich sparen können. Gorbovast empfing sie dank Castanhosos Schreiben mit wortrei cher Liebenswürdigkeit und öligen Floskeln. Dieser aalglatte Krishni-Gentleman hatte lange Zeit nichts von dem Sprichwort von der Schwierigkeit, zwei Herren zu dienen, gehalten. Während er als Bevollmächtigter Kö nig Eqrars von Gozashtand in Majbur arbeitete, hatte er jahrelang sein Einkommen dadurch aufgebessert, daß er Informationen an die Interplanetarische Sicherheits truppe in Novorecife weitergegeben hatte.
»Der Snyol von Pleshch? Auf Gvam-Jagd im Sun qar?« fragte er. Dabei sprach er Barnevelts NyamiNamen wie Esnyol aus, wie alle Krishni, deren Mutter sprache Gozashtandu war. »Nun ja, wer wagt, der ge winnt – wie man so schön sagt. Sie wissen ja, die BanjaoSee hat sich zum Schlupfwinkel ruchloser, blutiger Pi raten entwickelt. Und es besteht keine Aussicht, sie auszurotten, weil Dur in seiner Überheblichkeit sie mit Tributzahlungen unterstützt, damit sie den Handel kleinerer Mächte wie Majbur und Zamba stören. Über dies wird gerüchteweise verlautet, daß die Spitzbuben hinter dem Janru-Handel stecken, was jeden freien Mann Nacht für Nacht zittern läßt.« Barnevelt berichtete einiges über die Entlarvung von Vizqash in Novorecife. »Ach«, sagte Gorbovast, »haben die Schurken auch dort Kontaktleute? Na ja, könnte nicht schaden, dem Chefsyndikus einen Wink zu geben, denn das männ liche Volk von Majbur schwebt in Todesangst, daß das Zeug hier verbreitet wird und ihre Frauen die Oberhand gewinnen. Obgleich wir nicht so anfällig dafür sind wie die albernen Erdenmenschen, die ein winziger Hauch zu servilen Drohnen macht, könnte durch dieses heimtückische Mittel große Unruhe ge stiftet werden. Und was den Brief an die Douri von Qirib betrifft, so bekommen Sie ihn sofort. Beeilen Sie sich, ihn abzuliefern.«
»Warum? Liegt die alte Menschenfresserin schon im Sterben?« »Nein, aber in den Schenken munkelt man, daß sie zugunsten ihrer Tochter Zei abdanken will, sobald der gegenwärtige Prinzgemahl der barbarischen und blutigen Sitte gemäß enthauptet ist.« Barnevelt zog die Brauen hoch, und seine ange klebten Fühler hoben sich dabei mit. Qirib unter einer jungen und neu inthronisierten Königin klang attrak tiver, als unter einer hartgesottenen alten Tartarin wie Alvandi. »Das wußte ich nicht. Vielleicht könnten Sie uns zwei Empfehlungsschreiben mitgeben, Herr Gor bovast – für jede Dame eines?« »Genau. Und seien Sie auf der Hut inmitten dieser herrischen Damen, denn man sagt, daß sie sich ihre Männer mittels derselben Droge gefügig machen ...« Dann sagte er ihnen noch, was sie über Fahrkarten und den Fahrplan wissen mußten. Er schloß: »Da das Glas zeigt, daß sich das Himmelsrad noch nicht zum Meridian gedreht hat, bleibt Ihnen Zeit, unsere Stadt, dieses Juwel, zu besichtigen, ehe der Expreß nach Sü den fährt.« So begannen sie mit der Besichtigung, schlenderten am Wasser entlang, um die Schiffe zu fotografieren – einfache Kähne, verglichen mit den irdischen Schif fen, doch auf ihre Art ebenso eindrucksvoll. Da lagen hochbordige Vierkantmaster aus Dur in der Va'an
dao-See, Lateinsegler aus Sotaspe und anderen Häfen der Sadabao-See und sogar ein Katamaran mit halb mondförmigen Segeln aus Malayer, weit im Süden. Lange, flache Kriegsgaleeren, der Stolz der Marine Majburs, die fünfriemige Junsar, mit ihrer Reihe Fünf Mann-Ruder an den Seiten, dem hohen, vergoldeten Heck und der gezackten Ram, die weit über die Ufer linie ragte. Sie wappneten sich gegen die Gerüche des Fisch markts und genehmigten sich eine Kleinigkeit zu es sen an einer der Marktbuden. Barnevelt bedauerte seine Neugier sehr bald, denn das, was man ihm in einer Suppenterrine vorsetzte – ein Meerestier, ähnlich einer großen Schnecke mit Fühlern – hatte die seltsame Eigenschaft, noch lange nach dem Kochen lebendig zu bleiben und sich zu krümmen. Widerwillig würgte er ein paar Bissen hinunter, ehe sein Inneres revoltierte und er das Ex periment abbrechen mußte. »Diese verweichlichten Abendländer«, kicherte Tangaloa, der seine Seeschnecke völlig verspeist hatte und sich nun sogar den Mund abwischte. »Verdammt«, knurrte Barnevelt und nahm den Kampf wieder auf, bis auch er den seltsamen Orga nismus verzehrt hatte. Dann statteten sie dem städtischen Zoo einen Be such ab. Barnevelt, der an sein unfreiwilliges Bad im
Pichide dachte, verkniff das Gesicht beim Anblick ei nes halbausgewachsenen Avval in einem Becken. Doch dann wäre er am liebsten den ganzen Nachmit tag geblieben und hätte die Käfige besichtigt, bis so gar Tangaloa, der es nie eilig hatte, ihn an den Zug er innern und wegschleppen mußte. Im Park stießen sie auf die Freiluftdarbietung einer Tanzgruppe aus dem Tempel des Dashmok, des Handelsgottes der Freistadt. Ein Priester ließ den Hut kreisen – oder vielmehr einen kürbisähnlichen Behäl ter. Während er den hüpfenden nackten Mädchen zu sah, fühlte Barnevelt, wie er vor Verlegenheit errötete. Im heimatlichen Chautauqua hatte es dergleichen nicht gegeben. Tangaloa bemerkte trocken: »Du siehst also, Dirk, daß sich verschiedene Kulturen darin unterscheiden, welche Körperteile bedeckt werden. Nur wenige Kul turen huldigen diesem grausamen Nacktheits-Tabu wie ihr Abendländer, einem Verbot, das sich aus der alten syrischen Zivilisation stammend über das Ju dentum und seinem Ableger, das Christentum, breit gemacht hat ...« Ein Regenschauer setzte dem Tanz ein Ende und zerstreute das Publikum. Die Erdenmenschen mach ten sich auf den Weg zum Bahnhof. Dort mußten sie die Entdeckung machen, daß der Zug noch nicht zu sammengestellt war und frühestens eine Stunde,
Krishni-Zeit, nach der fahrplanmäßigen Abfahrt los fahren würde. Da man ihnen keine genaueren Aus künfte geben konnte, blieb ihnen nichts übrig, als da zusitzen und sich die Wartezeit mit Rauchen zu ver treiben. Da schlenderte ein Mann in hellblauem Gewand, mit einem leichten und reich mit Ornamenten ver zierten Silberhelm, an dessen Seiten zwei silberne Aqebatschwingen herausragten, vorüber. Er trug ei nen großen Sack über der Schulter und setzte sich ne ben die Erdenmenschen auf die Bank. Während Barnevelt kein Talent im Anknüpfen von Gesprächen mit Fremden hatte, befand sich der un genierte Tangaloa bald in einer lebhaften Unterhal tung mit dem Behelmten. »Dies«, sagte der Krishni und wies auf seinen Helm, »bedeutet, daß ich für die Mejrou Qurardena arbeite und Post zustelle. Grob übersetzt bedeutet der Name Sicherheits-Expreß-Gesellschaft. Das Motto un serer Gesellschaft lautet: Nicht Sturm, noch wildes Tier, noch Bösewicht hindern unsere Boten an der schnellen Erfüllung ihrer Pflichten.« »Ein schönes Motto«, sagte Barnevelt. »Ehrlich ge sagt, es kommt mir bekannt vor.« »Kein Zweifel – der Ruf unserer Gesellschaft reicht bis ins ferne Nyamadze«, sagte der Kurier. »Und ei nes Tages werden wir unsere Dienste auch auf diese
frostigen Gebiete ausdehnen. Oh, Ihr Herren, ich könnte Euch von den Taten unserer Boten berichten, daß Eure Fühler vor Entsetzen zu Berge stehen wür den. Beispielsweise als mein Freund Gehr ein Paket in das Herz des Sunqar zustellte und es dem Oberpira ten selbst übergab – dem schrecklichen Sheafase.« Barnevelt und Tangaloa beugten sich interessiert vor. Barnevelt sagte: »Was für ein Mensch ist dieser She... dieser Piratenkönig?« »Was das betrifft, weiß mein Freund Gehr nicht mehr als Ihr, denn Sheafase zeigt sich nur seinen Un tertanen. Doch da Gehr ohne Unterschrift des Emp fängers nicht gehen durfte, wurde es schließlich so eingerichtet, daß der Erzgauner seine Hand durch ei nen Spalt im Vorhang steckte und die Feder führte. Und daher konnte Gehr einen Blick erhaschen – oh, Ihr Herren, wie schrecklich war das! Keine menschli che Hand, sondern ein grauenvolles Gebilde aus Klauen und Schuppen, wie der Fuß des gräßlichen Pudamef, der die Gletscher Eurer Heimat bevölkert. Sheafase ist daher sicher kein Lebewesen unserer harmlosen Welt, sondern stammt von einem verderb ten und ungesunden Planeten in den Tiefen des Raumes – wie jener, der Erde heißt, die Heimat aller verdammenswerten Künste und Zaubereien ...« »Pun dessoi!« rief der Türsteher. Der Expreßbote erhob sich und schulterte seinen
Paketsack. Die verkleideten Erdenmenschen nahmen ihren Reisesack und den Vogelkäfig. Also war die Er de ein verdorbener und ungesunder Planet, dachte Barnevelt belustigt und gleichzeitig in seinen patrioti schen Gefühlen gekränkt. Der Zug bestand aus fünf kleinrädrigen Waggons: zwei Güterwaggons und drei Personenwaggons, die wie umgebaute Postkutschen aussahen. Das Gleis hatte eine Spurweite von einem Meter. Als Lokomo tive diente ein Bishtar, der mit einem Seil an den er sten Wagen angeschirrt war. Das Biest stand da und schwang seine zwei Rüssel, wedelte mit dem Schweif und drehte die trompetenförmigen Ohren. Der letzte Waggon wurde von einer lauten Familie besetzt, be stehend aus einem kleinen Mann, einer großen Frau, drei Sprößlingen und einem jener tragbaren Inkuba toren, in denen die Krishni ihre noch nicht ausgebrü teten Eier spazierentrugen. Um dem Geschwätz der Frau zu entgehen, bestiegen Barnevelt und Tangaloa den ersten Wagen. Als alle wartenden Passagiere eingestiegen waren, stieß der Mahout auf dem Nacken des Bishtars in eine kleine Trompete und spornte das Tier mit seinem Sta chelstock an. Die Kupplungen zwischen den Wagen klirrten, als sich das Seil straffte. Sie rumpelten über Weichen und rollten an einem von Bishtars gezoge nen Zug am Nebengleis vorbei, so nahe, daß Barne
velt mit ausgestreckter Hand eines der sechs säulen artigen Beine hätte berühren können, wäre er genü gend flink gewesen. Sie rollten aus dem Bahnhof, zwischen Gebäuden dahin, und gelangten schließlich auf eine der Haupt straßen Majburs, in deren Mitte zwei Gleise verliefen. Plötzlich begegneten sie einer Stadtbahn, die gerade an einer Kreuzung stehenblieb und Leute aussteigen ließ. Die Straße war von Krishni bevölkert, auf Rollern, auf kurzen sechsfüßigen Ayas, auf großen vierbeini gen Shomals oder in Kutschen. Ein Gespann von sechs Ayas zog ein großes, doppelstöckiges Vehikel, offenbar ein öffentlicher Omnibus. Auf einer der Hauptkreuzungen regelte ein amtlich wirkender, be helmter Krishni den Verkehr mit einem Degen, den er so lebhaft schwang, daß Barnevelt befürchtete, er würde den vorbeigehenden Fußgängern die Ohren abschneiden. Barnevelt zitierte: »Neues und Altes nebeneinan der, als wäre die Zeit ein Nichts.« Allmählich wurde der Verkehr schwächer. Das Gleis verließ die Straße und verlief wieder auf einem eigenen Bahnkörper. Eine Nebenlinie zweigte nach rechts, flußabwärts, ab. Die Stadt wich den Vororten, schließlich kamen statt der Häuser unbebaute Flä chen. Die zwei Gleise gingen in eines über, und sie
befanden sich jetzt auf offenem Land. Einmal hielt der Zug, Grenzposten der Republik Mikardand, Männer in maurisch aussehender Rüstung, kontrol lierten die Reisenden und gaben dann das Zeichen zur Weiterfahrt. Die Fahrt verlief ereignislos, bis auf eine kurze Pause in einem namenlosen Weiler, um das Bishtar zu tränken. Die Fahrgäste konnten einen Imbiß ein nehmen oder sich sonst erfrischen. Das älteste Kind der lauten Familie kuppelte den letzten Waggon ab, so daß der Wagen stehenblieb, als der Zug weiter fuhr, und die fette Frau lauter kreischte als Philo. Der Zug hielt an, und die männlichen Fahrgäste schoben den abgehängten Waggon, bis man ihn wieder an hängen konnte, während der Schaffner die ganze Zeit Qondyor, Dashmok und Bakh und sämtliche anderen Gottheiten anflehte, sie möchten den jungen Sünder gebührend und recht bald bestrafen. Der Expreßbote erklärte, warum er nur einen Paß, statt einer Fahrkarte vorgezeigt hatte. Die Mejrou Qu rardena hatte mit allen Verkehrsmitteln ein Abkom men getroffen: die Bahn beförderte die Kuriere auf Kredit und berechnete der Expreßgesellschaft Kilo metergeld.
7
Während der ersten Nacht wurde in Yantr haltge macht, wo ein Gegenzug auf einem Nebengleis stand. Die nächste Nacht verbrachten sie in einem anderen Dorf. Am Ende des dritten Tages erreichten sie Qa'la, von wo aus sie wieder die Wogen der Sadabao-See erblickten. Das Klima war hier viel milder. Die Leute waren in Kilts und bettuchartige Mäntel gehüllt. Am nächsten Morgen nahmen sie wieder ihre Plät ze im Zug ein. Da sagte eine tiefe Stimme: »Ist hier al les besetzt?« Ein großer, junger Krishni mit einem Fischgesicht, ähnlich gekleidet wie sie, war eingestiegen. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er den Reisesack der Er denmenschen von dem Sitz, auf dem er lag, und warf seinen Sack ins Netz über dem Sitz. Dann nahm er seinen Säbel, lehnte ihn in die Ecke und nahm gegen über den Erdenmenschen Platz. Ein weiterer Passagier, der auch mitwollte, steckte den Kopf in das Abteil, in dem Barnevelt saß. »Alles besetzt!« bellte der zuletzt Angekommene, obwohl noch ein Platz frei gewesen wäre. Der Fahr gast ging weiter. Verärgert wollte Barnevelt eben sagen: Heb den Sack gefälligst wieder auf! und seiner Aufforderung,
wenn nötig, handgreiflich Nachdruck verleihen, als Tangaloas wohlklingende Stimme ertönte: »Spielen mir meine Sinne einen Streich, oder ehrt uns die Ge genwart eines Mannes von Stand?« Barnevelt warf seinem Gefährten einen raschen Blick zu. Dessen rundes, braunes Gesicht zeigte nur freundliches Interesse. »Ein einfacher Garm«, erwiderte der Jüngling knapp, aber in weniger angriffslustigem Ton. »Sir Gavao-er-Gargan. Wer seid Ihr?« »Tagde von Vyutr«, sagte Tangaloa, »und das ist mein kühner Gefährte in vielen Gefahren. Er nennt sich Snyol von Pleshch.« »Der Snyol von Pleshch?« sagte Sir Gavao. »Ob wohl ich für Ausländer nichts übrig habe, muß ich sagen, daß die Nyagi einen guten Ruf haben. Sie sol len bloß seltener baden, als es einem Kulturvolk ge ziemt.« »In unserem Land ist's kalt, Sir«, sagte Tangaloa. »Ja, das könnte der Grund sein. Ich muß jetzt zehn Nächte unter diesen weibischen Qiribu verbringen, die sich von ihren Frauen beherrschen lassen. Ist das auch Euer Reiseziel?« Der Expreßbote sagte: »Sehr wohl.« Barnevelt wunderte sich über die Ausdrucksweise: der Snyol von Pleshch; er bildete sich ein, auch Gor bovast habe sich dieser Ausdrucksweise bedient. Als
Castanhoso Barnevelt einen Decknamen verpaßt hat te, hatte Barnevelt angenommen, es wäre der Name eines längst verblichenen Haudegens. Sollte der echte Snyol noch leben, dann konnten die Folgen – um es milde auszudrücken – sehr peinlich sein. »Wollt Ihr eine Zigarre?« fragte Barnevelt. »Woher kommt Ihr?« »Balhib«, antwortete Sir Gavao, zog an der angebo tenen Zigarre, musterte sie verächtlich und warf sie dann weg. Dann zog er ein edelsteinbesetztes Etui heraus, nahm eine seiner eigenen Zigarren und steck te das Etui wieder weg. Zähneknirschend zwang sich Barnevelt dazu, Georges unbeteiligte Haltung nach zuahmen. Tangaloa knurrte: »Aus Balhib? Wißt Ihr etwas von einer vom König angeordneten Vermessung des Kö nigreiches?« »Ich nicht.« »Wir haben eine faszinierende Geschichte über die ses Land gehört«, fuhr Tangaloa fort. »Sie handelt vom Bart des Königs.« »Ach, die!« Gavaos Gesicht verzog sich zu einem steifen Lächeln. »Tatsächlich ein sauberes Buben stück, was dieser Sir – wie hieß er doch gleich? – aus Mirkandad angestellt hat. Wäre diese Republik uns kräftemäßig nicht um das fünffache überlegen, hätte es damals einen heftigen Krieg zwischen uns gege
ben. Geschieht dem alten Kir ganz recht, weil er mit den dreckigen Ausländern so großzügig umgeht.« »Wie hat es Sir Shurgez geschafft, in die Nähe des Königs vorzudringen?« »Durch kunstvolle Maskierung. Er kam als Ex preßbote verkleidet – wie unser Freund hier – und behauptete, er hätte ein Paket, das er nur persönlich aushändigen dürfe. Seine Hoheit müsse eigenhändig unterschreiben.« »Das ist nichts Besonderes«, schaltete sich der Ex preßbote ein. »Das gehört zu unseren Vorschriften, um Schadenersatzklagen wegen Nicht-Zustellung von Paketen zu vermeiden.« »Wie dem auch sei«, fuhr Gavao fort, »als der Kö nig seinen Siegelring auf das Dokument drückte – denn er kann als echter Krieger weder lesen noch schreiben –, zog der Verkleidete eine Schere aus dem Paket, mit der er sein frevelhaftes Unterfangen aus führte. Er schnitt den Bart ab, und ehe ihm jemand entgegenzutreten vermochte, war der tollkühne Abenteurer vom Hof geflohen und auf seinem Aya davongaloppiert.« »Ein perverser und taktloser Scherz!« rief der Ex preßbote aus. »Meine Gesellschaft hat gegen diesen Shurgez gerichtliche Schritte wegen Mißbrauchs un serer Uniform angestrengt. Seit jeher hat unsere Uni form als Zeichen der Verläßlichkeit und Diskretion
gegolten. Boten der Mejrou Qurardena hatten Zutritt, wo kein anderer eindringen durfte. Wenn man aber solch einem Frevler gestattet, daß er unsere Uniform mißbraucht – was wird dann aus unserer Immuni tät?« »Sie wird dorthin verschwinden, wohin der Geist der Vogelscheuche im Ballett des Daghash ver schwunden ist«, sagte Gavao. »Nämlich ins Nichts des Nichts. Doch Ihr Herren, da Ihr in der Stimmung seid, auf Persönliches einzugehen – sagt mir, woher kommt Ihr, wohin reist Ihr und warum?« »Wir planen eine Gvam-Jagdexpedition«, sagte Barnevelt. »Ich nehme an, Euer Ausgangspunkt ist Malayer?« »Nein. Wir wollen uns in Ghulinde ausrüsten. Wir haben gehört, Malayer würde belagert.« »Die Stadt ist gefallen«, sagte Sir Gavao. »Wirklich?« »Ja. Es heißt, daß der Renegat Kugird die Stadt durch üble Tricks genommen hat – mittels einer schändlichen neuen Erfindung.« »Welche Erfindung?« »Das weiß ich nicht. Für mich sind das lauter Er findungen des Dupulan, die die gute alte Kriegskunst ruinieren. Ich sage immer, alle Erfinder sollte man so fort erschlagen. Ich glaube, es wäre eine äußerst ver dienstvolle Tat, eine geheime Gesellschaft zur Ver
hinderung von Erfindungen in der Kriegskunst zu gründen. Wenn wir keine Vorkehrungen treffen, wird es nicht mehr lange dauern und der Krieg wird so unheldisch und mechanisiert sein, wie unter den ver fluchten Erdenmenschen. Man sagt sogar, daß die ed le Kriegskunst dort so maschinenmäßig betrieben würde, daß die Terraner den Krieg überhaupt abge schafft und eine planetarische Regierung zur Über wachung dieses Kriegsverbotes eingesetzt haben. Kann man sich etwas Traurigeres vorstellen?« Der Expreßbote bemerkte: »Wir sollten die Erden menschen, die sich verkleidet unter uns einschlei chen, vernichten, ehe wir von ihren bösen Künsten hoffnungslos korrumpiert werden.« »Eine interessante Theorie«, konstatierte Barnevelt. »Ich glaube aber doch, daß wir lieber von Ghulinde aus aufbrechen, weil in Malayer nach der Belagerung und Übergabe ein Chaos herrschen dürfte.« Gavao lachte. »Ich wünsche Euch Jagdglück, doch lege ich keinen Wert auf Eure Beute, denn noch nie habe ich den Stein des Gvam zum Genuß der elemen taren Freuden des Lebens gebraucht. Ehe ich von Qa' la Abschied nahm ...« Und Gavao war bei jenem Thema angelangt, über das er wirklich etwas zu sagen hatte. Stundenlang er götzte er die Reisegefährten mit Erzählungen seiner Abenteuer, die ihn, falls sie wahr waren, als hervor
stechenden Schlafzimmerathleten des Planeten er scheinen ließen. Er erwies sich als eine Fundgrube an Informationen über die intimen Sitten und Eigenhei ten der weiblichen Gattung der verschiedenen Rassen und Nationen auf dem Planeten Krishna. Barnevelt stellte fest, daß er sich in der Gesellschaft eines Exper ten befand. Trotzdem ödete ihn das Thema nach kur zer Zeit an, er konnte aber nichts unternehmen, um dem Wust amouröser Erlebnisse Einhalt zu gebieten. Alles verlief glatt, als sie die Nacht wieder in einem Dorf verbrachten und am nächsten Tag entlang der Küste gegen Jazmurian rollten. Als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten, ka men sie wieder an eine Grenze – die Grenze zwischen Mikardand und Qirib. Der Zug hielt an, und Barne velt sah, daß die Posten auf der Seite nach Qirib hin Frauen waren – Frauen in operettenhafter Aufma chung: Faltenröckchen, Helme und Brustpanzer. Ei nige waren mit Schild und Speer ausgerüstet. »Im Wagen bleiben«, befahl ein stämmiges Weib im Qiribo-Dialekt – offenbar die Kommandierende. »Ach, Ihr da!« Sie wies auf Barnevelt und seine Ge fährten. »Hierher, Na'i! Verplombt die Degen dieser Herrn. Wir lassen männliche Wesen nicht bewaffnet in unser Land. Und Ihr mit der Keule ...« Sie stocherte mit einem Zweig in den Zähnen, während sie über
legte. »Die Keule werden wir mit einer Plombe an Eurem Gürtel befestigen. Wenn Ihr das häßliche Ding trotzdem benutzt, geschieht es auf Kosten Eurer Ho sen, was weder Eurem Können noch Eurer Würde dienlich ist.« »Das, Gnädigste, hängt davon ab, was Ihr unter Können versteht«, sagte Tangaloa. Die Amazone ent fernte sich kopfkratzend, während die anderen Män ner ihre Heiterkeit unterdrückten. Das Na'i genannte Mädchen kam mit einer Werk zeugkiste, umwand die in den Scheiden steckenden Degen in mehreren Windungen festen Eisendrahts, den sie auch durch den Handschutz zog. Die Drah tenden wurden sodann mit einem Bleisiegel ver plombt. Die Zöllnerin fügte streng hinzu: »Sollten diese Plomben entfernt werden, müßt Ihr unseren Behör den Rede und Antwort stehen. Und Eure Antwort muß schon sehr überzeugend sein, sonst ...« Sie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Und jetzt – in einer Reihe aufstellen! Ihr müßt Euren Wegezoll be zahlen!« Und dann ging es weiter nach Jazmurian. Kaum hatten sie die Grenzstation hinter sich, machte sich Sir Gavao an seiner Waffe zu schaffen. Zunächst zog er an dem Draht, bis er ihn gelockert hatte. Dann biß er ihn mit einer kleinen Zange durch. Einem kleinen Be
hälter entnahm er eine winzige Menge einer wachsar tigen Substanz, die er über den Drahtenden verrieb, bis man nur nach sehr sorgfältiger Untersuchung hät te feststellen können, daß daran manipuliert worden war. Mit gerissenem Lächeln sagte er: »Sollte es Ärger geben, brauche ich nur fest am Griff zu ziehen, der Draht gibt nach und heraus kommt meine schöne Ge liebte.« Auf ihre Bitten hin präparierte er ihre Waffen auf die gleiche Weise. »Wo werdet Ihr Wohnung nehmen?«, erkundigte sich Barnevelt bei Gavao. »In Angurs Herberge, gegenüber dem Bahnhof. Es ist die einzige Unterkunft, in der der Gestank nicht so arg ist, daß es einem den zweiten Magen umdreht.« Barnevelt wechselte mit Tangaloa einen Blick. Gor bovast hatte ebenfalls dieses Haus empfohlen, denn sie mußten die Nacht in der Stadt verbringen, ehe sie am Morgen die Post nach Ghulinde nehmen konnten.
8
Mit quietschenden Bremsen kam der Zug zum Ste hen. Als die Erdenmenschen ihr Gepäck zusammen gerafft hatten und ausgestiegen waren, rief jemand auf dem Bahnsteig neben dem Zug: »Bilder, meine Herren, Zauberbilder!« Es war ein schäbiger Alter mit Bartgestrüpp am Kinn und einem großen Kasten auf einem Dreifuß. »Bei den grünen Augen Hois«, sagte Barnevelt. »Sieh dir das mal an!« »Was zum Teufel ist das?« fragte Tangaloa. »Eine Kamera.« Barnevelt hatte den Apparat er kannt. Er glich den vor Jahrhunderten in den Pioniertagen der Fotografie auf der Erde gebräuchlichen Apparaten. Er konnte sich einen verstohlenen Blick auf die kleine Hayashi im Ring an seinem Finger nicht versagen. Eine beleibte Polizistin in Rot und Messing be schimpfte den Fotografen, weil er einer Verordnung zuwidergehandelt hatte, indem er auf dem Bahnsteig Geschäfte hatte machen wollen. Sie schloß: »... und jetzt troll dich, du alter Taugenichts! Danke der gött lichen Mutter auf den Knien, daß du die Nacht nicht in unserem feuchtesten Verlies zubringen mußt!« Barnevelt wollte ebenfalls weitergehen, als ihn ein
Ruf derselben Amtsperson aufhielt. »Stillgestanden, Ihr dort! Ich sehe, daß Ihr hier fremd seid und daher nichts wißt – aber Unwissenheit schützt nicht vor Strafe. Wisset denn, daß wir es in Qirib sehr übel nehmen, wenn die falsche Göttin Hoi angerufen wird. Das wird als ungebührliches Benehmen eingestuft und mit empfindlicher Strafe belegt. Laßt Eure Waf fen sehen!« Sie untersuchte die Plomben an Barnevelts Schwert und Tangaloas Keule. Barnevelt schlug das Herz bis zum Hals. Er war überzeugt, sie würde die Stelle ent decken, an der Gavao den Draht zerschnitten und gespleißt hatte. Infolge oberflächlicher Eile oder we gen des schwindenden Lichts der untergehenden Sonne sah sie es nicht und entließ die Männer mit der letzten Mahnung: »Geht Euren ehrlichen Geschäften nach, Fremde, aber hütet Euch vor falschen Schrit ten!« Angurs Herberge sah man schon vom Bahnhof aus. Über dem Eingang war der Schädel eines raffzähni gen Fleischfressers angebracht, der als Zunftzeichen dort hing. Es war ein zweistöckiges Haus. Ein Bogen gang stützte den vorspringenden ersten Stock. Das gesamte Erdgeschoß wurde – bis auf den Eingang und einen Büroraum – auf einer Seite von einem Gastzimmer eingenommen. Die Reisenden drängelten sich durch eine Schar
Leute, die einem Zauberer zusah. Eben zauberte er aus seinem Hut ein Unhababy. Sie traten durch einen Seiteneingang ein. Ein Schlag auf den kleinen Gong, der am Fenster eines Kassenschalters hing – und ein flaches Krishni gesicht sah heraus, ein Gesicht, dem ein Paar unge wöhnlich langer Fühler das Aussehen eines Käfers verlieh. »Angur bad-Ehhen zu Euren Diensten«, sagte das Gesicht. »Baghan!« schrie Philo aus seinem Käfig. »Nun – ich muß schon bitten, meine Herren ...« »Das waren nicht wir«, sagte Barnevelt hastig und stürzte sich vor Verlegenheit in eine typische schwul stige Krishni-Rede: »Es ist dieses verwünschte Tier aus fernen Landen, dessen tierische Gewohnheit es ist, Worte menschlicher Zunge herauszuschreien, de ren Bedeutung er eben so wenig kennt, wie Ihr oder ich die innersten Geheimnisse der Götter. Faßt es da her nicht als Beleidigung auf. Möge Euer Glücksstern immer im Steigen begriffen sein. Wisset, ich bin Snyol von Pleshch, ein bescheidener Reisender, und dies ist mein Gefährte, Tagde von Vyutr.« Er brach ab, leicht außer Atem gekommen, aber stolz über die Vorstellung, die er geboten hatte. Während sie die Zimmerangelegenheit regelten, reckte Angur den Hals durch die Öffnung, um einen
Blick auf den irdischen Papagei werfen zu können. »Ehrlich gesagt, meine Herren, noch nie habe ich ein Wesen, gehüllt in ein Fell von so abnormer Art, gese hen. Woher kommt es?« »Von den höchsten Höhen Nyamadzes«, erwiderte Barnevelt, der merkte, daß Federn auf diesem Plane ten unbekannt waren. Er hoffte, daß es in seiner an geblichen Heimat tatsächlich Berge gab, von denen Philo stammen konnte. »Garrrk!« sagte Philo und breitete leicht die Schwingen aus. »Er fliegt!« rief Angur. »Und ist doch kein Aqebat oder Bijar oder ein anderes fliegendes Tier bekannter Form. Das wäre eine seltene Attraktion für meine Herberge; wenn man Euch überreden könnte, Euch von dem Tier zu trennen?« Er streckte einen Finger aus und zog ihn hastig zu rück, als Philo mit offenem Schnabel danach hackte. »Nein«, sagte Barnevelt. »Es tut mir leid, daß wir Euch nicht zu Gefallen sein können, denn als wir – äh – das Tier kauften, hat uns ein großer Astrologe ge sagt, unser Schicksal wäre mit dem des Vogels ver knüpft, und Unglück bringe der Tag, an dem wir uns trennten.« »Das ist aber schade«, sagte Angur, »doch ist es klar wie die Gipfel des Darya, daß Ihr für Euren Ent schluß gute Gründe habt, wie die Waldhexe zu Qarar
in der Geschichte sagt. Hier ist Euer Zimmerschlüssel. Ihr müßt das Zimmer mit einem anderen Gast – er heißt Sishen – teilen. Oder anderswo schlafen. Doch das sollte Euch nicht stören, denn er stammt nicht von dieser Welt und benutzt kein Bett. Ehe Ihr Euer Fasten brecht – wünscht Ihr Gesellschaft, die Euch tröstet?« »Nein, danke«, sagte Barnevelt. »Aber wir haben hier lizensierte ...« »Vielen Dank«, sagte Barnevelt und lief die Treppe hinauf. Entschuldigend meinte Tangaloa: »Ihr seht, Meister Angur, der Verdacht liegt nahe, daß mein Freund ein einsames Leben vorzieht.« Dann folgte er Barnevelt und sagte: »Bist aber gut umgesprungen mit dem Kerl. Möchte wissen, wer der Bursche ist, den er uns ins Zimmer gesteckt hat?« »Er hat gesagt, nicht von dieser Welt. Das klingt ja nach einem Gespenst!« »Dann paßt Ihr beide glänzend zusammen. Bist du sicher, daß es ein Er ist? Die Personalpronomina sind hier nicht immer ein Hinweis auf das Geschlecht.« »Nein – aber wir werden ja sehen. Wie funktionie ren bloß diese Öllampen?« Als die Lampe endlich brannte, sahen sie sich nach Hinweisen auf die Beschaffenheit ihres Zimmerge nossen um. In einer Ecke lag ein kleiner Sack mit per
sönlichem Kram. Auf einem Fensterbrett standen drei kleine Tiegel, verschlossen, und ein offener, mit her ausragenden Stielen. Barnevelt entdeckte, daß es sich um die Stiele kleiner Farbpinsel handelte. Er wechselte Blicke mit Tangaloa und zuckte die Achseln. Sie verstauten ihre Ausrüstung, wuschen sich und brachten ihre Verkleidung in Ordnung. Während er sich im Spiegel begutachtete, sah Barne velt über seiner Schulter etwas Weißes an der Tür. Es war eine Bekanntmachung. Nachdem sie sich mit den Schnörkeln des Gozashtandou abgemüht hatten, glückte ihnen gemeinsam die Übersetzung: Achtung! Liebesriten dürfen nur unter Beachtung der Re geln des Obersten Rates des Kultes der Göttin Varzai vollzogen werden, welche da sind: Vorab ein Kurzgebet zur Göttinmutter, gefolgt von der kleinen rituellen Zeremonie. Ein Liebesgabenop fer in der Höhe eines Quiribo-Kards ist beim Hausherrn zu hinterlegen. Befehl der Sehri babGiraj, Hohepriesterin. »Potz!« sagte Tangaloa. »Noch nie habe ich gehört, daß man auch darauf Steuern erhebt!« Barnevelt grin ste. »Gut, daß wir Angur einen Korb gegeben haben.«
»Eine bigotte Bande von Henotheisten, diese Qiri buma. Möchte wissen, wie der Steuereintreiber die Einhaltung kontrolliert.« »Wahrscheinlich ein Gebot, das öfter übertreten als befolgt wird«, sagte Barnevelt. Aus der Taverne drangen seltsame Klänge herauf. Ein Orchester, bestehend aus vier Krishni – zwei Männer mit Pfeifeninstrumenten, ein Trommler und ein Mädchen mit einem harfenähnlichen Instrument – tobten sich aus, während in der schwach erhellten Mitte des Raumes eine junge Krishni einen Tanz dar bot, in dessen Verlauf sie sich in einen endlosen Schleier wickelte, wie eine Raupe, die sich in den Ko kon einspinnt. »Die macht wohl Strip verkehrt«, meinte Tangaloa. »Wir hätten schon früher kommen sollen.« Barnevelt entgegnete: »Ehrlich gesagt hätte ich ei nen männlichen Qiribu erwartet, der sich vor diesen Amazonen auszieht.« In dem nach Krishni, namenlosen Drogen und Ge tränken riechenden Raum verliefen an der Wand ent lang Bänke. Einige Gäste waren schon mit den klei nen Eß-Spießen an der Arbeit. Eine gemischte Gesell schaft, dachte Barnevelt bei sich, aber vorwiegend bürgerlich. Nur ein maskiertes Paar in der Ecke trug aristokratische Seidengewänder. Der hiesigen Sitte gemäß gaben die Erdenmen
schen ihre Bestellung dem Koch persönlich auf, wäh rend dieser vor aller Augen schwitzend seiner Arbeit nachging. Dann setzten sie sich auf einen leeren Platz. Die Bedienung brachte ihnen ihren Kvad. Sie saßen da und schlürften, während sich das Mädchen mit dem Schleier weiterdrehte. Dann hatte das Mädchen den Tanz beendet. Als das Publikum mit den Daumengelenken krachte – die landesübliche Art zu applaudieren –, kamen weitere Gäste. Und ihnen auf den Fersen einer, der kaum hierher paßte. Ein dinosaurierähnliches Wesen, einen Kopf über Menschengröße, auf Vogelbeinen gehend, dazu ein Schweif, so lang wie der ganze Leib, offen bar, um das Gleichgewicht zu halten. Statt Kleidern trug der Neuankömmling auf seinen Schuppen ein kompliziertes Muster ineinander verfließender aufgemalter Streifen. »Ein Osirer!« sagte Barnevelt. »Nach den Kehllap pen zu schließen, männlichen Geschlechts. Lieber Gott, hätte nicht gedacht, einem dieser Sorte hier zu begegnen.« Tangaloa zuckte die Achseln. »Auf der Erde gibt es auch einige. Sie sind nicht übel, obwohl sie zur Exal tiertheit neigen: sie sind sehr impulsiv und leicht er regbar.« »Ich habe schon welche gesehen, aber noch keinen kennengelernt. Einmal habe ich ein Mädchen, das vor
Schlangen Todesängste ausstand, ins Theater geführt. Und als die Lichter angingen, saß ein Osirer neben ihr, und sie fiel glatt in Ohnmacht.« »Die Osirer sind harmlos«, sagte Tangaloa. »Wenn man aber mit einem in Streit gerät, darf man nicht zu lassen, daß er einem in die Augen sieht – sonst hat er einen unter Pseudohypnose, ehe man noch Thalamus sagen kann. Falls man nicht eine silberne Schädelschale auf der Kopfhaut trägt.« »Sag mal, George, glaubst du, daß das unser Zim mergenosse ist?« Barnevelt suchte den Blick des Kell ners und winkte ihm zu. Der Kellner kam und murmelte: »Ich sehe, daß Ihr Nyamen seid, meine Herren – vielleicht möchtet Ihr eine Kohlenpfanne voll Nyomnige? Wir haben für diese Zwecke einen abgeschlossenen Alkoven ...« »Nein, danke«, sagte Barnevelt, der keine Ahnung hatte, zu welchem unbekannten Laster der Kellner ihn verleiten wollte. »Wer ist der Bursche mit dem Schweif?« »Das ist Sishen; er wohnt hier. Großzügig mit Trinkgeld, trotz seines gräßlichen Aussehens.« »Na, hoffen wir, daß er zu einer ehrlichen Gattung gehört. Wann bekommen wir unser Essen?« Der Osirer war ein Beweis dafür, daß die Kluft zwischen intelligenten Wesen mit Schweif und sol chen ohne nicht leicht zu überbrücken war. Nachdem
er seine Bestellung mit pfeifendem Akzent, den der Koch kaum verstehen konnte, aufgegeben hatte, ließ er sich in einer Ecke nieder und sah zur Wand. Sein Schweif ragte auf dem Boden weit in den Raum hin ein. Wenn jemand vorbeiging, sah der Kerl nervös auf. Der Kellner brachte ihm seinen Drink in einem Spezialgefäß, das einer großen Ölkanne glich. Barnevelt, der in eine andere Richtung sah, meinte: »Na, wenn sich Gespenster hier herumtreiben sollen, dann scheint dieser dort dazu zu gehören. Wir zu mindest werden von ihm heimgesucht.« Er meinte den bärtigen Alten mit dem Kameraka sten. Dieser hatte mit dem Maskierten gesprochen und kam nun zu den Erdenmenschen: »Bilder, edle Herren? Zauberbilder?« »Geben wir dem alten Vogel eine Chance«, meinte Tangaloa. »Wir werden es überleben.« Und zum Fo tografen gewandt: »Bis wann können Sie die Abzüge liefern?« »Bis morgen früh, edler Herr. Ich werde die ganze Nacht arbeiten und schuften ...« Barnevelt wollte aus verschiedenen Gründen wi dersprechen, blieb aber still, weil er nicht dauernd die Rolle des Geizhalses spielen wollte. Außerdem bot sich ihnen hier die Gelegenheit zu sehen, wie irdische Pioniere der Fotografie einst gearbeitet haben muß ten.
Der Fotograf brauchte minutenlang zur richtigen Einstellung und rückte mit einem Fuß das dreibeinige Stativ hin und her. Dann zog er ein kleines Tablett, mit einem Griff an der Unterseite, und eine Rolle Schnur hervor. Er schnitt ein Stück Schnur ab und steckte ein Ende unter einen Keil auf der Oberseite des Tabletts. Dann zog er eine Phiole heraus, aus der er ein gel bes Pulver auf das Tablett streute. Es war dasselbe Pulver, das Vizqash zu Beginn des verunglückten Picknicks am Ufer aus den Pflanzenschoten gewon nen hatte. Er verstöpselte die Phiole und verstaute sie, hielt aber dabei immer noch das Tablett am Griff in der Hand, damit die bestreute Fläche waagerecht blieb. Dann zog er ein primitives Feuerzeug heraus, das er gegen das baumelnde Ende der Schnur hielt, bis diese zischend Feuer gefangen hatte. Es war eine Zündschnur. »Nicht bewegen, edle Herren«, sagte er, langte nach der Kamera und drehte an einem Hebel. Jetzt trat der Alte zurück und hielt das Tablett über seinen Kopf. Die Zündschnur brannte mit leisen, spuckenden Geräuschen, die Flamme lief die Schnur entlang und über den Rand des Tabletts. Wumm! Ein heller Blitz erleuchtete den Raum, ein dicker gelber Rauchpilz bildete sich vor der Kamera. Als der
Fotograf um die Kamera herumgriff und wieder den Zughebel betätigte, ließ ein klirrendes Geräusch alle Blicke zu Sishen, dem Osirer, wandern, der aufge sprungen war und dabei sein Trinkgefäß umgestoßen hatte. Der Osirer machte zwei lange Schritte auf den Fo tografen zu, der, als er aufblickte, das Lebewesen zum erstenmal zu sehen schien. »Huch!« heulte der Alte auf. Er packte Tablett und Kamera und lief eilends aus der Taverne. »Warum hat er das getan?« fragte Sishen. »Ich wollte ihn bloß fragen, ob er auch ein Bild von mir machen würde – und weg ist er, als wäre ihm Dupu lan auf den Fersen. Diese Krishni sind mir unbegreif lich. Nun, meine Herren, seid Ihr meine neuen Zim mergenossen? An Euren rasierten Köpfen erkenne ich, daß Ihr Nyagi seid. Angur hat mich gebeten, daß ich heute nacht mein Zimmer mit jemandem teile.« »Es scheint so«, sagte Barnevelt. »Ja? Hoffen wir, daß Ihr nicht zwischen Mitter nacht und Morgen in berauschter Stimmung kommt und mich aus dem Schlaf reißt! Wir sehen uns später, edle Herren.« Während der Osirer sich wieder an seinen Platz setzte, sagte Barnevelt: »Mir scheint, der alte Fotograf ist auch ein Janru-Mann.« »Du bist zu mißtrauisch«, sagte Tangaloa. »Es ist
so, wie Castanhoso gesagt hat: Alles, was aus dem Rahmen fällt, wird verdächtigt ... Sieh mal, hier kommt unser fischgesichtiger Freund mit den über heblichen Manieren!«
9
Der große Sir Gavao-er-Gargan drängte herein. Er sah die beiden verkleideten Erdenmenschen und näherte sich ihnen mit dem Ausruf: »Hoho, Nyager! Als Be lohnung für den gebührenden Respekt, den Ihr mei nem Rang bewiesen, gestatte ich Euch, mit mir zu speisen.« Und damit warf er sich in einen Sessel. »Kellner«, dröhnte er. »Einen Becher Burhen, aber schnell! Wo ist unser Freund von der Mejrou? Der Paketzusteller?« »Habe ihn nicht gesehen«, sagte Barnevelt. Und zum Kellner gewandt: »Für uns dasselbe.« »Na ja, kein großer Verlust. Ein unwissender Wicht, der an die Mythen von den magischen Kräften der verfluchten Erdenmenschen glaubt. Ich bin frei von abergläubischen Albernheiten, zu denen ich alles Gerede über Götter, Geister, Hexen und thaumaturgi sche Kräfte rechne. Alles steht unter den unbeugsa men Gesetzen der Natur, sogar die verdammten Ter raner.« Er steckte einen Finger in sein Getränk, spritzte ei nen Tropfen zu Boden, murmelte eine Anrufung und trank einen Schluck. Auf Englisch sagte Barnevelt: »Behalte den Kerl im Auge. Der hat nichts Gutes im Sinn.«
»Was sagtet Ihr?« bellte Gavao. Barnevelt antwortete: »Ich habe in meiner Mutter sprache geredet und Tagde vor zügellosem Trinken gewarnt. Es ist uns in Hershid teuer zu stehen ge kommen.« »Das erste Mal, daß ich von gestählten Söldnern höre, die mit so unkriegerisch-knausriger Vorsicht die Groschen zählen. Aber das ist schließlich Eure Sache. Wen starrt Ihr so unausgesetzt an, Dicker?« Tangaloa sah sich grinsend um. »Da drüben, die kleine Tänzerin. Entweder trügen mich meine alten Augen, oder sie liebäugelt wirklich mit mir.« Barnevelt blickte in die angegebene Richtung. Ja, da saß tatsächlich die Tänzerin, in ihren Tüllschleier gewickelt. »Das verdient weitere Überprüfung«, sagte Tanga loa. »Bestell für mich den Nachtisch, Di – Snyol.« »He ...« protestierte Barnevelt matt. Er wußte, daß man George nicht aufhalten konnte. Nur ungern sah er, daß sich Tangaloa in eine Eskapade stürzte. Er blieb sitzen und sah unglücklich zu, wie Tangaloas breiter Rücken sich in Verfolgung der Tänzerin in die dunkle Nische zurückzog, in so amouröser Stimmung wie an einem Maitag. »Ah, da kommt die Sängerin!« sagte Gavao. »Es ist Pari bab-Horaj, an der gesamten SadabaoKüste berühmt wegen ihrer Imitationskunst. Ich erin
nere mich an eine Gelegenheit, als ich in einem Lokal in Hershid mit einer Sängerin, einer Tänzerin und ei ner Akrobatin zusammen war, und um mir die Ent scheidung zu erleichtern ...« und wieder war Gavao bei einer seiner amourösen Anekdoten gelandet. Eine junge Krishni mit dem bläulichen Haar der westlichen Rassen setzte sich auf einen handwerklich kompliziert gestalteten Stuhl. Ihr Kostüm bestand aus einem Viereck aus dünnem Purpurstoff, von einem Meter Seitenlänge, das durch eine Achselhöhle ge schlungen und mit einer edelsteingeschmückten Schnalle an der anderen Schulter befestigt war. Sie führte ein Instrument mit sich, das an ein irdisches Spielzeugxylophon erinnerte, dazu ein Hämmerchen. Sie setzte sich, mit dem Instrument auf dem Schoß, auf den Stuhl und ließ ein paar Witze vom Stapel, die das Publikum zu jenen kollernden Geräuschen veran laßte, die hier als Lacher galten. Barnevelt konnte we gen des Dialekts und ihrer raschen Sprechweise nicht viel verstehen. (Er lebte in der ständigen Furcht, ei nem echten Nyamer in die Arme zu laufen, der dar auf bestehen würde, sich in der schwierigen NyamiSprache zu unterhalten.) Barnevelt erhaschte aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Als er sich umwandte, befand sich der Arm seines Tischgenossen in der früheren Lage. Doch Barnevelt hätte geschworen, daß Gavao eine rasche
Bewegung über seinem, Barnevelts, Krug gemacht hatte. Ein Betäubungsmittel? Barnevelt trug einen Vorrat an Kapseln und Pillen verschiedener Sorte in einem Beutel am Körper, doch kam er wegen der knapp sitzenden Krishni-Jacke nicht an ihn heran, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt schlug das Mädchen auf ihr Instrument, das helle Glockentöne von sich gab. Sie sang in einer vor Melancholie und Sehnsucht triefenden Stimme. »Les talda kventen bif orgat Anevorb rottun aind ...« Obgleich die Melodie Barnevelt entfernt bekannt vor kam, konnte er den Worten keinen Sinn entnehmen. Kventen war das Passivinfinitiv der Gegenwart von kventer, trinken ... Es blieb aber nach wie vor das Problem seines mög licherweise gedopten Getränkes. Wenn er dasaß, oh ne zu trinken, würde er bloß Verdacht erregen ... Dann fiel ihm ein, daß zwei dasselbe Spiel spielen konnten – Er faßte nach Gavaos Arm und deutete in die Ecke: »Wer ist der Maskierte? Der einsame Welt raumjäger?« Als Gavao hinsah, tauschte Barnevelt die Gefäße aus. »Der dort?« fragte Gavao. »Ich weiß nicht. Unter
den hiesigen Edelleuten ist es Sitte, sich maskiert un ters Volk zu mischen. Also, wie gesagt, als wir er wachten ...« Barnevelt nahm einen Schluck aus Gavaos Gefäß. Es schmeckte wie saurer Whisky mit Tomatensaft. Gavao nahm ebenfalls einen Schluck. Die Sängerin legte wieder los: »Inda blu rij maonten zovor jinva Ondat relo va lounsom pain ...« Plötzlich wischte sich der Krishni mit dem Ärmel über den Mund und murmelte: »Dieses Gesöff muß meinem zweiten Magen nicht bekommen sein. Mir ist übel. Sobald ich mich erholt habe, werde ich mir den Verantwortlichen vorknöp fen – einen ... Ritter so zu behandeln ...« Als Tangaloa mit der Miene einer Katze, die eben einen Vogel gefangen hatte, aufkreuzte, lag Gavaos dummer, unempfindlicher Kopf auf dem Tisch. Tan galoa sagte: »Was ist denn mit dem Widerling los. Schon total blau? Ich habe Durst ...« Barnevelt bedeckte Tangaloas Becher mit der Hand und sagte: »Nicht – es ist gedopt. Jemand will uns einschläfern. Ich habe meinen Krug ausgetauscht. Gehen wir.«
»Bist du verrückt? Wir stecken mitten drin in der faszinierenden Untersuchung einer fremden Kultur, und du willst gehen! Da kommt ja das Orchester wieder! Bin gespannt, was sie uns zu bieten haben.« »Entschuldige meinen Widerwillen.« »Tanzt du nicht? Wenn ich meine dritte Frau hier hätte, würde ich dir zeigen ...« Die vier Krishni mit den Instrumenten marschier ten auf und gaben eine seltsame exotische Melodie zum besten, die Dirk Barnevelt nach einer Weile als einen Schlager erkannte, der drei Jahre vor seiner Ab reise auf der Erde beliebt gewesen war. Er zog ein Gesicht. »Jedesmal, wenn ich mir einbil de, ich säße in einer Taverne zu Shakespeares Zeiten, müssen sie so was spielen.« »Ein hoffnungslos engstirniger Standpunkt«, sagte Tangaloa. »Mach es wie ich und nimm die Dinge, wie sie kommen.« »Das tust du wirklich!« sagte Barnevelt mit Nach druck. Das maskierte Paar stand auf und tanzte einen langsamen Krishni-Tanz, der meist aus Verbeugun gen der Partner voreinander bestand. Barnevelt konn te jetzt den ersten Blick auf die zwei werfen: der Mann geschmeidig und muskulös trotz seiner gerin gen Größe und der männlich-weiblichen Gewan dung, einer Tunika aus hellrosa Tüll, die eine Schulter
freiließ. Die Frau war gleich gekleidet, mit einem ein zigen Unterschied: sie trug ein kurzes Breitschwert an der Seite. Barnevelt sagte: »Man kann nicht sagen, daß die Frauen in Qirib die Hosen anhaben, aber die Schwer ter tragen sie. An dem Kerl kommt mir etwas bekannt vor. Möchte wissen, wo ich ihn hintun soll.« Auch andere Paare standen auf und tanzten. Dann stand der Osirer rülpsend auf und stelzte auf seinen Vogelbeinen zur Harfenistin. »Komm«, gurrte er, »wenn Ihr eine irdische Melo die spielt, möchte ich Euch einen Erdentanz zeigen ...« Daraufhin betraten das Reptil und die Musikerin die Tanzfläche. Letztere trug den Ausdruck eines Wesens zur Schau, das sich fügt, um Ärgeres zu ver hindern. Der Osirer wollte sich nach den Schritten des auf der Erde beliebten Zhepak im Kreise drehen, da traf sein Schweif den Maskierten recht heftig in die Kehrseite, als dieser sich wieder einmal vor seiner Dame verneigte. »Hishkako baghan!« brüllte der Maskierte, als er sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte. »Entschuldigt ...« begann der Osirer, doch der Maskierte zog das Schwert seiner Partnerin und knurrte: »Ich werde dir Entschuldigung geben, du schuppi
ges Scheusal! Mit dem größten Vergnügen werde ich zusehen, wie dein gräßlicher Schädel getrennt vom häßlichen Rumpf, einem Fußball gleich, über den Bo den kollert!« Er trat vor und schwang die schwere Klinge zum Hieb. Barnevelt hob seinen leeren Krug. Es war ein soli des Stück Keramik, auf dessen Außenseite sich ein Relief befand, das Männer auf der Jagd nach Frauen und umgekehrt darstellte. Dirk holte aus und ließ das Ding durch die Luft fliegen. Der Krug zerschellte auf dem Hinterkopf des Mas kierten. Das Standbein gab nach, und der Kerl fiel auf Hände und Knie. Der Osirer sprang zur Tür hinaus. Sofort herrschte ein toller Wirbel in der Kneipe. Angur zog den Maskierten in die Höhe und versuch te ihn zu besänftigen, während Barnevelt, der sich wieder gesetzt hatte, ein unschuldiges Gesicht mach te, aber die Hand über dem Degengriff hielt. Der Maskierte sah sich im Raum um und sagte: »Ein Feigling hat mich hinterrücks auf höchst unrit terliche Weise getroffen. Sollte ich ihn zu fassen krie gen, werde ich ihm eine gehörige Abreibung verpas sen. Habt Ihr den Schurken gesehen, Gnädigste?« fragte er seine Begleiterin. »Nein, meine Blicke haben auf Euch geruht, mein Herr.«
Die Augen hinter der Maske blieben an Barnevelt hängen: »Was ...« setzte der Maskierte an und sah sich nach dem Schwert um, das er vorhin in der Hand gehabt hatte. Angur und der Kellner, jeder auf einer Seite, zogen kurze Knüppel hervor. Angur sagte: »Fangt keinen Streit in meinem Haus an, Herr, oder ich hole die Wache, trotz Eures Ranges. Bitte, gebt Frieden!« »Oha! Gehen wir, Gnädigste, und suchen wir Ver gnügen, das unserem Stande ziemt. Schließlich bin ich der ich bin!« »Das war unser Freund Vizqash bad-Murani!« sag te Barnevelt. »Erinnerst du dich, wie er letztes Mal diesen Ausdruck gebraucht hat?« Da Tangaloa jetzt mit dem Aufbruch einverstanden war, bezahlten sie und gingen auf ihr Zimmer. Den schlummernden Gavao ließen sie am Tisch liegen. Als sie die Zimmertür öffneten, stand Sishen, der Osirer, über den Papageienkäfig gebeugt. Er zog das Tuch, das den Käfig bedeckte, beiseite. Philo öffnete die Augen, schlug mit den Flügeln und stieß ein ohrenbe täubendes Girrrrk aus. Der Osirer machte einen Rückwärtssprung, drehte sich und fiel auf Tangaloa, wobei er mit den langen Hinterbeinen dessen Mitte umklammerte und den Hals mit den Armen. Aus seiner Reptilienkehle kam die pfeifende Äußerung: »Rettet mich!«
»Runter von mir, verdammt nochmal!« rief Tanga loa, der unter seiner Last kämpfte, mit erstickter Stimme. Sishen ließ von ihm ab und vergoß dabei das Osiri sche Äquivalent von Tränen. »Es tut mir leid«, zischte er, »doch die Ereignisse dieses Abends – das Blitzlicht, der Streit mit dem Maskierten und jetzt der unheimliche Aufschrei die ses schrecklichen Ungeheuers – das alles hat mich aus dem Gleichgewicht geworfen. Wart Ihr es nicht, die Ihr mir beigesprungen seid, als dieser Kerl mich we gen eines trivialen Vorfalls erschlagen wollte?« »Ja«, sagte Barnevelt. »Warum habt Ihr ihm nicht mit Euren funkelnden Augen Einhalt geboten?« Sishen breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Klauen aus. »Aus folgenden Gründen: Bevor man uns Sha'akhfi auf die Erde oder in den Weltraum läßt, müssen wir uns verpflichten, dieses kleine Talent nicht anzuwenden. Und da das Streckennetz unserer eigenen Raumfahrtunternehmen nur bis Epsilon Eri dani reicht, müssen wir, um die Cetischen Planeten besuchen zu können, uns diesem irdischen Verbot unterwerfen. Ich bin bei weitem nicht der Fähigste meiner Art bei der Anwendung dieses geistigen Zwanges, obwohl ich, wenn ich ausreichend Zeit ha be, sehr wohl auch das geistige Netz auswerfen oder aufheben kann. Und: Krishni sind unserem Einfluß
weniger zugänglich als die Menschen der Erde; des wegen hatte ich keine Zeit, diesen rasenden Maulhel den in die Schranken zu weisen. Und dann kam in Sekundenschnelle Euer mutiges Einschreiten. Nun, wenn Ihr von Sishen Revanche wollt, sprecht, und es sei Euch gewährt, wenn meine armseligen Mittel da für ausreichen.« »Danke – ich werde es mir merken. Aber was führt Euch nach Jazmurian? Sicher keine Osirerin.« »Ich? Ich bin ein einfacher Tourist, der entfernte und seltsame Orte aufsucht, um das Verlangen nach neuen Erfahrungen zu befriedigen. Hier blieb ich hängen, denn vor drei Tagen wurde mein Fremden führer – armer Teufel – mit einem Messerstich im Rücken aus dem Hafen gefischt. Und das Reisebüro ist noch immer auf der Suche nach einem Ersatz. Meine Kenntnis der hiesigen Sprachen ist so armselig, daß ich es nicht wage, allein zu reisen. Wenn der Ver lust behoben ist, werde ich weiter nach Majbur zie hen, wo angeblich ein besonders kunstvoller Tempel stehen soll –« Der Osirer gähnte, ein schrecklicher Anblick. »Verzeiht, edle Herren, aber ich bin total er ledigt. Begeben wir uns zur Ruhe.« Und Sishen rollte die Matte auf, die ihm als Lager diente, und legte sich ausgestreckt hin wie eine Eid echse, die sich in der Sonne aalt.
Am nächsten Morgen sah Barnevelt sich gezwungen, Tangaloa, den hartnäckigsten Schläfer der Welt, mit Gewalt zu wecken, indem er ihm ins Ohr brüllte: »Erwache! Denn die Sonn', die in die Flucht ge schlagen Gestirne aus dem Feld der Nacht ...« Sie gingen, während Sishen noch mit dem Auffri schen seiner Körperbemalung beschäftigt war, eine Tätigkeit, die offenbar einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch nahm. Als sie hinunterkamen, sahen sie, daß Angur mit drei wüst aussehenden Jugendlichen, die mit Knüppeln ausgerüstet waren, in Disput gera ten war. »Meine Herren!« rief Angur. »Erklärt diesen Wirr köpfen, daß die Bilder, die der alte Fotograf heute morgen gebracht hat, die Euren sind und nicht meine, und nehmt die Angelegenheit selbst in die Hand.« »Was soll das?« sagte Barnevelt. Der größte der drei sagte: »Wisset, o Männer aus Nyamadze, wir sind eine Abordnung der Künstler zunft, die sich entschlossen hat, diese teuflische neue Erfindung auszurotten, die uns unseres Unterhalts beraubt. Denn wie können wir es mit jemandem auf nehmen, der weder Geschicklichkeit noch Talent be sitzt, sondern nur einen albernen Kasten – und klick – das Bild ist fertig! Nie kann es in der Absicht der Göt ter gelegen haben, daß die Menschen durch so niede re mechanische Mittel die Natur kopieren.«
»Guter Gott«, murmelte Barnevelt, »hierzulande macht man sich tatsächlich über Arbeitslosigkeit durch technischen Fortschritt Sorgen!« Der Krishni fuhr fort: »Wenn Ihr die Bilder heraus rückt, die der alte Knasterbart gemacht hat, ist alles gut! Wünscht Ihr Konterfeis, so wird unsere Zunft sie mit Freuden für ein bescheidenes Honorar zeichnen oder malen – Aber diese flüchtigen Schatten – cha! Werdet Ihr sie ausliefern, wie vernünftige Leute? Oder müssen wir härtere Methoden anwenden?« Barnevelt und Tangaloa tauschten einen langen Blick, Letzterer sagte auf englisch: »Es spielt doch keine Rolle ...« »Aber nein!« sagte Barnevelt. »Wir dürfen sie nicht in der Meinung belassen, sie könnten mit uns machen was sie wollen.« »Bist du bereit?« Tangaloa seufzte: »Du hast wieder Blut geleckt! Und auf der Erde warst du so friedlich! Los!« Barnevelt zog seinen Degen. Der Draht gab nach, und die dreikantige Klinge fuhr heraus. Mit einem mächtigen Hieb ließ er die Klinge auf dem Haupt des Sprechers der Künstlerzunft landen. Der Krishni fiel um und ließ den Knüppel los. Gleichzeitig zog Tan galoa seine Keule und ging auf die anderen zwei los, die davonliefen wie die Hasen. Der Umgefallene rap pelte sich auf und lief ihnen nach. Die Erdenmen
schen verfolgten sie einige Schritte und kehrten dann in die Herberge zurück. »Ein Pech nach dem anderen«, sagte Barnevelt und sah sich dabei um, ob eine Polizistin das Spektakel beobachtet hatte. »Sehen wir uns die Bilder an – heili ger Bimbam, hätte ich gewußt, daß sie so mies sind, dann hätte ich sie diesen Wichten nur zu gern gege ben. Ich sehe aus wie eine verschimmelte Mumie.« »Diese aufgeblasene Fratze soll ich sein?« sagte Tangaloa kläglich. Widerstrebend gaben sie Angur das Geld für den Fotografen, verdrahteten ihre Waffen wieder, nah men ihre Ausrüstung und machten sich, nachdem sie den Hauptboulevard überquert hatten, auf den Weg zum Bahnhof.
10
Auf dem Boulevard neben der Remise stand eine große, von sechs gehörnten Ayas gezogene Kutsche. Der Expreßbote, der seit Majbur mit ihnen gefahren war, saß bereits da und unterhielt sich mit dem Fah rer. Nirgends eine Spur von Sir Gavao. Barnevelt fragte den Fahrer: »Ist das die Post nach Ghulinde?« Auf ein bejahendes Nicken hin reichten er und Tan galoa dem Mann die restlichen Abschnitte ihrer kom binierten Zug- und Kutschen-Karten. Sie verstauten ih ren Sack auf dem Dach (die Gepäckablage hinten war bereits voll) und stiegen mit dem Vogelkäfig ein. Im Innern der Kutsche war Platz für ein Dutzend Leute. Bei Abfahrt des Vehikels war sie etwa halbvoll. Die meisten Fahrgäste trugen das Wickelgewand von Qirib, das Barnevelt mehr an die Bademeister in einer irdischen Sauna als an die geschneiderten Gewänder der nördlicheren Regionen erinnerte. Der Fahrer stieß in seine Trompete und ließ die Peitsche knallen. Und los ging es mit Rädergeratter über Pflastersteine und mit Gespritze durch die Pfüt zen. Da die Ladung verhältnismäßig leicht war, blieb die Federung steif, und die Passagiere wurden tüch tig durchgeschüttelt.
Barnevelt sagte: »Ich glaube, sowohl Vizqash als auch Gavao sind Agenten der Sunqar-Bande. Sie ha ben Auftrag, uns abzufangen.« »Wieso?« sagte Tangaloa. »Es paßt alles zusammen. Gestern abend sollte Ga vao uns einschläfern. Dann wollten er und Vizqash uns unter dem Vorwand, sie wären alte Freunde, hin aus auf die Straße schleppen und uns die Kehle durchschneiden. Als ich statt dessen Gavao betäubt hatte, war Vizqash ratlos. Hast du gesehen, wie er da stand und uns anstarrte?« »Das klingt vernünftig, Sherlock. Um auf Sishen zu kommen ...« Tangaloa wechselte die Sprache und fragte den Expreßboten: »Habt Ihr nicht gesagt, daß der geheimnisvolle Sheafase, der den Sunqar be herrscht, schuppige Hände mit Klauen hat?« »Ja, meine Herren!« »Meine Güte!« sagte Barnevelt. »Du glaubst also wirklich, Sishen ist Sheafase, und wir hätten mit ihm das Zimmer geteilt? Das ist ja noch ärger, als mit ei nem Avval zu schwimmen!« »Nicht unbedingt. Der gestrige Streit hat echt aus gesehen.« Barnevelt bot dem Expreßmann eine Zigarre an. Er nahm sie mit den Worten an: »Hier ist Rauchen ver boten, meine Herren. Daher werde ich bis zum näch sten Aufenthalt warten und dann aufs Dach klettern.«
Barnevelt fand den Geruch der vielen Krishni in dem geschlossenen Raum ziemlich bedrückend – es roch wie in einer Leimfabrik. Er hätte sich gewünscht, daß der Interplanetarische Rat sich in einer seiner Aufwallungen liberaler Gesinnung dazu entschlossen hätte, die Kunst der Seifenherstellung auf dem Plane ten einzuführen. Schließlich hatte man die viel revo lutionärere Buchdruckereikunst zugelassen. Barnevelt war froh, als sie endlich in einem Dörf chen anhielten, um einen Fahrgast aussteigen zu las sen und Pakete abzuladen. Er stieg aus, zündete eine Zigarre an und stieg mit Tangaloa und dem Expreß boten hinauf aufs Oberdeck. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Sie folgte der Bahn an der Küste entlang und überquerte Bäche und kleine Buchten. In Mishdakh, am Fuße der Halbinsel Qiribo, bog die Straße links ab, während die Bahn rechter Hand in Richtung Shaf weiterlief. Die Straße begann nun die Anhöhe auf der Südsei te der Bucht zu erklimmen, und man konnte vom fel sigen Vorgebirge herab auf ein grünes Meer hinaus blicken. An einer Stelle war die Steigung so stark, daß die männlichen Fahrgäste aussteigen und schieben mußten. Sie schlängelten sich jetzt eine hügelige Kü stenstraße entlang, auf und nieder und um steinige Stellen und Vorsprünge herum. Die Bäume wuchsen hier höher und zahlreicher, als es die Erdenmenschen
auf Krishna je gesehen hatten. Manchmal streiften die sich über die Straße erstreckenden Äste fast ihre Köp fe. Die Kutsche schaukelte, und der Wind pfiff. So waren sie eine Zeitlang dahingerattert, als ein plötzliches Anschwellen von Geräuschen ihre Auf merksamkeit auf sich zog. Aus einer Baumgruppe kam ein Dutzend Bewaffneter auf Ayas herangalop piert. Bevor die Reisenden reagieren konnten, waren die zwei ersten der Gruppe schon an der Kutsche. Auf der rechten Seite ritt der ehemalige Reisegefährte der Erdenmenschen im Zug, Gavao er-Gargan, und rief: »Halt! Haltet an, oder Ihr müßt sterben!« Auf der anderen Seite war jemand, den Barnevelt nicht erkannte, ein gegerbt wirkender Kerl, dem ein Fühler fehlte. Dieser faßte die Handgriffe an den Seiten der Kutsche, schwang sich gewandt von seinem Reit tier und begann, mit dem Messer zwischen den Zäh nen, gleich einem Piraten, das Oberdeck zu erklimmen. Barnevelt, der sich in Tagträumen ergangen hatte, erfaßte die Bedeutung dieses Besuches nur langsam. Er hatte sich erst gefangen und nach seinem Degen gegriffen, als der Eisendorn von Tangaloas Keule mit einem ekelhaften Knirschen in den Schädel des Klet terers drang. Eine Sekunde später erklang ein Surren, als der Kutscher einen Armbrustbolzen auf Gavao abschoß. Der Bolzen verfehlte den Reiter, traf hinge
gen das Tier, das vor Schmerz blökend sich aufbäum te, eine Pirouette beschrieb und weg von der Straße zu den Klippen der Küste davonstürmte. Der Kutscher steckte seine Waffe weg und ließ die Peitsche knallen: »Hao! Hao-qai!« Die sechs Tiere legten sich ins Geschirr und zogen an. Die Kutsche holperte davon, immer schneller. Erst waren die Verfolger verwirrt, da ihr Anführer sein Reittier eingebüßt hatte. Einer blieb beim Leich nam des Mannes stehen, dem Tangaloa den Schädel punktiert hatte. Ein anderer zügelte sein Tier so plötz lich, daß er herunterfiel. Und dann entzog sie eine Wegbiegung ihren Blicken. »Festhalten!« sagte der Kutscher, als sie eine Kurve, auf zwei Rädern fahrend, genommen hatten. Aus dem Kutscheninneren drang das Stimmengewirr der Reisenden. Barnevelt klammerte sich an die Armlehne seines Sitzes und sah sich um. Als die Straße wieder gerade verlief, tauchten auch die Verfolger wieder auf, ob gleich viel zu weit entfernt, um die einzelnen zu er kennen. Von sechsunddreißig Hufen aufgewirbelte Steine rumpelten gegen den Rumpf der Kutsche. Noch eine Biegung, und sie waren wieder der Sicht der Verfolger verschwunden. Barnevelt fragte den Kutscher: »Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«
»Nach Kyat sind es an die zwanzig Hoda«, lautete die Antwort. »Hier, ladet meine Armbrust!« Barnevelt, der sich an der Armbrust-Pistole zu schaffen machte, sagte zu Tangaloa: »Bei dieser Ent fernung erwischen sie uns, ehe wir die nächste Stadt erreicht haben!« »Klar wie dicke Tinte! Was werden wir also tun?« Barnevelt sah zu den hohen Bäumen auf. »Uns auf die Bäume zurückziehen. Faß den nächsten Zweig, der weit genug herunterreicht. Hoffen wir, daß sie weiterreiten, ohne uns zu sehen.« Er wandte sich an den Kutscher: »Die sind hinter uns her. Wenn Ihr die Fahrt verlangsamt, sobald wir es Euch sagen, werden wir Euch von unserer gefährlichen Anwesenheit be freien. Aber sagt denen nicht, daß wir ausgestiegen sind, verstanden?« Der Kutscher brummte seine Zustimmung. Die Ver folger kamen sekundenlang ins Blickfeld, diesmal schon viel näher. Weitere Pfeile pfiffen. Einer traf sein Ziel und traf auf Fleisch. Der Expreßbote schrie: »Ich bin getroffen« und fiel von der Kutsche auf die Straße. Und dann waren die Reiter wieder verschwunden. »Dieser da ist zu hoch«, sagte Tangaloa und faßte einen Ast ins Auge. Die Kutsche schaukelte und polterte. Peitschenknallen und die Schreie des Kutschers nahmen kein Ende.
Barnevelt sagte: »Dieser da ist zu dünn.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er faßte den Reisesack und warf ihn so weit er konnte weg von der Kutsche, so daß er in ein Gebüsch fiel und nicht zu sehen war. »Und was ist mit dem Papagei?« sagte Tangaloa. »Der ist unten in der Kutsche. Außerdem würde er uns durch sein Gekreisch verraten. Da, der Ast ist ge nau richtig: Langsam, Kutscher!« Der Kutscher zog die Handbremse an, und die Kutsche verlangsamte die Fahrt. Barnevelt kletterte auf seinen Sitz und blieb balancierend stehen, wobei er das Schlingern des Fahrzeugs mitmachte. Der Ast kam immer näher. »Jetzt!« sagte Barnevelt und zog sich hoch. Der Ast schlug gegen seine Arme. Mit einem kräftigen Atem holen und Schwungnehmen war er auf dem Ast und hielt sich an einem anderen fest. Tangaloa war beim Hinaufziehen langsamer. Der Ast bog sich unter dem Gewicht. »Beeil dich, verdammt nochmal!« sagte Barnevelt, denn seinem Begleiter fiel es schwer, sich an der glat ten Borke festzuhalten. Jede Sekunde konnten die Verfolger um die letzte Biegung preschen, und es war nicht ratsam, wenn der Ast dann noch schwankte. Sie kletterten bis zum Baumstamm hin und schlüpften um ihn herum, als ihnen Hufgetrappel und Schwertgeklirr ankündigten, daß Gavaos Bande
näherkam. Die Wegelagerer ritten so knapp unter ih nen durch, daß man auf sie hätte hinunterspucken können. Gavao war wieder an der Spitze. Barnevelt und Tangaloa hielten den Atem an, bis die Krishni außer Sicht waren. Tangaloa wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Wußte gar nicht, daß ich bei meinem Alter und mit dem Gewicht noch zu solchen Kunststücken fähig bin. Und was jetzt? Wenn sie die Kutsche einholen und se hen, daß wir nicht mehr da sind, kommen sie zurück.« »Wir müssen landeinwärts gehen und versuchen, sie abzuschütteln.« »Holen wir zuerst unser Gepäck – guter Gott, da kommen sie schon.« Wieder näherte sich Hufgetrappel. »Nein«, sagte Barnevelt, der durchs Geäst lugte, »es ist die Kutsche! Wieso kommt sie zurück?« Tangaloa sagte: »Das ist ja eine ganz andere Kut sche. Steigen wir ein und fahren wir zurück nach Jazmurian.« »In Ordnung.« Barnevelt ließ sich am Baum hinun tergleiten und lief auf die Straße, als die Kutsche her anrollte. Die Bremse quietschte, das Fahrzeug verlangsamte die Fahrt. Die Erdenmenschen liefen neben ihr her, faß ten nach den Haltegriffen und schwangen sich hinauf. »Fahrt eine Minute lang langsamer!« rief Barnevelt.
Er ließ wieder los, lief an den Straßenrand, um den Reisesack aufzuheben, und holte die Kutsche wieder ein. Er warf den Sack auf die hintere Gepäckablage und packte abermals die Handgriffe. »Alle Mann an Bord!« rief er und schwang sich keuchend auf das Oberdeck. »Was kostet die Fahrt nach Jazmurian?« Nachdem er das Fahrgeld in Empfang genommen hatte, fragte der Kutscher: »Beim linken Ohr Tyazans, Ihr habt mich zu Tode erschreckt, wie ihr da herange sprungen seid. Habt Ihr mit dem Rummel da hinten etwas zu tun?« »Welcher Rummel?« fragte Tangaloa unschuldig. »Ich wartete an der Ausweichstelle auf die Gegen kutsche, da kam sie früher als nach Fahrplan und ra ste vorbei, als wäre Dupulan hinter ihr her. Als ich auf die königliche Schnellstraße einbiegen wollte, kam ein Trupp Bewaffneter, die wie wild hinter der Kutsche herritten. Da mir ihr Anblick nicht gefiel, bin ich seither mit äußerster Eile gefahren. Was wißt Ihr von den Burschen?« Sie versicherten ihm mit nervösen Blicken nach hinten, daß sie überhaupt nichts wüßten. Tangaloa sagte: »Dirk, wie kommen wir bloß nach Ghulinde, wenn diese Typen uns auf der Spur sind?« Barnevelt fragte den Kutscher: »Gibt es zwischen Jazmurian und Ghulinde Schiffsverbindungen?«
»Sicher. Zum Beispiel wird Falat-Wein in alle Hä fen der Sadabao-See per Schiff transportiert.«
11
So kam es also, daß sie abends an Bord eines behäbig schaukelnden Küstenschiffes, der Giyam, in die BajjaiBucht stachen. Der Kahn war mit Weinkrügen so vollgeladen, daß man den freien Raum nur mit Zen timetern messen konnte. Der Kapitän belächelte ihren sichtbaren Unmut, als eine Woge eine Wasserdecke übers Deck zog. »Nein«, sagte er, »die Zeit der Stürme liegt noch ei nige Nächte vor uns.« Sie segelten mit gutem Wind, und am Morgen des dritten Tages lief die Giyam in den Hafen von Ghu linde ein. Als die Sonne aus der funkelnden See em porstieg, erstarrte Barnevelt in schweigendem Ent zücken. Vor ihnen lag der Hafen, nicht das eigentliche Ghu linde, sondern die Stadt Damovang. Südwestlich von Damovang erhob sich der hohe Berg Sabushi. In längst vergangenen Zeiten, bevor das Matriarchat den Kult der Fruchtbarkeitsgöttin entwickelt und die Konkurrenzkulte unterdrückt hatte, war aus dem Berg ein riesiges hockendes Standbild des Kriegsgot tes Qondyor (von den Qiribuma Qunjar genannt) gehauen worden. Die Zeit hatte die Arbeit der Bild hauer zerstört, besonders in der Gegend des Kopfes.
Die eigentliche Stadt Ghulinde mit ihrem anmutigen Wall von Trümmern lag noch immer im großen fla chen Schoß des Gottes. Hinter dem Berg Sabushi ragten die Gipfel des Zogha gegen den Himmel, jenes Gebirgszuges, aus dem der Reichtum an Bodenschätzen stammte, der dem matriarchalischen Reich jene Macht verlieh, die in keinem Verhältnis zu seiner bescheidenen Größe stand. Nach einer weiteren Stunde erklommen sie den steilen Hang, der über den Schurz des Qondyor zur Stadt der Königin Alvandi führte. Sie gingen inmitten einer Schar von Qiribuma, deren Bekleidungsvor schrift dahingehend lautete, daß man bekleidet war, wenn man ein Stück Stoff an sich trug – auch wenn man es sich nur über einen Arm hängte. Barnevelt bemerkte, daß die Männer auffallende Muster bevorzugten und Schminke benutzten, wäh rend die Frauen sich mit äußerster Schlichtheit kleide ten. »Jetzt brauchen wir nur noch ein Geschenk für die Königin, als Ersatz für den verdammten Papagei«, sagte Barnevelt. »Glaubst du, die Postgesellschaft hat ihn behalten? Kann mir nicht denken, daß es hier ein Fundamt gibt.« Sie fragten sich zum Reisebüro durch und erkun
digten sich dort. Nein, wurde ihnen mitgeteilt, von einem Käfig mit einem unheimlichen Monstrum sei nichts bekannt. Ja, die Kutsche, die zwischen Mish dak und Kyat aufgehalten worden war, wäre ge kommen, doch der Fahrer sei im Augenblick wieder auf Tour. Falls sie einen solchen Käfig in der Kutsche zurückgelassen hatten, könnte der Kutscher das Tier vermutlich in Ghulinde verkauft haben. Die Herren müßten eben die Runde durch alle Tierhandlungen machen. Es gab in der Stadt drei davon, alle in derselben Straße. Noch ehe sie einen der Läden betreten hatten, wußten sie, nach dem Gekreische und den Unflätig keiten zu schließen, die aus dem Laden drangen, wo Philo zu finden war. Im Inneren herrschte ein Heidenlärm. In einem Kä fig neben Philo schlug ein Bijar mit seinen ledernen Schwingen und verursachte ein Geräusch wie ein Schmied, der auf den Amboß schlägt. In einem ande ren Käfig saß ein zweiköpfiger Rayef über einem Haufen Eier, die er ausbrütete, und quakte. Ein gro ßer Wach-Eshun kratzte mit dem Vorderpaar seiner sechs Pfoten am Drahtnetz und heulte leise. Der Ge stank war umwerfend. »Ach der?« meinte der Ladenbesitzer, als Barnevelt sagte, er wäre an dem Papagei interessiert. »Nehmt ihn für einen halben Kard. Ich bin heilfroh. Ich wollte
das Biest schon ertränken. Es hat einen meiner besten Kunden gebissen, der es kaufen wollte, ehe er von seiner schrecklichen Veranlagung erfuhr. Er belegt al le mit Schimpfwörtern.« Sie kauften ihren Vogel zurück, doch Barnevelt wollte anschließend noch bleiben und sich die ande ren Tiere ansehen. Er sagte: »George, könnte ich nicht eines dieser kleinen geschuppten Dinger da kaufen? Ohne Haustier fühle ich mich nicht wohl.« »Nein! Was du brauchst, hat zwei Beine! Komm jetzt.« Und der Xenologe zerrte Barnevelt hinaus. »An deiner Tierliebe ist sicher deine ländliche Herkunft schuld.« Barnevelt schüttelte den Kopf. »Tiere sind für mich verständlicher als Menschen.« Als schließlich Roqir am Westhimmel stand und die Bevölkerung von Ghulinde die Arbeit unterbrach und sich das nachmittägliche Tässchen Shurab mit einem Imbiß aus Fungus-Bäckerei gönnte, betraten Dirk Barnevelt und George Tangaloa erschöpft, aber hellwach, den Palast. Barnevelt unterdrückte sein Unbehagen vor der Aussicht, vielen Fremden zu be gegnen. Nachdem sie weibliche Doppelposten in ver goldeten Röckchen, Metallhelmen, Beinschienen und Brustpanzern passiert hatten, führte man sie zu Al vandi, der Douri von Qirib. Sie fanden sich in der Gegenwart von nicht einer,
sondern zwei Frauen: eine in vorgerückten Jahren, kantiges Gesicht, untersetzt, die andere jung und nicht eigentlich schön, aber hübsch auf eigenartig kühne Art. Beide trugen die einfache unauffällige Kleidung, die von den alten griechischen Bildhauern den Amazonen zugeschrieben wurde. Diese Kleidung bildete einen seltsamen Kontrast zu den blitzenden Diademen, die sie auf dem Kopf trugen. Die verkleideten Erdenmenschen, die man vorher im Protokoll unterwiesen hatte, beugten das Knie, während ein Höfling sie vorstellte. »Der Snyol von Pleshch?« fragte die Ältere, offen sichtlich die Königin. »Das ist ein unerwartetes Ver gnügen, denn meine Späher haben Euren Tod gemel det. Erhebt Euch!« Als sie wieder standen, stürzte sich Tangaloa in seine einstudierte Vorstellungsrede und zeigte ihnen den Papagei. Dann nahm ihm ein Höfling den Käfig ab und zog sich zurück. »Wir danken Euch für Euer großzügiges und au ßergewöhnliches Geschenk. Wir werden im Gedächt nis behalten, was Ihr uns von den Gewohnheiten die ses Tieres erzählt habt. Vogel heißt er auf seinem Heimatplaneten, habt Ihr gesagt? Und jetzt, meine Herren, zu Euren Angelegenheiten. Ihr werdet nicht mit mir zu tun haben, sondern mit meiner Tochter, der Prinzessin Zei, die Ihr hier zu meiner Linken seht.
Denn in einer Zehn-Nacht naht unser alljährliches Fest, Kashyo genannt, bei dem ich zugunsten meiner pflichtbewußten Tochter abdanken will. Daher ist es nötig, daß sie Erfahrungen sammelt im Tragen der Lasten, die auf unseren Schultern ruhen, ehe die ei gentliche Verantwortung auf sie übergeht. Sprecht!« Barnevelt und Tangaloa waren vorher übereinge kommen, daß Barnevelt als zweiter das Wort ergrei fen sollte. Als er jedoch die Frauen ansah, spürte Dirk Barnevelt, daß ihm die Zunge den Dienst versagte. Die Sekunden verrannen, und er brachte kein Wort heraus. Der Grund dafür war nicht die Tatsache, daß Zei ein ziemlich großes, gutgewachsenes Mädchen war, dunkelhäutig, mit großen schwarzen Augen, einem üppigen Mund und einer für eine Krishni ungewöhn lich edlen Nase. Sie hätte einer griechischen Vasen malerei entstiegen sein können, wären da nicht die Fühler, das dunkelgrüne Haar und die spitzen Ohren gewesen. Nein, Barnevelt war schon früher auffallend reiz vollen Mädchen begegnet. Er war mit ihnen ausge gangen, auch wenn seine Mutter es immer fertigge bracht hatte, die Sache auseinanderzubringen, ehe es ernst wurde. Der wahre Grund, warum er keine Wor te fand, war der, daß Königin Alvandi in Tonfall und Aussehen ihn stark an seine Mutter erinnerte.
Während er mit halboffenem Mund wie ein Idiot dastand und spürte, wie er errötete, hörte er schließ lich, wie die leise Stimme Tangaloas die peinliche Stil le unterbrach. Guter alter George! Für die Rettung in diesem gräßlichen Augenblick hätte Barnevelt seinem Gefährten fast alles verziehen. »Hoheit«, sagte Tangaloa, »wir sind nur zwei Abenteurer auf Wanderschaft, die um zwei Gnaden bitten: Erstens die Erlaubnis, Euch unsere Ehrerbie tung auszudrücken, was uns großzügig gestattet wurde. Als zweites wollen wir in Ghulinde eine Mannschaft zusammenstellen, um in der Banjao-See die Suche nach Gvam-Steinen zu betreiben.« Das Mädchen warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. Deren Gesicht blieb ausdruckslos. Schließ lich raffte Zei sich zu einer Antwort auf. »Gorbovast berichtet von Eurem Vorhaben in die sem seinem Brief.« Sie faßte nach dem Schriftstück auf ihrem Schreibtisch. »Ich bin jedoch nicht sicher, ob die Suche nach dem Gvam-Stein von der Mutter göttin sanktioniert ist, denn wenn man der allgemei nen Ansicht Glauben schenkt, wird damit den Män nern eine Vorrangstellung zuteil, die den Prinzipien unseres Staates zuwiderläuft ...« Als sie zögerte, soufflierte Königin Alvandi im Flü sterton. »Sag, es wäre legal, solange sie unsere Steu ern zahlen und ihren Kram woanders verkaufen!«
»Hm – jedenfalls«, sagte Zei, »können wir die Er laubnis unter zwei Bedingungen erteilen: daß Ihr die Steine nicht innerhalb der Grenzen Qiribis verkauft und daß Ihr von Eurem Gewinn, der der Überprü fung unserer Steuerbeamten unterliegt, ein Zehntel an den Schatz des Reiches Qirib abführt, und ein wei teres Zehntel an den Schatz der Göttlichen Mutter.« »Einverstanden«, sagte Barnevelt, der schließlich doch noch seine Stimme wiedergefunden hatte. Nichts leichter als einer Besteuerung des Gewinns zuzustimmen, wenn man im vorhinein wußte, daß es keinen Gewinn geben würde. »Sie müssen eine Kaution hinterlegen!« soufflierte Alvandi. »Wie sollen wir sonst zu unserem Geld kommen, wenn sie ihre Steine haben und außer Reichweite sind?« »Eine – eine kleine Kaution, meine Herren, wird verlangt«, sagte Zei. »Sagen wir tausend Karda. Könnt Ihr die hinterlegen? Bei Eurer Rückkehr wird Euch alles, was den Steuerbetrag überschreitet, zu rückerstattet.« »Wir können zahlen«, sagte Barnevelt nach einigem blitzschnellem Kopfrechnen. »Ich hätte ihnen fünftausend aufgebrummt«, sagte Alvandi. »Na ja, Snyol von Pleshch stand schon im mer in dem Ruf ...« In diesem Moment trat ein mondgesichtiger junger
Krishni ganz unzeremoniell ein und sagte laut: »Ich bringe schlechte Kunde, schöne Zei. Der Präfekt und seine Dame sind erkrankt und können heute abend nicht kommen ... ich bitte um Entschuldigung. Störe ich eine Audienz von Gewicht und Bedeutung?« »Genügend Bedeutung«, grollte Alvandi, »um dein störendes Eindringen noch lästiger zu machen als sonst. Wir haben hier zwei perfekte Halsabschneider aus dem Gebiet des Unterpols, wo die Leute unaus sprechliche Namen tragen und ein Bad als schreckli cher heidnischer Brauch verpönt ist. Zu deiner Linken steht Snyol von Pleshch, während diese ungefügige Fleischmasse zu deiner Rechten seinen barbarischen Namen mit Tagde von Vyutr angibt. Dieser Lümmel, der Euren Redefluß unterbrochen hat, meine weitge reisten Freunde, ist Zakkomir bad-Gurshmani, Mündel des Thrones und Gespiele meiner Tochter.« »General Snyol!« rief Zakkomir, dessen rundes ge schminktes Gesicht einen ehrerbietigen Ausdruck annahm. »Darf ich Euren Daumen in größter Ehrer bietung erfassen? Schon lange habe ich Eure Taten mit Bewunderung verfolgt. Wie Ihr beispielsweise mit einer einzigen Abteilung, die an den Füßen diese Bretter hatte, die ihr zum Gleiten über Schnee ver wendet – Kufen, nennt ihr das – diesen Pöbelhaufen von Olnega besiegt und vernichtet habt ... Eigentlich hätte ich erwartet, daß Ihr älter seid?«
»Wir stammen aus einer langlebigen Familie«, sag te Barnevelt schroff. Er wünschte, er hätte mehr über den Mann gewußt, den er darstellte. Obwohl dieser angemalte Jüngling keinen sehr vorteilhaften Ein druck machte, schien seine Bewunderung grenzenlos. Zakkomir wandte sich an Zei: »Prinzessin, unwür dig wäre es, wenn wir mit einem so bedeutenden Mann umgingen wie mit einem üblen Subjekt, nur weil der falsche Kult der Kanganditen ihn aus dem Reich vertrieb, dem er so trefflich gedient – um ein ruheloser Wanderer auf dem Planeten zu werden. Da der Präfekt und seine Dame indisponiert sind, sollen diese Herren statt dessen unsere Gäste heute abend sein. Was sagt Ihr?« »Eine Idee, die der Überlegung wert ist«, sagte Zei. »Wir hätten damit einen kompletten Tisch zum Cha nizekash-Spiel.« »Voreilig«, sagte Alvandi. »Eine Einladung ist un überlegt, sofern man sich nicht vorher von der Eh renhaftigkeit der Gäste überzeugt hat. Ach was, lade sie ein. Eine einmal ausgesprochene Einladung zu rückzuziehen ist eine Schmach. Laßt aber das wert volle königliche Geschirr bewachen. Vielleicht sind sie amüsanter als unsere Landsleute, von denen alle entweder verrückt oder dumm und sehr oft beides sind.«
12
Obwohl Barnevelt erwartet hatte, daß die Zusam menstellung der Expedition eine Woche dauern wür de, waren die wichtigsten Angelegenheiten am Ende des langen Krishnitages erledigt. Ein Dutzend Schiffe und Boote waren zum Verkauf angeboten worden: ein Fischkutter, seetüchtig aber langsam, eine Galee re, zu deren Bedingung eine größere Besatzung nötig gewesen wäre, als die Erdenmenschen anheuern wollten; ein paar wurmstichige Wracks, die nur mehr als Brennholz zu verwenden waren ... »Du suchst das Schiff aus, Freund«, sagte Tangaloa, Rauchringe blasend. »Du bist der Seefahrer.« Schließlich verfiel Barnevelt auf einen regelwidri gen kleinen Kahn mit einem einzigen Latein-Mast, vierzehn Ein-Mann-Rudern und einer Aura des Ver falls. Unter dem Schmutz jedoch erkannte er gute Formgebung und überzeugte sich, daß das Holz ge sund war. Er warf dem Makler einen strengen Blick zu. »Wurde dieses Schiff für Schmugglerzwecke konstru iert?« »Ja, das stimmt, Lord Snyol. Wieso habt Ihr das bemerkt?« »Die Beamten der Königin haben es einer
Schmugglerbande abgenommen und bei einer Aukti on verkauft. Ich habe es in der Hoffnung gekauft, ei nen kleinen, aber ehrlichen Profit herauszuschlagen. Doch bin ich seit der drei Revolutionen in Karrim darauf sitzengeblieben. Für ehrliche Händler und Fi scher hat es nicht genug Laderaum, und für militäri sche Zwecke ist es zu langsam. Daher biete ich es bil lig an – praktisch als Geschenk.« »Wie heißt der Kahn?« »Shambor, ein Name, der ein gutes Omen bedeu tet.« Der Preis, den der Mann verlangte, war nach Bar nevelts Meinung nicht so gering, als daß man von ei nem Geschenk hätte sprechen können. Als er so viel wie möglich heruntergehandelt hatte, kaufte er das Schiff und traf Vereinbarungen betreffend der Aus besserungen. Dann wandten er und Tangaloa sich an die Vermittlungsstelle für Seeleute und schrieben Bewerbungen für Seeleute von außergewöhnlichem Mut aus, weil die Expedition, wie er verdeutlichte, Risiken ungewöhnlicher Art beinhaltet. Danach suchten sie einen Kleidertrödler auf, bei dem sie die blaue Uniform eines Postboten der Mej rou Qurardena erstanden. Da die Uniform – die ein zige auf Lager – Barnevelt annähernd paßte und Tan galoa sich nicht hineinzwängen konnte, wurde Bar nevelt für die Invasion des Sunqar ausersehen.
Nachdem sie sich in ihre beste Kluft geworfen hat ten, machten sie sich auf den Weg zum Palast, der, wie der Großteil von Ghulinde, mit Erdgaslampen beleuchtet wurde. Man geleitete sie in einen Raum, in dem Königin Alvandi, Prinzessin Zei, Zakkomir badGurshmani und ein dickbauchiger, triefäugiger Krishni in mittleren Jahren trübe vor einem Brettspiel saßen. »Mein derzeitiger Gemahl Kaj«, sagte Königin Al vandi und stellte die Gäste vor. »Es ist uns eine große Ehre«, sagte Barnevelt. »Erspart mir die Floskeln«, sagte König Kaj. »Einst hatte ich auch einen gewissen Namen in Kriegsdingen oder beim Sport, aber das ist längst vorüber.« »Rrrrk«, sagte eine vertraute Stimme. Es war Philo in seinem Käfig. Der Papagei ließ zu, daß Barnevelt ihn zwischen den Federn kraulte. Der König fuhr fort: »Spielt Ihr Chanijekka?« Barnevelt, der reichlich verwirrt war, weil Zei sich erhoben und ihm ihren Platz angeboten hatte, sah auf das Brettspiel nieder. Es kam ihm irgendwie bekannt vor: ein sechseckiges Brett mit dreieckigen Linien. »Vater!« sagte Zei, die sich ihre Zigarre an einer Gasdüse entzündet hatte, »wie oft muß ich dir noch sagen, daß es Chanizekash ausgesprochen wird?« »Die richtige Form lautet Chanichekr«, sagte Köni gin Alvandi.
»Das ist absurd, Mutter!« sagte Zei. »Es heißt Cha nizekash, nicht wahr, Zakkomir?« »Was immer du sagen magst, ist per definitionem richtig, o Kronjuwel des Zogha«, sagte der junge Mann artig. »Du Wetterfahne«, sagte die Königin. »Jeder Idiot weiß ...« König Kaj schnaubte. »Da ich nur mehr eine ZehnNacht zu leben habe, beim Qunjar, werde ich es nen nen, wie es mir beliebt!« »Wenn du es sagst, stimmt es wahrscheinlich nicht«, sagte Königin Alvandi. »Außerdem nehme ich es sehr übel, wenn du einen blutrünstigen Gott an rufst, der von meinen Ahnen aus dem Land verbannt wurde. Also, wir losen um die Farbe. Rot macht den ersten Zug.« Sie hielt ihm eine Faust voll Steine hin. König Kaj zog rot. Er sah den Stein kläglich an und sagte: »Wäre ich bei der Auslosung des Kashyo ebenso vom Glück begünstigt gewesen, dann wäre ich nicht gezwungen, einen elenden und frühen Tod ...« »Hör auf zu krächzen, du wurmstichiger alter Aqebat«, keifte die Königin. »Von allen meinen Ge fährten warst du er Nutzloseste, ob im Bett oder sonstwo! Als ob du im vergangenen Jahr nicht jeden Luxus genossen hättest, den das Land bieten kann. Und jetzt zum Spiel! Du hältst uns auf.«
Barnevelt schloß daraus, daß Kaj einer der EinJahres-Gatten war, den die seltsamen Gebräuche die ses Landes vorschrieben, und daß das Ende seiner Dienstzeit und seines Lebens sich in Form des Kas hyo-Festes schnell näherte. Unter diesen Umständen konnte er es Kaj nicht verübeln, daß er alles in düster stem Licht sah. »Zakkomir«, sagte Prinzessin Zei, »mit diesem Zug erreichst du gar nichts. Warum hast du dir nicht eine richtige Leiter konstruiert?« »Spiel dein Spiel und steck deine große Nase nicht in mein Spiel, Süße«, erwiderte Zakkomir. »Eine Unverschämtheit!« rief Zei aus. »Herr Snyol, würdet Ihr meine Nase groß nennen?« »Ich würde sie eher aristokratisch nennen«, sagte Barnevelt, der die kühnen Züge der Prinzessin mit verstohlenen Blicken gemustert hatte. Er strich über seinen nicht eben kleinen Gesichtserker. »Wieso?« fragte sie, »ist eine Adlernase ein Zeichen edler Geburt in Nyamadze? Bei uns ist es genau um gekehrt. Je flacher, desto edler. Vielleicht sollte ich mich in Euer kaltes Klima zurückziehen, wo meine Häßlichkeit dank der Alchimie von Sitte und Gebräu chen in Schönheit verwandelt wird.« »Häßlichkeit!« sagte Barnevelt und wollte sich ein hübsches Kompliment ausdenken, als Zakkomir ihn unterbrach:
»Weniger weibliches Selbstlob, Madame, und mehr Aufmerksamkeit fürs Spiel. Wie der große Kurde bemerkte, überdauert Schönheit der Gedanken und Taten jene von Haut und Fleisch, zumal dann, wenn Letzteres nicht sonderlich verführerisch ist.« »Und mich freut es gar nicht zu hören, wie man sich über unsere Sitten hinwegsetzt«, grollte Königin Alvandi. »Diese Selbstbespiegelung ziemt sich viel leicht für eitle und alberne Männer, aber nicht für ei ne Vertreterin des stärkeren Geschlechts!« Zei, die ein wenig eingeschüchtert wirkte, widmete sich wieder dem Spiel. Zakkomir wandte sich an Bar nevelt. »General Snyol ... oh, General!« Barnevelt hatte Zei wie in einem Trancezustand beobachtet und erwachte nun mit einem Ruck. »Hm? Entschuldigt bitte ...« »Sagt mir, wie steht es mit den Vorbereitungen zur Gvam-Jagd?« »Beinahe erledigt. Wir brauchen nur mehr unsere Rechnungen zu zahlen, die Besatzung auszuwählen und das Überholen des Schiffes zu beaufsichtigen.« »Ich wäre geneigt, mit Euch mein Glück zu versu chen«, sagte Zakkomir. »Schon lange gelüstet es mich nach einem solchen Abenteuer ...« »Das wirst du nicht!« rief die Königin. »Das ist für einen Vertreter deines Geschlechts viel zu gefährlich. Als dein Vormund verbiete ich es! Auch würde es gar
nicht gut aussehen, wenn ein dem Königshaus Nahe stehender sich an diesem ehrlosen Geschäft beteiligt. Kaj, du hundsgemeiner Düsterling, meinen Zug zu blockieren! Könnten wir doch den Tag des Festes vorverlegen! Aber wir sind ja an die astrologischen Konstellationen gebunden.« Barnevelt war froh über das Eingreifen der Köni gin. Zakkomir mochte ja unter seiner Schminke ganz in Ordnung sein, aber es war sicher nicht gut, wenn Fremde bei der Angelegenheit mitmachten, noch da zu, da die Expedition nicht das war, als was sie sich tarnte. »In Wahrheit ist es so«, sagte Zei, »daß man sich nicht leichtsinnig in die Gefahren der Banjao-See stürzen sollte. Könnten wir Euch, meine Herren, dazu überreden, dieses kühne Unternehmen aufzugeben, wären Euch hohe Stellungen in unserer Armee sicher, die zur Zeit kläglich unorganisiert ist und Offiziere von Eurem Schlage braucht!« »Was soll das?« sagte Tangaloa. Die Königin übernahm die Antwort: »Meine alber nen weiblichen Krieger beklagen sich, daß die Männer sie aus verschiedenen Gründen nicht heiraten wollen, aus völlig hirnverbrannten Gründen. Es gibt Eifersüch teleien zwischen den verschiedenen Einheiten und Ge horsamsverweigerung unter den Offizieren – ach, eine lange und komplizierte Geschichte. Der langen Rede
kurzer Sinn: ich muß meine Prinzipien dem Wind menschlicher Schwäche beugen und einen männlichen General anwerben, der ein paar Köpfe zurechtsetzt. Und da diese Tätigkeit unseren Männern nicht gestattet ist, muß ich meinen General in fremden Landen su chen, mag eine solche Wahl auch unseren Stolz verlet zen. Begreift Ihr nun die Bedeutung?« König Kaj, der selten ein Wort anbringen konnte, meldete sich: »Wann gedenkt Ihr auszulaufen, meine Herren?« »Nicht rasch genug, um dir zu nützen!« schnappte Alvandi. »Ich merke schon, woher der Wind weht, meine Freunde. Er will Euch dazu verleiten, ihn in ei nem Sack an Bord zu schmuggeln und damit den ge rechten Zorn der Muttergöttin heraufbeschwören, in dem er ihr den gerechten Preis für die Herrschaft des heurigen Jahres entzieht. Wisset, Herren, daß Ihr diesbezüglich Vorsicht walten lassen müßt; denn heu te habe ich die Todesurteile dreier elender Männer unterschrieben, die unerlaubt das Land verlassen wollten, zweifellos um sich den verdammten Freibeu tern des Sunqar anzuschließen. Und was diesen mei nen alternden Idioten betrifft ...« Kaj erhob sich und rief aus: »Genug, du Hure! Mag meine Zeit auch kurz bemessen sein, so erspare mir wenigstens dein übles Gequatsche! Hol den Astrolo gen. Er soll die Partie für mich fertig spielen.«
Er ging aus dem Raum. »Brabbelnder alter Narr!« schrie ihm die Königin nach. Sodann winkte sie einem Lakai und ließ den Hofastrologen holen. Zu Zei sagte sie: »Such dir im mer nur junge Gatten, Tochter. Diese Alten sind völ lig nutzlos – bereiten einem kein Vergnügen als Le bende und erweisen sich als Tote zäh wie Leder.« Barnevelt sagte: »Sie essen ihn auf?« »Certes. Das ist ein traditioneller Teil des KashyoFestes. Wenn Ihr daran teilnehmt, werde ich Euch ein saftiges Stück servieren lassen.« Barnevelt schauderte. Tangaloa hingegen nahm diese Neuigkeit ganz ruhig auf und murmelte etwas von den Sitten der Azteken. Zeis volle Lippen waren seit dem Weggang Kajs verschlossen geblieben. Jetzt brach es aus ihr heraus: »Niemals wieder werde ich Freunde zu diesen Fami lienzusammenkünften einladen! Diese Reisenden müssen uns für Barbaren halten ...« »Was erlaubst du dir, deine Eltern zu rügen?« brüllte die Königin. »Meine Herren, vor einer Zehn-Nacht, war sie, die jetzt so sittsam tut, bei einer Gruppe junger Taugenichtse, die, angeführt von diesem Possenreißer, ihrem Adoptivbruder (sie zeigte auf Zakkomir), sich splitternackt auszogen und den Hauptbrunnen im Palastgarten erklommen, als wären sie eine Figurengrup pe, die Panjaku dort aufstellen will. Ich ging mit Gästen
aus Balhib – aus uralter Familie – im Park spazieren. Die sagten: ›Ach, das ist also die neue Gruppe des großen Bildhauers. Wir dachten, sie wäre noch nicht vollen det.‹ Und während ich mit großen Augen dastand und mich fragte, ob sich meine Günstlinge einen Scherz er laubt hatten, erwachten die Statuen zum Leben und sprangen uns entgegen, völlig durchnäßt, unter vielen unziemlichen Scherzen und großem Gelächter ...« »Ruhig!« rief Zakkomir und wollte sich plötzlich durchsetzen. »Wenn ihr Frauen nicht endlich mit dem ewigen Gekeife aufhört, werdet ihr mich ver treiben wie den armen Kaj. Wir wollten mit unserem Scherz keinen Schaden anrichten. Der Gast aus Balhib hat mit den übrigen gelacht, als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte. Reden wir jetzt von erfreuli cheren Dingen. General Snyol, wie seid Ihr aus den Folterkammern der Kanganditen entkommen, zu de nen man Euch wegen Häresie verdammt hat?« Barnevelt sah den Fragenden verdutzt an. Der ech te Snyol von Pleshch mußte also ein General gewesen sein, der von der offiziellen Religion seines Landes abgefallen war. Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Es tut mir leid, aber ich kann darüber nichts sa gen, ohne die in Gefahr zu bringen, die mir geholfen haben.« In diesem Augenblick kam der Hofastrologe her ein. Barnevelt atmete erleichtert auf, als das peinliche
Gespräch unterbrochen wurde. Der Astrologe, ein al ter Kauz, der als Qvansel vorgestellt wurde, sagte: »Ich muß Euch das Horoskop zeigen, das ich für Euch ausgearbeitet habe, General Snyol. Schon lange verfolge ich Eure Laufbahn, und alles ist so gekom men, wie es die Himmelskörper vorhergesagt haben. Sogar Eure Ankunft in der Hauptstadt und am Hofe Qiribs!« »Sehr interessant«, sagte Barnevelt. Wenn er dem alten Knaben bloß hätte sagen können, wie sehr er sich irrte! Der Astrologe fuhr fort: »Zusätzlich möchte ich ei ne Gunst erbitten. Wollt Ihr mich Eure Zähne sehen lassen?« »Meine Zähne?« »Ja. In aller Bescheidenheit gesagt: ich bin der füh rende Dentist des Königreiches.« »Danke, aber ich habe keine Zahnschmerzen.« Die Fühler des Astrologen sträubten sich. »Ich den ke nicht an Zahnschmerzen und deren Heilung. Ich möchte Charakter und Bestimmung aus Euren Zäh nen lesen. Eine Wissenschaft, die an Exaktheit nur der königlichen Lehre von den Sternen nachsteht.« Barnevelt gelobte sich, daß er, sollte er je Zahn schmerzen haben, niemals zu einem Dentisten gehen würde, der aus den Zähnen seiner Patienten die Zu kunft las.
»Herr Snyol!« kläffte die Königin. »Ihr seid am Zug. Wie Ihr wissen müßtet, wenn Eure Blicke auf dem Spielbrett und nicht auf meiner Tochter ruhten!« Sie wurden nach zwei Tagen abermals eingeladen und dann wieder am nächsten Tag. Bei diesen Gele genheiten freute sich Barnevelt, daß er es nicht mit dem trüben König und der aggressiven Königin zu tun hatte. Nur Zeit, Zakkomir und deren junge Freunde waren anwesend. Vorsichtige Erkundigun gen über den Janru-Handel und das Verschwinden Shtains brachten nichts Neues. Barnevelt wunderte sich, warum er und George im Palast so plötzlich Gunst gefunden hatten. Er hätte eher gedacht, daß königliches Blut bei der Auswahl seines Umgangs sehr wählerisch war, und es schmeichelte ihm, daß er trotz seiner bescheidenen Beherrschung der Sprache Zeis Gunst durch die Kraft seiner Persönlich keit gewonnen hatte. Obwohl George gesellschaftlich versierter war als er, widmeten sie Barnevelt doch mehr Aufmerksamkeit als seinem Gefährten. Schließlich folgerte Barnevelt, daß es sich um ein Zusammentreffen von mehreren Faktoren handelte. Die gesellschaftlich Führenden dieser entlegenen Stadt langweilten sich und hießen zwei exotische, mit eindrucksvollen Empfehlungen ausgestattete Fremde herzlich willkommen, noch dazu, wenn sie damit vor
ihren Freunden prahlen konnten. Alle, besonders aber der zur Heldenverehrung neigende Zakkomir, waren von den Taten des vermeintlichen Snyol von Plesh stark beeindruckt. Und außerdem meinten es Zei und Alvandi mit ihrem Angebot ernst. Im ganzen gesehen fand er die Jeunesse d'orée von Ghulinde sehr nett. Nutzlos, wenn man strengere Maßstäbe anlegte, aber im allgemeinen freundlich und charmant. Aus dem Geplauder entnahm er, daß es in dieser Klasse auch Ausschweifende gab, doch die waren im Palast nicht willkommen. Zakkomir in seiner Rolle als Mündel des Throns schien derjenige zu sein, der die gesellschaftliche Liste zusammenstell te und als Bindeglied zwischen der Außenwelt und Zei fungierte, die den Eindruck erweckte, daß sie ein ziemlich zurückgezogenes Leben führte. Barnevelt fiel auf, daß die Prinzessin viel lebhafter wurde, wenn ihre Mutter nicht in der Nähe war – fast überschäumend. Vielleicht hatte sie ein ähnliches Problem wie er, dachte er mitfühlend. Und dann begann ihm etwas anderes Sorgen zu machen: Immer öfter ertappte er sich dabei, daß er Zei verstohlene Blicke zuwarf und an sie dachte, wenn er nicht im Palast war. Er freute sich jedesmal auf den nächsten Besuch. Außerdem schienen sie gei stig zu harmonieren. Während der häufigen Streitge spräche entdeckte er, daß er und sie sehr oft die Mei
nung teilten und die übrigen gegen sich hatten. (Tan galoa enthielt sich jeglicher Ansichten und betrachtete das Spektakel mit unbeteiligter Belustigung. Nachher notierte er sich soziologisch interessante Dinge.) Nach mehreren Besuchen im Palast fühlte sich Bar nevelt mit Zei schon genügend vertraut, um es vor al len anderen mit ihr aufzunehmen. Um das Protokoll kümmerte er sich nicht. Eines abends schlug er sie haarscharf beim Brettspiel, indem er einem ihrer blockierenden Züge ausgewichen war. Daraufhin äu ßerte sie ein paar Wörter auf Gozashtandou, von de nen er nie gedacht hätte, daß sie sie kannte – falls sie sie nicht kürzlich von Philo gelernt hatte. »Na, na, es hat keinen Sinn, wenn Ihr Euch aufregt, meine Teuerste. Hättet Ihr besser achtgegeben, statt über das gefleckte Ei zu klatschen, das Lady Whoozis gelegt hat, würdet Ihr ...« Wumm! Zei nahm das Spielbrett und ließ es un sanft auf Barnevelts Kopf landen. Da es aus gutem, solidem Holz und nicht aus irdischem Pappendeckel war – und da Barnevelt kein Haar hatte, das den Schlag gedämpft hätte, sah er Sterne blitzen. »Das ist für Eure Kritik, Herr Besserwisser Snyol!« Barnevelt langte hin und schlug ihr klatschend auf die hintere Backe. »Au!« schrie sie auf. »Das hat wehgetan! Ein ziem lich überheblicher Scherz, fürwahr ...«
»Das Brett hat auch wehgetan, Gnädigste, und ich bin es gewohnt, die anderen so zu behandeln, wie sie mich behandeln. Sollen wir uns wieder dem Spiel widmen und von vorn anfangen?« Als sie sah, daß die anderen eher belustigt als indi gniert waren, beruhigte sich Zei und nahm den Schlag mit Humor hin. Doch als Barnevelt ihr förm lich ›Gute Nacht‹ an der Tür gewünscht hatte und gehen wollte, erntete er einen Schlag auf seine Sitzflä che, daß er fast umgefallen wäre. Er drehte sich zu Zei um, die in der Hand einen Besen hielt. Zakkomir wälzte sich vor Vergnügen auf dem Teppich. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten, wie Nehavend sagt«, bemerkte sie süß. »Gute Nacht, Ihr Herren, und vergeßt den Weg hierher nicht.«
13
Barnevelt arbeitete hart mit seiner Mannschaft. Da er wußte, daß seine Schüchternheit oft von denen, die ihn nicht kannten, als Überheblichkeit oder Kälte angese hen wurde, gab er sich Mühe, mit den Seeleuten beson ders kameradschaftlich umzugehen. Sie waren begei stert, daß einer seines Ranges so ungewohnt vertraut mit ihnen umsprang. Nach einem Übungstag mit der Besatzung im Hafen, waren bei dem darauffolgenden Besuch im Palast nur Zei und Zakkomir zu sehen. Die Königin sah nur zu einer kurzen Begrüßung herein, und der König trat überhaupt nicht in Erscheinung. »Er ist betrunken, der arme Verworfene«, sagte Zakkomir. »Ich übernehme daher seine Rolle. Seit neuestem verbringt er seine gesamte Zeit in seinen Gemächern, besäuft sich und spielt mit seiner Zigar renkistensammlung. Er hat eine kostbare Sammlung – wunderbare Sachen, edelsteinbesetzt und mit feiner Einlegearbeit und dazu Trickexemplare, wie eines, das beim Öffnen eine Melodie spielt.« »Könnte ich die mal sehen?« fragte Tangaloa. »Certes, Herr Tagde. Das würde den alten Knaben riesig freuen. Seine Sammlung zu zeigen, ist seine einzige Freude im Leben und dazu hat er nur selten Gelegenheit. Die Königin spottet über seine Begeiste
rung, und die Besucher tun es ihr gleich, um ihr zu schmeicheln. Ihr entschuldigt uns, werter Herr und Gnädigste, falls Ihr nicht auch kommen wollt?« »Nein, besten Dank«, sagte Barnevelt. Zakkomir und Tangaloa gingen. »Wann wollt Ihr in See stechen?« fragte Zei. Barnevelt, der eine sonderbare Atemlosigkeit spür te, erwiderte: »Es könnte übermorgen losgehen.« »Ihr dürft nicht weg, ehe Ihr nicht das Kashyo-Fest erlebt habt! Wir haben für Euch die zwei erlesensten Plätze reserviert, in unmittelbarer Nähe der königli chen Familie.« Barnevelt entgegnete: »Es klingt vielleicht unhöf lich, aber die Schlachtung Eures armen alten Stiefva ters ist ein Anblick, auf den ich verzichten könnte.« Nach einigem Zögern sagte sie: »Stimmt es, daß wir deswegen in anderen Ländern kritisiert werden, wie Zakkomir behauptet?« »Um die Wahrheit zu sagen – manche Völker sind entsetzt.« »Das sagt Zakkomir auch, aber ich habe es bezwei felt, weil er insgeheim mit der Reform-Partei sympa thisiert.« »Jene Partei, die dafür eintritt, daß die Könige nicht mehr getötet werden?« »Ebendieselbe. Kein Wort davon zu meiner gnädi gen Mutter, damit sie es in ihrem Zorn Zakkomir
nicht fühlen läßt. Man hat ihr durch Zwischenträger gemeldet, daß man die grausame Sitte abschaffen möchte. Sie hat nichts davon hören wollen. Unser Land ist unter der ruhig wirkenden Oberfläche ein Hexenkessel verräterischer Komplotte und Intrigen.« »Was werdet Ihr tun, wenn Ihr einmal Königin seid?« »Das weiß ich nicht. So sehr ich mir der angeführ ten Gründe bewußt bin, die gegen unseren Brauch sprechen, so wird meine Mutter doch Zeit ihres Le bens einen starken Einfluß auf die Angelegenheiten Qiribs nehmen. Und wie sie sagt, gäbe es nichts Bes seres, um das männliche Geschlecht an seinem rechtmäßigen Platz zu halten, als wenn man den ranghöchsten Mann alle Jahre tötet, ganz abgesehen von den Forderungen der wahren Religion.« »Das hängt davon ab, was man rechtmäßigen Platz nennt«, sagte Barnevelt, der sich dachte, daß Qirib ei ne – was war bloß das Gegenteil von ›Feministen‹, – etwa ›Maskulist‹? – Maskuline-Partei nötig hatte. »Nein«, sagte Zei, »Ihr sollt nicht so reden wie Zakkomir. Unser blühendes Reich ist der positive Beweis für die Rechtmäßigkeit der Vormachtstellung des weiblichen Geschlechts.« »Ich könnte Euch blühende Gemeinwesen aufzäh len, in denen Männer die Frauen regiert haben und andere, in denen beide gleichberechtigt sind.«
»Ein lästiger Kerl seid Ihr. Wie ich schon sagte, als Ihr mich so rüde auf die Backe geschlagen habt. Ihr seid kein Qiribu!« »Nun, meine störende Gegenwart währt nicht mehr lange. Ihr könntet mir in der Tat einen nützli chen Rat geben. Besteht eine Verbindung zwischen den Banjao-Piraten, dem Janru-Handel und Qirib?« Sie starrte auf ihre Zigarre. »Mir scheint, wir wech seln lieber das Thema, damit wir uns nicht auf ge fährlichen Boden vorwagen, wo die Sicherheit des ei nen nur durch ein Opfer des anderen garantiert wird ...« Auf dem Heimweg sagte Barnevelt: »George, über morgen setzen wir die Segel.« »Bist du verrückt? Ich möchte diese grausame Ze remonie nicht um alles in der Welt versäumen. Denk doch an den Film, den wir bei dieser Gelegenheit drehen können.« »Ja, schon, aber mir wird übel, wenn ich daran denke, daß sie den armen Kaj vor meinen Augen tö ten und sieden. Nicht zu reden von dem Stück, das ich dann von ihm essen muß.« »Woher willst du wissen, wie er schmeckt? Unter meinen Vorfahren herrschte die Sitte, daß der Sieger in einem Sportwettkampf den Verlierer verzehrte.« »Aber ich bin kein Südseeinsulaner! In meinem
Kulturkreis gilt es als unschicklich, Leute aufzuessen, mit denen man gesellschaftlich verkehrt.« »Hab dich nicht so«, sagte Tangaloa. »Kaj ist doch nicht richtig menschlich. Millionen Krishni sterben, was macht da schon einer mehr aus?« »Ja, aber ...« »Und wir können die Königin nicht sitzenlassen. Sie rechnet sicher mit uns.« »Ach, Unsinn. Wenn wir erst auf See sind ...« »Du vergißt wohl, daß wir eine Kaution hierlassen. Panagopulos wird nicht entzückt sein, wenn wir sie verlieren. Außerdem werden unsere Seeleute darauf bestehen, daß wir nach Beendigung der Expedition den Heimathafen anlaufen.« Ganz überrascht, daß George einmal einen festen Entschluß traf, gab Barnevelt nach. Er sagte sich, daß er es unter dem Gewicht von Tangaloas Argumenten tat – nicht deswegen, weil er sich dadurch mit Zei weiterhin treffen konnte. Trotzdem bewirkte diese Aussicht bei ihm eine Hochstimmung. Am Abend des Fests kontrollierte Zakkomir die Ge wandung Barnevelts und Tangaloas und befand sie standesgemäß. »Obwohl sie unüblich ist, werden die anderen Festteilnehmer Euch als Fremde, die es nicht besser verstehen, entschuldigen.« »Zeus sei Dank, daß wir nicht eine Toga anlegen
müssen«, murmelte Barnevelt. »Wenn ich mir vorstel le, wie ich damit bei heftigem Wind zurechtkommen soll ...« Nicht einmal Salomon in all seiner Herrlichkeit von einst war je so geschmückt gewesen wie Zakkomir. Er trug eine Art goldenen Sarong, juwelenbesetzte Arm reife, goldverzierte Sandal-Stiefel, einen goldenen Kranz im grünen Haar, das Gesicht bemalt wie eine Ballerina. Er führte sie in die Empfangshalle, wo die königlichen Tanten und Onkel sich drängten. Endlich ertönten Trompetenstöße und König und Königin schritten durch die Menge, die ihnen folgte. Kaj ging schwankend und sah verdrossener denn je aus, trotz der Anstrengungen der königlichen Schminkkünstler, einen fröhlichen Ausdruck in sein Gesicht zu pinseln. Zakkomir zeigte Barnevelt und Tangaloa, wo sie sich einreihen sollten. Er selbst ging Arm in Arm mit Zei hinter dem königlichen Paar. Da das Amphitheater, wo das Kashyo-Fest statt fand, an den Palastbezirk angrenzte, ging die Prozes sion zu Fuß. Zwei der drei Monde waren abwech selnd sichtbar, wenn die Wolken vorbeizogen, und ein warmer Wind blähte die Gewänder und Mäntel und ließ die Gaslichter flackern. Vor den Mauern des Palastgeländes stand in Massen das gemeine Volk von Ghulinde. Ein Keil von Nichtsnutzigen drängte sich nach vorn.
Das Amphitheater füllte sich rasch. Auf einer Seite war die königliche Loge. Der Raum in der Mitte der Anlage wurde von einem Ofen und einem neuen, rotbemalten Opferstein eingenommen. Die Schar, die sich um diese Gegenstände drängte, setzte sich zu sammen aus der alten Sehri, ihres Zeichens Hohe priesterin der Muttergöttin, mehreren Gehilfinnen, einige davon mit Musikinstrumenten, dem Palastkoch und einigen Helfern, und einem Mann, der über dem Kopf einen großen schwarzen Sack mit Augenschlitzen trug und sich auf den Stiel eines Beils stütz te, dessen Klinge wie ein Schlächterbeil aussah, aber doppelt so groß war. Die Köche schärften Küchen messer. Amazonen standen Posten auf den obersten Rängen des Theaters. Barnevelt saß in der zweiten Reihe, ein wenig rechts von der königlichen Loge, in der neben Köni gin und Prinzessin eine Schar königlicher Vettern und Basen Platz genommen hatten. Vor jeder Bank stand ein schmaler, tischartiger Aufbau. Kaj selbst war unten in der Mitte und kauerte, die Hände auf den Knien, auf dem Opferstein. Barnevelt sagte zu Tangaloa: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie man den armen Kaj so streckt, daß für alle ein Stück abfällt. Da müßte man schon Würstchen machen und konventionellere Fleischsorten dazumi schen. Was bekommen wir außerdem zu sehen?«
»Das Ganze ist künstlerisch aufgezogen. Die Wie derkehr der Sonne aus dem Süden wird von Tänzern dargestellt, dazu das Reifen der Ernte und derglei chen. Es wird dir gefallen.« Barnevelt hatte da seine Zweifel. Doch da sich das Amphitheater gefüllt und die Menge sich beruhigt hatte, wollte er sich auf keine Debatte einlassen. Die Hohepriesterin hob die Arme und rief laut: »Zuerst singen wir die Hymne an die Muttergöttin ›Heil dir, göttliche Mutter der Götter und Menschen‹. Seid Ihr bereit?« Sie schwenkte die Arme wie ein Dirigent. Die In strumente flöteten und zirpten, und das Publikum stimmte in einen Gesang ein. Die ersten Verse gingen flott dahin, doch dann wurde der Gesang dünner. Barnevelt bemerkte, daß viele sich umsahen, als ver suchten sie den Text von den Lippen ihres Nachbarn abzulesen. Er vermutete, daß viele Leute, wie bei al len Nationalhymnen, nur die ersten Strophen kann ten. Tangaloa filmte die ganze Szene unauffällig mit seiner Ring-Kamera. Als das Volumen des Gesanges abnahm, vernahm Barnevelt andere Geräusche, die an Stelle des Liedes traten: den Brandungslärm menschlichen Aufruhrs in einiger Entfernung. Am Ende der ersten Strophe hielt die Priesterin mit erhobenen Armen inne. In der nun eintretenden Stille kam der Lärm näher, löste sich in
einzelne Rufe, Kreischtöne und Metallgeklirr auf. Köpfe wandten sich um. In der obersten Reihe stand jemand auf, um hinauszusehen. Amazonen liefen aufgeregt umher und beratschlagten. Barnevelt wechselte einen verdutzten Blick mit Tangaloa. Der Lärm wurde lauter. Dann stürzte ein blutiger Mann durch einen Tun neleingang ins Theater und schrie: »Morya Sunqaru ma!« Jetzt begriff Barnevelt, daß der Lärm von einem Angriff der Piraten des Sunqar herrührte. In der nächsten Minute wurde er von einer PanikBewegung der Menge umgerissen. Er kämpfte sich wieder hoch. Vor ihm hielt sich Tangaloa an einer Ek ke der königlichen Loge fest, um nicht mitgerissen zu werden. Erneuter Lärm von einem der Eingänge her, und eine Gruppe von Piraten drängte trotz des Widerstandes der Amazonen herein. Barnevelt sah einige Kriegerin nen durch die Waffen der Eindringlinge fallen, andere wurden beiseitegedrängt. Durch andere Eingänge drängten sich weitere Piraten herein. Barnevelt tastete nach seinem Degen. Da fiel ihm ein, daß man ihm be deutet hatte, er solle ihn zu Hause lassen. Die Männer in Qirib waren alle unbewaffnet. Obwohl einige Frauen Schwerter trugen, schienen weder sie noch die Männer geneigt, davon Gebrauch zu machen.
Ein Pirat mit einer Fackel in der einen und einem Blatt Papier in der anderen Hand rief im QiriboDialekt: »Stehenbleiben! Wenn ihr nicht flieht, wird euch kein Leid geschehen. Wir möchten nur zwei Männer aus eurer Mitte!« Diese Ankündigung wie derholte er, bis sich der Aufruhr gelegt hatte. Von draußen drangen Rufe herein. Barnevelt ver mutete, daß die Piraten um das Theater einen Kordon gezogen hatten, um Flüchtlinge aufzuhalten. Auch hatte er eine schreckliche Vorahnung, wer die zwei sein könnten, die die Eindringlinge haben wollten. Königin Alvandi und Prinzessin Zei standen blaß, aber gefaßt in ihrer Loge. Der Großteil des Publikums drängte sich immer noch um die Ausgänge. Koch, Scharfrichter und die meisten Priesterinnen waren im allgemeinen Gedrän ge der Menge verschwunden. König Kaj und die Ho hepriesterin standen allein in der Mitte. Der Piratenführer mit der Fackel rief: »Wir wün schen ...« In diesem Augenblick gingen die Gaslichter aus. Die plötzliche Verdunkelung brachte ein paar Se kunden Stille, dann erhob sich Gemurmel, das zu ei nem Brüllen anschwoll. »Snyol! Ihr dort, Snyol von Pleshch!« rief eine Stimme. Barnevelt sah sich um. Einige Meter vor ihm stand
König Kaj im schwachen Licht eines der Monde. Der König trug ein triumphierendes Lächeln zur Schau, in der Hand das Beil des Scharfrichters. »Ja, du!« wiederholte der König. »Bringt die Köni gin in den Palast! Euer Gefährte Tagde soll die Prin zessin begleiten!« »Und Ihr?« rief Barnevelt zurück. »Ich bleibe hier. Zu mir – alle treuen Qiribuma, zu mir! Zu mir! Wir wollen diese Bande von Gaunern ausrotten!« »Ich bin dabei!« hörte man Zakkomirs hohe Stim me. Der junge Mann sprang mit dem Schwert einer Dame aus der Loge. Zu ihm gesellten sich ein paar beherzte Bürger und die Reste der Amazonengarde. Mit dem König an der Spitze, der das Beil schwang, fielen sie über die Piraten her. Waffengeklirr erstickte die Stimmen. Als Barnevelt sich umdrehte, sah er, daß Tangaloa in die königliche Loge eindrang, Zei packte und sie durch den privaten königlichen Ausgang hinaus schaffen wollte. Obwohl Barnevelt diese Aufgabe lie ber selbst übernommen hätte, blieb ihm nichts übrig, als den Befehl des Königs zu befolgen. Er kletterte Tangaloa nach und packte die Königin am Arm. »Komm mit, Hoheit«, sagte er. »Aber Ihr – er ...« »Reden könnt Ihr später.«
»Ich komme nicht, ehe ...« Barnevelt zog das Schwert der Königin, ein spiel zeuggroßes Ding, das aber wenigstens eine Spitze hatte. »Ihr werdet mitkommen, oder ich versohle Euch damit!« Sie trotteten den Tunnel entlang, durch den die kö niglichen Tanten und Vettern bereits entflohen wa ren. Draußen brachen die Suche und Festnahmen, die die Piraten sorgfältig organisiert hatten, mit dem Er löschen der Lichter rasch zusammen. In alle Richtun gen liefen die Menschen davon. Da und dort kämpf ten Männer mit Schwertern und Hellebarden in der Dunkelheit. Ein Einheimischer hielt Barnevelt für ei nen Piraten und ging auf ihn los. Barnevelt parierte den ersten Hieb. Ein Schrei der Königin klärte den Mann auf. Ein anderer Typ mit einer Fackel stellte sich ihnen entgegen und sagte: »Halt! Ah, das ist der ...« Es war der Spezialist in Liebesdingen Gavao erGargan. Barnevelt stieß ihm das Schwert durch den Bauch. Er brach zusammen und ließ im Umsinken die Fackel fallen. Dann sah sich Barnevelt einem anderen gegenüber. Der Pirat unternahm einen Angriff. Barnevelt parierte und spürte, wie die Schwertspitze traf. Doch statt umzufallen, kämpfte der Pirat weiter. Bei Krishni
konnte man eben nie sicher sein, ein lebenswichtiges Organ zu treffen, falls man ihre Physiologie nicht kannte. »Heroun, du Teufel«, schrie die Königin dem Pira ten zu. »Darüber reden wir morgen, du räudige ...!« keuch te der Pirat, und ging auf Dirk los. Sie waren noch immer mitten im Kämpfen, als ein anderer Qiribu dem Piraten von hinten mit einer kleinen Statue eins über den Schädel gab. Bumm! Irgendwo wurde auf einer Trompete eine kompli zierte Tonfolge geblasen. Die Menschenmenge war inzwischen ziemlich geschrumpft, und die Piraten schienen sich zurückgezogen zu haben. In einiger Entfernung sah Barnevelt zwei von ihnen über die gewaltige Treppe, die von Ghulinde hinunter nach Damovang und zum Meer führte, zurücklaufen. Er stieg über eine auf dem Boden liegende Leiche, dann über einen, der sich noch bewegte. Stöhnen aus der Finsternis war der Beweis dafür, daß man noch ande re Verwundete zurückgelassen hatte. Vor dem Hauptportal des Palasts hatte die Amazo nengarde einen doppelten halbkreisförmigen Kordon gebildet. Die erste Reihe kniete, die dahinter standen. Ihre Speere ragten wie die Stacheln eines Stachel schweins in die Luft. Auf ein Wort der Königin gaben sie den Weg frei.
»Hast du meine Tochter gesehen?« fragte sie die Ranghöchste. »Nein, Hoheit.« Barnevelt sagte: »Ich gehe zurück und sehe mich nach ihr um, Königin.« »Geht und nehmt ein paar Amazonen mit. Wir brauchen hier nicht alle, da sich diese Landstreicher zurückgezogen haben.« Barnevelt führte ein halbes Dutzend der weiblichen Soldaten den Weg zurück, den er gekommen war. Ei ne hatte ein Lämpchen bei sich. Er stolperte über Lei ber und traf nur auf eine Person, die die Flucht er griff, ehe man sie identifizieren konnte. Die Rüstun gen der Mädchen klirrten hinter Barnevelt. Er war si cher, sich verirrt zu haben, und sah sich suchend um, als ein kleines Funkeln wie von einem Stern seinen Blick festhielt. Er lief hin und fand die Körper der zwei Piraten, die er erstochen hatte. Daneben lag Gavaos Fackel, die nur noch mit schwacher Flamme brannte. Im Mondschein sah Barnevelt ein weißes Viereck auf dem Weg liegen. Er hob ein Stück Papier auf und drehte es um. Die andere Seite war dunkel. »Leiht mir Eure Lampe«, sagte er und untersuchte im schwachen Schein der Flamme das Papier. Es war ein Abzug des Fotos, das der alte Fotograf in Jazmurian von ihm und Tangaloa gemacht hatte.
Er steckte das Bild ein und dachte: Wie gut, daß die Königin nicht weiß, daß die Piraten hinter George und ihm her gewesen waren. Sicher hätte sie einer Auslieferung zugestimmt. »George!« rief er in die Dunkelheit. »Tagde von Vyutr! George Tangaloa!« »Ist es mein Herr Snyol?« rief eine Stimme. Schritte und Geklirr kamen näher. Doch war es nicht George Tangaloa, sondern Zakkomir bad-Gurshmani, der hinkte. Hinter ihm kam eine kleine Gruppe Leute, bei denen auch zwei Amazonen waren. »Wo ist der König?« fragte Barnevelt. »Im Kampf gefallen. So hat er ein glücklicheres En de gefunden, obwohl er dem ihm vorbestimmten Schicksal nicht entgangen ist. Die Königin wird na türlich wütend sein.« »Warum?« »Weil ihre Zeremonie ausfällt. Und zusätzlich, weil dadurch die Neigung für die Gleichberechtigung der Männer gestärkt wird. Noch ein Mann, der Palast verwalter nämlich, war so geistesgegenwärtig, das Gas abzudrehen. Überdies hatte Kaj noch viel vor. Nachdem er zwei Räuber erledigt hatte, sagte er zu mir: ›Wenn wir hier gewinnen, kommen als nächste die alten Hexen dran‹, womit er, wie ich glaube, die Königin und die Priesterin Sehri gemeint hat. Und dann hat ihm die Klinge eines Piraten die Kehle
durchgeschnitten, als er sich umdrehte. Aber genug davon – wo sind Euer Freund und die Prinzessin?« »Das frage ich mich auch«, sagte Barnevelt und rief nach den beiden. Die Gruppe schwärmte aus. Nach vielem Stöbern im Gebüsch rief eine Amazone: »Hier liegt einer mit kahlem Kopf.« Barnevelt lief hin und sah, daß es Tangaloa war, der mit dem Gesicht nach unten dalag. Der rasierte Kopf war über einem Ohr zu einer blutigen Masse geschlagen. Zu seiner unendlichen Erleichterung ent deckte er, daß Georges Puls noch immer schlug. Als eine Amazone Tangaloa einen Helm voll Brunnen wasser ins Gesicht schüttete, schlug er die Augen auf und stöhnte. Auch der rechte Arm war blutig. Der Muskel war durchschnitten. »Was ist passiert?« fragte Barnevelt. »Wo ist Zei?« schrie Zakkomir wie das Echo. »Ich weiß nicht. Ich habe ja gesagt, ich bin im Schwertkampf unfähig. Einen habe ich auf den Kopf geschlagen, doch das Schwert des Mädchens ist auf seinem Helm zerbrochen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.« »Geschieht Euch recht«, murmelte Zakkomir, als ihm das Gesagte übersetzt worden war. »Eine leichte Stoßklinge zu einem Hieb zu verwenden! Wo ist un sere Prinzessin?«
»Laßt mich überlegen«, sagte Tangaloa und hielt sich mit der linken Hand den Kopf. »Kurz zuvor hat te jemand sie gepackt, und ein anderer rief etwas, das wie ›beide packen‹ klang. Alles hat durcheinander gerufen. Das ist alles.« »Das reicht«, sagte Zakkomir. »Daraus können wir entnehmen, daß man sie entführt hat. Mushai, lauf hinauf auf den obersten Rang des Theaters und sieh nach, ob schon sämtliche Piratenschiffe ausgelaufen sind. Wenn nicht, dann haben wir vielleicht noch Zeit ...« Doch Mushai rief kurz darauf herunter, daß die Flotte der Morya Sunqaruma bereits in See gestochen sei.
14
Die Königin tobte. »Feiglinge!« schrie sie. »Ich sollte das ganze räudige Pack töten lassen – und Euch, Ihr dreckigen Fremdlinge, dazu!« ergänzte sie und wies auf Barnevelt und Tangaloa. Letzterer trug einen Verband um den Arm. »Was ist eine Monarchie ohne Monarchen? Nichts als ein Pöbelhaufen! Und was ist eine Königin, deren Untertanen zu ihrer Rettung nicht ihr Blut vergießen? Niederträchtige Schurken, alle meine Untertanen! Verbrennt das Pack! Warum sollen sie leben, wenn mein Herzblatt verschwunden ist?« »Nun, nun«, besänftigte Qvansel, der Astrologe. »Hoheit, was geschehen ist, hat in den Sternen ge standen und war unvermeidlich. Sheb in Opposition zum Roqir hat ergeben ...« »Halt die Klappe! Fürs Sterngucken hast du Zeit, wenn mein Mädchen gerettet ist. Hallo, Ihr da!« Die Königin zeigte mit ihrem dicken Zeigefinger auf den altjüngferlichen Minister. »Wie erklärt ihr Euch diese niederträchtige Stümperei?« »Darf ich frei heraus reden?« »Sprecht«, sagte die Königin, obgleich ihre Miene einer gereizten Löwin glich und Offenheit nicht rat sam zu sein schien.
»So hört mich, Hoheit! Das Geschehene war Bestim mung – doch nicht aus Gründen, die unser sternkundi ger Freund angibt. Seit fünf Herrscherperioden hat das Recht zum Waffentragen in diesem Land für unser ei genes Geschlecht nur beschränkt bestanden. Daher sind unsere männlichen Untertanen den Kampfschock nicht gewohnt, während es unseren Frauen, obgleich sie kühn sind, an Größe und Körperkraft mangelt, um diesen zügellosen Plünderern entgegenzutreten.« Die Königin blickte finster drein. »Gut, daß Ihr mir das Versprechen der Immunität abgerungen habt, sonst, bei den sechs Brüsten der Varzai, würde ich Euch das Fleisch von den alten Knochen abziehen für Euer hochverräterisches Gerede! Überlegen wir lie ber, was zu tun ist. Und kein Wort von einer Ände rung der Grundlage unseres Staates! Lieber sehe ich Ghulinde dem Erdboden gleichgemacht und die Lei ber seiner Bewohner zu Pyramiden aufgetürmt, als daß ich die Fackel erlöschen lasse, die unser Staat in dieser traurigen Welt trägt, indem er dem besseren Geschlecht den ihm gebührenden Platz zuweist. Wie wäre es mit einer Rettungsexpedition?« »Steht im Bereich des Möglichen«, sagte der Mini ster, »zweifellos haben die Sunqaruma die Absicht, Zei als Geisel festzuhalten. Sicher würden sie sie tö ten, wenn Ihr einen Angriff wagtet.« Die Hohepriesterin Sehri murmelte etwas von zu
hohen Kosten, und die Anführerin der Amazonen protestierte: »Obwohl wir den Männern an Kühnheit nicht nachstehen, Hoheit, so ist doch der Sunqar ein schreckliches Gebiet, da man dort weder gehen, noch mit einem Boot fahren kann. Mich dünkt, die Situati on verlangt eher nach List als nach brutaler Gewalt.« »List?« sagte die Königin und sah von einem zum andern. »Wie wäre es zum Beispiel, eine kleine Gruppe unter einem plausiblen Vorwand in diese dunstige Fe stung einzuschmuggeln? Die soll dann meine Tochter retten.« Die funkelnden Äuglein blieben an Barnevelt hängen. »Ihr, mein Herr, behauptet, Ihr wollt den Gvam-Stein in der Banjao-See suchen, um damit die Lust von Wüstlingen anzuheizen. Ihr erwerbt ein pas sendes Schiff, reichlich Ausrüstung, heuert Leute an – außerdem, so melden mir meine Spione, besorgt Ihr Euch die gebrauchte Uniform eines Expreßboten. Wo zu letzteres? Könnte es sein, daß Ihr beide ebenfalls ei nen Plan habt, verkleidet in den Sunqar einzudringen?« Diese unfehlbare Alvandi, dachte Barnevelt bei sich und schenkte ihr ein nichtssagendes Lächeln. »Man weiß nie, ob man so ein Ding nicht brauchen kann, Hoheit.« »Hm! Eure Ausflucht fasse ich als Zustimmung auf. Nun, ich will Euch nichts in den Weg legen. Und ich gebe Euch hiermit den Auftrag, die Prinzessin aus den Fängen dieser Übeltäter zu befreien!«
»He!« rief Barnevelt. »Darum habe ich mich nicht beworben!« »Wer behauptet denn das? Es ist mein Befehl, und Ihr müßt gehorchen. Ihr werdet morgen auslaufen!« »Aber ohne meinen Freund Tagde gehe ich nicht, und der kann erst, wenn sein Arm verheilt ist.« »Ich komme gern mit«, sagte Zakkomir. »Es ist mir eine große Ehre, unter dem großen Snyol zu dienen.« Barnevelt sah den jungen Krishni wild an und wandte sich wieder an die Königin. »Ich bin kein Bürger von Qirib! Was soll mich daher abhalten, mei nen eigenen Angelegenheiten nachzugehen, wenn ich erst außer Landes bin?« »Die Tatsache, daß erstens Snyol von Pleshch dafür bekannt ist, ein einmal gegebenes Wort zu halten, und zweitens, daß Euer Begleiter als Geisel bei mir bleibt, um Eure Fügsamkeit zu gewährleisten. Wa chen! Nehmt diese beiden fest und holt den Scharf richter mit seinen Folterinstrumenten!« Ein paar Amazonen packten Dirks Arme. Er wehrte sich, doch sie waren kräftig, und ehe er seine irdi schen Hemmungen, eine Dame in den Unterleib zu treten, überwunden hatte, waren weitere zur Stelle, bis er sich überhaupt nicht mehr rühren konnte. An dere packten Tangaloa, der nicht einmal den Versuch eines Widerstandes machte. Plötzlich kam der Mann mit dem Sack über dem
Kopf, der eine Pfanne voll glühender Kohlen schlepp te, in der eine Kollektion von Zangen und anderen in teressanten Instrumenten glühend gemacht wurden. »Na, wie steht's?« fragte Königin Alvandi. »Gebt Ihr nach, oder muß ich meinen Willen auf schmerz hafte Weise durchsetzen lassen?« »Ja, ja«, brummelte Barnevelt. »Doch wenn Ihr wollt, daß ich etwas erreiche, müßt Ihr mir über den Sunqar mehr erzählen. Es besteht doch eine Verbin dung zwischen dem Janru-Handel und Qirib, oder? Ihr habt einen der Männer, mit denen ich kämpfte, gekannt.« »Er hat recht, erhabener Vormund«, sagte Zakko mir. »Dieser Rachefeldzug ist schon genügend ge fährlich, auch wenn wir diesen tüchtigen Mann nicht halbblind vor Unwissenheit hineinhetzen.« »Sehr wohl«, sagte die Königin. »Laßt sie los, Wa chen, aber behaltet sie im Auge. Setzt Euch, Freunde. Wisset denn, daß der Janru bloß ein Extrakt aus jenen Seepflanzen ist, aus denen der Sunqar besteht. Seit Errichtung der matriarchalischen Monarchie haben wir, da die Natur mein Geschlecht ungerechterweise kleiner geschaffen hat, das Gleichgewicht durch den Gebrauch des Duftwassers hergestellt, dem jene flüchtige Essenz, Janru genannt, beigemengt ist. Das ist nicht allgemein bekannt, aber jede Frau, deren Mann aufmuckt, kann kostenlos eine Tagesportion
vom Tempel der Muttergöttin beziehen, um ihren widerspenstigen Gatten zu zähmen. Die Gründerin der Dynastie, die große Dejanai, hat eine Expedition in den Sunqar geschickt – damals ein Urwald aus Wasser und Gewächsen –, mit dem Auf trag, eine schwimmende Fabrik zu errichten, in der das Extrakt hergestellt werden sollte. Alles verlief wie geplant. Die ersten Wagemutigen und Ausdauernden wurden allmählich von Gefangenen ersetzt, die zur Buße für ihre Untaten in diese einsame Gegend ge schickt wurden. Mit der Zeit waren die Männer den Frauen zahlenmäßig zwei zu eins überlegen, und ein Subjekt niederster Gesinnung wiegelte die dummen Männer auf, indem es ihnen verlockende Geschichten von männlicher Vorherrschaft bei wilden Völkern er zählte. Sie erhoben sich also und brachten die Fabrik in ihre Hand und erniedrigten die Frauen dort zu gemeinen Dirnen. Und was das Ärgste war, vielen Frauen schien das zu gefallen. Unsere Flotte wurde zurückgeschlagen, und sie erpreßten einen Tribut von uns für ein mageres Rinnsal von Janru als Gegenlei stung. Wir haben dann versucht, das Terpahla zu sammeln, das an den Felsen unserer Küsten spärlich wächst, um uns von ihrer Habgier zu befreien – doch nur im Sunqar kommt die Pflanze in ausreichenden Mengen vor. Seither hat der Sunqar uns weiterhin die Stirn ge
boten. Man erpreßt uns nicht nur wegen dieses wun dersamen Extrakts, sondern die ganze Insel dient als Asyl für unsere unzufriedenen Männer. Seither ist die Bevölkerung gewachsen und hat sich anderen Unter nehmungen zugewandt, der Gvam-Jagd und der Pi raterie. In den Tagen meiner unmittelbaren Vorgän gerin hat ein Anführer namens Avasp mit Dur ein Geschäft gemacht, bei dem Dur ihm dafür Tribut lei sten mußte, daß der Pirat die Schiffe Durs ungescho ren ließ, während er die anderen Schiffe schändlich überfiel. So kam es, daß Dur eine Monopolstellung erlangte, nicht nur in seiner eigenen Va'andao-See, sondern auch in den anderen Gewässern dieser He misphäre. Alle möglichen Arten seltsamer Typen haben sich auf dieser treibenden Insel versammelt. Nicht nur unzufriedene Qiribuma, sondern auch geschwänzte Männer aus Za und dem Sumpfgebiet Koloft, sogar Erdenmenschen und andere Wesen aus den Tiefen des Raumes. Als Avasp starb, wurde neugewählter Anführer eine dieser schuppigen, gräßlichen Schrek kensgestalten von einem Osiris genannten Planeten: eine riesige Monstrosität namens Sheafase, der dem Vernehmen nach seine eiserne Herrschaft durch die unheimliche Gabe der Verzauberung aufrechterhält. Und dieser Sheafase hatte die Fühler seiner Unter nehmungen weit ausgestreckt, bis er durch Verkauf
der Droge an Erdenmenschen den ganzen Reichtum von Dakhaq anhäufen konnte ...« Trotz Drängens der Königin segelten sie nicht am nächsten Tag und auch nicht am darauffolgenden. Erstens verdrückte sich die halbe Besatzung, als das wirkliche Ziel der Expedition ruchbar wurde, so daß man neue Leute anwerben und ausbilden mußte. Einer von ihnen, ein intelligenter junger Bursche na mens Zanzir, wich Barnevelt nicht von den Fersen und stellte ihm viele Fragen. Geschmeichelt widmete Barnevelt diesem Jungen einen Großteil seiner Zeit, bis Tangaloa ihn vor dieser Bevorzugung warnte. Von nun an versuchte Barnevelt, die anderen mit ebensolcher Herzlichkeit zu behandeln. Er heuerte auch einen neuen Bootsmann an, Chask, ein stämmiger, knorriger Mann mit Zahnstummeln, dessen grünes Haar zu hellem Jade verblaßt war. Chask bekam die Besatzung bald in den Griff und machte aus ihr eine tüchtige Ruder- und Segelmann schaft. Alles lief gut, bis eines Tages Barnevelt, der in der Kabine war, während die Männer an Deck übten, Geräusche eines Handgemenges hörte. Er lief hinaus und fand Chask, der an seinem Knöchel saugte, wäh rend sich Zanzir mit blutiger Nase ängstlich im Hin tergrund hielt. »Mitkommen!« sagte er zu Chask. Unten, in der
Kabine, hielt er ihm eine Standpauke: »... und meine Mannschaft wird menschlich behandelt! Auf meinem Schiff gibt es keine Brutalität!« »Aber Käpt'n, dieser junge Kerl zieht meine Befehle im Zweifel und sagt, er wüßte besser, was zu tun wä re, wo ich doch mein Leben ...« »Zanzir ist ein heller Kopf. Ihn sollte man eher er mutigen, als unterdrücken. Du hast doch nicht etwa Angst, daß er dich von deiner Stelle verdrängt – oder?« »Aber Sir, mit Respekt gesagt, man kann ein Schiff nicht wie einen Klub führen, wo jeder mitbestimmen darf. Und wenn die mit Befehlsgewalt Ausgestatteten zuließen, daß jeder gemeine Matrose sich für ebenso gut hält und alle Befehle in Frage stellt, wird es, wenn es zum Äußersten kommt ...« Ungeachtet heimlicher Bedenken hatte Barnevelt das Gefühl, er müsse nach außen mit Festigkeit auf treten. »Chask, du kennst deine Befehle. Wir führen das Schiff auf meine Art!« Brummend trollte sich Chask. Im weiteren Verlauf schienen die Seeleute zwar zufriedener, waren aber auch weniger tüchtig.
15
Als die Shambor schließlich aus dem Hafen von Da movang auslief, mit Barnevelt und Zakkomir an Bord, stand Tangaloa, von Amazonen umringt, am Pier und winkte mit dem gesunden Arm. Barnevelt führte eine Spezialausrüstung mit, die, wie er hoffte, seine Aufgabe ein wenig erleichtern würde. Rauch bomben aus Yasuvar-Sporen, von einem einheimi schen Pyrotechniker angefertigt, dazu ein leichtes Schwert, das man zusammenklappen und in den Stie fel eines Expreßboten schieben konnte. Als Waffe konnte es sich mit einem richtigen Rapier nicht mes sen, da das Scharnier einen schwachen Punkt dar stellte und der Griff keinen Schutz für die Hand bot. Barnevelt hatte jedoch seine Zweifel, ob die Piraten ihn in voller Bewaffnung in ihr Allerheiligstes einlas sen würden. Außerdem hatte er eine Truhe mit Gold und Tand als Geschenk der Königin Alvandi an Sheafase und einen Brief an Bord, in dem um die Bedingungen für die Freilassung Zeis angefragt wurde. Dann hatte er einen Quadrant einfacher Art mit, der ihm annähernd genau seine Position anzeigen würde. Der erste Teil der Reise verlief ereignislos, denn sie fuhren mit dem vorherrschenden Westwind die Kü
ste der Halbinsel Qirib entlang, wo dunkle, verküm merte Bäume auf kahlen Klippen wuchsen, an denen sich die Brandung brach. Zakkomir litt einige Tage an Seekrankheit, hatte es dann jedoch überstanden. Sie legten in Hojur an, um Proviant zu laden. Barnevelt studierte sein Navigationslehrbuch und machte sich mit dem Manövrieren der Shambor ver traut. Es würde nicht mehr lange dauern und alle drei Monde würden voll sein, was Flut bedeutete – etwas, das nur einmal in mehreren Krishni-Jahren vorkam. Schließlich kamen sie an das Ende der Halbinsel, wo das Zhoga-Gebirge sich wie der Spinalschweif ei nes vorzeitlichen Ungeheuers zum Meer herabsenkte. Sie gingen vor dem Wind auf Südkurs. Dann wurden die Smaragdfluten grau, der Wind legte sich, und sie verbrachten einen ganzen Tag im Nebel und mußten rudern. Nieselregen hatte einge setzt. Sie spannten einen Leinwandtank auf, um Trinkwasser zu sammeln. Barnevelt stand an der Reling und spähte in den Dunst, als die Shambor plötzlich zu schlingern be gann, als wäre sie auf Grund gelaufen. Die Männer schrien auf. Backbords trieb ein länglicher Körper im Wasser da hin. Mit steingrauem Leder bedeckt, hätte es Teil eines Blauwals oder einer Seeschlange sein können. Das Ding schlängelte sich windungsreich durchs Wasser.
Ein Aufschrei lenkte Barnevelts Aufmerksamkeit nach achtern. Dort erschien mitten aus der Luft, den Hals im Nebel verborgen, ein krokodilartiger Kopf mit Kiefern, die ausgereicht hätten, einen Menschen mit einem einzigen Zuschnappen zu verschlingen. Der seitlich geneigte Kopf schoß auf Deck. Dahinter sah man einen kolossalen Hals. Klapp! machten die Kiefer, und ein schreiender Seemann verschwand im Nebel. Der überraschte Barnevelt handelte erst, als sich das Opfer schon auf dem Weg ins Wasser befand. Dann packte er ein Reserveruder und lief nach ach tern – aber zu spät. Die Schreie des Opfers verstumm ten jäh, als der gräßliche Kopf unter Wasser ver schwand. »Rudern!« schrie Chask, und die Ruderleute tauch ten die Riemen ein. Entsetzt gab Barnevelt Befehl, eine Deckwache solle für den Fall eines weiteren Angriffs, mit Hellebarden bewaffnet, Aufstellung nehmen. Er ging für eine Wei le zum Bug und lief dann ins Ruderhaus. Er machte eben die Tür auf, als ihn Füßescharren und Räuspern zum Umdrehen bewogen. Da standen Zanzir und drei andere Seeleute. Zanzir ergriff das Wort: »Kapitän Snyol, die Jungs und ich haben nachgedacht und beschlossen, daß es für alle am besten wäre, wenn wir jetzt kehrtmachten.«
»Was?« rief Barnevelt, der nicht wußte, ob er recht gehört hatte. »Ja, so haben wir es beschlossen. Ist es nicht so, Freunde?« Die anderen drei nickten Zustimmung. »Ei nige fühlen sich in dem Nieselregen ganz elend. Ande re haben Familie. Durch diesen geheimnisvollen, be drohlichen Nebel in ein Gebiet nicht verzeichneter Klippen und blutrünstiger Menschen vorzudringen ...« »... und unbekannter, todbringender Ungeheuer«, erinnerte ihn ein anderer. »Und unbekannter, todbringender Ungeheuer, wie das, das eben unseren Kameraden geraubt hat, sind zuviel der Gefahren. Da wir wissen, daß Ihr unser Freund seid ...« »Der zugibt, daß wir ebenso gut wären wie er«, er innerte ihn derselbe Souffleur. »... der zugibt, daß wir ebenso gut sind wie er und der unsere Rückkehr in die glückliche Heimat be schleunigen wird. Ist es nicht so, Jungs?« Alle drei nickten. »Verdammt will ich sein«, sagte Barnevelt. »Nein – ich werde nicht umkehren. Euch waren vor dem Aus laufen die Gefahren bekannt, und jetzt werdet ihr sie durchstehen!« »Aber Käptn, alter Freund«, sagte Zanzir und legte Barnevelt die Hand auf den Arm. »Sollte zwischen Freunden nicht gegenseitiges Vertrauen und Rück
sichtnahme herrschen? Wir haben darüber abge stimmt, und Ihr seid mit vier gegen eins überstimmt ...« »Zurück an eure Arbeit!« befahl Barnevelt in schar fem Ton und schüttelte Zanzirs Hand ab. »Ich bin der Kapitän, und bei Qondyors Hintern, ich werde ...« »Soll das heißen, Ihr wollt nicht?« fragte Zanzir mit einem Ton schmerzlichen Staunens. »Nicht einmal, um Euren Freunden einen Gefallen zu tun?« »Raus hier! He, Chask! Sieh zu, daß diese Leute an die Arbeit gehen, und bestrafe jeden, der vom Aufge ben spricht!« Die Männer gingen nach achtern und warfen Bar nevelt düstere Blicke zu, der sich aufgebracht ins Ru derhaus setzte, um einen ungefährlichen Kurs zu er rechnen. Das war also die Folge, wenn man aus seiner Mannschaft Kameraden machte! Alles sehr gut und schön, solange die Dinge glatt liefen – aber wehe, wenn es gefährlich würde, dann fielen sie um wie die Zinnsoldaten. Das hatte er natürlich schon zuvor ge hört, doch er hatte es nie geglaubt und immer ange nommen, es handle sich um die Rechtfertigung der Aristokraten und Tyrannen. Jetzt würden die Leute natürlich sauer sein – und nicht ganz ohne Grund. Denn er hatte sie in dem Glauben gelassen, sie könn ten ihren Willen haben, um sie dann rüde ihrer Illu sionen zu berauben.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Zakkomir, der bleich aus den Kabinenfenstern in den Nebel sah. »Varzai weiß, auf welcher Seite der Palindos-Straße wir an Land kommen, falls wir nicht vorher auf einen Felsen auflaufen. Mir wäre lieber, wir hätten Mittel und We ge, unsere Position näher zu bestimmen.« Barnevelt sah von seinem Rechenwerk auf, das er mit seiner Karte verglich, und hätte beinahe etwas von Seechronometern und Funkfeuern erwähnt, ehe ihm einfiel, wo er sich befand. Statt dessen sagte er: »Es ist nicht zu erwarten, daß wir vor Ablauf einiger Stunden an die Südküste der Sadabao-See kommen. Bevor wir in gefährliche Gewässer gelangen, lasse ich Echolotproben machen.« »Hoffentlich, Sir. Wir würden eine schlechte Figur abgeben, wenn wir voll Kühnheit ausziehen, unsere Dame vor Ungemach zu bewahren und schließlich ein trauriges Ende im Rachen eines Seeungeheuers fänden.« »Liebst du Zei?« fragte Barnevelt betont gleichgül tig, obgleich ihm dabei das Herz wild pochte. Zakkomir zwang sich zu einem Lächeln. »Nein – ich doch nicht! Nach langem Zusammensein sehe ich sie als meine Schwester an und bringe ihr brüderliche Zuneigung entgegen. Aber Liebe – wie zwischen Mann und Frau? Gemahl einer Königin zu sein, bringt schon an sich viele Schwierigkeiten mit sich.
Und Gemahl einer Königin zu sein, die durch unsere Sitten gezwungen wird, ihren Mann am Ende eines jeden Jahres in den Tod zu schicken, halte ich für ein Unding. Die kleine Lady Mula'i, die Ihr im Palast ge sehen habt, ist meine Zukünftige, wenn ich sie zu ei nem Heiratsantrag bewegen kann.« Barnevelt war über diese Antwort erleichtert, ob gleich er wußte, daß es höchst albern war, da er nicht die Absicht hatte, Zei zu heiraten. Während er über seinen Karten brütete, wurde er sich eines klappern den Geräuschs bewußt, das er schließlich als Zakko mirs Zähneklappern identifizierte. »Ist Euch kalt?« fragte er ihn. »Nein, ich habe bloß Angst. Ich habe versucht, meine männliche Schwäche vor Euch zu verbergen.« Barnevelt klopfte ihm auf den Rücken. »Kopf hoch – manchmal bekommen wir alle es mit der Angst zu tun.« »Was, sogar Ihr, der große und furchtlose General Snyol, kennt Angst?« »Sicher! Glaubt Ihr denn, ich hätte keine Angst ge habt, als ich gegen die sechs Kerle aus Olnega mit ei ner Hand kämpfen mußte? Reißt Euch zusammen!« Zakkomir riß sich zusammen – fast mit hörbarem Ruck –, und Barnevelt setzte seine Berechnungen fort. Als er daraus ersah, daß sie sich der Palindos-Straße oder den sie begrenzenden Küsten näherten, gab
Barnevelt Befehl, die Tiefe zu loten. Daraufhin segel ten sie langsamer, bis das Wasser auf fünf Meter ge sunken war und sie vor sich das Geräusch einer klei nen Brandung zu hören glaubten. Dort gingen sie vor Anker, bis Nordwind aufkam und den Nebel weg wehte. »Habe ich nicht gesagt, Ihr seid unfehlbar?« rief Zakkomir, der seinen Mut wiedergefunden hatte. Die Straße von Palindos war im Süden und Osten mit bloßem Auge zu erkennen. Die Meerenge wurde von der Insel Fossanderan in die Hälfte geteilt, wobei der östliche, breitere Kanal von der Schiffahrt benutzt wurde. Der westliche Kanal war viel schmaler. Ein Hinweis auf Barnevelts Karte zeigte an, daß seine Mindesttiefe etwa zwei Meter betrug – zu seicht für die Shambor, falls die Gezeitenverhältnisse nicht ge nau eintraten. Zakkomir fuhr fort: »Was mich so verblüfft, ist die Tatsache, daß Ihr, ein Mann aus Nyamadze, wo es keine großen Gewässer gibt, neben Euren vielen an deren Fähigkeiten noch ein kundiger Seemann seid.« Barnevelt ignorierte diese Bemerkung, da sie gera de den östlichen Kanal gegen den Wind durchsegel ten und ziemlich gute Fahrt machten. Zakkomir wies zur Insel Fossanderan hinüber und sagte: »Es heißt, daß auf dieser Insel der Heros Qarar sich mit einem weiblichen Yeki gepaart haben soll.
Aus dieser Verbindung soll ein Geschlecht von Tier menschen mit menschlichen Gliedmaßen und Tier schädeln stammen. Es heißt auch, daß diese Unge heuer noch immer bei gewissen astrologischen Kon junktionen mit Trommelwirbel und Zymbelklängen wilde Gelage abhalten und die lange Nacht wüst verbringen.« Barnevelt dachte an den Yeki, den er im Zoo zu Majbur gesehen hatte: ein Fleischfresser von der Grö ße eines irdischen Tigers, doch eher einem übergro ßen, sechsbeinigen Nerz ähnlich. »Warum geht nicht jemand an Land und sieht sich um?« fragte er. »Wißt Ihr, daß mir dieser Gedanke noch nie ge kommen ist? Wenn unsere Aufgabe beendet ist, wer weiß, was sich dann ergibt? Denn unter Eurer Füh rerschaft fühle ich mich kühn genug, mich mit einer Yeki zu paaren.« »Na, wenn Ihr glaubt, ich werde die Yekidame festhalten, während Ihr Euren Spaß habt, dann irrt Ihr Euch gewaltig.« Die Luft wurde wärmer und feuchter, als sie die Zone zwischen den Westwinden und den Nordostpassaten erreichten. Die Flaute zwang sie, sich tagelang nur mit Hilfe der Ruder weiterzubewegen. Barnevelt kon trollierte Lebensmittel- und Wasservorräte und mach te sich Sorgen.
Fliegende Fische, die mit richtigen Flügeln fliegen konnten und nicht nur dahinglitten, wie die auf der Erde, sausten am Schiff vorbei. Einmal sichtete Bar nevelt sogar seine angebliche Jagdbeute, einen Gvam, der nach Art eines Wals hinter einem Schwarm klei ner Seetiere her die Wellen durchpflügte und seine behaarten Saugarme vorschnellen ließ, die Tiere packte und in seinen Rachen warf. »Nach diesem Anblick kommen mir die Sunqaru ma gar nicht mehr so schrecklich vor«, sagte Barne velt. Immer häufiger sah man jetzt treibende Stücke von Terpahla, und dann tauchten am Horizont die Umris se zahlreicher Wracks auf. Als sie näherkamen, wur den die Ranken immer dichter, bis das Schiff nur mehr im Zickzackkurs weiterkam. Irgendwo im Dunst voraus lag der Schlupfwinkel der SunqarPiraten. Wahrscheinlich befand sich dort Zei – und möglicherweise auch Igor Shtain. Nach einem halben Tag rief Chask in die Kabine: »Schiff voraus, Sir!« Barnevelt kam heraus. Die Besatzung der Shambor murmelte und wirkte verängstigt. Barnevelt und Zakkomir gingen in die Kabine zurück, um ihre Expreßboten-Uniformen anzuziehen, denn die Krishni hatten ein zweites Kostüm zur Verfügung gestellt. Als sie sich der Galeere näherten, sah Barnevelt,
daß das Schiff genau vor der Mündung des Kanals lag, den er gesucht hatte und der ihn ins Innere des Sunqar bringen sollte. Vom Heck der Galeere liefen zwei Kabel in eine große Masse Terpahla hinunter, die ihm zuerst als ein Teil des Sunqar zu sein schien. Als sie jedoch näherkamen und das rasselnde Ge räusch einer Kette hörten, die gerade eingeholt wur de, war ihm klar, daß das Stück Terpahla, mit dem die Galeere in Verbindung stand, von den übrigen Schlingpflanzen getrennt war. Barnevelt fragte sich, ob diese Terpahla-Masse hier nicht als eine Art trei bender Stöpsel diente, mit dem man im Falle eines Angriffes die Mündung des Wasserweges verstopfen konnte. Die Galeere war um ein Deck höher als die kleine Shambor und mehr als zweimal so lang – dreißig bis vierzig Meter, schätzte Barnevelt. Als sich ein Gesicht über der Reling zeigte und die Shambor anrief, ant wortete er, lässig an den Mast gelehnt: »Ein Kurier der Mejrou Quardena mit Geschenk und Botschaft der Königin Alvandi von Qirib, für Sheafase, den Häuptling der Sunqaruma.« »Dreht bei«, sagte das Gesicht. Sofort fiel eine Strickleiter auf das Deck der Sham bor, und der Mann, dem das Gesicht gehörte – ein Mann mit Helm und schmutzigen weißen Shorts, mit dem Abzeichen seines Ranges an einer Halskette –,
folgte. Einige weitere Sunqaruma beugten sich über die Reling der Galeere und behielten mit gezückten Armbrüsten das Deck der Shambor im Auge. »Guten Tag«, sagte Barnevelt freundlich. »Wenn Ihr die Kabine betreten wollt, werde ich Euch unsere Ladung zeigen. Vielleicht wird Euch ein Tropfen von Qiribs Falatwein die Eintönigkeit Eurer Arbeit er leichtern.« Der Inspektor sah Barnevelt mißtrauisch an, führte aber die Inspektion durch. Er nahm den Trunk mit dankendem Brummen in Empfang und schickte die Shambor mit einem seiner Lotsen auf die Fahrt.
16
Die Shambor passierte ein Leichterschiff, das mit ge erntetem Terpahla hoch beladen war. Der Geruch des trocknenden Rankenwerks erinnerte Barnevelt an ei nen Kuhstall im fernen Chautauqua County. Am Heck des Schiffes saß ein Mann und rauchte. Ge langweilt sah er zu, wie die Shambor vorüberzog. Dann kamen die Kriegsgaleeren der Morya Sunqa ruma. Daran schlossen sich zu Hausbooten umgebau te Schiffe an. Darunter befanden sich solche, die aus Holz hergestellt waren, das von anderen baufälligen Schiffen geborgen worden war. Da sich dieses Holz in Alter und Herkunft unterschied, wirkten die Haus boote und Floße wie zusammengeflickt. Jenseits der nahegelegenen Schiffe und zwischen ihnen, kaum sichtbar, lag ein Komplex von Floßen und Booten, deren Natur durch Rauch, Gestank und Lärm angedeutet wurde. Es war die Fabrik, in der man aus Terpahla die Janru-Droge gewann. Ein Gewirr von Planken und Leitern verband die große Zahl von toten und lebenden Schiffen. Auf den Decks der Hausboote liefen Frauen und Kinder hin und her, die kleinen mit Seilen um die Mitte, damit sie nicht über Bord fielen. In der stehenden Luft hin gen Küchendüfte.
Barnevelt flüsterte Zakkomir zu: »Denkt daran – das Startsignal heißt: Die Zeit vergeht.« Jetzt waren sie auf allen Seiten von den Schiffen der Sunqaruma umgeben. Barnevelt, der sich die Kähne genau ansah, erkannte die sicherste Methode zur Un terscheidung zwischen bewegungsfähigen und un beweglichen Schiffen: hatte man die Ranken an den Seiten des Schiffs hochwachsen lassen, dann handelte es sich um ein Hausboot. Wenn das Schiff von einer freien Wasserfläche um geben war, was das Rudern ermöglichte, war es ein bewegliches Schiff. Er schätzte, daß die Sunqaruma über etwa zwanzig Kriegsschiffe verfügten, nicht ge zählt die vielen Boote, Versorgungsschiffe und ande ren Kähne. Der Lotse am Heck manövrierte die Shambor auf eine Gruppe von drei der größten Galeeren zu, die Seite an Seite lagen. Indem er die Shambor an Steuer bord vorbeisteuerte, umkreiste der Lotse die Schiffe und erreichte eine kleine schwimmende Anlegestelle. »Legt hier an«, befahl der Lotse. Als die Besatzung der Shambor seinem Befehl nach gekommen war, sprang der Lotse vom Schiff und lief eine Planke hinauf, die auf das Deck der Galeere führte. Dort wechselte er mit der Wache einige Worte. Er kam sofort wieder und sagte zu Barnevelt: »Ihr und so viele Leute, wie zum Tragen der Truhe nötig
sind, mögen auf das Deck des Schiffs gehen und dort weitere Befehle abwarten.« Barnevelt machte mit dem Daumen ein Zeichen. Vier seiner Besatzung ergriffen die Tragstangen, die seitlich an der Truhe angebracht waren, und richteten sich murrend auf. Gefolgt von den vier Männern, betrat Barnevelt die Pier. Zakkomir bildete das Schlußlicht. Auf der Laufplanke gab es halblauten Streit unter den Seeleuten, weil die Planke so schmal war. Sie mußten sich zwischen die Tragstangen stel len, um es zu schaffen. Auf dem Deck stellten sie ihre Last ab und setzten sich auf die Truhe. Die Vier-Mann-Bänke der Ruderer waren leer, doch im Ruderhaus herrschte rege Tätig keit. Nun kam ein Mann mit den Insignien eines ho hen Offiziers auf sie zu und sagte: »Gebt mir den Brief an den Großadmiral!« Barnevelt entgegnete: »Das würde ich gern tun, nur lauten meine Befehle dahingehend, daß ich diese Dinge Sheafase persönlich übergeben soll. Andern falls würde Königin Alvandi die Antwort nicht ak zeptieren, weil sie wissen möchte, mit wem sie es zu tun hat.« »Du hast die Anmaßung, mir Befehle zu geben?« fragte der Offizier in unheilverkündendem Ton. »Ganz und gar nicht, Herr. Ich wiederhole nur, was die Königin mir aufgetragen hat. Wenn Ihr nicht un
ter diesen Bedingungen verhandeln wollt – gut! Dann müßt Ihr Euch mit ihr selbst einigen. Ich bin neutral.« »Hm. Ich werde sehen, was der Großadmiral Shea fase dazu sagt.« »Sagt ihm außerdem, die Königin verlange, daß ich Prinzessin Zei zu sehen bekomme, damit ich mich von ihrem Wohlbefinden überzeugen kann.« »Wenig verlangt Ihr nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn er Euch den Fondaqa vorwerfen ließe.« »Das ist mein Berufsrisiko«, sagte Barnevelt mit übertriebener Sorglosigkeit, obwohl sein Herz klopfte und die Knie zitterten. Der Offizier lief über Planken zur nächsten Galeere. Barnevelt und seine fünf Gefährten warteten. Die Sonne, ein roter Ball im Dunst, berührte den Hori zont. Barnevelt, der heimlich Filmaufnahmen machte, bedauerte das, da die Hayashi im Dunklen nicht viel taugte. Als die Sonne untergegangen und Karrim, der hell ste der drei Monde, aufgegangen war, kam der Offi zier zurück und sagte: »Folgt mir!« Die Seeleute schulterten ihre Last und folgten Dirk und Zakkomir übers Deck und die Laufplanke zur nächsten Galeere hinüber. Hier führte sie der Offizier zum großen Ruderhaus zwischen Vordermast und Bug. Eine Wache öffnete die Kabinentür und ließ sie eintreten.
Als Barnevelt an der Wache vorbeiging, stutzte er. Der Mann war Igor Shtain! Obwohl er sich auf eine Be gegnung mit Shtain gefaßt gemacht hatte, warf ihn der Anblick seines Chefs beinahe um. Er zögerte, starrte ihn blöde an und wartete auf ein Zeichen des Erkennens, während sich die anderen hinter ihm drängten. Hatte sich Shtain wirklich den Piraten angeschlos sen, und wenn ja, würde er Dirk verraten? Shtain, der kein Wort sagte, erwiderte Barnevelts Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ao, Herr Gozzan«, sagte Zakkomir hinter ihm. Dirk gab sich einen Ruck und überschritt die Schwel le der Kabinentür. Im Inneren brannten bereits Lampen. In der Mitte befand sich ein Kartentisch, um den drei Gestalten standen. Eine war ein großer Krishni, der mit einer Art Poncho bekleidet war: ein großes Stück Tuch mit einem Loch in der Mitte für den Kopf. Der andere war ebenfalls ein Krishni, kleiner und in Shorts. Der dritte war ein reptilienartiger Osirer, ähnlich Sishen, dem Barnevelt in Jazmurian begegnet war. Dieser hatte offenbar das abgelegt, was zum anstän digen Leben eines Osirers gehörte – denn er trug kei ne Körperbemalung auf seinen Schuppen. Barnevelt erkannte ihn sogleich als Sheafase. Barnevelt schluckte krampfhaft, um die trockene Kehle und den Mund feucht zu bekommen. Dabei
fürchtete er weniger die Hölle, die in Kürze losbre chen würde, sondern vielmehr die Tatsache, daß er in einer so vertrackten Situation aus Zerstreutheit einen wichtigen Faktor übersehen und dadurch alle in die Nähe einer Katastrophe gebracht hatte. Die Seeleute setzten die Truhe auf den Boden ab. Der Mann im Poncho sagte in einem seltsamen Dia lekt: »Die Seeleute sollen draußen auf Deck warten.« Der Offizier, der sie hereingeführt hatte, schloß die Tür und verriegelte sie, holte dann Schreibutensilien aus einer Lade des Kartentisches hervor. Barnevelt schätzte ihn als Sekretär oder Adjutanten ein, wäh rend die anderen drei hier offensichtlich die Wortfüh rer waren. »Eure Botschaft!« Das war die trockene, raschelnde Stimme des Osirers – kaum zu verstehen. Barnevelt holte den Brief der Königin aus seiner Jacke und reichte ihn Sheafase, der ihn seinerseits wieder dem Adjutanten gab und sagte: »Lies vor!« Der Adjutant räusperte sich und las: »Von Alvandi, durch die Gnade der Göttin Varzai Königin von Qib etcetera, etcetera, an Sheafase, Häuptling etcetera. Überrascht und verärgert sind Wir, daß in Friedenszeiten zwischen Euch und Uns Euer Volk das schreckliche Verbrechen begangen hat, in Unsere Stadt Ghulinde einzudringen, Unse
re Bürger zu berauben und zu töten und die gehei ligte Person Unserer Tochter, der königlichen Prin zessin Zei, zu entführen. Daher fordern wir, unter Androhung Unseres höchsten Unwillens, daß Ihr die Prinzessin sofort freigebt und sie durch Eure eigenen Boten auf un ser Territorium überstellen laßt, oder den vertrau enswürdigen Überbringern dieser Botschaft gestat tet, sie mitzunehmen. Weiter verlangen Wir befrie digende Erklärung dieses gemeinen Raubes und Vergeltung für die Unseren unschuldigen Unterta nen zugefügten Untaten. Sollte jedoch zwischen Uns etwas bestehen, was in Euren Augen eine Kränkung ist, so stehen Euch Unsere Türen immer offen, um begründete Klagen vorzubringen. Um zu beweisen, daß nicht einmal diese schurki sche Tat den Vorrat Unseres Wohlwollens Euch gegenüber erschöpft hat, senden Wir Euch durch diese vertrauenswürdigen Kuriere eine großzügige Gabe. Die ihnen gegebenen Befehle lauten: Euch persönlich die Botschaft zu übergeben, dazu die Begleitgabe, und eine persönliche Antwort von Euch zu empfangen. Sie dürfen nicht scheiden, ehe sie die Prinzessin nicht persönlich gesehen und sich von ihrem Wohlbefinden überzeugt haben.«
Nun folgte sekundenlang Stille. Barnevelt spürte, daß die Königin sich in ein ziemlich albernes Licht ge rückt hatte, indem sie mit Wut und mit Forderungen begonnen und mit Tribut und angedeutetem Ver sprechen, mehr zu zahlen, höchst matt geendet hatte. Doch was hätte die Ärmste auch tun sollen? Sie versuchte es eben mit den ihr zu Gebot stehen den Mitteln. Er trat vor, sperrte die Truhe auf und hob den Dek kel. Die Sunqaruma drängten sich herum, sahen hin ein, nahmen ein paar Stücke in die Hand und hielten sie gegen das Fenster oder die Lampen, um sie genau zu überprüfen. Sie ließen die Münzen durch die Fin ger gleiten. Barnevelt hoffte, sie würden die Diskre panz zwischen der Größe des Schatzes und der Größe der Truhe nicht bemerken. Denn obwohl der Schatz sowohl an Wert wie an Gewicht beträchtlich war, ist Gold sehr schwer und bedeckte in der Truhe, die von der Größe eines kleineren irdischen Koffers war, kaum den Boden. Schließlich trat Sheafase zurück und sagte: »Ach tung, meine Herren. Stimmen wir nicht darin überein, daß unser bereits vorbereiteter Brief diese Botschaft in allen Punkten beantwortet?« Der Krishni im Poncho vollführte eine bejahende Kopfbewegung. Der Krishni in Shorts jedoch erhob Einwände:
»Meine Herren, ich glaube, wir haben meinen Vor schlag noch nicht richtig überlegt. Die Prinzessin ist der Schlüssel zum Reichtum des Zogha, und wir werden den Tag bereuen, an dem wir den Schlüssel unseren zitternden Händen entgleiten ließen ...« Er sprach im Qiribo-Dialekt. »Genug, Urgan«, sagte der Osirer. »Es trifft aber auch zu, daß manch ein Schlüssel im Schloß abbricht, weil man ihn gewaltsam umdreht, obwohl er nicht paßt. Wir können deinen Vorschlag weiter zur Dis kussion stellen, während wir die Antwort der alten Drossel erwarten.« Während dieses Gesprächs hatte der Adjutant ei nen Brief aus der Lade eines Seitentischchens gezo gen. Diesen reichte er nun Sheafase zusammen mit Schreibgeräten. Der Piratenchef unterschrieb den Brief, der Adjutant versiegelte ihn und händigte ihn Barnevelt aus. Sheafase sagte: »Nehmt unsere Antwort entgegen. Sollte der Brief verlorengehen, so sagt Alvandi fol gendes: Wir werden ihre Tochter unter zwei Bedin gungen vor Schaden bewahren. Erstens, daß der Ver trag, den Verkauf des Janru betreffend, durch eine Preiserhöhung ergänzt wird, um die steigenden Ko sten aufzufangen. Zweitens, daß sie uns die zwei Abenteurer ausliefert, die an ihrem Hof weilen und sich Snyol von Pleshch und Tagde von Vyutr nennen.
Und was die Freilassung der Prinzessin betrifft, so ist das eine Sache, die noch näherer Überlegung bedarf. Im Brief sind die weiteren Einzelheiten enthalten.« Barnevelt merkte, daß Zakkomir empört auffuhr, als er dieses Ansinnen hörte. Barnevelt überdachte, was es wohl mit der berühmten osirischen Pseudo hypnose auf sich habe. Vielleicht hatte Sheafase sie bei Shtain angewandt und wollte jetzt George Tanga loa und ihn selbst zu fassen kriegen und sie ebenfalls der Hypnose unterwerfen. Außerdem konnten die beiden für ihn von großem Nutzen sein, wenn er sie in Piraten verwandelte. Oder aber, was wahrscheinli cher war, hatte man Shtain vor dem Verlassen der Erde dieser Behandlung unterworfen, um ihn gefügig zu machen. »Ich glaube, das wäre alles ...« sagte Sheafase. Barnevelt ergriff das Wort: »Wir haben die Prinzes sin noch nicht gesehen ...« »Na und? Wer hat denn hier Forderungen zu stel len?« »Wartet«, sagte Urgan, der kleine Krishni. »Das ist nicht unvernünftig und tut uns nicht weh. Wenn wir ablehnen, glaubt die alte Vettel womöglich, wir haben ihre Tochter dem Fondaqa zum Fraß vorgeworfen, und die Verhandlungen werden sich ewig hinziehen, weil sie die Wahrheit wird herausbekommen wol len.«
Der mit dem Poncho sagte: »Ich bitte um eine ra sche Entscheidung, weil mein Essen kalt wird.« Nach kurzer Beratung der Chefs der Morya Sunqa ruma öffnete der Adjutant die Tür und sprach mit dem Wachtposten. Barnevelt hörte, wie sich die Schritte des Postens entfernten. »Dürfen wir während des Wartens rauchen?« frag te Barnevelt. Als er die Erlaubnis erhielt, bot er in der Runde Zi garren an. Mit Ausnahme des Osirers bedienten sich alle. Draußen war die Dämmerung der Dunkelheit gewichen. Schritte kamen näher. Die Tür ging auf, und Shtain trat ein, Zei am Arm festhaltend. Barnevelt hatte das Gefühl, sein Herz würde ihm die Brust samt Ketten hemd und allem übrigen zersprengen. Sie trug noch immer die dünne Tunika vom Abend des KashyoFests. Diadem und anderes Geschmeide waren ver schwunden, zweifellos in Sheafases Schatzkammer. Barnevelt spürte, wie Zei den Atem anhielt, als sie die Kuriere erkannte, doch wie ein guter Soldat ließ sie kein Wort laut werden. Barnevelt und Zakkomir beugten flüchtig das Knie, eine Ehrenbezeugung ge genüber einer königlichen Gefangenen, wie man sie von einem sich in Eile befindlichen Expreßboten würde erwarten können. Der Adjutant erklärte ihr kurz die näheren Umstände.
Während der Zeitpunkt des Handelns näherrückte, dachte sich Barnevelt, daß die Anwesenheit Shtains die Sache sehr komplizieren würde. Schließlich konn te er sich ja nicht an den dicht neben ihm stehenden Zakkomir wenden und laut sagen: »Wenn es so weit ist, dann töte den Erdenmenschen nicht, sondern schlag ihn nur nieder, weil er ein guter Freund von mir ist.« Er wechselte seinen Platz, so daß er jetzt zwischen Shtain und Zakkomir stand. Shtain, der ihm ins Gesicht gesehen hatte, sagte: »Habe ich Euch nicht schon gesehen, Kurier?« Dirk klopfte das Herz bis zum Hals, aber Shtain wandte sich ab und murmelte: »Eine zufällige Ähn lichkeit vermutlich ...« Barnevelt hätte am liebsten aufgelacht, als er seinen Chef das Gozashtandou mit russischem Akzent spre chen hörte. Phonetik gehörte nicht zu den Stärken des beherzten Igor. »Meldet meiner Frau Mutter«, sagte Zei, »daß ich an Atem, Gliedern und Jungfernschaft unversehrt bin und nicht schlecht behandelt wurde, abgesehen da von, daß die Kochkunst in dieser Sumpfstadt bei ei nem Vergleich mit Ghulinde schlecht abschneidet.« »Wir hören und gehorchen, Prinzessin«, sagte Bar nevelt. Er kratzte sich in der Leistengegend und wandte sich an Sheafase: »Herr, unsere Aufgabe
scheint erfüllt. Wenn Ihr gestattet, daß wir Trinkwas ser fassen, werden wir ablegen. Die Zeit vergeht ...« Barnevelt hatte nicht aufgehört, sich zu kratzen, und um seinem nicht gesellschaftsfähigen Gehaben die Krone aufzusetzen, langte er in seine Hose und zog gleichzeitig fest an der Zigarre. Seine Hand kam mit einer großen Rauchbombe wieder hervor, die zwischen seinen Schenkeln befestigt gewesen war. Rasch hielt er die Lunte an seine Zigarre, bis sie zisch te. Und dann gab er Shtain einen kräftigen Kinnhaken, während er noch die Bombe in der Hand hielt. Dann warf Barnevelt die Bombe und griff in seinen Stiefel nach dem kleinen Klapp-Schwert. Zakkomir hatte das seine bereits in der Hand. Barnevelt hatte seine Klinge aufgeklappt, während die Bombe losging und den Raum in Rauch hüllte. Die Sunqaruma stießen Warnrufe aus und griffen nach den Waffen. Da Shtain jetzt ausgeschaltet war, stand der Adju tant Barnevelt am nächsten. Dieser zog sein Schwert, doch war die Klinge kaum heraus, als Barnevelt zu stieß. Das Kurzschwert glitt zwischen die Rippen des Gegners. Barnevelt zerrte es wieder heraus – gerade rechtzeitig, um dem Angriff Igor Shtains zu begeg nen, der wieder auf den Beinen war, im Rauch huste te und den Kopf schüttelte. Obwohl kein guter Fech
ter, schwang Shtain seinen Degen mit großer Kraft. Auch hatte er den Vorteil, daß Barnevelt ihn nicht tö ten wollte, während ihn offensichtlich keine derartige Hemmung daran hinderte. Der kleine Krishni namens Urgan hatte flink nach seiner Waffe gegriffen, doch Zei hatte sein rechtes Handgelenk gepackt und sich darangehängt, ehe er die Klinge gezogen hatte. Bis er sie abgeschüttelt hat te, war ihm Zakkomirs Schwertspitze bereits in die Kehle gedrungen. Dann war Zakkomir mit dem Mann im Poncho beschäftigt. Barnevelt warf einen langen, begehrlichen Blick auf das Schwert des Mannes, den er getötet hatte, doch hatte er keine Gelegenheit, es an sich zu nehmen. Denn Shtain drängte ihn in eine Ecke. Verzweifelt warf er sich ihm entgegen und zielte mit der freien Faust auf Shtains Kinn, in der Hoffnung, ihn nieder zustrecken. Shtains Kiefer jedoch schien aus einer granitartigen Substanz zu bestehen. Im Handgemen ge mit Shtain merkte Barnevelt, daß der leichte Vor teil, den er gegenüber den Krishni genoß – er kam ja von einem Planeten, auf dem die Schwerkraft um ein Zehntel größer war – sich in diesem Fall nicht aus wirkte. Sheafase, der als einziger der Männer im Raum un bewaffnet war, schlich sich hinter Zakkomir und packte dessen Arme. Der Mann im Poncho stieß zu.
Dem am Ausweichen gehinderten Zakkomir glückte es, den ersten Hieb abzulenken. Beim zweiten Ver such traf der Mann im Poncho, doch Zakkomirs Ket tenhemd hielt die Spitze auf. Sheafase verstärkte sei nen Griff. Der Mann im Poncho holte aus und zielte nach Zakkomirs ungeschützter Kehle ... Zei jedoch hatte einen in der Ecke stehenden Stuhl gepackt und ließ ihn auf den Kopf des Ponchoträgers niedersausen. Der Mann sank um wie eine welke Li lie. Ein zweiter Hieb ließ ihn auf Hände und Knie ge hen, ein dritter streckte ihn vollends nieder. Zakko mir war noch immer beschäftigt, sich aus Sheafases Griff zu befreien. Barnevelt brachte Shtain mit einem Schulterstoß aus dem Gleichgewicht. Als Shtain ins Taumeln ge riet, griff Barnevelt mit der Linken um seinen Körper herum nach der Klinge. Dumpf dröhnte der Silber helm, als Shtain ihn mit seinem Buschmesser traf. Dann setzte Barnevelt seine rechte Faust, mit der er noch immer sein Schwert hielt, ein. Eine Reihe von kurzen Haken gegen Kinn und Hals erledigten Shtain endgültig. Barnevelt drehte sich um und sprang Zakkomir bei. Von der anderen Seite hatte Zei bereits dem Osirer durch Rippenstöße zugesetzt. Als Barnevelt den Kar tentisch umkreiste, versuchte Sheafase, Zakkomirs Körper als Schild zu benutzen. Doch Barnevelt er
wischte ihn von der Seite und stieß sein Schwert in die Schuppenhaut. Nicht tief – höchstens einen oder zwei Zentimeter. Als Sheafase mit schrillem Zischen zurückwich, folgte ihm Barnevelt mit den Worten: »Benimm dich, du Wurm, oder ich töte dich.« »Das kannst du nicht«, sagte Sheafase. »Du stehst unter meinem Einfluß. Du wirst schläfrig. Du sollst dein Schwert fallenlassen. Ich bin dein Herr. Du wirst meinen Befehlen gehorchen ...« Trotz des Nachdrucks, mit dem diese Äußerungen erfolgten, spürte Barnevelt kein Verlangen, den Be fehlen des Osirers nachzukommen. Auch Zakkomir hatte jetzt die Schwertspitze gegen Sheafases Körper gerichtet, und gemeinsam schoben sie ihn an die Wand. Der ganze Wirbel hatte weniger als eine Minu te gedauert. »Diese Helme machen es aus«, sagte Barnevelt, dem jetzt einfiel, was Tangaloa ihm über osirische Pseudohypnose gesagt hatte. »Wir brauchen diese Echse nicht mehr zu fürchten. Zei, öffnet die Tür ei nen Spaltbreit und ruft meine Besatzung.« Als die Seeleute hereinkamen, stöhnte der Mann im Poncho und regte sich. »Tötet ihn, Zei«, sagte Barnevelt, ein wenig er staunt über seine eigene Erbarmungslosigkeit. »Nicht diesen da – den da drüben.« »Wie denn?«
»Nehmt sein Schwert, richtet die Spitze auf seinen Hals und stoßt zu!« »Aber ...« »Tut, wie ich Euch sage! Wollt Ihr, daß wir alle ge tötet werden? Braves Mädchen!« Zei warf das blutige Schwert schaudernd weg. »Und jetzt«, fuhr Barnevelt fort, »knebelt und fesselt denjenigen, der Euch herge bracht hat – den Erdenmenschen. Warum, werde ich später erklären.« Die vier Seeleute überschritten die Schwelle der Kabinentür und hielten inne, als sich die Augen an das trübe Licht des rauchgeschwängerten Raumes gewöhnt hatten und sie die Szene überblickten. Sie zirpten vor Überraschung. Barnevelt sagte: »Jungs, macht die Tür zu und kippt den Kram aus der Truhe. Und laßt euch von dem Ungeheuer nicht in die Augen sehen, wenn euch euer Leben lieb ist!« Als die Truhe umgedreht wurde, fiel der Schatz klirrend auf den Boden. Barnevelt fuhr fort: »Helft der Prinzessin, den Kerl zu fesseln. Habt ihr von draußen etwas gehört?« Ein Seemann sagte: »Ja, Herr, erregte Stimmen, aber nichts, was ein Einschreiten nötig gemacht hätte.« Zei fragte: »Wollt Ihr mich in dieser Truhe hinaus schaffen?« »Ja«, sagte Barnevelt. »Aber laßt mich überlegen!«
Eigentlich war es ja nicht geplant, sowohl Shtain als auch die Prinzessin mitzunehmen, doch konnte er ei nem Versuch nicht widerstehen. Zu den Seeleuten gewandt, sagte er: »Legt den Erdenmenschen in die Truhe. Drückt ihn ganz tief hinein. Zei – Ihr müßt zu sehen, daß Ihr über ihm noch Platz findet ...« »Eine ordinäre Intimität mit einem Fremden – und dazu noch mit einem so gewöhnlichen Kerl!« sagte sie, kletterte aber trotzdem hinein. Der Deckel ließ sich über den beiden nicht mehr schließen. Zakkomir sagte: »Wenn Ihr den Erdenmenschen unbedingt mitnehmen wollt, so laßt ihn in der Truhe. Die Prinzessin soll mit uns gehen, als wäre sie gegen Lösegeld freigelassen worden. Wir nehmen das Un geheuer mit gezückten Schwertern in die Mitte.« »Gut«, sagte Barnevelt. »Admiral – Ihr kommt mit uns. Ihr werdet zwischen mir und meinem Freund zu unserem Schiff gehen. Bei der ersten falschen Bewe gung habt Ihr ausgesorgt!« »Wo werdet Ihr mich freilassen?« »Wer hat etwas von Freilassen gesagt? Ihr werdet eine Kreuzfahrt auf meiner Privatyacht erleben. Fer tig?« Die Seeleute hoben die Truhe mit Shtain hoch. Bar nevelt und Zakkomir nahmen Sheafase in die Mitte und hielten ihre Minischwerter hinter den Unterar
men versteckt, wobei sie aber die Schwertspitzen an die Haut des Osirers angesetzt hatten. Hinter ihnen kam Zei mit den Matrosen. Die Gruppe ging nach achtern, zum Steg, der zur nächsten Galeere führte. Sie überschritten den Steg, gingen dann über das Deck der anschließenden Ga leere zum nächsten Steg, der zur schwimmenden Pier führte, an der die Shambor angelegt hatte. Doch jetzt tauchten über der Reling der kleineren Galeere Köpfe auf, gefolgt von den Körpern der Männer, die von der Pier heraufkletterten. Zuerst glaubte Barnevelt, es müßte sich um Leute von sei nem eigenen Schiff handeln. Noch war es aber hell genug, um schließlich zu erkennen, daß es nicht seine Mannschaft war. Ein Blick zur Seite zeigte ihm den Mast eines kleinen Schiffs, das neben der Shambor vor Anker gegangen war. Barnevelt flüsterte: »Vorsicht« und drückte die Spitze seines Schwertes tiefer in Sheafases Haut. Er zog den Osirer beiseite, um die andere Gruppe vor beizulassen. Der erste Entgegenkommende, der in einer Entfer nung von zwei Metern an ihnen vorüberging, machte eine Bewegung, als wolle er Sheafase grüßen – und hielt dann mit dem Ausruf »Ihr!« inne. Dabei blickte er Barnevelt direkt ins Gesicht. Barnevelt sah, daß es sein alter Bekannter war –
Vizqash bad-Murani, auf dessen Hinterkopf er in der Herberge in Jazmurian den Krug zerschmettert hatte. Mit einer Geistesgegenwart, die Barnevelt unter ruhigeren Umständen Bewunderung abgerungen hät te, ließ Vizqash sein Schwert herausschwirren und stieß zu. Instinktiv parierte Barnevelt, lockerte jedoch dabei seinen Griff, mit dem er Sheafase hielt. Dieser riß sich daraufhin sofort los. Zakkomir führte einen Schwerthieb gegen das Reptil und fügte ihm eine Fleischwunde an der Seite zu. Die anderen Männer der Truppe Vizqashs kamen ihm zu Hilfe. Der erste hieb auf einen der Matrosen der Shambor ein. Seine Klinge schnitt in den Nacken des Mannes. Der Matrose fiel tot um. Die anderen drei ließen daraufhin die Truhe fallen, die krachend umfiel. Der Deckel flog auf, und Shtain rollte aufs Deck heraus. Barnevelt parierte einen Hieb von Vizqash und landete dann seine Klinge auf dem Schenkel des Ge gners. »Lauft!« rief Zakkomir. Als der verwundete Vizqash zu Boden ging, sah sich Barnevelt mit hastigem Blick um. Zakkomir zerrte Zei mit sich. Sheafase war schon außer Reichweite und pfiff den Sunqaruma Befehle zu. Die drei überlebenden Ma trosen liefen davon; einer stürzte über die Reling ins Wasser. Klingen blitzten in der Dämmerung.
Barnevelt lief hinter Zakkomir und Zei her, die auf den Steg zurannten, der zur großen Galeere führte, auf der sie mit den Piratenchefs konferiert hatten. Die drei liefen über den Steg, quer über Deck und dann zum Steg der dritten großen Galeere. Hinter ihnen polterten Schritte. »Wartet!« rief Barnevelt, als sie am Deck der dritten Galeere angelangt waren. »Helft mir ...« Er schnitt die Seile durch, die das Ende des Stegs mit dem Deck des dritten Schiffs verbanden. Dann zwängten er und Zakkomir die Finger unter das Plankenende. Zwei Sunqaruma hatten bereits vom anderen Ende her den Steg betreten. Mit gewaltiger Anstrengung hoben die zwei das Plankenende an und schoben es zur Seite. Der Steg stürzte in die Tiefe und mit ihm die zwei Verfolger, die mit Schreckensschreien ins pflanzendurchwucherte Wasser fielen. Ein Pfeil zischte vorbei. Barnevelt und seine Leute liefen auf die andere Seite des Schiffs. Von hier aus führte eine Leiter auf ein Floß hinunter, von dem aus eine Reihe von Planken zu einem Gewirr von Haus booten und anderen Schiffstypen führte. »Welche Richtung?« fragte Barnevelt, als er auf dem Floß keuchend haltmachte. Zakkomir zeigte ihm die Richtung. »Da ist Norden, die Richtung, in der unser Schiff liegt. Ihr und Zei versteckt Euch, und wenn sie kommen, werde ich sie
in die entgegengesetzte Richtung locken. Und dann können wir versuchen, uns zu treffen.« »Und was ist mit Euch?« fragte Barnevelt. Er war zwar nicht scharf darauf, Zakkomir gemeinsam mit Zei loszuschicken und die Rolle des Einzelgängers zu übernehmen, doch schien es ihm nicht richtig, zuzu lassen, daß der junge Mann sich opferte. »Ich? Keine Sorge! In der Dunkelheit kann ich sie leicht abschütteln. Unter Eurer anregenden Führer schaft habe ich den Mut eines Qarar angenommen. Außerdem kommt für mich in erster Linie die Dyna stie! Beeilt Euch, ich kann sie schon hören!« Er stieß die halb Zaudernden ans Ende des Floßes. Unfähig, einen besseren Plan auszudenken, ließ sich Barnevelt mit Zei hinsinken und verbarg sich hinter einigen Stämmen. Die Schritte der Verfolger wurden lauter. Die Sun qaruma hatten den hinuntergeworfenen Steg durch einen anderen ersetzt. Zakkomirs Schritte verklangen. Man hörte Rufe: »Da ist er!« – »Ihm nach, Leute!« und damit war die Sache entschieden. Als es wieder ruhig geworden war, riskierte Barne velt einen Blick. In der Entfernung sah er keine Be wegung, doch war es schon zu finster, um viel erken nen zu können. Er griff nach Zeis Hand und lief in die entgegengesetzte Richtung.
17
Nachdem sie von Planke zu Planke und von Boot zu Boot gehastet waren, entdeckten sie, daß sie der Weg zum Deck eines der Hausboote führte. Zei fragte: »Sollten wir nicht noch mehr Planken ins Wasser werfen?« »Nein. Das würde sie höchstens eine Minute auf halten und ihnen den von uns eingeschlagenen Weg verraten.« »Heute abend scheinen wenig Leute da zu sein.« »Essenszeit«, sagte Barnevelt. Sie schlichen sich von einem Hausboot zum anderen. Ein Krishni-Jüngling ging knapp an ihnen vorüber, schenkte ihnen kaum einen Blick und verschwand durch die nächste Tür, aus der Schimpfworte drangen. Sie gingen weiter – über Decks und Planken, Lei tern hinauf und hinunter, bis sie zu einem großen, überdachten Schiff kamen. An Bord regte sich nichts. Sie überquerten das Deck und entdeckten, daß es von hier nicht mehr weiterging. Das Schiff lag in der Tat am nördlichsten Ende der Sunqar-Siedlung. Die einzigen Schiffe jenseits davon waren Wracks, die keine Verbindung zur »Stadt« hatten. »Hier sind wir am Ende angelangt«, sagte er. »Was für ein Schiff ist das hier übrigens?«
Die scheunenartigen Deckaufbauten besaßen keine Fenster, dafür aber drei Türen: eine kleine auf jeder Seite und eine große an einem Ende. Alle drei waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Barnevelt machte sich an der nördlichsten Tür zu schaffen, wo man ihn von der Ansiedlung her nicht sehen konnte. Das Schloß war sehr hartnäckig, und er hatte nichts bei sich, um es zu öffnen, selbst wenn er gewußt hätte, wie man Schlösser aufbricht. Die Ei senbänder, die das Schloß zusammenhielten, waren an Tür und Türrahmen festgeschraubt und ließen sich daher mit seiner Klinge nicht aufbrechen. Als er die Finger über die Tür gleiten ließ, merkte er jedoch eine Unebenheit in jenem Band, das vom Türrahmen zum Schloß verlief. Als er näher hinsah und mit den Fingernägeln an dieser Stelle kratzte, sah er, daß das Band stark verrostet war – so stark, daß er mit bloßen Händen ganze Rostteile abschaben konn te. Der einfachste Weg mochte sich daher als der wirk samste erweisen. Er zerrte an dem Band, bis er die Finger beider Hände zwischen Band und Tür schie ben konnte. Dann stemmte er einen Fuß gegen die Tür und riß und zog am Band, daß seine Muskeln vor Anstrengung hervortraten. Mit einem Knirschen gab das gelockerte Band nach. Barnevelt taumelte und wäre seitlich über Bord gefal
len, hätte Zei ihn nicht mit einem warnenden Auf schrei am Arm gepackt. Gleich darauf waren sie im Innern. Bis auf den dreifachen Mondstrahl, der durch die offene Tür drang, war es drinnen stockfinster. Es war nicht hell genug, um gleich zu erkennen, wo sie hineingeraten waren. Barnevelt stolperte über etwas Festes und fluchte leise. Er hätte daran denken sollen, eine Kerze oder etwas Ähnliches mitzunehmen. Aber man konn te schließlich nicht an alles denken ... Da kam ihm eine Idee. Er tastete sich an der Wand entlang, polterte gegen Gegenstände und stieß nach kurzer Zeit auf eine Halterung, in der ein Öllämp chen steckte. Nach vielem Herumtasten hatte er die Lampe mit seinem Taschenfeuerzeug angezündet und die Tür rasch geschlossen, damit das Licht nicht hinausdrang. Das Schiff diente als Lagerraum. Alles war säuber lich aufgestapelt: Pechfässer, Nägel, Holz, Seile ver schiedener Stärke; es gab Balken, Leinwandstücke und Ruder. In der Mitte des Raums war es eine nach unten führende Luke. Barnevelt bückte sich und sah, daß das Unterdeck ebenfalls mit Fässern, Brennholz und Säcken gefüllt war. »Interessant«, sagte er, »aber ich verstehe nicht, wie uns das weiterhelfen soll.« »Wenigstens haben wir ein Versteck«, meinte Zei.
»Da bin ich nicht so sicher. Sollte Zakkomir ent kommen, dann wird man die ganze Niederlassung durchkämmen. Und wenn er nicht durchkommt, dann weiß man, daß noch zwei Personen da sein müssen. Ich habe Chask gesagt, wir träfen uns am Rande des Sunqar ...« »Wer ist Chask?« »Mein Maat. Hoffentlich ist er entkommen, als das Spektakel anfing. Wenn er auch erst morgens am Treffpunkt aufkreuzen sollte, kann man nicht erwar ten, daß er bis zum nächsten Sonnenaufgang warten wird.« »Ihr wißt nicht, ob er entkommen ist?« »Nein. Wenn wir ein kleines Boot hätten, könnten wir uns davonstehlen ...« »Ich habe keins gesehen. Und man sagt, es wäre unmöglich, ein Boot durch den Seetang zu steuern.« Barnevelt knurrte. »Mag sein, aber Ihr würdet Euch wundern, wozu Menschen imstande sind, wenn die Not sie dazu zwingt. Ich sehe mal nach ...« Er schlüpfte hinaus, machte einen Rundgang über Deck und sah sich nach einem Kahn um. Nichts. Nichts, außer Hausbooten, an deren Seiten die Ran ken wucherten. Jetzt vergewisserte er sich auch, ob durch den Aufbau des Schiffs Licht drang. Tatsäch lich drang ein schwacher Lichtstrahl unter der Tür heraus, die nach Südwesten hin lag.
Im Innern nahm er ein Stück Seil auf und legte es auf die Schwelle der Südwesttür. Dabei berichtete er Zei von dem Mißerfolg seiner Suche. Sie sagte: »Könnt Ihr nicht aus diesen vielen Ge genständen und Materialien ein Floß bauen?« »In sechs Zehn-Nächten und mit genügend Werk zeug – vielleicht! Aber das bringt mich auf eine Idee!« Barnevelt sprang auf und begann die Holzstöße zu durchsuchen. Nach einer Weile hatte er einige Bretter von bestimmter Dicke und Breite gefunden. »Sollte an die zwei Meter lang sein«, sagte er. Er sah sich nach einer Werkbank mit Werkzeug um, doch derartige Arbeiten wurden offenbar woan ders ausgeführt. Schließlich machte er sich daran, die Bretter mit seinem Messer zurechtzuschneiden. »Was macht Ihr da?« fragte Zei. »Gleiter, mit denen wir über die Terpahla-Ranken gehen? Wahrhaftig – ein Genieblitz! Falls wir nicht durch eine Lücke in dem Gerank fallen und für die Ungeheuer des Meeres ein Festmahl abgeben.« »Zeigt Euren Fuß her. Verdammt leichte Sandalen ...« Die Stunden vergingen, während Barnevelt werkel te. Als er wieder die Nordosttür öffnete, schien das Licht der drei Monde nicht mehr durch die Türöff nung, denn sie waren über den Meridian in die Westhälfte des sternenhellen Himmels gezogen.
Barnevelt plante seine nächsten Schritte mit großer Sorgfalt. Zunächst machte er noch eine Runde auf Deck, lauschte und spähte nach Zeichen der Verfol ger. Da nichts zu bemerken war, sah er nach Norden, über die mondhelle Rankenwüste hinweg. Nichts leichter als auf Krishna ohne Karte und Kompaß ver lorenzugehen, wenn man auf den Ranken herumwa tete. Dann klopfte er an die Tür: »Löscht die Lampe und kommt!« Zei gehorchte. Zusammen schleppten sie die vier Gleitschuhe, die zwei Ruder, die er als Balancestan gen ausgesucht hatte und eine Rolle Seil heraus. Ein Ende des Seils befestigte er an Deck und ließ das an dere Ende ins Wasser hängen. Dann zog er sein Kettenhemd aus, das ihm das Schwimmen unmöglich gemacht hätte. Mit einer dünneren Schnur machte er Skibindungen. In die Ränder der Bretter hatte er bereits Löcher gebohrt, durch die die Schnur, unter dem Ski verlaufend, ge zogen werden konnte. Seine eigenen Ski boten keine Schwierigkeiten. Obwohl er noch nie Skibindungen angefertigt hatte, besaß er, von seinen Segelerfahrun gen her, einige Übung im Umgang mit Seilen, und seine Postbotenstiefel gaben seinem Fuß den notwen digen Halt. Zeis Füße waren ein anderer Fall. Obwohl er zwei
Stück Segeltuch zerschnitten hatte, mit denen er ihre Füße umwickelte, um sie vor Abschürfung zu schüt zen, fürchtete er, daß sie sich wund reiben würde. Er konnte ihr nicht helfen ... »Die Sunqaruma kommen!« sagte sie flüsternd. Er lauschte. Über den Geräuschen des nächtlichen Sunqar erhob sich deutlich das Geräusch von Fußge trappel, Stahlklirren und Stimmengemurmel. »Ich muß als erster hinunter«, sagte er und ließ sich über den Rand herab, sich dabei an dem dicken Seil festhaltend. Er ließ sich auf den Seetang nieder und hörte, wie die Skier auf Wasser trafen. Dann spürte er die Kühle des Meeres um seine Knöchel. Einen Augenblick lang glaubte er, die Ranken würden sein Gewicht nicht tragen, so daß er, wenn er erst das Seil losließ, bis zum Kinn eintauchen würde. Die Geräusche der Näherkommenden wurden rasch lauter. Jetzt konnte er einzelne Stimmen, wenn auch nicht Worte, unterscheiden. »Schnell!« kam Zeis Stimme von oben. Barnevelt ließ sich weiter hinunter. Die Spannung des Seils ließ nach, und er stand im Wasser, das ihm nicht einmal bis an die Waden reichte. Vorsichtig machte er einen Schritt, dann noch einen, hielt sich noch immer am Seil fest und entdeckte, daß die Ran ken, weiter vom Schiff entfernt, mehr Festigkeit bo
ten. Er merkte auch, daß man verhältnismäßig trok ken blieb, wenn man sich fortbewegte während man bei Stillstand allmählich tiefer einsank, da das Kör pergewicht die Terpahlaranken hinunterdrückte. »Reicht mir mein Ruder herunter!« sagte er leise. Als Zei seiner Bitte nachgekommen war, probierte er es aus und sah, daß es keinen schlechten Skistock ab gab. Aus den Geräuschen schloß er, daß die Verfolger jetzt über den Steg auf der anderen Seite des Schiffs liefen. Es blieb ihnen nur mehr ein Spielraum von Se kunden. »Nun denn«, murmelte er. »Reicht mir Euer Ruder und den Rest des dünnen Seils herunter ... und jetzt klettert herunter!« »Wollt Ihr mich nicht auffangen?« »Geht nicht. Zusammen wären wir zu schwer.« Sie ließ sich, so gut es ging, herunter. Ihre Ski scharrten am Schiffskörper entlang. Am entfernten Ende des Schiffs liefen Schritte übers Deck, und Bar nevelt erhaschte jetzt Gesprächsfetzen: »... die Götter wissen, daß wir überall gesucht ha ben ...« »... wenn sie hier nicht sind, müssen sie geflogen sein ...« »... du gehst das Deck in der anderen Richtung ab, damit sie nicht ...«
Zei erreichte die Wasseroberfläche, tat einen schwankenden Schritt auf den Ranken, bohrte dabei die zugeschnitzte Spitze ihres rechten Ski in das Ter pahla und wäre fast mit einem Kopfsprung ins Was ser getaucht. »Achtung!« zischte Barnevelt voll wahnsinniger Angst. »Da drüben ist das Terpahla fester. Hier, Euer Ruder! Jetzt aber rasch!« Und ab ging es auf Nordkurs. Die Ski zischten über das pflanzenbedeckte Wasser. Barnevelt warf einen Blick auf das Schiff zurück. Obwohl die ihm zuge wandte Seite im Dunkeln lag, waren Anzeichen von Bewegung an Deck zu merken und das Geräusch ei ner Tür, die geöffnet wurde. Jemand rief: »Die sind hier eingebrochen! Licht her!« Barnevelt hoffte, die Morya würden sich mit dem Durchsuchen des Schiffs so lange aufhalten, daß sie nicht bemerkten, daß ihre Beute noch in Sichtweite war und sich auf der Flucht befand. Da sie nicht dar auf gefaßt waren, Menschen auf dem Wasser gehen zu sehen, würden sie keinen Blick hinaus auf das Rankenwerk werfen. Dieses Glück war ihnen jedoch nicht beschieden. Eine Stimme sagte: »Was soll das Seil hier? Cho ... da drüben sind sie!« »Wo?« »Da, auf der Terpahla!« »Das ist doch unmöglich.« »Und doch sind sie es ...« »Zauberei!« »Bogen, Bogen!« »Wer hat einen Bogen?«
»Niemand, Herr, denn Ihr habt befohlen ...« »Egal, was ich befohlen habe, Narr, lauf und hol einen ...« »Kannst du nicht ...« »Weiter«, drängte Barnevelt und machte größere Schritte. Die Entfernung wuchs mit tödlicher Langsamkeit. Hinter ihnen ertönte das Schnappen eines Gummisei les, gefolgt von einem kurzen, scharfen Pfeifen. »Sie schießen auf uns«, klagte Zei mit einer Stim me, aus der man die nahen Tränen heraushörte. »Ist nicht weiter schlimm. Auf große Entfernung können sie uns bei diesen Lichtverhältnissen nicht treffen –. Bleibt stehen und faßt das Seilende. Bindet es Euch um die Mitte. Falls einer in ein Loch fällt, kann der andere ihn herausziehen. Dankt dem gro ßen Gott Bakh, daß Ihr nicht eines dieser zimperli chen Mädchen seid! Los, es geht weiter! Vergeßt nicht, immer in Bewegung zu bleiben!« Sie wateten weiter auf den Bug eines vor ihnen in die Höhe ragenden Wracks zu. Zei bemerkte: »Ein ungewöhnlicher Anblick – alle Monde voll, und gleichzeitig in Konjunktion zu sehen. Der alte Qvansel behauptet, daß dieses Ereignis einen großen Umsturz in den irdischen Angelegenheiten des Reiches bedeutet, aber meine Mutter will nichts davon wissen und sagt, daß Varzai alles regiert. Das Gerede des Alten sei nichts als gottloser Aberglaube.«
»Warum behält sie den Alten im Palast, wenn sie ihm nicht glaubt?« »Ach, er ist ein Erbstück aus der Regierungszeit meiner Großmutter, und meiner Mutter, die denen, die sie nicht kennen, hartherzig erscheint, bringt es nicht über sich, einen langjährigen treuen Diener da vonzujagen. Außerdem – mag nun seine Sternkunde wahr oder falsch sein – ist er ein Mann von großer Gelehrsamkeit ...« Barnevelt wandte den Kopf, und in diesem Augen blick sanken seine Ski ein. Das Wasser stieg und schloß sich gurgelnd über seinem Kopf. Ehe er an die Oberfläche kam, traf ihn etwas im Rücken, und dann war er von einem Gewirr mensch licher Glieder umgeben. Er wußte sofort, was gesche hen war. Zei, die sich hinter, statt seitlich von ihm be funden hatte, war nicht imstande gewesen, Wider stand zu leisten, als er ins Loch fiel, und war hinter ihm hergestürzt. Schließlich bekam er den Kopf frei und begann sich herauszuarbeiten. Es fiel ihm schwerer als erwartet, denn die Skier hatten sich in den Ranken verwickelt und machten normale Bewegungen unmöglich. Als er schließlich seine Füße wieder unter sich hatte und das Ruder in der Hand, stieß er sich seitwärts vom Loch weg und half Zei heraus. Als sie die halbe Banjao-See ausgespuckt hatte und
wieder zu Atem gekommen war, sagte sie: »Ich ver traue darauf, mein Herr, daß Ihr es für nicht ungehö rig haltet, wenn ich Euch rate, zu schauen, ehe Ihr ei nen Schritt macht?« Er grinste beschämt. »Gott sei Dank sind wir fast am Ziel.« Als es heller wurde, sah er, warum er ins Wasser gefallen war. Sie hatten sich bereits dem Rand des fe sten Teils des Sunqar genähert, und die Löcher zwi schen den Ranken waren immer zahlreicher gewor den. Vor ihnen, längs des Wracks, war das Gerank nicht mehr fest, sondern trieb in gelbbraunen Stücken aller Größen dahin. Schließlich polterten sie aufs Wrack und ließen sich auf das modernde Holz mit einem Seufzer der Er schöpfung fallen. Barnevelt löste seine Skibindung und widmete sich dann den Füßen seiner Begleiterin. Sie zuckte bei seiner Berührung zusammen, und als er das Seil und die Leinwandumhüllung gelöst hatte, sah er, daß ihre Füße an mehreren Stellen blutig ge rieben waren. »Großer Qondyor!« sagte er. »Muß das wehgetan haben! Warum habt Ihr nichts gesagt?« »Welchen Sinn hätte das gehabt? Ihr hättet mich über diesen schwankenden Boden nicht tragen kön nen, und meine Klagen hätten Euch von Eurer eigent lichen Aufgabe nur abgelenkt.«
»Ihr habt aber Mut«, sagte Barnevelt und zog Stie fel und Strümpfe aus. »Ich danke Euch.« Dann mußte sie lachen. »Seht Eure Beine an!« Im hellerwerdenden Licht sah er, daß seine Beine blau gestreift waren, wo die Farbe der Expreßboten uniform ausgelaufen war. Eine Brise kam auf und ließ Barnevelt schaudern. »Brrr!« machte Zei. »Zieht das nasse Zeug aus, ich werde es auswinden. Sonst wird es in diesem Dunst stundenlang nicht trocken.« Gesagt, getan. Sie schlüpfte aus ihrem dünnen Ge wand und wand es über der Seite des Schiffs aus. Dirk errötete, während Zei mit nicht viel mehr Verle genheit behaftet als eine Einjährige, ihre Sachen an den einzigen übriggebliebenen Mast des Wracks hängte und sagte: »Was hält den Herrn von Taten ab? Seid Ihr gelähmt?« Stumm gehorchte Barnevelt. Als er die Jacke ablegte, fiel Sheafases Brief heraus. Er zerknüllte ihn und warf ihn weg. Jetzt diente er keinem nützlichen Zweck mehr und konnte eher Schwierigkeiten machen, falls Königin Alvandis Neugier geweckt wurde und sie wissen wollte, war um die Morya Sunqaruma an ihren Freunden aus Nyamadze so viel Interesse hatten. Er sagte: »Einen kräftigen Schuß Sonnenbrand auf
die wunden Füße – und Ihr wäret für längere Zeit gehunfähig. Vielleicht gelingt es mir, dieses alte Segel zu zerschneiden. Damit können wir uns schützen – aber nein, ich lasse es lieber hängen, damit Chask uns eher findet.« »Und wenn Euer Schiff nicht kommt?« »Habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht könnte ich mich in der Nacht zurück in die Siedlung schleichen und Nahrungsmittel und Material klauen, um dieses Wrack instandzusetzen oder ein neues Boot zu bauen. Klingt aber nicht sehr durchführbar.« »Ach, ein so vielseitiger Held wird alle Hindernisse überwinden. Wie steht es aber inzwischen mit Nah rung? Ich habe gewaltigen Hunger.« »Wo könnte ich hier draußen etwas Eßbares fin den?« »Aber Euer bewährter Erfindungsreichtum wartet sicher mit einem genialen Plan auf ...« »Danke für das Kompliment, meine Liebe, aber so gar mir sind Grenzen gesetzt. Und seht mich vor al lem nicht so verhungert an. Das erinnert mich an die tierischen Bräuche Eures Volkes!« »Nein, laßt mich mit diesem Thema in Ruhe! Der Brauch ist nicht meine Idee. Keine Angst, daß ich mit Euch kannibalische Pläne verfolge, denn Ihr seid doch nur Haut und Knochen.« Er gähnte. »Es ist besser, wir nützen die Wartezeit
und schlafen. Ich übernehme die Wache, während Ihr Euch ausruht.« »Aber braucht Ihr nicht dringender den Schlaf? Ihr habt schwerer ...« »Legt Euch schlafen!« befahl Barnevelt, der sich sehr überlegen fühlte. »Ja, edler Herr.« Sie bedachte ihn mit einem Blick voller Anbetung. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Mast. Sein Blick schweifte über den Horizont. Hin und wieder zwickte oder schlug er sich, um sich wachzuhalten. Die Erinnerung an sämtliche Filme über zwei Schiff brüchige auf einem Floß ging ihm durch den Kopf. Als das Seewasser auf seiner Haut trocknete, blieben kleine Salzflöckchen zurück. Er kratzte sich und spür te, daß sein rauher brauner Bart sproß. Er mußte sich einen Weg einfallen lassen, ihn abzurasieren, sonst würde er seine Herkunft offenbaren. »Snyol!« ließ sich Zei in kläglichem Ton verneh men. »Ich kann vor Kälte nicht schlafen.« »Kommt her und wärmt Euch«, sagte er. Sofort be dauerte er diese Äußerung. Mit der flinken Bewe gung eines Polypen schlängelte sich Zei in seine rech te Armbeuge. Sie zitterte. »Schon besser«, sagte sie und lächelte ihm zu. Ach? dachte Barnevelt, in dessen Brust zwei Seelen – der vorsichtige, berechnende Geschäftsmann und
das gesunde junge Tier – in tödlichem Kampf begrif fen waren. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Einen Augenblick gewann die sachliche Seite die Oberhand. »Entschuldigt«, murmelte Barnevelt, löste sich aus ihrer Umarmung und wandte Zei unvermit telt den Rücken zu, um nach seinen Sachen zu grei fen, die zum Trocknen aufgehängt waren. Sie waren noch immer feucht, wie es in dieser feuchten Umge bung nicht anders zu erwarten war. Trotzdem zog er die feuchten Sachen an und sagte über die Schulter: »Die werden ja doch nie trocken. Wenn wir sie anzie hen, trocknen sie durch die Körperwärme schneller. Ihr zieht wohl auch besser Euer Gewand an.« »Hu!« meinte sie und betastete ihr zerrissenes Hemd. »Aber wenn Ihr meint, mein Herr.« Sie streifte das dünne Zeug über den Kopf. »Und jetzt wärmt mich wieder, denn meine Zähne klappern wie die Kastagnetten einer Tänzerin aus Balhib.« Wieder setzten sie sich an den Fuß des Mastes. Der Mond näherte sich dem Horizont. Bald würde die Sonne aufgehen. Zei seufzte zufrieden und lächelte. Bevor er wußte, was er tat, beugte er sich über sie und küßte sie. Sie rückte weder weg, noch erwiderte sie den Kuß. Statt dessen drückte ihre Miene Erstau nen und Fassungslosigkeit aus. Sie fragte: »Ist das die irdische Sitte, Küssen genannt, von der ich gerüchte weise gehört habe?«
»Ja. Hat sich diese Sitte in Qirib noch nicht verbrei tet?« »Es wird angeblich von den Freizügigeren prakti ziert – doch niemand von unserem Hof hat es mir je vorgeführt. Stimmt es, daß es unter den Terranern ei ne Art Gruß ist, der Liebe und Wertschätzung aus drückt?« »Man sagt es.« »Ausgezeichnet. Es ist angebracht, daß alle Unter tanen die Mitglieder des königlichen Hauses lieben. Deswegen, lieber Snyol, habt die Güte und beweist noch einmal Eure Treue dem Thron gegenüber!« Barnevelt schoß es durch den Kopf, daß Liebe viele Bedeutungen hatte. Er gehorchte. Zei lernte durch die Übung sehr rasch, entdeckte er. Wieder hämmerte sein Blut. Das gesunde Tier Bar nevelt erhob sich und packte den kühlen, vernünfti gen Barnevelt. Letzterer protestierte: Im Namen aller Götter, Dirk, gebrauche deinen Verstand! Wenn du so weitermachst und sie sich nicht wehrt – was sie bis jetzt nicht getan hat – kann es dich den Kopf kosten! Warte, bis du deine Angelegenheiten und die deiner Firma ins Reine gebracht hast! Das grausame Tier Barnevelt war keinen Argumen ten zugänglich. Durch schier brutale Kraft zwang es den vernünftigen Barnevelt auf die Matte. Barnevelt entdeckte, daß die teilweise Verhüllung von Zeis ver
borgenen Köstlichkeiten seine Begierde statt zu dämpfen bloß anstachelte. Er änderte die Lage, denn sein rechter Arm war durch das Gewicht von Zeis Körper fast eingeschla fen. Doch da ließ ihn ein heller Fleck aus einiger Ent fernung auffahren. »Was ist denn, teuerster Freund?« fragte Zei. Widerstrebend machte sich Barnevelt los und wies auf das helle Dreieck, das sich vom heller werdenden westlichen Himmel abhob. »Wenn ich nicht irre, ist es das Segel der Shambor!« Er bedachte sie mit einem langen, verweilenden Blick. Der vernünftige Barnevelt saß wieder fest im Sattel. Grimmig begann Barnevelt mit Freiübungen. Die verfaulten Planken des alten Wracks knarrten un ter seinen Rumpf- und Kniebeugen. »Was macht Ihr da?« fragte Zei. »Ist das eine mor gendliche Geste der Ehrerbietung vor den grimmigen Göttern des fernen Nyamadze?« »So könnte man es auch nennen. Nur eine kleine Übung für den Blutkreislauf. Ihr versucht es am be sten selbst.« Schließlich hielt er keuchend inne. »Mir ist eingefal len, daß es vielleicht gar nicht unser Schiff ist. Legen wir uns lieber wieder hinter den Mast, damit man uns nicht sieht.« »Was ist, wenn es unsere Feinde sind?«
»Dann lassen wir uns ins Wasser gleiten und müs sen das Risiko der Fondaqa auf uns nehmen.« Das Segel wurde mit dem aufkommenden Mor genwind schnell größer. Als es nahe genug gekom men war, daß man von ihrem Standpunkt aus den Schiffsleib erkennen konnte, sah Barnevelt, daß es tat sächlich die Shambor war. Er wartete jedoch noch, bis er Chask am Steuer erkannte, ehe er aufsprang und schrie und winkte. Minuten später stieß das kleine Schiff durch die Ranken. Barnevelt hob Zei über die Reling und klet terte selbst an Bord. Widerstrebend redete er sich ein, daß er glücklich einer intimen Verbindung mit der Prinzessin ent kommen war, einer Verbindung mit weiß Gott was für düsteren Folgen. Doch gleichzeitig flüsterte die weniger praktisch eingestellte Seite seiner Natur – der romantische Träumer Barnevelt: »Du liebst sie, aber nicht als Untertan! Eines Tages vielleicht wirst du mit ihr irgendwie und irgendwo vereint. Eines Tages. Ei nes Tages ...«