Rolf Wunderer „Derr gestiefelte Kater“ als Unternehmer
Rolf Wunderer
„Derr gestiefelte Kater“ als Unternehmer Lehren...
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Rolf Wunderer „Derr gestiefelte Kater“ als Unternehmer
Rolf Wunderer
„Derr gestiefelte Kater“ als Unternehmer Lehren aus Managementt und Märchen
Bibliografische Information Derr Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Rolf Wunderer warr Inhaberr des Lehrstuhls fürr Betriebswirtschaftslehre sowie Gründerr und Leiterr des Instituts fürr Führung und Personalmanagementt an derr Universitätt St. Gallen/Schweiz mitt vielen Publikationen und langjährigerr Erfahrung in Forschung, Lehre und Beratung. Als Emeritus konzentrierte err sich mitt Unterstützung derr uniscope – SGO-Stiftung fürr praxisnahe Managementforschung auff die Erarbeitung des vorliegenden Buches.
Mitgliederr derr SGO (Schweizerische Gesellschaftt fürr Organisation und Management) erhalten auf diesen Titel einen Nachlass in Höhe von 10 % auf den Ladenpreis.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicherr Verlag Dr. Th. Gablerr | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Ulrike Lörcherr | Katharinaa Harsdorf Derr Gablerr Verlag ist ein Unternehmen von Springerr Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seinerr Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb derr engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nichtt zu derr Annahme, dass solche Namen im Sinne derr Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutztt werden dürften. Umschlaggestaltung: Ninaa Faberr de.sign, Wiesbaden Umschlagabbildung aus: Die schönsten Märchen derr Gebrüderr Grimm, Lappan Verlag Oldenburg, 4. Auflage 2005, 280 Seiten, ISBN: 978-3-89082-257-0, S. 59 Druck und buchbinderische Verarbeitung: LegoPrint, Lavis Gedrucktt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Italy ISBN 978-3-8349-0772-1
Geleitwort
Geleitwort Märchen, Erzählungen, Sagen und Geschichten sind häufig wichtiger Bestandteil einer schönen Kindheitserinnerung. Ob es nun Hänsel und Gretel, der gestiefelte Kater, Hans im Glück, Aschenputtel oder die Bremer Stadtmusikanten waren, Märchen und deren Heldinnen und Helden waren für uns als Kinder wichtig. Mit dem Heranwachsen ist die Bedeutung von Märchen in den Hintergrund gerückt und sie wird von Popmusik, Comics, Kino sowie später durch Ausbildung und Beruff verdrängt. Als Kulturgut, als reiche Quelle von Analogien, Metaphern und Lehren („Lessons Learned“) sowie als niveauvolle Unterhaltung haben Märchen und Erzählungen auch für den erwachsenen Menschen und sogar für Führungskräfte eine grosse Relevanz. Märchen sind für Kinder jeden Alters geeignet. Mehr als Grund genug für die Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management (uniscope), dieses spannende Projektt zu fördern und aktiv zu unterstützen. Rolff Wundererr beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Märchen und ist als einer der renommiertesten Lehrer und Forscher in den Bereichen Personalmanagement und Führung international anerkannt. Ihm gebührt die Ehre, die Bedeutung von Märchen für die Führung erkannt und dieses von der Managementlehre bislang vernachlässigte Thema fundiert bearbeitett zu haben. Basierend auff der theoretisch und empirisch breit abgestützten Führungslehre von Rolff Wunderer und kombiniert mit einer langjährigen intensiven Auseinandersetzung mit Märchen ist ein Werk entstanden, das sowohl den Anforderungen der Managementlehre und -forschung als auch Erwartungen der Märchenforschung entspricht. Die wichtigsten Märchen der Gebrüder Grimm werden differenziert und unterhaltsam den zentralen Erkenntnissen der Führungslehre gegenübergestellt. Spätestens wenn Rotkäppchen als zwar motivierte, aber begrenzt kompetente Routinemitarbeiterin charakterisiert sowie Aschenputtel oder der gestiefelte Kater als Mitunternehmer erkannt werden, zeigt sich der Wert dieses einzigartigen Buches. Illustriert mit anschaulichen Parallelen aus Märchen werden alle wichtigen Führungsthemen angeschnitten: Unternehmertum, Schlüsselkompeten-
V
Geleitwort
zen, Vertrauen, Motivation, Führungsstile, Wertesysteme und Führungsgrundsätze. Ob nun Hans im Glück als Philosoph, als Schwank, als Versager oder Sein-Sucher, als ausgebeuteter Markttrottel oder als Glücksökonom gelten soll, der Fundus an Analogien und Lehren in Märchen ist nahezu unbegrenzt und lässt sich sehr gut auff den Führungsalltag übertragen. Lassen Sie sich von diesem etwas anderen Zugang zum Thema Führung inspirieren und in die Welt der Märchen und Erzählungen zurückführen. Ein Wagnis, das sich lohnt. Märchen dienen u. a. als Burnout-Prophylaxe (Der Hase und der Igel: „Work smarter not harder“), als Führungsprinzip (Der gestiefelte Kater: „Manage your boss“), als Leadershipkompetenz (Aschenputtel: „When the going gets tough, the tough get going.“) und als Motivationssystem (Hans im Glück: „Luck is what happens when preparation meets opportunity.”). Die SGO-Stiftung dankt Rolff Wunderer für dieses wahrhaft märchenhafte Buch. Die sehr hohe Fachkompetenz, das enorme Engagement und vor allem die inspirierende Begeisterung des Autors haben dieses Projekt zu einem bereichernden Lehrstück für alle involvierten Personen gemacht.
Interlaken, im Oktober 2007
VI
Prof. Dr. Robert J. Zaugg Vizepräsident der SGO und Stiftungsrat der SGO-Stiftung
Vorwort
Vorwort Wunder ist nicht nur im unerklärten Überstehen der Gefahr; erst in einer klaren reingewährten Leistung wird das Wunder wunderbar. Mitzuwirken ist nicht Überhebung an dem unbeschreiblichen Bezug, immer inniger wird die Verwebung, nur Getragensein ist nicht genug. Rainer Maria Rilke, Irrlichter
Das oft überraschende Überstehen auch lebensbedrohender Gefahren prägt Märchen. Wie in Unternehmen und Verwaltungen gelingt dies meist zusammen mit anderen, in Teams oder mit hilfreichen Netzwerken. Mitwirken bildet zugleich ein Schlüsselwort für das Konzept mitunternehmerischen Denken und Handelns. Das beginnt beim Mitwissen, Mitdenken und Mitfühlen und endet beim Mitentscheiden, Mitverantworten und Mitbeteiligen – nur Getragensein ist nicht genug. Im modernen Management prägt dieses Konzept viele Leitbilder und Führungsgrundsätze; Märchen zeigen es dagegen implizit, besonders in den gelebten Kompetenzen, Motiven oder Beziehungen. Die von Philologie, Psychologie und Pädagogik dominierte Erzählforschung erweist sich immer noch als „unternehmerfrei“, wenn man die Stichworte vielbändiger Handwörterbücher evaluiert. Gleichfalls findet man in Tausenden von Stichworten betriebswirtschaftlicher Lexika (z. B. zu Personalmanagement, Führung, Marketing, Organisation) weder Märchen noch deren Heldinnen und Helden. Die BWL ist insoweit „märchenfrei“. Eine spannende Herausforderung also für einen interdisziplinären Brückenschlag in dieser terra incognita. Als mir die Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management (SGO-Stiftung) nach einer erfreulichen Zusammenarbeit in einem personalwirtschaftlichen Projekt anbot, bei einem weiteren zu kooperieren, wurde der Arbeitstitel: „Management und Märchen – lessons learned“ akzeptiert. Er bildete bis heu-
VII
Vorwort
te den Schwerpunkt meiner Forschung als Emeritus. Umfangreiche Vorstudien der internationalen und interdisziplinären Märchenliteratur und -forschung sowie einschlägige Symposien und Vorträge der Europäischen und Schweizerischen Gesellschaft für Märchenforschung förderten die These, dass viele Märchenheldinnen und helden ihre Erfolge mit unternehmerischen Schlüsselkompetenzen erzielten. Dann wurde das eigene Konzept zum internen Unternehmertum in verschiedenen Perspektiven auff Märchen übertragen. Dafür bot sich eine Konzentration auff die weltweit bekannteste Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) der Brüder Grimm mit 201 Märchen an. Schrittweise wurden sechs Teilprojekte bearbeitet. Drei stützten sich auff zentrale Themen, die vorwiegend an einem Märchen diskutiert wurden, drei weitere bezogen viele Märchen ein. Das ergab folgende Hauptkapitel: Internes Unternehmertum, unternehmerische Schlüsselkompetenzen und Portfoliomanagement, Vertrauen und Selbstwirksamkeit (Aschenputtel), Werthaltungen und Motivation (Hans im Glück), Führungsbeziehungen (Der Gestiefelte Kater) sowie Führungsgrundsätze in Märchen und Management Bei der Integration der Kapitel im vorliegenden Werk wurde darauf geachtet, dass jedes geschlossen blieb – einschliesslich der Literatur. Dies erleichtert selektives Lesen. Weiterhin sind zwanzig der am häufigsten von über 90 zitierten Märchen im Originaltext der Ausgabe letzter Hand von 1857 im letzten Kapitel abgedruckt. Denn viele Kursteilnehmer kannten selbst ihre Lieblingsmärchen nur bruchstückhaft, verwechselten sie auch. Als Zitiergrundlage wurde die 2. revidierte Gesamtausgabe von 1819 mit 201 Märchen und zehn Legenden gewählt, die 1999 vom Verlag Artemis&Winkler mit den Originalillustrationen ausgestattet war und um einen profunden Überblick zum Entwicklungs- und Forschungsstand der Kinder- und Hausmärchen ergänzt wurde. Vor allem der Verlag Luchterhand sowie die Verlage Beck, Betz, Brio, Esslinger, Gestenberg, Lappan und Reinhard gestatteten die Übernahme von Abbildungen oder Illustrationen. Nachhaltige Unterstützung erfuhr ich durch Prof. Hans Jörg Uther von der Göttinger Akademie der Wissenschaften, Ressort Enzyklopädie des Märchens der mir in zahlreichen Gesprächen und Mails wichtige Informationen sowie die Erlaubnis gab, aus seiner digita-
VIII
Vorwort
len Sammlung „Märchen der Welt“ ausgewählte Erzählungen der Brüder Grimm zu übernehmen. Weiterhin wirkte er als aufbauender Testleser, wie auch meine Schulfreunde, Dr. Dieter Bühler und Prof. Dr. Hansjörg Weitbrecht sowie ein Kollegenkreis aus der Universität St. Gallen. Ebenso unterstützten mich der Präsident der Europäischen Märchengesellschaft, Dr. Heinrich Dickerhoff, als erster Mentor sowie die Präsidentin der Schweizerischen Märchengesellschaft, Frau Dr. Barbara Gobrecht mit ihrer reichen Erfahrung. Zusätzlich gaben mir erfahrene Teilnehmende an Managementund Märchen-Kursen viele Denkanstösse. Weiterhin haben mir Herr Reto Zannetin MA A und Herr Adrian Pfammatter cand. BA A mit computertechnischer Hilfe in erfreulicher Zusammenarbeit viel Zeit und Ärger erspart. Frau Katharina Harsdorff sowie Frau Ulrike Lörcher vom Gabler Verlag standen Prof. Dr. Robertt Zaugg sehr hilfreich zur Seite, der sich auch verlegerisch mit seinem aussergewöhnlichen n Engagementt und Können n einbrachte. Ganz besonders aber möchte ich der Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management (SGO-Stiftung), ihrem Präsidenten Dr. Markus Sulzberger und Vizepräsidenten Prof. Dr. Robert Zaugg mit seiner Mitarbeiterin, Frau Karin Mühlemann, für all die freundschaftliche, umfangreiche und generöse Hilfe sowie die hoch motivierende Begeisterung für dieses Projekt danken. Daraus entwickelte sich eine echte Partnerschaft und Freundschaft, die dieses Werk sicher überdauert. Widmen möchte ich das Buch meiner Frau Barbara, die meine unzähligen Entwürfe mit ihrer philologischen und pädagogischen Sachkenntnis, mit psychologischer Ermunterung und grosszügiger Geduld unterstützte und so meinen spannenden und lehrreichen Arbeitsalltag sehr verschönte. Das Werk möchte gleichermassen Unternehmer, Mitunternehmer und solche, die mehr darüber wissen wollen, Führungskräfte, Kollegen und Studierende sowie mit anderem Schwerpunkt Märchenfreunde, Erzählende und Erzählforscher erreichen. „Und wers nicht glaubt, zahlt einen Taler“. Sommer 2007
Rolff Wunderer
IX
Hans plant eine „Ich-AG“ Quelle: el Die schönsten Märchen der Brüder Grimm, mit Bildern von Anastassija Archipowa, Esslinger li Verlag, Esslingen/Wien 2002, S. 179.
Inhaltsübersicht
Inhaltsübersicht Kapitel 1
Management und Märchen – Einführung .............................1
Kapitel 2
Internes Unternehmertum in Management und Märchen .....................................................................................11
Kapitel 3
Unternehmerische Schlüsselkompetenzen – ein Portfolioansatz ..........................................................................61
Kapitel 4
Vertrauen in Management und Märchen – Aschenputtel .............................................................................79
Kapitel 5
Motivation in Management und Märchen – Hans im Glück .................................................................................. 119
Kapitel 6
Führungsbeziehungen und Wertewandel in Management und Märchen – Vom Schäferhund zum gestiefelten Kater........................................................... 165
Kapitel 7
Kinderr brauchen Märchen – Manager auch? Verhaltensleitsätze in Märchen und Management – ein Vergleich............................................................................ 205
Kapitel 8
20 Märchen derr Brüderr Grimm: Nicht nurr für Führungskräfte ....................................................................... 251
XI
Der erfolgreiche (Mit-)Unternehmer Quelle: el Die schönsten Märchen der Brüder Grimm, mit Bildern von Anastassija Archipowa, Esslinger li Verlag, Esslingen/Wien 2002, S. 54.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1
Management und Märchen – Einführung .............................1
1.1 1.2 1.3 1.4
Zur Entwicklungsgeschichte ........................................................... 3 Zur heutigen Rezeption von Volksmärchen.................................. 5 Vermittlungs- und Rezeptionstendenzen ...................................... 5 Ziele der Management- und Märchenforschung.......................... 7
Kapitel 2
Internes Unternehmertum in Management und Märchen .....................................................................................11
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
Mitunternehmertum – Begriff, Konzept, Dimensionen............. 13 Rahmenbedingungen des Umfelds .............................................. 16 Organisations- und Förderungsziele............................................ 17 Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen ............................ 19 Mitunternehmerische Motivation................................................. 22 Steuerung und Führung................................................................. 33 Mitunternehmerische Förderung und Entwicklung .................. 42 Lessons learned ............................................................................... 54 Literaturverzeichnis........................................................................ 56 Anmerkungen ................................................................................. 59
Kapitel 3
Unternehmerische Schlüsselkompetenzen – ein Portfolioansatz ..........................................................................61
3.1 3.2
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen ............................ 63 Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen in Märchen ........................................................................................... 67 Lessons learned ............................................................................... 73 Literaturverzeichnis........................................................................ 76 Anmerkungen ................................................................................. 78
3.3 3.4 3.5
Kapitel 4
Vertrauen in Management und Märchen – Aschenputtel .............................................................................79
4.1 4.2
Zielsetzung dieses Kapitels ........................................................... 88 Grimms Aschenputtel – unter Aspekten von Vertrauen und Management............................................................................ 90 Selbstvertrauen in Märchen und Management........................... 94 Zur Beschreibung und Messung von Selbst- und Fremdvertrauen ............................................................................ 100 Wirkungen zwischen Selbst- und Fremdvertrauen.................. 104 Selbst- und Fremdvertrauen in Märchen................................... 105
4.3 4.4 4.5 4.6
XIII
Inhaltsverzeichnis
4.7 4.8 4.9
Zusammenfassung und lessons learned ................................... 108 Literaturverzeichnis ..................................................................... 113 Anmerkungen ............................................................................... 116
Kapitel 5
Motivation in Management und Märchen – Hans im Glück...................................................................................119
5.1 5.2 5.3
Hans im Glück – Ilse im Unglück............................................... 121 Einführung – Sieben Leben des Hans im Glück....................... 126 Philosophische Interpretationen – Hans als erster Philosoph....................................................................................... 127 Philologische Interpretationen – Hans im Glück als Schwank......................................................................................... 131 Tiefenpsychologische und psychotherapeutische Interpretationen – Hans als Versager oder als SeinSucher?........................................................................................... 132 Politologische Interpretation – Hans als ausgebeuteter Markttrottel ................................................................................... 133 Ökonomische Interpretationen – Hans als Glücksökonom .............................................................................. 134 Betriebswirtschaftliche Forschung – „Märchenfrei und für Hedomaten“............................................................................ 137 Motivationstheoretische Interpretation – Hans als eigennütziger Hedomat und unlustmeidender Glücksökonom .............................................................................. 142 Zusammenfassung ....................................................................... 152 Lessons learned............................................................................. 155 Literaturverzeichnis ..................................................................... 158 Anmerkungen ............................................................................... 163
5.4 5.5
5.6 5.7 5.8 5.9
5.10 5.11 5.12 5.13
Kapitel 6
Führungsbeziehungen und Wertewandel in Management und Märchen – Vom Schäferhund zum gestiefelten Kater...........................................................165
6.1 6.2 6.3
Führungsbeziehungen in Management und Märchen ............ 167 Skripte und demographische Werte........................................... 176 Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven.................................................................................. 183 Strategien für hierarchieärmere Führungsbeziehungen ......... 198 Lessons learned............................................................................. 200 Literaturverzeichnis ..................................................................... 202 Anmerkungen ............................................................................... 203
6.4 6.5 6.6 6.7
XIV
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 7
Kinderr brauchen Märchen – Manager auch? Verhaltensleitsätze in Märchen und Management – ein Vergleich............................................................................ 205
7.1 7.2 7.3
Verhaltensleitsätze im Management .......................................... 207 Verhaltensleitsätze in Märchen ................................................... 212 Führungs-/Kooperationsgrundsätze im Vergleich mit Märchenleitsätzen......................................................................... 223 Lessons learned ............................................................................. 234 Literaturverzeichnis...................................................................... 241 Anmerkungen ............................................................................... 246
7.4 7.5 7.6
Kapitel 8
20 Märchen derr Brüderr Grimm: Nicht nurr für Führungskräfte ....................................................................... 251
Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) ......................................................... 255 Die Bremer Stadtmusikanten (KMH 27).................................................... 259 Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71).................................... 261 Der treue Johannes (KHM 6)....................................................................... 264 Hänsel und Grethel (KHM 15).................................................................... 268 Der Hase und der Igel (KHM 187) ............................................................. 273 Die sieben Schwaben (KHM 119) ............................................................... 275 Rothkäppchen (KHM 26)............................................................................. 277 König Drosselbart (KHM 52) ...................................................................... 279 Frau Holle (KHM 24) ................................................................................... 281 Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1) ............................. 283 Die drei Brüder (KHM 124)......................................................................... 285 Das Räthsel (KHM 22).................................................................................. 286 Die kluge Bauerntochter (KHM 94)............................................................ 288 Der Meisterdieb (KHM 192)........................................................................ 290 Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129) ................................................. 294 Das Waldhaus (KHM 169)........................................................................... 297 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29) .............................. 300 Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19) ................................................. 304 Die Lebenszeit (KHM 176) .......................................................................... 308
XV
Ein starkes Team Quelle: Die schönsten Märchen der Brüder Grimm, mit Bildern von Anastassija Archipowa, Esslinger Verlag, Esslingen/Wien 2002, S. 158.
Zurr Entwicklungsgeschichte
1.1
Hier werden kurz und ohne Quellenverweise folgende Themen angesprochen: zur Entwicklung der Märchen- und Managementforschung, der heutige Entwicklungsstand und die damit befassten bzw. darin eingebundenen Disziplinen. Es folgen Entwicklungstendenzen aus eigener Sichtt sowie wesentliche Themengebiete und Ziele der Publikation.
1.1
Zur Entwicklungsgeschichte
Der Beginn einer wissenschaftlichen Märchenforschung wird meist mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm in Verbindung gebracht, die 1812 den ersten Teilband ihrer weltweit bekannten und verbreiteten „Kinder- und Hausmärchen“ publizierten. Daneben erforschten sie Sagen und editierten das Wörterbuch der deutschen Sprache in jahrzehntelanger Arbeit. Sowohl in Italien als auch in Frankreich gab es schon vor den Grimms noch heute bekannte Märchensammler, aber ohne den wissenschaftlichen Impetus und Gehalt der Brüder Grimm. Und diese wurden von Achim von Arnim sowie von Clemens Brentano zu ihrer Sammlung angeregt. Es war die Zeit der Spätromantik und des Biedermeier; die nachnapoleonische Ära förderte zusätzlich die (Rück-)Besinnung auff nationale Themen, wie Sagen und Volksmärchen. Auch wegen ihres wissenschaftlichen Anmerkungsapparats und des grossen Umfangs wurde die Märchensammlung zunächst sehr zurückhaltend aufgenommen. Erst eine auff 50 Märchen reduzierte „Kleine Ausgabe“ führte ab 1825 zum Erfolg; 1912 erschien schon die 50. Auflage. Den Beginn einer sog. Managementlehre kann man mit der Publikation von Frederick Winslow Taylor in Verbindung bringen. Er nannte sein bekanntestes Werk, das schon 1913 als „Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung“ publiziert wurde und in kurzer Zeit weite Verbreitung fand, auch „Scientific Management“. Und die Betriebswirtschaftslehre etablierte sich nicht nur in Deutschland zum Ende des 19. Jahrhunderts, besonders mit und in den neu gegründeten Handelshochschulen.
3
1
Management und d Märchen – Einführung
Das Resümee zum gegenwärtigen wechselseitigen Forschungsstand in beiden Disziplinen ist rasch berichtet. Auswertungen von fünf relevanten wissenschaftlichen Handwörterbüchern der Betriebswirtschaftslehre mit etwa 15.000 Stichworten erbrachten nicht eines davon zu Märchen, den Brüdern Grimm oder anderer Märchenliteratur. Damitt kann man die Managementforschung als „märchenfrei“ charakterisieren. Ebenfalls nur Fehlanzeigen lieferte eine Durchsicht der rund 4000 Hauptstichworte der Enzyklopädie des Märchens – Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Sie wird von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen seit 1973 in fünfzehn Bänden (mit je etwa 1500 Spalten) herausgegeben. So kann man ebenso die Erzählforschung als „managementfrei“ bezeichnen. Damit haben wir in der Forschungslandschaft wie in Lehrbüchern einen „weissen Fleck“, nach dem Wissenschaftler so gerne suchen, zumal eine interdisziplinäre Ausrichtung in den Quellen beider Disziplinen allenfalls in Spuren erkennbar ist. Heute sind die Themen und Ergebnisse der Managementforschung von vielen Disziplinen beeinflusst, insbesondere von der Betriebswirtschaftslehre und Psychologie, der Soziologie und Wirtschaftspädagogik sowie den Politikwissenschaften. Andererseits befassen sich neben der Philologie und Literaturwissenschaft, Volkskunde und Psychoanalyse bzw. -therapie noch die Religions- und Politikwissenschaften sowie die Schuldidaktik mit Märchenforschung und -interpretationen. Die Experten der Erzählforschung bestätigten, dass Managementaspekte in ihrem Bereich bisher nicht behandelt wurden. Zur Managementlehre konnten wir das gleiche Defizit selbst ermitteln. Inzwischen haben sich schon mehrere Universitäten, Weiterbildungsträger und Unternehmen sowie Publikationsorgane für „Management und Märchen“ interessiert und luden zu Vorträgen und Seminaren mit Diskussion ein. All dies fördert den kontinuierlichen Lernprozess zum neuen Themengebiet, dessen Erforschung und Verbreitung noch am Anfang steht.
4
Zurr heutigen Rezeption von Volksmärchen
1.2
1.2
Zur heutigen Rezeption von Volksmärchen
In Deutschland sind Märchen nur noch in Kindergärten und der Grundschule (hier mit etwa 14 Schulstunden insgesamt) Pflichtbestandteil des Unterrichts; Ausnahmen bilden Privatschulen nach Steiner oder Montessori. Erst ab dem 19. Jahrhundert gab es Lesebücher für Kinder mit Märchen. Schon ab etwa 10 Jahren nimmt heute das Interesse von Kindern an klassischen Märchen rapide ab, zumal sie bei immer weniger Familien als beliebter Stofff für das abendliche Vorlesen dienen. So kennen Jugendliche wie Manager in der Fortbildung den Inhalt selbst bekannter Märchen kaum noch. Sie sind dennoch sehr aufgeschlossen, ja begeistert, wenn Märcheninhalte mit Führungs- und Kooperationsthemen verknüpft werden. Eine Erklärung dafür liefert die Transaktionsanalyse, die zwischen Kindheits-, Eltern- und Erwachsenen-Ich unterscheidet. Menschen, die in ihrem aktuellen Erwachsenen-Ich noch einen hohen Anteil an kreativem und stark emotionalem Kindheits-Ich bewahren konnten, interessieren sich besonders dafür. Aber auch solche, die bestimmte Märcheninhalte – z. B. Herausforderungen, Gefahren und deren Bewältigung – mit dem eigenen Eltern-Ich sowie dem ihrer Genspender und Frühsozialisatoren verbinden, erleben nun neu reflektierte „Aha-Effekte“. Das haben Psychoanalyse und -therapie schon lange erforscht und bestätigt.
1.3
Vermittlungs- und Rezeptionstendenzen
Aus sehr persönlicher Wahrnehmung werden nun thesenartig Tendenzen skizziert: Angebot wie Rezeption der Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm werden für „normale Leser“ nahezu monopolisiert. So erscheinen in den Regalen der Buchhandlungen oder bei grossen Buchversendern fast nur Interpretationen aus psychologischer Sicht von wenigen Autoren, wie Eugen Drewermann, Verena Kast, Ingrid Riedel, Marie Louise von Franz oder Bruno Bettelheim. Sigmund
5
1
Management und d Märchen – Einführung
Freud und Carl Gustav Jung lieferten meist dafür die wesentlichen theoretischen Konzepte. Ansonsten findet man ab und zu Literatur mit esoterischen Grundlagen oder ironisierend-erheiternden Metaphern von Juristen, Beratern oder Trainern sowie Schriftstellern. Weiterhin können Eltern zunehmend aus südafrikanischen, irischen, indischen, russischen sowie aus Erzählungen aus Entwicklungsländern oder aus „aller Welt“ wählen; das Angebot wird also zunehmend globalisiert. Dies reduziert das Interesse für kontinentale oder gar nationale Märchen. Allerdings wurden Sammlungen der Brüder Grimm schon im 19. Jahrhundert weltweit beachtet und gelesen. Die Geschichten werden zunehmend in reichem, vielfältigem sowie beeindruckendem Masse neu illustriert. Das steigert die Nachfrage, den Eindrucks- wie den Erinnerungswert erheblich. Märchensammlungen werden zunehmend fragmentiert, indem sie in eklektisch oder thematisch reduzierten Sammlungen sowie isoliert als Einzelbücher oder -heftchen erscheinen. Dies begrenzt die Auswahl, erhöht zuweilen aber auch die Fokussierung. Denn viele der Grimm’schen Erzählungen sind weder zeitgemäss noch ansprechend. Das erkannten übrigens die Herausgeber selbst und reagierten mit der „Kleine(n) Ausgabe“ mit 50 Märchen. Erst sie machte das Werk populär. Banalisierend wirkt oft die mediale Aufbereitung von Märchen, besonders im Fernsehen. Einerseits werden sie nicht nur an Wochenenden ab früher Stunde gleichzeitig auff mehreren Kanälen gespielt. Andererseits fehlt auch die persönliche und meistt wiederholte Vermittlung durch vertraute Personen. Und dieser virtuelle Kommunikationsansatz wird durch die bevorzugten Trickfilme mit teils erheblicher Umarbeitung verstärkt. Dies gilt auch für einen Versuch, bekannte Märchen der Brüder Grimm unter der Marke „Grimm-sala-Bim“ zu produzieren und mit Begleittexten zu edieren. Die zunächst erstaunlich hohen Einschaltquoten sanken aber schnell. Die Märchen und die Rollen ihrer Helden wurden sehr verändertt bis „verhunzt“, die Trickfilme konnten mit dem Vortragen oder Vorlesen nichtt konkurrieren, sie regten oberflächlich an, aber beeindruckten nicht nachhaltig – so das Ergebnis umfangreicher didaktischer Begleituntersuchungen.
6
Ziele derr Management- und d Märchenforschung
1.4
Neben dieser Modernisierung und Banalisierung werden die Märchen so auch infantilisiert und dann nicht mehr als „Hausmärchen“ für Erwachsene verstanden und akzeptiert. In der Werbung findet man Märchen für Marketingzwecke instrumentalisiert – so über Anspielungen auff Märchentitel, die z. B. mit der Goldmarie oder dem Hans im Glück für ein Schnäppchen werben oder für einen Lottogewinn mit dem Sterntaler-Märchen Kunden fangen statt bereichern wollen. Verstärkt wirkt die Konkurrenz durch moderne mythen- oder sagenähnliche Fassungen von Märchenthemen und -inhalten. Hier sind v. a. Der Herr der Ringe sowie die Publikationen zu Harry Potter zu nennen, die als Bücher wie Filme weltweit ein Millionenpublikum fesselten. Vor allem für Kinder oberhalb der „Märchenbegeisterungsgrenze“ von etwa zehn Jahren wurden sie zu einem veritablen Märchenersatz, ja zur nahezu einzigen Buchlektüre der TV-Kids. Märchen wie auch nationale Sagen (z. B. Wilhelm Tell oder Nibelungen) wurden damit nachhaltig substituiert.
1.4
Ziele der Management- und Märchenforschung
Folgende Entdeckungs- und Beschreibungsziele stellen wir in den Mittelpunkt:
Die philologische Erzählforschung sowie psychologische Märcheninterpretationen um Ansätze aus der Managementdiskussion ergänzen und damit einem weissen Fleck in der Landkarte der Management- und Märchenforschung erste Konturen geben.
Durch den wechselseitigen Vergleich den Horizont der Führungsforschung und -lehre erkennen, ergänzen und erweitern, weiterhin Verbindungen von eigenen Forschungsschwerpunkten zu Märchen entdecken und so aus Märchen Nutzen auch für die Managementforschung und -praxis ziehen.
Interdisziplinäre Verbindungen zwischen Management- und Märchenforschung erarbeiten, dabei Möglichkeiten und Grenzen
7
1
Management und d Märchen – Einführung
eines Vergleichs von Themen und Betrachtungsweisen von Management und Märchen entdecken.
Als konzeptionellen Schwerpunkt den Ansatz internen Unternehmertums in Märchen differenziert und systematisch untersuchen. Wir fanden dazu keine Diskussion in der umfangreichen Erzählforschung oder in Handwörterbüchern der Entwicklungspsychologie bzw. pädagogischen Psychologie, obgleich unternehmerisches Denken und Handeln in westlichen Marktwirtschaften zu den Schlüsselkompetenzen vieler Berufe gezählt wird.
Umfeldfaktoren, Kompetenzen, Werthaltungen, Motive und Anreize, Steuerungs- und Interaktionsmuster, Führungs- und Kooperationsstile sowie Entwicklungsstrategien und -instrumente in die Diskussion einbeziehen.
Unternehmerische Schlüsselqualifikationen (v. a. Problemlösungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenz) als Kompetenzkonzept für Management und Märchen vertieft analysieren. Denn hier ergaben sich erstaunliche Übereinstimmungen.
Die Bedeutung und Modelle von Selbst- und Fremdvertrauen ermitteln und vergleichend prüfen, weil dies in der Managementforschung breit, in der Erzählforschung nicht einmal mit einem Stichwort bedacht wird.
Ein eigenes Motivationskonzept (mit Eigenmotivation, Commitment, Situationsmotivation, Demotivation und Umsetzung) durchgängig auff eine bekannte Märchenfigur als Fallstudie übertragen und reflektieren.
Die Bedeutung und Anwendung wechselseitiger Führungsbeziehungen (einschliesslich „Managing the Boss“) in beiden Disziplinen vergleichend beschreiben und anschaulich vermitteln – auch über Metaphern.
Märchen als Mittel der Frühsozialisierung der Persönlichkeit diskutieren – besonders über einen Vergleich von Verhaltensleitsätzen in Märchen mit Grundsätzen für Führung und Kooperation in Unternehmen.
Kulturgeprägtes Verhalten in extremen Krisen- und Wandlungssituationen der Märchen von intellektuell oder sozial besonders
8
Ziele derr Management- und d Märchenforschung
1.4
begabten, fachlich unqualifizierten, dazu meist jungen Helden mit oft begrenzt fähigen bzw. zuverlässigen Einflusspersonen (z. B. Könige, Eltern, Geschwister, Fremde) thematisieren.
Erzählungen als didaktische Mittel für die Aus- und Weiterbildung in der Arbeitswelt diskutieren; dies z. B. an Fallstudien von Märchenhelden, Metaphern oder Storytelling.
Symbole, Semantik, Vermittlungsformen, Sprachebenen in Märchen erkennen sowie Nutzen und Grenzen für eine Übertragung in die Managementlehre evaluieren.
Führungskräften und ihrem Nachwuchs die meist oberflächlich bekannten Märchen vertieft näherbringen. Und umgekehrt Märchenfreunde und -erzähler mit Denkmustern und Ansätzen des Managements und der Wirtschaftspraxis vertrauter machen.
Sich selbst mit diesem Projekt mehrjährig Freude bereiten und diese hoffentlich auch an andere weitergeben. Unter unserem Leitkonzept „Internes Unternehmertum“ werden nun Management und Märchen integriert diskutiert. Die folgenden Kapitel sind damit eng verbunden.
9
Managing the Boss Quelle: Der gestiefelte Kater – ein Märchen von Charles Perrault, illustriert von Fred Marcellino, Gerstenberg Verlag, Hildenheim 1995, ohne Seitenangabe.
Mitunternehmertum – Begriff, Konzept, Dimensionen
2.1
Deutschsprachige Märchen wurden durch die systematische Sammlung, Kommentierung und Bearbeitung von Wilhelm und Jacob Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts1 weltweit bekannt und sind es heute noch. In dieses Kapitel wurden 53 daraus ausgewählte Erzählungen unter dem Aspekt des Mitunternehmertums analysiert und interpretiert. Das geschieht mit einem integrierten Bezugsrahmen, der vom Umfeld über zentrale Schlüsselqualifikationen sowie unterstützende Motivation bis zur Gestaltung von Führungsbeziehungen und Personalentwicklung reicht. Die zentralen Komponenten internen Unternehmertums werden meist erst aus Sicht der Führungsforschung und -praxis, dann über ausgewählte Märchen dargestellt und interpretiert. Der Beitrag soll zugleich für das gesamte Werk als Übersichtsartikel dienen; einzelne Aspekte werden in anderen Beiträgen erweitert, vertieft oder näher begründet.
2.1
Mitunternehmertum – Begriff, Konzept, Dimensionen
Unternehmertum wird in der Betriebswirtschafts- und Managementlehre seit bald 100 Jahren diskutiert; im Mittelpunkt stand aber zunächst der selbstständige Unternehmer. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges – oder weil sie z. B. anders als ihre Väter oder Kollegen führen wollten – entwickelten Eigentumsunternehmer Führungskonzepte,2 die Arbeiter nicht nur als Mitarbeiter, sondern nun auch als Mitunternehmer verstehen wollten. Ab den achtziger Jahren erkannten auch Grossunternehmen den Vorteil von Mitarbeitenden, die mitdenken, mitverantworten, mitentscheiden, mitfühlen und sich mitbeteiligen können und wollen. In vielen Unternehmens- und Führungsgrundsätzen wurde internes Unternehmertum als Zielsetzung formuliert.3 Diese Grundsätze werden heute mehr auff Mitarbeitergewinnung, PR R oder das Rating von Qualitäts- bzw. Excellencemodellen ausgerichtet. Die langfristige und von Personen unabhängige Umsetzung bleibt stets die grösste Hürde.
13
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Uns beschäftigt diese Thematik auch schon manches Jahrzehnt,4 nun auch mitt Bezug auff Märchen. Mit einem Bezugsrahmen, seinen Dimensionen, Komponenten und Mitteln5 werden hier 53 Erzählungen aus den 200 Märchen der Brüder Grimm, „das bis heute meist aufgelegte, meistübersetzte und bestbekannte deutschsprachige Buch“, analysiert und interpretiert. Unter internem Unternehmertum verstehen wir die wertefundierte, aktive und effiziente Unterstützung der Unternehmensstrategie durch problemlösendes, sozialkompetentes und umsetzendes Denken und Handeln. Einbezogen werden soll eine möglichst grosse Anzahl von Mitarbeitern aller Hierarchie- und Funktionsbereiche mit hoher Eigeninitiative und -verantwortung in bzw. mit fördernden Strukturen und Personen. Diese Mitarbeiter werden als interne Unternehmer, Mitunternehmer, Mitgestalter oder Co-Intrapreneure bezeichnet. Fünff Fragestellungen werden aus Sicht von Management und Märchen behandelt (Abb. 1):
Welche Einflüsse aus dem externen und internen Umfeld begünstigen oder hemmen die Förderung von Mitarbeitern zu Mitunternehmern? (Umfeld)
Welche Ziele werden mit der Förderung verfolgt? (Ziele) n Potentiale bzw. welche qualitative Personal Welche menschlichen struktur setztt die Förderung voraus? (menschliche Potentiale)
Welche Steuerungs- und Führungskonzepte können fördern? (Steuerung und Führung)
Welche
Ansätze zu Mitarbeiterauswahl, -einsatz und -entwicklung begünstigen den Förderungsprozess? (Auswahl, Einsatz und Entwicklung)
Es nützt für die weitere Lektüre, sich in die Systematik und den Inhalt von Abb. 1 einzulesen, denn sie prägen diese Publikation. Ihr Konzept, die Definitionen, Inhalte sowie 35 Abbildungen sind unserem Lehrbuch „Führung und Zusammenarbeit – eine unternehmerische Führungslehre“, 7. Aufl., Köln 2007 mit grosszügiger Genehmigung des Luchterhand-Verlags entnommen.
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Mitunternehmertum – Begriff, Konzept, Dimensionen
Internes Unternehmertum – Bezugsrahmen
2.1 Abbildungg 1
15
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
2.2
Rahmenbedingungen des Umfelds
Die Rahmenbedingungen des Umfelds lassen besondere Unterschiede vermuten – schon aus zeitlicher Perspektive. Denn die erste Gesamtausgabe der Märchen der Brüder Grimm liegt bald zwei Jahrhunderte zurück – es war die Zeitt der Spätromantik, des Biedermeier und eines erwachenden Nationalgefühls in der nachnapoleonischen Ära. All das förderte die Sammlung und Verbreitung von landestypischen Märchen.6 Politik-, Wirtschafts- und Techniksysteme sowie die noch von den Kirchen geprägte Gesellschaft unterschieden sich in vielen Aspekten von der heutigen. Andererseits sind Märchen Teil einer nach C. G. Jung und Drewermann7 auch archaischen und mythologischen Tiefenschicht des kollektiven Unbewussten jeder Gesellschafts- und Individualkultur, deren Grundprobleme, Archetypen, Symbole und Artefakte recht stabil bleiben. So sind viele der Erzählungen der Brüder Grimm heute noch beliebtes Allgemeingut in vielen Ländern, insbesondere in der Phase der kindlichen Frühsozialisierung. Die Brüder Grimm wollten ihre Sammlung dediziert als „Erziehungsbuch“ gestalten. Deshalb sollten die Märchen besonders Kinder und Erzieher gezielt ansprechen. Familienkonstellationen8 werden als Hierarchie- oder laterale Geschwisterkonstellation eng mit Konflikten mit Vorgesetzten und Kollegen verbunden. In von Eigentümerfamilien geführten Kleinund Mittelbetrieben ist das besonders erkennbar. Typisch für Märchen und ihre Helden ist, dass sie – im Gegensatz zur Wirtschaftspraxis – selten über personelle und noch weniger über finanzielle, technische oder informationelle Ressourcen verfügen. Ein weiterer Unterschied liegt im unterschiedlichen Alter der Akteure, die in Märchen durchschnittlich 20 Jahre jünger sind. Auch dies erklärt die Dominanz von persönlichkeitsspezifischen Schlüsselkompetenzen bei Märchenhelden gegenüber Fach- und Methodenqualifikationen (inkl. damit verbundenen Erfahrungen) von Managern. Dennoch fallen in Märchen die unterschiedlichen Umfeldbedingungen weniger ins Gewicht, wenn auff unternehmerische Kompetenzen fokussiert wird.
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Organisations- und d Förderungsziele
2.3
2.3
Organisations- und Förderungsziele
Oberstes Ziel der unternehmerischen Ausrichtung der Unternehmen ist die langfristige Steigerung bzw. Sicherung ihrer Wertschöpfung durch Nutzenstiftung für die zentralen Bezugsgruppen. Besonders bei grossen „global players“ steht die Mehrung des „shareholder value“ im Vordergrund, selbst wenn in den Unternehmensleitsätzen auch Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und Gesellschaft mit angesprochen werden. In Märchen behalten die „Principale“ immer ihren Nutzen im Blick, auch wenn sie höchste Gewinne (z. B. das halbe Königreich und dazu noch die Prinzessin) ausloben. Sie sind also schon auff der Höhe unserer Zeit. Darüber hinaus versuchen sie ihren Nutzwert weiter zu erhöhen, indem sie nach Vertragsabschluss von ihren „Agenten“ – den Märchenhelden – noch weitere Zusatzaufträge ohne weitere Vergütung verlangen und allenfalls beim dritten Mal ihr Versprechen einlösen. Schliesslich handelt es sich oft um zweiseitige „Principal-Agent-Beziehungen“ – so lautet ein ökonomischer Erklärungsansatz, der die Verhandlungskosten und deren Absicherung thematisiert9 –, selbst wenn es um Bedrohungen eines ganzen Königreichs geht (z. B. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Der treue Johannes (KHM 6)). Seltener finden sich typische Führungsbeziehungen (z. B. Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812) , Der treue Johannes (KHM 6), Rotkäppchen (KHM 26)), häufiger dagegen familiäre „Zweierteams“ als Märchenhelden (z. B. Hänsel und Gretel (KHM 15), das Igelehepaar in Der Hase und der Igel (KHM 187), Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11)). Und wenn Teams Heldenrollen spielen, dann wirken sie tendenziell mehr als freie Mitunternehmer im Sinne von „Freelancern“ oder einer „Wir-AG“ zusammen (vgl. z. B. Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), Die sieben Schwaben (KHM 119), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), Die zwölff Jäger (KHM 67), Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129), Die drei Handwerksburschen (KHM 120)).
17
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Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
2.3.1
Förderungsziele im Management
Unternehmerische Entwicklung und Förderung versuchen, sieben Komponenten des Mitunternehmers bei möglichst vielen Mitarbeitenden zu fördern: Mit-Wissen, Mit-Denken, Mit-Fühlen, MitEntscheiden, Mit-Handeln, Mit-Verantworten und Mit-Beteiligen (Abb. 2).
Abbildungg 2
Personale Gestaltungs- und Verhaltensziele
Dabei scheintt ein stufenweises Vorgehen sinnvoll. So ist Wissensbildung durch entsprechende Informationen die Voraussetzung für unternehmerisches Mit-Denken und Mit-Entscheiden. Mit-Wissen erfordert auch Teilen und Mitteilen des Wissens – was übrigens die Ressourcen vermehrt statt vermindert. Und hohes Engagement wird nur erreicht, wenn sich Mitarbeiter auch emotional einbringen können und wollen. Deshalb sind hier Personalauswahl und -einsatz sowie eine fördernde Gestaltung der Arbeitsbedingungen entscheidend. Ebenso wichtig ist eine individuelle oder team- und organisationsweite Stärken- und Schwächenanalyse der sieben Verhaltensziele. Dies kann z. B. über Selbst-, Kollegen-, Vorgesetzten- und Kundenbeurteilung sowie mittels Mitarbeitergesprächen, Teamanalysen oder Mitarbeiterbefragungen geschehen.
18
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
2.4
Mittlere Führungskräfte monierten in Seminarumfragen sowie in unternehmensweiten Mitarbeiterbefragungen besonders mangelnde Kenntnisse der Unternehmens- oder Bereichsstrategie sowie die begrenzte Mitwirkung bei wichtigen Entscheidungen zum eigenen Arbeitsgebiet, aber auch fehlende ergebnisorientierte individuelle Erfolgs- oder Leistungsbeteiligung. Dagegen vermissen Führungskräfte bei ihren Mitarbeitern häufiger proaktives und eigenständiges Mit-Denken, Mit-Verantworten von gemeinsam erarbeiteten Entscheidungen sowie emotionales Engagement.10
2.3.2
Förderungsziele in Märchen
In der Märchenwelt dominiert die Eigeninitiative der Märchenhelden, dies bei meist autoritär-patriarchalischen oder Laissez-faireFührungsbeziehungen. Wer häufig chancen- wie risikoreiche und nicht abgesicherte Verträge – dazu mit Betrugsrisiko – akzeptiert oder sucht, gehört schon zur Gruppe der geborenen bzw. früh sozialisierten Mitunternehmer (Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Aschenputtel (KHM 21), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71)). Und wer diese Aufträge gegen den eigenen Willen und ohne ausreichende Qualifikation übernehmen muss, der erhält im Märchen oft externe Hilfe – in vielen Fällen als Gegenleistung für zuvor gezeigte Barmherzigkeit und uneigennützige Hilfe (vgl. z. B. den Jungen in Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29), das Mädchen in Die zwölf Brüder (KHM 9), der Jüngste in Die Bienenkönigin (KHM 62)).
2.4
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
Zur strategischen Differenzierung der qualitativen Personalstruktur von Organisationen werden im Personalmanagementt auch Portfolioansätze eingesetzt. Sie differenzieren meist zweidimensional nach Qualifikationen und Leistungsmotivation. In Kapitel 311 wird die Verteilung unserer drei (mit-)unternehmerischen Schlüsselkompetenzen auff sechs Portfoliogruppen nach Ergebnissen betrieblicher
19
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Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Umfragen sowie von Analysen bekannter Märchen der Brüder Grimm bereits diskutiert; deshalb hier nur ein kurzer Überblick. Zunächst zur Umschreibung der drei Schlüsselkompetenzen: Gestaltungskompetenz wird als kreative und strategieorientierte Problemlösungsfähigkeit verstanden, die einen grundlegenden und proaktiven Wandel im Denken und Handeln bewirktt bzw. bewirken kann, sowie als Disposition zur auch reaktiven, doch steten Verbesserung vorliegender Lösungsansätze. Umsetzungskompetenz fokussiert auff reflexionsorientierte sowie aktionsgesteuerte Umsetzung von Problemlösungsentscheidungen. Sozialkompetenz wird als kooperative wie autonome Disposition zur Beziehungsgestaltung verstanden. In mehreren Umfragen bei rund 200 deutschsprachigen Unternehmen wurden in einem vereinfachten Ansatz vier Portfoliotypen gebildet und zu diesen ein Verteilungsdurchschnitt ermittelt – differenziert nach Führungs- und Nichtführungskräften (deren Prozentwerte in Klammern). Das Ergebnis12: Mitunternehmer: 30 (14) %; unternehmerisch Motivierte, jedoch nicht in allen Schlüsselkompetenzen Qualifizierte: 37 (31) %; Mitarbeiter mit geringer Mitunternehmerqualifikation und -motivation: 21 (39) % sowie unternehmerisch Überforderte bzw. Mitarbeiter, die innerlich gekündigt haben: 12 (16) %. Nach dem skizzierten Kompetenzkonzept wurden in einem erweiterten Portfolioansatz sechs Heldinnen und Helden aus Märchen der Brüder Grimm analysiert und subjektiv interpretiert. Daraus ergaben sich sechs Portfoliogruppen mit ihren Hauptrepräsentanten (vgl. Abb. 3). Aschenputtel (KHM 21) wird als beispielhafte Mitunternehmerin interpretiert, weil sie extremes Mobbing ihrer Familie, also starke Krisen erdulden kann und dabei noch kooperativ bleibt. Und sie geht dann bei der Partnersuche und -wahl sehr eigenständig und selbstvertrauend vor, führt Auswahlprüfungen durch und erfüllt solche mit Bravour.
20
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
Mitunternehmerisches Portfolio mit Märchenhelden
2.4 Abbildungg 3
Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) erweist sich auch in schwierigsten Situationen als vorbildlich problemlösungs- und umsetzungsstark, es fehlt ihm aber an Kooperationskompetenz. Er istt und bleibt ein „lonely wolf“ bzw. ein egozentrischer „Intrapreneur“13 mit seinen typischen Denkmustern (z. B. „Komme jeden Tag zur Arbeitt mit der Bereitschaft, gefeuert zu werden … Umgehe alle Anordnungen, die deinen Traum stoppen können … Wette nie in einem Rennen, wenn du nicht selbst darin mitläufst …“). Hänsel und Gretel (KHM 15) sind mitunternehmerisch hoch motiviert, aber noch nicht so qualifiziert, ergänzen sich jedoch. Hänsel bringt zunächst einen „wegweisenden“ Vorschlag für den Rückweg der „Outgesourcten“. Dann aber nimmt Gretel das Heft erfolgreich bis zum Schluss in die Hand. Beide retten sich selbst und kehren reich beladen zurück. Rotkäppchen (KHM 26) zeigt (noch) geringe unternehmerische Qualifikation und Motivation. Sie lässt sich vom ersten Wolf, dem sie begegnet, übertölpeln. Bei der Beseitigung des zweiten Wolfs er-
21
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
weist sie sich als entwicklungsfähige, couragierte und motivierte Routinemitarbeiterin. Pechmarie in Frau Holle (KHM 24) verhält sich trotz hoher finanzieller Anreize unsozial, bequem und demotiviert. Deshalb wird sie schliesslich mit Pech statt mit Gold überschüttet. Die sieben Schwaben (KHM 119) schliesslich sind individuell wie als Team völlig überfordert, besonders in ihrer Problemlösungs- und zielorientierten Umsetzungskompetenz. Mit diesen Richt- oder Einordnungsbeispielen lassen sich im Personalmanagement Mitarbeiter nach ihrer Qualifikation und Motivation einordnen sowie auch portfoliogerecht und differenziert fördern.
2.5
Mitunternehmerische Motivation
2.5.1
Motivation und Commitment in der Managementlehre
2.5.1.1
Ein 5-Faktoren-Konzept der Motivation
Menschliche Arbeitsleistung wird als Produkt aus Qualifikation, Arbeitssituation und Motivation erklärt; dabei wird Engagement als der volatilste, sensibelste, am schwersten messbare und beeinflussbare Faktor verstanden. Wirtschaftstheorie und -praxis fokussieren meist auff die Situationsmotivation und dabei wieder auff finanzielle Anreize. Selbst die besten (Schlüssel-)Qualifikationen kommen erst zur Wirkung, wenn diese menschlichen Ressourcen durch Eigen- oder Fremdmotivation erschlossen sowie wert-, ziel- und ergebnisorientiert eingesetzt werden. Deshalb haben wir ein 5-Faktoren-Konzept der Motivation entwickelt, das mit Eigenmotivation und Commitment beginnt. Dann folgt aktivierende Situationsmotivation einschliesslich Vermeidung oder Reduzierung von Demotivation. Und diese Wertschöpfungskette endet erst mit der reflektierten und damit evaluierten Umsetzung als Voraussetzung für erlebten und erbrachten Leistungserfolg14 (vgl. Abb. 4).
22
Mitunternehmerische Motivation
2.5 Abbildungg 4
Ein 5-Faktoren-Konzept der Motivation
3. Situationsmotivation steigern
2. Commitment fordern 1. Eigenmotivation erkennen und nutzen 5. Umsetzung fördern
2.5.1.2
4. Demotivation reduzieren
Eigenmotivation und Commitment im Management
Inwieweit sich Mitarbeiter als Unternehmer im Unternehmen verhalten, hängt sehr von ihrer persönlichkeitsspezifischen Eigenmotivation ab. Die Persönlichkeitspsychologie diskutiert hier bevorzugt stabile und früh sozialisierte Persönlichkeitsmerkmale. Dazu zählen auch motivationale Persönlichkeitsstrukturen, die sich z. B. im sog. „NEO-BIG-FIVE-Test“15 auff die Ausprägungen von Extraversion, emotionaler Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen konzentrieren (vgl. Abb. 5).
Fünff zentrale Komponenten der Persönlichkeit
Weiterhin sind für mitunternehmerische Eigenmotivation folgende „Kompetenzen“ zentral:16
Abbildungg 5
23
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
„Freiwilliges Engagement“, das eng damit verbundene „Organizational Citizen Behavior“ (v. a. Eigenverantwortlichkeit, Risikobereitschaft, Innovativität und Kooperativität). Ferner sind „unternehmerische Identität“ (Chancen- und Risikoorientierung, Kreativität, Selbstvertrauen, Eigenständigkeit, Verantwortungs- und Handlungsbereitschaft) sowie eine fördernde „Identifikationsdisposition“ (z. B. sich selbst treu und dem Unternehmen verbunden bleiben) für mitunternehmerische Eigenmotivation besonders bedeutsam. Commitment wird als eine das Verhalten stabilisierende Bindung bzw. Selbstverpflichtung aus eigenem Entschluss verstanden.17 Das 5-Faktoren-Konzept bezieht die Bereitschaft ein, auch ungeliebte Werte, Ziele und Aufgaben gut zu erfüllen. Damit zeigen sich Verbindungen zur Eigenmotivation sowie zur Demotivation (Abb. 6). Unsere Umfrage bei Führungskräften über den Anteil ungeliebter Aufgaben ergaben etwa 23 % mit grosser Streuung.
Abbildungg 6
Begrifff und Formen des Commitments
Eigenmotivation und Commitment bilden also die zentralen und relativ stabilen Einflussgrössen der (mit-)unternehmerischen Motivation. Beide sind vorwiegend (eine Ausnahme bildet das kalkulative Commitment) „intrinsisch“ beeinflusst, d. h. von eigenen Beweggründen bzw. Antrieben gesteuert und eng mit der individuellen Persönlichkeitsstruktur verbunden. „Motivationspolitisch“ sind
24
Mitunternehmerische Motivation
2.5
beide deshalb primär über personalpolitische Auswahl- und Einsatzentscheidungen, also das Gewinnen und Halten mitunternehmerisch Motivierter zu beeinflussen. Diese Aspekte rangieren aber bei Selektions- und Zuordnungsentscheidungen des Managements deutlich hinter Fachqualifikation, persönlicher „Chemie“ und spezifischen Berufserfahrungen. Unsere Umfragen zur Portfolioeinschätzung durch direkte Vorgesetzte und Personalverantwortliche zeigten einen Anteil an Mitunternehmern sowie an (mit-)unternehmerisch Motivierten in der Belegschaft von 67 % bei Führungskräften und 45 % bei Nichtführungskräften (vgl. Abb. 16). Dieser Anteil entspricht zwar etwa der Hälfte aller Beschäftigten. Dennoch sind und bleiben „visionäre“ Forderungen in Firmenleitsätzen „Alle arbeiten unternehmerisch, unbürokratisch und produktiv“ (IBM) unrealistisch. 2.5.1.3
Eigenmotivation und Commitment im Märchen
Viele der Märchenhelden zeigen nicht nur unternehmerische Schlüsselqualifikationen, sondern ebenso hohe Eigenmotivation und Selbstverpflichtung. Sie wollen ihre Chancen wahrnehmen und ihre risikoreichen Vorhaben erfolgreich abschliessen – dies auch bei erheblichen Widerständen über viele Jahre. Beispiele dafür gibt es in vielen Märchen der Brüder Grimm: Ein sehr bekanntes ist Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812), der eigene Ziele mit denen seines Herrn auff das engste verbindet, sich die daraus folgenden Aufträge selbst stellt und stets eigenverantwortlich und erfolgreich erfüllt. Loyales sowie breit unterstützendes Verhalten (sog. „Organizational Citizen Behavior“) und ethisches wie emotionales Commitment bis zum Tod leben Der treue Johannes (KHM 6) sowie die Schwester in Die zwölff Brüder (KHM 9). Als Team hoch eigenmotiviert, unternehmerisch aber als nicht qualifiziert erweisen sich Die sieben Schwaben (KHM 119). Erfolgreiche „Wir-AG’s“ mit hoher Eigenmotivation lassen sich in den Märchen Die sechs Diener (KHM 134) oder Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) finden; weitgehend trifft das auch für Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) zu. Eigenmotivation ohne Problemlösungskompetenz demonstrieren dagegen Die sieben Schwaben (KHM 119).
25
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Andere Märchenhelden zeigen extreme Eigenmotivation, oftt auch mit Commitment. Sie wirken dabei aber als eigenständige „Entrapreneure“, so z. B. der zweite Sohn im Märchen von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen, und „damit sein Brot verdienen wollte“ (KHM 4), der Soldat in Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) oder der Königssohn in Der treue Johannes (KHM 6).
2.5.2
Situationsmotivation bzw. Demotivation
2.5.2.1
Situationsmotivation im Management
Personalökonomie und heutige Führungspraxis rangieren situatives Motivieren ganz oben. Dazu werden vorwiegend finanzielle Anreizsysteme eingesetzt. Werden diese mitt der Belegschaftsvertretung verhandelt, bevorzugt diese das Gerechtigkeitsprinzip: „Jedem das Gleiche“. Bei anschliessenden Mitarbeiterbefragungen zeigen sich dann viele Mitarbeiter mit der finanziellen Vergütung besonders unzufrieden. Manche Publikationen postulieren, man könne Menschen grundsätzlich nicht motivieren, alle Versuche folgten hier einem „Mythos“. Andere weisen nach, dass extrinsische Anreize sogar negative Verdrängungseffekte der intrinsischen Motivation bewirken können.18 Wir gehen davon aus, dass Mitarbeiter in Grenzen auch durch solche Anreize zu beeinflussen sind, besonders wenn sie individualisiert und nicht nur finanziell gestaltet werden. Nach Aussagen von Führungskräften geschieht das besonders durch eine positive Beeinflussung der Bedeutung („Valenz“) von Werten, Zielen, Aufgaben und Ergebnissen sowie durch Vermeiden demotivierender Botschaften dazu. Damit wird auch – das sollte man nicht vergessen – die Eigenmotivation positiv beeinflusst! An zweite Stelle rangieren Chefs die Förderung der individuellen Erfolgserwartung der von ihnen Geführten, die geforderten Ziele und Aufgaben erfüllen zu können. Und drittens sollte über die sog. Instrumentalität möglichst vielen klar gemacht werden, mit welchen Zwischenzielen, Verhaltensweisen, Ressourcen und Methoden sie ihre gewünschten Ergebnisse (z. B. auch Belohnungen) erreichen.
26
Mitunternehmerische Motivation
2.5
Darauff basiert eine Prozesstheorie der Motivation (Abb. 7), die drei zentrale Einflussfaktoren unterscheidet: Valenz, Instrumentalität und Erfolgswahrscheinlichkeit. Sie wird nach deren Anfangsbuchstaben als „VIE-Ansatz“ diskutiert.19
VIE-Ansatz der Motivation
Abbildungg 7
Situationsmotivation SitMot = f (Bedeutung, Instrumentalität, Erfolgswahrscheinlichkeit)
Situationsmotivation Bedeutung (Wert, Ziel, Aufgabe, Resultat)
Instrumentalität (personell, instrumentell, finanziell)
2.5.2.2
Erfolgswahrscheinlichkeit (objektiv, subjektiv)
Situationsmotivation in Märchen
Dort dominiert aus Sicht der „Auslober“ Situationsmotivation nach dem Ansatz der Personalökonomie20 durch extrinsische und leistungsabhängige Anreize bei extrem hohen Chancen und Risiken (z. B. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Die kluge Bauerntochter (KHM 94), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71)). Dennoch interpretieren wir, dass deren Eigenmotivation und Commitment weit höheren Einfluss auff ihr Handeln haben als hohe extrinsische Anreize. Denn selbst bei den meist üblichen Vertragsverletzungen durch die „Principale“ lassen sich diese „Agenten“ davon nie erkennbar demotivieren. Dieser Bruch von Versprechen und Vertrauen hat also auff sie keinen entscheidenden Einfluss. Sie übernehmen unbeirrt und ohne Murren die zweite oder dritte Aufgabe ohne zusätzliche Anreize bzw. Vergütungen (vgl. insbes. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Das Rätsel (KHM 22), Tischchen deck dich (KHM 36)).
27
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Hier kann man also deutliche Unterschiede zur heutigen Wirtschaftspraxis ausmachen. Auch ist bemerkenswert, dass die Märchenheldinnen und -helden demotivierendes Verhalten durch ihre „Hierarchie“ (Eltern, ältere Geschwister, Könige, Prinzessinnen) entweder zunächst mit beeindruckender Geduld ertragen (z. B. Aschenputtel (KHM 21)) oder die demotivierenden Dissonanzen schnell und stresstolerantt abbauen können (z. B. Hans im Glück (KHM 83)).
2.5.3
Demotivation
2.5.3.1
Demotivation im Management
Demotivation kann man in der Mitarbeiterführung als die meist blinde „Schattenseite“ der Motivation verstehen, die Ressourcen blockiertt und Unzufriedenheit verursacht. Blockaden fanden sich in unseren Analysen in strukturellen Barrieren (z. B. unbefriedigende Arbeitskoordination und Ressourcen, Kompetenzüberlappungen, Bürokratie, Misstrauenskultur, fehlende persönliche und personalpolitische Perspektiven sowie mangelnde Work-Life-Balance) oder in frustrierenden Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen (z. B. Kollegen, Vorgesetzten, Mitarbeitern).21 Man kann sich aber auch selbst ein Bein stellen. Demotivation erweist sich als besonders problematisch bei hoch eigenmotivierten Leistungsträgern. Diese können in ihrer Intensität kaum mehr „motiviert“ werden, denn sie sind es ja schon. Demotivieren aber kann man sie bis zur inneren oder vertraglichen Kündigung. Motivieren sollte man sie vor allem durch Fokussierung auf strategisch gewünschte Werte, Ziele, Ergebnisse und Aufgaben sowie durch koordinieren und coachen. Hierin liegt die Kernaufgabe der so häufig vermissten Motivation durch Führungskräfte. Mehrere Umfragen n unter Managern n mittlerer Führungsebenen n zu 17 Barrieren n mitt ca. 100 Items ergaben n die in n Abb. 8 dargestellte Rangfolge auff einer 5-er Skala (5 = sehr stark, 1 = sehr gering). Zusätzlich ermittelten n wir das erhebliche Ausmass von n selbstt eingeschätzten Verlusten n an n Arbeitsfreude und persönlicher Produktivität.
28
Mitunternehmerische Motivation
Aktuelle Motivationsbarrieren und damit verbundene Verluste
2.5 Abbildungg 8
Zusammenfassend lässt sich zur situativen Motivation und Demotivation feststellen, dass eine Führungskraft eher „erfolgreich“ demotivieren als sicher situativ motivieren kann. Arbeitsinhalt sowie gestörte Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen werden als wichtigste potentielle Motivationsbarrieren genannt. Sie sollten durch ein „Unterlassungsmanagement“ (Beispiele: Vermeidung von gering schätzendem Umgang, Bevorzugung oder Vertrauensverletzungen) vermieden werden. Und für die aktive Motivation kommt es besonders auff Folgendes an: positive Beeinflussung der Bedeutsamkeit von Arbeitswerten, -zielen und -inhalten, Fokussierung von Eigenmotivation und Commitment auff strategische Werte und Ziele, Koordination mit anderen Organisationseinheiten und deren Mitarbeitern sowie fördernde Gestaltung von Unternehmens- bzw. Teamkultur, -strategie und -organisation.22 2.5.3.2
Demotivation im Märchen
Demotivation ist in den typischen Konflikten der Märchen gleichsam eingebaut. Selbst im Schwank wird schliesslich einer zum Dummen gemacht. Es wird bitterlich geweint, weil Stiefeltern oder -geschwister mobben (Aschenputtel (KHM 21)) oder weil man sein Kind durch eine unbedachte Zusage verlieren soll (Rumpelstilzchen
29
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
(KHM 55)), man muss ungerechte Kritik einstecken (Tischchen deck dich (KHM 36)), es werden Todesängste ausgestanden, weil man bei Versagen mitt dem Leben bezahlen muss (Das Meerhäschen (KHM 191)), man findet sich plötzlich hilflos und allein in einem dunklen Wald (Hänsel und Gretel (KHM 15)) oder erlebt mehrfach, dass Versprechen gebrochen werden, also „Reden und Verhalten differieren“ (Das tapfere Schneiderlein (KHM 20)). Letzteres stimmt mit aktuellen Demotivatoren im Management überein (vgl. Abb. 9). Auch Mobbing wird in der Arbeitswelt zunehmend diskutiert und sanktioniert, aber erreicht dort nicht das gleiche Ausmass wie in den Märchen. Eine weitere Besonderheitt ist der Umgang mit Demotivation. Märchenhelden haben hier meist erfolgreiche „Coping-Strategien“, können also konstruktiv damit umgehen. Für den Umgang mit selbstverschuldeter Demotivation kann Hans im Glück (KHM 83) als Paradebeispiel genannt werden. Eine ausführliche Diskussion dieses Unlust meidenden „Dissonanzabbauers“ und Glückseligkeitsvisionärs23 findet sich in einer eigenen Abhandlung. Aschenputtel (KHM 21)24 dagegen begegnet dem Mobbing ihrer extrem demotivierenden Familie über längere Zeit mit der Strategie des „Erduldens“, das anschliessend aber sehr selbstbewusst und handlungsorientiert bei der Partnerwahl von aktivem „Coping“ abgelöst wird. Das wird auch in einem eigenen Beitrag behandelt.25 In Der Hase und der Igel (KHM 187) kontert der Igelmann auff raffinierte Weise auff die Demütigung durch den Hasen, der dafür schliesslich mit dem Leben bezahlt. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) lässt sich – wie viele andere – nie durch ständige Vertrags- und Vertrauensbrüche durch den König, seinen späteren Schwiegervater und dessen Tochter beeindrucken. Er wird durch List und Tücke König und bleibt es auch nach weiteren Bedrohungen. Und andere von ihren Arbeitgebern „Outgesourcte“ (Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27)) schliessen sich zur einer sehr erfolgreichen „Wir-AG“ zusammen und verbessern so ihren Status erheblich. Kurzum: Demotivation gehört zu den meisten Märchen, ebenso wie der erfolgreiche Umgang damit.
30
Mitunternehmerische Motivation
2.5.4
Umsetzung
2.5.4.1
Umsetzung im Management
2.5
Bei der Suche nach der schwächsten Ausprägung der Schlüsselkompetenzen antworteten die meisten Manager im deutschsprachigen Raum: „die Umsetzung“.26 Als grösste Differenzen zwischen Soll und Ist wurden folgende Kompetenzen evaluiert: „Hartnäckigkeit, Networking-Fähigkeit sowie Management (Planung, Organisation und Kontrolle)“. Kuhl entwickelte dazu einen eigenen „MotivUmsetzungstest (MUT)“.27 Erst durch die Umsetzung eines Motivs ergibt sich auch ein Erfolgserlebnis! Und das gehörtt wieder zu den wichtigsten Motivatoren gerade von Leistungsträgern. Wenn sie dazu noch sog. „Erfolgszurechner“28 sind, dann rechnen sie sich Erfolge bevorzugt selbst zu, Misserfolge dagegen anderen. Das ist auch eine Coping-Strategie für die Reduzierung von Demotivation! 2.5.4.2
Umsetzung in Märchen
In den analysierten Märchen zeichnen sich die meisten Helden durch hohe, aber wenig reflektierte Umsetzungsmotivation aus (typische Beispiele dafür sind Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Das Rätsel (KHM 22)). Was in der Managementpraxis als reflexionsarm und damit höchst risikoreich gilt, ist im Märchen die Regel. „Just do it“ lautet die einseitig aktionsorientierte Handlungsmaxime, mit der auch Gefahren ausgeblendet werden. Deshalb gilt auch für diesen Motivationsaspekt, dass man Märchen nicht unreflektiert kopieren sollte, kapieren aber schon. Denn meist ist hier sog. jugendlicher Leichtsinn im Spiel. „Frisch gewagt ist halb gewonnen“, so lautet hierzu die Märchendevise. Und nur in Märchen geht das meist glücklich aus. Die Wirtschaftspraxis neigt dagegen eher zu Risikoaversion; hier rangierten sich mittlere Manager der Schweiz in einer weltweiten Kulturstudie mit über 60 Ländern an erste Stelle. Dies erklärt auch die höchste Versicherungsdeckung der Schweizer. Und eine andere Umfrage ermittelte für mangelnde Umsetzung „Angst vor …“ als häufigsten Beweggrund.29
31
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Fazit: Bei Verwendung des 5-Faktoren-Konzepts der Motivation zeigen sich bei den Märchen im Vergleich zur Wirtschaftspraxis teils markante Besonderheiten:
Märchenhelden zeichnen sich durch unternehmerische Schlüsselqualifikationen und -motivation aus.
Ihre Eigenmotivation und das Commitment sind vorbildlich ausgeprägt, obgleich es sich meist um Jugendliche oder ausgemusterte Angestellte handelt (vgl. Die drei Brüder (KHM 124), Das Rätsel (KHM 22), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27)).
In Märchen werden sehr oft höchste situative und rein ergebnisbezogene Anreize an weder fachlich noch (kriegs-)technisch Ausgewiesene ausgelobt, die aber für die hoch intrinsisch motivierten Heldinnen und Helden nicht entscheidend sind.
Ihre mangelnde Fach- bzw. Methodenqualifikation und Erfahrung stört – wieder ganz im Gegensatz zur Personalpraxis – weder sie selbst noch ihre Auftraggeber. Unsorgfältige Personalauswahl wird also mit nur erfolgsbezogener Vergütung oder Sanktion verbunden.
Obgleich die Helden oft extremer Demotivation ausgesetzt sind (z. B. Mobbing durch Eltern und Stiefschwestern bei Aschenputtel (KHM 21), durch die Stiefmutter (z. B. bei der Goldmarie in Frau Holle (KHM 24))), gehen sie damitt sehr stresstolerant um, ja aktivieren dadurch erfolgreich ihre eigenen Ressourcen. Oder sie finden Mittel und Wege, demotivierende Erlebnisse durch unverzügliche neue Aktivitäten sowie über schnellen Dissonanzabbau (z. B. Hans im Glück (KHM 83)) zu neutralisieren.
Ihre Umsetzungsmotivation ist extrem intuitiv, damit auch gefährdend, weil dann unreflektiert. Ihre Mission lautet stets: „Just do it“.
32
Steuerung g und d Führung
2.6
2.6
Steuerung und Führung
Zunächst wird nun ein internes Steuerungskonzeptt für Mitunternehmertum, anschliessend Mitarbeiterbeeinflussung durch strukturelle Führung diskutiert. Bei beiden Themen liegt der Schwerpunkt auff kulturellen – und nicht auff organisatorischen – Aspekten.
2.6.1
Mitunternehmerisches Steuerungskonzept im Management
In jeder grösseren Organisation werden vier führungspolitische Steuerungskonzepte eingesetzt, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung: Hierarchie, Bürokratie bzw. Technokratie, internes soziales Netzwerk und interner Markt. Diese beeinflussen die Führungsphilosophie und -kultur, die abteilungsübergreifenden Rollenschwerpunkte ihrer Mitglieder, deren Ausrichtung auff wichtige Bezugsgruppen („stakeholder“) und auff damit verbundene Anforderungsprofile (vgl. Abb. 9). Dieses Konzept wird in der Praxis meist unbewusst verwendet. Es hat aber stärkeren Einfluss auff die Führung als etwa Unternehmens- und Führungsgrundsätze, die übrigens nicht darauff eingehen. Und an den jeweils geforderten Qualifikationen lässt sich nachvollziehen, dass ein Wechsel z. B. von bürokratischer auff interne Marktsteuerung auch wesentlich andere Kompetenzen der Mitarbeiter erfordert. Mitglieder des mittleren Managements30 nannten bei der Frage nach den gerade vorherrschenden zwei von vier Steuerungsansätzen entweder „Hierarchie und interner Markt“ oder „Hierarchie und internes Netzwerk“ als häufigste Kombinationen. Dagegen rangierten sie bei der Frage nach den zukünftig nötigen bzw. dominanten zwei Steuerungskonzepten die Konfiguration „interner Markt und internes Netzwerk“ weit an die Spitze. Diese Kombination von Kooperation und Konkurrenz kann auch als „coopetition“31 bzw. als fairer interner Wettbewerb bezeichnet werden. Sie kennzeichnet das optimale Konzept von mitunternehmerischer Steuerung, die harte Einflussgrössen (Ziele, Leistungen, Erträge, rechtliche Abmachungen) mit „soft factors“ (Werte, Commitment, Motive und implizite psychologische Verträge) verbindet. „Fairer Wettbewerb“ fordert
33
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
aber auch Mitarbeiter, die Qualifikationen zu internem Markt- wie Netzwerkverhalten erbringen können und wollen.
Abbildungg 9
Vier Steuerungskonzepte von Organisationen – Folgerungen für geforderte Qualifikationen
2.6.2
Steuerungskonzepte in Märchen
In Märchen dominieren nach unserer Einschätzung folgende drei Konfigurationen: 2.6.2.1
Hierarchie und interner Markt
Hier werden meist von Vätern (interne Hierarchie) Wettbewerbe für Nachfolgeentscheide zwischen Geschwistern organisiert, die den Besten die Nachfolge sichern sollen (z. B. in Die drei Brüder (KHM 124), Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129)). Oder es werden mündliche Verträge zwischen Märchenhelden und Königen verein-
34
Steuerung g und d Führung
2.6
bart (z. B. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), Das Meerhäschen (KHM 191) – hier zählt die Prinzessin schon 99 tote Verlierer), oder ein Wettbewerb zwischen einem arroganten Hasen und einem listigen Igel findet statt (Der Hase und der Igel (KHM 187)). 2.6.2.2
Hierarchie und soziales Netzwerk
Märchen schildern öfters Helden, die von ihrem Umfeld (meist sind es ältere Geschwister oder Eltern) als mental unqualifiziert (häufig „Dummling“ genannt) eingeschätzt und verspottet werden, aber dennoch schwierige und riskante Aufträge übernehmen (sollen). Die Erfolge verdanken sie aber ihrer sozialen bzw. emotionalen statt mentalen Intelligenz. Denn sie zeigen sich in den „Assessments“ als weit kontaktfreudiger, prosozialer (z. B. Goldmarie in Frau Holle (KHM 24)) oder in „zufälligen“ Begegnungen mit Hungrigen, Schwachen, Alten, Bedrängten oder Verletzten deutlich barmherziger und empathischer als ihre mental weit überlegenen Mitbewerber (vgl. z. B. Das Waldhaus (KHM 169), Die Bienenkönigin (KHM 62), Die goldene Gans (KHM 64), Bruder Lustig (KHM 81), Der Krautesel (KHM 122) oder Das Meerhäschen (KHM 191)). Die Botschaft lautet: Nichtt nur Selbstbewusste, Listige, Ältere oder Mutige sind „Winner“. Wer sich dazu nicht zählt, dafür aber mit sozialer Kompetenz Netzwerke bilden kann und Helfer gewinnt, ist oft noch erfolgreicher. Diese Kombination ist wohl für Märchen typischer als für das Management. 2.6.2.3
Interner Markt und soziales Netzwerk („Coopetition“)
Diese aus Sicht der Führungskräfte optimale Steuerungskombination für mitunternehmerisches Denken und Handeln findet sich in Märchen seltener. Hier organisieren sich meist Fremde als Team, das sich kooperativ auff einem „Markt“ findet, nachdem z. B. die Mitglieder von Arbeitgebern auff die Strasse gesetzt wurden (Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), die sechs Diener (KHM 134)), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71). Somit gibt es zwei etwa gleichwertige Erfolgskombinationen in Märchen. Die Konfiguration Hierarchie und interner Markt zeigt sich auch in unseren Ist-Analysen von Unternehmen. Faire Konkurrenz findet man besonders bei Gründerfirmen oder kooperierenden
35
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Familiengesellschaften. Und gewünscht wird sie ganz überwiegend für die eigene Organisation.
2.6.3
Führungskonzepte
Wir differenzieren Führung in eine strukturelle und eine interaktive Dimension (vgl. Abb. 10). Besondere Bedeutung hat die strukturelle Führung. Denn Mitunternehmertum kann man dauerhaft nur realisieren, wenn das innerbetriebliche Umfeld keine übermässigen Barrieren aufbaut sowie fördernde Bedingungen schafft. Dies stellte auch Bill Hewlett von HP P heraus: „Ich bin der Überzeugung, dass Männer und Frauen gute und kreative Arbeit leisten wollen und diese auch leisten werden, wenn sie über das entsprechende Umfeld verfügen.“ Ergänzend tritt dazu die interaktive Beeinflussung und Koordination durch direkte Führung der Vorgesetzten. Diese wirkt besonders über persönliche oder teamorientierte Kommunikation, durch Zielvereinbarungen und darauff ausgerichtete Anreize sowie über Fördermassnahmen (z. B. Coaching, Weiterbildung). Schliesslich ist Selbstführung der Mitarbeiter besonders gefordert; je „reifer“ sie sind, desto höher wird dieser Anteil sein.
Abbildungg 10
36
Dimensionen der Führung
Steuerung g und d Führung
2.6.3.1
2.6
Strukturelle Führung im Management
Ihre zentralen Gestaltungselemente sind Kultur, Organisation und Strategie. Dazu tritt die Förderung der qualitativen Personalstruktur (Potential) durch Auswahl und Einsatz. Ein Ziel der Kulturgestaltung ist, Werthaltungen und Handlungsmuster so zu etablieren, dass möglichstt viele Organisationsmitglieder mitunternehmerisch handeln wollen und können. Die explizite Verankerung sowie die Verbindung von persönlichen wie Organisationswerten in Unternehmens- und Führungsgrundsätzen ist dafür ein beliebtes strategisches Mittel. Strategie verbindet wertfundierte Ziele mit dafür ausgewählten Mitteln, z. B. Förderung internen Unternehmertums über eine Ermächtigung (z. B. Kompetenzerweiterung) der Mitarbeiter, durch delegative Führung oder über kundenorientierte Ausrichtung. Zur unternehmerischen Organisation werden z. B. diskutiert: Dezentralisierung, am Markt und an der Wertschöpfungskette orientierte Prozesse oder eine darauff aufbauende Profit- oder Wertschöpfungs-Center-Organisation. Damit sollen möglichst viele Mitarbeiter zu Garanten des Unternehmergeistes auff breiter Basis32 koordiniert werden. Die Förderung der qualitativen Personalstruktur geschieht über die Gewinnung, das Halten sowie die Auswahl und den Einsatz unternehmerisch qualifizierter und eigenmotivierter Mitarbeiter durch die dafür verantwortlichen Führungskräfte und Personalmanager.33 Je besser dies gelingt, desto mehr werden auch Organisations- und Personalentwicklung entlastet.34 Es empfiehlt sich, über Portfolioanalysen den Anteil an mitunternehmerisch Motivierten und Qualifizierten fortlaufend zu ermitteln und anschliessend realistische und schrittweise Steigerungs- und Förderziele zu vereinbaren sowie umzusetzen. 2.6.3.2
Strukturelle Führung in Märchen
Wie schon gezeigt, ist in vielen Märchen bereits eine kulturelle Basis gelegt. Sie besteht aus einer Kombination von starker Hierarchie (oft Könige oder deren Kinder) und eindeutiger Marktsteuerung über Auslobung von chancen- wie risikoreichen, dabei einseitig formulierten Aufträgen. Damit werden hoch motivierte Interessenten mit
37
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
rein erfolgsbezogenen Anreizen rekrutiert. Sie können nicht nur auf höchste Gratifikationen hoffen. Sie müssen ebenso bereit sein, Leib und Leben dafür einzusetzen und zugleich ständige Vertragsbrüche der auslobenden Prinzipale zu akzeptieren. Denn bei der Rekrutierung genügen unternehmerische Schlüsselqualifikationen (Problemlösungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenzen); nach Fachkenntnissen oder Berufserfahrung wird kaum gefragt. Ausser meist eindeutig definierten Aufträgen gibt es weder weitere strategische oder organisatorische Vorgaben noch eine Unterstützung durch Ressourcen. Eine Ausnahme erfährt Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), das die „100 Reiter“ des Königs jedoch ablehnt. Diese Bedingungen sind also ungleich härter als in der Wirtschaftspraxis, aber auch wieder anders. Viele erfolgreiche Märchenhelden („Dümmlinge“ genannt) erhalten durch sozial-intelligentes, netzwerkförderliches Verhalten erfolgsentscheidende Unterstützung von anderen (z. B. Feen, Wichteln, Tieren oder hilfreichen Menschen). Somit konzentriert sich die strukturelle Führung in Märchen auf eine unternehmerische Macht-, Markt- und Netzwerkkultur sowie auff anreiz- und ergebnisorientierte Selektion von Auftragnehmern („Agents“), deren „Principals“ ihre hierarchische Überlegenheit vor allem durch häufige Vertragsbrüche ausleben (z. B. der König in Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), die Stiefmutter in Aschenputtel (KHM 21)). Dass Märchenhelden einseitige Vertragsdefinitionen und das damit verbundene Risiko immer wieder eingehen, belegt ihre unternehmerische Chancenorientierung umso mehr. Einige von ihnen sind aber auch selbst vertragsbrüchig (z. B. die Müllerstochter in Rumpelstilzchen (KHM 55), die Prinzessin in Der Froschkönig (KHM 1)). Im Unterschied zur Wirtschaftspraxis, in welcher die Kollegenkooperation (v. a. über Organisationseinheiten hinweg) die stärksten Beziehungskonflikte verursacht, wird in Märchen gerade unter Fremden „laterale Kooperation“35 echt mitunternehmerisch gelebt. Zahlreiche Erfolgsgeschichten beruhen auff einer netzwerkorientierten Teamkooperation (z. B. Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), Die drei Brüder (KHM 124), Der Hase und der Igel (KHM 187), Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129), Hänsel und Gretel (KHM 15), Die drei Schlangenblätter (KHM 14), Die Bremer
38
Steuerung g und d Führung
2.6
Stadtmusikanten (KHM 27)). Und viele führen zur Gründung von „Wir-AG’s“. Eine vorwiegend hierarchische Konfiguration findet sich dagegen in Familienkonstellationen. Hier sind es häufig – zumindest bei den Brüdern Grimm – narzisstische, ehrgeizige oder von egoistischen Motiven gegenüber Stiefkindern getriebene Mütter, die ihre Macht über extremes Mobbing ausleben (vgl. Schneewittchen (KHM 53), Aschenputtel (KHM 21), Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11), Die weisse und die schwarze Braut (KHM 135)). Beispiele positiv mitunternehmerischer Führungs- und Kollegenbeziehungen findet man z. B. in den Märchen Die sechs Diener (KHM 134), Die kluge Bauerntochter (KHM 94), Der treue Johannes (KHM 6) sowie Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812).36
2.6.4
Führungs- und Kooperationsstrategien in Management und Märchen
Kooperationsstrategien wollen Netzwerke durch kooperatives und prosoziales Verhalten knüpfen und bewahren.
Märchen beziehen sich oft auff Episoden aus nur einer Lebensphase. Strategien lassen sich dann nur ableiten, wenn stabile Persönlichkeitsmerkmale Verallgemeinerungen zulassen. Sie können als wertegeleitete Skripte so interpretiert werden: sich beweisen, Herausforderungen suchen und annehmen, Erfolg haben, schwierige Probleme lösen – auch für andere, Helfer suchen und helfen wollen, belastende Konstellationen ertragen, Chancen und Risiken suchen, Pläne umsetzen sowie dabei Strategien von Mächtigeren erkennen, akzeptieren, erfüllen oder konterkarieren. In Familienkonstellationen zeigen ältere Geschwister oft eifersüchtiges Mobbing gegenüber den Jüngsten.37
Förderung der Personalstruktur durch Auswahl und Einsatz von Mitarbeitern.
Strukturelle Führung spielt in Märchen als einem „episodischen Projektmanagement“ eine herausragende Rolle. Bedrohte Könige oder andere trauen sich eine Herausforderung nicht zu oder wollen hohe Risiken vermeiden. Deshalb wird die Problemlösung auff „Freelancer“ (so werden in der Wirtschaft oft schlechter be-
39
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
handelte freie Mitarbeiter bezeichnet) „outgesourct“. Da nur bei Erfolg honoriert wird, und das häufig nicht schon beim ersten Mal, kann man recht leichtfertige Personalauslese nach dem Prinzip „hire and fire“ betreiben. Diese weder auff Fach- noch auf Funktionskompetenzen ausgerichtete Selektion erhöht die Chancen der Märchenhelden ungemein, können sie doch weder Fachkenntnisse (z. B. um einen Drachen zu töten), Kampfausrüstung oder spezifische Erfahrungen vorweisen. Erzählt wird auch nur von den erfolgreichen Helden. Diese haben meist schon mehrere Prüfungen überstanden und werden dann mit Schätzen (das halbe Königreich), „Schätzchen“ (Prinzessin, Prinz) sowie Statusund Machtpositionen (Königsnachfolge) „königlich“ entlohnt.
Vor dem Märchenhelden starben aber viele Erfolglose, die zu wenig Problemlösungsfähigkeit, zu wenig autonome bzw. kooperative Sozialkompetenz zeigten, in der Umsetzung ihrer Ideen weder Helfer noch Fortune hatten oder zu zögerlich bzw. ungeschickt waren.
2.6.5
Interaktive Führung und Kooperation in Märchen
Häufig finden sich sog. Führungsbeziehungen zwischen (Stief-) Eltern und Kindern, selten dagegen ständige Führungsbeziehungen ausserhalb dieser Konstellation. In der Führung im Familienverband dominieren häufig patriarchalische bzw. matriarchalische Stile, nicht selten mit gestörten Beziehungsmustern. Typisch bei Grimms Märchen sind neidische, böse, ja nach dem Leben ihrer Stiefkinder trachtende Stiefmütter, die ihre eigene Brut bevorzugen, ja sie sogar als Mobbinghelfer einsetzen (z. B. Aschenputtel (KHM 21), Frau Holle (KHM 24)). Viele Väter stehen „unter dem Pantoffel“ und halten sich möglichst aus Konflikten heraus. Oft bleibt den Helden nur die Wahl zwischen „endure it“ oder „leave it“, da hier „change“ oder „love it“ als Alternativen entfallen. Ebenso autoritär-ausbeutend gehen enttäuschte Feen, Hexen oder Zaubertiere gegenüber Kindern vor (z. B. Hänsel und Gretel (KHM 15), Rapunzel (KHM 12)).
40
Steuerung g und d Führung
2.6
Es gibt aber auch liebevolle Eltern-Kind-Beziehungen selbst bei schweren Belastungen (z. B. in Däumerlings Wanderschaft (KHM 45), Hans mein Igel (KHM 108)). Es finden sich weiterhin hoch loyale Mentorbeziehungen, die aber nicht von allen „Mentees“ geschätzt werden (vgl. z. B. Der treue Johannes (KHM 6)). Teilweise wird auch „Führung von unten“ („Managing the Boss“) praktiziert, besonders vom gestiefelten Kater (KHM 33, 1812) gegenüber seinem formalen „Herrn“, dem Müllerssohn. Auch hier bewähren sich die in der Führungsforschung ermittelten Erfolgsstrategien beim „Managing the Boss“. Es sind: Freundlichkeit, Bestimmtheit und Koalitionen. Kaum eingesetzt werden dagegen: Begründung, Verhandlung und Konsultation.38 In Märchen mit bilateralen Vertragsbeziehungen zwischen „principals and agents“ – so Fachtermini für Chefs und Mitarbeiter in ökonomischen Vertragstheorien39 – dominiert meist der schnelle Handel, selbst wenn man sich gerade erst kennen lernte. Beide Vertragspartner bevorzugen statt der Reflexion die Aktion. Vertrags- und Vertrauensbrüche der Principale sind an der Tagesordnung, und die Agenten verfügen meist über weniger Informationen und Lebenserfahrung. Andererseits können sie mit Vertragsverletzungen gut umgehen. In kooperativen Teams finden wir dagegen mehr implizite informelle Führungsbeziehungen, die aber meist arbeitsteilig ergänzend sowie kooperativ-delegativ gestaltet sind; dies auff der Grundlage eines engen und produktiven Teamverständnisses (vgl. z. B. Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) oder das Igelehepaar in Der Hase und der Igel (KHM 187)). Und neben gestörten Geschwisterbeziehungen findet man aufopfernd-liebevolle Konstellationen (z. B. bei Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11), Die sieben Raben (KHM 25), Die drei Brüder (KHM 124), Die sechs Schwäne (KHM 49)). Diese zeigen ethisches wie emotionales Commitment – bei den Grimms oft mit „Treue“ umschrieben. Überwiegend spielen sich interaktive Führungs- und Kooperationsbeziehungen also innerhalb der Familienkonstellation ab und dazu
41
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
in meist unrühmlichen Rollen. Dagegen arbeiten laterale „Projektteams“ zwischen zuvor Unbekannten häufig mit impliziter bzw. informeller Hierarchie eines Mitglieds kooperativ und in der Regel erfolgreich; eine prominente Ausnahme bilden Die sieben Schwaben (KHM 119).
2.7
Mitunternehmerische Förderung und Entwicklung
2.7.1
Förderungskonzepte
Die Förderung in der Managementpraxis zielt auff Entfaltung, Erhaltung und Anpassung der menschlichen Potentiale/Ressourcen an die Anforderungen der Unternehmung und ihres Umfelds (v. a. Markt, Kunden, Lieferanten, Kapitalgeber, Gesellschaft). Sie verfolgt damit wirtschaftliche Ziele (z. B. Effizienz, Erhaltung der Arbeitsplatz- oder Arbeitsmarktfähigkeit), fördert aber auch die individuelle Entwicklung von Mitarbeitern. Soweit es sich nicht um Fachkompetenzen handelt, sind bei der beruflichen „Personalentwicklung“, bei der sowohl die Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie, nun auch die Neurobiologie von einer durch Gene und Frühsozialisation schon weitgehend geprägten Persönlichkeitsstruktur ausgehen, meist Erwachsene angesprochen. Als zentrale Dimensionen der „Personalentwicklung“ werden Selbstentwicklung, individuelle Mitarbeiterförderung sowie Teamund Organisationsentwicklung unterschieden. 2.7.1.1
Förderungskonzepte im Management
Phasen der Personalentwicklung: In der Personalentwicklung wird auch nach Phasen differenziert, die vom Eintritt („into the job“) bis zum Verlassen der Organisation („out off the job“) reichen. Im Mittelpunkt steht die unterschiedlich „gelenkte Selbstentwicklung“ durch die Arbeit selbst, die arbeitspsychologische Gestaltung des Arbeitsplatzes oder die Unterstützung durch das Team, die Führungskräfte bzw. Personalentwickler. In der Führungspraxis werden
42
Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
2.7
häufig mehrere Ansätze gleichzeitig eingesetzt, besonders on- und off-the-job (vgl. Abb. 11). 2.7.1.2
Strukturelle Personalentwicklung
Wie schon bei den Führungsdimensionen diskutiert, kann auch Personalentwicklung nach struktureller und interaktiver Personalentwicklung differenziert werden. Strukturelle Entwicklung konzentriert sich auf die fördernde Gestaltung von Lernkultur, -organisation und -strategie. Werden Menschen im Arbeitsprozess durch Werte und soziale Imperative „sozialisiert“, dann steht die Förderung durch Organisations- und Teamkultur im Vordergrund. Strategiegestaltung will z. B. den Arbeitsplatz als Lernort verstehen und fördern. Organisationsgestützte Entwicklung im Managementt Development zu unternehmerischem Denken und Handeln fördert z. B. mehr Gestaltungsund Handlungsspielraum, Ergebnis- statt Inputorientierung. Entscheidend ist noch, die qualitative Personalstruktur durch eine auf unternehmerische Persönlichkeitsmerkmale, z. B. auff Qualifikationen und Motivation ausgerichtete Auswahl sowie Einsatz- wie Entwicklungsplanung zu optimieren (Abb. 12). 2.7.1.3
Gelenkte Selbstentwicklung und interaktive Personalentwicklung
Für Erwachsene sollte bei der Entwicklung grundsätzlich die Eigenverantwortung Vorrang haben. Es ist ihr persönliches „Humankapital“ bzw. ihr Arbeitsmarktwert, um den sie laufend besorgt sein müssen. Ein Sprichwort dazu: „Lernen ist wie Schwimmen gegen den Strom, wer aufhört, treibt zurück“. Unternehmensführung sollte vorrangig durch strukturelle Personal- und Organisationsentwicklung unterstützen. Dies gilt auch für das oft schwierige und langwierige Verlernen überholter Denk- und Handlungsmuster und ist Voraussetzung, Neues zu lernen oder anzuwenden. Subsidiär können aber Vorgesetzte (auch Kollegen und Mitarbeiter) diese Selbstentwicklung im gesamten strukturellen Entwicklungsprozess (vgl. Abb. 12) über die Führungsbeziehungen unterstützen. Dazu zählen z. B. kooperativ-delegativer Führungsstil sowie entwicklungsbezogenes Coaching (Abb. 13) mit Entwicklungsvereinbarungen im Mitarbeitergespräch.
43
2 Abbildungg 11
44
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
Förderungsmöglichkeiten unternehmerischer Personalentwicklung
Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
2.7
Ansatzpunkte struktureller unternehmerischer Personalentwicklung
Abbildungg 12
Aspekte organisationsinternen oder -externen Coachings
Abbildungg 13
Versteht man Entwicklung als wechselseitigen Prozess, dann können und sollten Mitarbeiter auch ihre Vorgesetzten durch konstruk-
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2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
tives „Counselling“ beraten und fördern (vgl. Abb. 14). Denn im persönlichen Gespräch erhält die Führungskraft Feedback zum Führungsverhalten. Und in manchen Konzepten zur „Aufwärtsbeurteilung“ von Führungskräften durch ihre Mitarbeiter sowie in vielen Mitarbeitergesprächen ist vorgesehen, dann auch konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Führungssituation zu vereinbaren.
Abbildungg 14
Personalentwicklung durch Counselling
Insbesondere für eine Beratung in der Berufs- und Laufbahnentwicklung durch hierarchisch Höhergestellte wird noch Mentoring eingesetzt (vgl. Abb. 15). Es dient der Orientierung, Integration und Förderung des „Mentees“ in der eigenen Organisation für und in wichtige(n) Lebens- und Karrierephasen. In der Wirtschaftspraxis konzentriert sich Mentoring auff Nachwuchskräfte.
46
Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
Personalentwicklung durch Mentoring
2.7 Abbildungg 15
Unternehmerische Schlüsselkompetenzen sind weit schwieriger zu entwickeln als Fachkompetenzen. Strukturelle Mitarbeiterentwicklung über fördernde Gestaltung von Entwicklungsbedingungen, die Sicherung einer Lernkultur sowie individualisierte Förderungsstrategien sollten hier im Mittelpunkt stehen. Häufig geht es dabei erst einmal um den Abbau von Lern- und Entwicklungsbarrieren. Wenn man unternehmerisch denkende und handelnde Mitarbeiter gewinnen und halten konnte, dann kommen diese – wie im Märchen – mit Barrieren meist selbst ganz gut zurecht, denn sie zeichnen sich auch bei ihrer Entwicklung durch Eigeninitiative, Commitment und Stressresistenz aus. Nach unseren Portfolioanalysen wurden aber nie alle Mitarbeiter als mitunternehmerisch qualifiziert und motiviert eingeschätzt; bei Führungskräften waren es im Durchschnitt 30 % und bei Mitarbeitern ohne Führungsfunktion 14 % (vgl. Abb. 16). Deshalb sollten stabilere und individuelle Kompetenzen über eine individualisierte und teamorientierte Förderung in Entwicklungsbeurteilungen, -gesprächen und -vereinbarungen gefördert werden. Und diese sollten sich an der Ist-Einschätzung ausrichten statt an Visionen oder Leitbildern. Nur so können realistische Entwicklungsziele gefunden
47
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
und realisiert werden. Dies sichert einen gezielten „ContinuousImprovement-Ansatz“ (vgl. dazu auch die fünff Entwicklungsstufen in Abb. 16) und richtet sich auff die Person(en) sowie auff die Optimierung des Arbeitskontextes durch strukturelle Führung und Entwicklung aus. So steht z. B. bei mitunternehmerisch qualifizierten, aber begrenzt motivierten Mitarbeitern der selektive und schrittweise Abbau von Motivationsbarrieren und eine das Team ergänzende sowie eignungs- bzw. neigungsorientierte Platzierung im Vordergrund.
Vertiefung und Zielgruppenförderung Verteilung FK NFK 30%
14%
37%
31%
21%
39%
12%
16%
100% 100%
2.7.2
Gestaltungs-, Umsetzungs- und Sozialkompetenz
Abbildungg 16
Subunternehmer (z.B. Profit-Center-Leiter) Mitunternehmer
Abbau von Demotivatoren, Aufbau einer fördernden Kultur, Strategie, Organisation und Personalstruktur, Laufbahnförderung
unternehmerisch Motivierte
schlüsselkompetenzen- und komponentenbezogene Qualifizierung
Mitarbeiter mit geringer Mitunternehmerkompetenz (Routinemitarbeiter)
(Re-)Motivierung, selektive Qualifizierung, teamorientierter Personaleinsatz
Überforderte/Demotivierte („Arbeitsplatzinhaber“)
gezielte Qualifizierung und (Re-)Motivierung, Personalumsetzung/-freisetzung
Legende: FK: Führungskräfte, NFK: Nicht-Führungskräfte, N=240
Förderung von unternehmerischem Verhalten in Märchen
Wie nachfolgend dargelegt, können relativ stabile und früh entwickelte Schlüsselkompetenzen zunächstt durch die Optimierung des Arbeitsumfelds strukturell gefördert werden. Vor allem gelingt dies durch Vermeidung oder Abbau von Entwicklungsbarrieren. Zweitens spielt hier die kontinuierliche Selbstentwicklung eine entscheidende Rolle. Und schliesslich können Führungskräfte, Kollegen und auch Mitarbeiter fördernden Einfluss nehmen, z. B. über Führungsbeziehungen sowie über Coaching, Counselling und Mentoring.
48
Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
2.7.2.1
2.7
Besonderheiten der Personalentwicklung in Märchen und Management
Wir sehen hier besonders folgende Aspekte:
Entwicklungen von Menschen und Organisationen verlaufen meist in längeren Zeiträumen. In Märchen werden auch grössere Zeitspannen meist in wenige Sätze komprimiert.
Dort handeltt es sich – im Gegensatz zum Management – meist um recht junge Menschen ohne Ausbildung und spezielle Erfahrungen.
Drittens wird im Management gezielt und bewusst zu fördern versucht. Dagegen zeigen eher wenige Märchen bewusste Erziehungs- und damit verbundene Wandlungsprozesse. Besonders nachdrücklich wird das im König Drosselbart (KHM 52) vorgeführt, der seine Braut mit drastischen Mitteln von ihrem „hohen Ross“ herunterholt, indem er sie z. B. zunächst als Schweinehirtin arbeiten lässt. In einem anderen Märchen erzieht ein erst vierjähriger Enkel (Der alte Grossvater und der Enkel (KHM 78)) seine Eltern, mit ihrem greisen (Schwieger-)Vater so umzugehen, wie sie später auch einmal behandelt werden möchten. Dabei setzt er die „goldene Regel“ („Was ihr wollt, dass die Menschen euch antun, das tut ihnen gleichermassen“ Matthäus 7,12) ein. Eine längere und einschneidende Entwicklungsphase beschreibt Der treue Johannes (KHM 6), dem erst nach vielen Jahren und seinem aufopfernden Tod durch die reumütigen und nun ebenso opferbereiten Arbeitgeber Genugtuung widerfährt.
Viertens bevorzugt die Wirtschaftspraxis pragmatische und evaluierbare Entwicklungsmassnahmen on oder offf the job. Besonders die Psychoanalyse konzentriert sich dagegen in der Märcheninterpretation auff innerseelische Entwicklungen, die meist als Deutungen oder Gleichnisse bzw. Metaphern aus Sicht einer bevorzugten Theorie verstanden werden. Besonders S. Freud und C. G. Jung prägen die vielen dazu publizierten Monographien. Diese stehen dann auch in Konkurrenz zu Theorien anderer Disziplinen.40 Das erweitert die Erklärungsvielfalt; keine kann aber eine „Deutungshoheit“ beanspruchen. Als Beispiele dafür sind auch die in anderen Kapiteln diskutierten Märchen vom Hans im Glück (KHM 83) sowie von Aschenputtel (KHM
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2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
21) zu verstehen, die wir auch wegen solch unterschiedlicher Deutungen näher analysiert haben.
Eine fünfte Besonderheit der Märchen ist die sehr seltene Ausrichtung auff die Entwicklung von Fachkompetenzen oder von Berufserfahrung, obgleich sie oft mit Handwerksberufen41 verbunden sind. Diese fachliche Weiterbildung spielt bei der betrieblichen Personalentwicklung oft die grösste Rolle. In Märchen sind solche „skills“ allenfalls bei „assessments“ zu Nachfolgeentscheidungen wichtig, wie z. B. bei Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129).
Sechstens wird in Märchen häufig Mitarbeiterentwicklung durch extreme personalpolitische Anreiz- und Sanktionskonzepte substituiert, die ohne besonderes Ansehen der Person ausgelobt und realisiert werden. Denn bei vielen typischen Herausforderungen in Märchen werden ausschliesslich hohe erfolgsorientierte Vergütungen (z. B. ein halbes Königreich und dazu die Königstochter) ausgelobt. Im Falle des Misslingens ist mit hohen, teils tödlichen Sanktionen zu rechnen. Insoweit geht es hier weniger um Entwicklungsstrategien als um „hire and fire“. Beide Entwicklungen zeigen sich nun auch im Management – allerdings mit anderen Anreizen und Sanktionen.
Schliesslich werden märchentypisch hochriskante Herausforderungen der Märchenhelden meist nur mit ihren unternehmerischen Schlüsselkompetenzen (Problemlösungsfähigkeit, Sozialsowie Umsetzungskompetenz) erfolgreich bewältigt. Mangelnde eigene Problemlösungsfähigkeit kann aber durch emotionale Netzwerkkompetenz42 ersetzt werden.
Mit diesen Schlüsselqualifikationen werden dann märchenhafte Erfolge erzielt: z. B. gelingt es kämpferisch Unerfahrenen, einen sechsköpfigen Drachen zu töten (Die zwei Brüder (KHM 60)), gefährliche Riesen oder Tiere unschädlich zu machen (Das tapfere Schneiderlein (KHM 20)), wilde Räuber in die Flucht zu schlagen (Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27)), Lebenselixiere (Das Wasser des Lebens (KHM 97)) oder Geheimnisse (Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29)) zu ergattern, von Zauberern oder Hexen gefangene bzw. verwandelte Menschen zu befreien (Der Froschkönig (KHM 1), oder lebensgefährliche Ret-
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Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
2.7
tungsbedingungen über viele Jahre zu erdulden (Die sieben Raben (KHM 25)).
Immer bewirken die drei mitunternehmerischen Schlüsselkompetenzen, nämlich mentale (kreative Problemlösung) und/oder emotionale Intelligenz (v. a. autonome bzw. kooperative Sozialkompetenz43) sowie aktionale Umsetzungskompetenzen und -motivation den Erfolg. Die jeweiligen Konfigurationen der drei Kompetenzen variieren aber. Deshalb hilft zur näheren Analyse auch ein Portfolioansatz. 2.7.2.2
Portfolioorientierte Förderung in Märchen
Das Portfolio wird in Kapitel 344 ausführlich diskutiert. Mit Bezug nun auff Entwicklungsqualifikation und -motivation werden in Märchen dazu die Bereitschaftt (Aschenputtel (KHM 21), Gretel in Hänsel und Gretel (KHM 15), aber auch Zwang (König Drosselbart (KHM 52)), Unlust (z. B. Pechmarie in Frau Holle (KHM 24)) zur Veränderung oder auch fehlende Qualifikation (Die sieben Schwaben (KHM 119)) thematisiert. Für die Personalentwicklung von Schlüsselkompetenzen wird für kleinere, dafür fokussierte Entwicklungsziele, also „continuous improvement“ plädiert, handelt es sich hier doch um recht stabile Einstellungen und Verhaltensmuster. Märchen zeichnen meist holzschnittartig einen drastischen Sinnes- oder Verhaltenswandel (z. B. der Prinzessin in König Drosselbart (KHM 52), oder vom Egoisten in einen Mildtätigen in Der Grabhügel (KHM 195)). Ein Portfolio eignet sich auch für Entscheidungen zur optimalen Teamergänzung. Das findet man in Märchen bei der Bildung erfolgreicher „Wir-AG’s“ mit unternehmerischen Qualifikationen (z. B. Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), Hänsel und Gretel (KHM 15)). Immer wieder wird eine enge und erfolgreiche Kooperation zwischen einem Herrn und seinem „Mitarbeiter“ mit sich ergänzenden Kompetenzen geschildertt (z. B. der aktiv-unternehmerische gestiefelte Kater mit seinem passiv-reaktiven Müllerssohn oder das kreativ-gerissene tapfere Schneiderlein mit seinem ängstlichwankelmütigen König). Umgekehrt misslingen Teams, denen unternehmerische Schlüsselkompetenzen fehlen. Das beste Beispiel bieten
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2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
die sieben Schwaben (KHM 119), die deshalb jämmerlich zugrunde gehen. Zuweilen wird auch bei der Partnerwahl nicht nur nach dem Geschlecht differenziert, sondern nach komplementären Kompetenzen (vgl. z. B. Die kluge Bauerntochter (KHM 94)). Insgesamt gesehen lassen sich Lernportfolios nach Lernqualifikation und -motivation auch aus Märchen bilden. Aber Principale in Märchen bedienen sich dieses Konzepts ebenso selten erkennbar wie heute noch das Management. 2.7.2.3
Gelenkte Selbstentwicklung im Märchen
Gemäss der explizit formulierten Philosophie in mehreren Erzählungen – „Bäume muss man ziehen, solange sie jung sind“ (Der Meisterdieb (KHM 192, S. 776)) oder „was ein Häkchen werden will, muss sich beizeiten krümmen“ (Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (KHM 4, S. 51)) – soll Selbstentwicklung im Erziehungskonzept der Brüder Grimm früh beginnen und über Autoritäten unterstützt werden, auch mit strengen und harten Mitteln. Meist ist hier die Schlüsselqualifikation „Sozialkompetenz“ thematisiert. Eine mehr implizite Form sozialkompetenter Entwicklung ist das Erdulden grosser seelischer (z. B. durch Mobbing beim Aschenputtel (KHM 21)) oder körperlicher (z. B. im Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (KHM 4)) Belastungen. Sie bewirken zunächst tiefgreifende Erkenntnisse, dann auch Verhaltensänderungen. Sehr anschaulich ist die Gewissensentwicklung durch den Traum eines reichen Egoisten geschildert: „… da begann der erste Sonnenstrahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht abzuschmelzen“ (Der Grabhügel (KHM 195, S. 793)). Und noch extremer lehrt König Drosselbart (KHM 52, S. 291) seine Braut mit Erfolg, ihren Hochmut zu verlernen: „Da dachte sie mit betrübtem Herzen an ihr Schicksal und verwünschte Stolz und Übermut …“ Als vorbildlicher Mentor erweist sich der Eisenhans (KHM 136, S. 635), der einen achtjährigen Königssohn Einordnung lehrt und ihm später hilft, eine Prinzessin zu gewinnen. Die stärkste Wandlung im Rahmen eines Mentoringprozesses – mit wohl alttestamentarischem Vorbild – bewirkt Der treue Johannes, der zunächst von seinem König als Mentor eingesetzt und bei der
52
Mitunternehmerische Förderung g und d Entwicklung
2.7
loyalen Erfüllung dieser Aufgabe in Stein verwandelt wird. Als der König und seine Frau schliesslich ihre Mitschuld erkennen, sind sie bereit, für die Rückverwandlung des Johannes ihre zwei Söhne zu opfern: „Wir sind’s ihm schuldig wegen seiner grossen Treue“ (KHM 6, S. 73). Das Märchen geht dann aber für alle Beteiligten noch gut aus. Und Coaching betreiben die vielen Helfer der jungen Märchenhelden wohl am häufigsten, wenn sie gute Ratschläge geben, Wege weisen oder über Zaubermittel verfügen bzw. als Helfer beistehen und so Überforderte aus grosser Not retten. Das ist die wohl märchentypische Form der Unterstützung. Problemlösungskompetenz reift in anderen Märchen, z. B. die Fähigkeit, aus Schaden klug zu werden. So beim Rotkäppchen nach dem Erlebnis mit dem Wolff in eigener Erkenntnis („Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat“, (KHM 26, S. 179)) oder in Die goldene Gans (KHM 64, S. 368) durch den Vater als Warnung ausgesprochen: „Geh nur hin, durch Schaden wirst du klug werden“. In Der Meisterdieb (KHM 192, S. 776) belehrt dagegen der erwachsene und missratene Sohn seinen Vater in einer Art Counselling. Er habe ihn nie gelehrt, „sich beizeiten zu krümmen“. Fachliches Lernen wird neben solchen oft tiefgreifenden Veränderungen ebenfalls angesprochen, meist durch die Väter, z. B. in Die drei Brüder („Geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein Handwerk …“ (KHM 124, S. 588)) oder „Geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht, wie ihr euch durchschlagt“ (Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129, S. 608 ff.)). Aber es zeigtt nur selten Einfluss auff den Erfolg. So erlernt ein Märchenheld erstt den Beruff des Schlossers, dann den des Jägers; aber dann erhält er ein Zaubergewehr, mit dem er seine Aufgabe schliesslich meistert (Der gelernte Jäger (KHM 111, S. 542)). Auch eigener Lernwille und Wissensdurst wird thematisiert: „Mit dem übrigen Geld aber zog er wieder hin auff die hohe Schule und lernte weiter“ (Der Geist im Glas (KHM 99, S. 497)). In Des Teufels russiger Bruder (KHM 110, S. 500) gewinnt ein armer Soldat schliesslich die Königstochter, weil er sich das Musizieren beigebracht hatte und sie damit „betört“.
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2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
2.8
Lessons learned
Der Bezugsrahmen zu internem Unternehmertum (vgl. Abb. 1) lässt sich fast durchgängig auff die Märchen der Brüder Grimm anwenden. Die Hauptkomponenten (Kompetenzen, Motivation und Führungsbeziehungen) wurden in anderen Kapiteln vertieft. Weder in den evaluierten Märchen noch in der entsprechenden Forschungsliteratur ist von Unternehmern oder unternehmerischem Verhalten die Rede. Dennoch bestimmen unternehmerische Schlüsselqualifikationen (Problemlösungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenz) der Märchenheldinnen und -helden ihren Erfolg. Fachliche Eignung und Neigung sowie Erfahrung spielen – im Gegensatz zur Managementpraxis – keine Rolle. Oft werden diese Kompetenzen ohne weitere Lernprozesse erfolgreich eingesetzt. Umsetzungsmotiviert und auch -kompetent verhalten sich fast alle Märchenhelden. Kombiniert wird dies entweder mit Problemlösungs- oder mit Sozialkompetenz. Denn die einen sind geborene Problemlöser, andere sozialkompetente Helfer und Netzwerkknüpfer. Man könnte also zwischen mentalen und sozialen Mitunternehmern differenzieren. Weil die Brüder Grimm Intelligenz nur mental verstehen, bezeichnen sie und ihre Interpreten die sozial intelligenten Netzwerker bis heute als „Dummlinge“, allenfalls als „Dümmlinge“.45 Aber auch in der Managementlehre wurde der Terminus „soziale“ bzw. „emotionale Intelligenz“ erst spät eingeführt. In Märchen wird immer wieder hohe intrinsische Eigenmotivation demonstriert. Werte, Ziele, herausfordernde Aufgaben und Chancen stehen im Mittelpunkt. Die extrinsischen Anreize sind zwar märchenhaft hoch, aber sie scheinen oft nicht die entscheidenden Handlungsmotive der Helden und Heldinnen zu sein. Dagegen können diese mit Demotivation vorbildlich umgehen, besonders mit Vertrauensverletzungen – dies ganz im Gegensatz zur Managementpraxis. Commitment wird von Schutzbefohlenen und Untertanen verlangt, aber selten vorgelebt. Für die Managementpraxis wird das auch behauptet. Doch antwortete der Cheff einer Grossbank auff Klagen seines Kaders über schwindende Loyalität der Firma: „Wenn Sie Loyalität suchen, dann kaufen Sie einen Hund“.
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Lessons learned
2.8
Bei der internen n Governance wünschtt sich h das Managementt eindeutig eine Kombination n von n internem Marktt und internen n Netzwerkbeziehungen, also faire „coopetition“. Beide Steuerungskonzepte sollen interne Hierarchie und Bürokratie bzw. Technokratie dominieren. In Märchen dominieren dagegen externe Netzwerke in Verbindung mit interner (z. B. Familie) und externer (z. B. Könige) Hierarchie, die aber oft mit marktlichen Anreizkonzepten arbeitet. Und kurzfristige Auswahl sowie Einsatz und Freisetzung sind in Märchen dominanter als in der Wirtschaftspraxis. Auch rangiert interaktive Führung eindeutig vor struktureller Steuerung und Führung über Strategie-, Organisations- und Kulturgestaltung. Als am stärksten belastend bezeichnen Manager die Zusammenarbeit über die eigene Organisationseinheit hinweg. Konkurrenz, mangelnde Kommunikation, einseitige Orientierung auff das eigene Team sowie Zielkonflikte und unklare Kompetenzen werden besonders bemängelt. In Märchen kooperieren die Helden dagegen eher zu leichtgläubig mit Unbekannten, oder sie bilden mit ihnen ein bald gut funktionierendes, erfolgreiches Team. Probleme gibt es dagegen häufig intern, v. a. in Form von Rivalitäten zwischen (Stief-)Geschwistern, wobei die Jüngsten mit ihrer sozialen Kompetenz meist die Gewinner sind. Lernprozesse werden in der Managementpraxis durch Coaching, Mentoring oder Counselling unterstützt. In Mitarbeiterbefragungen wird jedoch die individuelle Förderung durch die Chefs meist als unbefriedigend eingeschätzt. In Märchen haben Helfer (auch als Mentoren) die grösste Bedeutung; ihre Helden zeigen auch ihrer Obrigkeit den Weg über „Counselling“. Konkrete Entwicklungsprogramme konzentrieren sich aber auff übertragene oder selbst gewählte herausfordernde Aufgaben, die meist über Selbstentwicklung zu Lernprozessen führen. Harte „Entwicklungsprogramme“ finden sich seltener – z. B. das von König Drosselbart (KHM 52) für seine hochmütige Braut. Sozialkompetenzen haben bei der Entwicklung in Märchen Vorrang. Dazu gehören: Schicksal erdulden lernen, Hochmut verlieren, barmherziger und kommunikativer werden, Loyalität und Commitment („Treue“) auch unter schwierigen Bedingungen zeigen, sich besser ein- und unterzuordnen. In Managementprogrammen dominieren
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2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
dagegen fachlich-sachliche sowie methodische Inhalte sowie die aktuelle Bewältigung von Wandel und Krisen. „Managing the Boss“ ist für Märchenhelden – ebenso wie für die Wirtschaftspraxis – kein Fremdwort, auch wenn die Obrigkeit mit autoritär-ausbeutender sowie sanktionierender bzw. patriarchalisch bzw. matriarchalisch bestimmender Fürsorge regiert, während Führungskräfte und Mitarbeiter sich meist erfolgreich um langfristig akzeptable Führungsbeziehungen bemühen. Nicht thematisiert haben wir psychoanalytisch interpretierte Entwicklungsprozesse, obgleich sie in der Literatur dominieren. Danach sind fast alle Märchen Konzepte oder Metaphern für (inner-)seelische Lernaufgaben. Uns fehlt dazu die Fachkompetenz, öfters auch die spezifische Deutungsbereitschaft, weil wir in vielen Erzählungen evidente Belege dafür nicht finden konnten (z. B. den Dienstherrn von Hans im Glück (KHM 83, 1812) als Gott zu deuten oder das unmenschliche Mobbing der Eltern und Stiefschwestern als Erziehungsprogramm für Aschenputtels „einseitige“ Gutherzigkeit). Doch wollen wir keine Deutungshoheit beanspruchen, lieber mit unserer Interpretation in Freude und Frieden leben sowie andere auch leben lassen.
2.9
56
Literaturverzeichnis
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Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
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58
Anmerkungen
2.10
Wunderer, R. (2004): Vom Selbst- zum Fremdvertrauen – Konzepte, Wirkungen, Märcheninterpretationen, in: Zeitschrift für Personalforschung, 18(4), S. 30-70. Wunderer, R. (1967): Systembildende Betrachtungsweisen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre und ihr Einfluss auff die Darstellung des Unternehmers, Berlin. Wunderer, R. (1999) (Hrsg.): Mitarbeiter als Mitunternehmer. Grundlagen, Förderinstrumente, Praxisbeispiele. Neuwied/Kriftel. Wunderer, R./Bruch, H. (2000): Umsetzungskompetenz, München. Wunderer, R./Dick, P. (2002): Sozialkompetenz – eine mitunternehmerische Schlüsselkompetenz, in: Die Unternehmung, Heft 6, S. 269-299. Wunderer, R./Dick, P. (2007): Personalmanagement – Quo vadis, 5. Aufl., Köln. Zaleznik, A. (1975): Das menschliche Dilemma der Führung, Wiesbaden.
2.10 1 2 3 4 5 6 7
8 9 10
11 12 13 14
15
Anmerkungen
vgl. g v. a. Grimm 1996/1819 sowie Rölleke 1993, S. 9 sowie Enzyklopädie des Märchens, Bände 1-11 vgl. z. B. Knoblauch 1999, Hilti 1999 vgl. g Fischer 1955, Gaugler 1999 sowie die zahlreichen Beispiele in Wunderer 2007, S. 49. ff. vgl. dazu die Buchveröffentlichungen von Wunderer 1967, 1999, 2007 sowie Kuhn 2000 vgl. Wunderer 2007, insbes. S. 50 ff. vgl. z. B. dazu auch Bechstein 1856/1999 sowie Schede 2004 Kast (1990), insbes. S. 124: „Sehr oft werden archetypische y yp Konstellationen in der Beziehung g zu einem anderen Menschen belebt … Diese scheint mir im Menschenbild der Märchen sehr treffend ausgedrückt zu sein. Märchenhelden und Märchenheldinnen tun zunächst immer alles, was in ihrer Kraft steht (nach einigen g Fehlversuchen) … Sie versuchen also autonom zu handeln …“ sowie Freud 1946 oder Franz 1985 Zaleznik 1964, Toman 2005, Neuberger 1991, insbes. S. 48 vgl. dazu z. B. Backes-Gellner et al. 2001 Eine Gallup-Studie p ermittelte hier für Deutschland folgende g Werte für 2003: 18 % keine, 70 % g geringe, g 12 % hohe emotionale Bindung an ihr Unternehmen; vgl. dazu auch S. 149 f. im Kapitel 5.9 vgl. Zaleznik 1975, Toman 2005, Wunderer 2006, S. 224 ff. sowie Kapitel 3 vgl. Wunderer 2007, S. 64 vgl. Pinchot 1985 Dieser Ansatz wird noch einmal für die Beschreibung und Erklärung des spezifischen p motivationalen Verhaltens von Hans im Glück (KHM 83), verwendet, vgl. Wunderer 2005 vgl. g McCrae/John 1992 sowie die informative Übersicht von Hossiep/Mühlhaus p 2005, die auch zeigt, g dass der Big-Five-Ansatz inzwischen in anderen Persönlichkeitstests eingebaut ist.
59
2
Internes Unternehmertum in Management und d Märchen
16 17
18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
37
38 39 40 41 42 43 44 45
60
vgl. g dazu die Erläuterungen und Literaturverweise in Wunderer 2007, S. 42 ff. zu Eigenmotivation und Commitment vgl. g Mertens/Kuhl 2005, Nerdinger 1998, Wunderer 2007, S. 139 f. sowie für Commitment Meyer /Allen 1999, Moser 1995 vgl. Sprenger 1999, Frey/Osterloh 2000 vgl. v. a. Scheffer/Kuhl 2005 sowie Wunderer 2007, S. 67 und 144 ff. Backes-Gellner et al. 2001 vgl. Wunderer 2007, S. 146 f. vgl. Remer 1999, Müller-Stewens 1999, Lombriser 1999, v. Rosenstiel 1999, Kuhn 1999, Thom/Jörg 1999, Klimecki 1999 vgl. Wunderer 2005 vgl. Wunderer 2004 vgl. Wunderer 2004 vgl. Wunderer 2007, S. 58 ff., Wunderer/Bruch 2000 vgl. Kuhl 2001, S. 609 ff. vgl. Kuhl 2001 und Wunderer 2007, S. 119 vgl. Wunderer/Weibler 2007 7 sowie Wunderer 2007, S. 60 vgl. g Wunderer 2007, S. 69 sowie Prognoseergebnisse von rund 40 Unternehmen in Wunderer/Dick 2007, S. 61 vgl. Nalebuff/Brandenburger 1996 vgl. Müller-Stewens 1999, Kuhn 2000, Remer 1999 vgl. Hilti 1999, Lichtsteiner 1999 vgl. Thom/Jörg 1999, Klimecki 1999, Knoblauch 1999 vgl. Wunderer 2007, S. 467-512 Das Märchen ist nur in der Sammlung g der Brüder Grimm von 1812 (KHM 33) erhalten, weil es offensichtlich vom französischen Märchensammler Ch. Perrault übernommen wurde. Auch dieses bekannte Märchen haben wir in einem eigenen Beitrag g interpretiert; vgl. dazu Kap. 6 sowie Wunderer 2002 und 2007, S. 190 ff. Neuere Forschungen, g meist über Experimente p der p psychologischen y g Ökonomie, belegen, g dass auch von Teammitgliedern g unkooperatives p Verhalten (z. B. Trittbrettfahren, täuschen, egoistisch g spielen) p gebüsst wird - selbst wenn dadurch eigene g Spielverluste entstehen. Damit wird das orthodoxe Konzept des „homo oeconomicus“ falsifiziert; vgl. z. B. Gächter, S./Fehr, E. 2002 vgl. Wunderer 2007, S. 258 ff. vgl dazu z. B. Backes-Gellner et al. 2001 sowie die Übersicht bei Wunderer 2007, S. 518 ff. vgl. z. B. Bettelheim 2000/1977 für S. Freud, Kast 990 für C. G. Jung sowie Kritik daran von Solms 1999 vgl. g dazu die spezielle p Tagung g und Publikation der Europäischen Märchengesellschaft in: Lox et al. 2005 vgl. Golemann 2007 vgl. Wunderer/Dick 2002 vgl. Wunderer 2007 Lüthi 1999
Der beste König der Welt Quelle: Brüder Grimm, Das tapfere Schneiderlein, illustriert von Herbert Leupin, Friedrich Reinhardt Verlag, Basel-Berlin und Verlag Ernst Kaufmann, Lahr 1993.
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
3.1
3.1
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
Die Betriebswirtschaftslehre erweist sich als „märchenfrei“, zumindest nach der Suche bei Google und in Stichwortverzeichnissen von fünff einschlägigen Handwörterbüchern der Betriebswirtschaftslehre.1 Dagegen wird von Firmen Unternehmertum bei „breiten Belegschaftsschichten“ oder sogar „von allen“ (z. B. IBM: „Alle arbeiten unternehmerisch ...“) in Führungsgrundsätzen2 gefordert. Oft wird diese Forderung aber wieder auff Kosten- und Gewinnorientierung eingeengt. Kompetenzen werden als Dispositionen definiert, die von Individuen selbstorganisiert geleistet werden können. Sie werden über Leistungshandeln oder dessen Ergebnisse evaluiert.3 Zur Evaluation werden Beobachtung, Interviews, Potential- und Leistungsbeurteilungen, Tests bzw. Assessments vorgeschlagen. In unserem zuvor schon eingehend diskutierten Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 2, Abb. 1 sowie Abb. 17) werden Schlüsselkompetenzen als „enabler“ für langfristige Wertschöpfung gesehen. Mitunternehmertum wird dabei verstanden als die aktive und effiziente Unterstützung der Unternehmensstrategie durch problemlösendes, sozialkompetentes und umsetzendes Denken und Handeln möglichst vieler Mitarbeiter aller Hierarchiebereiche mit hoher Eigeninitiative und -verantwortung in bzw. mit dafür förderlichen Strukturen. Bei unserer Kompetenzanalyse werden drei Schlüsselqualifikationen4 in je zwei Teilkompetenzen differenziert. Dann werden sie nach Verhaltens- und Ergebniskriterien operationalisiert und schliesslich in einem Personalportfolio nach Qualifikation und Motivation verteilt.
Problemlösungskompetenz: kreative und strategieorientierte Neuentwicklungen, die einen grundlegenden und proaktiven Wandel im Denken und Handeln („Change“) bewirken (können) sowie die Qualifikation zur öfters reaktiven, doch steten Verbesserung vorliegender Lösungsansätze („Continuous Improvement“).
63
64
M I T A R B E I T E R
UMFELD
Ressourcen
der zentralen Bezugsgruppen
Mikrokontext
Makrokontext 1. Mitwissen/Mitdenken 2. Mitentscheiden/ Mithandeln
POTENZIAL
Umsetzungg
FÜHRUNG UND ENTWICKLUNG
– strukturelle Führung – interaktive Führung
mitunternehmerische Leitsätze
mitunternehmerisches Führungskonzept
mitunternehmerische Identifikation und Grund-/Eigenmotivation situative Motivierung
mitunternehmerische Personalstruktur
mitunternehmerisches Steuerungskonzept
mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
5. Mitentwickeln 6. Mitverdienen/ Mitbeteiligen
Welche Auswahl und Entwicklung ist sinnvoll?
3. Mitverantworten 4. Mitfühlen/Miterleben
Welche Steuerung und Führung ist sinnvoll?
Welche menschlichen Potenziale sind nötig?
Personale Gestaltungs- und Verhaltensziele:
Unternehmensziel: unternehmenssichernde Wertschöpfung durch Nutzenstiftung für zentrale Bezugsgruppen aktive und effiziente Unterstützung der Unternehmensstrategie durch Förderungsziel: problemlösendes, sozialkompetentes und umsetzendes Denken und Handeln möglichst vieler Mitarbeiter aller Hierarchie- und Funktionsbereiche
Was sind die Ziele?
M I T U N T E R N E H M E R
Abbildungg 17
Rahmenbedingungen
Was beeinflusst die Förderung?
3 Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
Vom Mitarbeiter zum Mitunternehmer – ein Bezugsrahmen
Umsetzungskompetenz: reflexionsorientierte sowie aktionsgesteu-
erte Umsetzungsbefähigung und -motivation von Problemlösungsentscheidungen.
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen
3.1
Sozialkompetenz: kooperative sowie autonome Dispositionen zur Beziehungsgestaltung.
Abb. 18 zeigtt Operationalisierungen von zwei der drei Kompetenzen nach Verhaltens- und Ergebniskriterien. Zu den folgenden Ausführungen erleichtert die vorherige Lektüre von Kapitel 2 das Verständnis.
Indikatoren für Problemlösungs-/Gestaltungs- sowie Umsetzungskompetenz
Abbildungg 18
Der Portfolioansatz will als ein Instrument des Personalcontrollings5 z. B. für strategische Personalentscheidungen einen Überblick zur Verteilung von Mitarbeiterkompetenzen (z. B. bei Fusionen, Auslandsengagements oder Restrukturierungen) sowie für Empfehlungen zur Optimierung der qualitativen Personalstruktur6 geben, z. B.
65
3
Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
über Auswahl, Einsatz und Förderung. Qualifikation und Leistungsbereitschaft stehen dabei im Vordergrund. Schon Schumpeter7 fragte: „Wie setztt sich das Neue in der Wirtschaft durch? (...) Die meisten Leute gehen ihrem täglichen, gewohnten Erwerbe nach und haben damit genug zu tun (…). Eine Minorität von Leuten mitt einer schärferen Intelligenz und beweglichen Phantasie sehen zahllose Kombinationen (…). Dann aber gibt es noch eine geringere Minorität – und diese handelt.“ Mit einem vereinfachten Portfolioansatz wurden Führungskräfte und Personalverantwortliche von über 200 Unternehmen zu groben Prozent-Einschätzungen ihrer Firmen bzw. Teams nach mitunternehmerischer Qualifikation und Motivation befragt. Es zeigten sich in drei Studien mit über 200 Unternehmen ähnliche Verteilungen. Selbst im Management wurden hier höchstens ein Drittel der Mitarbeiter als Mitunternehmer eingeschätzt.
Verbreitung mitunternehmerischer Kompetenz
Gestaltungs-, Umsetzungs- und Sozialkompetenz
Abbildungg 19
66
Umfrage 1
Umfrage 2
Umfrage 3
Durchschnitt
Nicht- FührungsFührungs- kräfte kräfte
Nicht- FührungsFührungs- kräfte kräfte
Nicht- FührungsFührungs- kräfte kräfte
Nicht- FührungsFührungs- kräfte kräfte
Mitunternehmer
17
34
12
28
15
29
14
30
unternehmerisch Motivierte
31
34
28
38
33
38
31
37
Mitarbeiter mit geringer Mitunternehmerkompetenz (Routinemitarbeiter)
36
20
45
22
36
21
39
21
Überforderte und/oder Demotivierte
16
12
15
12
16
12
16
12
100
100
100
100
100
100
100
100
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen in Märchen
3.2
3.2
Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen in Märchen
Nach dem skizzierten Kompetenzkonzept analysieren wir nun mit einem erweiterten Portfolioansatz8 Heldinnen und Helden aus den weltweit bekannten Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm.9 Differenziert werden folgende sechs Typen nach den Dimensionen mitunternehmerische Qualifikation und Motivation: Mitunternehmer, unternehmerisch Motivierte, Mitarbeiter mitt geringer Mitunternehmerkompetenz, unternehmerisch qualifizierte, aber nur begrenzt Tätige sowie Motivierte sowie hierbei Überforderte und Demotivierte. Die Analyse konzentriert sich auff sechs bekannte Märchen.
Mitunternehmerisches Portfolio mit Märchenhelden
Abbildungg 20
67
3
Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
Aschenputtel als Mitunternehmerin (KHM 21): Sie durchlebtt starken Change, wie den Tod der Mutter, böse Stiefmutter und –schwestern sowie stete Erniedrigungen und Assessments (z. B. Linsen-, Schuhtests), auch durch den Vater. Die junge Frau bewirkt in diesem turbulenten Kontext nach einer Phase tapferen Erduldens mit mentaler und emotionaler Intelligenz tiefgreifenden wie schrittweisen Wandel in ihrer gesamten Familienstruktur (Emanzipation von Vater und Stiefmutter, Ausschluss der Schwestern als Bräute und Mitglieder der neuen Familie sowie die Entwicklung vom gemobbten Aschenputtel zur umworbenen Prinzessin). In ihrer Sozialkompetenz zeigt sie neben beeindruckendem Erdulden viel Selbstständigkeit (z. B. im Werbungsprozess des Bräutigams) wie auch hohe Kooperationsfähigkeit (zunächst mit ihrer Familie, dann mit der Gewinnung und dem Einsatz ihrer teils „himmlischen“ Netzwerkpartner). Im Umsetzungsprozess reflektiert sie ihre Belastungen, Risiken und Chancen. Gleichzeitig setztt sie zielstrebig, beharrlich, mit grossem Selbstvertrauen und erfolgsorientiert ihren Emanzipationsplan durch. Aschenputtel erweist sich so als (Mit)-Unternehmerin in allen drei Schlüsselkompetenzen. Andere bekannte Märchenbeispiele dazu sind: Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812), Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) Die kluge Bauerntochter (KHM 94) sowie Der treue Johannes (KHM 6). Der gestiefelte Kater wird in Kapitel 6 auch unter Führungsbeziehungen ausgiebig gewürdigt. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) als unternehmerisch qualifizierter, aber kaum kooperativ motivierter Märchenheld: Der Schneider erreicht – wie Aschenputtel – den gleichen Status (Prinz- bez. Königsnachfolge) – mit anderen Ausprägungen seiner Schlüsselqualifikationen. In seiner Problemlösungskompetenz ist er extrem gefordert. Er bewirkt als fahrender Schneidergeselle tiefgreifenden Wandel im Reiche seines Königs, indem er zunächst drei lebens- und staatsbedrohende Feinde mit List, Blufff und Mut unschädlich macht. Im zweiten Handlungsteil wendet er mit gleichem Erfolg Bedrohungen durch den König und seine eigene Frau ab. In diesem Actionmärchen bleibt kein Platz für kontinuierliche Verbesserungen. Dies würde dem Schneiderlein auch gar nicht liegen.
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Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen in Märchen
3.2
Seine Sozialkompetenz reduziert sich auff extrem hohe Eigen- und Selbstständigkeit. Er lehntt sogar die Unterstützung durch Soldaten des Königs zur Bekämpfung eines besonders gefährlichen Feindes rundweg ab. Kooperationen will und braucht er nicht. Er lässt sich nicht einmal von ständigen Wortbrüchen des Königs beeindrucken. Seine Umsetzungskompetenz zeigt blitzschnelle, intuitive, wagemutige bis tollkühne Reaktionen auff neue Herausforderungen. Sein Leben besteht aus einzelnen Handlungssequenzen ohne sichtbare Reflexion seiner Entscheidungen und Verhaltensweisen. So erkennen wir im tapferen Schneiderlein einen höchst autonomen, aber kaum kooperativen Bilderbuch-Intrapreneur bzw. die Inkarnation einer „Ich-AG“, an dem auch Pinchot10 helle Freude hätte, setzt er doch dessen 10 Erfolgsmaximen vorbildlich um. Einige davon lauten: „Komme jeden Tag mit der Bereitschaft, gefeuert zu werden“, „Umgehe alle Anordnungen, die deinen Traum stoppen“, „Mach alles, was zur Realisierung deines Zieles erforderlich ist“, „Wette nie in einem Rennen, in dem du nicht selbst mitläufst“. Hänsel und Gretel (KHM 15) als unternehmerisch motiviertes, aber noch wenig qualifiziertes Paar: Sie und ihre Eltern sind Opfer einer Hungersnot, wie sie noch heute Millionen trifft. Auch in der Schweiz mussten noch im 20. Jahrhundert Minderjährige als „Verdingkinder“ ihre armen Familien verlassen. Im Märchen belauschen die Geschwister die „Outsourcing“Entscheidungen der hartherzigen Mutter und des mitleidigeren Vaters und schmieden Rettungspläne. Problemlösungskompetenz: Hänsel hat eine erfolgreiche Idee mit der Kieselsteinmarkierung des Rückwegs. Der zweite Versuch mit den Brotkrumen aber misslingt. Von der Hexe gefangen übernimmt nun Gretel die Initiative, schützt ihren Bruder mit dem Knöchelchen-Trick und befreit beide mit der Überlistung der Hexe, die sie überrumpelt und in den geheizten Backofen schiebt. Auch beim Rückweg ins Elternhaus findet sie bei der Überquerung einer Furt die bessere Lösung. Sie zeigt Dispositionen zum Change, Hänsel mehr zu schrittweisen Verbesserungen. Beide bilden so eine entwicklungsträchtige „Wir-AG“. Sozialkompetenz: Die Autonomie des Teams ist notgedrungen gefordert und bringt Erfolg. Ob Hänsel und Gretel es allein geschafft
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Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
hätten, ist nicht so sicher. Ihre Kooperationsbereitschaft gegenüber der Hierarchie (Eltern und Hexe) entspricht nicht mehr heutigen Erziehungsidealen. Sie kehren mit den Schätzen der Hexe – anders als Aschenputtel – wieder zu den Rabeneltern zurück. Umsetzungskompetenz: Die Geschwister reflektieren ihre Lage und die nötigen Schritte schon recht gut, bei Hänsel gelingt das noch nicht immer optimal. Gretel emanzipiert sich und überlistet die Hexe mit einer durchdachten und blitzschnellen Aktion. So zeigt sie hoffnungsvolles Entwicklungspotential für die nächste Portfoliostufe der Mitunternehmerin. Andere Beispiele wären: Der treue Johannes (KHM 6), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71), der Igel in Der Hase und der Igel (KHM 187). Rotkäppchen zeigt geringe unternehmerische Qualifikation und Motivation: Sie ist „eine kleine süsse Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah“ (KHM 26, S. 174). Doch ein böser Wolff trachtet ihr nach dem Leben. Mit ihrer Problemlösungskompetenz ist sie öfters Objekt der Geschichte. Nur einmal missachtet sie das Gebot der Mutter, auff dem Weg zur Grossmutter nicht vom Wege abzuweichen. Mit ihrem kindlichen Zutrauen wird sie ein leichtes Opfer des Wolfs. Bei der Beseitigung dieses Feindes und später dessen Kumpan ist sie aber eine motivierte Helferin des Jägers (Steine holen) oder der Grossmutter (den Trog mit Wurstwasser füllen, das den Wolff ersäuft). Sie selbst kann keinen Wandel bewirken. Im Sozialverhalten zeichnet sie sich durch hohe – altersgemäss naive wie zeitgemäss autoritative – Kooperationsfähigkeit und motivation aus, sei es mit der Mutter, Grossmutter, dem Jäger wie dem Wolf. Ihre Autonomie ist noch gering. Die einmal doch gezeigte Autonomie dient aber auch dazu, ein bedürftiges Familienmitglied mit einem Strauss zu erfreuen. Das lässt sich auch als organisationsfreundliches Verhalten („organizational citizenship“) interpretieren. Im Umsetzungsprozess lernt sie aber aus Erfahrung und nimmt sich einen neuen Lebensplan vor: „Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen.“ Und bei der nächsten Herausforderung mit dem zweiten Wolff zeigt sie mutige Bereitschaft,
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Mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen in Märchen
3.2
diesen mit zu überlisten. Das bezeugt auch ein „continuous improvement“ und verspricht weitere Entwicklung in der Zukunft. Rotkäppchen positioniert sich als lernwillige und entwicklungsfähige sowie auch motivierte „Routinemitarbeiterin“, die vorgegebene Ziele und Aufgaben gern erfüllt und Ansätze zu selbstständig reflektierten Veränderungen zeigt. Andere Beispiele – nicht in allen drei unternehmerischen Schlüsselkompetenzen: Der Meisterdieb (KHM 192), die Schwester in Die sieben Raben (KHM 25), die Goldmarie in Frau Holle (KHM 24) und teilweise Hans im Glück (KHM 83). Pechmarie in Frau Holle (KHM 24) als demotivierte Mitarbeiterin: Arbeitsethos wird in mehreren Märchen thematisiert, so auch in: Der faule Heinz (KHM 164), Die faule Spinnerin (KHM 128). Bei der Pechmarie wird arbeitsscheues Verhalten von der eigenen Mutter zulasten der Stiefschwester sozialisiert und erst von Frau Holle bestraft. Problemlösungskompetenz: Die faule Marie zeigt keine Disposition, sich oder andere mit neuen Problemlösungen zu überraschen – nicht einmal für erwartete hohe Belohnungen. Umsetzungskompetenz: Obwohl taktisch zweckmässig, kann sie das erwartete fleissige Verhalten nur einen Tag durchhalten. Das wird ihr dann mit lebenslangem Pech an den Kleidern stattt Gold vergolten. Sozialkompetenz: Sie bleibt ihrer Natur und Sozialisierung treu, kann damit ihr Ertragsziel aber nicht erreichen. Und von Kooperation oder gar prosozialem Verhalten ist nie etwas zu spüren. Pechmarie ist bei neuen bzw. höheren Arbeitsanforderungen schnell demotiviert. Frau Holle versucht auch keine Remotivation – das ist nicht ihr Führungs- und Entwicklungskonzept. Andere Beispiele wären: Die Ilsebill in Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19), Der gescheite Hans (KHM 32). Die sieben Schwaben (KHM 119) als mitunternehmerisch Überforderte: Problemlösungskompetenz: Die sieben Schwaben zeigen Visionen mit schnellem Verfallsdatum. Das findet man auch in manchen Firmen, insbesondere in Gründerunternehmen. Bei ihrer Drachenjagd de-
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Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
monstrieren sie zunächst den aktuellen Werbespruch: „Wir können alles – nur nicht Hochdeutsch“. Alle sieben verfehlen dann die ambitiösen Jagdziele aufgrund ihrer Problemlösungsinkompetenz. Umsetzungskompetenz: Auch hier scheitern sie kläglich, weil sie in kollektiv-ängstlichem „groupthink“11 stets aus einer „Mücke einen Elefanten“, hier aus einem Hasen ein gefährliches Ungeheuer machen („Es wird nit fehle um ein Haar, so ischt es wohl der Teufel gar …“). Sozialkompetenz: An Autonomie mangelt es allen, deshalb haben sie sich zusammengeschlossen. Sie beginnen zwar als eine „Kooperative“, aber wenn es ernst wird, sucht jeder seine Haut zu retten („Gang Veitli, gang, gang du voran, i will dahinte vor di stahn“). Ihre extreme Risikoaversion ist die zweite Begründung für ungenügendes Unternehmertum. Zu diesem Aspekt machte ein ETHKollege eine Studie mit dem Titel: „Warum dauert die Umsetzung einer guten Idee in der Schweiz so lange?“12 mit folgender Ergebnisrangreihe. Diese belegt Angst auch in der Managementpraxis als zentralen Innovationshemmer (vgl. Abb. 21).
Abbildungg 21
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Umsetzungsbarrieren bei der Realisierung guter Ideen in der Schweiz
Lessons learned
3.3
3.3
Lessons learned
Diese Studie an den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM) lieferte für alle Portfoliobereiche mehrere Beispiele. Und weitere, hier nicht diskutierte Einzelanalysen ergaben, dass gleichermassen listige Einzelkämpfer, kooperative Netzwerker (oft die jüngsten und dritten Geschwister – manchmal Dummlinge genannt) oder mutig- aktionale Umsetzer erfolgreich sind. Alle drei Kompetenzen bei einer Person finden sich selten – wie im Management. Unternehmerisches Denken und Handeln fanden wir in keinem Stichwort der umfangreichen Erzählforschung oder der pädagogischen Psychologie bzw. Entwicklungspsychologie, obgleich dies in westlichen Marktwirtschaften zu den Kernkompetenzen für nahezu alle Berufe gezählt wird. Denn Problemlösungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenzen sind keineswegs nur im Management unverzichtbar. Das heisst natürlich nicht, das Augenmerk nur darauff zu richten, aber auch nicht, diese Kompetenzen mit disziplinärer Selbstgenügsamkeit auszublenden. Vielmehr könnten Ergebnisse der Managementforschung als ein weiterer „Glasbaustein“ im Kaleidoskop der Märchenanalyse und -interpretation Verwendung finden. Mit einem Portfolioansatz werden Märchenheldinnen und -helden systematisch nach bisher nicht herausgearbeiteten Schlüsselqualifikationen und Motivstrukturen analysiert. Das erweitert auch die klassischen philologischen, psychoanalytischen oder didaktischen Beschreibungs- und Erklärungsansätze. So wird z. B. die sich ergänzende Teamstruktur von Hänsel und Gretel offensichtlich, ebenso die unternehmerische Kompetenz des gestiefelten Katers im Unterschied zu der des tapferen Schneiderleins herausgearbeitet. Und das besonders häufig interpretierte Aschenputtel kann man nun in anderem Lichte sehen und beschreiben. Dieser Lerneffekt ist auch für Führungskräfte von Nutzen. Wenn man die Suche nach starken bis rücksichtsarmen „Leadern“ und vermarktungsfähigen Helden in Politik, Wirtschaft, Sport und Gesellschaft und ihre gefährlich unkritische Verehrung durch sonst sog. rationale Manager und Berater verfolgt, dann wird am Beispiel des tapferen Schneiderleins deutlich, wie sich solche Grössen(wahn)ideen entwickeln und wie sie zum Erfolg führen. Und für
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Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
den Umgang mit der Beraterbranche lässt sich manches aus Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen lernen, man denke nur an die „Hunter-Strategie“ der Swissair oder die strategischen Desaster bei Daimler in den letzten 20 Jahren. Alle sechs Fallbeispiele des Märchenportfolios lassen sich für solche Überlegungen nutzbringend einsetzen, wenn man sie als anschauliche und treffend beschriebene Exempel versteht und nicht als „Kinderkram“ aus längst vergangenen Zeiten. Die Begabungs- und Motivationsstruktur einer Schule oder Schulklasse könnte man – auch im Vergleich mit anderen Klassen – analysieren und für differenzierte pädagogische Folgerungen einsetzen. Das belegt die Anwendung der Portfoliomethode in der Personal- und Führungspraxis. Märchen eignen sich als bekannte und erhellende Fallbeispiele zur Beschreibung und Erklärung von mitunternehmerischer Qualifikation und Motivation. Man kann sie nachlesen und reflektieren.13 Einige Beispiele dafür: Aschenputtel (KHM 21) für Selbst- und Fremdvertrauen, Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812) für kreativlistige Problemlösung und „Managing the Boss“, sowie Der Meisterdieb (KHM 192), Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) für blitzschnelle Umsetzung und typisches Intrapreneuring in einer „Ich-AG“, Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) oder Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) für eine erfolgreiche „Wir-AG“ von Freigesetzten, Des Kaisers neue Kleider für blinde Abhängigkeit von Beratern, Der Froschkönig (KHM 1) für „Walk your Talk“, Der treue Johannes (KHM 6) für „Commitment“, Der Hase und der Igel (KHM 187) für die Überlegenheit strategisch-taktischen Verhaltens, von demr Fischer un syne Fru (KHM 19) für massloses Karrierestreben, Hans im Glück (KHM 83) für den Abbau motivationaler Dissonanzen, Die sieben Schwaben (KHM 119) für kollektiven Groupthink, Hänsel und Gretel (KHM 15) für Vorteile der Teamarbeit sowie Frau Holle (KHM 24) für prosoziales Verhalten, Arbeitsethik und ihre Gratifikationen. Märchen können weitere Erkenntnisse für Führungsfragen bewirken. Ihre Interpretation mit Konzepten der Managementforschung regte uns zur Entwicklung von Metaphern14 wie auch zur Anwendung und Reflexion sozialwissenschaftlicher Theorien15 an. Ebenfalls lassen sich damit vernachlässigte Betrachtungsweisen in der Erzähl- und Märchenforschung16 fördern.
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Lessons learned
3.3
Märchen zeigen überliefertes wie lebendiges Kulturgut. Mit Kompetenzanalysen können Werte, Qualifikationen und Handlungsweisen von „Märchenhelden“ mitt Anforderungen an sog. exzellente Manager verglichen werden. Für Analysen zur Gesellschaftskultur eignen sich z. B. kulturspezifische Varianten von Märchen, wie dem von Aschenputtel in den sehr unterschiedlichen italienischen,17 französischen18 und deutschen19 Versionen. In der Motivationsforschung,20 der Philosophie,21 der Theologie22 sowie vor allem in den zahlreichen Publikationen der Tiefenpsychologie23 werden menschliche Kompetenzen oder Denk-, Fühl- und Beziehungsmuster sowie damit verbundene Konflikte und Problemlösungen thematisiert. Märchen eignen sich – wie auch Fabeln – als bildhafte Gleichnisse für menschliches Verhalten in realistischen Situationen. Sie werden deshalb gerne in der Aus- und Weiterbildung aller Schulstufen verwendet. In der Märchendidaktik24 werden sie als Fallstudien für allgemeine menschliche Konflikte sowie als Vorbilder eingesetzt. Auch in der Organisations- und Personalentwicklung25 unterstützen heute darauff spezialisierte Erzähler und Berater. Und „Unternehmensmärchen“ oder Storytelling26 sowie „Unternehmenstheater“27 werden in Changeprozessen eingesetzt bzw. dafür entworfen. Zur Personalentwicklung findet sich auch relevante Trainerliteratur.28 Mit der These zu genetisch geprägten bzw. früh sozialisierten sowie relativ stabilen Schlüsselkompetenzen werden Möglichkeiten und Grenzen der (auch betrieblichen) Personalentwicklung thematisiert. Auch lassen sich Testkonzepte der differenziellen Psychologie29 auf Märchenfiguren anwenden und so die vielen tiefenpsychologischen Deutungsansätze erweitern. Was für Jugendliche Märchen, Sagen und andere Erzählungen (Donald Duck, Asterix, Harry Potter) bedeuten, das sind besonders für Führungskräfte (Auto-)Biographien30 von bekannten Managern. Liest man zum Buch von Jack Welch, seinem Portfolioansatz (S. 461 ff.) und seiner Person die Hymnen zu der „Autobiographie des besten Managers der Welt“ (so der Untertitel des Autors!) von L. Späth, J. Schrempp, O. Henkel, G. Höhler, J. Weber, R. Berger u. a.31 und berücksichtigt man die heute bekannten Korrekturen an dessen Spiegelbild sowie kritische Analysen dazu,32 dann wird die wenig
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Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
reflektierte Verehrung sog. „Charismatiker“ durch bekannte Manager und Berater offensichtlich. Gleiches zeigen Heranwachsende gegenüber ihren Helden aus früheren Sagen und Märchen oder aktuellen Variationen dazu, wie z. B. Harry Potter. Schliesslich drängen sich gar Assoziationen zum „tapferen Schneiderlein“ (143 f.) auf: „Bist so ein Kerl?“ sprach er nach dem gelungenen Totschlag von sieben Fliegen „… ‚das soll die ganze Stadt erfahren.’ … ‚die ganze Welt solls erfahren!’ und sein Herz wackelte ihm vor Freude wie ein Lämmerschwänzchen (KHM 20, S. 144).“
3.4
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Unternehmerische Schlüsselkompetenzen
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3.5 1 2 3 4 5 6 7 8 9
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
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Anmerkungen
Wunderer 2005 Wunderer 2007 Erpenbeck/v.Rosenstiel 2003, S. XVI, Fischer 2003 Wunderer 1999, 2007 Wunderer/Jaritz 2007 vgl. Thom/Zaugg 2007, Zaugg 2006 Schumpeter 1912 vgl. Wunderer, 2007, S. 62 vgl. g Schede 2004, Brüder Grimm 1996/1819; Anmerkung: g Kinder- und Hausmärchen werden als KHM zitiert, mit den von den Herausgebern festgelegten Nummern der Märchen. Pinchot 1988 Janis 1982 Guttropff 1995 auch mittels Märchenklassifikationen - vgl. Uther 2004, Thompson 1955 Wunderer 2002 Wunderer 2004, 2005 Brednich 1977, Franz 2004 Basile 2000/1634 Perrault 1996/1697 Brüder Grimm 1999/1819 z. B. Kuhl 2001, S. 73, 1071-1092 vgl. Marcuse 1972, Fromm 2003 z. B. Murphy 2000 z. B. Bettelheim 2000, Drewermann 2003, Kast 1989 Wardetzky/Zitzlsperger 1997 vgl. dazu Thom 1987 Frenzl et al. 2003 Schreyögg 2001 z. B. Berger 2001 Hossiep/Mühlhaus 2005 z. B. Welch 2003, Iacocca 1987 Welch 2003, S. 478 ff. vgl. Collins/Porras 1995, S. 55 und 239 ff.
A f dem Weg zur Mitunternehmerin Auf Mit t h i – das letzte l t t Assessment A t Quelle: Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm, illustriert von Svend Otto S., Lappan Verlag Oldenburg, 4. Aufl. 2005, S. 29.
Zielsetzung g dieses Kapitels
4.1
Eine Analyse der umfangreichen Erzählliteratur zeigte die Bedeutung von Vertrauen in Märchen, auch wenn die fünfzehnbändige Enzyklopädie des Märchens unter rund 4000 Hauptstichworten keines dafür einsetzt. In der Managementforschung wurde Vertrauen in den letzten 20 Jahren sehr breit diskutiert.1 Wir konzentrierten uns auff die Auswertung der weltweit bekanntesten Märchensammlung der Brüder Grimm, ihrer 1819 in 2. Gesamtauflage publizierten „Kinder- und Hausmärchen“. Für dieses Thema waren 20 der 200 Märchen gut geeignet, vor allem – zu unserer eigenen Überraschung – das „Aschenputtel“. Das Märchen hätte – in Anlehnung an Rossini – den Titel verdient: „Aschenputtel oder der Triumph des Selbstvertrauens“. Zu diesem Märchen hatten wir bisher keine spezielle Beziehung entwickelt – auch mangels persönlicher Erfahrung. Bei ihm wurde aber besonders erkennbar, dass sich die Heldinnen und Helden durch grosses Selbstvertrauen auszeichnen und dieses oftt mit grossem Fremdvertrauen verbinden. Weiterhin berichtet es exemplarisch vom erduldenden Umgang mit unverschuldeten Schicksalsschlägen und ihren Folgen. So ergaben sich interessante Ansatzpunkte zur Verknüpfung von Vertrauens- und Märchenforschung. Deshalb konzentriert sich dieser Beitrag darauf. Das setzte eine grundsätzliche und theoretische Diskussion der Vertrauensforschung2 voraus. Eine nur schnell und leicht lesbare Märcheninterpretation war somit leider nicht möglich. Aschenputtel (KHM 21) Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, daß ihr Ende herankam, rieff sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach »liebes Kind, bleibe fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auff dich herabblicken, und will um dich sein.« Darauff tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte, und blieb fromm und gut. Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auff das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau. Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren, aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. »Soll die dumme Gans bei uns in
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
der Stube sitzen!« sprachen sie, »wer Brot essen will, muß es verdienen: hinaus mit der Küchenmagd.« Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen alten Kittel an, und gaben ihm hölzerne Schuhe. »Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist!« riefen sie, lachten und führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehn, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel. Es trug sich zu, daß der Vater einmal in die Messe ziehen wollte, da fragte er die beiden Stieftöchter, was er ihnen mitbringen sollte. »Schöne Kleider,« sagte die eine, »Perlen und Edelsteine,« die zweite. »Aber du, Aschenputtel,« sprach er, »was willst du haben?« »Vater, das erste Reis, das Euch auf Eurem Heimweg an den Hut stößt, das brecht für mich ab.« Er kaufte nun für die beiden Stiefschwestern schöne Kleider, Perlen und Edelsteine, und auff dem Rückweg, als er durch einen grünen Busch ritt, streifte ihn ein Haselreis und stieß ihm den Hut ab. Da brach er das Reis ab und nahm es mit. Als er nach Haus kam, gab er den Stieftöchtern, was sie sich gewünscht hatten, und dem Aschenputtel gab er das Reis von dem Haselbusch. Aschenputtel dankte ihm, ging zu seiner Mutter Grab und pflanzte das Reis darauf, und weinte so sehr, daß die Tränen darauff niederfielen und es begossen. Es wuchs aber, und ward ein schöner Baum. Aschenputtel ging alle Tage dreimal darunter, weinte und betete, und allemal kam ein weißes Vöglein auff den Baum, und wenn es einen Wunsch aussprach, so warff ihm das Vöglein herab, was es sich gewünscht hatte. Es begab sich aber, daß der König ein Fest anstellte, das drei Tage dauern sollte, und wozu alle schönen Jungfrauen im Lande eingeladen wurden, damit sich sein Sohn eine Braut aussuchen möchte. Die zwei Stiefschwestern, als sie hörten, daß sie auch dabei erscheinen sollten, waren guter Dinge, riefen Aschenputtel und sprachen »kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die Schnallen fest, wir gehen zur Hochzeit auff des Königs Schloß.« Aschenputtel gehorchte, weinte aber, weil es auch gern zum Tanz mitgegangen wäre, und bat die Stiefmutter, sie möchte es ihm erlauben. »Du Aschenputtel,« sprach sie, »bist voll Staub und Schmutz, und willst zur Hochzeit? du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!« Als es aber mit Bitten anhielt, sprach sie endlich »da habe
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Zielsetzung g dieses Kapitels
4.1
ich dir eine Schüssel Linsen in die Asche geschüttet, wenn du die Linsen in zwei Stunden wieder ausgelesen hast, so sollst du mitgehen.« Das Mädchen ging durch die Hintertür nach dem Garten und rieff »ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vöglein unter dem Himmel, kommt und helft mir lesen, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.« Da kamen zum Küchenfenster zwei weiße Täubchen herein, und danach die Turteltäubchen, und endlich schwirrten und schwärmten alle Vöglein unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder. Und die Täubchen nickten mit den Köpfchen und fingen an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch an pick, pick, pick, pick, und lasen alle guten Körnlein in die Schüssel. Kaum war eine Stunde herum, so waren sie schon fertig und flogen alle wieder hinaus. Da brachte das Mädchen die Schüssel der Stiefmutter, freute sich und glaubte, es dürfte nun mit auff die Hochzeit gehen. Aber sie sprach »nein, Aschenputtel, du hast keine Kleider, und kannst nicht tanzen: du wirst nur ausgelacht.« Als es nun weinte, sprach sie »wenn du mir zwei Schüsseln voll Linsen in einer Stunde aus der Asche rein lesen kannst, so sollst du mitgehen,« und dachte »das kann es ja nimmermehr.« Als sie die zwei Schüsseln Linsen in die Asche geschüttet hatte, ging das Mädchen durch die Hintertür nach dem Garten und rieff »ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vöglein unter dem Himmel, kommt und helft mir lesen, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.« Da kamen zum Küchenfenster zwei weiße Täubchen herein und danach die Turteltäubchen, und endlich schwirrten und schwärmten alle Vögel unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder. Und die Täubchen nickten mit ihren Köpfchen und fingen an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch an pick, pick, pick, pick, und lasen alle guten Körner in die Schüsseln. Und ehe eine halbe Stunde herum war, waren sie schon fertig, und flogen alle wieder hinaus. Da trug das Mädchen die Schüsseln zu der Stiefmutter, freute sich und glaubte, nun dürfte es mit auff die Hochzeit gehen. Aber sie sprach »es hilft dir alles nichts: du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen; wir müßten uns deiner schämen.« Darauff kehrte sie ihm den Rücken zu und eilte mit ihren zwei stolzen Töchtern fort.
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Als nun niemand mehr daheim war, ging Aschenputtel zu seiner Mutter Grab unter den Haselbaum und rief »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirff Gold und Silber über mich.« Da warff ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln. In aller Eile zog es das Kleid an und ging zur Hochzeit. Seine Schwestern aber und die Stiefmutter kannten es nicht und meinten, es müsse eine fremde Königstochter sein, so schön sah es in dem goldenen Kleide aus. An Aschenputtel dachten sie gar nicht und dachten, es säße daheim im Schmutz und suchte die Linsen aus der Asche. Der Königssohn kam ihm entgegen, nahm es bei der Hand und tanzte mit ihm. Er wollte auch sonst mit niemand tanzen, also daß er ihm die Hand nicht losließ, und wenn ein anderer kam, es aufzufordern, sprach er »das ist meine Tänzerin.« Es tanzte, bis es Abend war, da wollte es nach Haus gehen. Der Königssohn aber sprach »ich gehe mit und begleite dich,« denn er wollte sehen, wem das schöne Mädchen angehörte. Sie entwischte ihm aber und sprang in das Taubenhaus. Nun wartete der Königssohn, bis der Vater kam, und sagte ihm, das fremde Mädchen wär in das Taubenhaus gesprungen. Der Alte dachte »sollte es Aschenputtel sein?« und sie mußten ihm Axt und Hacken bringen, damit er das Taubenhaus entzweischlagen konnte: aber es war niemand darin. Und als sie ins Haus kamen, lag Aschenputtel in seinen schmutzigen Kleidern in der Asche, und ein trübes Öllämpchen brannte im Schornstein; denn Aschenputtel war geschwind aus dem Tauben haus hinten herabgesprungen, und war zu dem Haselbäumchen gelaufen: da hatte es die schönen Kleider abgezogen und aufs Grab gelegt, und der Vogel hatte sie wieder weggenommen, und dann hatte es sich in seinem grauen Kittelchen in die Küche zur Asche gesetzt. Am andern Tag, als das Fest von neuem anhub, und die Eltern und Stiefschwestern wieder fort waren, ging Aschenputtel zu dem Haselbaum und sprach »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirff Gold und Silber über mich.«
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Da warff der Vogel ein noch viel stolzeres Kleid herab als am vorigen Tag. Und als es mit diesem Kleide auff der Hochzeit erschien, erstaunte jedermann über seine Schönheit. Der Königssohn aber hatte gewartet, bis es kam, nahm es gleich bei der Hand und tanzte nur allein mit ihm. Wenn die
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4.1
andern kamen und es aufforderten, sprach er »das ist meine Tänzerin.« Als es nun Abend war, wollte es fort, und der Königssohn ging ihm nach und wollte sehen, in welches Haus es ging: aber es sprang ihm fort und in den Garten hinter dem Haus. Darin stand ein schöner großer Baum, an dem die herrlichsten Birnen hingen, es kletterte so behend wie ein Eichhörnchen zwischen die Äste, und der Königssohn wußte nicht, wo es hingekommen war. Er wartete aber, bis der Vater kam, und sprach zu ihm »das fremde Mädchen ist mir entwischt, und ich glaube, es ist auff den Birnbaum gesprungen.« Der Vater dachte »sollte es Aschenputtel sein?« ließ sich die Axt holen und hieb den Baum um, aber es war niemand darauf. Und als sie in die Küche kamen, lag Aschenputtel da in der Asche, wie sonst auch, denn es war auff der andern Seite vom Baum herabgesprungen, hatte dem Vogel auff dem Haselbäumchen die schönen Kleider wiedergebracht und sein graues Kittelchen angezogen. Am dritten Tag, als die Eltern und Schwestern fort waren, ging Aschenputtel wieder zu seiner Mutter Grab und sprach zu dem Bäumchen »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirff Gold und Silber über mich.« Nun warff ihm der Vogel ein Kleid herab, das war so prächtig und glänzend, wie es noch keins gehabt hatte, und die Pantoffeln waren ganz golden. Als es in dem Kleid zu der Hochzeit kam, wußten sie alle nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Der Königssohn tanzte ganz allein mit ihm, und wenn es einer aufforderte, sprach er »das ist meine Tänzerin.« Als es nun Abend war, wollte Aschenputtel fort, und der Königssohn wollte es begleiten, aber es ent sprang ihm so geschwind, daß er nicht folgen konnte. Der Königssohn hatte aber eine List gebraucht, und hatte die ganze Treppe mit Pech bestreichen lassen: da war, als es hinabsprang, der linke Pantoffel des Mädchens hängen geblieben. Der Königssohn hob ihn auf, und er war klein und zierlich und ganz golden. Am nächsten Morgen ging er damit zu dem Mann und sagte zu ihm »keine andere soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh paßt.« Da freuten sich die beiden Schwestern, denn sie hatten schöne Füße. Die älteste ging mit dem Schuh in die Kammer und wollte ihn anprobieren, und die Mutter stand dabei. Aber sie konnte mit der großen Zehe nicht hineinkommen, und der Schuh war ihr zu klein, da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach »hau die Zehe ab: wann du Königin bist, so brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen.« Das Mädchen hieb die Zehe ab, zwängte den Fuß in den
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Schuh, verbiß den Schmerz und ging heraus zum Königssohn. Da nahm er sie als seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Sie mußten aber an dem Grabe vorbei, da saßen die zwei Täubchen auff dem Haselbäumchen und riefen »rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuckk (Schuh): Der Schuckk ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.« Da blickte er auff ihren Fuß und sah, wie das Blut herausquoll. Er wendete sein Pferd um, brachte die falsche Braut wieder nach Hause und sagte, das wäre nicht die rechte, die andere Schwester solle den Schuh anziehen. Da ging diese in die Kammer und kam mit den Zehen glücklich in den Schuh, aber die Ferse war zu groß. Da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach »hau ein Stückk von der Ferse ab: wann du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen.« Das Mädchen hieb ein Stückk von der Ferse ab, zwängte den Fuß in den Schuh, verbiß den Schmerz und ging heraus zum Königssohn. Da nahm er sie als seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Als sie an dem Haselbäumchen vorbeikamen, saßen die zwei Täubchen darauff und riefen »rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuckk (Schuh): Der Schuckk ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.«
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Er blickte nieder auff ihren Fuß und sah, wie das Blut aus dem Schuh quoll und an den weißen Strümpfen ganz rot heraufgestiegen war. Da wendete er sein Pferd und brachte die falsche Braut wieder nach Haus. »Das ist auch nicht die rechte,« sprach er, »habt ihr keine andere Tochter?« »Nein,« sagte der Mann, »nur von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines verbuttetes Aschenputtel da: das kann unmöglich die Braut sein.« Der Königssohn sprach, er sollte es heraufschicken, die Mutter aber antwortete »ach nein, das ist viel zu schmutzig, das darff sich nicht sehen lassen.« Er wollte es aber durchaus haben, und Aschenputtel mußte gerufen werden. Da wusch es sich erst Hände und Angesicht rein, ging dann hin und neigte sich vor dem Königssohn, der ihm den goldenen Schuh reichte. Dann setzte es sich auff einen Schemel, zog den Fuß aus dem schweren Holzschuh und steckte ihn in den Pantoffel, der war wie angegossen. Und als es sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht sah, so erkannte er das
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4.1
schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte, und rieff »das ist die rechte Braut.« Die Stiefmutter und die beiden Schwestern erschraken und wurden bleich vor Ärger: er aber nahm Aschenputtel aufs Pferd und ritt mit ihm fort. Als sie an dem Haselbäumchen vorbeikamen, riefen die zwei weißen Täubchen »rucke di guck, rucke di guck, kein Blut im Schuck: Der Schuckk ist nicht zu klein, die rechte Braut, die führt er heim.« Und als sie das gerufen hatten, kamen sie beide herabgeflogen und setzten sich dem Aschenputtel auff die Schultern, eine rechts, die andere links, und blieben da sitzen. Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und teil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite: da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie herausgingen, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auff ihr Lebtag bestraft. P. S.: Neben dieser Fassung der Brüder Grimm3 gibt es viele Vorläufer mit abweichender Erzählweise. Bettelheim4 nennt über 200 Fassungen. Die einflussreichste Version publiziert der französische Märchensammler Charles Perrault5 unter dem Titel „Cendrillon ou la petite pantoufle de verre“ (1697). Sie wählte Walt Disney für seine amerikanische „Cinderella“; und sie prägte die Oper „La cenenterola ossia la bonta in trionfo“ von Rossini6 (1817). Sie ist gefälliger und wohlwollender, auch kürzer, anspruchsloser, fremdbestimmter und weniger spannend als die der Grimms.
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.1
Zielsetzung dieses Kapitels
4.1.1
Erkenntnisobjekte und –ziele
Seit über zwanzig Jahren behandeln Managementforschung und -praxis verstärkt das Vertrauensthema, dabei bevorzugt Fremdvertrauen. Vernachlässigt bzw. kritisch diskutiert7 blieb der Einfluss von Selbst- auff Fremdvertrauen. Dies auch, weil für die beiden Aspekte verschiedene Theorieansätze verwendet werden. Die neuere europäische Märchenforschung8 konzentriert sich neben der philologischen Erzählforschung auff tiefenpsychologische Interpretationen nach C. G. Jung.9 In vielen – nicht nur in deutschen – Publikationen werden Grimms Märchen zugrunde gelegt. Mit unserer Auswahl greifen wir eine spezielle Fragestellung auf. Sie befasst sich über eine Analyse dieser „Märchen–Fallstudien“ mit dem Selbstvertrauen und seiner Verbindung zum Fremdvertrauen bei Märchenheldinnen und -helden, also einer besonderen Zielgruppe (virtuell) erfolgreicher junger Menschen und Vorbilder. Diese Analysen dürften etwa die gleiche empirische Beweiskraft haben wie die in der Psychologie – und neuerdings auch in der Managementforschung – so beliebten „Case Studies“. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen folgende Fragen:
Welche Einflussfaktoren bestimmen das Selbstvertrauen und welche werden in der wissenschaftlichen Diskussion vernachlässigt?
Inwieweit kann Selbstvertrauen eine ähnlich stabile Persönlichkeitsdisposition für das meist nur als situativ-volatil diskutierte Fremdvertrauen bilden?
Wieweit beeinflusst diese Disposition zum Fremdvertrauen die Abhängigkeitt vom Verhalten anderer und damit auch das eigene Verhalten in Vertrauenssituationen?
Was können wir dabei aus Märchen lernen – auch für das Management?
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Zielsetzung g dieses Kapitels
4.1.2
4.1
Vision, Verantwortung, Vorbild, Vertrauen als Managementschlagworte
In der Managementdiskussion kann man vier besonders häufig gebrauchte wie auch missbrauchte Schlagworte ausmachen. Sie stehen mit ihrem auch symbolischen Anfangsbuchstaben „V“ zugleich als „Siegeszeichen“ für Führungserfolg: Vision, Vorbild, Verantwortung, Vertrauen. Alle vier werden mit Vorliebe in Sonntagsreden gefordert und als zu wenig gelebt kritisiert. Visionen, Verantwortung und Vorbilder sind ohne Vertrauen langfristig nicht realisierbar, denn dieses bildet die Grundlage des sozialen Zusammenlebens. Charismatischen Führungskräften werden Vision, Verantwortung, Vorbild und Vertrauen zugeschrieben. In einer Schrift über den Polarforscher Ernest Shackleton10 heben seine Mitarbeiter wie heutigen Bewunderer solche Eigenschaften hervor. Besonders beeindruckten sie dessen unerschütterliches Selbstvertrauen und seine „Nehmerqualitäten“ in den lebensgefährlichen und teilweise auch erfolglosen Unternehmen mit seinem Expeditionsschifff „Endurance“. Zur Bedeutung dieser bewussten Namensgebung später mehr.
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4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.2
Grimms Aschenputtel – unter Aspekten von Vertrauen und Management
Zunächst werden zwei Themen angesprochen: Mobbing und Emanzipation.
4.2.1
Aschenputtel – Mobbing im Familienbetrieb
„Aschenputtel“ ist auch eine üble, im modernen Arbeitsleben so kaum, in bestimmten Familienkulturen der Welt aber immer noch gut vorstellbare Mobbinggeschichte mit einer bemerkenswerten Heldin und einem alttestamentarischen Schluss für die Stiefschwestern: „Auge um Auge“. Wo bleibt da die „Gerechtigkeit“, fragen sich Kinder sowie auch theologisch fundierte Interpreten des Märchens.11 Werden die schlimmen Eltern etwa aus biedermeierlicher Familienraison klammheimlich amnestiert? Die Theologen schreiben dazu, es sei schon die schlimmste Strafe für die Rabeneltern, sang- und klanglos von der Bildfläche zu verschwinden. Ob das Kinder und Erwachsene überzeugen kann? Aschenputtel muss Übermenschliches ertragen – im gesamten Beziehungsumfeld: der frühe Tod der geliebten Mutter, die sadistische Stiefmutter und deren gleich geartete Kinder sowie der herzlose bis brutale eigene Vater. Eine Begründung kann darin liegen, dass früher in bestimmten Kulturkreisen das jüngste Kind erbberechtigt war. Das mag den Neid des Familienclans und die Folgen erklären. Das Märchen eignet sich auch als Fallbeispiel für den „Umgang mit Krisen – am Beispiel eines Familienbetriebs“. Aschenputtel könnte dabei als Vorbild dienen. Schon gegenüber seinen Mobbern verhält es sich nach Neuberger12 theoretisch optimal: „… zugunsten der Suche nach Verständnis und grundsätzlicher Lösung wird das konkrete Handeln aufgeschoben ... es muss aktiv vorgegangen werden, aber nicht blind, sondern reflektiert – und in dieser Reflexionsarbeit kann Theorie unterstützen.“ Zählt solche (Familien- bzw. Firmen-) Loyalität und reflektierte Menschlichkeit noch heute? Das beantwor-
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Vertrauen und d Management bei Aschenputtel
4.2
tete z. B. jüngst ein Schweizer Bankencheff so: „Wenn Sie Loyalität suchen, dann kaufen Sie sich einen Hund!“. In tiefenpsychologischen Interpretationen von Aschenputtel mit möglichem Bezug zur Personalentwicklung gibt es neben Schnellschüssen13 fundierte Analysen, v. a. die von Drewermann.14 Eine zentrale These ist dabei die Identitätswahrung (z. B. der Menschenwürde) auch in Phasen grösster Erniedrigung sowie die Identitätsfindung durch Bestätigung und Achtung von Bezugspersonen. Drewermann grenzt davon auch den „amerikanischen Traum“ von der positiven „selbsterfüllenden Prophezeiung“ ab, mit der man alles werden könne, wenn man nur an sich und seine Karrieremöglichkeiten glaube.15 Ebenso kritisiert er beliebte Deutungsroutinen nach C. G. Jung, die z. B. auch Kast einsetzt: „Das Auslesen der Linsen meint hier, dass Aschenputtel lernen soll, Gut und Schlecht voneinander zu unterscheiden …“ Danach muss Aschenputtel in der bösen und feindlichen Umwelt noch ihre dunklen Seelenanteile erkennen und an ihnen arbeiten.16 Dazu sein Kommentar: „Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Es geht an dieser Stelle nicht darum, Menschen, die sich ohnedies schon seelisch in der Küche oder im Keller fühlen, jetzt auch noch zu beschuldigen, sie seien im Grunde nach dem Vorbild der Stiefschwestern hochnäsig, überanspruchsvoll und eingebildet.17“ Immer wieder finden sich solche Argumentationen gegenüber Mobbingopfern, insbesondere bei Diskussionen zur Schuldfrage. Die junge Frau muss dieses extrem belastende Problem zunächst ganz alleine bewältigen. Heute würden ihr Kollegen, Betriebsräte, Gewerkschaftsvertreter, Arbeitsgerichte, Medien und Öffentlichkeit zur Seite stehen. Sie zeigt dabei eine bemerkenswerte Fähigkeit und Vertrauensbereitschaft zum Erdulden. Einziger Trost bleibt die Kommunikation mit der verstorbenen Mutter. Aber Aschenputtel beschränkt sich nicht auff „Endurance“. Als es von der öffentlich gemachten Absicht zur „freundlichen Übernahme“ des elterlichen KMU durch das grösste und angesehenste Familienunternehmen des Landes (das Königreich) hört, strebt es beharrlich und initiativ seine persönliche Mitwirkung und Einbindung an – gegen erhebliche Widerstände der übrigen „Gesellschafter“. Dabei stellt es sich mit grossem Kompetenz- und Schicksalsvertrauen noch einer perfiden Probe seines Familienclans, dem sog. „Linsensortiertest“. Mit Hilfe der himmlischen Tauben besteht es ihn.
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Zweitens unterzieht es sich einer vom „übernahmewilligen Unternehmen“ verlangten Evaluation aller „High-Potentials“ („Prinzenbälle“). Es besteht diese Prüfungen mit Bravour. Dazu tragen die ihm zugesprochenen Werte (Schönheit und Tugend) sowie seine statusfördernden Ressourcen (z. B. Schmuck, Kleider) wesentlich bei. Drittens führt Aschenputtel selbst und ohne Ankündigung eine dreimalige Evaluation des künftigen „CEO’s“ durch. Es entzieht sich dabei elegant seinen besitzergreifenden „Übernahmeangeboten“. Damit kann es die Dauerhaftigkeit und Belastbarkeit der lnteressenlage des in Liebe entflammten „Kronprinzen“ sowie der damit verbundenen Firma abwägen sowie die mögliche Zusammenarbeit in der angestrebten gemeinsamen „Geschäftsleitung“ besser einschätzen. Dabei übersteht es massive Angriffe des eigenen „Seniorchefs“ (Vater), ohne entmutigt aufzugeben. Viertens unterzieht es sich mit Erfolg noch einem letzten Eignungstest (dem sog. „Schuh-Assessment“), zu dem der ganze Kreis der Bewerberinnen aufgefordert wird. Dabei legt es auch seinen bisherigen beeinträchtigten Status selbstvertrauend offen, womit es weitere Pluspunkte sammelt. Abschliessend löst es sich ganz aus seinem bisherigen maroden Familienbetrieb und wechselt in die Leitung der übernehmenden „Familienholding“. Bei allen Erniedrigungen, Prüfungen und Reaktionen zeigt Aschenputtel eine bemerkenswerte Mischung von klugem Erdulden und mutig-initiativem Handeln nach dem Motto: „Endure it, change it, leave it“ – und später wohl „love him“.
4.2.2
Aschenputtels Emanzipation
Nun zu emanzipatorisch diskutierten Interpretationen von Aschenputtel. Eine stammt vom Politologen Fetscher, er verfasste sie, wie er in seinem Vorwort schrieb, während endloser Sitzungen in Selbstverwaltungsorganen der dafür berüchtigten Frankfurter Universität in den siebziger Jahren!18 Er fand Grimms Märchen zu „platt optimistisch“ und zog den Schluss: „Man muss das Märchen aktivieren, wenn es emanzipatorisch wirken soll.“ Dies geschieht in seinem „Märchenbuch“ zwar kaum tiefgründiger, dafür amüsant:
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Vertrauen und d Management bei Aschenputtel
4.2
Das ausgebeutete Stiefkind trifft sich mit anderen Dienstmägden am Brunnen, sie beschliessen kurz vor Weihnachten eine Arbeitsniederlegung. Diese Solidarität konterkariertt die spontane Entlassungswelle der betroffenen Dienstherren, denn es findet sich so schnell kein Ersatz. Aschenputtel gründet eine Hausmägde- und Dienergewerkschaft. Das Motto: „Alle Besen stehen still – wenn unser Arm nicht kehren will.“ Davon hört der Kronprinz mit seinem „Sinn für das Volk“, er ist beeindruckt und bittet um die Hand des Mädchens. Sie aber verweigert eine Heirat über ihrem Stand und verlangt stattdessen, die mittelalterliche Gesindeordnung aufzuheben. Der König lehnt entrüstet ab, der Kronprinz entleibt sich und Aschenputtel emigriert nach ihrer Gefängnisstrafe nach Amerika, wo es weder Könige noch Prinzen gibt. Solche managementrelevanten Publikationen finden sich auch in jüngerer Zeitt – so von F. Berger,19 der manche Idee von Fetscher übernimmt. Zusammenhänge zwischen n Selbst- und Fremdvertrauen oder damit verbundene Kompetenzen zum Ertragen von Krisensituationen fehlen ebenso wie Hinweise, warum und inwieweit Menschen sich selbst und ohne so feindliches Umfeld zu einem „Aschenbrödel“ oder „Aschenputtel“ machen. Dies hat die amerikanische Journalistin Dowling20 etwa zur gleichen Zeit wie Fetscher thematisiert. Das zeigt schon der Titel: „Der Cinderella-Komplex – Die heimliche Angstt der Frauen vor der Unabhängigkeit“. Dowling vertritt die These, das weibliche Geschlecht lerne schon in der Kindheit, klein beizugeben, blinde Ergebenheit besonders gegenüber verehrten Vätern zu zeigen und dabei vom depressionsfördernden Lebensskript „erlernte Hilflosigkeit“21 beherrscht zu werden: „Wie Aschenputtel im Märchen wartet auch die heutige Frau noch auff den rettenden Prinzen, sie leidet am ,Cinderella-Komplex’“, denn … „im tiefsten Inneren will ich nicht selbst für mich sorgen. Ich möchte, dass es jemand anders tut.“22 Dowling berichtet in ihrem Bestseller über ihre eigene Sozialisationsgeschichte sowie über dazu recherchierte Fallbeispiele von intelligenten, leistungsmotivierten und am Vater orientierten Frauen in den USA. Auch wenn sich in den letzten 25 Jahren gerade in den USA A viel geändert hat und „Frauen im Management“23 zumindest in vielen Teilen der westlichen Welt zunehmend vertreten sind, dürften ähnliche Sozialisationsmuster in manch grosser Population der
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Erde noch heute vorherrschen. Aber mit dem Aschenputtel in der Version der Brüder Grimm hat dieser „Komplex“ wirklich kaum etwas gemein. Eher gilt das Gegenteil, weshalb der Verfasserin zu raten wäre, dafür z. B. lieber Dornröschen (KHM 50) als Aufhänger für einen „Sleeping Beauty Complex“ zu wählen.’
4.3
Selbstvertrauen in Märchen und Management
4.3.1
Überblick
Aussergewöhnliches Selbstvertrauen charakterisiert viele „Heldinnen und Helden“ in Märchen und in Sagen. Und sie zeigen sich bemerkenswert unabhängig vom Fremdvertrauen in ihre Interaktions- bzw. Vertragspartner. Sie wollen auch Vorbilder für junge Menschen sein. Dann vermitteln sie als Identifikationsobjekte durch ihr Verhalten kulturelle Werte und Handlungsmaximen (z. B.: “Vertraue dir selbst“, „Hilff dir selbst“, „Lass dir helfen“ oder eben auch „Hilff anderen“). Bei der Frage nach Vorbildern nennen Jugendliche wie Erwachsene neben Stars aus verschiedenen Lebensbereichen noch häufiger altruistische Helfer. Und ebenso sind es (Er-)Dulder – nicht nur im Christentum. Diese Vorbilder bilden dann einen Kern des sog. „Kindheits-Ichs“, der im „Erwachsenen-Ich“ noch weiter wirkt. Märchenhelden lassen sich als jugendliche Pendants zu den „Great WoMen“ der Managementpraxis und -forschung verstehen. Sie führen mehr sich als andere, leben „Visionen“, zeigen Selbstvertrauen, Dulder- und Handlungskompetenzen und kompensieren physische wie professionelle Unterlegenheit durch kreative Problemlösungen sowie durch Knüpfen sozialer Netzwerke. Märchen können insoweit eine Art Führungs- und Kooperationslehre für Heranwachsende („Leadership for Kids“) bilden. Dazu zählen Antworten auff die Fragen: „Wie gehe ich mit Mächtigen um?“ („Managing the Boss“), „Was sind sinnvolle Formen der Zusammenarbeit?“, „Wie führe ich mich selbst?“ oder „Was kennzeichnet eine
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Selbstvertrauen in Märchen und d Management
4.3
Person mit hohem Selbstvertrauen?“ und „Welchen Einfluss hat Selbstvertrauen auff mein Fremdvertrauen und Handeln?“ Die (differentielle) Persönlichkeitspsychologie sowie Manager beantworten noch heute die Frage: „Was bestimmt den Erfolg einer Führungskraft“ bevorzugtt mit Persönlichkeitsmerkmalen. Ähnliches gilt für die Ermittlung von Selbstvertrauen. Für unsere Diskussion bevorzugen wir einen lerntheoretisch erweiterten Eigenschaftsansatz.24 Er geht von Persönlichkeitsmerkmalen aus, die durch Gene und frühe Sozialisation wesentlich geprägt sind, die aber durch lebenslange Lernprozesse weiter beeinflusst werden (können). Im Folgenden werden zum Selbstvertrauen Beschreibungsansätze referiert und entwickelt sowie Forschungsergebnisse zum Selbstvertrauen und ihre Verbindung zum Fremdvertrauen diskutiert. Dazu dienen Märchen der Sammlung Grimm, insbesondere Aschenputtel (KHM 21), sowie Beispiele aus dem Management.
4.3.2
Begriffsumschreibungen zum Selbstvertrauen
Selbstvertrauen wird z. B. von Neuberger als Überzeugung „in Bezug auff die eigene Fähigkeit definiert, Handlungsabläufe zu organisieren und auszuführen“.25 Es wird in der Literatur – wie oben zitiert – meist auff „internales“ Selbstvertrauen reduziert. Diese Auffassung wird hier nicht vertreten. Auch Deutsch26 fokussiert seinen Vertrauensbegrifff auff die Bereitschaft (das Risiko) zur eigenen Verwundbarkeitt durch andere, deren Wirkung aber oft kaum kontrollierbar ist und die auch mehr Schaden als Nutzen stiften kann. Eine solche „akzeptierte Verletzbarkeit“ trifft die Situation von Märchenhelden besonders. Denn sie riskieren meist Kopff und Kragen für unbekannte, dazu meist unzuverlässige Auftraggeber. Und sie müssen oftt schwere und lange Vertrauensverletzungen erdulden, bevor sie diesen aktiv begegnen können. Beim „internalen Selbstvertrauen“ unterscheiden wir:
Kompetenzvertrauen. Damit fühlt man sich sachlich-fachlichen Anforderungen grundsätzlich gewachsen – auch ohne professionelle Ausbildung oder Erfahrung (z. B. viele Märchenhelden).
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Andererseits sichern ausgewiesene formale Qualifikationen subjektiv noch kein Kompetenzvertrauen.
Soziales Selbstvertrauen. Hier werden auch riskante Beziehungen eingegangen, und die Bedeutung von Vertrauensverletzungen wird eher niedrig gewichtet („akzeptierte Verletzbarkeit“). Und sollten diese eintreten, dann wird deshalb die Interaktion nicht gleich beendet. Das charakterisiert „Stars“ in Märchen besonders.
Umsetzungsvertrauen. Bei der Umsetzung von Zielen oder Aufgaben spielt man nicht lange den „Hamlet“, sondern lebt die Devise des tapferen Schneiderleins (KHM 20) sowie vom klugen Schneiderlein (KHM 114, S. 557): „Frisch gewagt ist halb gewonnen.“ Entschlossenes, aber dabei auch unreflektiertes Handeln charakterisiert viele Märchenhelden – nicht aber Aschenputtel! Dieses internale Selbstvertrauen kann durch ein ebenfalls persönlichkeitstypisches und somit relativ stabiles Zutrauen in externe Unterstützung ergänzt werden. Wir bezeichnen es als „externales Selbstvertrauen“, verstehen es als stabilen Kern des Fremdvertrauens und differenzieren in:
Schicksalsvertrauen. Dieses rechnet mit günstigen Sternen oder dem Beistand von höheren Mächten. Damit werden auch schwierige Situationen besser ertragen.
Netzwerkvertrauen. Es begründet die Überzeugung, dass man auch auff dieser Erde Freunde und Helfer in der Not zur erfolgssichernden Unterstützung seiner Vorhaben gewinnen kann bzw. wird. Die Formen eines external gespeisten Selbstvertrauens – fatalistisch oder sozial orientiert – verstehen wir als reife Ergänzungen zu einem nur autonomen (bis autistischen) Vertrauen. Denn hier wird das Beziehungsumfeld zur Stärkung der persönlichen Kontrollüberzeugung einbezogen. Der Einzelne – auch der Held – wird somit als Mängelwesen verstanden, das nur als „homo socialis“ überleben kann.
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Davon ist noch ein „volatiles Selbstvertrauen“ abzugrenzen, das besonders durch Anerkennung, Ermutigung, Erfolgserlebnisse und wohlwollendes Verhalten anderer gefördert wird. Darauff wird hier aber nicht weiter eingegangen.
Selbstvertrauen in Märchen und d Management
4.3
In Märchen findet sich die Kombination von internal und external begründetem Selbstvertrauen häufig – besonders beim Aschenputtel.
4.3.3
Beispiele zur Erfassung der fünf Selbstvertrauensdimensionen
Solche „Operationalisierungen“ wollen Anschaulichkeit und Messbarkeit abstrakter Definitionen verbessern und über deren Inhalt, Reichweite und Erfassungsmöglichkeiten informieren. Ein Messinstrument für Selbstvertrauen ist damit weder entwickelt noch empirisch geeicht. Zunächst zum schon diskutierten „internalen Selbstvertrauen“:
Kompetenzvertrauen stärkt die Überzeugung: „Bei Schwierigkeiten finde ich selbst eine Problemlösung“, oder: „Mit meiner Ausbildung und Erfahrung löse ich auch neuartige Aufgaben“.
Mit sozialem Selbstvertrauen glaubt man: „Mich bringt nicht so leicht jemand aus der Fassung“, „Gestörte Beziehungen kann ich ertragen“, oder: „Auch bei Vertrauensverletzungen finde ich eine gute Lösung“.
Beim handlungsorientierten Umsetzungsvertrauen leiten Maximen wie: „Es fällt mir nicht schwer, meine Ziele umzusetzen“, oder eben: „Frisch gewagt ist halb gewonnen“.
Am tiefsten verankert und sehr früh geprägt ist das soziale Selbstvertrauen. Es entspricht weitgehend dem sog. „Urvertrauen“ nach Erikson bzw. der erlebten Eltern-Kind-Bindung bzw. -Bestätigung nach Bowlby. Dieses Vertrauen wird als „innere Gewissheit von Verlässlichkeit, Verfügbarkeit und positiver Antwortbereitschaft der wesentlichen Bezugspersonen“ verstanden.27 Es stimmt auch mit einer der fünff klassischen Persönlichkeitsvariablen („Big Five“)28 überein – „emotionale Stabilität“ genannt. Letztere prägt unsere Märchenhelden erkennbar – auch im Ertragen von Vertrauensverletzungen! Nun zur Operationalisierung des „externalen Selbstvertrauens“: Fatalistisches Selbstvertrauen gründet auff der grundsätzlichen – nicht nur situativen – Überzeugung, dass es Hilfe durch ein günsti-
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Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
ges bzw. gütiges Schicksal gibt. Die Erfassung könnte so operationalisiert werden: „Ich bin mit einer Glückshaut geboren“, „Mit Gottes Hilfe wird mir das gelingen“, „Die Sterne stehen für mich günstig“ bzw. „Als Glückspilz kann ich auch mal eine Pechsträhne ertragen“. Soziales Netzwerkvertrauen rechnet generell mit dem Beistand von sozialen Bezugspartnern: „Da hilft mir schon jemand“, „Zwei kommen leichter durch die Welt“, „Bei Problemen lässt man mich nicht im Regen stehen“.
4.3.4
Zwei Ausprägungen von unternehmerisch fundiertem Selbstvertrauen
Den diskutierten Hauptformen eines internalen sowie auch externalen Selbstvertrauens entsprechen in Grimms Märchen zwei erfolgreiche unternehmerische Typen:29
Die kreativ-autonomen Unternehmer (Intrapreneure). Diese „Intracorporate Entrapreneurs“30 verlassen sich auff ihre „Selbstwirksamkeit“, insbesondere auf ihre kreative bis trickreiche Problemlösungsfähigkeit (z. B. Doktor Allwissend (KHM 98), Der Meisterdieb (KHM 192)). Im Extremfall lehnen sie sogar fremde Hilfe ab. Den Extremtyp verkörpert Das tapfere Schneiderlein (KHM 20), das beim Fangen des Einhorns wie des ebenso gefürchteten Wildschweins die dafür vom König angebotene Unterstützung durch Soldaten und Jäger rundweg ablehnt. Hier erkennen wir die von Allmachtsphantasien („Die ganze Welt soll’s erfahren!“) gespeiste Inkarnation eines ausschliesslich internalen Selbstvertrauens. Bei seinem letzten Streich ist der Schneider übrigens doch nur erfolgreich, weil ein ihm zugetaner Diener des Königs dessen Plan zu seiner Abschiebung aus dem Reich verrät.31
Ebenso autonom und trickreich verhält sich Der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812), der seinem Herrn (es ist der einfältige, aber willfährige Müllerssohn) den Weg zum Thron (inkl. Königstochter und Ländereien des überlisteten Zauberers) ebnet. Dafür macht er Karriere als erster Minister unter seinem von ihm so erfolgreich gemanagten Boss. Viele Definitionen von Selbstvertrauen
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Selbstvertrauen in Märchen und d Management
4.3
reduzieren sich auff diese „internale Dimension“. Helden in Sagen gehören meist zu diesem Typus.
Die sozialen Mitunternehmer („Co-Intrapreneure“). Sie zählen zusätzlich auff Hilfe „von oben“ oder aus ihrem Umfeld. Im Gegensatz zu den vorher auch sog. „Tricksern“ zeigen sie oft weniger kreative Problemlösungskompetenz, dafür aber viel altruistische Sozialkompetenz und bewältigen so ihre schwierigen Aufgaben zusammen mit anderen. Diese Helden dominieren im Märchen. Sie werden zuweilen sogar als „Dummlinge“ verlacht, wenn sie z. B. als die meist jüngsten Geschwister den letzten Versuch wagen wollen oder sollen (vgl. z. B. Der arme Müllersbursch und das Kätzchen (KHM 106), Der goldene Vogel (KHM 57), Das Wasser des Lebens (KHM 97), Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (KHM 4)). Aber sie haben Erfolg, weil sie zuvor hilfsbedürftigen Menschen oder Tieren ohne erkennbare Berechnung auff Gegenleistung halfen (vgl. z. B. die jüngste Tochter im Waldhaus (KHM 169) oder der Bärenhäuter (KHM 101)) oder weil sie mitfühlende Helfer finden. Diese unterstützen sie dann, sei es mit wundersamen Waffen, Transport über weite Strecken oder geschickter Informationsbeschaffung (vgl. z. B. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29) oder Rumpelstilzchen (KHM 55)). In den Märchen findet sich also internales mit externalem Selbstvertrauen kombiniert, z. B. in die eigene Fähigkeit und Motivation zum Ertragen und zum aktiven Bewältigungshandeln sowie in überirdischen Beistand (besonders in Aschenputtel (KHM 21)) oder die Motivation, über „Dissonanzabbau“ unvorteilhafte Situationen als günstige zu deuten (vgl. z. B. Hans im Glück (KHM 83) – so interpretieren psychoanalytische Märchenforscher gerne).32
99
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.4
Zur Beschreibung und Messung von Selbst- und Fremdvertrauen
4.4.1
Beschreibungsansätze zum Selbstvertrauen
Selbstvertrauen fördert eine personenspezifische wie vorwiegend stabile Überzeugung, auch mit risikoreichen und persönlich verletzungsanfälligen Interaktionen bzw. Situationen zurechtzukommen. Diese Überzeugung kann sowohl internal (kompetenzbezogen, emotional oder aktional) begründet als auch external (fatalistisch oder sozial) beeinflusst sein. Davon unterscheidet sich dann noch das volatile Fremdvertrauen in eine spezifische Handlungssituation – z. B. in Aufgaben, Personen oder Institutionen. Neuberger33 verweist auff eine Messkonzeption von Schwarzer34 mit der Beurteilung: „Sie liest sich wie ein Anforderungskatalog an Führungskräfte.“ Die hiermit zu messende sog. „generelle Kompetenzerwartung“ beschränkt sich aber auff internales Selbstvertrauen. Sie arbeitet mit zehn Verhaltensbeschreibungen, die übrigens auch Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) charakterisieren: 1. Die Lösung schwieriger Probleme gelingt mir, wenn ich mich darum bemühe. 2. Wenn mir jemand Widerstand leistet, finde ich Mittel und Wege, mich durchzusetzen. 3. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, meine Absichten und Ziele zu verwirklichen. 4. Auch bei überraschenden Ereignissen glaube ich, dass ich gut damit zurechtkommen werde. 5. In unerwarteten Situationen weiss ich immer, wie ich mich verhalten soll. 6. Für jedes Problem habe ich eine Lösung. 7. Schwierigkeiten sehe ich gelassen entgegen. 8. Wenn ich mit einem Problem konfrontiert werde, habe ich meist mehrere Ideen, wie ich damit fertig werde.
100
Zurr Beschreibung g und d Messung g von Selbst- und d Fremdvertrauen
4.4
9. Werde ich mit einer neuen Sache konfrontiert, weiss ich, wie ich damit umgehen kann. 10. Was auch immer passiert, ich werde schon klarkommen. Im Sinne einer Arbeitsdefinition verstehen wir Selbstvertrauen als eine relativ stabile, aber reflexionsfähige Persönlichkeitsdisposition mit akzeptierter Verletzbarkeit. Selbstvertrauen wird dabei internal begründet durch Vertrauen in eigene Problemlösungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenzen und external in Vertrauen auff ein hilfreiches Umfeld (vgl. Abb. 22).
Abbildungg 22
Konzept zum Selbstvertrauen
Selbstvertrauen
internales Selbstvertrauen
Kompetenzvertrauen
4.4.2
Sozialvertrauen
externales Selbstvertrauen
Umsetzungsvertrauen
Schicksalsvertrauen
Netzwerkvertrauen
Messansätze zum Fremdvertrauen
In der Literatur werden viele Ansätze zur Messung von Vertrauen diskutiert.35 Ganz überwiegend wird hier aber nur Fremdvertrauen thematisiert und dann bevorzugt interpersonelles Fremdvertrauen – selten institutionelles (z. B. in Werte, Normen, Gesetze). Der Schwerpunkt liegt auff der subjektiven Einschätzung des erlebten oder erwarteten Verhaltens des Vertrauensgebers durch den Vertrauensnehmer.36
101
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Der Ansatz von Rotter:37 Rotter versteht Vertrauen als die Erwartung, sich auff Versprechen verlassen zu können. Er hat als einer der wenigen den Einfluss von Selbst- auff Fremdvertrauen theoretisch und in seinem Messinstrument zu „Interpersonal Trust“ zu berücksichtigen versucht. Sein Ansatz blieb aber inhaltlich und methodisch umstritten38 bzw. unbeachtet.
Die Vorschläge von Butler und Schweer:39 Butlers viel zitiertes Vertrauenskonzept differenziert Verhaltensvoraussetzungen für vertrauensvolle Bezugspersonen („Vertrauensgeber“) aus der Sicht von Vertrauensnehmern: Konsistenz und Vorhersehbarkeit – Erfüllung von Versprechen – faires Verhalten – loyales und wohlmeinendes Verhalten – ehrlich und integer – diskret und verschwiegen – für Ideen ansprechbar – offener Meinungsaustausch – Fach- und Sachkompetenz – ist da, wenn er/sie gebraucht wird. Schweer konzentriert sich in seinem Ansatz auff Lehrer und Schüler. Mit über tausend Befragten extrahierte er fünff vertrauensfördernde Dimensionen des Lehrerverhaltens: Persönliche Zuwendung – fachliche Kompetenz und Hilfe – Respekt – Zugänglichkeit – Aufrichtigkeit.
4.4.3
Unser Beschreibungsansatz zum Fremdvertrauen
Vorgängig einige Begründungen – aus Sicht der Vertrauensnehmer – zu der daraus abgeleiteten Arbeitsdefinition von Fremdvertrauen: a) Selbstvertrauen resultiert aus der relativ stabilen Einschätzung der eigenen Person (internales Kompetenz-, Sozial-, Umsetzungsvertrauen) sowie external aus generellem Zutrauen in bestimmte Umfeldeinflüsse (Schicksals- oder Netzwerkvertrauen). Dieses Selbstvertrauen korreliert positiv mit Zukunftsvertrauen. b) Vom externalen Selbstvertrauen ist noch ein situativ schwankendes („volatiles“) Fremdvertrauen in spezifische Personen, Aufgaben oder Institutionen zu unterscheiden. Dieses hängt von persönlichen Erfahrungen und damit verbundenen Bewer-
102
Zurr Beschreibung g und d Messung g von Selbst- und d Fremdvertrauen
4.4
tungen der Vertrauensnehmer ab. Einflussfaktoren zum Fremdvertrauen thematisieren die meisten „Trust Inventories“.40 c) Volatiles Fremdvertrauen beeinflusst aber auch das Selbstvertrauen – insbesondere bei schweren Verletzungen durch andere Personen oder Institutionen. Dieser Aspekt wird hier aber nicht weiter diskutiert, auch weil er in den analysierten Märchen weitgehend irrelevant ist. Denn die Heldinnen und Helden lassen sich selbst durch starke und wiederholte Verletzungen des Fremdvertrauens in ihrem Selbstvertrauen nicht erkennbar berühren. d) Auch das volatile Fremdvertrauen wird damit wesentlich vom – internal bzw. external begründeten – stabilen und persönlichkeitsspezifischen Selbstvertrauen geprägt. Dieses bildet den Kern eines stabilen und generellen Fremdvertrauens im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft. Hierzu werden folgende Menschenbilder diskutiert: „Trust, but verify“ oder „Mistrust in Trust“, Lenins „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“ oder Freiherr von Steins Maxime „Zutrauen veredelt den Menschen“. Diese prägen den Umgang mit Menschen wesentlich. e) In einer Arbeitsdefinition umschreiben wir damitt Fremdvertrauen als die von Erfahrungen und Erwartungen geprägte stabile sowie die auch situative Einschätzung eines wohlwollenden und verlässlichen Denkens, Fühlens und Handelns von Personen und Institutionen, besonders in wichtigen und risikoreichen Situationen. Neben situativen, spezifischen und volatilen Einflussfaktoren bleibt u. E. Fremdvertrauen damit wesentlich vom relativ stabilen, persönlichkeitsabhängigen Selbstvertrauen geprägt. Umgekehrt beeinflussen Erfahrungen mit und Erwartungen zum volatilen Fremdvertrauen ein relativ stabiles Selbstvertrauen. Dies bewirkt einen ständigen Interaktionsprozess zwischen Selbst- und Fremdvertrauen.
103
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.5
Wirkungen zwischen Selbst- und Fremdvertrauen
4.5.1
Aspekte positiver Wirkungen
Aspekte positiver Wirkungen werden gesehen in:
Vertrauensvolle „Eröffnung“ von Kooperationsbeziehungen, die kooperatives Verhalten der Partner begünstigt – v. a. in längerfristigen Beziehungen.
Verstärkte Suche nach Kooperationspartnern und Netzwerken. Geringere Abhängigkeit von Fremdvertrauen und damit höhere Autonomie im eigenen Denken und Fühlen.
Leichtere Verarbeitung von Vertrauensbrüchen – z. B. durch Kompensation oder rationalere Bewältigung von gestörten Vertrauensbeziehungen.
Höhere Neigung, Chancen zu sehen, Risiken einzugehen, Fehlertoleranz und Innovation gerade in neuen Situationen zu wagen, grössere Bereitschaft zum Wandel sowie höhere Leistungsmotivation.
4.5.2
Aspekte negativer Wirkungen
Negative Wirkungen zeigen sich in folgenden Aspekten: a) bei überhöhtem Selbstvertrauen der Vertrauensnehmer:
Reflexionsarme Bewertung von möglichen oder eingetretenen Risiken in Beziehungen zu Personen, Institutionen und Aufgaben. Dies kann zu gefährlicher Vertrauensseligkeit (z. B. beim Schneewittchen) oder Tollkühnheit (z. B. beim tapferen Schneiderlein) führen.
Zu stark mit Autonomie verbundenes internales Selbstvertrauen beeinträchtigt die soziale Sensibilität und Bereitschaft zur Kooperation.
104
Selbst- und d Fremdvertrauen in Märchen
4.6
Überhöhtes professionelles Selbstvertrauen („Kompetenzvertrauen“) beschränkt die Informationssuche und reduziert die Delegationsbereitschaft. b) bei geringem Selbstvertrauen der Vertrauensnehmer:
Risikoaverses Misstrauen bei neuen Interaktionsbeziehungen bzw. Herausforderungen („Oberbedenkenträger“) oder auch nur gedankliche Grössenphantasien.
Überreaktionen bei Vertrauensbrüchen – oft mit Kooperationsabbruch.
Vermeiden von unbekannten Kooperationsbeziehungen und damit verbundene Selbstisolierung („einsame Entscheider“, „Küchenkabinette“).
Vermeidung oder Verzögerung von Innovationen. Diese Angst vor Risiko und Wandel hat z. B. Guttropf41 in einer Studie zur schweizerischen Innovationskultur erforscht. Wunderer/Weibler ermittelten in einer Kulturstudie für das schweizerische mittlere Managementt unter 60 beteiligten Ländern die grösste Risikoaversion!42
Hohe Abhängigkeit von externer Anerkennung und Hilfe, eingeschränkte Autonomie im Denken und Handeln sowie geringere Leistungsmotivation.
Überhöhtes Fremdvertrauen, z. B. in Opfer-Retter-Beziehungen.
4.6
Selbst- und Fremdvertrauen in Märchen
4.6.1
Fallbeispiele aus Grimms Märchen
Die analysierten Märchen stellen eindeutig auff persönlichkeitsspezifisches Selbstvertrauen ihrer Helden ab. Wie angesprochen, finden sich dabei die Varianten des internal und external begründeten Selbstvertrauens. Damit werden auch Enttäuschungen aus gewährtem Vertrauen in Personen, Aufgaben oder Tauschobjekte bewältigt.
105
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Typisch sind dafür folgende Beispiele: Häufig halten sich die Vertragspartner nicht an ihre Versprechungen und verlangen z. B. statt zunächst einer nun drei erfolgreiche Proben. Ebenso verhalten sich die ausgelobten „Preise“ (v. a. die Königstöchter) nicht erwartungsgemäss. Das erfahren z. B. Der Froschkönig (KHM 1) wie Das tapfere Schneiderlein (KHM 20): Beide Prinzessinnen wollen von diesen Märchenhelden nichts wissen, werfen sie an die Wand oder versuchen sie ins ferne Ausland abzuschieben. Und viele andere – z. B. in Tiere Verwandelte – müssen in Märchen Jahre geduldig wartend auf ihre Rettung vertrauen (z. B. Die sechs Schwäne (KHM 49)). Eine reflektierte und kalkulative Abschätzung der Handlungssituation kann man bei unseren „Great Kids“ nur selten erkennen. Es dominiert eine emotional wie aktional grosse Erfolgserwartung. Und schlechte Erfahrungen mit Personen oder Institutionen (z. B. Verträgen) spielen für ihre Handlungsmotivation meist keine entscheidende Rolle – ganz im Gegensatz zur herrschenden Vertrauensforschung. Die Helden in Märchen und Sagen43 scheinen insofern vom Fremdvertrauen weitgehend unabhängig zu sein! Statt sich über Vertrauensverletzungen zu beklagen, lautet die Antwort für den nächsten – wieder lebensgefährlichen – Auftrag: „Das ist ein Kinderspiel“ (Das tapfere Schneiderlein (KHM 20)). Oder jeder schlechte Handel wird – wie vom Hans im Glück (KHM 83) – in einen guten uminterpretiert.44 Das diskutiert die Psychologie als „Dissonanzabbau“. Damit werden die Ziele den Ergebnissen angepasst oder die Bedeutung von Verlusten und Enttäuschungen heruntergespieltt bzw. die positiven Aspekte hervorgehoben. Auch die Verdrängung von Enttäuschungen gehört dazu – ebenso ihre Kompensation durch neue Hoffnungen. Nicht nur Märchenhelden beherrschen dies. Eindeutige Fehlinvestitionen (z. B. bei Daimler-Benz seit Jahrzehnten) können auch vom Managementt positiv uminterpretiert werden. Diese Immunität gegenüber Verletzungen von Fremdvertrauen zeigt Züge von naiver Vertrauensseligkeit. Hiervon sollten sich Manager nicht leiten lassen. Doch zeigten das unseriöse Geschäft von Finanzhaien mit diesbezüglich vertrauensseligen Kundengruppen sowie manche sogenannte „strategische Investition“ in Milliardenhöhe (z. B. in der
106
Selbst- und d Fremdvertrauen in Märchen
4.6
Telekommunikationsbranche), dass auch oberste Manager nicht davor gefeit sind. In den analysierten Märchen leben „Mächtige“ (z. B. Könige) – sie werden oft von Ungeheuern bedroht – eine Kombination von hilfesuchender Unfähigkeit in Bedrohungssituationen (die Psychologie spricht hier von „Lageorientierung“) und kopf- bis wahlloser Suche nach Helfern. Sie verfügen allenfalls noch über Positionsautorität und hoffen auff Retter mit personaler Autorität, die sie mit höchsten Erfolgsprämien anlocken. Für die Auftragsvergabe genügt ihnen ein vermutetes emotionales und „handlungsorientiertes“ Selbstvertrauen der meist unprofessionellen „Helden“. Ihnen vertrauen sie dann sogar die eigenen Soldaten an. Im Erfolgsfall halten sie sich oft nicht an ihre Versprechen und verlangen weitere Leistungen. So wird ohne situativ fundiertes Fremdvertrauen beider Seiten mehrfach bis langfristig kooperiert (z. B. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20))! Viele Märchen demonstrieren die positiven Wirkungen von grossem Selbstvertrauen bzw. starker Unabhängigkeit von Fremdvertrauen. Der damit verbundene Erfolg ihrer Helden soll wohl Leser und Hörer in ihrem Denken und Handeln in gleiche Richtung beeinflussen. Ähnliche Absichten kann man vielen Schilderungen erfolgreicher Topmanager unterstellen. Diese „Märchen“ verdanken einen guten Teil ihrer Markterfolge der Suche nach „charismatischen Vorbildern“ mit oft überhöhtem Selbstvertrauen.45 In manchen Märchen werden die Hauptfiguren durch unglückliche Umstände mit Überforderungen konfrontiert, z. B. Schneewittchen (KHM 53) oder der Junge „mit der Glückshaut“ im Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29). Ihnen wird aber durch mitleidende Menschen geholfen, obgleich sie eher passiv bleiben. Dann zeigen sich noch Konstellationen, in denen Überforderte reziproke Hilfe erhalten. Weil sie Verletzte, Schwache oder Gefährdete altruistisch unterstützten, helfen ihnen diese später auch – z. B. dem Müllerssohn im gestiefelten Kater (KHM 33, 1812), der die Dulderrolle des dritten Erben mit vertrauensvollem Sich-helfen-Lassen verbindet.
107
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.6.2
Aschenputtels Vertrauensprofil
Eine beispielhafte Kombination – auch für das Management – von reaktiver Dulderrolle und aktiver Handlungsfähigkeit fanden wir beim Aschenputtel (KHM 21). Kast schliesst ihren Beitrag dazu so: „Darauff zu beharren, dass ich nicht durch und durch ein Aschenputtel bin, auch wenn niemand ausser mir diese Sicht teilt – das ist die grosse Leistung des Vertrauens in mich selbst.“46 Nur mit diesem stabilen Selbstvertrauen – in sich selbst und andere – kann Aschenputtel seine missgünstige und wortbrüchige Stiefmutter trotz langjähriger Enttäuschungen wieder bitten, den Prinzenball besuchen zu dürfen und sich dann noch dem infamen „Linsensortier-Test“ – mit Hilfe seiner Tauben – stellen. Nur so kann es eigenständig trotz des stiefmütterlichen Verbotes den Ball besuchen und sich mit Hilfe der Mutter im Himmel schöne Kleider beschaffen. Dieses Vertrauen hilft ihm auch, nach jedem der drei Bälle dem Prinzen zu entfliehen und die lebensbedrohenden Nachstellungen des eigenen Vaters zu ertragen. Im Vergleich dazu verharrt Dornröschen (KHM 50) in einer passivnaiven Objektrolle, die nur durch viele glückliche Schicksalsfügungen zu einem guten Märchenende führt. Abschliessend leiten wir Profile zum Vertrauenskonzept nach unserem Beschreibungsansatz ab. Grundlage sind Aschenputtel nach den Brüdern Grimm und die Interpretation von Dowlings „Cinderella Komplex“.47
4.7
Zusammenfassung und lessons learned
Wir schlagen vor, die übliche Reduktion auff internales Selbstvertrauen zu erweitern, und zwar um ein persönlichkeitsspezifisches und weitgehend stabiles externales Vertrauen in ein grundsätzlich günstig geneigtes Schicksal (z. B. Glückskind) oder in Vertrauen auf Helfer in der Not. Wenn diese Überzeugungen situationsunabhängig gebildet sind, werden sie zu einer Persönlichkeitsdisposition, einer „Eigenschaft“.
108
Zusammenfassung g und d lessons learned
Abbildungg 23
Profile zum Vertrauenskonzept I. Selbstvertrauen
4.7
-- -
+ ++
I.A) Internales Selbstvertrauen x
– Kompetenzvertrauen – v. a. in eigenes, sachlich-fachliches Problemlösungsvertrauen
o
sowie Planungs-, Organisations- und Evaluationsvertrauen – Sozialvertrauen
x
– v. a. in das Ertragen von Vertrauensverletzungen – in die eigenständige Konfliktbewältigung
o
– Überzeugungs-/Beeinflussungsvertrauen – Umsetzungsvertrauen
x
– Machbarkeitsglaube, Erfolgsvertrauen o
– Beharrlichkeit – gerade bei Widerständen I.B) Externales Selbstvertrauen – Schicksalsvertrauen
x
– v. a. in Hilfe von oben, z.B von Gott, den Sternen, Fortuna o
– in die eigene „Glückshaut“ – Netzwerkvertrauen
x
– v. a in Wohlwollen und Hilfe von engen Bezugspersonen o
– in wohlgesinnte Fremde II. Fremdvertrauen – v. a. positives Menschenbild, reflektiertes Zutrauen – enttäuschungsfest gegenüber Vertrauensverletzungen
x o
Legende: x = Vertrauensprofil von Cinderella nach Dowling o = Vertrauensprofil von Aschenputtel nach den Brüdern Grimm
Neben diesem persönlichkeitstypischen und relativ stabilen Selbstvertrauen in ein hilfreiches Umfeld ist noch das in fast allen „Trust Inventories“ bevorzugte volatile Fremdvertrauen in die jeweilige
109
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Handlungssituation zu analysieren. Dazu bedarff es keiner neuen Überlegungen, denn das ist der z. Zt. eindeutig bevorzugte Forschungsansatz, auch wenn er eng ist. Plädiert wird für eine Differenzierung des internalen Selbstvertrauens in Kompetenz-, Sozial- und Umsetzungsvertrauen. Dabei scheint das früh geprägte sozial-emotionale Selbstvertrauen die zentrale und stabilste Komponente zu sein – im Märchen wie im Management. Dicht darauff folgt das handlungsorientierte Vertrauen in eine erfolgreiche Umsetzung. Auff diese Vertrauensgrundlagen zentraler Schlüsselkompetenzen sollte in Personalauswahl und -einsatz weit mehr geachtet werden. Die Prinzipale in Märchen gestalten ihre Personalauswahl allerdings nur fatalistisch und unprofessionell, also in keiner Weise beispielgebend. Hohes internales Selbstvertrauen korreliert mit Leistungsmotivation und -erfolg signifikant positiv. Das hat aber nicht nur positive Auswirkungen auff die Gestaltung vertrauensvoller Interaktionsbeziehungen. Denn wenn Selbstvertrauen in Selbstbezogenheit oder -überschätzung umschlägt, sind Kooperationsbeziehungen gefährdet. Andererseits reduziertt geringes Selbstvertrauen die Motivation zum Zutrauen oder führt zu gefährlich unreflektiertem Fremdvertrauen. Ökonomische, sozialpsychologische und soziologische Ansätze machen das eigene Fremdvertrauen primär von Erwartungen an oder Erfahrungen mit Personen oder Institutionen abhängig. Es dominiert dabei kalkulatives, reaktives und reziprokes Denken und Handeln. Gerade in der langfristigen Beziehungsgestaltung sind Selbst- und Fremdvertrauen entscheidende Ressourcen. Damitt werden Kooperationen schneller und offener begonnen. Und bei Verletzungen reagiert man gelassener, selbstbewusster und nichtt gleich negativ reziprok („Auge um Auge“). Da können Märchenheldinnen und -helden auch für Führungskräfte als Vorbilder dienen – besonders in der Konflikthandhabung. Kritisch scheint ein ausschliesslich internales Selbstvertrauen zu sein, weil es auff ein autonomes Menschenbild reduziert und das des „homo socialis“ ausblendet. Davon verabschiedet sich selbst die Nationalökonomie, die ihrem „homo oeconomicus“ nun einen „ho-
110
Zusammenfassung g und d lessons learned
4.7
mo oeconomicus maturus“ gegenüberstellt.48 Ebenso einseitig ist die Fixierung auff externales Selbstvertrauen (fatalistisch oder sozial), weil es sich zu wenig auff die eigenen Ressourcen verlässt oder unreflektiertes Fremdvertrauen begünstigt. Darauff sollte in Führungsgrundsätzen oder bei der Weiterbildung hingewiesen werden – etwa mit der Maxime „Vertrauen in Misstrauen“49 – oder doch lieber: „Trust, but verify“. Und genauso problematisch erscheint uns die vorherrschende einseitige Ausrichtung auff ein nur situativ beeinflusstes Fremdvertrauen. Diese Orientierung auff Fremdvertrauen aus Sicht der Vertrauensnehmer führt in der Praxis oft zu einer Inflation von Ansprüchen an andere (v. a. „die da oben“) und zu einer „Deflation“ von Forderungen an das eigene Vorbild. Neben der Analyse von Organisationsvertrauen dürfte die von Teamvertrauen interessieren, das man nicht als Summe des Individualvertrauens aller Gruppenmitglieder interpretieren kann.50 Dazu liefern uns die Märchen von den Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) oder die drei Brüder in Die Kristallkugel (KHM 197) in positiver sowie das von den sieben Schwaben (KHM 119) in negativer Ausprägung beredte Beispiele. Davon könnten gerade Projektgruppenleiter und weitere Führungskräfte lernen. Märchen überzeichnen. Die Managementforschung und -praxis steht dem in der „Verherrlichung“ von sog. „charismatischen Führern“ aber kaum nach. Selbstvertrauen eskaliert dann zu märchenhaften Allmachtsphantasien. So lautet der Untertitel der Biographie von Jack Welch (2003): „Die Autobiographie des besten Managers der Welt“! Dahinter braucht sich Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) kaum zu verstecken! Ein solches „Kindheits-Ich“ lebt eben bei manchen „Great WoMen“ im „Erwachsenen-Ich“51 weiter – jedoch bei anderen in der viel reiferen Aschenputtelversion. Vertrauenspotential zeigt sich nicht nur im selbstbewussten Denken und managertypischen Handeln, sondern im auch „fatalistischen“ Ertragen von Krisensituationen. Dazu der aktive Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in der Todeszelle: „Von guten Mächten wundersam geborgen, erwarte ich getrost, was kommen mag …“ Mit ähnlicher Bereitschaftt zur „Endurance“ in lebensbedrohlichen Situationen wählte Ernest Shackleton diesen Namen für sein Expeditionsschiff.
111
4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
Und Erich Fromm52 sah im Erdulden und dabei gereiften Handeln sogar die vier Wesensmerkmale seines „neuen Menschen“, die Aschenputtel wiederum erfüllt:
Wir leiden und sind uns dessen bewusst. Wir haben die Ursache unseres Leidens erkannt. Wir sehen Möglichkeiten, unser Leiden zu überwinden. Wir wollen unsere Lebenspraxis zur Überwindung dieser Leiden ändern. „Love it, endure it, change it or leave it“ lautet dann die erweiterte Version für vertrauensbereites Verhalten in Organisationen – am Beispiel Aschenputtels. Diese Bereitschaft zum Ertragen schwieriger Situationen wird zunehmend als überlebensentscheidend erkannt – nicht nur für das Management! „Beherzteres Handeln“ nach Art der Märchenhelden als Kombination von emotionalem und aktionalem Selbstbewusstsein würde dazu beitragen, dass auch „in der Schweiz die Umsetzung einer guten Idee nicht mehr so lange braucht.“53 Denn am professionellen Selbstvertrauen fehlt es seltener. Das schliesstt nüchterne Evaluation nach dem Prinzip „Trust, but verify“ mit ein! Dass Vertrauensbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit hoch korrelieren, belegte J. Rotter in seiner Rückschau auff 14 Jahre Vertrauensforschung. Sein Resümee konzentriert sich auf die gerade für Aschenputtel gültige Maxime: „Trust and be trustworthy“:
112
-
„People who trust more are less likely to lie, … are more likely to give others a second chance and to respect rights off others.”
-
„The high-truster is less likely to be unhappy, conflicted, or maladjusted; he or she is liked more and is sought out as a friend more often, both by low-trusting and by high-trusting others.”
-
Und seine „lesson to learn” „for us as teachers, parents … psychologists: We cannot control the forces at work in society by ourselves, but within our own smaller circles off influence, we can model and encourage a little more trust, … and a younger generation may be a little more ready for a better world – just in case there is one coming.”54
Literaturverzeichnis
4.8
4.8
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4
Vertrauen in Management und d Märchen – Aschenputtel
4.9 1
vgl. g dazu die jüngste Publikation von Osterloh/Weibel 2006 sowie Kramer/Tyler 1995
2
ausführlicher dazu: Wunderer 2004 Brüder Grimm 1999/1819 Bettelheim 1980 vgl. g Perrault 1996 (Erstveröffentlichung g um 1687), aber auch die noch frühere und abweichende Version von Basile 2000 - dieses italienische Märchen wurde schon 1634 unter dem Namen Aschenkatze publiziert Rossini o.J. vgl. g v. a. Petermann 1996; Eberl 2003, S. 133 kommt dagegen g g in seiner Habilitationsschrift zum Schluss: „Die p persönlichkeitspsychologische p y g Herangehensweise g an das Vertrauensphänomen kann die Diskussion entscheidend bereichern.“ vgl. auch Franz, K. 1996 vgl. z. B. Kast, 1990 Morell/Caparell, S. 2004 vgl. Murphy, R. 2000, Wöller 2001 Neuberger, 1994, S. 96 vgl. Wittmann 2004 vgl. Drewermann 2003 Drewermann a.a.O., S. 12 Kast 1998, S. 120 Drewermann a.a.O., S. 102 vgl. g Fetscher 2000; Wöller 2001, S. 29 ff., sieht in diesem Märchen dagegen den Aufstieg des Patriarchats! vgl. Berger 2001 Dowling 1984 Seligmann 1999 definiert diese „Lageorientierung“ g als Erwartung, Ereignisse nicht kontrollieren zu können. Dowling a.a.O., S. 3, 74 vgl. Wunderer/Dick 2007 vgl. z. B. Delhees 1995 Neuberger 2002, S. 588 Deutsch 1960, S. 138-140. vgl. z. B. Erikson 1975; Bowlby 1975 vgl. McCare/John 1992 vgl. Wunderer 2007 vgl. Pinchot1996 vgl. Müller 1990 vgl. z. B. Zielen 1987 Neuberger 2002, S. 588 vgl. g Schwarzer 2000. Erez/Judge g 2001 haben einen Überbegriff g f („Core Self-Evaluation“) zum Selbstvertrauen vorgeschlagen. g g Er besteht aus vier Eigenschaften g (Selbstwirksamkeit, emotionale Stabilität, interne Kontrollüberzeugung, Selbstschätzung) und zeigt empirisch einen signi-
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Anmerkungen
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fikanten p positiven Einfluss auff Leistungsmotivation g und -erfolg. Ein Bezug zum Fremdvertrauen wird nicht hergestellt! vgl. z. B. Buck/Bierhofff 1986; Deutsch 1960; Butler; Cummings/ g / Bromiley y 1996; Johnson/Swap1982; Tyle/Degoy 1996, vgl. z. B. Osterloh/Weibel 2006 vgl. Rotter 1967; Rotter 1980 vgl. g Rotter 1971, 1980. Inhaltlich konzentrieren sich die 25 Items seines Fragebogens g g nur auff grundsätzliche Einschätzungen von Gesellschaft, Medien, politischen p Institutionen und Bezugsgruppen g g pp (z. B. Eltern). Und methodisch wurde vor allem in faktoranalytischen y Studien die Aussagekraft des Fragebogens g in Frage g g gestellt. Vgl. g dazu v. a. Petermann 1996 S. 22, 54 ff., 69, 73 sowie die weiterführende Diskussion von Eberl 2003, S. 121-139 ff. - Damit wäre unsere konzeptionelle Studie gegenüber statistischen Evaluationen noch „immun“. vgl. z. B. Petermann 1996; positiver Eberl 2003 vgl. Butler 1991; Schweer 1997 vgl. Endnote 31 vgl. Guttropff 1995 vgl. Wunderer/Weibler 2001 vgl. Carstensen 2003 vgl. z. B. Zielen 1987 (vgl. Endnote 31) vgl. z. B. Iacocca/Novak 1987; Welch 2003 vgl. Kast 1998, S. 131 sowie S. 127 und vertiefend dazu Kast 2000 vgl. Dowling g 1984, insbes. S. 29 ff., 72 ff., 114 - hier zitiert sie Seligman g 1999 (vgl. g Endnote 2) – „Die sieben Schwaben“ zeigen „Helplessness“ auff drastischere Art. vgl. Frey 1997 vgl. Neuberger 1997 Ansätze verspricht z. B. die Vertrauensskala von Bierhoff/Buck 1984 Zum Konzept p und Verfahren der Transaktionsanalyse und ihrer Anwendung vgl. Kälin 1998 dazu Fromm 2003, S. 161: diese Wesensmerkmale entsprächen p zudem den vier „Edlen Wahrheiten“ Buddhas über die menschlichen Existenzbedingungen. vgl. Endnote 37 Rotter 1980, S. 6
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So kommt ein Glückskind zu Informationen Quelle: Hofbauer/Unzner, Die beliebtesten Märchen der Gebrüder Grimm, illustriert von Christa Unzner, Annette Betz Verlag im Verlag Carl Ueberreuter, Wien/München 2001, S. 109.
Schwein gehabt Quelle: Hofbauer/Unzner, Die beliebtesten Märchen der Gebrüder Grimm, illustriert von Christa Unzner, Annette Betz Verlag im Verlag Carl Ueberreuter, Wien/München 2001, S. 115.
Hans im Glück – Ilse im Unglück
5.1
Motivation, Qualifikation und die Arbeitssituation werden als entscheidende Einflussgrössen für den Leistungserfolg bezeichnet. Der Arbeitkontext ist situativ und wird hier nicht weiter diskutiert; die Qualifikation wurde in Kapitel 3 ausführlich behandelt. Die Motivation von Märchenhelden analysieren wir monographisch am Beispiel Hans im Glück (KHM 33, 1812). An ihm wollen wir unser Fünf-Faktoren-Konzept der Motivation anwenden und so eine Verbindung zwischen Management und Märchen herstellen. Dabei mutiert der liebe „Dümmling“ eines Schwanks (so die philologische Sicht) zu einem „Glücksökonom“, der seine individuelle Nutzenfunktion sehr geschickt optimiert. Denn es gelingt ihm mit hoher Eigenmotivation, niedrigem Commitment, raschem Abbau von Entscheidungsdissonanzen bei Demotivation und unverzüglicher Umsetzung „der glücklichste Mensch auff Erden“ vom Anfang bis zum Schluss der Geschichte zu bleiben.
5.1
Hans im Glück – Ilse im Unglück
Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm ‘Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn.’ Der Herr antwortete ‘du hast mir treu und ehrlich gedient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein,’ und gab ihm ein Stückk Gold, das so groß als Hansens Kopff war. Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auff die Schulter und machte sich auff den Weg nach Haus. Wie er so dahin gieng und immer ein Bein vor das andere setzte, kam ihm ein Reiter in die Augen, der frisch und fröhlich auff einem muntern Pferd vorbei trabte. ‘Ach,’ sprach Hans ganz laut, ‘was ist das Reiten ein schönes Ding! da sitzt einer wie auff einem Stuhl, stößt sich an keinen Stein, spart die Schuh, und kommt fort, er weiß nicht wie.’ Der Reiter, der das gehört hatte, hielt an und rieff ‘ei, Hans, warum laufst du auch zu Fuß?’’ ‘Ich muß ja wohl,’’ antwortete er, ‘da habe ich einen Klumpen heim zu tragen: es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopff dabei nicht gerad halten, auch drückt mirs auff die Schulter.’’ ‘Weißt du was,’’ sagte der Reiter, ‘wir wollen tauschen: ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen.’ ‘Von Herzen gern,’ sprach Hans, ‘aber ich sage euch ihr müßt euch damit schleppen.’ Der Reiter stieg ab, nahm das Gold und halff dem Hans hinauf, gab ihm die Zügel fest in die Hände
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
und sprach ‘wenns nun recht geschwind soll gehen, so mußt du mit der Zunge schnalzen, und hopp hopp rufen.’ Hans war seelenfroh, als er auff dem Pferde saß und so frankk und frei dahin ritt. Über ein Weilchen fiels ihm ein, es sollte noch schneller gehen, und fieng an mit der Zunge zu schnalzen und hopp hopp zu rufen. Das Pferd setzte sich in starken Trab, und ehe sichs Hans versah, war er abgeworfen und lag in einem Graben, der die Äcker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre auch durchgegangen, wenn es nicht ein Bauer aufgehalten hätte, der des Weges kam und eine Kuh vor sich hertrieb. Hans suchte seine Glieder zusammen und machte sich wieder auff die Beine. Er war aber verdrießlich und sprach zu dem Bauer ‘es ist ein schlechter Spaß, das Reiten, zumal, wenn man auff so eine Mähre geräth wie diese, die stößt und einen herabwirft, daß man den Hals brechen kann; ich setze mich nun und nimmermehr wieder auf. Da lob ich mir eure Kuh, da kann einer mit Gemächlichkeit hinter her gehen und hat obendrein seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiß. Was gäb ich darum, wenn ich so eine Kuh hätte!’’ ‘Nun,’ sprach der Bauer, ‘geschieht euch so ein großer Gefallen, so will ich euch wohl die Kuh für das Pferd vertauschen.’ Hans willigte mit tausend Freuden ein: der Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon. Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Handel. ‘Hab ich nur ein Stückk Brot, und daran wird mirs doch nicht fehlen, so kann ich, so oft mirs beliebt, Butter und Käse dazu essen; hab ich Durst, so melkk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?’ Als er zu einem Wirthshaus kam, machte er Halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich hatte, sein Mittags und Abendbrot, rein auf, und ließ sich für seine letzten paar Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine Kuh weiter, immer nach dem Dorfe seiner Mutter zu. Die Hitze ward drückender, je näher der Mittag kam, und Hans befand sich in einer Heide, die wohl noch eine Stunde dauerte. Da ward es ihm ganz heiß, so daß ihm vor Durst die Zunge am Gaumen klebte. ‘Dem Ding ist zu helfen,’ dachte Hans, ‘jetzt will ich meine Kuh melken und mich an der Milch laben.’ Er band sie an einen dürren Baum, und da er keinen Eimer hatte, so stellte er seine Ledermütze unter, aber wie er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen Milch zum Vorschein. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so gab ihm das ungeduldige Thier endlich mit einem der Hinterfüße einen solchen Schlag vor den Kopf, daß er zu Boden taumelte und eine zeitlang sich gar nicht besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam gerade ein Metzger des Weges, der auff einem Schubkarren ein junges Schwein liegen hatte. ‘Was sind das für Streiche!’ rieff er
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Hans im Glück – Ilse im Unglück
5.1
und halff dem guten Hans auf. Hans erzählte was vorgefallen war. Der Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach ‘da trinkt einmal und erholt euch. Die Kuh will wohl keine Milch geben, das ist ein altes Thier, das höchstens noch zum Ziehen taugt oder zum Schlachten.’’ ‘Ei, ei,’ sprach Hans, und strich sich die Haare über den Kopf, ‘wer hätte das gedacht! es ist freilich gut, wenn man so ein Thier ins Haus abschlachten kann, was gibts für Fleisch! aber ich mache mir aus dem Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer so ein junges Schwein hätte! das schmeckt anders, dabei noch die Würste.’’ ‘Hört, Hans,’’ sprach da der Metzger, ‘euch zu Liebe will ich tauschen und will euch das Schwein für die Kuh lassen.’ ‘Gott lohn euch eure Freundschaft’ sprach Hans, übergab ihm die Kuh, ließ sich das Schweinchen vom Karren losmachen und den Strick, woran es gebunden war, in die Hand geben. Hans zog weiter und überdachte wie ihm doch alles nach Wunsch gienge, begegnete ihm ja eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wieder gut gemacht. Es gesellte sich danach ein Bursch zu ihm, der trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die Zeit, und Hans fieng an von seinem Glückk zu erzählen und wie er immer so vortheilhaft getauscht hätte. Der Bursch erzählte ihm daß er die Gans zu einem Kindtaufschmaus brächte. ‘Hebt einmal,’ fuhr er fort, und packte sie bei den Flügeln, ‘wie schwer sie ist, die ist aber auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt, muß sich das Fett von beiden Seiten abwischen.’ ‘Ja,’ sprach Hans, und wog sie mit der einen Hand, ‘die hat ihr Gewicht, aber mein Schwein ist auch keine Sau.’ Indessen sah sich der Bursch nach allen Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. ‘Hört,’’ fieng er darauff an, ‘mit eurem Schweine mags nicht ganz richtig sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schulzen eins aus dem Stall gestohlen worden. Ich fürchte, ich fürchte, ihr habts da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie euch mit dem Schwein erwischten: das geringste ist, daß ihr ins finstere Loch gesteckt werdet.’ Dem guten Hans ward bang, ‘ach Gott,’ sprach er, ‘helft mir aus der Noth, ihr wißt hier herum bessern Bescheid, nehmt mein Schwein da und laßt mir eure Gans.’ ‘Ich muß schon etwas aufs Spiel setzen,’ antwortete der Bursche, ‘aber ich will doch nicht Schuld sein, daß ihr ins Unglückk gerathet.’ Er nahm also das Seil in die Hand und trieb das Schwein schnell auff einen Seitenweg fort: der gute Hans aber gieng, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter dem Arme der Heimath zu. ‘Wenn ichs recht überlege,’ sprach er mit sich selbst, ‘habe ich noch Vortheil bei dem Tausch: erstlich den guten Braten,
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das gibt Gänsefettbrot auff ein Vierteljahr: und endlich die schönen weißen Federn, die laß ich mir in mein Kopfkissen stopfen, und darauff will ich wohl ungewiegt einschlafen. Was wird meine Mutter eine Freude haben!’ Als er durch das letzte Dorff gekommen war, stand da ein Scheerenschleifer mit seinem Karren, sein Rad schnurrte, und er sang dazu ‘ich schleife die Scheere und drehe geschwind, und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind.’ Hans blieb stehen und sah ihm zu; endlich redete er ihn an, und sprach ‘euch gehts wohl, weil ihr so lustig bei eurem Schleifen seid.’ ‘Ja,’ antwortete der Scheerenschleifer, ‘das Handwerkk hat einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, so oft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?’’ ‘Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein einge tauscht.’ ‘Und das Schwein?’ ‘Das hab ich für eine Kuh gekriegt.’’ ‘Und die Kuh?’’ ‘Die hab ich für ein Pferd bekommen.’ ‘Und das Pferd?’ ‘Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.’’ ‘Und das Gold?’’ ‘Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst.’ ‘Ihr habt euch jederzeit zu helfen gewußt,’’ sprach der Schleifer, ‘könnt ihrs nun dahin bringen, daß ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn ihr aufsteht, so habt ihr euer Glückk gemacht.’ ‘Wie soll ich das anfangen?’ sprach Hans ‘Ihr müßt ein Schleifer werden, wie ich; dazu gehört eigentlich nichts, als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür sollt ihr mir aber auch weiter nichts als eure Gans geben; wollt ihr das?’ ‘Wie könnt ihr noch fragen,’’ antwortete Hans, ‘ich werde ja zum glücklichsten Menschen auff Erden; habe ich Geld, so oft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?’ reichte ihm die Gans hin, und nahm den Wetzstein in Empfang. ‘Nun,’’ sprach der Schleifer, und hob einen gewöhnlichen schweren Feldstein, der neben ihm lag, auf, ‘da habt ihr noch einen tüchtigen Stein dazu, auff dem sichs gut schlagen läßt, und ihr eure alten Nägel gerade klopfen könnt. Nehmt hin und hebt ihn ordentlich auf.’
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Hans lud den Stein auff und gieng mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, ‘ich muß in einer Glückshaut geboren sein,’ rieff er aus, ‘alles was ich wünsche trifft mir ein, wie einem Sonntagskind.’ Indessen, weil er seit Tagesanbruch auff den Beinen gewesen war, begann er müde zu werden; auch plagte ihn der Hunger, da er allen Vorrath auff einmal in der Freude über die erhandelte Kuh aufgezehrt hatte. Er konnte endlich nur mit Mühe weiter gehen und mußte jeden Augenblickk Halt
Hans im Glück – Ilse im Unglück
5.1
machen; dabei drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen brauchte. Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunkk laben: damit er aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig neben sich auff den Rand des Brunnens. Darauff setzte er sich nieder und wollte sich zum Trinken bücken, da versah ers, stieß ein klein wenig an, und beide Steine plumpten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auff eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurff zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären. ‘So glücklich wie ich,’ rieff er aus, ‘gibt es keinen Menschen unter der Sonne.’ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war. Exkurs: „Ilse im Unglück“ – eine moderne Analogie „Der Himmel über Wien war weniger zerfetzt und eingefallen als die Stadt, aber noch waren nicht alle Kämpfe ausgetragen. Brot gab es bis zuletzt genug – aber das reichte den meisten nicht. Weinkeller und Schlachthöfe wurden gestürmt, Schweine und Kälber vom Haken gerissen un , um auff noch etwas Besseres zu stossen, wieder weggeworfen … Nahe den Kellereien am Schlachthoff von St. Marx angekommen, konnte man in die Fleischhalle gelangen. Einer vor mir riss ein halbes Schwein vom Haken, warff es auff den Lehmboden und suchte weiter. Ich hob es auff und zerrte es hinaus. Auff dem Rückweg stadteinwärts, schon nahe an dem Elisabethspital auff der Landstrasse, hatte mich einer von denen, die hinter mir her waren, eingeholt, nahm mir das halbe Schwein ab – „zu schwer für Sie!“ – und zerschnitt es in zwei ungleiche Hälften, die grössere zerrte er weiter. „Jetzt haben Sie es leichter“, sagte er … Ilse Aichinger1 beschreibt ihr Erlebnis zum Kriegsende 1945 im Alter von 24 Jahren. Und sie zieht ein geteiltes Fazit: „Zumindest die Nachkriegszeit ist vorbei. Aber nicht in ihren Details, auch nicht in der Erinnerung an das gevierteilte Schwein“. Ilse fehlte wohl die Begabung von Hans, „das Leben leicht zu nehmen“ bzw. Misserfolge positiv zu kompensieren. Denn sie hatte ja die Hälfte der dazu noch selbst gestohlenen Schweinehälfte. Der Mann argumentierte übrigens wie der Reiter im Märchen. Hans hätte diese Entwicklung
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
vielleicht so interpretiert: „Das war ein Schweineglück heute, das Viertel reichtt mir, und jetzt habe ich es leichter, weil ich weniger schleppen muss.“
5.2
Einführung – Sieben Leben des Hans im Glück2
Glück als („verklärte“) Erinnerung an erlebte „Highlights“, als Sehnsucht nach oder Hoffnung auff glückliche Ereignisse, als flüchtige „peak experience“ oder dauerhaftere Glückseligkeit? Am treffendsten für unseren Märchenhelden erweist sich die Glücksdefinition von Friedrich Nietzsche. Dazu die Basler Philosophin Annemarie Pieper: „Nietzsche fasst demnach das Glück als integrativen Bestandteil eines selbst aus eigener, gesteigerter Kraft immer mächtiger werden wollenden Individuums auf, das zwar nie endgültig an ein Ziel gelangt, sich jedoch in der ständigen Überwindung des Nichtgeglückten gleichsam Erfolgserlebnisse verschafft, die von einem explosiven Glückgefühl begleitet sind.“3 Wenzel4 spricht hier von „Gefühlsingenieuren“. In der Literatur findet man dazu manchen Roman,5 der zeigt, wie man glücklich leben kann, auch schwere Schicksalsschläge stoisch und konstruktiv bewältigt bzw. Interpretationen bevorzugt, die unlustvermeidend sind. So beschreibt Defoe in „Robinson Crusoe“ ein besonderes Konzept. Robinson notiert nach seiner Landung auf der einsamen Insel alle positiven und negativen Aspekte der neuen Lebenssituation und zerreisst dann die Liste mit den negativen Erwartungen. „So glücklich h wie ich h gibtt es keinen n Menschen n unter der Sonne. Mit leichtem Herzen n und frei von n aller Lastt sprang er nun n fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“ So endett Hans im Glück (KHM 83) der Brüder Grimm. Wie z. B. bei Dramen n und ihren n Bearbeitern n finden sich h hier ebenso unterschiedliche Interpretationsansätze. Ein n so einfaches und dennoch h so beliebtes Märchen n – auch h bei den n Interpreten. Ist es der Hans oder istt es sein n „Glück“? Bei Katzen n sprichtt man n von sieben n Leben. Bei Hans im Glück haben n wir sieben n Lebens(an)sichten ausgewählt. Diskutiert werden philosophische, philologische, psy-
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Philosophische Interpretationen – Hans als ersterr Philosoph
5.3
chologische, politologische, nationalökonomische, betriebswirtschaftliche sowie motivationstheoretische Interpretationen.
5.3
Philosophische Interpretationen – Hans als erster Philosoph
Glück spielt schon in der griechischen Philosophie6 eine zentrale Rolle, insbesondere bei Epikur im dritten Jahrhundert v. Chr. Er sieht es als das höchste Gut auff Erden und Unglück als das schlimmste Übel. Über echte Genussfähigkeit verfügt aber nur der Weise, weil er seinen Lust- und Unlustempfindungen nicht instinktiv folgt. Epikur verschreibt vier Heilmittel zum Leben in heiterer Beschaulichkeit: Vor einer Gottheit oder dem Tod keine Angst haben, das wahre Gute – wie etwa Seelenfrieden – anstreben und Schlimmes leicht ertragen. Danach verhält sich Hans bei seiner Suche nach dem Glück nicht als wahrer Epikuräer. Dass er auch kein Stoiker ist, der – wie etwa Seneca – ein nach allgemeinen Gesetzmässigkeiten vernünftig, sozial und tugendhaft geführtes Leben anstrebt, lässtt die Lektüre des Märchens ebenso vermuten. Hans wurzeltt weit mehr in einer Geisteswelt, die Glück mit persönlicher und höchst unmittelbarer Nutzenbefriedigung gleichsetzt. Kurze Glücksgefühle genügen ihm nicht. Er suchtt wohl nach immerwährender Glückseligkeit (sog. „Eudämonismus“). Dieser „Frohsinn“ wird über stete, dazu einseitig physische Genusssehnsüchte, noch mehr durch unbedingtes Vermeiden von demotivierenden Störungen realisiert. Denn nichts hasst er so wie „Verdriesslichkeiten“ und „Lasten“ des Lebens. Hans ist auch kein Utilitarist späterer Prägung, z. B. nach Bentham, der um 1780 14 Arten der Lust und ein Dutzend „einfache Arten des Leids“ differenzierte und diese messbar zu machen versuchte. Dieser Ansatz7 fand schnell Zugang zur Ökonomie. Bentham hatte aber ein Maximum an Glück für möglichst viele im Auge, Hans dagegen seinen eigenen Nutzen. Selbst auff der letzten Wegstrecke zu seiner Mutter sucht der „Gefühlsökonom“ nur sein eigenes Seelenheil. Von deren Empfindungen ist bei ihm einmal die Rede – und dort beziehen sie sich nur auff seine eigene Freude an einem Tauschhandel.
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Übrigens setzten erst die Grimms die Mutter in das Märchen ein und tilgten aus Wernickes Vorlage zugleich alle „katholischen Elemente“, wie z. B. die Anrufung von Heiligen durch Hans.8 Vom Utilitarismus hat Hans aber das Kalkül übernommen, den Wert seiner jeweiligen Unlust beim Goldschleppen, Reiten, Melken sowie beim Schweine- und Gänsehandel oder beim Gründungsversuch einer „unternehmerischen Ich-AG“ kurzfristig zu minimieren. Schon bei der leisesten ersten Störung sucht er diese durch einen neuen Handel in visionäre Lust (seine Art „Seelengold“) zu verwandeln. Die Maximierung seiner Gratifikationswerte ist egoistisch auff sein individuelles Glück gerichtet, das ihm neue Geschäfte immer wieder sichern sollen. Das kommt seinen ökonomisch geschickteren Tauschpartnern (besser „Täuschpartnern“) ideal zupass. Tauschhandel bewertet er im Nachhinein selten als Verlustspiel, weil er in anderer Währung als seine Marktteilnehmer rechnet: letztere in Marktpreisen und Hans in subjektiven und sinnlichen Gefühlswerten. Man könnte ihn wohl als modernen Hedonisten bezeichnen, der auff seinem Weg durch alle fünff Tauschstationen den Song auff den Lippen hat: „Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort …“ Und sein Refrain könnte lauten: „Wenn mich was stört, find’’ ich’s unerhört …“ Ludwig Marcuse9 stellt in seiner „Philosophie des Glücks“ diesen „Hans“ dagegen als den „ersten Philosophen des Glücks“ vor. Er bezeichnet dessen Reiseerfahrungen als „ein Abenteuer, das dann für alle Philosophen das Fundament ihrer Lehre vom Glück wurde. Hans lebte den Menschen eine grosse Entdeckung vor“. Und später: Hans, „du hast damals, auff deiner Reise, einen praktischen Kurs in dialektischer Philosophie erhalten – und die Wahrheit gelernt: dass ein Stück Gold oder zwei Stücke Stein einen manchmal glücklich machen und manchmal nicht und manchmal sogar unglücklich.“ Der Erzählforscher und Redakteur der Enzyklopädie des Märchens Hans-Jörg Uther vermutet allerdings in seinem fundierten Essay,10 Hans im Glück sei wohl erst 1818 von dem jungen Altphilologen August Wernicke (Schwerpunkt: Griechisch) unter dem Titel „Hans Wohlgemut“ in einer Fachzeitschrift publiziert und von ihm selbst zur besseren Akzeptanz und Verbreitung als Volksmärchen deklariert worden. Dieses findet sich deshalb auch erst 1819 in der 2. Auflage der Grimm’schen Märchensammlung. Damit wäre der von L.
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Philosophische Interpretationen – Hans als ersterr Philosoph
5.3
Marcuse genannte „erste Philosoph des Glücks“ eine wahre Kopfund Spätgeburt! Und zugleich wäre er als weltberühmte Kunstfigur eines früh verstorbenen Nachwuchswissenschaftlers zu verstehen, dem selbst professionelle Sammler von Volksmärchen auff den Leim gingen bzw. gehen wollten. Denn das Märchen gefiel den Brüdern Grimm eben gar zu sehr. Wernickes sicher profunde Kenntnis der griechischen Philosophen könnte die These stützen, dass er einen neuzeitlichen Hedonisten (vgl. dazu Kap. 5.8) entwarf. Nun weiter zur humanistischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Erich Fromms Hauptwerk11 gilt der „Analyse der beiden Existenzweisen des Menschen, der des Habens und der des Seins“ (S. 23), wobei er aus eigenen Beobachtungen des Gruppenverhaltens ableitet, „dass in der überwältigenden Mehrheit aller Menschen beide Möglichkeiten real vorhanden sind“ (S. 105), während der „kaum veränderbare Haben- oder Seinstypus …. eine kleine Minderheit bildet“ (S. 105). Fromm wendet sich gegen „das psychoanalytische Dogma“ von der frühen Sozialisierung des Charakters und bevorzugt dann recht behavioristisch „den Einfluss von Umweltfaktoren“. Mit seiner These, dass es nichts gibt, was man an Habe nicht auch verlieren kann – insbesondere Besitz, Stellung, Freunde, Leben – plädiert er generell für die Förderung des „Sein-Anteils“ im Menschen. Und er votiert (S. 161 ff.) – mit Verweis auff Buddha, Marx und Freud – für die Weiterentwicklung der Menschheit zu einem „neuen Menschen“, der vor allem eines zeigt: „die Bereitschaft, alle Formen des Habens aufzugeben, um ganz zu sein …. und glücklich zu sein, … denn so bewusst und intensiv zu leben, wie man kann, istt so befriedigend, dass die Sorge darüber, was man erreichen oder nicht erreichen könnte, gar nicht erst aufkommt.“ Ganz anders die „Haben-Menschen“. Sie vermeiden nach Fromm Risiken, häufen Besitz und Sicherheiten an. Schliesslich denaturieren sie zum autoritären, zwanghaft hortenden „Marketingcharakter“, der sich schliesslich auff dem Persönlichkeitsmarkt nur noch als Tauschwert erlebt. Kurzum: „Der Mensch kümmertt sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit …“ nach dem Prinzip: „Ich bin so, wie du mich haben möchtest“ (S. 142). Schliesslich zitiertt Fromm (S. 150) aus Karl Marx’’ Werk „Das Kapital“: „Alles, was Dir der Nationalökonom an Leben nimmt und an Menschheit, das alles ersetzt er Dir in Geld und Reichtum.“ Als Anmerkung sei erlaubt, dass in den Märchen der
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
„streng reformiert erzogenen“ Brüder Grimm Gold und Reichtum als Lohn und zugleich als Indiz für gottgewolltes Verhalten stehen könnten. Der Held in Sagen und Märchen lebtt nach Fromm das Gegenteil: „Er verlässt die Heimat, drängt vorwärts und kann die Ungewissheit ertragen.“ „Der Held wird dann zu einem Idol; wir übertragen auff ihn unsere Fähigkeit voranzuschreiten, und dann bleiben wir, wo wir sind, denn wir sind keine Helden.“ Unser Märchenheld Hans erweistt sich so als Antipode eines „Marketing-Charakters“. Und dieser wird er nicht erst auff seinem Weg – wie die psychoanalytische Schule gern postuliert –, sondern zeigt das von Beginn an. Er kennt weder seinen ökonomischen Markt- bzw. Tauschwert noch den seiner jeweiligen Tauschobjekte. Er sucht ausschliesslich nach persönlichem Glück über stets erneuerte Glückshoffnungen sowie über sofortige „Unlustvermeidung“. In seinem Bestseller „Anleitung zum Unglücklichsein“12 dreht der Psychotherapeut Paul Watzlawick – nach dem Vorbild Arthur Schopenhauers – den Spiess um: „Es ist höchste Zeit mit dem jahrtausend alten Ammenmärchen aufzuräumen, wonach Glück, Glücklichkeit und Glücklichsein erstrebenswerte Lebensziele sind. Zu lange hat man uns eingeredet – und haben wir treuherzig geglaubt – dass die Suche nach dem Glück uns schliesslich das Glück bescheren wird“ – fast nach Bertold Brechts Song aus der Dreigroschenoper: „Ja, renn nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr …“ Watzlawick strebt dabei eine „paradoxe Intervention“ an, die den Unglücksmasochisten mehr Gelassenheit vermitteln will. Rainer Maria Rilke13 hat diese „Anleitung“ schon früher verinnerlicht: „Ich liebe meines Lebens Dunkelstunden, in welchen meine Sinne sich vertiefen; in ihnen habe ich, wie in alten Briefen, mein täglich Leben schon gelebt gefunden und wie Legende weit und überwunden …“
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Philologische Interpretationen – Hans im Glück als Schwank
5.4
5.4
Philologische Interpretationen – Hans im Glück als Schwank
Hier dominiert die Erzählforschung – die im deutschsprachigen Raum mit den Brüdern Grimm etwa Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt und wohl noch eine längere Zukunft vor sich hat. Die philologische Märchenforschung konzentriert sich auff – auch für andere Fachwissenschaften – sehr hilfreiche komparativhistorische Studien. Allein die noch nicht abgeschlossene Enzyklopädie des Märchens wird dazu 15 Bände zu je etwa 1500 Spalten umfassen. Daneben beschäftigen sich ihre Analysen auch mit dem Einsatz und der Bedeutung von Märchen in der Gegenwart, dies vor allem für die Pädagogik und Erziehungspsychologie.14 Deshalb können wir uns hier kurz fassen. Mit Bezug auff Max Lüthi wird Hans im Glück (KHM 83) von Erzählforschern einmütig als Schwankmärchen eines sog. „Dümmlings“ interpretiert.15 Lüthi differenziert dabei nahezu haarspaltend zwischen plattem Dummling und „wohlgemutem“ Dümmling, der die Kunst verstehe, „die Dinge leicht zu nehmen.“ Ob Hans das wirklich tut? Wir finden, er nimmt aus motivationstheoretischer Sicht seine Tauschhandel zunächst übermässig schwer. Dazu später mehr. Hans Christian Andersen publizierte übrigens 1861 in Anlehnung an Wernickes „Hans Wohlgemut“ oder Hans im Glück einen Schwank mit marktökonomisch anderem Ausgang. Der Titel: „Was Vadder tut, ist immer das Richtige“.16 Der Schriftsteller und Redakteur Dieter Hildebrandt17 verwendet das Märchen erst als eine Metapher für die Entwicklung eines egozentrischen wie egoistischen Unternehmers vom „Habeviel“ zum Seinsucher und „Habenichts“ in der satirischen Rahmenhandlung eines „Entwicklungsromans“. Dabei bezieht sich das Buch immer wieder auff Hans im Glück, den dort Experten in einem Märchenkongress sehr unterschiedlich thematisieren. So werden diese Thesen vom Ausgebeuteten und Dümmling, aber auch vom weisen Hedonisten und christlichen Heilssucher reflektiert.
131
5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
5.5
Tiefenpsychologische und psychotherapeutische Interpretationen – Hans als Versager oder als Sein-Sucher?
Diese Betrachtungsweise sucht vor allem nach Erklärungen zu typischen und frühkindlich geprägten Handlungsmotiven und ihren Ursachen. Zwar bezieht sich Victor Zielen zunächstt auff die Interpretation „ironischer Schwank zu einem Dümmling“, um dann aber zu einer besonderen Schlussfolgerung zu kommen: „Hans ist, wenn überhaupt, höchstens sich selbst, dass heisst genauer seinem Ich gegenüber ein Schelm, während er in Wahrheit unbeirrt entsprechend seinem inneren Auftrag handelt.“18 Wittgenstein19 sieht – aus psychotherapeutischer Sicht – dagegen in Hans den Untüchtigen. Diese Einschätzung ist in seiner Disziplin aber die Ausnahme. Denn hier dominieren humanistisch-ideale bis idealisierte Entwicklungsinterpretationen vom Haben zum Sein. Und nach der Freud-Schule20 wäre ein Erklärungsansatz Hans’’ libidinöse Mutterbindung mitt einer wohl ungestört entwickelten analen Phase als wesentlicher Grund, warum er seine Tauschgeschäfte völlig anders bewertet als seine besitz- und gewinngierigen Tauschpartner. Bei den Märcheninterpretationen sind die Anhänger der Schule von C. G. Jung21 weit stärker vertreten. Hier spielen symbolische, archetypische und entwicklungsorientierte Aspekte eine besondere Rolle. Danach müsste man wohl die Marktpartner des Hans als Teile („Schatten“) seiner Persönlichkeit sehen, die er auff seinem Weg durch die Tauschstationen überwinden soll.
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Dies führt bis hin zu sehr freien und gewagten Interpretationen (z. B. von Zielen),22 nach denen der grosszügige Arbeitgeber des Hans – das Gold symbolisiert dann göttliche Gaben – Gott persönlich gewesen sein könnte. Den Tauschprozess versteht er als weisen Weg vom Haben zum wahren Sein, wobei die Mama nun als Mutter Gaja (Erdgöttin) gedeutett wird. Zielen argumentiert wie Fromm: „Hans, der als schlichter Mann zur Weisheit seines Herzens gefunden hat, weiss, dass aller Besitz oder Verdienst dem aus seinen
Politologische Interpretation – Hans als ausgebeuteterr Markttrottel
5.6
Händen rinnt, der ihn festhalten will. Er weiss, dass Menschen am Ende stets in die Abhängigkeit von der Macht geraten, die sie ausüben oder mit deren Hilfe sie andere beherrschen wollen“, um seine Spekulationen auff folgende Spitze zu treiben: „Ist der gerechte und weise Herr, dem Hans sieben Jahre seines Lebens diente, am Ende Gott selbst?“ Wir können diese Interpretation aus dem Text nicht nachvollziehen, denn Hans lebt konstantt von der ersten bis zur letzten Transaktion nach dem „JAHWE“ zugeschriebenen Spruch: „Ich bin, der ich bin“. Aber ist er deshalb schon ein Versager oder allenfalls liebenswerter Dümmling? Seine Begründung für seinen letzten Tauschakt (Gans gegen Schleifstein) lautet doch so: „Ich werde zum glücklichsten Menschen auff Erden; habe ich Geld, sooft ich in die Tasche greife …“23 Vom Gold zum Gelde zieht’s ihn also hin – so lässt es zumindest der Text vermuten. Und wer die Mutter – z. B. als „Urmutter“ – ins Spiel bringt: Die wurde erst von Wilhelm Grimm eingefügt. Und wer garantiert, dass Hans die nicht bald und wieder glückselig gegen eine – hoffentlich gut situierte – Braut tauscht. Und dass dann schon sein Lebensweg endet, scheint wenig wahrscheinlich.
5.6
Politologische Interpretation – Hans als ausgebeuteter Markttrottel
Der Frankfurter Politologieprofessor Iring Fetscher24 folgt in seinem „Märchenverwirrbuch“ zunächst mit Bezug auff Max Lüthi der Interpretation, dass es sich bei Hans im Glück „um eines der wenigen ironischen Märchen (handelt), welches die Brüder Grimm überliefern. Die durch seine Lektüre vermittelte Lust ist eine typisch bürgerliche Schadenfreude über den Verlust von vielen Jahreslöhnen (Wert ca. 100.000 SFR) des Hans an einem Tag“. Anschliessend wird das ökonomische „Unglück“ des Märchenhelden auch mit Karl Marx erklärt: „Hans fällt hier … von der allgemeinen Wertform (Gold = Weltgeld) auff die ‚einfache, einzelne oder zufällige Wertform’ zurück (wie sie Marx im 1. Kapitel des 1. Bandes von „Das Kapital“ beschreibt)“. Sie verweist „auff die Unvereinbarkeit von unreflektiertem Glückk und Waren produzierender Gesellschaft“ (S. 47).
133
5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Dann entwirft der Politologe unter dem Titel „Paul im Geschäft“ seine satirische Gegenüberstellung eines extremen Vertreters des „Haben-Charakters“. Dieser Antipode (oder „Schatten“) der „SeinPersönlichkeit von Hans“ arbeitet sich in schamloser Weise vom armen Handelsschüler zum Besitzer eines Konfektionsunternehmens empor. Dies geschieht durch raffinierte Ausbeutung seines Arbeitgebers und dessen ihm freundschaftlich verbundener Tochter. Nach dieser polit-ökonomischen Variation folgt nun eine mikroökonomische Interpretation.
5.7
Ökonomische Interpretationen – Hans als Glücksökonom
Die Ökonomie kann sich bei offener bzw. formaler Interpretation des Nutzenbegriffs auch dem philosophischen Konzept des hedonistisch-egoistisch kalkulierenden Hedonisten anschliessen. Stringent an Hans und der Mikroökonomik orientieren sich Bayreuther Nationalökonomen.25 Sie sehen ihn als konsequenten, subjektiv rationalen und individuellen Nutzenmaximierer, dessen Verhalten man mühelos auch mit Nutzenfunktionen und -gleichungen erklären kann: „Aus dem Blickwinkel von Hans zeigt sich auff der Basis der mikroökonomischen Nutzentheorie, dass nicht nur der materielle Wert das menschliche Handeln bestimmt, sondern auch die subjektive, d. h. die individuelle Wertschätzung eines Gutes.“ Hans wird damit im Lichte der Neoklassik als rational handelnder Ökonom verstanden und als Modell für ökonomisch relevante Verhaltensgleichungen diskutiert. Kurzum ein „Vorbild“, das seinen Stoff aus der volkswirtschaftlichen „Glaubensgemeinschaft“26 ernst nimmt und in die Praxis umsetzt. Hans zeigt eben keine stabile Präferenzordnung bzw. Nutzenfunktion, wie das die philosophische und tiefenpsychologischen Interpretationen bevorzugen („der Weg vom Haben zum Sein“). Sondern: „Hans dehnt den Genuss eines Gutes so lange aus, bis der Grenznutzen eines Gutes auff das Grenzleid der zu investierenden Arbeit gesunken ist. Zusätzliches Leid muss also durch einen zusätzlichen Nutzen kompensiert werden.“ Damit wäre Hans also kein „Dümmling“, bei dem man in philologisches Schwankgelächter ausbrechen sollte.
134
Ökonomische Interpretationen – Hans als Glücksökonom
5.7
Die Zürcher Nationalökonomen Frey und Stutzer charakterisieren in ihrer Monographie zu „Happiness and Economics“27 Entwicklungstendenzen von einer, vom rationalen homo oeconomicus geprägten „Joyless Economy“ mit ihrem formalen Nutzenbegrifff zu einem Konzept mit inhaltlichen und messbaren Indikatoren zu „happiness“. Sie bewerten diese als einen „dramatic change“ der Nationalökonomie. Ihr Glück verheissendes Fazit dazu lautet: „Happiness inspires economics“.28 In aller Kürze wird unser Märchenheld nun nach von Frey/Stutzer referierten theoretischen Ansätzen, wesentlichen Einflussgrössen sowie zentralen psychologischen Indikatoren diskutiert: Von den theoretischen Konzepten und Begründungen eignen sich zur Erklärung des spezifischen „Well-beeing“ von Hans im Glück (KHM 83) zwei besonders:29 „Bias in cognition“ und „Limited abiltity to predictt ones future tastes“: a) „Bias in cognition“ Danach werden Verluste höher gewichtet als Gewinne, was ihn zu immer neuen und anderen „Einsätzen“ verleitet.
Dann ist es sein „most intense pain suffered“, das er nach Problemen mit seinen Tauschobjekten als „Verdriesslichkeit“ sofort aus der Welt schaffen will und kann.
Auch sieht er sich „overoptimistic“ als den glücklichsten Menschen „unter der Sonne“ und so von anderen stets bevorzugt. b) „Prediction off future preferences“. Diese kann und will er nicht realistisch einschätzen. Deshalb folgen dem übersteigerten Glücksgefühl des Gewinners stets „verdriessliche“ Ernüchterungen. Als zentrale Einflussgrössen für glückliches Wohlbefinden n nennen n die Autoren n fünf30; sie werden n wieder an n Hans diskutiert: a) Als Persönlichkeitsfaktoren dominieren sein (naives) Selbstvertrauen und sein steter Optimismus. b) Als sozio-demographische Grösse zählt besonders sein jungendliches Alter.
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5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
c)
Von den drei ökonomischen Faktoren (income, unemployment, inflation) begünstigten sein hohes aggregiertes Einkommen (Goldklumpen) und die selbst gewählte Beschäftigungsfreiheit. d) Aus den genannten Kontextfaktoren belasten ihn weder Arbeitsstress, Kooperationskonflikte, Lebenspartner noch Krankheiten. e) Und politische Rahmenbedingungen sind für ihn nicht relevant. Abschliessend noch ein Blick auff drei referierte psychologische Indikatoren zu „hedonistic wellbeing“ für unseren Glückökonomen:31 a) „Life satisfaction“ zeigt er nicht nur, er strebt sie auch immer wieder neu an. b) „Absense off negative mood“ gilt für den leicht Verdriesslichen sicher nicht. c) Aber er findet immer wieder einen Weg, sich selbst „presence off a positive mood“ einzureden und zu demonstrieren. Fazit: Auch wenn Hans im Glück (KHM 83) bei Frey/Stutzer nie angesprochen wird, liefert ihre Glücksökonomie dazu eindrückliche Hinweise und Erklärungen. Sie erlaubt eine noch breitere und differenziertere „Case study“ zu Management und Märchen als die seiner Bayreuther Kollegen. In einem anderen Beitrag definiert Frey „als ökonomische Glückfunktion: Glück = f(Charaktereigenschaften, soziodemographische Faktoren, ökonomische Faktoren, institutionelle Faktoren)“ und empfiehlt nach Philosophenart: „Forschen Sie über Glück, das macht selbst glücklich!“32 Das hat uns bei der Arbeit am nächsten Kapitel sehr beflügelt.
136
Betriebswirtschaftliche Forschung
5.8
5.8
Betriebswirtschaftliche Forschung – „Märchenfrei und für Hedomaten“
Die akademische Betriebswirtschaftslehre hat keine Tradition in der Verwendung von Märchen, auch nach zunehmendem Einsatz von Fallstudien in nordamerikanischer Manier sowie von Metaphern in der Hochschulpädagogik. Dies vielleicht auch, weil sie im Vergleich zur Nationalökonomie noch relativ jung und immer noch um ihre wissenschaftliche Anerkennung bemühtt ist.33 Eine Analyse von fünf relevanten Handwörterbüchern zur betriebswirtschaftlichen Forschung mit fast 16.000 Spalten34 erbringt nur Fehlanzeigen zu relevanten Sach- und Autorenstichwörtern, so bei den Handwörterbüchern der Führung, des Personalwesens, der Unternehmensführung und Organisation, des Marketings sowie der Betriebswirtschaft. Vergleichbare Ergebnisse zeigen Internetrecherchen. In der Aus- und Weiterbildung werden Märchen akzeptiert. Deshalb noch eine Vorbemerkung zur Erziehungspsychologie. Man findet z. B. selbst in dem von Rost herausgegebenen Handwörterbuch zur pädagogischen Psychologie in tausenden Sach- und Autorenstichworten weder „Märchen“ noch die „Brüder Grimm“; Gleiches gilt für das mit 1207 Seiten noch umfangreichere Werk zur Entwicklungspsychologie von Oerter/Montada.35 Aber neben der Schulpädagogik36 finden sich im Weiterbildungsbereich für Führungskräfte Ansätze. Dazu zählen Unternehmenstheater und „Story-Telling“,37 in dem z. B. zur Analyse der Unternehmenskultur und ihrer Gestalter typische Begebenheiten über „Unternehmensmärchen“ dargestellt werden – auch unter Verwendung von Volks- und Kunstmärchen. Und mit der Verwendung von Märchen als anschauliche Fallbeispiele oder Metaphern zu Führung und Kooperation kann man bei Studierenden und Führungskräften viel Interesse sowie hohen Erinnerungswert finden.38 Nun zur Art und Bedeutung von Wertemustern für eine motivationale Analyse des Märchenhelden. Zunächst dienen demoskopische Umfragen dazu der Werteforschung, dabei auch zu Hedonismus
137
5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
und Glücksstreben. Die Ergebnisse werden ebenso für zielgruppenspezifische Führungsstrategien ermittelt und eingesetzt. Nach seinem Wertemuster kann man Hans als „Hedomat“ charakterisieren. Dieser zeigt nach Klages u. a.39 bei seiner Maximierung des individuellen Lustgewinns vorwiegend Interesse an physischmateriellen Dingen; wenig berühren ihn ideelle Ziele und soziales bzw. gesellschaftliches Engagement. Er positioniert sich im Koordinatenfeld im aussengeleiteten sowie zukunftsgerichteten Quadranten.40 Hans vertritt heute somit viele Gleichgesinnte, ist also keineswegs ein spassiger Sonderfall. In der Schweiz wie in Deutschland werden seit Jahren um die 30 % der arbeitenden Bevölkerung demoskopisch als Hedonisten ermittelt. Und in Deutschland wird das Streben nach privatem Glück mit Abstand an erste Stelle rangiert, an zweiter folgt: „Das Leben geniessen“ (vgl. Abb. 24-26). Grundsätzlich werden werteorientierte Marktanalysen meist als Auftragsforschung zur Ermittlung von an Zielgruppen orientierten Marketingstrategien eingesetzt. Denn von diesen Hänsen im Glück ziehen nichtt nur Wellness-, Tourismus- und Genussmittelbetriebe viel Nutzen. Hedomaten sind generell als Kunden und Konjunkturstützen hoch willkommen. Weit wenig gesucht sind sie dagegen als Mitarbeitende, besonders wenn sie zu „freizeitorientierter Schonhaltung“ (v. Rosenstiel) und Life-Work-Balance-Forderungen führen. Denn die Führungspraxis bevorzugt Leistungsorientierte, auch wenn Formulierungen in Führungsgrundsätzen zuweilen anderes vermuten lassen.
138
Betriebswirtschaftliche Forschung
5.8 Abbildungg 24
Der Hedomat in der demoskopischen Forschung41
Zukunftsorientiert
Sigma-Typ: Der »Hedomat«
Gamma-Typ: Der »Hedialist«
Alpha-Typ: Der »Arbeitserotiker«
Außengerichtet
Innengerichtet
Beta-Typ: Der »Biedermann«
Omega-Typ: Der »Orientierungslose« ?
Kappa-Typ: Der »Konservative«
Vergangenheitsorientiert
In der Schweiz finden wir parallel dazu in zwei Langzeitumfragen einen klar erkennbaren Trend zu hedonistischen Werten sowie einen Anteil von etwa einem Drittel der Befragten mit dieser Einstellung.
Abbildungg 25
Der Weg der Schweiz zum Hedonismus
Der Weg der Schweiz 1974–2006 progressiv Hedonismus 2001
Extraversion Erotik Erfolg
Nonkonformismus antiautoritäre Haltung Romantik Sozialismus
90 0 93
2006
91
86
82
außen Eigentum
innen
Emotionalität Egoismus
autoritäre Haltung
Massengeschmack 76
Konformismus
konservativ Datenbank PKS Market Radar 2006
Passivität
1974 Reserviertheit © by Demo SCOPE RESEARCH AND MARKETING
139
5 Abbildungg 26
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Hedonismus in der Schweiz 80 73 73
74
73
72
71
70 69
68
68
69
72
68
65
64
70
68
66
71
70
69
68
64
64
67 64
64
60
64
50 39
40
35 32 27
30 21
20
29
27
28
38 35
37 33
34 30
34 30
26
25
24
27
33
34
34
32 30
31 29
74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 05
Arbeitsethos Hedonismus
Quelle: DemoSCOPE Datenbank Pks-Market Radar
In Deutschland zeigen die Umfrageergebnisse zu hedonistischen Einstellungen zwar wieder sinkende Tendenz und einen etwas niedrigeren Anteil im Vergleich zur Schweiz – allerdings bei drei Antwortmöglichkeiten, wodurch 21 % ohne Zurechnung bleiben. Noch interessanter für unser Thema sind die gestiegenen und zugleich höchsten Lebensziele der befragten Westdeutschen, die Lebensgenuss und Glücklichsein eindeutig an die Spitze ihrer Wertehierarchie rangierten (Abb. 27, 28). Im hintersinnigen Schwank Die Lebenszeit (KHM 176) werden die Tiere eher hedonistisch typisiert, während „der Mensch“ weit mehr leistungs- und lebensorientiert charakterisiert ist.
140
Betriebswirtschaftliche Forschung
5.8
Hedonismus in Deutschland
Abbildungg 27
Der Weg Deutschlands zu Hedonismus und Glückk42
Abbildungg 28
141
5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Nach diesem Ausflug in demographische Umfrageergebnisse zu Wertestrukturen in der Schweiz und Deutschland betrachten wir den Hans unter Verwendung von Motivationstheorien noch gezielter mit der eigenen Brille. Auch sie ist nur eine weitere „Ansichtssache“.
5.9
Motivationstheoretische Interpretation – Hans als eigennütziger Hedomat und unlustmeidender Glücksökonom
Für die Interpretation des Märchens wurde ein Themengebiet ausgewählt, das in der betriebswirtschaftlichen Führungsforschung schon lange auch monographisch behandelt wird43 und zugleich Brücken zur Motivationspsychologie schlägt, denn dort wurden Motivationstheorien meistt entwickelt. In der Betriebswirtschaftslehre finden sie v. a. in Führung, Personalmanagement und Marketing breite Anwendung. Deshalb und weil wir hier den Schwerpunkt unserer Interpretation des Hans im Glück sehen, wird dieser Aspekt in einem eigenen Kapitel behandelt. Im Zentrum stehen Erklärungen und Gestaltungsansätze zur positiven und effizienten Eigenund Fremdbeeinflussung des Leistungsverhaltens. Zu letzterer gibt es auch radikale Kritik.44 Die Arbeitswissenschaft befasste sich besonders mitt demotivierenden Belastungen des industriellen Arbeitslebens und konzentrierte sich dabei zunächst auff den Arbeitsplatz mit seinem Umfeld.45 Die humanistische Psychologie hat diese Ansätze recht optimistisch generalisiert und erweitert. Wir bevorzugen hier grundsätzlich die Vermeidung bzw. Verminderung des Schlechten (hier von „Motivationsbarrieren“) gegenüber oft „visionären“ Verbesserungsvorschlägen ohne Verfallsdatum. Motivationstheoretisch kann man dann Hans als stressaversen Unlustmeider sehen. Der Märchentext belegt es an mehreren Stellen: Beim ersten Tausch (Gold gegen Pferd): „Da habe ich einen Klumpen heimzutragen: Es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopff dabei nicht gerad halten, auch drückt mirs auff die Schulter“; beim zweiten
142
Motivationstheoretische Interpretation
5.9
Tausch (Pferd gegen Kuh): „Es ist ein schlechter Spass, das Reiten, zumal, wenn man auff so eine Mähre gerät, wie diese, die stösst und einen herabwirft …“ Und nach dem letzten Tausch (Gans gegen Wetzstein) und dem Verlust der Steine: Hans … „dankte Gott mit Tränen in den Augen, dass er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auff eine so gute Art, und ohne dass er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären.“… „Mit leichtem Herzen und frei von allerr Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“ Seine immer neuen Tauschgeschäfte entspringen also zunächst seinen subjektiv unerträglichen „Arbeitsbelastungen“ auff seinem Arbeitsweg (so der sozialversicherungsrechtliche Begrifff für einen „Heimweg“), die er mit einer unstillbaren Hoffnung auff neues Glück durch das nächste Tauschobjekt verbindet. Diese Hoffnung sucht er dann auch sehr umsetzungsorientiert zu realisieren, denn: „… begegnete ihm eine Verdriesslichkeit, so würde sie gleich wieder gutgemacht.“46 Unsere motivationstheoretische Interpretation47 Hans erscheint so in anderem Licht: kein „Dümmling“ mehr und auch kein „weiser Seinsucher“, kein „erster Philosoph des Glücks“ und ebenso kein „ausgebeuteter Markttrottel“. Sein „Typ“ wird nun als eine demoskopisch relevante Kombination von hedonistischem Unlustmeider und Glücksökonom bzw. einem eigen- und handlungsorientierten Zufriedenheitsmaximierer interpretiert. Zur differenzierten Beschreibung und Erklärung dieser These dient unser Fünf-Faktoren-Konzept der Motivation. Wie der Bezugsrahmen in Abb. 29 zeigt, werden hierfür stabile Eigenmotivation, Commitment, volatile Situationsmotivation, Vermeidung bzw. Reduzierung von Demotivation sowie handlungsorientierte Umsetzung als zentrale Einflussfaktoren gewählt.48
143
5 Abbildungg 29
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Das 5-Faktoren-Modell der Motivation
a) Eigenmotivation erkennen und einsetzen Zunächstt zur relativ stabilen Eigenmotivation als Teil der Persönlichkeitsstruktur, die in Theorie und Praxis zugunsten situativer Anreize meist ausgeblendet wird. Speziell die „differentielle Psychologie“ sucht nach Unterschieden in Begabungen und Motivationen zwischen Menschen, z. B. über Tests zum Intelligenzniveau, der Sozial- oder Willensstruktur, zu Einstellungs- und Verhaltensmustern. Dabei wird auff möglichst wenige Faktoren reduziert. Ein bekannter Ansatz sind die sog. „Big Five“.49 Dieser Ansatz fokussiert auff die Ausprägung folgender relativ stabiler Persönlichkeitseigenschaften: Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeitt und Offenheit für Erfahrungen (vgl. Abb. 30). Für Prognosen zur Führungseignung wurden Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität als besonders valide ermittelt. Unser Märchenheld lässt folgende „Big-Five-Struktur“ vermuten: Seine hohe, aktive, leichtherzige wie gutgläubige Kommunikationsund Kontaktfreudigkeit weist auff entscheidungs- und handlungsfreudige Extraversion bzw. einen Mangel an reflexiver Introversion hin. Weiterhin verhält er sich sehr verträglich und kaum nachtra-
144
Motivationstheoretische Interpretation
5.9
gend – auch nach Enttäuschungen durch Tauschgeschäfte mit Kooperationspartnern. Seine – zwar fachlich unfundierte wie unreflektierte – „Offenheit für Erfahrungen“ lebt er bei jeder Transaktion mit ihm unvertrauten Objekten und -subjekten. Dagegen lässt sich „Gewissenhaftigkeit“ aus seinen unreflektierten, intuitiven bis sprunghaften Entscheidungen und Handlungen nicht ableiten. Anfällig – zumindest auff der Gemütsoberfläche – ist schliesslich seine „emotionale Stabilität“. Schon bei ersten Misserfolgen reagiert er „verdriesslich“ und tut dann alles, um diesen Disstress umgehend wieder in – nach Nietzsche – „explosives Glücksgefühl“ zu verwandeln.
Big Five der Persönlichkeit
Abbildungg 30
Hoch ist auch seine Eigenmotivation im Entscheiden und Handeln. Er sucht nicht fremde Hilfe, sondern arbeitet initiativ, selbstständig und subjektiv erfolgversprechend an der Verbesserung seiner Situation. Hier handelt er wie manch hoffnungsvoller Gründer einer – in Deutschland staatlich geförderten – „Ich-AG“. Mit den versprochenen Verdienstaussichten und dem Wetzstein als Investitionsgut hofft er auff baldige Umsetzung seiner neuen Berufs- und Glücksvision – bis hin zur Selbsttäuschung. Damit präsentiert er sich auch als
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5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
Meister der „Selbstmotivierung“. Er sucht und braucht keine Führungskräfte, Mitarbeiter oder Kollegen, um in seinem Sinne unternehmerisch tätig zu werden und zu bleiben. Er löst auftretende Probleme auff seine Art selbstständig, findet immer wieder in zwar wechselnden und losen Netzwerken Kooperations- bzw. Tauschpartner und setzt in handlungsorientierter Weise seine Ziele sofort um. Insoweit praktiziert er unternehmerisches Denken und Handeln. Weiterhin charakterisiert Hans unerschütterliches wie (bzw. weil) unreflektiertes Selbstvertrauen. Wir unterscheiden fünff Formen des Selbstvertrauens50 und interpretieren sie in Bezug auff Hans (vgl. Abb. 31).
Abbildungg 31
Dimensionen des Selbstvertrauens
Hans zeigt hohes „Sozialvertrauen“ – sogar in jede unbekannte Strassengesellschaft. Und mit hohem „Schicksalsvertrauen“ (als Vertrauen in Gott und sein Schicksal als Glückskind) bezeichnet er sich als Sonntagskind, das „mit einer Glückshaut geboren wurde“. Dieses Vertrauen bestimmt sein Handeln in allen Transaktionen. Mit „Netzwerkvertrauen“ (Vertrauen, wohlgesinnte Helfer zu finden) geht er naiv-gutherzig auff wildfremde Gelegenheitsbekanntschaften
146
Motivationstheoretische Interpretation
5.9
zu, die den „Braten schnell riechen“ und Hans übers Ohr hauen. Sein „Kompetenzvertrauen“ steht dagegen auff dünnem Fundament (sei es im ökonomischen Umgang mit Gold oder im technischen mit Pferd oder Kuh), während sein handlungsorientiertes „Umsetzungsvertrauen“ in allen Situationen ungebrochen bleibt. Eine zweite motivationstheoretische Grundlage ist sein bevorzugter Zurechnungsstil von Erfolg und Misserfolg. Erfolgszurechner rechnen sich selbst Erfolge zu, v. a. ihrer Begabung und Anstrengung; für Misserfolge sind dagegen andere bzw. schwierige Situationen verantwortlich. „Misserfolgszurechner“ neigen dazu, verursachte Misserfolge primär sich selbst zuzuschreiben; Erfolge rechnen sie dagegen bevorzugt glücklichen Umständen zu (vgl. Abb. 32). Diese Zurechnungsstile beeinflussen in der Führung z. B. wesentlich wie unwissentlich die Bereitschaft zu und Verteilung von Anerkennung und Kritik.
Zurechnungsstile nach Weiner51
Abbildungg 32
Hans ist danach ein „Misserfolgszurechner“. Erfolge schreibt er seiner Glückshaut zu und Misserfolge attribuiert er aber nicht einmal auf böswillige Tauschkumpane. Weil der „Gefühlsingenieur“ nie über Misserfolge grübelt, dafür lieber gleich die nächste Aktion startet, beschweren ihn diese auch nicht lange. Und seinen nächsten vermuteten Anfangserfolg beim nächsten Tausch interpretiert er sofort als übergrosses, unverhofftes Glück. b) Commitment fordern Commitment ist motivationstheoretisch von grosser Bedeutung. Denn damit wird erwartete Leistung verantwortungsvoll und freiwillig erbracht bzw. Demotivation ertragen, auch wenn es dazu situativ am eigenmotivierten Wollen fehlt, ja wenn sogar Demotiva-
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5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
tion bremsen würde. Diese Fähigkeit und Bereitschaft selbst für ungeliebte Aufgaben lässt sich nach drei Ausprägungsformen52 differenzieren:
Ethisches Commitment basiert auff einer gewissenhaften Grundhaltung, also einer moralischen Verpflichtung, auch unbeliebte bzw. unbequeme Entscheidungen oder Handlungen zu realisieren – z. B. nach der Maxime: „Versprochen ist versprochen“.
Emotionales Commitment gründet auf einer gefühlsbezogenen Verpflichtung – insbesondere gegenüber Vertragspartnern – z. B. nach dem Motto: „Ihr/ihm zuliebe erledige ich auch diese frustrierende Aufgabe“.
„Kalkulatives Commitment“ wägt rational und nüchtern die wesentlichen Vor- und Nachteile einer Entscheidung ab, etwa nach der Devise: „Der Spatz in der Hand ist mir lieber als die Taube auff dem Dach“ oder „Man trifft jeden Menschen zweimal“. All diese Forderungen erfüllt Hans nicht in erkennbarem Masse. Da er sich als Glückseligkeitssucher stets und primär unlustvermeidend verhält, Gewissenhaftigkeit als Eigenmotivation bei all seinen Tauschgeschäften nie erkennbar wird und er auch seine Tauschgeschäfte nicht bereut, entfällt bei ihm Commitment gegenüber Tauschentscheiden, -objekten oder -partnern. Er kennt nur die Verpflichtung gegenüber dem eigenen hedonistischen Ziel, Unlustgefühle schnell zu vergessen und sie durch visionäre Glückserwartungen zu kompensieren. c) Situationsmotivation steigern Auff diesen Hebel beschränken sich viele theoretische wie gestaltungsorientierte Ansätze, besonders für die Motivationspraxis. Hans verhält sich hier exemplarisch nach dem Risikowahlmodell der Leistungsmotivation,53 indem er seine Furcht vor Misserfolg optimal mit Hoffnung auff Erfolg verbindet. Letztere stärkt er durch subjektiv hohe Erfolgswahrscheinlichkeit sowie hohen Anreizwert des Ziels. Das auff dem rationalen Risikowahlansatz fundierte Konzept der Prozessmotivation ist im Gegensatz zu dem der Eigenmotivation vorwiegend situativ und damit volatil zu sehen. Hans konzentriert sich auch auff den Motivationsprozess und nicht nur auff Motivationsinhalte. Das Modell ermittelt die Leistungsmotivation über drei zentrale Einflussfaktoren: die Valenz des angestrebten Ziels, die In-
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Motivationstheoretische Interpretation
5.9
strumentalität der Erfolgserreichung sowie die Erfolgswahrscheinlichkeit der Zielerreichung – nach der Formel: LM = f(LV x LI x LE). Wie gestaltet Hans nun sein Glücksgefühl in diesem Prozess – übrigens nur über Selbstmotivierung? Zunächst verändert er blitzschnell den Anreizwert, also die Valenzen seiner Ziele bzw. der Funktionen seiner Tauschobjekte. Dazu einige Beispiele: „Was ist das Reiten für ein schönes Ding!“, und kurz darauf: „Es ist ein schlechter Spass, das Reiten.“ Und beim nächsten Tauschobjekt: „Da lob ich mir Eure Kuh, da kann einer mit Gemächlichkeit hinterher gehen, und hat obendrein seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiss … Herz, was verlangst Du mehr?“ Kaum aber hat die Kuh ihm einen kleinen Tritt beim unsachgemässen Melken versetzt, argumentiert er zum nun angebotenen Schwein: „Ja wer so ein junges Schwein hätte! Das schmeckt anders, dabei noch die Würste.“ In dieser Weise schreibt er stets dem neuen Objekt seiner Begierde nach euphorischer Glückseligkeit immer die höchste Bedürfnisbefriedigung zu. Die hohe Valenz stabilisiert auch seine Glücksgefühle – bis zur nächsten Enttäuschung. Diese auf immer neue Objekte neu ausgerichtete extreme Valenzbewertung ist sein Erfolgsmodell. Mit der hohen Valenzzuschreibung ist seine Einschätzung der Zielunterstützung durch die Tauschhandlungen meistt sehr eng verknüpft. Diese sog. Instrumentalität ergibt sich aus dem erwarteten Nutzen für seine leiblich-seelische Bedürfnisbefriedigung. Das Pferd für bequemes Fortbewegen, die Kuh für genussreiche Grundversorgung, das Schwein für besonderen Essgenuss, die Gans zusätzlich54 für seine hedonistischen Schlafbedürfnisse und die Schleifsteine für stete Geldversorgung. Auch beim Einschätzen der Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Vorhaben vermehrt er seine Leistungsmotivation. Erstens denkt er über Risiken seiner Tauschgeschäfte nie nach, denn nur die Chancen interessieren ihn. Sein Vorbild könnte damit gesamtgesellschaftlich einen Wandel von der Risiko- zur Chancengesellschaft fördern. Zweitens praktiziert er ebenso einen Dissonanzabbau nach schlechten Erfahrungen mit den Tauschobjekten. Drittens stützt sein Schicksalsvertrauen (als Glückskind) die stets optimistische Einschätzung künftiger Entscheidungen. Dies bezeichnen Entwicklungspsychologen55 z. B. als ein durch starke und positive Mutterbindung früh soziali-
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siertes „Urvertrauen“. Dazu Hans: „Ich muss mit einer Glückshaut geboren sein, rieff er aus, alles, was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind …“ d) Demotivation reduzieren Hans hat eine bemerkenswert hohe Eigenmotivation. Beim Abbau seiner wiederholten Demotivationen nach Tauschgeschäften zeigt er eine ausgeprägte Vorliebe, „kognitive Dissonanzen“ abzubauen. Das von Festinger56 entwickelte Konzept beschreibt den Umgang mit geistig-seelischem Stress in Entscheidungsprozessen, der auch für Führungskräfte von grosser Bedeutung ist. Dieser Dissonanzstress lässt sich über verschiedene Strategien abbauen. Dazu zählen: Bestätigung durch andere erhalten (z. B. Kollegen, Vorgesetzte, Experte, Berater), sich nach einer Entscheidung nicht mehr mit ihr befassen, unerwünschte Ergebnisse durch neue Definition des Ziels („die Trauben sind mir zu sauer“) angleichen oder nach weiteren stützenden Entscheidungshilfen suchen. Es gibt aber auch „Dissonanzverstärker“; dazu zählen Menschen, die im Entscheidungs- und Umsetzungsprozess immer neue Probleme suchen und entdecken, stets auff Entscheidungen zurückkommen wollen oder die als Perfektionisten stets ein Haar in der Suppe finden bzw. grundsätzlich („Sein oder Nichtsein ist hier die Frage“) „den Hamlet spielen“. Hans erweistt sich als ein Meister im Abbau kognitiver Dissonanzen. Auff vergangene Tauschgeschäfte kommt er selten abwertend zurück. Vorallem kann er einen nach Marktpreisen objektiv schlechten Tausch sofort in einen subjektiv phantastischen uminterpretieren. Auch setzt er eine geschickte Doppelstrategie beim Dissonanzabbau ein. Bei eingeschätztem Misserfolg handelt er sofort und reduziert damit seine Demotivationsphase. Gleichzeitig suchtt er nach neuen Gelegenheiten für neue Erfolgserlebnisse. So realisiert er seine Strategie der Suche nach immerwährender Glückseligkeit in allen geschilderten Entscheidungs- und Lebensphasen. Und schliesslich bedient sich der deutsche Junge einer Strategie, die als „Le bonheur allemand“57 in die Literatur eingegangen ist. Diese soll die Neigung der Deutschen kennzeichnen, aus einem Unglück doch noch ein „Stückchen Glück“ abzuleiten („es hätte ja schlimmer kommen können“) und damit effizientt Dissonanz abzubauen. Da-
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Motivationstheoretische Interpretation
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mit wird Unangenehmes zu einem glücksbringenden Ereignis umgedeutet. Auch hier zeigt sich Hans als wahrer Meister, Demotivation zu vermeiden oder unverzüglich abzubauen. e) Umsetzung fördern „Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es“ – so der Volksmund. In unseren empirischen Analysen zu zentralen unternehmerischen Schlüsselqualifikationen bei Führungskräften (innovative Gestaltungsfähigkeit, Sozial- und Umsetzungskompetenz) wurden die Umsetzungsqualifikation und -motivation immer wieder als das Hauptproblem bezeichnet.58 In der neueren Motivationsdiskussion begnügt man sich deshalb nicht mehr damit, Motivation mit Beweggründen für Handeln gleichzusetzen. Der Entscheidungsprozess wird vom ersten Beweggrund bis zur Umsetzung thematisiert. Dafür liefert v. a. die sog. „Volitionstheorie“ die theoretischen Grundlagen. In jeder der vier Phasen können Umsetzungsprobleme entstehen (vgl. Abb. 33), z. B. durch Schwellenängste vor Neuem, aus Angst vor Handlungsfolgen oder vor Widerständen bei anderen.59
Abbildungg 33
Ein Modell motivationaler Handlungsphasen Intentionsinitiierung
MOTIVATION prädezisional
Rubikon
Intentionsbildung VOLITION präaktional
Fazit Tendenz
Fiat Tendenz
Wählen
präaktionale Phase
Intentionsrealisierung
Intentionsdesaktivierung
VOLITION aktional
MOTIVATION postaktional
Handeln
Bewerten
Hans zeigtt dieses Umsetzungshandeln in auch problematischer Weise. Denn idealtypisch sollte er sich60 auff eine möglichst rationale Entwicklung und Prüfung von Handlungsalternativen und Plänen ausrichten. Auch sollte er mögliche Diskrepanzen zwischen Ist- und Sollzuständen reduzieren oder aktiv beseitigen. Bei der Alternativenwahl geht unser Märchenheld aber wenig reflektiert, weil spontan und intuitiv vor. Den Dissonanzabbau sowie das spontane Handeln beherrscht er dagegen virtuos. Er braucht keine Bedenkzeiten, um seinen „Rubikon“ jeweils zu überschreiten. Und nach der Um-
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setzung lässt er Depression förderndes und „lageorientiertes“ Grübeln nicht zu. Lieber stürztt er sich wieder euphorisch in das nächste Geschäft.
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Zusammenfassung
Hans im Glück zählen wir tendenziell zur demographisch in Deutschland und der Schweiz mit ca. 30 % vertretenen Zielgruppe der modernen Hedonisten oder „Hedomaten“, die selbst kleinere oder behebbare Beschränkungen der Suche nach möglichst fortwährender persönlicher Glückseligkeit nicht ertragen will. Er nimmt jeden Nachteil seiner fünff Markttransaktionen (Pferd, Kuh, Schwein, Gans, Wetzstein) unverhältnismässig schwer. Er lässt sich also sofort demotivieren, das eben erworbene und überschwänglich begrüsste Tauschobjekt weiter zu nutzen. Hans akzeptiert hohe ökonomische Wertverluste, weil er statt Marktpreisen sein subjektives Nutzenkalkül bevorzugt. Er zeigt sich unfähig, aus demotivierenden Tauscherfahrungen zu lernen, und ein „Erdulden“ hat Hans nie geübt. Er bevorzugtt also Schonhaltungen und wird damit zum Antipoden vieler Märchenheldinnen und -helden, z. B. von Aschenputtel.61 Dass Hans mit dieser Einstellung kein Sonderfall ist, belegen Werteforschungen. Bei der Frage nach dem Ausmass von „freizeitorientierten Schonhaltungen“ lauteten die Prognosen von Personalvorständen für 2010: 31 % für akademischen Nachwuchs und 13 % für Führungskräfte. Und einen 30 %-Anteil an sog. Hedonisten erbrachten demoskopische Analysen der arbeitenden Bevölkerung in der Schweiz und Deutschland.62 In philosophischen Interpretationen stehen Formen und Wege der Glückssuche im Mittelpunkt. In einer wird Hans sogar als „der erste Philosoph des Glücks“ “ charakterisiert, der den humanistischen Weg vom „Haben zum Sein“ vorbildlich wandelt. Viele Tiefenpsychologien interpretieren Hans im Glück als persönliches Entwicklungsmodell von einer Haben- zur Seinsorientierung. Solche Interpretationen können aber erst überzeugen, wenn dies aus dem Märchentext halbwegs nachvollziehbar belegt wird.
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Zusammenfassung
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Philologische Märchenforscher sehen in diesem Märchen meist ein satirisches Schelmenstück über einen wohlgemuten „Dümmling“, das nun genug diskutiert wäre. Und ein Erzählforscher bezweifelt sogar, dass es ein genuines Volksmärchen sei. Ein Politologe interpretiert Hans zunächst als ausgebeuteten Marktteilnehmer. Dann dreht er in seinem „Märchenverwirrbuch“ den Verlauf der Geschichte, zäumt sie „vom Schwanz auf“. Er zeigt damit einen wenig sozialverträglichen, aber Erfolg versprechenden Weg im marktwirtschaftlich-kapitalistischen System auf. So wird aus dem Hans ein Paul und aus dem Habenichts ein vermögender Kleinunternehmer. Wenn wir selbst nun das Originalmärchen retrograd erzählen, dann lässt sich daraus ein typischer Karriereweg ableiten, der vom Muttersöhnchen zu einer bescheidenen „Ich-AG“ (Scherenschleifer) über erfolgreichen Viehhandel bis zum (Mit-)Inhaber eines Mühlenbetriebs führt. Solche Karriereorientierung zeigten in Umfragen zur Werteforschung 21 % des befragten studentischen Nachwuchses und 75 % der Führungskräfte. Und Personalvorstände Deutschlands prognostizierten diese Werte für 2010 mit 31 % für die sog. „High Potentials“ und 65 % für Führungskräfte.63 In der mikroökonomischen Interpretation von zwei Nationalökonomen optimiert Hans konsequent und effizient seine subjektive Nutzenfunktion in all seinen Tauschgeschäften. So avanciert er als „Glücksökonom“ zu einer modernen Spielart eines „homo oeconomicus“ die schon bei den Brüdern Grimm vorgestellt wurde! In der betriebswirtschaftlichen Literatur fand sich in fünff relevanten Handwörterbüchern mit fast 16.000 Spalten weder das Autorenstichwort „(Brüder) Grimm“ noch ein einziger Sachverweis zu „Märchen“64 Sie erwies sich damit als eine insoweit „märchenfreie Disziplin“. Nur die demoskopische Marktforschung liefert interessante Hinweise zur Verteilung von Hedonisten und Glückssuchern, insbesondere für zielgruppenorientierte Marketing- und Führungsstrategien. Motivationstheoretisch zeigen sich verschiedene Ansätze zur Umformung von persönlichen Krisen in Glückszustände. Hans kann in fast alchimistischer Manier sein „Pech“ gleich wieder zu („Seelen“-) Gold machen. Denn unser „Glücksökonom“ verwandelt konsequent
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und subjektiv nutzenorientiert schon kleine Demotivationen durch neue Situationsgestaltung und -interpretation in neue Glückseligkeit. Weiterhin finden wir als Besonderheiten: seine ausgeprägte Fähigkeit zum Dissonanzabbau und zu steter Selbstmotivierung, eine in allen Bereichen Glück spendende Kombination von Leistungs- bzw. Handlungsorientierung sowie fatalistisches und umsetzungsstarkes Selbstvertrauen als „Glückskind“. Entsteht so Glück mitt hoher Dauerhaftigkeit und Intensität? Verliert es damit den in vielen Begriffsumschreibungen typischen flüchtigen, episodenhaften Charakter im Sinne einzelner, seltener „peak experiences“? Sehr unterstützend wirkt Hans’’ Fähigkeit, fördernde Motivationsstrategien kombiniert einzusetzen. Ganz nach Nietzsche steigert er sich vor und nach seinen Entscheidungen in euphorische Glückserwartungen, die aber nach der ersten Enttäuschung sofortt in Verdriesslichkeit (Demotivation) umschlagen. Doch unmittelbar darauff reduziert er diese Unlustgefühle über die sofortige Suche nach neuer Lustgewinnung. Das geschieht über stete Eigenmotivation sowie Hilfe von zufälligen Bezugspersonen und Tauschobjekten. Eine hohe Selbst- und Leistungsmotivation wird ihm ja schon über die Anerkennung und den hohen Lohn von seinem Arbeitgeber bestätigt. Marktökonomisch erfolgreich ist er dagegen in keinem seiner Tauschgeschäfte und er wird deshalb nicht nur von Wirtschaftsstudenten primär als Markttrottel gesehen. Hans sucht Chancen, meidet aber erkennbare und erlebte Risikosituationen. Sein fehlendes Commitment – v. a. gegenüber eigenen Entscheidungen mit Demotivationsfolgen – ist ein motivatorischer Schwachpunkt. Und beim Umsetzen fehlt es ihm an Beharrlichkeit und der Fähigkeit zum Erdulden von situativen Nachteilen. Aber unser „Gefühlsingenieur“ findet selbst immer wieder eine glücksverheissende Alternative. Denn: „Begegnete ihm eine Verdriesslichkeit, so war’s gleich wieder gutgemacht“ – so der motivationstheoretisch zentrale Kernsatz des Märchens.
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Lessons learned
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Lessons learned
Der Blick über den eigenen Zaun (fachwissenschaftlich, erfahrungsorientiert, menschenbildbezogen,) erweitert den eigenen Blickwinkel und bewahrt vor Scheuklappen förderndem Interpretationsmonismus. Noch heute würde Hans beispielsweise in einer demoskopischen Umfrage bei Gross und Klein bevorzugt als ausgemachter Markttrottel interpretiert. Wie erklärt sich dieses konstante einseitige Wahrnehmungsmuster? Man lernt auch von schlechten „Vorbildern“. Wenn man nur eine „Vision“ im Auge hat („Zurück zur Mutter“ (Hans im Glück) oder der „Grösste im Markt“ bzw. „der weltweite Technologieführer“), dann gerät man leicht in die Gefahr, auff den Stationen dahin – trotz ausgebauter Controllingabteilungen – viele Ressourcen zu verschwenden. In der Praxis legitimiert man das dann gern als „strategische Entscheidungen“ mit besonderen Zukunftsoptionen. Hans lehrt auch, wie man mit solchem Verhalten Nachhaltigkeit von Entscheidungen verfehlt, dafür Flexibilität in Wandelprozessen gewinnen kann. Leistung wird häufig als Produkt von Qualifikation, Situationsgestaltung und Motivation verstanden. Dabei wird Motivieren von Führungskräften als der wichtigste und zugleich schwierigste „Hebel“ eingeschätzt. Darüber darff die Qualifikation (Fach-, Methodenund weitere Schlüsselkompetenzen) nie ausgeblendet werden. Und die Situationsgestaltung sollte man nicht nur durch „Neuinterpretation“ realisieren; es sei denn, man begnüge sich mit einem „bonheur allemand“. Selbstmotivation, v. a. über Eigenmotivation und Commitment, sollten stets am Anfang stehen und Fremdmotivation vor allem subsidiär erwartet bzw. praktiziert werden. Aber wieweit kann man seines Glückes Schmied sein und bleiben? Wer kompensiert dann die eigenen Schwächen in der Arbeitswelt? Ohne Netzwerkunterstützung führen einsame Entscheidungen leicht in Sackgassen – auch das lehrt uns Hans. Ebenso, dass in Deutschland statt der sog. „Ich- oder Selbst-AG“ besser eine „WirGmbH“ hätte gefördert werden sollen, in der sich Kompetenzen im Team ergänzen.
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Man könnte auch normativ zwischen Reifegraden des Glücklichseins unterscheiden. Als Alternativen bieten sich an: instinktiver oder rationaler Egoismus versus reflektierende und verantwortungsvolle Folgenanalyse sowie Mässigung, Stetigkeit und sozialer Bezug. Was aber hilft Stetigkeit, wenn das Glück als vergängliche „peak experience“ („O fortuna, velut luna“), und was wirklich gelebter sozialer Bezug, wenn er nur als Hoffnung oder Sehnsucht danach verstanden wird? Folgende Sichtweisen diskutierten wir zur Reflexion und weiterführenden Interpretation:
Humanistisch-entwicklungsorientiert wird Hans als „erster Philosoph des Glücks“ interpretiert, der seinen Weg vom Haben zum Sein findet.
Vulgärökonomisch (und wohl auch demoskopisch) sowie philologisch wird sein Weg als schwankwürdiges Versagen eines Markttrottels bzw. naiv-liebherzigen „Dümmlings“ gesehen.
Mikroökonomisch zeigt Hans dagegen neoklassisches Modellverhalten als „homo oeconomicus“ im rationalen Maximieren seines subjektiven Nutzens mit wechselnder Nutzenpräferenz (Reiten, Trinken, Essen, Schlafen, Geld verdienen, zur Mutter kommen).
Motivationstheoretisch charakterisieren wir Hans zunächst als Glücksökonomen, stressintoleranten Unlustmeider, der sein Glück über Abbau von Entscheidungsdissonanzen sowie über handlungsorientierte Glücksvisionen erreicht. Er vertritt die mit ca. 30 % demoskopisch starke Zielgruppe der Hedonisten bzw. Hedomaten, die primär Spass, Genuss, wechselnde Optionen und Unlustvermeidung als wichtigste Präferenzen für ihr höchstpersönliches Glücksstreben ansehen. Neben diesen Idealtypen dominieren in der Arbeitswelt Mischformen, die nach persönlicher Prägung, Entwicklungsphase, Umweltreizen und Bezugspersonen variieren. Hedonisten und Hedomaten erfordern damit eine zielgruppenorientierte wie individuelle Führung sowie personalpolitisch angepasste Antworten – von Personalwahl und -einsatz über entsprechende Führungsstile bis hin zu spezifischen Motivationsprogrammen. Denn sie suchen primär Spass in und an der Arbeit, zeigen allenfalls emotionales Commitment, wünschen sich kooperative Führung und begeisternde Sozi-
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albeziehungen. Davon machen sie auch ihre Leistungsmotivation abhängig. Damit eignen sie sich motivational wenig für viele Berufe, Unternehmenskulturen und Positionen. Für andere (z. B. für „entertainment“ und Netzwerkfunktionen) sind sie dagegen eher einsetzbar. Von Hans kann man lernen, Unlust durch Dissonanzabbau statt weiterer Dissonanzverstärkung (z. B. „Jammern auff hohem Niveau“ oder perfektionistische Selbstblockierung) zu reduzieren, sich immer wieder neu und eigenständig zu motivieren sowie durch aktives Handeln ungünstige Situationen zu bewältigen. Literaturbeispiele dafür sind: Robinson Crusoe, der sich bei seiner Lagebeurteilung nach der Landung auff einer einsamen Insel auff die positiven Lageaspekte konzentriert, oder Münchhausen, der sich mit eigener Kraft aus prekären Situationen rettet. Dazu gehört gerade für „Führungs“-Kräfte weiterhin die Bereitschaft zu einer „konstruktiven Interpretation der Wirklichkeit.“ Subjektive und marktökonomische Nutzenmaximierung können deutlich differieren. Wenn Glücksempfinden nur ein individueller Zustand sein kann, warum sollte es dann nicht auch den Weg des Hans geben? Und marktfähiges Verhalten sichert noch keine subjektive Nutzenmaximierung. Zudem vermag schneller Dissonanzabbau bei Entscheidungen auch Selbstbetrug zu bewirken. Glückssichernder Umgang mit Unglück und Krisen ist auch über alternative Lebensentwürfe sowie kognitive, emotionale sowie aktionale Bewältigungsstrategien realisierbar. Möglich wäre z. B. bewusstes Geniessen kleiner Glücksmomente oder Senecas Maxime zu beherzigen: „Nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht, ist arm.“ Die Literatur zeigt dazu vielfältige Alternativen.65 Auch Führungskräfte mit hoher Eigen- und Leistungsmotivation motivieren viele Mitarbeiter nicht zufriedenstellend. Insbesondere wird bei Umfragen beklagt: mangelnde „Sinnvermittlung“ bei übertragenen Zielen und Aufgaben sowie ungenügende Unterstützung, diese zu erreichen. Im Zentrum demotivierenden Verhaltens stehen weiterhin: ungenügende Anerkennung, unbedachte Kritik sowie Misstrauen fördernder Umgang mit Versprechungen, überzogene Erfolgszurechnung auff die eigene Person und ebenso bevorzugte Misserfolgszurechnung auff andere sowie meist nur kalkulatives (statt z. B. ethisches oder emotionales) Commitment. Selbst die Um-
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setzungsfähigkeit und -motivation wird – im Gegensatz zu Hans – als zentraler Schwachpunkt eingeschätzt. Insoweit könnte man das Märchen der Brüder Grimm auch als ein Modell zur Aufhellung von „Führungsschatten“ sehen – etwa nach dem Motto: Hans kapieren ohne ihn zu kopieren. Das Märchen regt zu weiteren oder vertieften Fragen an: Was verstehe ich persönlich unter Glück? Wie wird es im Märchen oder Managementt erreicht und wie im eigenen Leben? Bevorzuge ich Hans im Glück in der Originalfassung oder würde ich diese Geschichte lieber karriereorientiert retrograd (z. B. von der „Scherenschleifer-Ich-AG“ über den Viehhandel zum Mühlenbesitzer) lesen? Und wieweitt wäre dieser Interpretationsansatz ein interessanter sowie nicht nur positiv besetzter Strategiefall für die Aus- und Weiterbildung in Kaderschmieden? Wie beurteilt man dazu Theodor Fontanes Ratt an seinen Filius: „Mein Sohn, ich rate Dir vor allen Sachen ab vor dem Karrieremachen.“ Sollte Karriere als Ziel oder als Ergebnis verstanden werden? Und was müsste man dann alles dafür tun? Denn selbst mit märchenhaftem Glück allein wäre das wohl kaum zu schaffen. Lernen (v. a. durch konstruktives „Infragestellen“) gehört zur Markt- und Demokratiefähigkeit. Diese Falsifikationsbereitschaft ist für Erkenntnisfortschritt unverzichtbar. Dazu gehört die Reflexion von Misserfolgen wie von Erfolgen. Das wäre ein besonders wichtiges Lernprogramm für alle „Hänse im Glück“. Reflexion – mit Offenheit für neue Sichtweisen – eines einfachen „Haus- und Kindermärchens“ kann so auff andere Weise die eigene Lebensdeutung und -bewältigung fördern.
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Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
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Anmerkungen
5.13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
5.13
Anmerkungen
Aichinger 2005 Vgl. Uther 2004a sowie Grimm 1999/1819 Höhler 1996, Maslow 2005, Epikur - siehe dazu Pieper 2001, S. 41, Thomae 2003, o. V. 1992 Wenzel 2005 Geissler 1947, v. Eichendorfff 1826/1997 sowie Defoe 1719/2003 vgl. dazu Pieper 2003, S. 42 ff. auch zu weiteren Belegen, Strathern 2003 Strathern 2003, S. 183 ff., Kirchgässner 2001 vgl. Uther 1990 Marcuse 1948/1995, S. 42 und 48 Uther 1990, 1999 Fromm 1976/2003, S. 23, 105, 161 ff., 163 f. sowie 142, 150, 108 Watzlawick 1983/2004 Rilke 1899/2002, S. 200 f. vgl. z. B. Zitzelsperger 2004 sowie Wardetzky, K./Zitzlsperger 1997 Lüthi 1976 sowie in gleicher Weise Uther 1999, Fetscher 1997, Gobrecht 2004 Dazu Uthers Kurzfassung: g „Dort beauftragt g eine Frau ihren Mann, auf dem Markt ein Pferd zu verkaufen bzw. zu tauschen. Es folgen g ungünsg tige g Tauschgeschäfte g (Pferd, Kuh, Schaf, Gans, Huhn, faule Äpfel), p bevor der Bauer den Markt erreicht hat. In einer Schenke kommt er ins Gespräch p mit zwei reichen Engländern, g die spontan eine Wette über einen Scheffel Gold mit ihm abschliessen … Die Wette soll der Bauer gewinnen, wenn seine Voraussage g eintrifft, dass seine Frau bei seiner Heimkehr nicht schimpft. p Im Gegenteil: g ùnsere Mutter wird sagen: g ‚was Vater tut, ist immer recht‘. Dies geschieht, und so enden die scheinbar fatalen Handelsgeschäfte mit einem ‚Schiffpfund Goldstücke‘“. Vgl g Andersen 1990 sowie Uther 2005, Uther 1999, S. 490 ff. in: Brednich, R. et al. (Hrsg.): 1. Bd. 1977 Hildebrandt 1988, insbes. S. 72ff, 115 ff., 121 f. Zielen 1987, S. 108 Wittgenstein 1976 vgl. z. B. Bettelheim 2000, Boothe 2002 vgl. z. B. Franz 1986, Kast 1989, Boothe 2002 vgl. Zielen 1987, insbes. S. 25 vgl. Brüder Grimm 1999, S. 425 Fetscher 2000, insbes. S. 45 und 47 Oberender/Rudolff 2004 Binswanger 1998 Frey, B. S. & Stutzer, A. (2002), S. 20, 165 f. dieselben S. 171 dieselben S. 22 f. dieselben S. 10 f. dieselben S. 24 Frey, B. S. (2001). S. 13 und 22 Wunderer 1995; Gloor 1987
163
5
Motivation in Management und d Märchen – Hans im Glück
34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
164
Kieser/Reber/Wunderer 1995, Gaugler/Oechsler/Weber g 2004, Schreyögg/Welge 2004, Tietz/Köhler/Zentes 2002, Wittmann et al. 1993 Oerter/Montada 2002, Rost 2001 Franz/Kahn 2000, Zitzlsberger 2004 Schreyögg 2001, Denning 2001, Sottong et. al 2003 Wunderer 2002, 2004, 2004a, 2007 sowie Berger 2001 mit allerdings anderer Zielgruppe und anderem Anspruch Klages 1992, Schmidt-Salomon, 2002, Wikipedia Stichwort: Hedomat sowie Kap. 623 Hilb 2002, S. 45, Wyss 1999, vgl. Wunderer, 2007, Kap. C.VI Allensbach 2002, sowie Wunderer, 2007 Kap. C.VI vgl. Reber 1973 und 1995 Sprenger 1999 Ulich 1994 Grimm 1999, S. 423 Wunderer 2007 vgl. ausführlicher dazu Wunderer 2007 Hossiep/Mühlhaus, p 2005, S. 51 ff.; der Leistungsmotivationstest g (LMI) von Schuler/Prochaska 2001 ist noch themenspezifischer, aber umfangreicher. vgl. Wunderer 2004, 2004 a vgl. Weiner, B, 1976 Meyer/Allen 1997 Atkinson 1975/2002 sowie Bierhoff/Herner 2002, S. 132 f. Grimm 1999, S. 426 Erikson 1975, Bowlby 1975 Festinger 1957 Röhrich 2004, S. 559 Wunderer/Bruch 2000, Wunderer 2007 Heckhausen 1999, Kuhl 2001 Kuhl 2001, S. 457 ff., 757 7 ff. Rudolph et al. 2003 Wunderer 2004, 2004 a v. Rosenstiel 1987, Wunderer/Kuhn 1993, Wyss 1999, Allensbach 2002 v. Rosenstiel 1987, Wunderer/Kuhn 1993, Wunderer/Dick 2007 vgl. Reber/Kieser, Wunderer 1995, Gaugler/Oechsler/ Weber 2004 sowie Wittmann et al. 1992 v. Eichendorfff 1784/2001, Geissler 1947, Kundera 2004, Lelord 2004 sowie Schönburg 2005, Seligman g 2005, Klein 2004, Rückert 2004, Grün 2001,2005, Rieger g 2000, Langenscheidt g 1991; Uther 2001; dazu andere Ansätze: Voltaire 2005, Watzlawick 2004
Von Erfolg zu Erfolg Quelle: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, illustriert von Werner Klemke, Beck Verlag, München 1967, S. 367.
Führungsbeziehungen in Management und d Märchen
6.1
Dieses Kapitel widmet sich Führungs- und Kooperationsbeziehungen sowie damit eng verbundenen Lebens- und Arbeitswerten in Management und Märchen. Beide Themen werden in der Führungsforschung und -praxis schon lange differenziert und eingehend behandelt. Implizit sind sie auch in sehr vielen Märchen evident. Zunächst werden – v. a. für hier nichtt erfahrene Leser – Begriffe, Konzepte und Entwicklungstendenzen der beiden Themengebiete behandelt. Dann werden diese auff 48 relevante Märchen der Brüder Grimm1 angewendet und danach interpretiert; sechs davon werden eingehender diskutiert.
6.1
Führungsbeziehungen in Management und Märchen
Zunächst werden Führung, Führungsbeziehungen und Führungsstile vorgestellt; es folgen Wertemuster aus persönlichkeitsspezifischer und demographischer Sicht. Beide bilden die Basis für die Interpretation von Märchen der Brüder Grimm. Zunächst wird unser zweidimensionaler Führungsstilansatz in der Tiermetapher verwendet – mehr aus Sicht der Geführten. Dabei diskutieren wir auch Wertewandel mit Bezug auff die Gestaltung von Führungsbeziehungen; der gestiefelte Kater spieltt dabei die Hauptrolle als ein sehr spezieller Mitarbeiter. Dann werden aus Sicht der Führenden fünff Führungsstile an Beispielen von Märchen interpretiert.
6.1.1
Begriffe und Konzepte
Führung verstehen wir als ziel- und ergebnisorientierte, aktivierende und wechselseitige Beeinflussung zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben in und mit einer strukturierten Situation.2 Mitarbeiterführung gestaltet die Einflussbeziehungen formell über Arbeitsverträge, Führungsgrundsätze und Absprachen mit dem Management, informell sogar auch nonverbal. Führungsstil kann man als ein innerhalb von Bandbreiten und Führungskontexten konsistentes, typisiertes und damit wiederkehrendes Führungsverhalten charakterisieren.
167
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Die Führungsstilforschung hat an tausenden Studien immer wieder versucht, sich auff wenige, möglichst statistisch valide ermittelte Dimensionen zu konzentrieren. Ein- bis dreidimensionale Ansätze wurden besonders oft herausgearbeitett und auch verwendet. So konzentriert sich das ältere, aber sehr bekannte Führungsstilkontinuum von Tannenbaum/Schmidt3 eindimensional auff die Verteilung der Willens- und Entscheidungsbildung zwischen Führern und Geführten (vgl. Abb. 34). Es leitet daraus sieben Führungsstile ab, die in der Führungspraxis gut zu differenzieren, zu ermitteln und für konkrete Führungsprojekte (z. B. Führungsgrundsätze, Verhaltensbeurteilungen, Mitarbeiterumfragen) einsetzbar sind.
Abbildungg 34
Führungsstilkontinuum nach Tannenbaum/Schmidt (leicht modifiziert) Willensbildung beim Mitarbeiter
Willensbildung beim Vorgesetzten
168
1
2
3
4
5
6
7
Vorgesetzte(r) entscheidet ohne Konsultation der Mitarbeiter
Vorgesetzte(r) entscheidet; er/ sie versucht aber, die Mitarbeiter von seiner/ihrer Entscheidung zu überzeugen, bevor er/sie die Weisung erteilt
Vorgesetzte(r) entscheidet; er/ sie fördert jedoch Fragen zu seinen/ihren Entscheidungen, v. a. um dadurch Akzeptanz zu erreichen
Vorgesetzte(r) informiert Mitarbeiter über beabsichtigte Entscheidungen; Mitarbeiter können ihre Meinung äußern, bevor der/ die Vorgesetzte die endgültige Entscheidung trifft
Mitarbeiter/ Gruppe entwickelt Vorschläge; Vorgesetzte(r) entscheidet sich für die von ihm/ihr favorisierte Alternative
Mitarbeiter/ Gruppe entscheidet, nachdem der/die Vorgesetzte die Ziele und Probleme aufgezeigt und die Grenzen des Entscheidungsspielraums festgelegt hat
Mitarbeiter/ Gruppe entscheidet, Vorgesetzte(r) fungiert als Koordinator nach innen und v. a. nach außen
»autoritär«
»patriarchalisch« »informierend«
»beratend«
»kooperativ«
»delegativ«
teil-»autonom«
Zwei Faktoren dominierten bei Korrelationsanalysen in den sog. Ohio- und Michiganstudien, die zudem wenig interkorrelierten und damit auch zweidimensional beschrieben werden können. Sie wurden Aufgabenorientierung („Initiating Structure“ – damit auch zielorientierte Aktivierung) sowie Mitarbeiterorientierung („Consideration“) genannt. Da u. E. zu jeder wirksamen Führung – unabhängig vom jeweiligen Führungsstil – aktivierende Ziel- und Aufgabenorientierung gehört, wählten wir für unseren Ansatz (Abb. 35) neben der Mitarbeiterorientierung (Teilnahme) die Entscheidungsbeteiligung (Teilhabe) als die zweite Dimension. Daraus werden sechs idealtypische Führungsstile abgeleitet. Dabei wird z. B. deutlich,
Führungsbeziehungen in Management und d Märchen
6.1
dass kooperative Führung sehr stark wechselseitige Kooperation (Teilnahme), dagegen in der Entscheidung mehr kollegiales Verhalten fordert. Autoritäre wie autonome Führungsbeziehungen reduzieren dagegen mitmenschliche Orientierung, wie Offenheit, Vertrauen, Verständnis, emotionales Engagement oder wechselseitige prosoziale Unterstützung (vgl. Abb. 35).
Führungsstiltypologie nach Wunderer
6.1.2
Abbildungg 35
Zentrale Führungsbeziehungen im Überblick
Die wichtigsten Führungsstile werden nun näher beschrieben und diskutiert. 6.1.2.1
Autoritäre Führung
Sie trifft die für sie wesentlichen Entscheidungen alleine und erwartet von Mitarbeitern die sachgerechte Aufgabenerfüllung, und das ohne Ansprüche an persönliche Beziehungen. Sie kann damit schnell und eindeutig agieren, wenn die Anweisungen verständlich gegeben und verstanden werden. Es ist auch kein persönlicher Kontakt erforderlich. Das fördert virtuelle Führung bzw. „Distanzführung“ über schriftliche Kommunikation. Besprechungen werden auf Auftragsverteilung und Erledigungskontrolle reduziert; so kann
169
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
man wesentlich mehr „Mitarbeiter“ führen. Die Weisungsempfänger müssen diesen Stil gewohnt, die Ziele wie Aufgaben sollten gut strukturiert, die Ergebnisse möglichst zurechenbar sein. Wenn diese Beziehung für beide Teile geübt und akzeptiert ist – z. B. im Militär sowie bei indirekter Führung höherer Chargen – kann das auch funktionieren, besonders wenn dann emotionale Bedürfnisse z. B. im Team oder durch Externe (v. a. Kunden) befriedigt werden. Dieser Stil findet sich in Märchen häufig – teils in Richtung patriarchalisch/matriarchalisch. 6.1.2.2
Patriarchalische Führung
Sie wird z. T. auch als „wohlwollend-autoritäre Führung“4 bezeichnet; der Patriarch oder die „Matriarchin“ sorgen sich schon wertschätzender um ihre Mitarbeiter, behandeln sie aber im Entscheidungsprozess tendenziell wie ihre Kinder, also „Unmündige“. Wenn Erwachsene so in einer gesellschafts- und Arbeitskultur „sozialisiert“ wurden – und solche Kulturen könnten global noch den Grossteil aller Arbeitsplätze betreffen –, oder wenn sie mit anderen Werthaltungen am Arbeitsmarkt keine Alternativen sehen, dann kann durch die stärkere prosoziale Beziehung das Defizit an Handlungsspielraum etwas kompensiert werden. Bei einfachen, repetitiven Arbeiten, mit Mitarbeitern ohne breitere Ausbildung und Erfahrung sowie ohne unternehmerische Qualifikation oder Motivation kann dieser Führungsstil auch Akzeptanz finden, insbesondere im Vergleich zu rein autokratischer Führung, die zuweilen auch als „autoritär-ausbeutend“ charakterisiert wird. 6.1.2.3
Konsultative Führung
Hier werden Mitarbeiter vorwiegend auff Initiative von Vorgesetzten in Entscheidungen bei Bedarff auch beratend einbezogen. Immerhin avanciert der „Arbeitnehmer“ schon etwas zum Mitarbeiter, insbesondere zum Mitdenker, der nicht nur ausführt. Dieser Führungsstil hat eine lange Tradition. Die Führungsgrundsätze5 des hl. Benedikt für die Entscheidungsfindung des Abtes gegenüber seinen „Brüdern“ lauteten im 6. Jhd. so: „Sooft im Kloster eine wichtige Angelegenheit zu entscheiden ist, rufe der Abt die ganze Klostergemeinde zusammen und lege selber dar, worum es sich handelt. Und er höre
170
Führungsbeziehungen in Management und d Märchen
6.1
den Rat der Brüder an, überlege dann bei sich und tue, was nach seinem Urteil das Nützlichste sei.“ Viele Mitarbeiter sind noch heute recht zufrieden, wenn sie so geführt werden. Bei Mitarbeiterumfragen nach diesem Konzept wurde der erlebte Stil im Durchschnitt als konsultativ eingeschätzt. Dieser Führungsstil fordert schon problemlösungsfähige wie -willige Mitarbeiter, die Führungskraft wird bei Bedarff fachlich umfassend und aktuell informiert und neue Chefs können sich gezielt und selektiv kundig machen, dabei noch relativ schnell und autonom Entscheidungen treffen. Die Mitarbeiter werden zumindest im strategischen Bereich nur reaktiv gefordert. In Märchen ist diese Führungsbeziehung selten zu finden. 6.1.2.4
Kooperative Führung
Dieser Idealstil ab den 70er Jahren, der heute zunehmend mit delegativen Elementen ergänzt wird, praktiziert eine partizipativere Entscheidungsvorbereitung und –findung und erwartet auch ungefragte und initiative Vorschläge der Mitarbeiter zur gemeinsamen Problemlösung. Die Teilhabe kann von Information mit Begründung bis zum Vetorecht variiert werden, die Teilnahme erfordert dagegen auch einen echten „teamspirit“ (Abb. 36). Kooperative Führung ist also sozial anspruchsvoll, zeitintensiv und erfordert mehr Anwesenheit im Team. Situative (Fein-)Steuerung ersetzt schriftliche und bürokratische Planungsprozesse. Wechselseitiges Coaching und Counselling sind häufig. Persönliche und informelle Kontakte und begrenzt hierarchisches Verhalten gehören auch dazu. Dieser Stil findet sich besonders in Klein- und Mittelbetrieben. In Märchen wird kooperative Teamführung von Geschwistern, aber auch Zufallteams praktiziert; die formale Führungsrolle tritt dabei zurück.
171
6 Abbildungg 36
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Dimensionen kooperativer Führung
6.1.2.5
Delegative Führung
Sie will Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an Mitarbeiter übertragen. Die Führungskräfte können sich dann auff die Vorgabe von Zielen oder Aufgaben beschränken oder sich auff gemeinsame Werte und Ziele verständigen, während Entscheide über die Aufgabenerfüllung delegiert werden. Damit wird zusätzlicher Handlungsspielraum gewährt, was entsprechende Qualifikation und Motivation bei den Mitarbeitern sowie Delegationsbereitschaft, Vertrauen sowie ergebnisorientierte Steuerung der Chefs voraussetzt. Dieses Management by Objectives (MbO) fördert unternehmerisches Verhalten besonders. Delegative Führung ist heute der in Führungsgrundsätzen bevorzugte „Leitstil“ (vgl. Abb. 37), der damit aber noch nicht so umgesetzt ist. In Märchen ist diese Führungsbeziehung nicht selten, sogar in „teilautonomen“ Varianten.
172
Führungsbeziehungen in Management und d Märchen
MbO als Konzept delegativer Führung
6.1.2.6
6.1 Abbildungg 37
(Teil-)Autonome Führung
Im Extremfall lässt die Führungskraft den Mitarbeitern freie Hand selbst in der Zielbildung. Entweder basiert dies auff Vertrauen in die „Delegierten“ oder auff Inkompetenz, Desinteresse oder Überlastung der Führungskraft. Dann ist aber zu prüfen, inwieweit hier überhaupt noch „geführt“ wird. Gewährt man nur in bestimmten Bereichen volle Handlungsfreiheit, spricht man von teilautonomer Führung, bei der z. B. Mitarbeiter der Fertigung in sog. teilautonomen Gruppen weitgehend selbst die Arbeitseinteilung und -verteilung, die Absenzenplanung sowie die Abstimmung mit vor- und nachgelagerten Bereichen organisieren. Ebenso ist dieser Stil bei langen, vertrauensvollen Führungsbeziehungen oder älteren Chefs zu finden. In Märchen findet man diesen Stil häufiger bei schwachen Königen.
173
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
6.1.2.7
Managing the Boss
Wird Führung als wechselseitige Einflussnahme verstanden, dann überrascht nicht, dass auch Mitarbeiter in zielgerichteter Weise Chefs nach ihren Vorstellungen beeinflussen (wollen). Das kann von Werten und einem anderen Führungsverständnis, von speziellen Mitarbeiterqualifikationen oder anderen Organisationsformen beeinflusst sein. So sind bei Projektorganisation Mitarbeiter aus anderen Organisationseinheiten mit unterschiedlichen Fachqualifikationen zu leiten, die ihrerseits das Projektt in eigenem oder fremdem Interesse gezielt beeinflussen (wollen). Aber auch in klassischen Führungsbeziehungen versuchen initiative, eigen„sinnige“ und problemlösungs- oder einflussmotivierte Mitarbeiter, ihre Vorstellungen nach oben um- bzw. durchzusetzen. Abb. 38 zeigt das Ergebnis verschiedener Studien in den USA A und dazu vergleichend im deutschsprachigen Raum.6 Bevorzugte und erfolgreiche Taktiken sind: sachliche, fundierte und empfängerorientierte Begründungen, gute Führungsbeziehungen sowie beharrliches und bestimmtes Vertreten der eigenen Meinung.
Abbildungg 38
Strategien der Führung von unten und oben
Diese Studien belegten auch, dass bei den Befragten die Einflusstaktiken nach oben oder unten kaum variierten. Das führte zur These, dass sich persönlichkeitsbezogen vier Strategietypen unterscheiden lassen, die unabhängig von der Einflussrichtung bestimmte Taktiken bevorzugen.
Macher („Shotgun“) suchen generell starke Einflussbeziehungen - am wenigsten aber Begründung und Freundlichkeit.
174
Führungsbeziehungen in Management und d Märchen
6.1
Beziehungsspezialisten („Ingratiator“) bevorzugen Freundlichkeit und Koalitionen, setzen dabei aber weniger fundierte und sachliche Begründungen ein.
Diplomaten („Tactician“) fokussieren auf sachliche Begründungsstrategien bei sonst mittlerer Einflussintensität. Sie erreichten übrigens die grössten Karriereerfolge.
Mitläufer („Bystander“) verzichten nahezu auff eigene Einflussstrategien, weil fatalistisch, desinteressiert oder resigniert. Märchenhelden sind meist Macher und Beziehungsspezialisten. 6.1.2.8
Situative Führung
Schon jedes Kind lernt frühzeitig, wie man bei verschiedenen Personen (z. B. in der Familie) Wünsche am besten befriedigen kann. Dieses individualisierte situative Beeinflussen ist auch Bestandteil jeder Führungspraxis. Auch deshalb wurde ein „Reifegrad-Modell“ mit einer dritten Einflussdimension entwickelt7 (vgl. Abb. 39). Zu den klassischen zwei Faktoren „Aufgaben-“ sowie „Mitarbeiterorientierung“ wird hier als dritte Dimension der Reifegrad der Mitarbeiter einbezogen. Dieser resultiert aus der Aufgabeneignung (v. a. Fähigkeit, Probleme selbstständig lösen zu können) sowie der sozialen Eignung (v. a. Motivation zur Übernahme eigener Verantwortung). Sind beide hoch, kann delegativ geführt werden; sind beide niedrig, wird für diese Mitarbeiter Weisung und Kontrolle („telling“) empfohlen. So raten die Autoren, alle vier Führungsstile individualisiert und situativ zu variieren. Märchenhelden sind oft durch Aufgabenorientierung oder durch Sozialverhalten erfolgreich.
175
6 Abbildungg 39
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Das Reifegradmodell von Hersey/Blanchard
6.2
Skripte und demographische Werte
Werte sind Leitbilder vom Guten, Schönen, Wahren sowie Erfolgsversprechenden. Individuelle und kollektive Werte prägen im Kern die Beziehungskulturen in Teams oder der Gesellschaft, die sich oft als viel stabiler erweisen als von sog. Restrukturierern unterstellt. Werteorientierte Kulturentwicklung istt damit oft die schwierigste Dimension der strukturellen Führung, auch unter Einbezug von Strategie- und Organisationsgestaltung.
176
Skripte und d demographische Werte
6.2.1
6.2
Skripte als gelebte Werte
Warum befassen wir uns in den letzten Jahren so intensiv mit individuellen (z. B. Skripte), organisationalen (z. B. Unternehmungskultur) und gesellschaftlichen (z. B. Postmaterialismus) Werten?
Weil sie als „black box“ schwer zu erschliessen sind? Und welcher Manager schätzt das?
Weil sie so pluralistisch ausdifferenziertt und deshalb kaum mehr kollektiv steuerbar sind?
Weil Werte als „Software“ von Denk- und Verhaltensmustern sich nicht von der „Hardware“ ihrer Eigentümer trennen lassen?
Weil gelernte Wertemuster oft lebenslang wirken, nur sehr schwer verlernt werden und gerade in Stresssituationen zu fast instinkthaften Verhaltensmustern führen?
Weil die vermehrte Suche nach Sinn und Spass in der Arbeit auch zu „Eigensinn“ und zu erhöhten Motivationsansprüchen führt?
Weil sie die Führungsbeziehungen grundlegend prägen? Weil sie als „geheime Führungskräfte“ oft mehr bewegen als manch offizieller Chef? Diese Verbindungen von Werten und Führungsbeziehungen werden noch ausführlicher diskutiert. Im Zusammenhang damit finden auch „Metaphern“ – also Gleichnisse, Bilder – Verwendung. Sie sollen weniger durch wissenschaftliche Erklärungskraft als über einen anderen Beschreibungsansatz die Erinnerungs- und Transferleistung der Aussagen erhöhen. Märchen können auff wesentliche Managementaspekte übertragen werden. Dabei werden transaktionsanalytisch das kreative „Kindheits-Ich“ aktiviert und stabile kulturelle Wertemuster vieler Problemstellungen verdeutlicht. Schliesslich fördern Metaphern auch das anschauliche Denken in Funktionen und Rollen (z. B. „Managing the Boss“).
6.2.2
Skripte als geheime Führungskräfte
Prägende Werte kann man als „Autopiloten“ der Verhaltenssteuerung verstehen. So muss ein Schulkind, das gelernt hat, erst Haus-
177
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
arbeiten zu machen, und dann zu spielen, nicht mehr zur Erfüllung seiner Pflichten angehalten werden. Es wird auch später wohl die frühsozialisierte Maxime vertreten „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ oder „Ohne Fleiss kein Preis“. Bei solchen internalisierten Werthaltungen lassen sich Führungsmassnahmen stark reduzieren. Man nennt solche starken Werthaltungen auch „Skripte“, die man auff verschiedenen „Bühnen“ immer wieder ähnlich spielt. Skripte wirken damit als „geheime Führungskräfte“. Sie beeinflussen besonders die Eigenmotivation und Selbstführung. Die Skripte8 werden von Führungskräften häufig in folgender Priorität genannt:
Abbildungg 40
Leistungsskripte von Führungskräften
Jedes so internalisierte Skript nimmt Einfluss auff das Verhalten in Führungsbeziehungen. Deshalb sollte man seines auch kennen und reflektieren. Wer ständig neue Ideen sucht und produziert, der fördert ein innovatives Teamklima. Aber er fördert auch Abwehrhaltungen bei Mitarbeitern, die das alles – und möglichst noch heute – umsetzen sollen. Zudem werden Mitarbeiter zu wenig gefordert, selbst eigene Ideen zu entwickeln und proaktiv mitzudenken. Wer selbst Perfektion anstrebt, fördert durchdachte und ausgefeilte Lösungen bei Mitarbeitern. Perfektionisten sind andererseits selten zufrieden, auch nicht mit ihren eigenen Leistungen. Sie können meist schlecht loben (weil auff Fehlervermeidung programmiert) und konzentrieren sich im Feedback leicht auff Details. In offenen pluralistisch-demokratischen Gesellschaften fällt es schwerer, einheitliche Denk- und Wertströmungen zu erkennen oder gar kollektiv zu beeinflussen, als in zentralistischgeschlossenen. Einzelne Werte verändern sich auch in ihrem Ein-
178
Skripte und d demographische Werte
6.2
fluss im Zeitablauff sowie durch individuelle oder gesellschaftliche Umfeldeinflüsse. Die demoskopische Werteforschung kann vorherrschende Trends aufzeigen. Allerdings kann sie mit den üblichen Befragungen allenfalls kognitives Denken und Handeln erfassen. Dieses „Absichtshandeln“ weicht aber – vor allem in Stresssituationen – vom konkreten Verhalten ab. Andererseits erwiesen sich Verschiebungen von Werthaltungen (z. B. zur Ökologie) als Frühindikatoren für Einstellungs- und Verhaltensänderungen (z. B. in Wahlen). In den Märchen finden sich alle von Managern bevorzugten Skripte, natürlich auch auff verschiedene Heldinnen und Helden verteilt.
6.2.3
Demoskopische Studien zum Wertewandel
Nun zu einigen Wertebefragungen von Arbeitnehmern, Führungskräften und -nachwuchs.9 In nationalen Langzeitstudien zeigen bundesrepublikanische Beschäftigte unterschiedliche Haltungen zur Arbeitsethik, insbesondere bei Arbeits- und Ordnungswerten, wie Berufsorientierung, Fleiss, Einsatz und Zuverlässigkeit. Repräsentative Studien erbringen bis 1987 deutliche Veränderungen, dann bleiben die Werte etwa 10 Jahre vergleichsweise stabil, um seit etwa 1997/2000 wieder in frühere Verteilungen zu rücken. Dennoch oder deshalb diskutiert man immer wieder den Wertewandel. Er wirkt sich eben oft erst deutlich verzögert im Verhalten aus. Hier wirkt wohl die Maxime von Norbert Wiener: „Gesagt ist noch nicht gehört, gehörtt ist noch nicht verstanden, verstanden ist noch nicht einverstanden, einverstanden ist noch nicht getan, getan ist noch nicht beibehalten.“ Postmaterialistische und hedonistische Werthaltungen nahmen erst zu (z. B. „Glück und Zufriedenheit wurden wichtiger als materieller Wohlstand“), verloren aber in den letzten Jahren wieder an Bedeutung (vgl. Abb. 41, 42). So ermittelte Opaschowski10 repräsentativ bei Personen zwischen 18 und 29 Jahren eine Zunahme der Leistungsorientierung (allerdings mit Sinn und Spass an der Arbeit) zwischen 1992 und 2003 von 35 auff 42 %; und der Anteil der Hedonisten („Das Leben geniessen“) verringerte sich von 29 auff 26 %. Nach unseren Prognosen mit
179
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
schweizerischen Personalexperten verliert auch die klassische Karriereorientierung bei Arbeitskräften mit und ohne Führungsfunktion an Bedeutung.11 Gleichzeitig zeichnet sich ein Wandel im Karriereverständnis ab: So bedeutet Karriere besonders für die jüngere Generation, eine Arbeit zu haben, die Spass macht und Handlungsspielraum gibt (vgl. Abb. 43). Der Wert „persönliche Unabhängigkeit“ und „Selbstständigkeit“ erfuhr in der Erziehung, aber auch bei Führungskräften, eine besondere Verstärkung. Die Bereitschaftt der Arbeitnehmer, Anordnungen ungefragt zu akzeptieren, wurde im Ländervergleich in der Bundesrepublik relativ als gering akzeptiert. Sie war auch als Erziehungsziel stark abgesunken.
Abbildungg 41
180
Lebensorientierung der Deutschen
Skripte und d demographische Werte
Psychologische Karte der Schweiz
6.2 Abbildungg 42
Der Weg der Schweiz 1974–2006 progressiv Hedonismus 2001
Extraversion Erotik Erfolg
Nonkonformismus antiautoritäre Haltung Romantik Sozialismus
90 0 93
2006
91
86
82
außen Eigentum
innen
Emotionalität Egoismus
autoritäre Haltung
Massengeschmack 76
Konformismus
konservativ Datenbank PKS Market Radar 2006
Passivität
1974 Reserviertheit © by DEMO SCOPE RESEARCH AND MARKETING
Prognosen zur Entwicklung berufsbezogener Orientierungsmuster12
Abbildungg 43
181
6 Abbildungg 44
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Erziehungsziele der Bundesrepublik– alte Länder 1951 – 1995 (vgl. Rosenstiel, v. 1999, S. 99)
Gerade bei Einbeziehung der neuen Bundesländer gewinnen heute sog. Sekundären Werte (Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Fleiss) wieder an Bedeutung. In einer repräsentativen Befragung wird im Vergleich 2001 mit 2006 in den letzten Jahren von den Eltern „Höflichkeit und gutes Benehmen“ sowie „Hilfsbereitschaft“ sehr hoch sowie relativ höher gewichtet. Und ganz vorne rangieren sie als Erziehungsziele: „Wie sich benehmen“ (96 %), „Wie es mit der Wahrheit halten“ (95 %), „Wie mit anderen, auch Schwächeren, umgehen“ (91/90 %)13. Fazit: Führungsbeziehungen werden von Leistungs- und Kooperationswerten, aber auch von allgemeinen Lebens- oder Erziehungszielen deutlich beeinflusst. Denn ihre Grundmuster prägen die Einstellungen dazu. Diese werden oft gar nicht, nur begrenzt oder sehr verzögert in stabiles Verhalten umgesetzt. Das wissen alle, die ihr Leben nur in kleineren Aspekten (Genussmittel, Gewicht, Wachzeiten) ändern wollen oder müssen. Und viele Werte werden schon früh gelernt und beibehalten. Das übrigens zeigen viele Märchen deutlich.
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3.1
Vom Schäferhund zum gestiefelten Kater
6.3
Zur besseren Veranschaulichung – keineswegs als direkter Vergleich gedacht – wurden diesen Steuerungsformen Metaphern aus der Tierwelt zugeordnet. Dieser Ansatz hatt in Religionen („Ich bin das Lamm Gottes“, „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“, „Bileams Eselin“ kann sogar sprechen), Märchen und Tierfabeln eine lange Tradition. Freiherr von Knigge lieferte in seinem Werk „Über den Umgang mit Menschen“ 1788 eine Begründung:14 „In einem Buch über den Umgang mit Menschen scheint wohl ein Kapitel über die Art, mit Tieren umzugehen, nicht an seinem Platze. Allein, was ich hierüber zu sagen habe, ist so wenig und hat doch im ganzen so viel Bezug auff das gesellschaftliche Leben überhaupt, dass ich hoffen darf, man wird mir diese kleine Ausweichung gütigst verzeihen.“ Mit dieser Legitimation versehen wird nun eine besondere Führungsbeziehung im Märchen Der gestiefelte Kater vorgestellt. Dann werden Führungsstile und Wertewandel über Tiermetaphern diskutiert, wobei der Kater die Hauptrolle spielt (vgl. Abb. 45). 6.3.1.1
Das Märchen vom gestiefelten Kater (KHM 33, 1812) Der gestiefelte Kater
Ein Müller hatte drei Söhne, seine Mühle, einen Esel und einen Kater; die Söhne mußten mahlen, der Esel Getreide holen und Mehl forttragen und die Katz die Mäuse wegfangen. Als der Müller starb, theilten sich die drei Söhne in die Erbschaft, der ältste bekam die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater, weiter blieb nichts für ihn übrig. Da war er traurig und sprach zu sich selbst: “ich hab es doch am allerschlimmsten kriegt, mein ältster Bruder kann mahlen, mein zweiter kann auff seinem Esel reiten, was kann ich mit dem Kater anfangen? laß ich mir ein paar Pelzhandschuhe aus seinem Fell machen, so ists vorbei.” “Hör, fing der Kater an, der alles verstanden hatte, was er gesagt, du brauchst mich nicht zu tödten, um ein paar schlechte Handschuh aus meinem Pelz zu kriegen, laß mir nur ein paar Stiefel machen, daß ich ausgehen kann und mich unter den Leuten
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sehen lassen, dann soll dir bald geholfen seyn.” Der Müllerssohn verwunderte sich, daß der Kater so sprach, weil aber eben der Schuster vorbeiging, rieff er ihn herein und ließ ihm ein paar Stiefel anmessen. Als sie fertig waren, zog sie der Kater an, nahm einen Sack, machte den Boden desselben voll Korn, oben aber eine Schnur daran, womit man ihn zuziehen konnte, dann warff er ihn über den Rücken und ging auff zwei Beinen, wie ein Mensch, zur Thür hinaus. Dazumal regierte ein König in dem Land, der aß die Rebhühner so gern: es war aber eine Noth, daß keine zu kriegen waren. Der ganze Wald war voll, aber sie waren so scheu, daß kein Jäger sie erreichen konnte. Das wußte der Kater und gedacht seine Sache besser zu machen; als er in den Wald kam, thät er den Sackk auf, breitete das Korn auseinander, die Schnur aber legte er ins Gras und leitete sie hinter eine Hecke. Da versteckte er sich selber, schlich herum und lauerte. Die Rebhühner kamen bald gelaufen, fanden das Korn und eins nach dem andern hüpfte in den Sackk hinein. Als eine gute Anzahl darin war, zog der Kater den Strickk zu, lieff herzu und drehte ihnen den Hals um; dann warff er den Sackk auff den Rücken und ging geradeswegs nach des Königs Schloß. Die Wache rief: “halt! wohin.” – “Zu dem König” antwortete der Kater kurzweg. – “Bist du toll, ein Kater zum König?” – “Laß ihn nur gehen, sagte ein anderer, der König hat doch oft lange Weil, vielleicht macht ihm der Kater mit seinem Brummen und Spinnen Vergnügen.” Als der Kater vor den König kam, machte er einen Reverenz und sagte: “mein Herr, der Graf, dabei nannte er einen langen und vornehmen Namen, läßt sich dem Herrn König empfehlen und schickt ihm hier Rebhühner, die er eben in Schlingen gefangen hat.” Der König erstaunte über die schönen fetten Rebhühner, wußte sich vor Freude nicht zu lassen, und befahl dem Kater so viel Gold aus der Schatzkammer in den Sackk zu thun, als er tragen könne: “das bring deinem Herrn und dankk ihm noch vielmal für sein Geschenk.” Der arme Müllerssohn aber saß zu Haus am Fenster, stützte den Kopff auf die Hand und dachte, daß er nun sein letztes für die Stiefeln des Katers weggegeben, und was werde ihm der großes dafür bringen können. Da trat der Kater herein, warff den Sackk vom Rücken, schnürte ihn auff und schüttete das Gold vor den Müller hin: “da hast du etwas vor die Stiefeln, der König läßt dich auch grüßen und dir viel Dankk sagen.” Der Müller war froh über den Reichthum, ohne daß er noch recht begreifen konnte, wie es zugegangen war. Der Kater aber, während er seine Stiefel auszog, erzählte ihm alles, dann sagte er: “du hast zwar jetzt Geld genug, aber dabei soll es nicht bleiben, morgen zieh ich meine Stiefel wieder an, du sollst noch rei-
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
cher werden, dem König hab ich auch gesagt, daß du ein Graff bist.” Am andern Tag ging der Kater, wie er gesagt hatte, wohl gestiefelt wieder auf die Jagd, und brachte dem König einen reichen Fang. So ging es alle Tage, und der Kater brachte alle [151] Tage Gold heim, und ward so beliebt wie einer bei dem König, daß er aus- und eingehen durfte und im Schloß herumstreichen, wo er wollte. Einmal stand der Kater in der Küche des Königs beim Heerd und wärmte sich, da kam der Kutscher und fluchte: “ich wünsch’der König mit der Prinzessin wär beim Henker! ich wollt ins Wirthshaus gehen und einmal trinken und Karte spielen, da soll ich sie spazieren fahren an den See.” Wie der Kater das hörte, schlich er nach Haus und sagte zu seinem Herrn: “wenn du willst ein Graff und reich werden, so komm mit mir hinaus an den See und bad dich darin.” Der Müller wußte nicht, was er dazu sagen sollte, doch folgte er dem Kater, ging mit ihm, zog sich splinternackend aus und sprang ins Wasser. Der Kater aber nahm seine Kleider, trug sie fort und versteckte sie. Kaum war er damit fertig, da kam der König dahergefahren; der Kater fing sogleich an, erbärmlich zu lamentiren: “ach! allergnädigster König! mein Herr, der hat sich hier im See gebadet, da ist ein Dieb gekommen und hat ihm die Kleider gestohlen, die am Ufer lagen, nun ist der Herr Graff im Wasser und kann nicht heraus, und wenn er länger darin bleibt wird er sich verkälten und sterben.” Wie der König das hörte, ließ er Halt machen und einer von seinen Leuten mußte zurückjagen und von des Königs Kleidern holen. Der Herr Graff zog die prächtigsten Kleider an, und weil ihm ohnehin der König wegen der Rebhüner, die er meinte von ihm empfangen zu haben, gewogen war, so mußte er sich zu ihm in die Kutsche setzen. Die Prinzessin war auch nicht bös darüber, denn der Graff war jung und schön, und er gefiel ihr recht gut. Der Kater aber war vorausgegangen und zu einer großen Wiese gekommen, wo über hundert Leute waren und Heu machten. “Wem ist die Wiese, ihr Leute?” fragte der Kater. – “Dem großen Zauberer.” – “Hört, jetzt wird der König bald vorbeifahren, wenn der fragt, wem die Wiese gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht thut, so werdet ihr alle todtgeschlagen.” – Darauff ging der Kater weiter und kam an ein Kornfeld, so groß, daß es niemand übersehen konnte, da standen mehr als zweihundert Leute und schnitten das Korn. “Wem ist das Korn ihr Leute?” – “Dem Zauberer.” “Hört, jetzt wird der König vorbeifahren, wenn er frägt, wem das Korn gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht thut, so werdet ihr alle todtgeschlagen.” – Endlich kam der Kater an einen prächtigen Wald, da standen mehr als dreihundert Leute, fällten die großen
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Ei[153]chen und machten Holz. – “Wem ist der Wald, ihr Leute?” – “Dem Zauberer.” – “Hört, jetzt wird der König vorbeifahren, wenn er frägt, wem der Wald gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht thut, so werdet ihr alle umgebracht.” Der Kater ging noch weiter, die Leute sahen ihm alle nach und weil er so wunderlich aussah, und wie ein Mensch im Stiefeln daherging, fürchteten sie sich vor ihm. Er kam bald an des Zauberers Schloß, trat kecklich hinein und vor ihn hin. Der Zauberer sah ihn verächtlich an, und fragte ihn, was er wolle. Der Kater machte einen Reverenz und sagte: “ich habe gehört, daß du in jedes Thier nach deinem Gefallen dich verwandeln könntest; was einen Hund, Fuchs oder auch Wolf betrifft, da will ich es wohl glauben, aber von einem Elephant, das scheint mir ganz unmöglich, und deshalb bin ich gekommen und mich selbst zu überzeugen.” Der Zauberer sagte stolz: “das ist mir eine Kleinigkeit,” und war in dem Augenblickk in einen Elephant verwandelt; “das ist viel, aber auch in einen Löwen?” – “Das ist auch nichts,” sagte der Zauberer und stand als ein Löwe vor dem Kater. Der Kater stellte sich erschrocken und rief: “das ist unglaublich und unerhört, dergleichen hätt’ich mir nicht im Traume in die Gedanken kommen lassen; aber noch mehr, als alles andere, wär es, wenn du dich auch in ein so kleines Thier, wie eine Maus ist, verwandeln könntest, du kannst gewiß mehr, als irgend ein Zauberer auff der Welt, aber das wird dir doch zu hoch seyn.” Der Zauberer ward ganz freundlich von den süßen Worten und sagte: “o ja, liebes Kätzchen, das kann ich auch” und sprang als eine Maus im Zimmer herum. Der Kater war hinter ihm her, fing die Maus mit einem Sprung und fraß sie auf. Der König aber war mit dem Grafen und der Prinzessin weiter spatzieren gefahren, und kam zu der großen Wiese. “Wem gehört das Heu?” fragte der König – “dem Herrn Grafen” – riefen alle, wie der Kater ihnen befohlen hatte. – “Ihr habt da ein schön Stückk Land, Herr Graf,” sagte er. Darnach kamen sie an das große Kornfeld. “Wem gehört das Korn, ihr Leute?” – “Dem Herrn Grafen.” – “Ei! Herr Graf! große, schöne Ländereien!” – Darauff zu dem Wald: “wem gehört das Holz, ihr Leute?” – “Dem Herrn Grafen.” – Der König verwunderte sich noch mehr und sagte: “Ihr müßt ein reicher Mann seyn, Herr Graf, ich glaube nicht, daß ich einen so prächtigen Wald habe.” Endlich kamen sie an das Schloß, der Kater stand oben an der Treppe, und als der Wagen unten hielt, sprang er herab, machte die Thüre auff und sagte: “Herr König, Ihr gelangt hier in das Schloß meines Herrn, des Grafen, den diese Ehre für sein Lebtag glücklich machen wird.” Der König stieg aus und verwunderte sich über das prächtige Gebäude, das fast größer und schöner war, als sein Schloß; der Graff aber führte die Prin-
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
zessin die Treppe hinauff in den Saal, der ganz von Gold und Edelsteinen flimmerte. Da ward die Prinzessin mit dem Grafen versprochen, und als der König starb, ward er König, der gestiefelte Kater aber erster Minister.15 Damit können wir nun das Märchen mit den Führungsstilen zusammenführen. 6.3.1.2
Führungsstile und Tiermetaphern
Idealtypisch-metaphorisch werden nun fünff „Führungsstile“ unterschieden und mit Tiermetaphern verbunden (vgl. Abb. 45): 1) Autoritäre Führung („Schäferhund“) Diese Führungsbeziehung kann man so charakterisieren: direkte Verhaltenssteuerung, möglichst knappe, eindeutige Verhaltensimperative (Befehle) in Einwegkommunikation, direkte Verhaltenskontrolle sowie ein führerorientiertes (also wenig aufgaben- oder unternehmensorientiertes) Beziehungskonzept. „Rex sitz“, „Rex platz“, „Rex fass“ – ein Schäferhund ist führerzentriert, loyal, gehorcht aufs Wort. Sein „Herr“ sorgt dafür für Erziehung, Pflege und unmissverständliche Führung nach einer „Befehlstaktik“ – so der militärische Terminus. Dass man den so Geführten als „König“ tituliert, wäre eine weitere psychologische Analyse wert. Der Geführte hat in allen Sozialisationsphasen (Elternhaus, Kindergarten, Schule, Militär, Arbeitswelt) gelernt, dass Gehorsam und andere sog. „sekundäre Arbeitstugenden“, wie Pflichtgefühl, Loyalität, Zuverlässigkeit und Ordnung, besonders gegenüber Erziehern und Vorgesetzten die erste Bürgerpflicht sind. Befehlstaktik wird eingedrillt und auch mit Sanktionen durchgesetzt. Der eigenständige Verhaltensspielraum ist begrenzt. Historische Beispiele dafür sind die Erziehung Friedrichs des Grossen oder Kaiser Wilhelms des Zweiten.
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6 Abbildungg 45
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Führungsstile in Tiermetaphern16 wechselseitige Kooperation
kooperativ
delegativ
informierend
autoritär Führer-Autonomie
(teil-)autonom Mitarbeiter-Autonomie
2) Patriarchalisch-aufgabenorientierte Führung („Jagdhund“) Auch hier besteht ein klares Autoritätsverhältnis. Aber in der Art und Weise der Aufgabenerfüllung besteht ein grösserer Gestaltungs- und Verhaltensspielraum. Nicht das einzelne Verhalten, sondern die Auftragserledigung bildet die Grundlage von Steuerung und Kontrolle. Befehlstaktik wandelt sich zur Auftragstaktik. Dies erfordert v. a. grössere fachliche Reife von Mitarbeitern und Vorgesetzten sowie eine höhere wechselseitige Vertrauensgrundlage. Die Führungskraft wird dabei von der Verhaltenssteuerung entlastet und kann sich zugleich anderen Aufgaben widmen. Die Art der Aufgabe, der Beginn ihrer Durchführung und die Erledigungskontrolle werden jedoch vom Vorgesetzten noch strikt und auch operativ beeinflusst. Dazu tritt das erkennbare Commitment, prosoziale bis liebevolle Verantwortung als „pater“ oder „mater familias“ gegenüber den Geführten zu übernehmen. Deshalb spricht die Literatur teilweise auch von wohlwollend-autoritärer Führung.17
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
3) Kooperative Führung („Husky“) Ein Husky-Rennen wird durch teamorientiertes, kooperatives Zusammenwirken vieler Beteiligter realisiert; und dies bei unterschiedlichen Rollen, Fähigkeiten und Aufgaben. Das Husky-Gespann ist klar organisiert (Lenker, Leine, Leithund, Mitrenner). Die Führungskraft ist eindeutig „Leader“, aber keineswegs nur Befehlsorgan und Antreiber. Denn in dieser schwierigen Situation legt sie selbst „Hand an“, schiebt den „Karren“ mit. Bei dem Schaubild (Abb. 45) kann man auch interpretieren, dass der Leithund sich vorbildlich einsetzt (die Zunge ist hier das Controllingobjekt). Der dritte Husky schaut dagegen entspannt und neugierig auff die Seite – vielleicht auff ein anderes Gespann. Prägt ihn eine „freizeitorientierte Schonhaltung“ (vgl. Abb. 43), mit der er sich für andere Ziele und Aufgaben fit halten will? Entscheidend für den Erfolg sind auch die internen Gruppenbeziehungen zwischen den „Mitarbeitern“. Zur bisherigen Gestaltung der Einzelbeziehung tritt nun die Anforderung an die Vorgesetzten, effiziente Teambeziehungen zu bilden, interne Einflussstrukturen zu installieren oder informell zu tolerieren, sowie diese auch aufrechtzuerhalten. Diese Führungsbeziehung erfordert hohe soziale Reife bei allen Beteiligten. Allerdings sind die Geführten ohne ihre Führungskraft nur für begrenzte Zeit gewohnt, ihren Weg selbst zu gehen. Die Vorgesetzten sind also untrennbarer und ständiger Teil der Gruppe und sollten es bleiben können. Zu häufige und lange Unterbrechungen der Kommunikation würden sich mit diesem Konzept kaum vertragen. Andererseits kann man hier ständig feinsteuern, iterativ anpassen sowie die emotionale Dimension der Führung differenziert beobachten und Probleme sofort berücksichtigen. Damit muss man auch nicht so langfristig, so exakt und schon gar nicht so formal planen. All dies bevorzugen interaktive Menschenführer. Bevor wir nun zu einer anderen Tiergattung übergehen, könnten noch weitere soziale Evolutionsformen und Spielarten dieser drei Führungsbeziehungen mitt Hundemetaphern umschrieben werden. Als Beispiel sei hier nur der Blindenführhund genannt. Bei diesem wandelt sich die Autoritätsbeziehung fast in ein Hund-HerrVerhältnis, jedoch mit hoher wechselseitiger Beziehungsgrundlage.
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Dieses „Managing the Boss“ hat sich in der Managementpraxis in den letzten Jahren sehr verstärkt, z. B. durch delegative bis teilautonome Führungskonzepte sowie durch Projektmanagement. In der zwischenmenschlichen „Führung des Chefs“ wurden folgende Einflusstaktiken als besonders erfolgreich ermittelt: die Führungskraft zu konsultieren, gute wechselseitige Beziehungen sowie empfängerorientierte Vorschläge und diese dann beharrlich wie nachhaltig zu verfolgen. Führungsbeziehungen, die eine geringere interaktive Beziehungsintensität, dafür einen klaren strukturellen Anteil aufweisen, setzen auch andere Werte (z. B. Unabhängigkeit und hohe Autonomie) und Kompetenzen bei Mitarbeitern und Vorgesetzten voraus. Metaphorisch bedeutet dies einen Übergang vom Hund zur Katze. 4) Delegative Führung („Katze“) Abgesehen vom degenerierten Schmusekater hat die klassische Haus- und Hofkatze die Mission „internalisiert“, selbstständig „Mäuse“ zu fangen. Sie lässt sich aber – im Gegensatz zum Schäferhund – bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht über direkte Befehle steuern. So würde sie auff die Weisung „Such die Maus“ entweder indigniert oder ignorant reagieren. Gemäss ihrer Mission sollte sie sich mitt der Zielvorgabe identifizieren (können), z. B. täglich Mäuse zu fangen. Allenfalls akzeptiert sie eine Zielerhöhung, z. B. bei geringen fixen oder nur nachträglich gewährten Anreizen (Hausfütterung). Aber das Wie, Wann, Wo, Womit der Aufgabenerfüllung lässt sie sich nicht vorschreiben, das will sie selbst und in professioneller Weise erledigen. Dazu müssen „Haus“ und Umfeld frei zugänglich sein (kein Hundezwinger oder andere Zäune). Unflexible „Arbeitszeitregelungen“ werden deshalb abgelehnt, auch zu hohe personale Beziehungsansprüche. Unabhängigkeit, Individualismus, Selbstorganisation und Selbststeuerung, aber auch eine „eigensinnige“ Missions- und Zielorientierung bei hoher Professionalität kennzeichnen ihre Arbeitsweise. Bei Befragungen von Führungskräften, Spezialisten und Studierenden steht der Wunsch, delegativ bzw. kooperativ geführt zu werden, eindeutig im Vordergrund. Abgelehnt werden autoritäre oder patriarchalische Führungsformen. Die Führungswirklichkeit weicht davon oft deutlich ab, denn meist stehen informierende und konsulta-
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
tive Stile im Vordergrund. Im personalpolitischen Bereich denken wir hier z. B. an professionelle Spezialisten (z. B. Forscher, Lehrer, Entwickler, EDV-Programmierer, Berater, Stabsmitglieder, Journalisten, Vertreter). Diese Zielgruppe besitztt selbst oft wenig aktive Führungsfähigkeit bzw. -motivation und geringere Teamorientierung. Sie will ihren Weg gehen, strebt auch nicht ins Management, in dem sie sich vorwiegend um andere kümmern oder sich auff andere einstellen müsste. Dieser „Katzentyp“ wird für „gestandene“ Hundeführer oftt eher als Bedrohung denn als Herausforderung gesehen. Übrigens signalisieren Katzenträume in der Psychoanalyse oft Beziehungsprobleme – genauer einen Emanzipationskonflikt in Partnerbeziehungen. Erfolgreiche Hundeführer können also gerade mit Katzen leichtt in Schwierigkeiten geraten. Selbst wenn neue Technologien, Umwelten oder Aufgaben bzw. Mitarbeiter andere Führungsbeziehungen fordern, träumen sie noch von dem früher so erfolgreichen Weisungsmanagement. Solche Führungsbeziehungen tendieren zu strukturellen Konflikten, die durch kurzfristige Personalentwicklungsmassnahmen kaum zu beheben sind. Und wenn der klassische Hundeführer von Katzen träumt, dann sind es sozialisierbare Grosskatzen (Tiger, Löwen), die sich auch dressieren lassen. Zudem wird diese Führungskunst noch bewundert, z. B. bei diesen Tieren kurzfristige Positionswechsel („JobRotation“) auff Kommando zu realisieren bzw. dorthin oder dadurch zu springen, wo es „brennt“. Aber diese Tiere sind im Zirkus eigentlich „auff den Hund gekommen“ und deshalb führungstypologisch weiter vorne einzuordnen. 5) Managing the Boss (Derr gestiefelte Kater) In dem von den Brüdern Grimm nur in die 1. Auflage ihrer Sammlung von 1812 als Nr. 33 der KHM aufgenommenen Märchen Der gestiefelte Kater wird der Idealtypus autonomer Selbststeuerung als Führung des Chefs durch den Mitarbeiterr beschrieben. Er ist zugleich mit einer äusserlich intakten Autoritätsbeziehung verbunden und durchläuft über seine „Führung von unten“ eine erfolgreiche Karriere.
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Der gestiefelte Kater zeigtt einige Vorteile gegenüber seiner einfachen Base, der Mäusekatze: Er versteht es, seinen Jagdinstinkt mit dem Marketingkonzept des „uptrading“ zu verbinden. Statt Mäusen fängt er für den König die am Markt wesentlich höher bewerteten Rebhühner. Dazu verwendet er noch Arbeitsmittel und Taktiken, die eine enorme Produktivitätserhöhung garantieren. Darüber hinaus ist er auch zu anderen Transaktionen befähigt: Sein Meisterstück sind die von ihm durchgeführten Übernahmeverhandlungen mit dem Besitzer grosser Substanzwerte (Zauberer) zugunsten seines Herrn. Sie werden rasch mit einem „unfriendly takeover“ abgeschlossen. Dann folgt noch eine sehr freundliche „Fusion“ (Heirat) zwischen der Königstochter und dem nun von Besitz und äusseren Standesinsignien ebenbürtigen Müllerssohn. Der Müllerssohn wird so König, sein Kater „erster Minister“. Charles Perrault hat seine Erziehungsziele jeweils zum Märchenschluss schon lange vor den Brüdern Grimm mit „lessons learned“ in Versform formuliert: „Wie gross auch sein mag der Betrag, den einer glücklich erben mag an Hab und Gut vom Vater auff den Sohn gemeinhin sind für junge Leute doch Fleiss und klug erjagte Beute mehr wert als solch ein müheloser Lohn.“18 Bei all seinen Aufgaben geht der Kater sehr autonom, kreativ bis durchtrieben, dynamisch und dabei doch stets loyal vor. Chefs mit hoher Erfolgs- und geringer Führungsmotivation dürften diesen auf dem Markt zwar sehr trickreichen, persönlich aber loyalen und hoch kreativen Mitarbeiter schätzen. Übrigens ähnelt der gestiefelte Kater in verblüffender Weise dem viel diskutierten Typ des „Intrapreneurs“, der nicht nur an amerikanischen Business-Schools breit propagiert und dessen Leitbild von G. Pinchot19 in 10 Geboten formuliert wurde:
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1.
Komme täglich zur Arbeit mit der Bereitschaft, Dich feuern zu lassen.
2.
Umgehe alle Anweisungen, die Dich daran hindern, Deinen Traum zu verwirklichen.
3.
Unternimm alles, um Dein Projekt fortzuführen, ganz gleich, was in Deiner Stellenbeschreibung steht.
4.
Suche Dir Mitarbeiter, die Dich dabei unterstützen.
Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
5.
Folge Deiner Intuition, welche Leute Du aussuchst, und arbeite nur mit den besten.
6.
Arbeite im Untergrund, solange Du irgendwie kannstt – Publicity löst den Immunmechanismus eines Unternehmens aus.
7.
Setze nie auff ein Rennen, an dem Du nicht beteiligt bist.
8.
Denke daran, dass es einfacher ist, um Vergebung als um Erlaubnis zu bitten.
9.
Bleibe Deinen Zielen treu, aber bleibe auch realistisch im Hinblick auff die Wege zu ihrer Erreichung.
6.3
10. Erkenne Deine Sponsoren an. Eine passende Analogie liefert die autobiographische Schilderung einer Führungssituation durch Rudolff Leiding, auch Konstrukteur des „Golf“ und damals Cheff von Audi in Ingolstadt. Seine oberster Cheff (Nordhoff) wollte von ihm eine Karosserieüberarbeitung, die er eigenmächtig in eine Neukonstruktion des späteren „Audi 100“ umformulierte.20 Dazu Leiding: „Beim nächsten Treffen habe ich gesagt, die Karosserie ist nun fertig, und es sei wohl angebracht, dass der Vorstand sie sich einmal anschaue. Am Tag, als der Vorstand aus Wolfsburg kam und sich die Karosserieänderungen ansehen wollte, sagte ich morgens zu meiner Frau: ‚Wenn ich heute Mittag bei dir esse, dann bin ich rausgeschmissen worden. Wenn ich nicht komme, kannst du davon ausgehen, dass ich weiter Cheff bei der Autounion bleibe’.“ Leiding weiter: „In einem Raum der Entwicklung stellten wir das Fahrzeug vor. Meinen Hut behielt ich in der Hand, meinen Mantel zog ich nicht aus. Die Herren kamen dann alle an, und ich stand immer noch mit meinem Mantel da, die Herren hatten alle abgelegt. Dann zogen wir die Plane vom Modell weg, und die Drehscheibe setzte das Automobil in kreisende Bewegung. Nordhofff schritt dann ein paarmal herum und hatte zuerst einen ganz roten Nacken. Da ich ihn gut kannte, wusste ich, dass das Alarmstufe „1“ war. Aber plötzlich begann sein Gesicht doch freundlicher zu werden. Und da habe ich meinen Mantel ausgezogen. Und als Nordhofff dann sagte: ‚Herr Leiding, grünes Licht für diesen Wagen’, da war ich dann aus dem Schneider. Der Audi 100 wurde am Markt ein Renner. Zeitweise reichten die Kapazitäten in Ingolstadt nicht aus, und der Mittelklassewagen musste in Wolfsburg gefertigt werden.“
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Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Dieses heute als mikropolitisch21 bezeichnete trick- wie erfolgreiche Verhalten gegenüber eigenen Chefs ist auch in der Führungspraxis nicht ungewöhnlich – in Märchen noch weniger. 6.3.1.3
Situative statt einheitlicher Führung
Müssen sich nun die Führungskräfte nur noch auff das Katzenkonzept einstellen? Wie gezeigt, hängt erfolgreiche Führung nicht nur von personalen Erwartungen und Verhaltensmustern ab. Delegative bzw. autonome Führungsbeziehungen auff der „Katzenbasis“ sind dann „kontingent“ (situationsgerecht), wenn es sich um komplexe Aufgaben handelt, die in differenzierten, dynamischen Umwelten, mit flexiblen Arbeitstechnologien gelöst werden, die professionelle Problemlösungsfähigkeit und -motivation der Mitarbeiter erfordern und die schliesslich durch entsprechende gesellschaftliche Werthaltungen der Umwelt sowie entsprechende Führungskultur, Führungsstrategie und Führungsorganisation gestützt werden. Schon aus Gründen einer effektiven, situativen Führung gibt es also noch genügend Betätigungsfelder für Jagd- und Polarhunde. Schäferhunde sind bei uns dagegen erhöhter Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Gilt dies in Zukunft auch für ihre Führer? Hierbei kann man wieder an die vier Komponenten der strukturellen Mitarbeiterführung denken. Es geht um die Abstimmung von Führungskultur (Werte, Leitbilder), Führungsstrategie (Führungsgrundsätze, Führungsinstrumente), Führungs- und Arbeitsorganisation (Aufgaben, Inhalte, Organisationsstruktur) sowie der qualitativen Personalstruktur (Werthaltungen, Motive und Qualifikation der Mitarbeiter). Die Praxis zeigt, dass z. B. Veränderungen in der Führungskultur nicht automatisch die Gestaltung der Führungsstrategie oder -organisation bestimmen. Erst recht sichern Änderungen der Organisation noch keine neuen Denk- und Verhaltensweisen. Unternehmensführung wird also erst erfolgreich, wenn es ihr gelingt, ihr Führungskonzept mit den Forderungen der betrieblichen Umwelt abzugleichen und zugleich intern die vier genannten Dimensionen aufeinander abzustimmen und dies dann umzusetzen.
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3.2
6.3
Führungsstile in fünff Märchen — von König Drosselbart zum tapferen Schneiderlein
Nun werden ergänzend zu 6.3.1 Führungsbeziehungen an fünff bekannten Märchenheldinnen und -helden nach dem in Abb. 45 gezeigten Ansatz v. a. aus der Führerperspektive geschildert. König Drosselbart (KHM 52) wird zunächst als Brautwerber einer Prinzessin, „die war über alle Massen schön, aber dabei so stolz und übermütig“, abgewiesen und dazu verspottet. Da sie sich bei den anderen auch so verhält, muss sie auff Geheiss des Vaters den erstbesten Bettler vor ihrer Türe heiraten; das ist dann der als Spielmann verkleidete Drosselbart. Dieser demütigt sie unerkannt vielfach, bis sie schliesslich ihren Stolz verwünscht und bereut. Die bislang autoritär steuernde und sanktionierende Führung entwickelt sich schliesslich zu einer wohlwollend-patriarchalisch geführten Ehebeziehung. Rotkäppchen (KHM 26) bekommt auff dem Weg zur fernen Grossmutter fürsorglich-klare Weisungen: „Mach dich auf, bevor es heiss wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas … Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.“ Das kreuzbrave Rotkäppchen antwortet auff die fünf Massregeln: „Ich will schon alles gut machen“ und gibt ihr die Hand darauff (S. 175). Hier haben wir ein Musterbeispiel wohlwollend-matriarchalischer Führung, die vom Kind angenommen, aber eben auch nicht vollständig befolgt wird. Wie zuvor die Prinzessin, so bereut auch Rotkäppchen: „Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutter verboten hat“ (S. 179). Bei den Grimms sollen vorwiegend die Mädchen Gehorsam, Demutt und Bescheidenheit lernen, wohl auch zur Ehevorbereitung.
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6 Abbildungg 46
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Führungsstile nach Grimms Märchen – vom König Drosselbart zum tapferen Schneiderlein
Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) finden sich als von ihren Arbeitgebern schnöde „outgesourct“ auff einer Strasse wieder. Der erste, der dem sogar zuvorkommt, ist der Esel. Der will zunächst in Bremen als „Stadtmusikant“ eine „Ich-AG“ gründen, allerdings ohne staatliche Unterstützung. Auff seinem Wege begegnet er noch drei Leidensgenossen. Und jedes Mal lädt er Hund, Katze und Hahn erfolgreich ein, sich an einer „Wir-GmbH“ zu beteiligen. Nachts kommen sie an einem Räuberhaus mit reich gedecktem Tischen vorbei. Sie entschliessen sich, die Räuber zu vertreiben und es sich zukünftig als Hausbesetzer gut gehen zu lassen. In Bremen sind sie deshalb im Märchen nie angekommen. Denn: „Den vier Bremer Musikanten gefiels aber so wohl darin (im Haus, R. W.), dass sie nicht wieder heraus wollten (S. 189).“ Von der Teambildung über die Entschlussfassung bis zur Aufgabenverteilung wird alles kooperativ entwickelt und realisiert. Der Esel übernimmt dabei die Initiative und Teamführung.
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Führungsbeziehungen in Märchen — zwei Perspektiven
6.3
Der treue Johannes (KHM 6) wird von seinem sterbenskranken König für dessen jungen Sohn und Nachfolger als „Pflegevater“ und Mentor eingesetzt. Der Diener verspricht: „Ich will ihn nicht verlassen und will ihm mit Treue dienen, wenn’s auch mein Leben kostet“ (S. 66). Die Delegation ist noch mit einem klaren Auftrag verbunden, den „eigenwilligen“ Sohn vor einer grossen Gefahr zu bewahren. Der junge König hält sich aber nicht an ein Gebot seines Mentors. Daraus ergeben sich wiederholt neue Komplikationen, die Johannes aber immer wieder zu beheben weiss. Schliesslich wird er jedoch bei der Rettung seines Mentees versteinert. Der junge König kann den so treuen Johannes nur wiederbeleben, wenn er dafür seine Kinder opfert, wozu er und seine Frau dann auch bereit sind. Deshalb werden Johannes und die Kinder noch wundersam gerettet. So „lebten sie zusammen in Glückseligkeit bis an ihr Ende“ (S. 73). Dieses Märchen schildert eine komplexe Delegation und Stellvertreterregelung. Der Delegierte muss sie ganz allein umsetzen, setzt dafür sein Leben ein und führt dann alles noch zu einem glücklichen Ende. In Nachfolgeregelungen von Eigentümerbetrieben oder in Vormundschaften sind solche Delegationsbeziehungen noch heute zu finden, wenn auch mit anderen Komplikationen. Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) startet seine Karriere schon als selbstständiger „Kleingewerbler“, der nach einem erfolgreich vermarkteten Totschlag von sieben Fliegen auff einen Streich sein Glück sucht. Auff ein Angebot des Königs entgegnet er in seiner kecken Art: „Eben deshalb bin ich hierher gekommen … ich bin bereit, in des Königs Dienste zu treten“. Die anderen Kriegsleute aber bekommen vor dem Maulhelden Angst. Und der schwache König versucht, sich seiner über drei sehr gefährliche Aufträge mit allerhöchster Belohnung (das halbe Königreich und die einzige Tochter zur Gemahlin) zu entledigen. Nachdem der Schneider alles trickreich, mutig und sogar ohne angebotene Unterstützung erledigt hat, wird die Hochzeit „mit grosser Pracht und kleiner Freude gehalten, und aus dem Schneider ein König gemacht“ (S. 153). Und als die gerade Angetraute ihn wegen seiner Herkunft dann noch auff einem Schifff gefesselt „outsourcen“ will, weiss er sich auch hier Rat. Fazit: „Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag König.“ (S. 154) Das tapfere Schneiderlein wird von seinem ängstlichen Dienstherrn und späteren Schwiegervater meist autonom und mit viel Handlungsspielraum geführt. Das Märchen zeigt auch, dass stets alle
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Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
Beteiligten für die spezifische Qualität einer Führungsbeziehung mitverantwortlich sind. Das gilt auch für den Müllerssohn, der seinen gestiefelten Kater (KHM 33, 1812) automon agieren lässt.
6.4
Strategien für hierarchieärmere Führungsbeziehungen
Nun diskutieren wir Strategien zur werteorientierten Änderung hierarchischer Autoritätsformen.
„Substitutes for Leadership“ war jüngst die beliebteste Strategie. Hier geht es um die Substitution direkter Chefsteuerung durch strukturelle Führung, besonders Planung, Organisation und Kontrolle. Letztere ist mit Aufbau- und Prozessorganisation relativ schnell formal umzusetzen, aber erst wirksam, wenn man damit nicht verstärkt demotiviert oder Bürokratie verstärkt.
Man kann es auch mit einer delegativeren Führungsstrategie versuchen, also mit Führungsreduktion. Diese gelingt nur mit verstärkt „katzenartiger“ Selbststeuerung, Selbstorganisation, Selbstentwicklung und Selbstverpflichtung der Betroffenen. Das erfordert aber ebenso dafür qualifizierte wie motivierte Führungskräfte und Mitarbeiter sowie eine primär individualisierte Auswahl, Platzierung und Personalentwicklung. Ein viel diskutierter Changeansatz liegt in einem „transformationalen Führungskonzept“. Es ist anspruchsvoll, weil es schon auff delegativem „Management by Objectives and Reward“ aufbaut, was reife Beteiligte voraussetzt. Weiterhin will es die sachbezogene Zielund Ergebnisorientierung durch vorwiegend emotionale Führungskomponenten bereichern (vgl. Abb. 47).22 Zunächst geht es dabei um individualisierte Beachtung („Wertschätzung“), Führung und Förderung. Dies sollte jeder Manager beherrschen. Die zweite Komponente zeigt, dass man erst verlernen muss, bevor Neues erfolgreich vermittelt und gelernt werden kann. Der dritte Faktor betont Motivation über die Erhöhung von Valenzen der übertragenen Aufgaben sowie die Vermittlung attraktiver Werte und Missionen. Das gelingt schon nicht jeder Führungskraft. Noch anspruchsvoller ist die geforderte charismatische Beeinflussung und vorbildlich integre
198
Strategien fürr hierarchieärmere Führungsbeziehungen
6.4
Führung. Dieser transformationale Ansatz wurde in Analysen zu Exzellenzfaktoren wirksamer Führung bei besonders erfolgreichen Managern empirisch ermittelt und stellt sehr hohe Anforderungen. Er sollte aber zumindest in den ersten zwei Komponenten von jeder Führungskraft praktiziert werden (können).
Komponenten transformationaler Führung
Abbildungg 47
Mitunternehmertum als strategischer Ansatz wurde in Kapitel 2 eingehend behandelt. Er ist umfassend, integriert und zugleich anspruchsvoll in der Umsetzung. Ideal, aber selten real ist die Kombination von transformationalen Führungskräften und unternehmerisch orientierten Mitarbeitern. Beiden gemeinsam sollten mitunternehmerische Schlüsselkompetenzen sein, insbesondere Sozialkompetenz. Natürlich geht es hier auch um Vorbilder, um langfristig zu gewinnende und zu entwickelnde Führungskonzepte und -anforderungen mit dem empirischen Befund, dass nur ein begrenzter Teil der Führungskräfte und ein noch kleinerer Teil der Mitarbeiter diese Anforderungen erfüllen kann. Aber immerhin ergaben sich bei den zitierten Umfragen Einschätzungen von 40 %-60 %, wenn man neben der Qualifikation noch die mitunternehmerische Motivation der Belegschaft einbezieht. Und Teile davon kann man entwickeln bzw. über den Abbau hemmender Umfeldbarrieren fördern. Zunächst sind die
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6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
strukturellen Bedingungen entscheidend (z. B. über eine Kombination von internem Markt und sozialem Netzwerk), dann aber folgt die Auswahl der Mitarbeiter nach unternehmerischer Eigenmotivation (freiwilliges Engagement und Einsatz für die Organisation) sowie den drei Schlüsselqualifikationen (Gestaltungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenz), und schliesslich müssen Führung und Entwicklung der Mitarbeiter nach ihrem unternehmerischen Reifegrad differenziert und individualisiert erfolgen. Eine sehr anspruchsvolle Aufgabe also! Aber das sind wir ja von allen Märchen schon gewohnt.
6.5
Lessons learned
Werte bilden den relativ stabilen Kern von Kulturmustern, ob bei individuellen Skripten oder kollektiver Unternehmens- oder Gesellschaftskultur. Sie prägen Einstellungen zur Lebensführung, zur Arbeit und ihrem Kontext sowie zu Führungs- und Kooperationsbeziehungen. Mit einer Rangierung von Werten können Zielkonflikte gelöst werden; zugleich muss man akzeptieren, dass es häufig Mischungen divergierender Werte gibt. Langzeitstudien zeigen zwar demographische Veränderungen, die sich aber mit bestimmten Situationen (z. B. Konjunktur, Wohlstand) und neuen Generationen im Trend wieder verändern können. In den letzten 25 Jahren haben sich Werte zu persönlichem Wohlergehen und Glück sowie zu Selbstständigkeit und zugleich Teamorientierung sowie zu sinnorientiertem Engagement im Beruff verstärkt. Diese Entwicklungen führten in modernen Wirtschaftsgesellschaften auch zur Bevorzugung von kooperativen und delegativen Führungsstilen sowie zu einer verstärkten Einflussnahme qualifizierter und motivierter Mitarbeiter auff Entscheidungen ihrer Chefs („Managing the Boss“). Autokratische, patriarchalische und auch nur informierende Führung wird von Managern nicht mehr gewünscht; vor 65 Jahren war sie noch die Regel. Aber Beispiele für andere bzw. differenzierte Denk- und Führungsmuster gibt es dennoch schon lange, z. B. auch in verschiedenen Märchen. So fällt es leicht, zu jeder Art von Führungsbeziehung
200
Lessons learned
6.5
prägnante Beispiele in bekannten Erzählungen zu finden und daraus anschauliche Fallbeispiele abzuleiten. Damit gewinnen diese Märchen auch eine zusätzliche Qualitätt und Funktion – z. B. für die Aus- und Weiterbildung von Führungskräften. Weiterhin regte die in Religionen und Fabeln verbreitete „Vermenschlichung“ von Tiercharakteren an, solche Metaphern für die Veränderung von Werten und Führungsstilen zu suchen. Daraus entwickelte sich schliesslich auch der Titel dieses Kapitels. Gerade dieser Ansatz zeigte die grösste Langzeitwirkung bei Hörern und Lesern. „Vom Schäferhund zum gestiefelten Kater“ wurde zu einem festen Begriff, der auch die tägliche Führungspraxis beeinflusste – soweit man Rückmeldungen von Teilnehmern noch nach Jahren vertrauen kann. So wird der gestiefelte Kater weitgehend zu einem Vorbild für mitunternehmerische Kompetenzen sowie für eine erfolgreiche Beeinflussung des eigenen Chefs zum beiderseitigen Vorteil. Er entwickelt – im Gegensatz zu Schäfer- und Jagdhunden sowie Huskys – autonom sowie mental und sozial intelligent neue, eigene und erfolgreiche Problemlösungen. Und so wird schliesslich aus dem erblich benachteiligten Müllerssohn ein König und aus dem vom Tode bedrohten Kater ein Minister. Märchen zeigen schliesslich, dass man gegenüber Mächtigeren eben nicht mit gleichen Waffen, dafür aber mit kreativer Problemlösung erfolgreich bestehen kann, auch wenn man es dann bei mancher List mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen kann. In der Fachsprache der Politikwissenschaftler wurde dies mit dem neutralen Terminus „Mikropolitik“ charakterisiertt und nicht nur bei Machiavelli empfohlen oder praktiziert. Das belegten die zitierten autobiographischen Aussagen eines bekannten Automanagers: Auch in der Arbeitswelt kann man gegenüber schwierigen Mächtigen zuweilen nur mit vergleichbarem „Managing the Boss“ wichtige Ziele erfolgreich realisieren. So spiegelt sich in Märchen schon manche Managementerfahrung und -strategie – zum Nutzen von Management und Märchenfreunden.
201
6
Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
6.6
Literaturverzeichnis
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202
Anmerkungen
6.7
Rölleke, H. (1919): Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Nachwort in: Brüder Grimm (1919/1819) a.a.O., S. 827-878. Rosenstiel, v., L. (1999): Mitunternehmertum – Unterstützung durch unternehmerische Kulturgestaltung, in: Winderer, R. (Hrsg.) : Hitarbeiter als Mitunternehmer, Neuwied, S. 81-106. Tannenbaum, R./Schmidt, W.H. (1958): How to choose a Leadership Pattern, in: Harvard Business Review, (2), S. 95-101. Uther, H.-J. (1991): Der gestiefelte Kater. Ein Buchmärchen im Spiegel seiner Illustrationen, in: Merveilles & Contes 5,2, S. 321-371 zit. bei KöhlerZülch 1993, a.a.O., Sp. 1079. Weibler, J./Wunderer, R. (2007): Leadership and Culture in Switzerland – Theoretical and Empirical Findings, in: Chokar et al. (eds.) Culture and Leadership across the World, S. 251-295, Mahwah. Wunderer, R. (1992): Managing the Boss, in: Zeitschrift für Personalforschung, (3), S. 287-311. Wunderer, R. (2007): Führung und Zusammenarbeit – eine unternehmerische Führungslehre, Köln. Wunderer, R. (2007a): Verhaltensleitsätze in Management und Märchen, in: Zeitschrift für Personalforschung, 21, H. 2, S. 138-167. Wunderer, R./Dick, P. (2007): Personalmanagement – Quo vadis, 5. Aufl., Köln.
6.7 1
Anmerkungen
Brüder Grimm 1812 - in ihren folgenden g Ausgaben entfernten sie dieses Märchen, weil es sich als Übernahme der früheren Fassung von Charles Perrault von 1697 mit dem Titel „Le Chat botte“ erwies - vgl. dazu den Beitrag von Köhler-Zülch 1993, die von über 500 Varianten des Märchens spricht und Folgendes anschliesst: „Obwohl die Brüder Grimm das Märchen wegen der deutlichen Übereinstimmung mit der Fassung von Perrault nicht mehr in die 2. und folgende Auflagen der Kinderund Hausmärchen übernahmen, gilt der gestiefelte K. auch als Grimmsches Märchen und erscheint in populären Grimm-Ausgaben“. (Sp. 1070 f) Sie schliesst mit einer moralischen Bewertung: „Eine nach ethischen Kriterien gewisse Fragwürdigkeit dieses Aufstiegsmodells scheint der Popularität des Märchens nicht zu schaden, sondern sie eher zu verstärken.“ (Sp. 1079). Und Rölleke 1999 bedauert in seinem fundierten Nachwort in Brüder Gimm (1999/1819) die Entfernung gerade dieses Märchens mehrfach und nachdrücklich, weil er es als eines der besten Märchen in den KHM einschätzt. Dem schliessen wir uns gerne an.
203
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Führungsbeziehungen und d Wertewandel in Management und d Märchen
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16 17 18 19 20 21 22
204
Begriffsklärungen g sowie die folgenden Schaubilder sind entnommen aus Wunderer 2007. vgl. Tannenbaum/Schmidt 1998 vgl. Likert, 1975 Erzabtei Beuron 1965, Regel 3, S. 24 vgl. Kipnis/Schmidt et al. 1984, Wunderer 1992, Wunderer 2007, S. 258 ff. vgl. Hersey/Blanchard 1988, Wunderer 2007, S. 211 ff. vgl. Berne 1997, Kälin et al. 1998 vgl. dazu Wunderer 2007, S. 177 ff. sowie Kapitel 5.8 vgl. Opaschowski 2004, S. 410 Wunderer/Dick 2007 vgl. Wunderer/Dick 2007, S. 33 vgl. Bundesministerium et al. 2006 Knigge 1991, S. 406, andere Beispiele sind die diskutierten Märchen Der Sperling und seine vier Kinder (KHM 157) oder Die Lebenszeit (KHM 176). Aus: Brüder Grimm: Kinder und Hausmärchen [1]. Göttingen 1812, S. 148–155 (aus Uther, Hans-Jörg: Deutsche Märchen und Sagen. CDROM Berlin: directmedia 2003 [Digitale Bibliothek 80], S. 23829–23835). vgl. dazu die Illustration in Brüder Grimm 1967, S. 369 vgl. Likert a.a.O. vgl. g Perrault/Battut 2001, o.S. und die Verhaltensleitsätze in Grimms Märchen bei Wunderer 2007a Pinchot 1988 Donau-Kurier 1985 vgl. Neuberger 2006 vgl. Bass/Riggio 2006
Wahrlich, ich sage Euch Quelle: Jacob und Wilhelm Grimm – Märchen, illustriert von Adolff Born, Brio Verlag, Prag/München 2004, S. 71.
Verhaltensleitsätze im Management
7.1
1977 erschien Bruno Bettelheims Ergebnis seiner psychologischen Studien zum „Ringen um den Sinn des Lebens“ unter dem deutschen Titel: Kinder brauchen Märchen. Seine Begründung:1 „In ihrer jetzigen Gestalt sprechen sie alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit gleichzeitig an. Sie erreichen den noch unentwickelten Geist des Kindes genauso wie den differenzierten Erwachsenen.“ Das Kapitel behandelt diese These für die Zielgruppe des Managementnachwuchses über eine phänomenologische Dokumentenanalyse. Dazu werden zunächst Verhaltensleitsätze nach Entwicklungsgeschichte, Begriffen, Funktionen und personalpolitischer Einbindung eingeführt. Dann folgt eine Analyse und Interpretation von 70 expliziten und häufigen Leitsätzen aus 63 der 211 Märchen bzw. Legenden der Brüder Grimm nach dort typischen Kernaussagen. Mit dem daraus ermittelten Konzept werden 70 schriftliche Führungsund Kooperationsgrundsätze von 43 Unternehmen ausgewertet und den interpretierten Kernleitsätzen der Märchen zugeordnet. Der Beitrag soll auch einen Einblick in Definitionen und Formulierungen, also in die Semantik und Art der Gebote, Regeln, Normen und ihre Folgen in den Märchen im Vergleich zu den Leitsätzen der Wirtschaft vermitteln. Dies geschieht durch Originalzitate aus den Dokumenten und Quellen. Auch der Bedeutungswandel von Märchen wird behandelt. Abschliessend wird diskutiert, inwieweit Inhalte dieser Märchenleitsätze (noch) eine Grundlage für Unternehmensgrundsätze sowie für eine Prägung des Managementnachwuchses bilden (können). Die Hypothese lautet: Wer auch über diese Maximen „frühsozialisiert“ wurde, erfüllt noch heute zentrale Führungs- und Kooperationsgrundsätze der Wirtschaft. Das tatsächliche Verhalten nach diesen beiden Anforderungsprofilen ist nicht das Thema des Beitrags.
7.1
Verhaltensleitsätze im Management
7.1.1
Zur Entwicklungsgeschichte
Verhaltensleitsätze im Management werden bevorzugt unter den Begriffen Leitsätze für Führung und Kooperation bzw. Führungs-
207
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
grundsätze diskutiert, deren Rezeption bis in das 3. Jahrtausend v. Chr. reicht.2 In allen Religionen und Mönchsregeln3 gibt es kodifizierte Ge- und Verbote, die grossen Einfluss auff das Denken und Handeln, insbesondere in Kooperationsbeziehungen, hatten und haben. In der Renaissance4 finden sich Maximen zur Machterhaltung und -gewinnung in Form von „Fürstenspiegeln“ zur Erziehung und Anleitung von Herrschern. Und im Zuge der Aufklärung werden im 18. Jahrhundert in der Tradition der „ars conversationis“ Leitsätze „Über den Umgang mit Menschen“5 publiziert, die schon psychologische Typologien zur Differenzierung des Umgangs mit Zielgruppen verwenden. In den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts halten dann Arbeitsordnungen und -richtlinien vermehrt Einzug in die industriellen Unternehmen. Und ab 1960 verbreiten sich im deutschen „Wirtschaftswunder“ sog. Führungsrichtlinien6 derartig, dass der amerikanische Führungsforscher Bernhard Bass von einer „teutonischen Angelegenheit“7 spricht. In den achtziger Jahren rücken über das Konzept der kooperativen Führung sowie der Betriebsverfassung „Führungsleitbilder“8 in den Mittelpunkt, die sich auch in eine Führungsethik zur „Begünstigung humaner Leistung“ einbinden lassen.9 Und heute kommen Anforderungen von Zertifizierungen und Ratings (z. B. Qualitätssicherung, Exzellenzwettbewerbe) sowie von Personalmarketing (z. B. „Branding“, Nachwuchsgewinnung) hinzu.
7.1.2
Begriffliche und konzeptionelle Abklärungen
Führungsgrundsätze beschreiben oder normieren Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern im Rahmen einer werte- und zielorientierten Führungskonzeption zur Förderung von erwünschtem Sozial- und Leistungsverhalten. Kooperationsgrundsätze beziehen zusätzlich die Zusammenarbeit mit Kollegen und anderen Organisationseinheiten ein. In der Führungsforschung und -lehre haben Verhaltensleitsätze seit langem einen festen Platz.10 Dazu werden nun konzeptionelle Grundlagen von Führung, Leitsätzen und personalpolitischen Instrumenten sowie empirische Ergebnisse referiert. Dies unterstützt die folgende Analyse der Märchenleitsätze.
208
Verhaltensleitsätze im Management
7.1
Zwei Führungsdimensionen (strukturelle und interaktive Führung) erleichtern die Einordnung von Leitsätzen in die Mitarbeiterführung. Strukturelle Führung gestaltet Kultur, Strategie, Organisation sowie die qualitative Personalstruktur von Unternehmen oder Teams nach möglichst klaren Prinzipien. So kann man internes Unternehmertum fördern über Führungskultur (Wandel mehr als Chance denn als Risiko verstehen), Führungsstrategie (delegative Führung und ergebnisorientierte Vergütung verstärken) und dezentrale Führungsorganisation sowie unternehmerisch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter gewinnen und halten.
Umsetzen muss man Leitsätze selbstständig oder durch interaktive Führung, d. h. eine direkte Beeinflussung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern.11 Dies kann auch durch sog. „implicite leadership“12 geschehen, die auff symbolische Führung und individuell unterschiedliche Wahrnehmung der Führungssituation abstellt. Wir analysieren hier aber nur explizite Leitsätze. Abb. 48 veranschaulicht die zwei zentralen Führungsdimensionen. Diese Kombination zeigt sich implizit ebenso in Märchen.
Strukturelle und interaktive Führung
Abbildungg 48
In der Managementpraxis sollen Leitsätze zugleich die strategische Ebene, die taktischen Programme sowie die operative Umsetzung beeinflussen (vgl. Abb. 49). In der Theorie und bei Neugründungen von Unternehmen beginnt man mit der Führungs-
209
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
philosophie und realisiert schliesslich über Programme. Die Vermittlung religiöser Werte beginnt mit der Kommunikation und dem Lernen der Gebote, erst dann folgt die Konkretisierung und Reflexion – z. B. im Katechismus. In der Wirtschaftspraxis sucht man mittels struktureller Führung auch ähnliche Lösungen über schriftliche Führungsgrundsätze zu finden. Erst im weiteren Verlauff stellen sich Fragen nach der Führungspolitik und -philosophie. Wir bevorzugen einen induktiven Ansatz, der von einer realistischen Analyse ausgeht und mit Verbesserungsansätzen der Ist-Situation beginnt statt mit hehren Leitprinzipien, die dann in Managementhandbüchern selig schlummern. Ähnlich gehen auch die Märchen vor, die ihre Maximen meist erst zum Schluss formulieren.
Abbildungg 49
Leitsätze als Instrumente struktureller Führung (vgl. auch Ulrich 2003) Bestand (Dauer) langfristig
Warum Mitunternehmertum fördert Unternehmenssicherung, Kundenorientierung, internen Wettbewerb und Kooperation
kurzfristig gering
Philosophie »Werte«
Was ein integriertes Förderungskonzept vom Mitarbeiter zum Mitunternehmer für alle Komponenten entwickeln und umsetzen
Politik »Ziele«
Wie Führungsgrundsätze zur Konkretisierung, Information, (Re-)Motivierung, Beurteilung und Entlohnung daran ausrichten
Strategie »Mittel und Methoden«
Womit Realisierungsgrad durch integrierte Führungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen erhöhen
Taktik »Programme«
Wer,Wann,Wo Mitdenken und Mitverantworten über Qualitäts- Konkretizirkel und kooperative Füh- sierungsgrad rung erhöhen
Ausführung »Tätigkeit«
hoch
Unternehmerische Werte und Ziele werden in grösseren Unternehmen vorrangig über explizit formulierte Leitbilderr kodifiziert und vermittelt.13 In Klein- und Mittelbetrieben geschieht dies dagegen meist über informell postulierte und gelebte Ge- und Verbote. Wir beschränken uns in dieser Dokumentenanalyse auf explizite und formalisierte Leitsätze. Sie werden später den zuvor ermittelten Kernleitsätzen aus der Märchenanalyse zugeordnet.
210
Verhaltensleitsätze im Management
7.1
Zu vorherrschenden Themen personal- und führungspolitischer Grundsätze sowie damit verbundenen Instrumenten in der Unternehmenspraxis bringt Abb. 50 Beispiele.
Führungspolitische Inhalte und Instrumente in Führungsleitsätzen
Abbildungg 50
Qualifikation (z. B. nach Fach-, Methoden- und unternehmerischen Schlüsselkompetenzen) Motivation (Eigenmotivation, Commitment, Situative Motivation, Motivationsbarrieren) Organisation (v. a. Führung und Arbeitsorganisation) Position ( z. B. Leitlinien zurr Gewinnung, Umsetzung, Nachfolge oderr Freistellung) Gratifikation (immateriell – z. B. Anerkennung; positional – z. B. Stellvertretung finanziell z. B. Prämie) Promotion (Grundsätze zurr Personal- und Organisationsentwicklung) Kooperation und Delegation als Basis von Führung und Zusammenarbeit Kommunikation (z. B. Inhalte, Formen, Rechte und Pflichten) Evaluation (z. B. Wirkungsanalysen von Mitarbeiterbefragungen oderr Personalbeurteilungen)
In den Märchen werden (implizit) Qualifikation, Beurteilung und Kommunikation, Motivation, Gratifikation und Nachfolge sowie Kooperation und Persönlichkeitsentwicklung angesprochen.
Abschliessend dazu noch Ergebnisse zur Wirksamkeit von Führungsgrundsätzen: Eine 1981 durchgeführte Analyse von 651 aus 4800 zufällig ausgewählten Unternehmen in Deutschland zur Frage der Wirksamkeit von Führungsgrundsätzen rangierte14 mit deutlichem Abstand folgende Aussage an erster Stelle: „Sie erleichtern die direkte Kommunikation zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern über die Gestaltung ihrer Führungsbeziehungen.“ Auch hier zeigen sich sehr grosse Gemeinsamkeiten in Zielen und Folgen von Verhaltensleitsätzen in Märchen. Und eine Frage nach dem Erfolg von Führungsgrundsätzen für das tatsächliche Verhalten ergab, dass etwa je die Hälfte schriftliche Führungsgrundsätze für wirksam hielt und die andere Hälfte hier reserviert bis ablehnend antwortete.15 In der Märchenforschung fehlen empirische Analysen dazu.
211
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
7.2
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2.1
Vorbemerkung
Märchen prägen wohl vor allem Kinder. In ihrer – aus psychoanalytischer wie neuropsychologischer Sicht16 besonders entscheidenden Entwicklungsphase hören sie aber zusätzlich von morgens bis abends moralische und praktische Normen, Regeln, Leitsätze und Maximen. Jede der Bezugspersonen kommuniziertt sie in anderer Weise: Mutter, Vater, Kindergärtner, Geschwister, Grosseltern, Tanten, Onkel, Cousins und auch Gleichaltrige. Pro Tag sind das wohl 50 – 100. Das gilt besonders für die Erstgeborenen, die „Nullserie“ der Erziehung – auch bei professionell ausgebildeten Eltern. Dazu lästerte schon Wilhelm Busch: „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie.“ Die Kleinen hören oder sehen heute Märchen in vielen Variationen und „Kanälen“, meistens vor dem Einschlafen oder am frühen Morgen an Wochenenden. Sie kennen weder Verfasser noch „Sender“, die Maximen werden meist in einer „Fallstudie“ implizit versteckt, seltener mit erhobenem Zeigefinger expliziert vermittelt. Transaktionsanalytisch17 wird hier gerne das „Eltern-Ich“ sozialisiert, nach Sigmund Freud das „Über-Ich“, in der Alltagssprache Gewissen genannt. Während die Appelle der Bezugspersonen leichter abstumpfen, weil sie stets mit der Lebenswirklichkeit verglichen werden können, behalten Märchennormen oft einen höheren Wirkungsgrad. Sie werden in günstigeren Tagesphasen vermittelt, ermöglichen Identifikationen oder Projektionen mit Heldinnen und Helden in herausfordernden Situationen. Sie verankern sich dann tiefer als die täglichen Regelvorgaben, weil sie engere Verbindungen mit der nächtlichen Traumwelt und Tagesphantasien herstellen. Deshalb werden sie auch gerne als Vorbilder für Verkleidungen in Rollenspielen oder an der Fasnacht verwendet. Die Erwachsenen instrumentalisieren Märchen gerne als unterstützende Sozialisationshilfen und identifizieren sich dann weniger mit den Inhalten. In der Psychoanalyse und -therapie zeigen Märchen aber oft bemerkenswerte Wirkungen bei Projektionen auff eigene Entwicklungsphasen und -konflikte – z. B. sich als Aschenputtel bzw. Prinzessin oder als Pechmarie bzw. Hans im Glück zu fühlen.18
212
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2
Wie steht es nun mit Führungsgrundsätzen aus der Wirtschaft? Die langjährigen Mitarbeiter betrachten diese zum Grossteil mit Distanz, und nur etwa ein Drittel erhofft sich eine erkennbare Wirkung auff das reale Verhalten. Dagegen lesen besonders Hochschulabsolventen die bei ihrer Bewerbung übersandten Führungsgrundsätze oft recht vertrauensselig und ziehen dann naive Rückschlüsse auf die realen Unternehmens-, Führungs- und Kooperationskulturen. Diese Leitsätze sind weniger konkret als die in Märchen. Weil sie neben Normen auch unterstützende Instrumente, Führungsstile und Fördermassnahmen enthalten, sind sie wesentlich umfassender, strukturierter und abstrakter als die narrativ vermittelten Verhaltensmaximen aus der Märchenwelt. Aber wenn die Bewerber Visionen als „Träume ohne Verfallsdatum“ verstehen, dann führen diese Leitsätze sie wieder in eine „märchenhafte“ Wirklichkeit, mit der sie sich hoffnungsvoll auff ihren künftigen Berufsalltag einstellen, um oft in der Einarbeitungsphase umso mehr enttäuscht zu werden.
7.2.2
Acht Kernleitsätze aus 63 Märchen der Brüder Grimm
Die Beiträge der Märchensammlung der Brüder Grimm in der Gesamtausgabe von 1819 (vgl. inkl. der Seitenverweise Brüder Grimm 1999/1812) wurden auff explizite Leitsätze analysiert. Diese Märchen sind „bis heute das meistaufgelegte, meistübersetzte und bestbekannte deutschsprachige Buch“.19 Dabei wurden wir bei den 6320 ausgewählten Märchen meist im Schluss(ab)satz fündig. Daraus wurden 70 Maximen ausgewählt und über eine Inhaltsanalyse in folgenden acht Kernleitsätzen zusammengefasst und interpretiert: Rechne mit Prüfungen und Gratifikationen – Rechne mit Sanktionen – Achte die Hierarchie und Deinen Stand – Sei emotional intelligent – Sei und bleibe bescheiden – Halte, was Du versprochen hast – Sei mental intelligent – Lerne aus Fehlern. Die Leitsätze sind nach Häufigkeit und Zusammenhang (z. B. emotionale, soziale und sozialethische sowie mentale Intelligenz) rangiert. Neben Geboten und Verboten finden sich sog. „Pflichtzettel“21 sowie Schwankerzählungen, die besonders Dummheit oder Faulheit lächerlich machen.
213
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
7.2.2.1
Rechne mit Prüfungen sowie Belohnungen
„Sprach der König ‚du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen, und ich will dich ansehen wie mein eigen Kind. ‘“ Das Hirtenbüblein (KHM 152, S. 666) „die dritte schälte ordentlich die Rinde (des Käses, RW) ab, nicht zu viel und nicht zu wenig. Der Hirt erzählte das alles seiner Mutter, da sprach sie ‚nimm die dritte zu deiner Frau‘. Das tat er und lebte zufrieden und glücklich mit ihr.“ Die Brautschau (KHM 155, S. 669-1) „Wie der Bräutigam das hörte und ihre Faulheit bemerkte und den Fleiss des armen Mädchens, so liess er sie stehen, ging zu jener und wählte sie zu seiner Frau.“ Die Schlickerlinge (KHM 156, S. 670-2) „Dann setzte es sich auff einen Schemel, zog den Fuss aus dem schweren Holzschuh und steckte ihn in den Pantoffel, der war wie angegossen. … ‚das ist die rechte Braut‘ … “ Aschenputtel (KHM 21, S. 162 f.-3) Eine ähnliche Konstellation findet sich in „Die wahre Braut“ (KHM 186, S. 755 ff.) „Wie der Vater das hörte, sprach er ‚du hast es am weitesten gebracht und sollst der König sein.“ Die drei Faulen (KHM 151, S. 661) N. B: In diesem Schwank wird der als Faulster Evaluierte der neue König. „Wie der Vater das sah, erstaunte er und sprach ‚du hast das beste Meisterstück gemacht, das Haus ist dein. ‘“ Die drei Brüder (KHM 124, S. 592-4) „Du bist ein Erzdieb und hast Deine Sache gewonnen.“ Der Meisterdieb (KHM 192, S. 782) Belohnungen – weitere Beispiele „Jetzt hast Du mich erlöst, und morgen wollen wir unsere Hochzeit feiern“. Die Rabe (KHM 93, S. 475) „Der König aber heiratete die weisse und schöne Braut und belohnte den treuen Bruder, indem er ihn zu einem reichen und angesehenen Mann machte.“ Die weisse und die schwarze Braut (KHM 135, S. 635) „Der König reichte ihm die Hand und sprach ‚du … hast mir das Leben gerettet. Du sollst keine Not mehr leiden, ich will schon für dich sorgen. ‘“ Der Stiefel von Büffelleder (KHM 199, S. 809) „Ich bin der Eisenhans, und war in einen wilden Mann verwünscht, t aber du hast mich erlöst. Alle Schätze, die ich besitze, die sollen dein Eigentum sein.“ Der Eisenhans (KHM 136, S. 643) „Wenn Du mich frei machst, ‚rieff der Geist,‘ so will ich dir so viel geben, dass du dein Lebtag genug hast … Der Geist dankte ihm für seine Erlösung, und der Schüler dankte dem Geist für sein Geschenk …“ Der Geist im Glas (KHM 99, S. 496-5) „Als der Jüngling zu dem Zauberer ging … sagte dieser: ‚meine Macht ist zerstört, und du bist von nun an der König vom Schloss der goldenen Sonne. Auch deinen Brüdern kannst du die menschliche Gestalt zurückgeben. ‘“ Die Kristallkugel (KHM 197, S. 800)
Bei der quantitativen Analyse expliziter Verhaltensmaximen stehen teils mehrfache Prüfungen (z. B. beim Aschenputtel) sowie damit verbundene Gratifikationen mit 13 Treffern an der Spitze und finden
214
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2
sich meist am Schluss der Geschichten. Auch sind sie – im Gegensatz zu den meisten Vergütungskonzepten der Wirtschaft – nur verhaltens- und ergebnisbezogen, nie anforderungsorientiert ausgerichtet. Ökonomisch dominieren extrinsische Anreize bzw. Belohnungen mit teils extremen Chancen und Risiken, die viel unternehmerisches Denken und Wagen erfordern. 7.2.2.2
Rechne mit Sanktionen – auch nach eigenem Urteil
„Aber wo sind meine Schwestern, fragte das Mädchen. ‚Die habe ich in den Keller gesperrt, und morgen sollen sie in den Wald geführt werden und sollen bei einem Köhler so lange als Mägde dienen, bis sie sich gebessert haben und auch die armen Tiere nicht hungern lassen. ‘“ Das Waldhaus (KHM 169, S. 713) „Ich habe so viel für dich gelitten, da hast du auch für mich leiden sollen.“ Die sechs Diener (KHM 134, S. 631) „‚De nackte Hiering? ‚rief die Neidische, ‚de nackte Hiering?‘ Seit der Zeit steht der Scholle zur Strafe der Mund schief.“ Die Scholle (KHM 172, S. 718) „Der König aber musste von nun an fahren zur Strafe für seine Sünden.“ Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29, S. 197) „Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und teil an seinem Glück nehmen … da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Als sie herausgingen … da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag bestraft.“ Das Aschenputtel (KHM 21, S. 163 f.) „Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, solange sie lebte, nicht mehr abgehen.“ Frau Holle (KHM 24, S. 171) „Und die Kröte musste der undankbare Sohn alle Tage füttern, sonst frass sie ihm aus seinem Angesicht; und also ging er ohne Ruhe in der Welt hin und her.“ Der undankbare Sohn (KHM 145, S. 654) „Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und liess es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auff dem Totenbettchen. Als es ins Grab versenkt war … kam auff einmal sein Ärmchen in die Höhe …“ Das eigensinnige Kind (KHM 117, S. 564) „Es war einmal ein kleines Mädchen, das war eigensinnig und vorwitzig, und wenn die Eltern etwas sagten, so gehorchte es nicht: wie konnte das gut gehen? Da verwandelte sie (Frau Trude, R. W.) das Mädchen in einen Holzblock und warf ihn ins Feuer. Und als er in voller Glut war, setzte sie sich daneben, wärmte sich dann und sprach, ‚das leuchtet einmal hell‘.“ Frau Trude (KHM 43, S. 246)
215
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
Sanktionen nach der Maxime: „Wie Du richtest, so wirst Du gerichtet“ „Da sagte der König ‚du hast Dein Urteil gesprochen‘, liess ein solches Fass holen und die Alte mit ihrer Tochter hineinstecken …“ Die drei Männlein im Walde (KHM 13, S. 112) „Da sagte der König, er hätte sich selber sein Urteil gesprochen …“ Der gelernte Jäger (KHM 111, S. 547) „‚Du hast dein eigen Urteil gefunden, und danach soll Dir widerfahren‘“ Die Gänsemagd (KHM 89, S. 453)
Gar nicht kindgemäss wirken Sanktionen in Märchen in einer auch für das 19. Jahrhundert teils barbarischen Form – zudem meistt in Selbstjustiz. Sie stehen ausnahmslos am Schluss der Geschichte. Hier versuchen die Grimms meist – auch im Sinne der „schwarzen Pädagogik“22 von der bösen Kindsnatur – drastisch-drakonisch zu konditionieren. So werden in ihrer Fassung bei Aschenputtel deren Schwestern mit Blendung für ihr Mobbing bestraft. In Perraults früherer Fassung endet die Geschichte dagegen versöhnend: „Aschenputtel, das genauso gütig wie schön war, liess seine beiden Stiefschwestern bei sich im Schloss wohnen und vermählte sie noch am selben Tage mit zwei Edelleuten.“23 Ein Umweg über eigene und differenziertere (Gewissens-)Reflexionen zu selbstständigen Folgerungen aus den Märchen wird mit barbarischen Sanktionen kaum gefördert. So führt schon Eigensinn oder Unehrlichkeit unmündiger Kinder bis zur Todesstrafe und der zusätzlichen Verdammung nach dem Tode (z. B. Der gestohlene Heller (KHM 154), Das eigensinnige Kind (KHM 117), Frau Trude (KHM 43))!
216
In gleiche Richtung gehen übrigens die Sanktionen mit Todesfolge in ähnlich beliebten und verbreiteten „Kinderbüchern“ des 19. Jahrhunderts, wie beim Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1847)24 oder bei Max und Moritz von Wilhelm Busch (1865).25 Wurden hier selbst bei christlich geprägten Autoren aggressive Projektionen befriedigt und bei Kindern lebensprägende Ängste oder gar „ekklesiogene Neurosen“26 sozialisiert sowie Kadavergehorsam gezüchtet? War diese „Erziehung“ ein Baustein für die unselige deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Im Vorwort der stark überarbeiteten 2. Auflage als „Erziehungsbuch“ (S. 30) lautete die Mission eigentlich: „Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nichtt passenden Ausdruck gelöscht.“27 Dazu ein „Selbstzeugnis“: von Jacob Grimm: „Wir Geschwister wurden alle … durch Tat und Beispiel streng reformiert
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2
erzogen, Lutheraner … pflegte ich wie fremde Menschen anzusehen, und von Katholiken … machte ich mir scheue, seltsame Begriffe.“28 Nach Rölleke29 wurde in der 2. Auflage auch vermehrt „der liebe Gott bemüht“. Ethische und semantische Reinheit und religiöse Legitimation rangierten vor Reflexion über die drakonischen Sanktionen zu entwicklungstypischen Verfehlungen von Kindern. Religionsgemeinschaften haben ihre Ge- und Verbote immer mit Sanktionen verbunden. Gut lässtt sich das an den noch heute unverändert gültigen Regeln des hl. Benedikt belegen. Sie wurden um 530 verfasst, werden aber vom Abt zeitgemäss interpretiert. Diesen Grundsätzen wurden noch die Tage für die „Lesung“ zugeordnet – ein Benchmark für eine stete Implementationsstrategie, auch für Unternehmen! „Kirchenzucht“30 mit Sanktionen gab es auch im „weltlichen“ Kirchenbereich; und diese wurden teils unnachsichtig verfolgt – bis zum Verbot des Umgangs mit Ausgeschlossenen. Dazu der Psychoanalytiker Görres: „Es scheint, das Christentum habe es in den letzten Jahrhunderten nicht mehr gut verstanden, dem neuzeitlichen Menschen zu zeigen, dass und wie gerade die Bewältigung des Bösen wirklich möglich ist.“ In 35 der 73 benediktinischen Verhaltensleitsätze fanden sich explizite Sanktionsandrohungen. Sie reichen von Ermahnung und Belehrung über Verweigerung des Segensgrusses oder des gemeinsamen Tisches bis zur körperlichen Züchtigung und Ausschluss aus der Gemeinschaft. Darüber hinaus wird der Mönch auff stets wachsame Engel (sozusagen als „Controller“) sowie auff Seelen- und Höllenstrafen verwiesen: „Allzeit betrachte er sich als schuldbeladen und sehe sich im Geiste schon vor dem furchtbaren Gerichte Gottes.“ Dies erklärt auch Quellen der „Märchenzucht“ und dortt geforderter Demut und Bescheidenheit. Eigensinn wird mit Schopenhauer als Gegensatz von Erkenntnis verstanden, muss – nach Grünewald „mit einer Radikalkur“ früh ausgetrieben werden. Und – so Pestalozzi –: „Wer noch lernt, darff nicht urteilen.“31 7.2.2.3
Achte die Hierarchie und bleibe in Deinem Stand
„… ‚Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf … liebe Mutter, wir wollen uns schon in acht nehmen …‘“ Der Wolff und die sieben jungen Geisslein (KHM 5, S. 63)
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7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
„Rotkäppchen aber dachte ‚du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutter verboten hat.“ Rotkäppchen (KHM 26, S. 179) „Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten sofort den alten Grossvater an den Tisch und liessen ihn von nun an immerr mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.“ Der alte Grossvater und der Enkel (KHM 78, S. 404) „… ‚ich will … ihm mit Treue dienen, wenn‘s auch mein Leben kostet.‘“ Der treue Johannes (KHM 6, S. 66-6) „Niemand war froher als die Lerche, dass sie dem Zaunkönig nicht zu gehorchen brauchte.“ Der Zaunkönig (KHM 171, S. 716) „Bekümmert euch nicht um euern Herrn und seine Befehle, tut lieber, was euch einfällt, und wozu ihr Lust habt, dann werdet ihr ebenso weise handeln wie der kluge Hans.“ Der kluge Knecht (KHM 162, S. 685) „Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutterr haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und liess es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auff dem Totenbettchen.“ Das eigensinnige Kind (KHM 117, S. 564-7) „Sie brachen die Dielen auff und fanden zwei Heller, die hatte einmal das Kind von der Mutter erhalten, um sie einem armen Manne zu geben, es hatte aber … die Heller behalten und in die Dielenritzen versteckt; und da hatte es im Grabe keine Ruhe gehabt, und war alle Mittage gekommen, um nach den Hellern zu suchen .“ Der gestohlene Heller (KHM 154, S. 668) „Jeder soll seinen Stand vertreten, dass einerr den anderen erhalte und alle ernährt werden wie am Leib die Glieder.“ Die ungleichen Kinder Evas (KHM 180, S. 741) „Un zweetens, datt es geraten is, wenn eener freet, datt he sick ne Fro uut sienem Stande nimmt, un jüst so uutsüht as he sülwst. Wer also en Swinegel is, de mutt tosehn, datt siene Fro ook en Swinegel is, un so wieder.“ Der Hase und der Igel (KHM 187, S. 767)
Dieses persönliche wie standesorientierte Bescheiden zeigt Beziehungen zu den Maximen in 7.2.2.5., die auch vor mangelndem Autoritätsrespekt, Überlegenheitsdünkel wie überzogenem Karrierestreben in der ständisch geprägten Gesellschaftskultur des 18. Jahrhunderts bewahren wollen. Understatement wird z. B. in der Schweiz noch heute positiv beurteilt – gerade bei „Höherrangigen“ und Erfolgreichen. 7.2.2.4
Sei emotional intelligent — barmherzig und teamfähig
Das graue Männchen: „weil Du ein gutes Herz hast und von dem Deinigen gerne mitteilst, so will ich dir Glück bescheren.“ Die goldene Gans (KHM 64, S. 368-8)
218
„… ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.“ Die Sterntaler (KHM 153, S. 668)
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2
„Ich habe Mitleid mit Dir und fürchte mich vor nichts.“ Der Trommler (KHM 193, S. 783-9) „Zweiäuglein aber hiess sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also dass die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.“ Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein (KHM 130, S. 619) „Der Bauer wollte das Gold teilen, aber der Soldat sprach ‚gib den Armen, was mir zufällt: ich ziehe zu dir in deine Hütte, und wir wollen mit dem übrigen in Ruhe und Frieden zusammen leben, solange es Gott gefällt.‘“ Der Grabhügel (KHM 195, S. 795) „Und nicht eher sollte die Verwünschung aufhören, als bis ein Mädchen zu uns käme, so gut von Herzen, dass es nicht gegen die Menschen allein, sondern auch gegen die Tiere sich liebreich bezeigte.“ Das Waldhaus (KHM 169, S. 713) „… und wenn wir zusammen musizieren, so muss es eine Art haben … und sie gingen alle viere zusammen fort.“ Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27, S. 183-10) „Wenn wir sechs zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen.“ Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71, S. 388-11) „Es waren drei Handwerksburschen, die hatten es verabredet, auf ihrer Wanderung zusammen zu bleiben und immer in einer Stadt zu arbeiten.“ Die drei Handwerksburschen (KHM 120, S. 572) „Stoss zu in aller Schwabe Name, sonst wünsch i, dass ihr mögt erlahme.“ Die sieben Schwaben (KHM 119, S. 57-12)
Weit häufiger als in den zitierten expliziten Maximen vermitteln sehr viele Märchen implizit, dass sich prosoziales Verhalten lohnt. Gerade die intellektuell weniger Klugen (die sog. „Dümmlinge“ oder „Dummlinge“32) sind wegen ihrer emotionalen Kompetenz erfolgreicher, weil sie Netzwerke bilden oder ihnen nach bestandenen sozialen Assessments geholfen wird. 7.2.2.5
Sei und bleibe bescheiden
„Fragt ein Königssohn: ‚wie kann ich wohl in den Himmel kommen?‘ Der Mann antwortete: ‚durch Armut und Demut.‘“ Armut und Demut führen zum Himmel (KHM 4 – Kinderlegenden, S. 815 f.-13) „Das ist alles geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen und dich für deinen Hochmut zu strafen …“ König Drosselbart (KHM 52, S. 297) „Na wat will se denn? ‚säd de Butt. ‚Ach se will warden as de lewe Gott‘. ‚Ga man hem, se sitt all weder in‘n Pissputt‘. Door sitten se noch bet up hüt un düssen Dag.“ Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19, S. 142) „De Lehre aver ut disser Geschicht is erstens, datt keener, un wenn he sick ook noch so vörnehm dücht, sick sall beikommen laten, övern geringen Mann sick lustig to maken, un wöört ook man‘n Swinegel.“ Der Hase und der Igel (KHM 187, S. 767) „‚Oho‘ dachte derr Schneider, ‚ein Schelm gibt mehrr als er hat.‘“ Die beiden Wanderer (KHM 107, S. 524)
219
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
„Was für ein Prahlhans du bist: du wirfst das Beil so weit, dass dus nicht wieder holen kannst.“ Der Wolff und der Mensch (KHM 72, S. 393) „So geht‘s, wenn man kein Mass hält. Noch heute, wo sie keine Herde mehr hüten, schreit Rohrdommel ‚bunt, herüm‘ und der Wiedehopff ‚up, up, up.‘“ Rohrdommel und Wiedehopff (KHM 173, S. 719-14)
Materielle und persönliche Bescheidenheit gehören neben der schon diskutierten hierarchischen Einordnung zu den fundamentalen Erziehungsprinzipien, die unsere Kultur bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts prägten. Dann wirkte ein Wertewandel, der die Erziehungsziele (vgl. Abb. 51) wie auch die Verhaltensgrundsätze der Wirtschaftt wesentlich beeinflusste. Verschwendung und Arroganz bleiben aber negativ besetzte Verhaltensmuster in den meisten Lebensbereichen. 7.2.2.6
Halte, was Du versprochen hast — Walk your Talk
„Da sagte der König ‚was du versprochen hast, das musst du auch halten.‘“ Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1, S. 42) „Da konnte sie kein Wort mehr sagen, weil sies öffentlich versprochen hatte, und der König liess einen Wagen kommen, darin musste sie mit dem Schneiderlein zur Kirche fahren, und sollte sie da vermählt werden.“ Vom klugen Schneiderlein (KHM 114, S. 558-16) „Liebster Vater, was ihr versprochen habt, muss auch gehalten werden.“ Das singende springende Löweneckerchen (KHM 88, S. 439-17) „… habt ihr ihm dafür die Braut versprochen, so muss Euer Wort gehalten werden.“ Der Bärenhäuter (KHM 101, S. 504-18) „Was der Frosch gesagt hatte, das geschah.“ Dornröschen (KHM 50, S. 281-19) „Der Löwe kam wieder in Gnade, weil er … die Wahrheit gesagt hatte.“ Die zwölf Jäger (KHM 67, S. 380)
„Walk your Talk“ ist in Märchen – weit häufiger aber in Managementleitsätzen – als explizite Verhaltensmaxime formuliert. Dabei konzentriert sich diese Maxime auffällig auf Tochter-VaterBeziehungen. Gerade die Mächtigeren im Märchen missachten häufig das zentrale Prinzip der Vertrauensbildung. Aber auch junge Märchenhelden wenden nicht nur gegenüber ihren „Feinden“ Tricks an. Sie täuschen ebenso andere (vgl. z. B. Die Rabe (KHM 93)) oder vergessen schlicht ihre Versprechen (z. B. Der Trommler (KHM 193), Brüderchen und Schwesterchen, (KHM 11)). In Unternehmen erwies sich „Walk your Talk“ in unseren Motivationsumfragen bei mittleren Führungskräften als zentrale Forderung
220
Verhaltensleitsätze in Märchen
7.2
sowie als sehr häufig genannter aktueller wie auch potentieller Demotivator33 und als wesentliche Ursache für gestörte Vertrauensbeziehungen. 7.2.2.7
Sei mental intelligent – Dummheit wird bestraft
„Als sie den Schneider so sprechen hörten, überkam sie eine grosse Furcht, sie liefen, als wenn das wilde Heer hinter ihnen her wäre, und keiner wollte sich noch mehr an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag König.“ Das tapfere Schneiderlein (KHM 20, S. 154) „Sprach der König ‚du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen, und ich will dich ansehen wie mein eigen Kind.‘“ Das Hirtenbüblein (KHM 152, S. 664) „… der (König) fragte sie, ob sie denn so klug wäre, und sagte, er wollte ihr ein Rätsel geben, wenn sie das treffen könnte, dann wolle er sie heiraten.“ Die kluge Bauerstochter (KHM 94, S. 476-20) „Sie war aber so klug, dass sie immer … die vorgelegten Rätsel erriet. Schon neune waren auff diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte …“ Das Rätsel (KHM 22, S. 166-21) „Nun war aber ein Mädchen, das war … klug geworden, so dass kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und sah, dass der Balken nichts war als ein Strohhalm. Da rieff es ‚ihr Leute, seht ihr nicht, das ist ein blosser Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da trägt‘. Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen, was es war, und jagten den Hexenmeister mit Schimpff und Schande fort.“ Der Hahnenbalken (KHM 149, S. 660-22) „‚Wenn die Dummheit immer soviel einbrächte, so wollte ich sie gerne in Ehren halten‘. So dachte der Bauer, aber dir sind gewiss die Einfältigen lieber.“ Die klugen Leute (KHM 104, S. 512) „Eile mit Weile“ Der Nagel (KHM 184, S. 751) P. S. Der schweizerische Titel des Spiels „Mensch ärgere Dich nicht“ lautet klugerweise und früh sozialisierend „Eile mit Weile.“
Neben den zitierten Leitsätzen zur sozialen Klugheitt finden sich in weiteren Märchen Botschaften, dass erst klug reflektiertes, gewitztes bis raffiniert-listiges Denken und Handeln vielen Märchenhelden zum Erfolg verhilft. Kreatives Problemlösen gilt also in Märchen ebenso als ein zentraler unternehmerischer Erfolgsfaktor. Aber auch Loyalität von Untergebenen oder Untertanen wird geschätzt. Mächtigere kümmert dies dagegen oft keinen Deut. Das wird in der Führungspraxis häufiger oberen Managern angekreidet – natürlich auch im Sinne einer „Splitter-Balken-Sicht“. Aus Sicht heutiger Erziehungsziele, bei denen zwei Drittel der westdeutschen Eltern „Selbstständigkeit und freien Willen“ (65 %)
221
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
weit vor „Gehorsam und Unterordnung“ (etwa 10 %) in einer Längsschnittanalyse (vgl. Abb. 51) rangierten, erscheinen vielen Westeuropäern dieser Respekt und solche Unter- und Einordnung als antiquiert. In weiten Teilen der Welt bestehen diese autoritativen Beziehungen in Staat, Religion und Familie noch heute bis weit ins Erwachsenenalter. Ebenso finden wir in Erziehungsmustern grosse Differenzen zwischen idealen Erziehungszielen und ihrer Umsetzung. In der Managementlehre werden Taktiken zur Beeinflussung eigener Chefs ermittelt.34 Als erfolgreiche Einflussstrategien beim „Managing the Boss“ erwiesen sich überzeugende Begründungen und gute Beziehungen sowie notfalls bestimmtes Auftreten; im Märchen bevorzugt Letzteres, z. B. der gestiefelte Kater gegenüber dem Müllerssohn. Weiterhin erreichen viele Märchenhelden und -heldinnen eine Karriere weit über ihrem bisherigen Stand. 7.2.2.8
Lerne aus Fehlern
„Rotkäppchen aber dachte ‚du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutterr verboten hat.‘“ Rotkäppchen (KHM 26, S. 179-23) Der Vater: „geh nur hin, durch Schaden wirst du klug werden.“ Die goldene Gans (KHM 64, S. 368-24) „Da erkannte err die Strafe seiner Habgier und begann laut zu weinen. Der gute Schneider … sprach ‚du bist mein Geselle auff der Wanderschaft gewesen, du sollst bei mir bleiben und mit von meinem Schatz zehren.‘“ Die Geschenke des kleinen Volkes (KHM 182, S. 748) „Darum soll keiner sagen, dass, wer albern ist, deswegen nichts Rechtes werden könnte.“ Der arme Müllerbursch und das Kätzchen (KHM 106, S. 518) „Da tat er einen Schwur, kein Lumpengesindel mehr ins Haus zu nehmen, das viel mehr verzehrt, nichts bezahlt, und zum Dank noch obendrein Schabernack treibt.“ Das Lumpengesindel (KHM 10, S. 90)
Dieser Lernansatz ist ein typisches, allerdings meist implizit vermitteltes pädagogisches Ziel vieler Märchen – und häufig zum Schluss als Maxime platziert. Abschliessend noch ein typischer „Verhaltenskatechismus“ – der einzige bei den Grimms in Versform:
222
„Denn wer dem Herrn befiehlt sein Sach, schweigt, leidet, wartet, braucht Glimpf, tut gemach, bewahrt Glaub und gut Gewissen rein,
Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3
dem will Gott Schutz und Helfer sein.“ Der Sperling und seine vier Kinder (KHM 157, S. 672)35 Eleganter und amüsanter setzt Ch. Perrault seine Maximen in Verse, z. B. zum gestiefelten Kater: „Gross mag der Vorteil sein, wenn sich der Sohn des Erbes erfreuen darf, das er vom Vater übernahm. Doch besser ist es für die jungen Leute, wenn sie, statt Güter zu ererben, mit Kunst und Geschicklichkeit das Leben meistern.“36 7.2.2.9
Eine Statistik zu 70 expliziten Verhaltensleitsätzen aus 63 Märchen
46 Verhaltensleitsätze stehen als letzter oder vorletzter Satz, zwei am Anfang.
24 Leitsätze stehen weder am Anfang noch am Schluss. Diese Verteilung belegt die dominante Platzierung expliziter Leitsätze am Schluss.
7.3
Führungs-/Kooperationsgrundsätze im Vergleich mit Märchenleitsätzen
7.3.1
Vorbemerkung
Mit Bezug auff die fünff Kernleitsätze werden nun die expliziten 70 Maximen der 63 Märchen der Brüder Grimm mit 70 dazu passenden Führungs- und Kooperationsgrundsätzen aus 43 Unternehmen ausgewählt und kommentiert. Die Märchen thematisieren meist Geführtenrollen der Märchenhelden, die Unternehmensgrundsätze dagegen vorwiegend Führungs- und Kooperationsrollen. Diese bestehen aus meist im Indikativ formulierten Geboten, die teilweise noch begründet und erläutert werden.
223
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
7.3.2
Inhalt, Verteilung und Diskussion der Führungs- und Kooperationsleitsätze
7.3.2.1
Rechne mit Assessment und Anerkennung von Kompetenzen wie Leistungen
„Wer führt, muss sich dabei ständig neu bewähren.“ Varta Deutschland „Der Vorgesetzte … entscheidet über die Auswahl geeigneter Mitarbeiter.“ Deutsche Shell „Die Einstellung von Mitarbeitern steht unter der Forderung ‚Der richtige Mann an den richtigen Platz.‘“ Sattler, Österreich „Wir erkennen die Fähigkeiten unserer Mitarbeiter.“ Die Bahn, Deutschland „Richtige Mitarbeiter/innen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz.“ Novartis, Schweiz „Wer Mitarbeiter führt, muss ihr Leistungsvermögen und ihre Leistungsbereitschaft fair beurteilen … Bei entsprechender Leistung und Eignung soll er diesen den Weg zu anspruchsvolleren Aufgaben bereiten.“ Hoechst, Deutschland „Die Verantwortung für die Geschäftsführer dieser Einheiten bietet initiativen Persönlichkeiten die Chance, sich als Unternehmer mit weitgehendem Freiraum zu bewähren.“ ABB, Schweiz „Wir zollen den Mitarbeiter/innen Anerkennung für ihre Leistung.“ Ciba, Schweiz „Erkennen Sie gute Leistungen an.“ Thyssengas, Deutschland „Die guten Leistungen … sollten wir nicht als selbstverständlich ansehen. Sie verdienen vielmehr Anerkennung. Diese kommt nicht durch Stillschweigen zum Ausdruck.“ Deutsche Bank, Deutschland „Zur Motivation gehört … der Vorschlag zur Beförderung von Mitarbeitern, die ihre Eignung und Bereitschaft zur Übernahme höherer Verantwortung bewiesen haben.“ IBM Deutschland „Wichtige Fördermittel sind … Einsatz für zeitlich befristete Sonderaufgaben zur Entdeckung zusätzlicher Fähigkeiten und als Möglichkeit der Bewährung für neue Aufgaben.“ Plansee, Reutte, Österreich
Der Begrifff „Assessment“ hat im Management, besonders in der Personalauswahl, einen festen Platz. Dabei geht es um die sog. multimodale und „valide“ Einschätzung der „Arbeitspersönlichkeit“ durch Tests, strukturierte Interviews, Potential-, Verhaltens- und Leistungsbeurteilungen, durch Sonderaufgaben, Stellvertretung und Job Rotation. Märchen können dazu gute „Cases“ liefern, auch wenn diese vorwiegend für die Selektion für Toppositionen (z. B. Prinz oder Prinzessin), aber auch für eine verdeckte Ermittlung von Barmherzig-
224
Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3
keit, Bescheidenheit und prosozialem Verhalten der Märchenhelden eingesetzt werden. „Wir loben keinen, es sei denn, er braucht es.“ Dieser Spruch wird gerne in schwäbischen Unternehmen zitiert, wenn es um fehlende Anerkennung oder Kommunikation geht. Hier ist der bei Umfragen meist vermisste Wunsch nach sog. „Feedback“ – besonders im Sinne von Anerkennung und Wertschätzung – zu nennen, die der Mensch – nach Sigmund Freud – „in unendlichen Mengen vertragen kann“. Schliesslich fordern Psychologie und Pädagogik positive Verstärkung – auch um unerwünschtes Verhalten zu reduzieren.37 Das zeigen die Märchen ebenso. Gratifikationen und Sanktionen sind immer noch zentral, auch zur Erklärung von externer wie interner Verhaltenssteuerung, besonders im Konzept des „homo oeconomicus“ und institutioneller ökonomischer Ansätze. Dafür wird oft das Principal-Agent-Konzept eingesetzt, das Austauschbeziehungen zwischen Auftraggeber (auch Chef) und Auftragnehmer (auch Mitarbeiter) in ökonomistischer Weise beschreibt und erklärt. Ebenso werden AnreizBeitragstheorien in der psychologischen Motivationsforschung zunehmend diskutiert, z. B. zur Erklärung von individuellem, kalkulativem Commitment oder der Leistungsmotivation.38 Auch in der Managementpraxis haben Anreizkonzepte einen prominenten Platz, z. B. bei Honorierungsentscheidungen. Dazu gehören variable Vergütung (z. B. Akkord- und Prämienlohn) sowie Erfolgs- und Kapitalbeteiligungen, Optionen und „fringe benefits“ (z. B. Auto) als Karriereanreize. Ganz im Gegensatz zu den analysierten Märchen verzichten Verhaltensleitsätze von Unternehmen auff das Androhen von Sanktionen. Dies überlässt man Arbeitsgesetzen oder -ordnungen bzw. situativem Führungshandeln. Aber selbst diese Sanktionen weichen im Strafmass erheblich von denen der Märchen ab. Denn dort wird z. B. schon Eigensinn quasi als „Todsünde“ qualifiziert, die sogar noch nach dem Todesurteil eine Kinderseele heimsucht. In Unternehmen wird Eigen„sinn“ sogar als kreativitätsfördernde, allenfalls als „lässliche“ Verfehlung qualifiziert, um im Strafjargon von der „Kirchenzucht“ zu bleiben. Dieser Wertewandel in den Erziehungszielen wird anschliessend empirisch belegt. Ungeklärt – auch bei Nachfragen in der Praxis – bleibt aber dennoch, warum in
225
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
den expliziten Führungs-/Kooperationsgrundsätzen der Unternehmen konkrete Sanktionen ausgeblendet sind, sich höchstens auff eine Dialog- bzw. Streitkultur beschränken. Denn selbst neuere ökonomische Verhaltensexperimente belegen, „dass in Gewinn-VerlustSpielen egoistische Mitspieler erst durch Sanktionen nachhaltig kooperieren“.39 Auch Regelverstösse zur guten Unternehmensführung („Governance“) werden teils streng sanktioniert.40 Und implizit setzen natürlich alle Beteiligten auch erhebliche Sanktionen ein. 7.3.2.2
Rechne mit Sanktionen
„Konstruktive und sachliche Kritik an nicht befriedigenden Leistungen und Verhaltensweisen sind unerlässlich.“ Plansee, Österreich „Stellt der Vorgesetzte Fehler im Verhalten oder negative Arbeitsergebnisse fest, so zeigt er seinem Mitarbeiter, wie er sein Verhalten korrigieren und seine Arbeitsergebnisse verbessern kann.“ HypoVereinsbank München „In der Personalführung ist Lob wichtiger als Kritik … Fehlleistungen, mangelnde Arbeitsqualität und fehlende Einsatzbereitschaft erfordern klare Worte.“ Lufthansa, Deutschland
Ein Vergleich mit den weitt häufigeren und extremen Sanktionen in Märchenleitsätzen (dazu meist in Selbstjustiz) zeigt, dass sich die Wirtschaftspraxis in ihren expliziten (!) Grundsätzen auff „konstruktive Kommunikation“ beschränkt.41 Natürlich gehört dazu auch das Verschieben, Versagen oder Reduzieren von Gratifikationen. Dass es daneben eine reiche Auswahl an sog. mikropolitischen Sanktionen gibt, hat Neuberger eindrücklich auch unter sozialethischen Aspekten diskutiert.42 Das Ausblenden konkreter Sanktionen nach Art der Märchen oder der Corporate Governance könnte so erklärt werden: Die schon seit der Aufklärung verbreitete Priorität der Verständigung und die damit verbundene Dialogkultur setzt auff Reflexion und Überzeugung und akzeptiert Sanktionen allenfalls als Ultima Ratio. Bei Erwachsenen dürfte deren fortentwickelte Fähigkeit zu reflektiertem Verhalten sowie ihr reduzierter Respekt vor unrealistischen Sanktionsdrohungen bedeutsam sein. Dann geht es in Unternehmen um reale und meist individuelle statt archetypische und generalisierte Konflikte. Auch sind viele Mittel der „schwarzen Pädagogik“ (nicht nur Körperstrafen) heute untersagt. Und für Anreizorientierte ist das Versagen von erhofften Gratifikationen schon Sanktion genug.
226
Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3.2.3
7.3
Achte die Hierarchie und bleibe in Deinem Stand
In keinem der analysierten Unternehmensgrundsätze – ebenso wenig in früheren eigenen Auswertungen von Führungsgrundsätzen – fanden wir Grundwerte, die dem dritten Kernleitsatz der Märchen entsprechen, besonders den eigenen Stand sowie die Hierarchie gehorsam zu achten. In der Führungspraxis spieltt das natürlich immer noch eine Rolle, allerdings in subtilerer und informellerer – eben mikropolitischer – Weise. Seit über 50 Jahren dominieren nun in westlichen Ländern Erziehungsziele, die freien Willen und Selbstständigkeit vor Gehorsam und Unterordnung rangieren43 (vgl. Abb. 51).
Abbildungg 51
Erziehungsziele in Westdeutschland 1951 – 1995 (vgl. Rosestiel, v. L. 1999, S.99) Angaben in Prozent
70
60 53
55 48
50 45
43
41
48 45
35
45
37 28
28
30
32 25
25
25
48
45
37
65
63
555
49 43
44
44
39
4 43
38
38
36
35
33
Ordnungsliebe und Fleiß
25
25
19
Gehorsam und Unterordnung
10
52
31
20 15
45
54 51
41
40
67
Selbstständigkeit und freier Wille
65
14
17 10
12
11
8
9
9
8
86
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Dies lässt sich mit weiteren Entwicklungstendenzen und Indizien belegen: Die Erziehungspädagogik folgte dem Wertewandel. Das Lernziel Selbstständigkeit rangiertt nun vor Gehorsam und Unterordnung. Und Lehrende werden nun auch nach diesen Zielen bewertet.44 In Unternehmensgrundsätzen wie Mitarbeiterbefragungen werden kooperativ-delegative Führungsstile gewünscht, autoritär-
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
patriarchalische ebenso abgelehnt oder ausgeklammert. Und in Personalbeurteilungen und Mitarbeitergesprächen werden Beurteilungen der Vorgesetzten durch ihre Mitarbeiter eingebaut. „Managing the Boss“ istt nun auch Teil der Führungsausbildung. Als erfolgreichste Strategien erweisen sich „fundierte und überzeugende Vorschläge“, die „Sicherung guter Beziehungen“ und „Nachdrücklichkeit“45 in der Zielverfolgung. Und bei strategischen Sachkonflikten wird auch „Escalieren“ – also das Überspringen hierarchischer Stufen – gewünscht. Die oben angeführten neuen Grundsätze fokussieren jetzt auf Selbstreflexion und vorbildliches Führungsverhalten. Dazu der Psychoanalytiker Görres schon 1982: „Da scheint die moderne Menschenführung, die auff Selbstvertrauen und Selbstachtung, auff Entwicklung von Autonomie ... Wert legt, auff dem richtigen Weg zu sein.“46 In der Führungsorganisation werden die Dezentralisierung sowie die Bildung von selbstständigen Organisationseinheiten (Servicebzw. Wertschöpfungscenter etc.) vorangetrieben.47 Konzepte zum internen Unternehmertum fördern (teil-)autonomes Handeln sowie das Mitentscheiden und Mitverantworten des Personals. Das fordert Selbstständigkeit. Und: Betriebliche Mitbestimmung und Sozialrecht führten zu einer kollektiven Machtbegrenzung des Managements in Arbeitnehmerfragen. In der Führungspraxis spielt das Achten der Hierarchie noch immer eine entscheidende Rolle. Damit mutierte ein expliziter Kernleitsatz von Märchen zu „implicite leadership“ in der Managementpraxis. 7.3.2.4
Sei emotional intelligent – prosozial und teamfähig
„Leadership leben bedingt ein Verhalten, das von Offenheit, Kreativität, Fairness und dem Willen zur ständigen Verbesserung geprägt ist.“ Hilti, Liechtenstein „Wir fördern Meinungsvielfalt und pflegen eine konstruktive Streitkultur.“ BASF, Deutschland „Haben Sie den Mut und die Verpflichtung zu offener und konstruktiver Kritik gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitern.“ Haspa, Deutschland „Unsere Führungskräfte sind sich stets ihres eigenen Führungsverhaltens bewusst, sehen sich selbst kritisch und entwickeln n sich weiter.“ Isar-Amper-Werke, Deutschland
228
Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3
„Wir müssen unsere Kraft und Energie aktivieren, um uns ständig weiter zu entwickeln.“ Breuninger, Deutschland „Unsere Führungskräfte begegnen ihren Mitarbeiter/innen mit hoher Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen.“ Gross-Gerauer Volksbank eG., Deutschland „Miteinander reden und sich gegenseitig informieren sind die vertrauensbildenden Grundlagen für Zusammenarbeit.“ Dräger, Deutschland „Sie gehen respektvoll mit ihren Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und Kollegen, Kolleginnen und Vorgesetzten um.“ Sanacorp, Deutschland „Wir bilden das beste Team in der Industrie, indem wir die gruppenweite Vielfalt an persönlicher und fachlicher Kompetenz fördern.“ BASF, Deutschland „Wir sind ein Team.“ Hilti, Liechtenstein „Im Team sind wir unschlagbar. Jeder von uns ist ein Teil des erfolgreichen Teams und leistet seinen Beitrag dazu.“ Spar Management AG, Schweiz „Wir erreichen unsere Unternehmensziele im Team.“ HP, Deutschland „Wir fördern und unterstützen die Arbeit im Team.“ SV-Versicherung, Deutschland „Wir arbeiten teamorientiert.“ Schweizerische Volksbank „Gemeinsam sind wir stärker.“ Metro, Schweiz „Wir suchen die Zusammenarbeit über Team- und Departementsgrenzen hinweg.“ Zug AG, Schweiz „Wer Mitarbeiter führt, muss ihre Zusammenarbeit sicherstellen.“ Hoechst, Deutschland „Die Zusammenarbeit im Team ist wichtig.“ Breuninger, Deutschland „Zur Zusammenarbeit gehört … konstruktive Teamarbeit zur Erreichung der gemeinsamen Ziele …“ IBM Deutschland
Die zitierten Leitsätze konzentrieren sich auff Aspekte der emotionalen Intelligenz, auff positive und teamorientierte Beziehungsgestaltung und den steten Willen zur wechselseitigen Weiterentwicklung. Gefordert werden dafür Offenheit, Fairness, Selbstkritik, konstruktive Streitkultur und Meinungsvielfalt. Ergänzt bzw. spezifisch vorgeschlagen werden Konzepte zum unternehmensförderlichen Verhalten, z. B. unter den Begriffen „Loyalität“ oder sog. „Organizational Citizenship“,48 die solch freiwilliges Verhalten umschreiben. In manchen Kulturen (z. B. asiatischen) gilt das nur unternehmensintern, während es in den Märchen gerade gegenüber Fremden gewünscht wird. Dies zeigt sich in Prüfungen junger Märchenhelden durch (scheinbar) Bedürftige, verkleidete Feen oder verwandelte Tiere, die Hilfe brauchen oder dies vorgeben. Prosoziales Verhalten fordern und fördern Märchen wie auch Führungsleitsätze in besonderem Masse.
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7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
In Unternehmen hat kooperative Teamarbeit – z. B. in Projekten – aber Vorrang vor Einzelkämpfertum, das in Sagen wie Märchen doch überwiegt. Die in Deutschland propagierte „Ich-AG“ dürfte als sozialpolitisches „Unwort“ wieder in den Archiven verschwinden. Sozialkompetenz rangiert besonders bei der Auswahl von Führungs-(nachwuchs-)kräften ganz oben. Oft wird sie aber nur eindimensional interpretiert, weil hierbei meist Autonomie und Eigenständigkeit ausgeklammert bleiben. Besonders über Mitarbeitergespräche und -befragungen, Personalbeurteilungen, Probezeiten und umfassendes Qualitätsmanagement wird Sozialkompetenz zu evaluieren versucht. Mit ihren direkten Vorgesetzten und ihrem Team sind hier die Mitarbeiter meist zufriedener als mit ihren Kollegen in anderen Abteilungen sowie mit dem sog. „höheren Management“. 7.3.2.5
Sei und bleibe bescheiden
Zur Forderung nach Bescheidenheit lästerte schon Wilhelm Busch: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ In Unternehmensgrundsätzen wird dieser Wert so nicht gefordert und zeigt damit deutliche Unterschiede zu den Märchenwerten! In manchen Kulturen (z. B. der Schweiz) gilt aber noch heute, dass man sich mit seinen Gütern oder Erfolgen nicht brüsten sollte. Beruflicher Aufstieg über eigene Leistung wird in Unternehmen – wie in Märchen – positiv gesehen. Dafür werden differenzierte Ausund Weiterbildungssysteme angeboten und genutzt – manchmal zu sehr unter Karriere- und Statuszielen. Davor warnte übrigens schon Theodor Fontane seinen Filius brieflich: „Mein Sohn, ich rate Dir vor allen Sachen ab von dem Karrieremachen.“ Mit wachsendem Wohlstand verstärkten sich andererseits in den meisten Volkswirtschaften hedonistische und sog. postmaterialistische Werthaltungen.49 In Deutschland wie der Schweiz zeigen demoskopische Studien dies bei etwa 30 % der arbeitenden Bevölkerung. Das Streben nach Glück und Zufriedenheit steht ganz oben. Und im Konsum rangiert nicht selten spendables „Shoppen“ (auch auff Kredit) sowie sich selbst Verwöhnen weit vor bescheidenem Leben oder gar altruistischem Teilen.
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Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3.2.6
7.3
Halte, was Du versprochen hast – Walk k your Talk
„Integrität (Vertrauen, Fairness, Aufrichtigkeit) bildet die Grundlage für unsere Beziehungen mit den Partnern des Unternehmens; wir halten uns an anerkannte ethische Grundsätze.“ Ciba, Schweiz „Wir sind nur dann glaubwürdig, wenn unser Reden und Handeln übereinstimmen.“ Gross-Gerauer Volksbank, Deutschland „Wir legen unserem Tun kompromisslose Integrität zugrunde“ – „Wir haben Vertrauen in unsere Mitarbeiter …“ HP P Deutschland „Handlungen und Verhalten stimmen mit Worten überein … verpflichtet sich der Ehrlichkeit/Wahrheitstreue in allen Verhaltensaspekten und lebt nach ethischen Grundsätzen.“ Novartis, Schweiz „Achtung vor der Würde des Mitmenschen durch gegenseitiges Verständnis und Vertrauen.“ Plansee, Österreich „Wahrhaftigkeit ist eine Grundvoraussetzung des Menschseins und der Wertebildung. Sie ist der wichtigste unserer Führungsgrundsätze.“ Kambly, Schweiz „Vertrauen, Vertrauen und nochmals Vertrauen – uneingeschränktes Vertrauen in die Mitarbeiter, ihr Können und Wollen und in ihre Leistungsfähigkeit.“ Trisa, Schweiz „Wir handeln in Übereinstimmung mit unseren Worten und Werten.“ BASF, Deutschland „Führung heisst, berechenbar zu handeln und ehrlich miteinander umzugehen.“ Parion, Deutschland „Wir sprechen offen und ehrlich miteinander.“ SV-Versicherungen, Deutschland „Die Grundwerte jeder Kooperation sind … gegenseitiges Vertrauen und Aufrichtigkeit.“ HypoVereinsbank, Deutschland „Wir gehen offen miteinander um, also vertrauen wir uns.“ Kaufring, Deutschland „Offenheit, Vertrauen und persönliche Wertschätzung prägen unsere Mitarbeiter.“ Metro, Schweiz „Arbeiten Sie vertrauensvoll zusammen.“ Thyssengas, Deutschland „Offene Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen bilden den Boden für die Unternehmenskultur.“ Bank in Lichtenstein, Liechtenstein „Kommunikation verpflichtet zur Wahrheit und Seinstreue.“ SØR R Herrenausstatter, Deutschland „Führungskräfte sind im besonderen Masse in der Lage, Fehler einzugestehen oder falsche Entscheidungen zurückzunehmen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.“ Bewag, Deutschland „Die Führungskraft vermittelt Vertrauen und Wertschätzung.“ amd, Deutschland „Gemeinsam schaffen wir Vertrauen.“ Coop, Schweiz
Leitsätze zu „Walk your Talk“ dominieren – zusammen mit der emotionalen Intelligenz – weit vor den Märchen. Zugleich rangieren sie ganz oben in Anforderungsprofilen an vorbildlich integere, exzellente, charismatische Führungskräfte.50 Sie finden sich auch in der Rechtssetzung (z. B. im HGB zum Verhalten des „ehrenwerten
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
Kaufmanns“), im Marketing, in Produkt- und Serviceversprechen oder in der Personalbeurteilung, z. B. im Merkmal „Verlässlichkeit“. Inhaltlich wird „Walk your Talk“ oft mitt „Integrität“ und „Vertrauensbildung“ gleichgesetzt. Dies zeigen Forschungen zur sog. „transformationalen Führung“ von Bass51 und zu exzellenter Leadership,52 Messkonzepten zu Fremdvertrauen53 sowie Analysen zu aktuellen Demotivatoren im mittleren Management.54 Nach unseren Umfragen im mittleren Management verkommt dann der Grundsatz „Walk your Talk“ in der Praxis oftt zur Sonntagspredigt – wohl ein Grund für die vielen expliziten Leitsätze dazu. „Halte Dein Wort“ zählt zu den wichtigsten Maximen für menschliches Zusammenleben und die Reduktion von Komplexität.55 Dass man Schwächen anderer ausnutzt, wurde mit 75,6 % als einer der stärksten Faktoren genannt, die Vertrauen untergraben.56 Im Gegensatz zur umfangreichen Vertrauensforschung belastet dieses Verhalten die hierarchisch weit unterlegenen Märchenhelden jedoch nicht erkennbar. Häufig werden sie zu einer Prüfungsaufgabe mit grossem Risiko und Gewinn eingeladen; aber nach erfolgreichem Abschluss wird eine neue zweite und dann sogar noch eine dritte Aufgabe gestellt. Und die Antwort lautet dann z. B. beim tapferen Schneiderlein (KHM 21) selbstvertrauend und lakonischgelassen: „Das ist uns ein Kinderspiel“.57 Da würden Mitarbeiter wie Manager heute wesentlich empfindlicher reagieren. 7.3.2.7
Sei mental intelligent
„Entscheidungen oder Beschlüsse sind intelligent auszuführen.“ BMW, Deutschland „Damit wir auch dann noch höchsten Ansprüchen gerecht werden, müssen unsere Mitarbeiter fortwährend neue und bessere Wege zur Erfüllung ihrer Aufgaben erarbeiten.“ HP – Deutschland „Kreativität und Ideenfindung sind zu fördern.“ Sattler, Österreich „Die Führungskraft schaut hinter die Kulissen auff den Grund der Dinge …“ amd, Deutschland „… hat gutes Urteilsvermögen … entscheidet aufgrund von Tatsachen und Vernunft.“ Novartis, Schweiz
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In den Führungsgrundsätzen geht es primär um mental kreative wie rationale Problemlösungsqualifikation und -motivation, also eine unserer drei unternehmerischen Schlüsselkompetenzen (neben Sozial- und Umsetzungskompetenz).58 In Märchen stehen mutige Problemlösungen mit hohem Risiko im Vordergrund. In der Wirt-
Vergleich von Führungsleitsätzen
7.3
schaftspraxis wird dies durch eine sog. „Fehlerkultur“ (vgl. dazu die folgenden Grundsätze) stark reduziert und in eine „Chancenkultur“ umgemünzt. 7.3.2.8
Lerne aus Fehlern
„Natürlich können nicht alle Entscheidungen immer richtig sein. Sollte mal eine falsche dabei sein, analysieren Sie mit dem jeweiligen Mitarbeiter die Gründe. Das eröffnet die Chance, für die Zukunft zu lernen.“ Douglas, Deutschland „Reagieren Führungskräfte intolerant und kritisch auff Fehler, brechen sie dabei die Initiative und den Ideenreichtum der Mitarbeiter.“ 3 M, Schweiz „Wir gehen offen und fair miteinander um und werten Fehler nicht als Vertrauensbruch“ … „Bewältigte Konflikte führen bei uns zum Lernen, und wir sehen sie als Chance für Neues.“ Ravensburger, Deutschland „Trotz sorgfältiger Entscheidungsvorbereitung werden von jedem verantwortungsbewusst handelnden Menschen Fehler gemacht … Indem wir … daraus lernen und bei Fehlern und Konflikten die Lösungen in den Vordergrund stellen, verbessern wir unser Entscheidungsverhalten.“ Dräger, Deutschland „Wir sorgen dafür, dass aus Fehlern gelernt wird.“ BASF, Deutschland „Führung heisst, Fehler zuzulassen, bewusst zu machen und aus ihnen zu lernen.“ Parion Versicherung, Köln „Jeder darff Fehler machen – nur nicht zu viele …“ BMW, Deutschland „Wir gewähren Spielraum für neue Ideen und nehmen auch Fehlschläge in Kauf.“ Ciba, Schweiz „Ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter und fordern Sie von sich selbst, dass ein aufgetretener Fehler künftig aktiv vermieden wird.“ Veba Oel, Deutschland „Aus Schwierigkeiten und Fehlern sollen Mitarbeiter und Vorgesetzte lernen.“ Plansee, Österreich „Wir bilden und entwickeln uns weiter.“ SV Versicherungen, Deutschland „Die Führungskraft hinterfragt regelmässig den eigenen Bereich auff Veränderungsund Verbesserungsmöglichkeiten.“ amd, Deutschland
Auch dieser Verhaltensleitsatz hat in Unternehmen sehr an Bedeutung gewonnen und ist deshalb für die mögliche Frühsozialisation – z. B. auch über Märchen – besonders relevant. In Unternehmenskonzepten zur sog. neuen „Fehlerkultur“ wurden Mängel als pädagogischer Anreiz für Lernen propagiert. Sie (z. B. BMW) wollen über den „Fehler des Monats“ die Mitarbeiter anhalten, weitere interne Benchmarks für Verbesserungen zu suchen und zu sehen. Hier zeigt sich auch Vertrauen in das Konzept der „Kontinuierlichen Verbesserung“ sowie in die Lernfähigkeit und -motivation der Belegschaft. Ebenso soll Führung mit Potential- und
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
Entwicklungsbeurteilungen Schwächen gezielt ermitteln, kommunizieren sowie mit individueller Förderung verknüpfen. Und der „Kritische Rationalismus“ postuliert schon lange Fehler bzw. die Falsifikation von Thesen als die Grundlage von Fortschritt und Weiterentwicklung.59 Das lässt sich auch auff Personal- und Organisationsentwicklung anwenden, deren Hauptproblem meist Verlernen von alten Mustern statt Lernen ist.
7.4
Lessons learned
Eigene Umfragen in über 300 Unternehmen zeigten, dass etwa 60– 70 %60 der Befragten explizite schriftliche Führungsgrundsätze positiver als „ungeschriebene Regeln“ einschätzen. Besonders betont wurden Information und Kommunikation sowie „verfassungsmässige“ Verhaltenssicherung. Nützlichkeit von Leitsätzen sowie „Selbstverpflichtung“ wurden noch höher rangiert. Eine vergleichbare Wirkungsanalyse von expliziten Leitsätzen in Märchen als Beitrag zur langfristigen Frühförderung ausgewählter Erziehungsziele aus Sicht von Erziehern und „Zöglingen“ fehlt unseres Wissens. Dies dürfte auch schwerer zu ermitteln sein, wäre aber eine vertiefte Untersuchung durch die Erziehungswissenschaft wert. Die Brüder Grimm sammelten Volksmärchen und deutsche Sagen. Sie bearbeiteten diese sprachlich wie inhaltlich kräftig. Es war die Zeit des Übergangs von der Spätromantik zum Biedermeier, und die Grimms waren religiös. Sie verstanden ihre Märchen ausdrücklich als Erziehungsmittel. Dies erfolgte implizit durch den Handlungsverlauff der Geschichten, teils eben auch explizit über Merk- und Lehrsätze. Nur diese stehen in diesem Beitrag zu Diskussion. Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm vermittelten die damaligen – aber meist noch heute gültigen – gesellschaftlichen Werte einer geforderten Soll- und wohl auch verbreitet gelebten IstKultur. Die in der zweiten Gesamtausgabe von 1819 publizierten 201 Märchen und 10 Legenden wurden auff explizite Verhaltensregeln und -folgen analysiert, 70 Leitsätze aus 63 Märchen wurden zitiert. Dar-
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Lessons learned
7.4
aus wurden acht Kernleitsätze interpretiert (vgl. Abb. 52). Anschließend suchten wir in 43 Führungs- und Kooperationsgrundsätzen der Wirtschaft nach den 8 Kernleitsätzen der Märchen, wurden bei sechs davon fündig und beschränkten uns hier ebenso auff 70 explizite Formulierungen.
Zur Verteilung von acht Kernleitsätzen in Märchen und Management
Abbildungg 52
Verhaltensleitsätze in Märchen und Management Assessmentt und Gratifikationen (13/12) 10 0 8 Lerne aus Fehlern (5/12) Sanktionen (12/3) 6 4 2 Walk k yourr talk k (6/19) 0 Achte die Hierarchie (10/0)
Bescheidenheitt (7/0)
mentale Intelligenz z (7/5)
emotionale Intelligenz z (10/19)
70 0 Märchenleitsätze 70 0 Unternehmensgrundsätze
Nach dem quantitativen Vergleich von je 70 Märchen- und Unternehmensleitsätzen sind in Märchen Sanktionen wesentlich häufiger, konkreter und strenger gefordert. Und die dort häufig geforderte hierarchiebezogene soziale Klugheit und sowie Bescheidenheit fanden keinen Eingang in Führungsgrundsätze; dies lässt sich mit dem Wandel von Werten und Erziehungszielen erklären. Dieser Wandel führt aber gerade wieder zu „klassischen Werten“ zurück. Nun zu den gemeinsamen Kernleitsätzen. Sechs der acht in Märchen ermittelten (vgl. Abb. 53) werden noch heute von der Managementpraxis gefordert, in verstärktem Masse sogar „Walk your Talk“ und „Lerne aus Fehlern“. Das belegen auch Mitarbeiterbefragungen. Insoweit könnten hier Leitsätze der Märchen die Frühsozialisierung unterstützen, die nach der Entwicklungspsychologie und didaktik sowie der Neurobiologie und -psychologie weiter an Bedeutung gewonnen hat! Die sechs Kernleitsätze könnten in Unternehmen sogar gezielt für Neuformulierungen oder die Überarbei-
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
tung von Unternehmensleitsätzen sowie in der Verhaltensbeurteilung, der Weiterbildung und in Mitarbeitergesprächen verwendet werden. Das Ergebnis des quantitativen Vergleichs von je 70 Märchen- und Unternehmensleitsätzen veranschaulicht Abb. 53.
Abbildungg 53
Die gemeinsamen sechs Kernleitsätze in Märchen und Management Rechne mit Prüfungen und damit verbundenen Gratifikationen (13/12) Rechne mit Sanktionen (12/3) Verhalte Dich in Führungs- und Kooperationsbeziehungen emotional intelligent (10/19), Halte Dein Wort – Walk your Talk (6/19) Verhalte Dich mental intelligent, insbesondere beim kreativen Problemlösen (7/5) Lerne aus Fehlern und entwickle Dich weiter (5/12) Legende: Die erste Zahl in Klammern betrifft die Nennungen in Märchen, die zweite die Nennungen in den Unternehmensleitsätzen.
Betrachtet man nun nur die sechs gemeinsamen Kernleitsätze, so konzentrieren sich diese auff prosoziales, sozialethisches und mental kluges wie lernbereites Verhalten mit Gratifikationen und Sanktionen. Diese gründen in einem lange und vielen Kulturen gültigen Ethikkodex. Nicht zu klären war, warum andere wichtige ethische Regeln in den expliziten Leitsätzen von Märchen und Unternehmen meist fehlen – z. B. die „goldene Regel“ („Was ihr wollt, dass die Menschen euch antun sollen, das tut ihnen gleichermassen“ bzw. spieltheoretisch formuliert „Tit for tat – aber mit positivem Kooperationsangebot“).61
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In den Unternehmensleitsätzen stehen auch Sozialkompetenzen sowie sozialethisches Verhalten im Mittelpunkt. Sie richten sich aber oft nur an Führungskräfte und zeigen insoweit eine patriarchalische
Lessons learned
7.4
Führungsphilosophie, die von vergleichbaren Anforderungen an die Geführten absieht. Dies würde in Märchen Verhaltensgrundsätzen für Höhergestellte und Machtvollere (z. B. Eltern, Könige, Zauberer) entsprechen. Solche finden sich aber kaum. In Märchen wird weiterhin das Verhalten z. B. gegenüber Armen und Schwachen als Indikator oder als gezielter Sozialtest der Märchenhelden beschrieben. Normgerechtes Verhalten ist dann eine wesentliche Vorbedingung für die spätere Unterstützung in schwierigen Prüfungssituationen. In Märchen halten die mächtigen Principale die vereinbarten Bedingungen oft nicht ein; die „Agents“ müssen dann noch weitere Leistungen erbringen. Dieses fehlende „Walk your Talk“ belastet sie aber nicht erkennbar, was in Märchen nie kritisch reflektiert wird. Zumindest widerspricht es Ergebnissen der aktuellen Vertrauensforschung eklatant. Zwei Erklärungen bieten sich an: das unbeeindruckbare Selbstvertrauen der Märchenhelden oder deren generelle Antizipation des Verhaltens von Mächtigen. Solches Fehlverhalten ist in unserer Wirtschafts- und Arbeitsverfassung nur noch in Ausnahmefällen denkbar – u. U. bei Nachfolgeversprechen in Eigentümerbetrieben. Extrem sind viele Sanktionen in Märchen. Schon dem eigensinnigen Kind gegenüber verhängt Gott (!) die Todesstrafe und gewährt dann noch keine Seelenruhe.62 Warum wurden wohl solche Sanktionen nach Art der „schwarzen Pädagogik“ von den Brüdern Grimm selbst im 19. Jahrhundert nicht reflektiert, zumal sie ihre Märchen in der 2. Auflage von 1819 „entschärfen“ (z. B. im erotischen Bereich) und auff „die reine Kinderseele ausrichten“ wollten? Nach Wilhelm Grimm63 ist der „Kampff des Guten mit dem Bösen“ märchentypisch, aber auch, dass „das Gute belohnt, das Böse bestraft“ wird. Aber die „Märchenzucht“ der Brüder Grimm betrifft Kinder und übersteigt selbst Sanktionen der Ordens- und Kirchenzucht. In den Führungs- und Kooperationsgrundsätzen der Wirtschaft finden sich keine Androhungen von konkreten Sanktionen, die natürlich die Verschiebung, Reduzierung oder Verweigerung von Gratifikationen einschliessen würden! Nur drei fordern wenigstens eine offene und klare Kommunikation bei Fehlverhalten. Und dazu wird der Imperativ durch den auch missverständlichen Indikativ ersetzt! Bei den teils weltweit eingeführten Regeln zur verantwortlichen
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
Unternehmensführung („Governance“) werden dagegen Sanktionen zunehmend explizit eingebaut.64 Grundsätzlich unterscheiden sich Märchen und Management in den Sanktionen am stärksten. Unternehmensleitsätze65 sind meist mit sehr idealisiertem Anspruch formuliert und dazu noch indikativ („Wir sind ein Team“) statt als Leitziel. Sie sind in Unternehmensvisionen, -leitsätzen oder -verfassungen eingebettet, um auch das Verhalten gegenüber Kunden, Eigentümern, Umwelt zu regeln. Ob sie aber zur Motivation, Sozialisation oder nur noch Legitimation (z. B. für externe Ratings bei Qualitäts- oder Excellencepreisen) formuliert wurden bzw. ihre Inhalte Ideale vermitteln, Realitätt vorgeben oder die für die Unternehmenskultur typischen Defizite zeigen (wollen), ist aus den Dokumenten nicht evaluierbar. Führungs- und Kooperationsgrundsätze fokussieren auff Führungsinstrumente, wie Mitarbeitergespräche, Anerkennung und (Selbst-)Kritik, Gratifikationen oder aufbau- und ablauforganisatorische Unterstützung, sowie auff Führungs- und Kooperationsbeziehungen. Über Mitarbeiterbefragungen und Mitarbeitergespräche kann in Unternehmen die gelebte bzw. erlebte IstKultur sowie die Differenz zur formulierten Soll-Kultur ermittelt und diskutiert werden. Die Differenzen sind dann Grundlage für konkrete Veränderungsprogramme. Märchen bieten keinen Katalog von Verhaltensleitsätzen an, die Führungsgrundsätze dagegen immer. Hier wird der Unterschied zwischen der narrativen Pädagogik von Märchen und Religionen und der abstrakten Maximenvermittlung der Unternehmen deutlich. Letztere könnten versuchen, mit Gleichnissen, Metaphern, Allegorien, über die Einbindung konkreter Situationen, Fälle und Vorbilder sowie über wiederholendes Reflektieren mehr zu bewirken. Märchen eignen sich für eine langfristige Sozialisierung von Werten und damit verbundenen Tugenden. Sie wirken besonders über Selbstreflexion oder Gespräche mit Erzählern oder Gleichaltrigen, wenn sie damit konkrete Probleme und Erfahrungen verbinden. Schon Kinder reagieren unterschiedlich, weil selektiv auff dieselben Märchen. Die einen begeistert der Mut, beeindruckt die Hilfsbereitschaft oder ein glückliches Ende, die anderen sehen ängstlich die Gefahren, die schrecklichen Sanktionen und eine weitere Gruppe versteht Märchen wie einen gruseligen Besuch in der Geisterbahn,
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Lessons learned
7.4
der nicht als reale Bedrohung wahrgenommen wird. Und schon Kinder suchen meist auch die zu ihnen passenden Lieblingsmärchen aus. Sie wählen nach ihren persönlichkeitsspezifischen sowie den aktuellen Bedürfnissen und Problemen und können so auch unerwünschte Belastungen vermeiden. Märchenhelden und -heldinnen können nicht immer direkte Hilfen bieten, aber gute Lehren. Aschenputtel (KHM 21) ist ein Benchmark für erfolgreiches Erdulden wie Bestehen von Prüfungen über Networking und Selbstvertrauen. Hase und Igel (KHM 187) oder Hänsel und Gretel (KHM 15) stehen für erfolgreiche Teamergänzung, die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) oder Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) für die Bildung einer „Wir-GmbH“ (statt einer Ich-AG) durch „outgesourcte“ ältere Mitarbeiter, der Froschkönig (KHM 1) für Walk your Talk, das tapfere Schneiderlein (KHM 20) für kreative, aber narzisstisch-egozentrische Grössenideen, der jüngste Königssohn in Die Bienenkönigin (KHM 67) oder die Jüngste im Waldhaus (KHM 169) für die Bedeutung von emotionaler Intelligenz und hilfreichem Verhalten, der gestiefelte Kater (KHM 33, 1812) für mitunternehmerische Qualifikation und Motivation. Die Märchenleitsätze konzentrieren sich auff Aspekte der sog. emotionalen Intelligenz, besonders auff kooperatives Sozialverhalten, meist gegenüber Höhergestellten, Gleichaltrigen und hilfsbedürftigen Fremden und Tieren. Dann folgt kluges und lernfähiges Problemlösen, Letzteres bei riskanten Aufträgen bzw. „Gewinn-VerlustSpielen“ mit hohem Einsatz (z. B. Leib und Leben gegen ein Königreich). Märchen können so in Unternehmen als generalisierbare Fälle für typische Konflikte dienen. Beispiele sind „Walk your Talk“, Mobbing, Karriere oder die Bedeutung und Akzeptanz von Prüfungen oder Sanktionen. Und die Führungsfortbildung könnte noch mehr mit Metaphern aus Märchen oder mit dem Nachspielen simulierter Situationen daraus (z. B. Rollenspiele oder „Unternehmenstheater“)66 arbeiten. Meist implizit, aber häufig, zeigen Märchenhelden und -heldinnen neben Problemlösungs- und Sozialkompetenzen ein oft draufgängerisch unreflektiertes Umsetzungshandeln. Das wurde schon im Kapitel zum Kompetenzmanagement diskutiert.67 Damit leben sie alle drei zentralen mitunternehmerischen Schlüsselqualifikationen68 –
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also Gestaltungs-, Sozial- und Umsetzungskompetenz. Diese prägen ebenso die modernen Führungs- und Kooperationskonzepte. Grosse Bedeutung hat dabei kooperatives sowie eigenständiges Sozialverhalten. Letzteres entspricht z. B. auch Erziehungszielen in Westdeutschland ab etwa 1968 (vgl. Abb. 51). Eine repräsentative Umfrage bei der deutschen Bevölkerung im Jahre 2006 durch das beauftragte Institutt für Demoskopie in Allensbach zur Werteerziehung im Elternhaus von Eltern bis 44 Jahren (Bundesministerium für Familie et al. 2006) erbrachte aber folgende Rangfolge von auch in den Märchen relevanten Leitsätzen: Höflichkeit und gutes Benehmen (88 %), Hilfsbereitschaft (79 %), sich durchsetzen und nicht unterkriegen lassen (71 %), sparsam mit Geld umgehen (71 %), Wissensdurst zeigen, seinen Horizont ständig erweitern (68 %), sich in eine Ordnung einfügen, sich anpassen (46 %), Interesse, Offenheit für Religion und Glaubensfragen (39 %), bescheiden und zurückhaltend sein (32 %). 16 Eltern mit der Meinung „Religiöse Erziehung ist wichtig“ hatten hier maximal um 12 %Punkte höhere Zustimmungswerte. Gegenüber der Befragung 1991 wurden fast alle Werte höher rangiert (v. a. aber Höflichkeit). Die Eltern wollten vier Schwerpunkte vorrangig beeinflussen: wie sich benehmen (96 %), wie es mit der Wahrheit halten (95 %), wie mit anderen umgehen (91 %) und wie mit Schwächeren umgehen (90 %); diese konzentrierten sich auff Sozialverhalten. Prüfungen, Gratifikationen, Sanktionen und Problemlösen wurden nicht thematisiert. Und zu den häufigsten Erziehungsfehlern zählte die Gesamtbevölkerung vier, in Märchen eher seltene Elemente eines „Laissez-faire-Stils“: zu nachgiebig sein (68 %), zu viele Freiräume lassen (64 %), zu wenig Manieren beibringen (63 %), nicht klar machen, was richtig und was falsch ist (62 %). Gerade Letzteres ist ein zentrales Ziel von Leitsätzen in Märchen und Unternehmen. Ob und wieweit Verhaltensleitsätze wahrgenommen, reflektiert, beherzigt werden, wird schwer mit allgemeingültigen Aussagen zu erforschen sein. Dazu Görres: „Welche Hilfsmittel retten den Moral Sense des kleinen Kindes über die Anfälligkeit der Schulzeit und Pubertät ins Erwachsenenalter? ... Vernunfteinsicht und intuitive Gefühlseinsicht, Lernen am richtigen Vorbild oder Modell, Initiation durch glaubwürdige Autorität sind wohl die wichtigsten Faktoren.“69 Auch unsere beschreibende, vergleichende und subjektiv
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Literaturverzeichnis
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interpretierende Analyse verstehen wir noch nicht als eine repräsentative oder valide Studie zu dieser interessanten Thematik. Obgleich sich die analysierten Märcheninhalte für unseren Kulturkreis als mögliche und meist zweckdienliche „Frühsozialisatoren“ für aktuelles Führungs- und Kooperationsverhalten einschätzen liessen, scheinen andere Vermittlungsformen einflussreicher zu werden. Müssten also neue „Medien müde Märchen munter machen?“.70 Antworten dazu diskutierte ein Symposium zu „Märchen – Kinder – Medien“. Die publizierten 17 Beiträge und Diskussionsprotokolle71 konzentrierten sich auff eine 1999 lancierte Serie von 13 Trickfilmen zu bekannten Märchen der Grimms unter dem Label: „Simsala-Grimm“, die damals schon über das Fernsehen je rund eine Million Zuschauer anzog. Didaktiker und Erzählforscher führten dazu grosszahlige quantitative wie explorative Wirkungsanalysen mit Schülern durch, z. B. im Vergleich zum mündlichen Vortrag der Grimm‘schen Texte. Resümees von vier Studien lauteten: „Es wird erkennbar, wie sehr die Märchen auff diesem Weg verändert und verjuxt werden“,72 „Die Kinder forderten immer wieder den Rückbezug auff die Grimm‘schen Fassungen“,73 „Kinder lassen sich auch heute für Literatur begeistern, selbst wenn es zuweilen gründlicherer Vorüberlegungen bedarff als in früheren Zeiten“,74 „Die Untersuchung zeigt, Simsala-Grimm ist eine Produktion, die Kinder zwar unterhalten, aber nicht nachhaltig zu beeindrucken vermag“.75 Oder dürfen wir der Wirkung gut ausgewählter und vermittelter Märchen vertrauen – nun auch für eine vorweggenommene Personalentwicklung für die Berufspraxis? Diese Fragen weiter zu analysieren, zu reflektieren und zu prüfen dürfte kaum schaden.
7.5
Literaturverzeichnis
Axelrodt, R. (1985): Die Evolution der Kooperation, 3. Aufl., München. Balthasar, v., H. U. (1980): Die grossen Ordensregeln, 4. Aufl. Einsiedeln Bärsch, H. (1983): 140 Jahre Verhaltensleitsätze bei Krupp, in: Wunderer, R. (Hrsg.): Führungsgrundsätze in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, Stuttgart. Bass, B./Riggio, R. (2005): Transformational Leadership. Bausinger, H. (1999): Gut und Böse, in: Brednich, W. et al. (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6., Berlin 1999, Sp. 315-323.
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Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
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7.6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24 25 26 27 28 29
246
Anmerkungen
vgl. Bettelheim 2000/1977, S. 11 f. vgl. Wille 1992, Wunderer 1993 sowie 2006, S. 383 ff. vgl. Balthasar 1980, Gfeller 1996, Kirschner et al. 1979 vgl. z. B. Machiavelli 1991, Riklin 1996 vgl. Knigge 1788/1991 vgl. Höhn 1986, Guserl 1973, Steinle 1978 vgl. Wunderer 1983, S. VI vgl. z. B. Wunderer/Klimecki 1990 vgl. z. B. Jäger 2001, S. 278 ff., Langer 1996 vgl. g Bleicher 1989, Braunschweiler 1996, Gabele et al. 1982, Glasl 1983, Gebert 1976, Hilb 2006, Knebel/Schneider, Mahari 1985, Steinle 1975, Schilling g 2005 (ihm verdanken wir sieben Firmenleitsätze), Töpp fer/Zander 1982, Wunderer 1983, 1995, Wunderer/Heibült 1986, Wunderer/Klimecki 1995 vgl. Wunderer 2007, S. 73 vgl. Lord, R./Emrich, C. 2001 vgl. Ulrich/Thiemann 1992, S. 176, Wunderer/Klimecki 1990 vgl. Wunderer 1983, S. 63 vgl. Wunderer/Klimecki 1990 vgl. Roth 2003, Singer 2003, Peschl 2005 vgl. Berne, E. 1967 vgl. Drewermann 1993, Kast 1989, Wunderer 2004 zit. nach Röllecke 1993 S. 9, vgl. ders, 1997, S. 827 f. sowie Brüder Grimm 1999, Schede 2004, Ritz 1981, S. 32 Stehen die Leitsätze nicht in den Anfangsg oder Schluss-(ab-)sätzen der Märchen, dann wird das nach den Seitenangaben mit arabischer Nummerierung vermerkt. vgl. Uther 2002 vgl. Rutschky, K. 1997 Perrault (1697, deutsche Fassung o.J.): Märchen, Wien, S. 97 sowie ders. 2001 vgl. Hoffmann, H. 2005/1847 vgl. Busch, W. 2005/1875 vgl. Görres/Rahner, S. 150 ff. vgl. Brüder Grimm a.a.O., S. 31 zit. nach Schede 2004, S. 10 aus der Selbstbiographie von Jacob Grimm vgl. Rölleke a.a.O., S. 865
Anmerkungen
30 31
32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
63
vgl. Delius/Rott/Bavinck (1959) sowie Görres/Rahner 1982, S. 145 ff. vgl. Grünewald, H (1899): Über den Kinderfehler des Eigensinns und Pestalozzi, J. 1801: Wer noch lernt, darff nicht urteilen beide zitiert in: Ruschky, K. a.a.O., S. 424 sowie 107. Eine der Grimm‘schen Legenden (KHM 4) aus etwa der gleichen Zeit lautet: „Armut und Demut führen in den Himmel.“ vgl. dazu die hochdifferenzierte Diskussion von Lüthi 1999, Sp. 937-946 vgl. Wunderer 2007, S. 148 vgl. Wunderer 2007, S. 253-268 Dieses „multimodale Leitsatzkonzept“ p als „Pflichtenzettel“ wird von Tieren „gepredigt“. Das hat in Fabeln eine lange Tradition. vgl. Perrault 1997 sowie Perrault 2001 vgl. Ruschky 1977, Scheffer/Kuhl 2006 vgl. ders S. 112 ff.- hier bes. die sog. VIE-Theorie – sowie Scheffer/Kuhl 2006 vgl. Gächter, S. 2001, Gächter, S./Fehr, E. 2002 Hilb 2006, Hermann 2003, Küpper 2006 Selbst im Sachregister des Handwörterbuchs der Betriebswirtschaft mit über 15.000 Stichworten findet man zu Gratifikation keine und zu Sanktion zwei auch hier nicht relevante Nennungen (vgl. Wittmann 1993). vgl. g Neuberger 2006, insbes. S. 547 ff., sowie Küpper 2006, insbes. S. 236 ff. vgl. Wunderer 2006, S. 187 vgl. Rölleke 1999, Schieder 1997, Weinrebe 1997 vgl. Wunderer 2006, S. 258 ff. Görres/Rahner 1982, S. 154 vgl. Wunderer, S./v. Arx, S. 2003, Oertig, M. 2006 vgl. Bretz,E./Hertel, G./Moser, K. 1998 vgl. ders. S. 177 f., 184 f. vgl. g die hier weltweit mit der Schweiz ähnlichen Anforderungsprofile für Manager in Weibler/Wunderer 2007 vgl. ders. S. 244 sowie Bass/Riggio 2005 vgl. g die sog. „Globe-Study“ - Wunderer/Weibler 2002, Weibler/ Wunderer 2006 vgl. Wunderer 2007, S. 45 ff. sowie Wunderer 2004 vgl. ders. S. 148 vgl. Luhmann 1989 vgl. Bierhofff 1995, Sp. 2148 Das tapfere Schneiderlein KHM 20, S. 142 ff. vgl. Wunderer 2007, insbes. S. 49ff vgl. Hayeck 1980 vgl. g Wunderer 1983, insbes. S. 63 f., 301 f., Wunderer/Klimecki 1995, insbes. S. 180 f. vgl. Matthäus 7, 12 sowie Axelrodt 1984 Eine Regel g des hl. Benedikt über die „Demut“ enthält die Sanktionsandrohung: g „Ebenso sagt die Schrift: Der Eigenwille führt zur Strafe“ - vgl. Balthasar 1980, S. 204 zitiert nach Bausinger 1999, Sp. 318
7.6
247
7
Verhaltensleitsätze in Märchen und d Management
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
248
vgl. insbes. die US-amerikanische Version bei Hermann 2003 sowie Hilb 2006, S. 162 ff., 183, 214, Küpper 2006, S. 157 ff. vgl. Höhn 1986, Jäger g 2003, Wunderer 1983, 2006, Wunderer/Heibült 1986, Wunderer/Klimecki 1995 vgl. Schreyögg, G./Dabitz, R. 1999, Berg et al. 2002, Bruch/Goshal 2004 vgl. Kapitel 3 sowie Wunderer 2006 vgl. Wunderer 2007, S. 57-64 vgl. Görres/Rahner, S. 167 vgl. den Titel von Helge Weinrebe 1997 Franz/Kahn 2000 Weinrebe 2000, S. 157 Fischer 2000, S. 109 Richter 2000, S. 142 Weisse 2000, S. 150
Was Du versprochen hast, das musst Du auch halten Quelle: Jacob und Wilhelm Grimm – Märchen, illustriert von Adolff Born, Brio Verlag, Prag/München 2004, S. 33.
Märchenbrüder auff Zauberreise Quelle: Jacob und Wilhelm Grimm – Märchen, illustriert von Adolff Born, Brio Verlag, Prag/München 2004, S. 11.
Inhaltsverzeichnis Kapitel 8
Inhaltsverzeichnis Kapitel 8 Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) ............................................255 Die Bremer Stadtmusikanten (KMH 27).......................................259 Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71).......................261 Der treue Johannes (KHM 6)..........................................................264 Hänsel und Grethel (KHM 15).......................................................268 Der Hase und der Igel (KHM 187) ................................................273 Die sieben Schwaben (KHM 119) ..................................................275 Rothkäppchen (KHM 26)................................................................277 König Drosselbart (KHM 52) .........................................................279 Frau Holle (KHM 24).......................................................................281 Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1) ................283 Die drei Brüder (KHM 124)............................................................285 Das Räthsel (KHM 22).....................................................................286 Die kluge Bauerntochter (KHM 94) ..............................................288 Der Meisterdieb (KHM 192)...........................................................290 Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129) ....................................294 Das Waldhaus (KHM 169) ..............................................................297 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29) .................300 Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19) ....................................304 Die Lebenszeit (KHM 176)..............................................................308
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
Die Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm gelten als die weltweit am meisten verbreitete, übersetzte und bekannte Märchensammlung. Sie umfasst 201 Märchen und 10 Legenden. Ursprünglich erzählten sich Volksmärchen vorwiegend Erwachsene. Die Brüder Grimm bearbeiteten ihre explizit als „Erziehungsbuch“ Auch konzentrieren sich darauff noch heute die deutschsprachige Erzählforschung und psychoanalytische Interpretationen. Die Sammlung erschien in vielen Anthologien sowie in teils herrlich illustrierten Einzelausgaben. Wir haben wir uns auff die KHM konzentriert. Denn deren Titel kennen im deutschsprachigen Raum die meisten, auch wenn ihr Inhalt weit weniger geläufig ist. Deshalb sind hier zwanzig der in diesem Buch meist zitierten Erzählungen abgedruckt. Sie wurden von Prof. Hans-Jörg Uther aus seiner digitalen Sammlung „Europäische Märchen und Sagen“ überlassen. Diese Originalfassungen „aus letzter Hand“ belegen auch, wie wenig sich die deutsche Sprache seit 150 Jahren trotz vieler Reformen veränderte. Und verglichen mit anderen Märchensammlungen (z. B. von L. Bechstein) werden auch der vorbildliche Erzählstil sowie die meisterhafte Überarbeitung der Grimms deutlich. Die ausgewählten 20 von über 90 zitierten Märchen wurden nach der Zitierhäufigkeit rangiert. Sie sind besonders für Führungskräfte – aber auch für andere (Lesende) – von Interesse. So kann man nicht nur die einzelnen Kapitel selektiv und dennoch geschlossen lesen sondern auch die hier wichtigsten Erzählungen weit genauer und integriert einbeziehen.
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Das tapfere Schneiderlein (KHM 20)
Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auff seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rieff ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, er steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rieff ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauff und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauff an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun, das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rieff das Schneiderlein, ‘und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter und machte vor Freude immer größere Stiche. Indes stieg der Geruch von dem süßen Mus hinauff an die Wand, wo die Fliegen in großer Menge saßen, so daß sie heran gelockt wurden und sich scharenweiß darauf nieder ließen. ‘Ei, wer hat euch eingeladen?’ sprach das Schneiderlein, und jagte die ungebetenen Gäste fort. Die Fliegen aber, die kein deutsch verstanden, ließen sich nicht abweisen, sondern kamen in immer größerer Gesellschaft wieder. Da lieff dem Schneiderlein endlich, wie man sagt, die Laus über die Leber, es langte aus seiner Hölle nach einem Tuchlappen, und ‘wart, ich will es euch geben!’ schlug es unbarmherzig drauf. Als es abzog und zählte, so lagen nicht weniger als sieben vor ihm todt und streckten die Beine. ‘Bist du so ein Kerl?’ sprach er, und mußte selbst seine Tapferkeit bewundern, ‘das soll die ganze Stadt erfahren.’ Und in der Hast schnitt sich das Schneiderlein einen Gürtel, nähte ihn und stickte mit großen Buchstaben darauf: ‘siebene auff einen Streich!’ ‘Ei was Stadt!’ sprach er weiter, ‘die ganze Welt solls erfahren!’ und sein Herz wackelte ihm vor Freude wie ein Lämmerschwänzchen. Der Schneider band sich den Gürtel um den Leib, und wollte in die Welt hinaus, weil er meinte die Werkstätte sei zu klein für seine Tapferkeit. Eh er abzog, suchte er im Haus herum ob nichts da wäre, was er mitnehmen könnte, er fand aber nichts als einen alten Käs, den steckte er ein. Vor dem Thore bemerkte er einen Vogel, der sich im Gesträuch gefangen hatte, der mußte zu dem Käse in die Tasche. Nun nahm er den Weg tapfer zwischen die Beine, und weil er leicht und behend war, fühlte er keine Müdigkeit. Der Weg führte ihn auff einen Berg, und als er den höchsten Gipfel erreicht hatte, so saß da ein gewaltiger Riese und schaute sich ganz gemächlich um. Das Schneiderlein gieng beherzt auff ihn zu, redete ihn an und sprach ‘guten Tag, Kamerad, gelt, du sitzest da, und besiehst dir die weitläuftige Welt? ich bin eben auf dem Wege dahin und will mich versuchen. Hast du Lust mit zu gehen?’ Der Riese sah den Schneider verächtlich an und sprach ‘du Lump! du miserabler Kerl!’ ‘Das wäre!’ antwortete das Schneiderlein, knöpfte den Rock auff und zeigte dem Riesen den Gürtel, ‘da kannst du lesen was ich für ein Mann bin.’ Der Riese las ‘siebene auff einen Streich,’ meinte das wären Menschen gewesen, die der Schneider erschlagen hätte, und kriegte ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl. Doch wollte er ihn erst prüfen,
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
nahm einen Stein in die Hand, und drückte ihn zusammen daß das Wasser heraus tropfte. ‘Das mach mir nach,’ sprach der Riese, ‘wenn du Stärke hast.’ ‘Ists weiter nichts?’ sagte das Schneiderlein, ‘das ist bei unser einem Spielwerk,’ grifff in die Tasche, holte den weichen Käs und drückte ihn daß der Saft heraus lief. ‘Gelt,’ sprach er, ‘das war ein wenig besser?’ Der Riese wußte nicht was er sagen sollte, und konnte es von dem Männlein nicht glauben. Da hob der Riese einen Stein auff und warff ihn so hoch, daß man ihn mit Augen kaum noch sehen konnte: ‘nun, du Erpelmännchen, das thu mir nach.’ ‘Gut geworfen,’ sagte der Schneider, ‘aber der Stein hat doch wieder zur Erde herabfallen müssen, ich will dir einen werfen, der soll gar nicht wieder kommen;’ grifff in die Tasche, nahm den Vogel und warff ihn in die Luft. Der Vogel, froh über seine Freiheit, stieg auf, flog fort und kam nicht wieder. ‘Wie gefällt dir das Stückchen, Kamerad?’ fragte der Schneider. ‘Werfen kannst du wohl,’ sagte der Riese, ‘aber nun wollen wir sehen ob du im Stande bist etwas ordentliches zu tragen.’ Er führte das Schneiderlein zu einem mächtigen Eichbaum, der da gefällt auff dem Boden lag, und sagte ‘wenn du stark genug bist, so hilff mir den Baum aus dem Walde heraus tragen.’ ‘Gerne,’ antwortete der kleine Mann, ‘nimm du nur den Stamm auf deine Schulter, ich will die Äste mit dem Gezweig aufheben und tragen, das ist doch das schwerste.’ Der Riese nahm den Stamm auff die Schulter, der Schneider aber setzte sich auff einen Ast, und der Riese, der sich nicht umsehen konnte, mußte den ganzen Baum und das Schneiderlein noch obendrein forttragen. Es war da hinten ganz lustig und guter Dinge, pfifff das Liedchen ‘es ritten drei Schneider zum Thore hinaus,’ als wäre das Baumtragen ein Kinderspiel. Der Riese, nachdem er ein Stück Wegs die schwere Last fortgeschleppt hatte, konnte nicht weiter und rieff ‘hör, ich muß den Baum fallen lassen.’ Der Schneider sprang behendiglich herab, faßte den Baum mit beiden Armen, als wenn er ihn getragen hätte, und sprach zum Riesen ‘du bist ein so großer Kerl und kannst den Baum nicht einmal tragen.’ Sie giengen zusammen weiter, und als sie an einem Kirschbaum vorbei kamen, faßte der Riese die Krone des Baums, wo die zeitigsten Früchte hiengen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Das Schneiderlein aber war viel zu schwach um den Baum zu halten, und als der Riese los ließ, fuhr der Baum in die Höhe, und der Schneider ward mit in die Luft geschnellt. Als er wieder ohne Schaden herabgefallen war, sprach der Riese ‘was ist das, hast du nicht Kraft die schwache Gerte zu halten?’ ‘An der Kraft fehlt es nicht,’ antwortete das Schneiderlein, ‘meinst du das wäre etwas für einen, der siebene mit einem Streich getroffen hat? ich bin über den Baum gesprungen, weil die Jäger da unten in das Gebüsch schießen. Spring nach, wenn dus vermagst.’ Der Riese machte den Versuch, konnte aber nicht über den Baum kommen, sondern blieb in den Ästen hängen, also daß das Schneiderlein auch hier die Oberhand behielt. Der Riese sprach ‘wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in unsere Höhle und übernachte bei uns.’ Das Schneiderlein war bereit und folgte ihm. Als sie in der Höhle anlangten, saßen da noch andere Riesen beim Feuer, und jeder hatte ein gebratenes Schaff in der Hand und aß davon. Das Schneiderlein sah sich um und dachte ‘es ist doch hier viel weitläuftiger als in meiner Werkstatt.’ Der Riese wies ihm ein Bett an und sagte er sollte sich hineinlegen und ausschlafen. Dem Schneiderlein war aber das Bett zu groß, er legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese meinte das Schneiderlein läge in tiefem Schlafe, so stand er auf, nahm eine große Eisenstange und schlug das Bett mit einem Schlag durch, und meinte er hätte dem Grashüpfer den Garaus gemacht. Mit dem frühsten Morgen giengen
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Das tapfere Schneiderlein (KHM 20)
die Riesen in den Wald und hatten das Schneiderlein ganz vergessen, da kam es auf einmal ganz lustig und verwegen daher geschritten. Die Riesen erschracken, fürchteten es schlüge sie alle todt und liefen in einer Hast fort. Das Schneiderlein zog weiter, immer seiner spitzen Nase nach. Nachdem es lange gewandert war, kam es in den Hoff eines königlichen Palastes, und da es Müdigkeit empfand, so legte es sich ins Gras und schlieff ein. Während es da lag, kamen die Leute, betrachteten es von allen Seiten und lasen auff dem Gürtel ‘siebene auff einen Streich.’ ‘Ach,’ sprachen sie, ‘was will der große Kriegsheld hier mitten im Frieden? Das muß ein mächtiger Herr sein.’ Sie giengen und meldeten es dem König, und meinten wenn Krieg ausbrechen sollte, wäre das ein wichtiger und nützlicher Mann, den man um keinen Preis fortlassen dürfte. Dem König gefiel der Rath und er schickte einen von seinen Hofleuten an das Schneiderlein ab, der sollte ihm, wenn es aufgewacht wäre, Kriegsdienste anbieten. Der Abgesandte blieb bei dem Schläfer stehen, wartete bis er seine Glieder streckte und die Augen aufschlug, und brachte dann seinen Antrag vor. ‘Eben deshalb bin ich hierher gekommen,’ antwortete er, ‘ich bin bereit in des Königs Dienste zu treten.’ Also ward er ehrenvoll empfangen und ihm eine besondere Wohnung angewiesen. Die Kriegsleute aber waren dem Schneiderlein aufgesessen und wünschten es wäre tausend Meilen weit weg. ‘Was soll daraus werden?’ sprachen sie untereinander, ‘wenn wir Zank mit ihm kriegen und er haut zu, so fallen auff jeden Streich siebene. Da kann unser einer nicht bestehen.’ Also faßten sie einen Entschluß, begaben sich allesammt zum König und baten um ihren Abschied. ‘Wir sind nicht gemacht,’ sprachen sie, ‘neben einem Mann auszuhalten, der siebene auff einen Streich schlägt.’ Der König war traurig daß er um des Einen willen alle seine treuen Diener verlieren sollte, wünschte daß seine Augen ihn nie gesehen hätten und wäre ihn gerne wieder los gewesen. Aber er getrauete sich nicht ihm den Abschied zu geben, weil er fürchtete er möchte ihn sammt seinem Volke todt schlagen und sich auff den königlichen Thron setzen. Er sann lange hin und her, endlich fand er einen Rath. Er schickte zu dem Schneiderlein und ließ ihm sagen, weil er ein so großer Kriegsheld wäre, so wollte er ihm ein Anerbieten machen. In einem Walde seines Landes hausten zwei Riesen, die mit Rauben Morden Sengen und Brennen großen Schaden stifteten: niemand dürfte sich ihnen nahen ohne sich in Lebensgefahr zu setzen. Wenn er diese beiden Riesen überwände und tödtete, so wollte er ihm seine einzige Tochter zur Gemahlin geben und das halbe Königreich zur Ehesteuer; auch sollten hundert Reiter mit ziehen und ihm Beistand leisten. ‘Das wäre so etwas für einen Mann, wie du bist,’ dachte das Schneiderlein, ‘eine schöne Königstochter und ein halbes Königreich wird einem nicht alle Tage angeboten.’ ‘O ja,’ gab er zur Antwort, ‘die Riesen will ich schon bändigen, und habe die hundert Reiter dabei nicht nöthig: wer siebene auff einen Streich trifft, braucht sich vor zweien nicht zu fürchten.’ Das Schneiderlein zog aus, und die hundert Reiter folgten ihm. Als er zu dem Rand des Waldes kam, sprach er zu seinen Begleitern ‘bleibt hier nur halten, ich will schon allein mit den Riesen fertig werden.’ Dann sprang er in den Wald hinein und schaute sich rechts und links um. Über ein Weilchen erblickte er beide Riesen: sie lagen unter einem Baume und schliefen und schnarchten dabei, daß sich die Äste auff und nieder bogen. Das Schneiderlein, nicht faul, las beide Taschen voll Steine und stieg damit auf den Baum. Als es in der Mitte war, rutschte es auff einem Ast bis es gerade über die Schläfer zu sitzen kam, und ließ dem einen Riesen einen Stein nach dem andern auf die Brust fallen. Der Riese spürte lange nichts, doch endlich wachte er auf, stieß
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
seinen Gesellen an und sprach ‘was schlägst du mich.’ ‘Du träumst,’ sagte der andere, ‘ich schlage dich nicht.’ Sie legten sich wieder zum Schlaf, da warff der Schneider auf den zweiten einen Stein herab. ‘Was soll das?’ rieff der andere, ‘warum wirfst du mich?’ ‘Ich werfe dich nicht,’ antwortete der erste und brummte. Sie zankten sich eine Weile herum, doch weil sie müde waren, ließen sies gut sein, und die Augen fielen ihnen wieder zu. Das Schneiderlein fieng sein Spiel von neuem an, suchte den dicksten Stein aus und warff ihn dem ersten Riesen mit aller Gewalt auff die Brust. ‘Das ist zu arg!’ schrie er, sprang wie ein Unsinniger auff und stieß seinen Gesellen wider den Baum daß dieser zit terte. Der andere zahlte mit gleicher Münze, und sie geriethen in solche Wuth, daß sie Bäume ausrissen, auff einander los schlugen, so lang bis sie endlich beide zugleich todt auff die Erde fielen. Nun sprang das Schneiderlein herab. ‘Ein Glück nur,’ sprach es, ‘daß sie den Baum, auff dem ich saß, nicht ausgerissen haben, sonst hätte ich wie ein Eichhörnchen auff einen andern springen müssen: doch unser einer ist flüchtig!’ Es zog sein Schwert und versetzte jedem ein paar tüchtige Hiebe in die Brust, dann gieng es hinaus zu den Reitern und sprach ‘die Arbeit ist gethan, ich habe beiden den Garaus gemacht: aber hart ist es hergegangen, sie haben in der Noth Bäume ausgerissen und sich gewehrt, doch das hilft alles nichts wenn einer kommt wie ich, der siebene auff einen Streich schlägt.’ ‘Seid ihr denn nicht verwundet?’ fragten die Reiter. ‘Das hat gute Wege,’ antwortete der Schneider, ‘kein Haar haben sie mir gekrümmt.’ Die Reiter wollten ihm keinen Glauben beimessen und ritten in den Wald hinein: da fanden sie die Riesen in ihrem Blute schwimmend, und rings herum lagen die ausgerissenen Bäume. Das Schneiderlein verlangte von dem König die versprochene Belohnung, den aber reute sein Versprechen und er sann aufs neue wie er sich den Helden vom Halse schaffen könnte. ‘Ehe du meine Tochter und das halbe Reich erhältst,’ sprach er zu ihm, ‘mußt du noch eine Heldenthat vollbringen. In dem Walde läuft ein Einhorn, das großen Schaden anrichtet, das mußt du erst einfangen.’ ‘Vor einem Einhorne fürchte ich mich noch weniger als vor zwei Riesen; siebene auff einen Streich, das ist meine Sache.’ Er nahm sich einen Strick und eine Axt mit, gieng hinaus in den Wald, und hieß abermals die, welche ihm zugeordnet waren, außen warten. Er brauchte nicht lange zu suchen, das Einhorn kam bald daher, und sprang geradezu auff den Schneider los, als wollte es ihn ohne Umstände aufspießen. ‘Sachte, sachte,’ sprach er, ‘so geschwind geht das nicht,’ blieb stehen und wartete bis das Thier ganz nahe war, dann sprang er behendiglich hinter den Baum. Das Einhorn rannte mit aller Kraft gegen den Baum und spießte sein Horn so fest in den Stamm, daß es nicht Kraft genug hatte es wieder heraus zu ziehen, und so war es gefangen. ‘Jetzt hab ich das Vöglein,’ sagte der Schneider, kam hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick erst um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum und als alles in Ordnung war führte er das Thier ab und brachte es dem König. Der König wollte ihm den verheißenen Lohn noch nicht gewähren, und machte eine dritte Forderung. Der Schneider sollte ihm vor der Hochzeit erst ein Wildschwein fangen, das in dem Wald großen Schaden that; die Jäger sollten ihm Beistand leisten. ‘Gerne,’ sprach der Schneider, ‘das ist ein Kinderspiel.’ Die Jäger nahm er nicht mit in den Wald, und sie warens wohl zufrieden, denn das Wildschwein hatte sie schon mehrmals so empfangen daß sie keine Lust hatten ihm nachzustellen. Als das Schwein den Schneider erblickte, lieff es mit schäumendem Munde und wetzenden Zähnen auff ihn zu, und wollte ihn zur Erde werfen: der flüchtige Held aber sprang in eine Kapelle, die in der Nähe war, und gleich oben zum Fenster in einem Satze wie-
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Die Bremerr Stadtmusikanten (KMH H 27)
der hinaus. Das Schwein war hinter ihm her gelaufen, er aber hüpfte außen herum und schlug die Thüre hinter ihm zu; da war das wüthende Thier gefangen, das viel zu schwer und unbehilflich war, um zu dem Fenster hinaus zu springen. Das Schneiderlein rieff die Jäger herbei, die mußten den Gefangenen mit eigenen Augen sehen: der Held aber begab sich zum Könige, der nun, er mochte wollen oder nicht, sein Versprechen halten mußte und ihm seine Tochter und das halbe Königreich übergab. Hätte er gewußt daß kein Kriegsheld sondern ein Schneiderlein vor ihm stand, es wäre ihm noch mehr zu Herzen gegangen. Die Hochzeit ward also mit großer Pracht und kleiner Freude gehalten, und aus einem Schneider ein König gemacht. Nach einiger Zeit hörte die junge Königin in der Nacht wie ihr Gemahl im Traume sprach ‘Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen.’ Da merkte sie in welcher Gasse der junge Herr geboren war, klagte am andern Morgen ihrem Vater ihr Leid und bat er möchte ihr von dem Manne helfen, der nichts anders als ein Schneider wäre. Der König sprach ihr Trost zu und sagte ‘laß in der nächsten Nacht deine Schlafkammer offen, meine Diener sollen außen stehen und, wenn er eingeschlafen ist, hineingehen, ihn binden und auf ein Schifff tragen, das ihn in die weite Welt führt.’ Die Frau war damit zufrieden, des Königs Waffenträger aber, der alles mit angehört hatte, war dem jungen Herrn gewogen und hinterbrachte ihm den ganzen Anschlag. ‘Dem Ding will ich einen Riegel vorschieben,’ sagte das Schneiderlein. Abends legte es sich zu gewöhnlicher Zeit mit seiner Frau zu Bett: als sie glaubte er sei eingeschlafen, stand sie auf, öffnete die Thüre und legte sich wieder. Das Schneiderlein, das sich nur stellte als wenn es schlief, fieng an mit heller Stimme zu rufen ‘Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen! ich habe siebene mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getödtet, ein Einhorn fortgeführt, und ein Wildschwein gefangen, und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Kammer stehen!’ Als diese den Schneider also sprechen hörten, überkam sie eine große Furcht, sie liefen als wenn das wilde Heer hinter ihnen wäre, und keiner wollte sich mehr an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König.
Die Bremer Stadtmusikanten (KMH 27) Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende giengen, so daß er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da dachte der Herr daran, ihn aus dem Futter zu schaffen, aber der Esel merkte daß kein guter Wind wehte, lieff fort und machte sich auff den Weg nach Bremen: dort, meinte er, könnte er ja Stadtmusikant werden. Als er ein Weilchen fortgegangen war, fand er einen Jagdhund auff dem Wege liegen, der jappte wie einer, der sich müde gelaufen hat. ‘Nun, was jappst du so, Packan?’ fragte der Esel. ‘Ach,’ sagte der Hund, ‘weil ich alt bin und jeden Tag schwächer werde, auch auf der Jagd nicht mehr fort kann, hat mich mein Herr wollen todt schlagen, da hab ich Reißaus genommen; aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?’ ‘Weißt du was,’ sprach der Esel, ‘ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant, geh mit und laß dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauken.’ Der Hund wars zufrieden, und sie giengen weiter. Es dauerte nicht lange, so saß da eine Katze an dem Weg und machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
‘Nun, was ist dir in die Quere gekommen, alter Bartputzer?’ sprach der Esel. ‘Wer kann da lustig sein, wenns einem an den Kragen geht,’ antwortete die Katze, ‘weil ich nun zu Jahren komme, meine Zähne stumpff werden, und ich lieber hinter dem Ofen sitze und spinne, als nach Mäusen herum jage, hat mich meine Frau ersäufen wollen; ich habe mich zwar noch fortgemacht, aber nun ist guter Rath theuer: wo soll ich hin?’ ‘Geh mit uns nach Bremen, du verstehst dich doch auff die Nachtmusik, da kannst du ein Stadtmusikant werden.’ Die Katze hielt das für gut und gieng mit. Darauff kamen die drei Landesflüchtigen an einem Hoff vorbei, da saß auff dem Thor der Haushahn und schrie aus Leibeskräften. ‘Du schreist einem durch Mark und Bein,’ sprach der Esel, ‘was hast du vor?’ ‘Da hab ich gut Wetter prophezeit,’ sprach der Hahn, ‘weil unserer lieben Frauen Tag ist, wo sie dem Christkindlein die Hemdchen gewaschen hat und sie trocknen will; aber weil Morgen zum Sonntag Gäste kommen, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen, und hat der Köchin gesagt sie wollte mich Morgen in der Suppe essen, und da soll ich mir heut Abend den Kopf abschneiden lassen. Nun schrei ich aus vollem Hals, so lang ich noch kann.’ ‘Ei was, du Rothkopf,’ sagte der Esel, ‘zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas besseres als den Tod findest du überall; du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musicieren, so muß es eine Art haben.’ Der Hahn ließ sich den Vorschlag gefallen, und sie giengen alle viere zusammen fort. Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen Abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen Baum, die Katze und der Hahn machten sich in die Äste, der Hahn aber flog bis in die Spitze, wo es am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Winden um, da däuchte ihn er sähe in der Ferne ein Fünkchen brennen und rieff seinen Gesellen zu es müßte nicht gar weit ein Haus sein, denn es scheine ein Licht. Sprach der Esel ‘so müssen wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die Herberge schlecht.’ Der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch dran, thäten ihm auch gut. Also machten sie sich auff den Weg nach der Gegend, wo das Licht war, und sahen es bald heller schimmern, und es ward immer größer, bis sie vor ein hell erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der größte, näherte sich dem Fenster und schaute hinein. ‘Was siehst du, Grauschimmel?’ fragte der Hahn. ‘Was ich sehe?’ antwortete der Esel, ‘einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen daran und lassens sich wohl sein.’ ‘Das wäre was für uns’ sprach der Hahn. ‘Ja, ja, ach, wären wir da!’ sagte der Esel. Da rathschlagten die Thiere wie sie es anfangen müßten, um die Räuber hinaus zu jagen und fanden endlich ein Mittel. Der Esel mußte sich mit den Vorderfüßen auff das Fenster stellen, der Hund auff des Esels Rücken springen, die Katze auff den Hund klettern, und endlich flog der Hahn hinauf, und setzte sich der Katze auff den Kopf. Wie das geschehen war, fiengen sie auff ein Zeichen insgesammt an ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte; dann stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein daß die Scheiben klirrten. Die Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschrei in die Höhe, meinten nicht anders als ein Gespenst käme herein und flohen in größter Furcht in den Wald hinaus. Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, nahmen mit dem vorlieb, was übrig geblieben war, und aßen als wenn sie vier Wochen hungern sollten. Wie die vier Spielleute fertig waren, löschten sie das Licht aus und suchten sich eine Schlafstätte, jeder nach seiner Natur und Bequemlichkeit. Der Esel legte sich auff den Mist, der Hund hinter die Thüre, die Katze auff den Herd bei die warme Asche, und
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Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71)
der Hahn setzte sich auff den Hahnenbalken: und weil sie müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie auch bald ein. Als Mitternacht vorbei war, und die Räuber von weitem sahen daß kein Licht mehr im Haus brannte, auch alles ruhig schien, sprach der Hauptmann ‘wir hätten uns doch nicht sollen ins Bockshorn jagen lassen,’ und hieß einen hingehen und das Haus untersuchen. Der Abgeschickte fand alles still, gieng in die Küche, ein Licht anzuzünden, und weil er die glühenden, feurigen Augen der Katze für lebendige Kohlen ansah, hielt er ein Schwefelhölzchen daran daß es Feuer fangen sollte. Aber die Katze verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht, spie und kratzte. Da erschrack er gewaltig, lieff und wollte zur Hinterthüre hinaus, aber der Hund, der da lag, sprang auff und biß ihn ins Bein: und als er über den Hoff an dem Miste vorbei rannte, gab ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß; der Hahn aber, der vom Lärmen aus dem Schlaff geweckt und munter geworden war, rieff vom Balken herab ‘kikeriki!’ Da lieff der Räuber, was er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und sprach ‘ach, in dem Haus sitzt eine gräuliche Hexe, die hat mich angehaucht und mit ihren langen Fingern mir das Gesicht zerkratzt: und vor der Thüre steht ein Mann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen: und auff dem Hoff liegt ein schwarzes Ungethüm, das hat mit einer Holzkeule auff mich losgeschlagen: und oben auff dem Dache, da sitzt der Richter, der rief bringt mir den Schelm her. Da machte ich daß ich fortkam.’ Von nun an getrauten sich die Räuber nicht weiter in das Haus, den vier Bremer Musikanten gefiels aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus wollten. Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.
Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) Es war einmal ein Mann, der verstand allerlei Künste: er diente im Krieg, und hielt sich brav und tapfer, aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auff den Weg. ‘Wart,’ sprach er, ‘das laß ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes heraus geben.’ Da gieng er voll Zorn in den Wald, und sah einen darin stehen, der hatte sechs Bäume ausgerupft, als wärens Kornhalme. Sprach er zu ihm ‘willst du mein Diener sein und mit mir ziehen?’ ‘Ja,’ antwortete er, ‘aber erst will ich meiner Mutter das Wellchen Holz heimbringen,’ und nahm einen von den Bäumen, und wickelte ihn um die fünff andern, hob die Welle auff die Schulter und trug sie fort. Dann kam er wieder, und gieng mit seinem Herrn, der sprach ‘wir zwei sollten wohl durch die ganze Welt kommen.’ Und als sie ein Weilchen gegangen waren, fanden sie einen Jäger, der lag auff den Knien, hatte die Büchse angelegt und zielte. Sprach der Herr zu ihm ‘Jäger, was willst du schießen?’ Er antwortete ‘zwei Meilen von hier sitzt eine Fliege auff dem Ast eines Eichbaums, der will ich das linke Auge heraus schießen.’ ‘O, geh mit mir,’ sprach der Mann, ‘wenn wir drei zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen.’ Der Jäger war bereit und gieng mit ihm, und sie kamen zu sieben Windmühlen, deren Flügel trieben ganz hastig herum, und gieng doch links und rechts kein Wind, und bewegte sich kein Blättchen. Da sprach der Mann ‘ich weiß nicht, was die Windmühlen treibt, es regt sich ja kein Lüftchen,’ und gieng mit seinen Dienern weiter, und als sie zwei Meilen fortgegangen waren,
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
sahen sie einen auff einem Baum sitzen, der hielt das eine Nasenloch zu und blies aus dem andern. ‘Mein, was treibst du da oben?’ fragte der Mann. Er antwortete ‘zwei Meilen von hier stehen sieben Windmühlen, seht, die blase ich an, daß sie laufen.’ ‘O, geh mit mir,’ sprach der Mann, ‘wenn wir vier zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen.’ Da stieg der Bläser herab und gieng mit, und über eine Zeit sahen sie einen, der stand da auff einem Bein, und hatte das andere abgeschnallt und neben sich gelegt. Da sprach der Herr ‘du hast dirs ja bequem gemacht zum Ausruhen.’ ‘Ich bin ein Laufer,’ antwortete er, ‘und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen laufe, so gehts geschwinder als ein Vogel fliegt.’ ‘O, geh mit mir, wenn wir fünff zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen.’ Da gieng er mit, und gar nicht lang, so begegneten sie einem, der hatte ein Hütchen auf, hatte es aber ganz auff dem einen Ohr sitzen. Da sprach der Herr zu ihm ‘manierlich! manierlich! häng deinen Hut doch nicht auff ein Ohr, du siehst ja aus wie ein Hans Narr.’ ‘Ich darfs nicht thun,’ sprach der andere, ‘denn setz ich meinen Hut gerad, so kommt ein gewaltiger Frost, und die Vögel unter dem Himmel erfrieren und fallen todt zur Erde.’ ‘O, geh mit mir,’ sprach der Herr, ‘wenn wir sechs zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen.’ Nun gingen die sechse in eine Stadt, wo der König hatte bekannt machen lassen wer mit seiner Tochter in die Wette laufen wollte, und den Sieg davon trüge, der sollte ihr Gemahl werden; wer aber verlöre, müßte auch seinen Kopff hergeben. Da meldete sich der Mann, und sprach ‘ich will aber meinen Diener für mich laufen lassen.’ Der König antwortete ‘dann mußt du auch noch dessen Leben zum Pfand setzen, also daß sein und dein Kopff für den Sieg haften.’ Als das verabredet und fest gemacht war, schnallte der Mann dem Laufer das andere Bein an und sprach zu ihm ‘nun sei hurtig und hilff daß wir siegen.’ Es war aber bestimmt, daß wer am ersten Wasser aus einem weit abgelegenen Brunnen brächte, der sollte Sieger sein. Nun bekam der Laufer einen Krug, und die Königstochter auch einen, und sie fiengen zu gleicher Zeit zu laufen an: aber in einem Augenblick, als die Königstochter erst eine kleine Strecke fort war, konnte den Laufer schon kein Zuschauer mehr sehen, und es war nicht anders, als wäre der Wind vorbei gesaust. In kurzer Zeit langte er bei dem Brunnen an, schöpfte den Krug voll Wasser und kehrte wieder um. Mitten aber auf dem Heimweg überkam ihn eine Müdigkeit, da setzte er den Krug hin, legte sich nieder, und schlieff ein. Er hatte aber einen Pferdeschädel, der da auff der Erde lag, zum Kopfkissen gemacht, damit er hart läge und bald wieder erwachte. Indessen war die Königstochter, die auch gut laufen konnte, so gut es ein gewöhnlicher Mensch vermag, bei dem Brunnen angelangt, und eilte mit ihrem Krug voll Wasser zurück; und als sie den Laufer da liegen und schlafen sah, war sie froh und sprach ‘der Feind ist in meine Hände gegeben,’ leerte seinen Krug aus und sprang weiter. Nun wär alles verloren gewesen, wenn nicht zu gutem Glück der Jäger mit seinen scharfen Augen oben auff dem Schloß gestanden und alles mit angesehen hätte. Da sprach er ‘die Königstochter soll doch gegen uns nicht aufkommen,’ lud seine Büchse und schoß so geschickt, daß er dem Laufer den Pferdeschädel unter dem Kopff wegschoß ohne ihm weh zu thun. Da erwachte der Laufer, sprang in die Höhe und sah daß sein Krug leer und die Königstochter schon weit voraus war. Aber er verlor den Muth nicht, lieff mit dem Krug wieder zum Brunnen zurück, schöpfte aufs neue Wasser und war noch zehn Minuten eher als die Königstochter daheim. ‘Seht ihr,’ sprach er, ‘jetzt hab ich erst die Beine aufgehoben, vorher wars gar kein Laufen zu nennen.’
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Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71)
Den König aber kränkte es, und seine Tochter noch mehr, daß sie so ein gemeiner abgedankter Soldat davon tragen sollte; sie ratschlagten mit einander wie sie ihn sammt seinen Gesellen los würden. Da sprach der König zu ihr ‘ich habe ein Mittel gefunden, laß dir nicht bang sein, sie sollen nicht wieder heim kommen.’ Und sprach zu ihnen ‘ihr sollt euch nun zusammen lustig machen, essen und trinken’ und führte sie zu einer Stube, die hatte einen Boden von Eisen, und die Thüren waren auch von Eisen, und die Fenster waren mit eisernen Stäben verwahrt. In der Stube war eine Tafel mit köstlichen Speisen besetzt, da sprach der König zu ihnen ‘geht hinein, und laßts euch wohl sein.’ Und wie sie darinnen waren, ließ er die Thüre verschließen und verriegeln. Dann ließ er den Koch kommen, und befahl ihm ein Feuer so lang unter die Stube zu machen, bis das Eisen glühend würde. Das that der Koch, und es fieng an und ward den sechsen in der Stube, während sie an der Tafel saßen, ganz warm, und sie meinten das käme vom Essen; als aber die Hitze immer größer ward und sie hinaus wollten, Thüre und Fenster aber verschlossen fanden, da merk ten sie daß der König Böses im Sinne gehabt hatte und sie ersticken wollte. ‘Es soll ihm aber nicht gelingen,’ sprach der mit dem Hütchen, ‘ich will einen Frost kommen lassen, vor dem sich das Feuer schämen und verkriechen soll.’ Da setzte er sein Hütchen gerade, und alsobald fiel ein Frost daß alle Hitze verschwand und die Speisen auff den Schüsseln anfiengen zu frieren. Als nun ein paar Stunden herum waren, und der König glaubte sie wären in der Hitze verschmachtet, ließ er die Thüre öffnen und wollte selbst nach ihnen sehen. Aber wie die Thüre aufgieng, standen sie alle sechse da, frisch und gesund, und sagten es wäre ihnen lieb daß sie heraus könnten, sich zu wärmen, denn bei der großen Kälte in der Stube frören die Speisen an den Schüsseln fest. Da gieng der König voll Zorn hinab zu dem Koch, schalt ihn und fragte warum er nicht gethan hätte was ihm wäre befohlen worden. Der Koch aber antwortete ‘es ist Glut genug da, seht nur selbst.’ Da sah der König daß ein gewaltiges Feuer unter der Eisenstube brannte, und merkte daß er den sechsen auf diese Weise nichts anhaben könnte. Nun sann der König aufs neue wie er der bösen Gäste los würde, ließ den Meister kommen und sprach ‘willst du Gold nehmen, und dein Recht auff meine Tochter aufgeben, so sollst du haben so viel du willst.’ ‘O ja, Herr König,’ antwortete er, ‘gebt mir so viel als mein Diener tragen kann, so verlange ich eure Tochter nicht.’ Das war der König zufrieden, und jener sprach weiter ‘so will ich in vierzehn Tagen kommen und es holen.’ Darauff rieff er alle Schneider aus dem ganzen Reich herbei, die mußten vierzehn Tage lang sitzen und einen Sack nähen. Und als er fertig war, mußte der Starke, welcher Bäume ausrupfen konnte, den Sack auff die Schulter nehmen und mit ihm zu dem König gehen. Da sprach der König ‘was ist das für ein gewaltiger Kerl, der den hausgroßen Ballen Leinewand auff der Schulter trägt?’ erschrack und dachte ‘was wird der für Gold wegschleppen!’ Da hieß er eine Tonne Gold herbringen, die mußten sechzehn der stärksten Männer tragen, aber der Starke packte sie mit einer Hand, steckte sie in den Sack und sprach ‘warum bringt ihr nicht gleich mehr, das deckt ja kaum den Boden.’ Da ließ der König nach und nach seinen ganzen Schatz herbeitragen, den schob der Starke in den Sack hinein, und der Sack ward davon noch nicht zur Hälfte voll. ‘Schafft mehr herbei,’ rieff er, ‘die paar Brocken füllen nicht.’ Da mußten noch siebentausend Wagen mit Gold in dem ganzen Reich zusammen gefahren werden: die schob der Starke sammt den vorgespannten Ochsen in seinen Sack. ‘Ich wills nicht lange besehen,’ sprach er, ‘und nehmen was kommt, damit der Sack nur voll wird.’ Wie alles darin stack, gieng doch noch viel hinein, da sprach er ‘ich will dem Ding nur ein Ende machen, man bindet wohl einmal einen
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
Sack zu, wenn er auch noch nicht voll ist.’ Dann huckte er ihn auff den Rücken und gieng mit seinen Gesellen fort. Als der König nun sah wie der einzige Mann des ganzen Landes Reichthum forttrug, ward er zornig und ließ seine Reiterei aufsitzen, die sollten den sechsen nachjagen, und hatten Befehl dem Starken den Sack wieder abzunehmen. Zwei Regimenter holten sie bald ein, und riefen ihnen zu ‘ihr seid Gefangene, legt den Sack mit dem Gold nieder, oder ihr werdet zusammengehauen.’ ‘Was sagt ihr?’ sprach der Bläser, ‘wir wären Gefangene? eher sollt ihr sämmtlich in der Luft herumtanzen,’ hielt das eine Nasenloch zu und blies mit dem andern die beiden Regimenter an, da fuhren sie aus einander und in die blaue Luft über alle Berge weg, der eine hierhin, der andere dorthin. Ein Feldwebel rieff um Gnade, er hätte neun Wunden und wäre ein braver Kerl, der den Schimpff nicht verdiente. Da ließ der Bläser ein wenig nach, so daß er ohne Schaden wieder herab kam, dann sprach er zu ihm ‘nun geh heim zum König und sag er sollte nur noch mehr Reiterei schicken, ich wollte sie alle in die Luft blasen.’ Der König, als er den Bescheid vernahm, sprach ‘laßt die Kerle gehen, die haben etwas an sich.’ Da brachten die sechs den Reichthum heim, theilten ihn unter sich und lebten vergnügt bis an ihr Ende.
Der treue Johannes (KHM 6) Es war einmal ein alter König, der war krank und dachte ‘es wird wohl das Todtenbett sein, auff dem ich liege.’ Da sprach er ‘laßt mir den getreuen Johannes kommen.’ Der getreue Johannes war sein liebster Diener, und hieß so, weil er ihm sein Lebelang so treu gewesen war. Als er nun vor das Bett kam, sprach der König zu ihm ‘getreuester Johannes, ich fühle daß mein Ende heran naht, und da habe ich keine andere Sorge als um meinen Sohn: er ist noch in jungen Jahren, wo er sich nicht immer zu rathen weiß, und wenn du mir nicht versprichst ihn zu unterrichten in allem, was er wissen muß, und sein Pflegevater zu sein, so kann ich meine Augen nicht in Ruhe schließen.’ Da antwortete der getreue Johannes ‘ich will ihn nicht verlassen, und will ihm mit Treue dienen, wenns auch mein Leben kostet.’ Da sagte der alte König ‘so sterb ich getrost und in Frieden.’ Und sprach dann weiter ‘nach meinem Tode sollst du ihm das ganze Schloß zeigen, alle Kammern, Säle und Gewölbe, und alle Schätze, die darin liegen: aber die letzte Kammer in dem langen Gange sollst du ihm nicht zeigen, worin das Bild der Königstochter vom goldenen Dache ver borgen steht. Wenn er das Bild erblickt, wird er eine heftige Liebe zu ihr empfinden, und wird in Ohnmacht niederfallen und wird ihretwegen in große Gefahren gerathen; davor sollst du ihn hüten.’ Und als der treue Johannes nochmals dem alten König die Hand darauff gegeben hatte, ward dieser still, legte sein Haupt auff das Kissen und starb. Als der alte König zu Grabe getragen war, da erzählte der treue Johannes dem jungen König was er seinem Vater auff dem Sterbelager versprochen hatte, und sagte ‘das will ich gewißlich halten, und will dir treu sein, wie ich ihm gewesen bin, und sollte es mein Leben kosten.’ Die Trauer gieng vorüber, da sprach der treue Johannes zu ihm ‘es ist nun Zeit, daß du dein Erbe siehst: ich will dir dein väterliches Schloß zeigen.’ Da führte er ihn überall herum, auff und ab, und ließ ihn alle die Reichthümer und prächtigen Kammern sehen: nur die eine Kammer öffnete er nicht, worin das gefährliche Bild stand. Das Bild war aber so gestellt, daß, wenn die Thüre aufgieng,
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man gerade darauff sah, und war so herrlich gemacht, daß man meinte es leibte und lebte, und es gäbe nichts lieblicheres und schöneres auff der ganzen Welt. Der junge König aber merkte wohl daß der getreue Johannes immer an einer Thür vorübergieng und sprach ‘warum schließest du mir diese niemals auf?’ ‘Es ist etwas darin,’ antwortete er, ‘vor dem du erschrickst.’ Aber der König antwortete ‘ich habe das ganze Schloß gesehen, so will ich auch wissen was darin ist,’ gieng und wollte die Thüre mit Gewalt öffnen. Da hielt ihn der getreue Johannes zurück und sagte ‘ich habe es deinem Vater vor seinem Tode versprochen, daß du nicht sehen sollst was in der Kammer steht: es könnte dir und mir zu großem Unglück ausschlagen.’ ‘Ach nein,’ antwortete der junge König, ‘wenn ich nicht hineinkomme, so ists es mein sicheres Verderben: ich würde Tag und Nacht keine Ruhe haben, bis ichs mit meinen Augen gesehen hätte. Nun gehe ich nicht von der Stelle, bis du aufgeschlossen hast.’ Da sah der getreue Johannes daß es nicht mehr zu ändern war, und suchte mit schwerem Herzen und vielem Seufzen aus dem großen Bund den Schlüssel heraus. Als er die Thüre geöffnet hatte, trat er zuerst hinein und dachte er wolle das Bildnis bedecken daß es der König vor ihm nicht sähe: aber was halff das? der König stellte sich auff die Fußspitzen und sah ihm über die Schulter. Und als er das Bildnis der Jungfrau erblickte, das so herrlich war und von Gold und Edelsteinen glänzte, da fiel er ohnmächtig zur Erde nieder. Der getreue Johannes hob ihn auf, trug ihn in sein Bett und dachte voll Sorgen ‘das Unglück ist geschehen, Herr Gott, was will daraus werden!’ dann stärkte er ihn mit Wein, bis er wieder zu sich selbst kam. Das erste Wort, das er sprach, war ‘ach! wer ist das schö ne Bild?’ ‘Das ist die Königstochter vom goldenen Dache,’ antwortete der treue Johannes. Da sprach der König weiter ‘meine Liebe zu ihr ist so groß, wenn alle Blätter an den Bäumen Zungen wären, sie könntens nicht aussagen; mein Leben setze ich daran, daß ich sie erlange. Du bist mein getreuster Johannes, du mußt mir beistehen.’ Der treue Diener besann sich lange wie die Sache anzufangen wäre, denn es hielt schwer, nur vor das Angesicht der Königstochter zu kommen. Endlich hatte er ein Mittel ausgedacht und sprach zu dem König ‘alles, was sie um sich hat, ist von Gold, Tische, Stühle, Schüsseln, Becher, Näpfe und alles Hausgeräth; in deinem Schatze liegen fünff Tonnen Goldes, laß eine von den Goldschmieden des Reichs verarbeiten zu allerhand Gefäßen und Geräthschaften, zu allerhand Vögeln, Gewild und wunderbaren Thieren, das wird ihr gefallen, wir wollen damit hinfahren und unser Glück versuchen.’ Der König hieß alle Goldschmiede herbei holen, die mußten Tag und Nacht arbeiten, bis endlich die herrlichsten Dinge fertig waren. Als alles auff ein Schiff geladen war, zog der getreue Johannes Kaufmannskleider an, und der König mußte ein gleiches thun, um sich ganz unkenntlich zu machen. Dann fuhren sie über das Meer, und fuhren so lange, bis sie zu der Stadt kamen, worin die Königstochter vom goldenen Dache wohnte. Der treue Johannes hieß den König auff dem Schiffe zurückbleiben und auff ihn warten. ‘Vielleicht,’ sprach er, ‘bring ich die Königstochter mit, darum sorgt daß alles in Ordnung ist, laßt die Goldgefäße aufstellen und das ganze Schifff ausschmücken.’ Darauff suchte er sich in sein Schürzchen allerlei von den Goldsachen zusammen, stieg ans Land und gieng gerade nach dem königlichen Schloß. Als er in den Schloßhoff kam, stand da beim Brunnen ein schönes Mädchen, das hatte zwei goldene Eimer in der Hand und schöpfte damit. Und als es das blinkende Wasser forttragen wollte und sich umdrehte, sah es den fremden Mann und fragte wer er wäre? Da antwortete er ‘ich bin ein Kaufmann,’ und öffnete sein Schürzchen und ließ sie hineinschauen.
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Da rieff sie ‘ei, was für schönes Goldzeug!’ setzte die Eimer nieder und betrachtete eins nach dem andern. Da sprach das Mädchen ‘das muß die Königstochter sehen, die hat so große Freude an den Goldsachen, daß sie euch alles abkauft.’ Es nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinauf, denn es war die Kammerjungfer. Als die Königstochter die Waare sah, war sie ganz vergnügt und sprach ‘es ist so schön gearbeitet, daß ich dir alles abkaufen will.’ Aber der getreue Johannes sprach ‘ich bin nur der Diener von einem reichen Kaufmann: was ich hier habe ist nichts gegen das, was mein Herr auff seinem Schifff stehen hat, und das ist das künstlichste und köstlichste, was je in Gold ist gearbeitet worden.’ Sie wollte alles herauff gebracht haben, aber er sprach ‘dazu gehören viele Tage, so groß ist die Menge, und so viel Säle um es aufzustellen, daß euer Haus nicht Raum dafür hat.’ Da ward ihre Neugierde und Lust immer mehr angeregt, so daß sie endlich sagte ‘führe mich hin zu dem Schiff, ich will selbst hingehen und deines Herrn Schätze betrachten.’ Da führte sie der getreue Johannes zu dem Schiffe hin und war ganz freudig, und der König, als er sie erblickte, sah daß ihre Schönheit noch größer war, als das Bild sie dargestellt hatte, und meinte nicht anders als das Herz wollte ihm zerspringen. Nun stieg sie in das Schiff, und der König führte sie hinein; der getreue Johannes aber blieb zurück bei dem Steuermann und hieß das Schifff abstoßen, ‘spannt alle Segel auf, daß es fliegt wie ein Vogel in der Luft.’ Der König aber zeigte ihr drinnen das goldene Geschirr, jedes einzeln, die Schüsseln, Becher, Näpfe, die Vögel, das Gewild und die wunderbaren Thiere. Viele Stunden giengen herum, während sie alles besah, und in ihrer Freude merkte sie nicht daß das Schiff dahin fuhr. Nachdem sie das letzte betrachtet hatte, dankte sie dem Kaufmann und wollte heim, als sie aber an des Schiffes Rand kam, sah sie daß es fern vom Land auff hohem Meere gieng und mit vollen Segeln forteilte. ‘Ach,’ rieff sie erschrocken, ‘ich bin betrogen, ich bin entführt und in die Gewalt eines Kaufmanns gerathen; lieber wollt ich sterben!’ Der König aber faßte sie bei der Hand und sprach ‘ein Kaufmann bin ich nicht, ich bin ein König und nicht geringer an Geburt als du bist: aber daß ich dich mit List entführt habe, das ist aus übergroßer Liebe geschehen. Das erstemal, als ich dein Bildnis gesehen habe, bin ich ohnmächtig zur Erde gefallen.’ Als die Königstochter vom goldenen Dache das hörte, ward sie getröstet, und ihr Herz ward ihm geneigt, so daß sie gerne einwilligte seine Gemahlin zu werden. Es trug sich aber zu, während sie auff dem hohen Meere dahin fuhren, daß der getreue Johannes, als er vorn auff dem Schiffe saß und Musik machte, in der Luft drei Raben erblickte, die daher geflogen kamen. Da hörte er auff zu spielen und horchte was sie mit einander sprachen, denn er verstand das wohl. Die eine rieff ‘ei, da führt er die Königstochter vom goldenen Dache heim.’ ‘Ja,’ antwortete die zweite, ‘er hat sie noch nicht.’ Sprach die dritte ‘er hat sie doch, sie sitzt bei ihm im Schiffe.’ Da fieng die erste wieder an und rieff ‘was hilft ihm das! wenn sie ans Land kommen, wird ihm ein fuchsrothes Pferd entgegenspringen: da wird er sich aufschwingen wollen, und thut er das, so sprengt es mit ihm fort und in die Luft hinein, daß er nimmer mehr seine Jungfrau wieder sieht.’ Sprach die zweite ‘ist gar keine Rettung?’ ‘O ja, wenn ein anderer schnell aufsitzt, das Feuergewehr, das in den Halftern stecken muß, heraus nimmt und das Pferd damit todt schießt, so ist der junge König gerettet. Aber wer weiß das! und wers weiß und sagts ihm, der wird zu Stein von den Fußzehen bis zum Knie.’ Da sprach die zweite ‘ich weiß noch mehr, wenn das Pferd auch getödtet wird, so behält der junge König doch nicht seine Braut: wenn sie zusammen ins Schloß kommen, so liegt dort ein gemachtes Brauthemd in einer Schüssel, und sieht aus als
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wärs von Gold und Silber gewebt, ist aber nichts als Schwefel und Pech: wenn ers anthut, verbrennt es ihn bis aufs Mark und Knochen.’ Sprach die dritte ‘ist da gar keine Rettung?’ ‘O ja,’ antwortete die zweite, ‘wenn einer mit Handschuhen das Hemd packt und wirft es ins Feuer, daß es verbrennt, so ist der junge König gerettet. Aber was hilfts! wers weiß und es ihm sagt, der wird halbes Leibes Stein vom Knie bis zum Herzen.’ Da sprach die dritte ‘ich weiß noch mehr, wird das Brauthemd auch verbrannt, so hat der junge König seine Braut doch noch nicht: wenn nach der Hochzeit der Tanz anhebt, und die junge Königin tanzt, wird sie plötzlich erbleichen und wie todt hinfallen: und hebt sie nicht einer auff und zieht aus ihrer rechten Brust drei Tropfen Blut und speit sie wieder aus, so stirbt sie. Aber verräth das einer, der es weiß, so wird er ganzes Leibes zu Stein vom Wirbel bis zur Fuß zehe.’ Als die Raben das mit einander gesprochen hatten, flogen sie weiter, und der getreue Johannes hatte alles wohl verstanden, aber von der Zeit an war er still und traurig; denn verschwieg er seinem Herrn, was er gehört hatte, so war dieser unglücklich: entdeckte er es ihm, so mußte er selbst sein Leben hingeben. Endlich aber sprach er bei sich ‘meinen Herrn will ich retten, und sollt ich selbst darüber zu Grunde gehen.’ Als sie nun ans Land kamen, da geschah es, wie die Rabe vorher gesagt hatte, und es sprengte ein prächtiger fuchsrother Gaul daher. ‘Wohlan,’ sprach der König, ‘der soll mich in mein Schloß tragen,’ und wollte sich aufsetzen, doch der treue Johannes kam ihm zuvor, schwang sich schnell darauf, zog das Gewehr aus den Halftern, und schoß den Gaul nieder. Da riefen die andern Diener des Königs, die dem treuen Johannes doch nicht gut waren, ‘wie schändlich, das schöne Thier zu tödten, das den König in sein Schloß tragen sollte!’ Aber der König sprach ‘schweigt und laßt ihn gehen, es ist mein getreuester Johannes, wer weiß wozu das gut ist!’ Nun giengen sie ins Schloß, und da stand im Saal eine Schüssel, und das gemachte Brauthemd lag darin und sah aus nicht anders als wäre es von Gold und Silber. Der junge König gieng darauff zu und wollte es ergreifen, aber der treue Johannes schob ihn weg, packte es mit Handschuhen an, trug es schnell ins Feuer und ließ es verbrennen. Die anderen Diener fiengen wieder an zu murren und sagten ‘seht, nun verbrennt er gar des Königs Brauthemd.’ Aber der junge König sprach ‘wer weiß wozu es gut ist, laßt ihn gehen, es ist mein getreuester Johannes.’ Nun ward die Hochzeit gefeiert: der Tanz hub an, und die Braut trat auch hinein, da hatte der treue Johannes Acht und schaute ihr ins Antlitz; auff einmal erbleichte sie und fiel wie todt zur Erde. Da sprang er eilends hinzu, hob sie auff und trug sie in eine Kammer, da legte er sie nieder, kniete und sog die drei Blutstropfen aus ihrer rechten Brust und speite sie aus. Alsbald athmete sie wieder und erholte sich, aber der junge König hatte es mit angesehen, und wußte nicht warum es der getreue Johannes gethan hatte, ward zornig darüber, und rief ‘werft ihn ins Gefängnis.’ Am andern Morgen ward der getreue Johannes verurtheilt und zum Galgen geführt, und als er oben stand und gerichtet werden sollte, sprach er ‘jeder der sterben soll, darff vor seinem Ende noch einmal reden, soll ich das Recht auch haben?’ ‘Ja,’ antwortete der König, ‘es soll dir vergönnt sein.’ Da sprach der treue Johannes ‘Ich bin mit Unrecht verurtheilt und bin dir immer treu gewesen,’ und erzählte wie er auff dem Meer das Gespräch der Raben gehört, und wie er, um seinen Herrn zu retten, das alles hätte thun müssen. Da rieff der König ‘o mein treuester Jo hannes, Gnade! Gnade! führt ihn herunter.’ Aber der treue Johannes war bei dem letzten Wort das er geredet hatte leblos herabgefallen, und war ein Stein. Darüber trug nun der König und die Königin großes Leid, und der König sprach ‘ach, was hab ich große Treue so übel belohnt!’ und ließ das steinerne Bild aufheben
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und in seine Schlafkammer neben sein Bett stellen. So oft er es ansah, weinte er und sprach ‘ach, könnt ich dich wieder lebendig machen, mein getreuester Johannes.’ Es gieng eine Zeit herum, da gebar die Königin Zwillinge, zwei Söhnlein, die wuchsen heran und waren ihre Freude. Einmal, als die Königin in der Kirche war, und die zwei Kinder bei dem Vater saßen und spielten, sah dieser wieder das steinerne Bildnis voll Trauer an, seufzte und rieff ‘ach, könnt ich dich wieder lebendig machen, mein getreuester Johannes.’ Da fieng der Stein an zu reden und sprach ‘ja, du kannst mich wieder lebendig machen, wenn du dein Liebstes daran wenden willst.’ Da rief der König ‘alles, was ich auff der Welt habe, will ich für dich hingeben.’ Sprach der Stein weiter ‘wenn du mit deiner eigenen Hand deinen beiden Kindern den Kopf abhaust und mich mit ihrem Blute bestreichst, so erhalte ich das Leben wieder.’ Der König erschrack, als er hörte daß er seine liebsten Kinder selbst tödten sollte, doch dachte er an die große Treue, und daß der getreue Johannes für ihn gestorben war, zog sein Schwert und hieb mit eigener Hand den Kindern den Kopff ab. Und als er mit ihrem Blute den Stein bestrichen hatte, so kehrte das Leben zurück, und der getreue Johannes stand wieder frisch und gesund vor ihm. Er sprach zum König ‘deine Treue soll nicht unbelohnt bleiben,’ und nahm die Häupter der Kinder, setzte sie auf, und bestrich die Wunde mit ihrem Blut, davon wurden sie im Augenblick wieder heil, sprangen herum und spielten fort, als wär ihnen nichts geschehen. Nun war der König voll Freude, und als er die Königin kommen sah, versteckte er den getreuen Johannes und die beiden Kinder in einen großen Schrank. Wie sie hereintrat, sprach er zu ihr ‘hast du gebetet in der Kirche?’ ‘Ja,’ antwortete sie, ‘aber ich habe beständig an den treuen Johannes gedacht, daß er so unglücklich durch uns geworden ist.’ Da sprach er ‘liebe Frau, wir können ihm das Leben wiedergeben, aber es kostet uns unsere beiden Söhnlein, die müssen wir opfern.’ Die Königin ward bleich und erschrack im Herzen, doch sprach sie ‘wir sinds ihm schuldig wegen seiner großen Treue.’ Da freute er sich daß sie dachte wie er gedacht hatte, gieng hin und schloß den Schrank auf, holte die Kinder und den treuen Johannes heraus und sprach ‘Gott sei gelobt, er ist erlöst, und unsere Söhnlein haben wir auch wieder,’ und erzählte ihr wie sich alles zugetragen hatte. Da lebten sie zusammen in Glückseligkeit bis an ihr Ende.
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Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Grethel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Theuerung ins Land kam, konnte er auch das täglich Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun Abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herum wälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau ‘was soll aus uns werden? wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?’ ‘Weißt du was, Mann,’ antwortete die Frau, ‘wir wollen Morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los.’ ‘Nein, Frau,’ sagte der Mann, ‘das thue ich nicht; wie sollt ichs übers Herz bringen meine Kinder im Walde allein zu lassen, die wilden Thiere würden bald kommen und sie zerreißen.’ ‘O du Narr,’ sagte sie, ‘dann
Hänsel und d Grethel (KHM 15)
müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobelen,’ und ließ ihm keine Ruhe bis er einwilligte. ‘Aber die armen Kinder dauern mich doch’ sagte der Mann. Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Grethel weinte bittere Thränen und sprach zu Hänsel ‘nun ists um uns geschehen.’ ‘Still, Grethel,’ sprach Hänsel, ‘gräme dich nicht, ich will uns schon helfen.’ Und als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sein Röcklein an, machte die Unterthüre auff und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz helle, und die weißen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und steckte so viel in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten. Dann gieng er wieder zurück, sprach zu Grethel ‘sei getrost, liebes Schwesterchen und schlaff nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen,’ und legte sich wieder in sein Bett. Als der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder, ‘steht auf, ihr Faullenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen.’ Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach ‘da habt ihr etwas für den Mittag, aber eßts nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.’ Grethel nahm das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten sie sich alle zusammen auff den Weg nach dem Wald. Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und that das wieder und immer wieder. Der Vater sprach ‘Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab Acht und vergiß deine Beine nicht.’ ‘Ach, Vater,’ sagte Hänsel, ‘ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auff dem Dach und will mir Ade sagen.’ Die Frau sprach ‘Narr, das ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auff den Schornstein scheint.’ Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken Kieselsteinen aus seiner Tasche auff den Weg geworfen. Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater ‘nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert.’ Hänsel und Grethel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig ward angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die Frau ‘nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder und ruht euch aus, wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab.’ Hänsel und Grethel saßen am Feuer, und als der Mittag kam, aß jedes sein Stücklein Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, so glaubten sie ihr Vater wäre in der Nähe. Es war aber nicht die Holzaxt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum ge bunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Und als sie so lange gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und sie schliefen fest ein. Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Grethel fieng an zu weinen und sprach ‘wie sollen wir nun aus dem Wald kommen!’ Hänsel aber tröstete sie, ‘wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.’ Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchen an der Hand und gieng den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neu geschlagene Batzen und zeigten ihnen den Weg. Sie giengen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Thür, und als die Frau aufmachte und sah daß es Hänsel und Grethel war, sprach sie ‘ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Walde geschlafen, wir haben geglaubt ihr
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wolltet gar nicht wieder kommen.’ Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen daß er sie so allein zurück gelassen hatte. Nicht lange danach war wieder Noth in allen Ecken, und die Kinder hörten wie die Mutter Nachts im Bette zu dem Vater sprach ‘alles ist wieder aufgezehrt, wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder heraus finden; es ist sonst keine Rettung für uns.’ Dem Mann fiels schwer aufs Herz und er dachte ‘es wäre besser, daß du den letzten Bissen mit deinen Kindern theiltest.’ Aber die Frau hörte auff nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm Vorwürfe. Wer A sagt muß auch B sagen, und weil er das erste Mal nachgegeben hatte, so mußte er es auch zum zweiten Mal. Die Kinder waren aber noch wach gewesen und hatten das Gespräch mit angehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und Kieselsteine auflesen, wie das vorigemal, aber die Frau hatte die Thür verschlossen, und Hänsel konnte nicht heraus. Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach ‘weine nicht, Grethel, und schlaff nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.’ Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder aus dem Bette. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch kleiner als das vorigemal. Auff dem Wege nach dem Wald bröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still und warff ein Bröcklein auf die Erde. ‘Hänsel, was stehst du und guckst dich um,’ sagte der Vater, ‘geh deiner Wege.’ ‘Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auff dem Dache und will mir Ade sagen,’ antwortete Hänsel. ‘Narr,’ sagte die Frau, ‘das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auff den Schornstein oben scheint.’ Hän sel aber warff nach und nach alle Bröcklein auff den Weg. Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein großes Feuer angemacht, und die Mutter sagte ‘bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen: wir gehen in den Wald und hauen Holz, und Abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.’ Als es Mittag war, theilte Grethel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auff den Weg gestreut hatte. Dann schliefen sie ein, und der Abend vergieng, aber niemand kam zu den armen Kindern. Sie erwachten erst in der finstern Nacht, und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte, ‘wart nur, Grethel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.’ Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein mehr, denn die viel tausend Vögel, die im Walde und im Felde umher fliegen, die hatten sie weggepickt. Hänsel sagte zu Grethel ‘wir werden den Weg schon finden,’ aber sie fanden ihn nicht. Sie giengen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auff der Erde standen. Und weil sie so müde waren daß die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein. Nun wars schon der dritte Morgen, daß sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fiengen wieder an zu gehen, aber sie geriethen immer tiefer in den Wald und wenn nicht bald Hilfe kam, so mußten sie verschmachten. Als es Mittag war, sahen sie ein schönes schneeweißes Vöglein auff einem Ast sitzen, das sang so schön, daß sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und sie giengen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf
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dessen Dach es sich setzte, und als sie ganz nah heran kamen, so sahen sie daß das Häuslein aus Brot gebaut war, und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker. ‘Da wollen wir uns dran machen,’ sprach Hänsel, ‘und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Grethel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt süß.’ Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen wie es schmeckte, und Grethel stellte sich an die Scheiben und knuperte daran. Da rieff eine feine Stimme aus der Stube heraus ‘knuper, knuper, kneischen, wer knupert an meinem Häuschen?’ die Kinder antworteten ‘der Wind, der Wind, das himmlische Kind,’ und aßen weiter, ohne sich irre machen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riß sich ein großes Stück davon herunter, und Grethel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder, und that sich wohl damit. Da gieng auff einmal die Thüre auf, und eine steinalte Frau, die sich auff eine Krücke stützte, kam heraus geschlichen. Hänsel und Grethel erschracken so gewaltig, daß sie fallen ließen was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach ‘ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.’’ Sie faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannekuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiß gedeckt, und Hänsel und Grethel legten sich hinein und meinten sie wären im Himmel. Die Alte hatte sich nur so freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so mach te sie es todt, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rothe Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung, wie die Thiere, und merkens wenn Menschen heran kommen. Als Hänsel und Grethel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch ‘die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen.’ Früh Morgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf, und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen rothen Backen, so murmelte sie vor sich hin ‘das wird ein guter Bissen werden.’ Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gitterthüre ein; er mochte schreien wie er wollte, es halff ihm nichts. Dann gieng sie zur Grethel, rüttelte sie wach und rief ‘steh auf, Faullenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas gutes, der sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen.’ Grethel fieng an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte thun was die böse Hexe verlangte. Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Grethel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rieff ‘Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle ob du bald fett bist.’ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da
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übernahm sie die Ungeduld, und sie wollte nicht länger warten. ‘Heda, Grethel,’ rief sie dem Mädchen zu, ‘sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen.’ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Thränen über die Backen herunter! ‘Lieber Gott, hilff uns doch,’ rieff sie aus, ‘hätten uns nur die wilden Thiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.’ ‘Spar nur dein Geblärre,’ sagte die Alte, ‘es hilft dir alles nichts.’ Früh Morgens mußte Grethel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. ‘Erst wollen wir backen’ sagte die Alte, ‘ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknätet.’ Sie stieß das arme Grethel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen schon heraus schlugen. ‘Kriech hinein,’ sagte die Hexe, ‘und sieh zu ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschießen können.’ Und wenn Grethel darin war, wollte sie den Ofen zumachen, und Grethel sollte darin braten, und dann wollte sies auch aufessen. Aber Grethel merkte was sie im Sinn hatte und sprach ‘ich weiß nicht, wie ichs machen soll; wie komm ich da hinein?’ ‘Dumme Gans,’ sagte die Alte, ‘die Öffnung ist groß genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein,’ krappelte heran und steckte den Kopff in den Backofen. Da gab ihr Grethel einen Stoß daß sie weit hinein fuhr, machte die eiserne Thür zu und schob den Riegel vor. Hu! da fieng sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Grethel lieff fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen. Grethel aber lieff schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rieff ‘Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist todt.’ Da sprang Hänsel heraus, wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Thüre aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut, sind sich um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküßt! Und weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so giengen sie in das Haus der Hexe hinein, da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen. ‘Die sind noch besser als Kieselsteine’ sagte Hänsel und steckte in seine Taschen was hinein wollte, und Grethel sagte ‘ich will auch etwas mit nach Haus bringen’ und füllte sich sein Schürzchen voll. ‘Aber jetzt wollen wir fort,’ sagte Hänsel, ‘damit wir aus dem Hexenwald herauskommen.’ Als sie aber ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein großes Wasser. ‘Wir können nicht hinüber,’ sprach Hänsel, ‘ich sehe keinen Steg und keine Brücke.’ ‘Hier fährt auch kein Schiffchen,’ antwortete Grethel, ‘aber da schwimmt eine weiße Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber.’ Da rieff sie ‘Entchen, Entchen, da steht Grethel und Hänsel. Kein Steg und keine Brücke, nimm uns auff deinen weißen Rücken.’
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Das Entchen kam auch heran, und Hänsel setzte sich auff und bat sein Schwesterchen sich zu ihm zu setzen. ‘Nein,’ antwortete Grethel, ‘es wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nach einander hinüber bringen.’ Das that das gute Thierchen, und als sie glücklich drüben waren und ein Weilchen fortgiengen, da kam ihnen der Wald immer bekannter und immer bekannter vor, und endlich erblickten sie von weitem ihres Vaters Haus. Da fiengen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Grethel schüttete sein Schürzchen aus daß die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warff eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle
Derr Hase und d derr Igel (KHM 187)
Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darff sich eine große große Pelzkappe daraus machen.
Der Hase und der Igel (KHM 187) Disse Geschicht is lögenhaft to vertellen, Jungens, aver wahr is se doch, denn mien Grootvader, van den ick se hew, plegg jümmer, wenn he se mie vortüerde (mit Behaglichkeit vortrug), dabi to seggen ‘wahr mutt se doch sien, mien Söhn, anners kunn man se jo nich vertellen.’ De Geschicht hett sick aber so todragen. Et wöör an enen Sündagmorgen tor Harvesttied, jüst as de Bookweeten bloihde: de Sünn wöör hellig upgaen am Hewen, de Morgenwind güng warm över de Stoppeln, de Larken süngen inn’r Lucht (Luft), de Immen sumsten in den Bookweeten un de Lühde güngen in ehren Sündagsstaht nah’r Kerken, un alle Creatur wöör vergnögt, un de Swinegel ook. De Swinegel aver stünd vör siener Döhr, harr de Arm ünnerslagen, keek dabi in den Morgenwind hinut un quinkeleerde en lütjet Leedken vör sick hin, so good un so slecht as nu eben am leewen Sündagmorgen en Swinegel to singen pleggt. Indem he nu noch so halff liese vör sick hin sung, füll em up eenmal in he künn ook wol, mittlerwiel sien Fro de Kinner wüsch un antröcke, en beeten in’t Feld spazeeren un tosehen wie sien Stähkröwen stünden. De Stähkröwen wöören aver de nöchsten bi sienem Huuse, un he pleggte mit siener Familie davon to eten, darüm sahg he se as de sienigen an. Gesagt, gedahn. De Swinegel makte de Huusdöör achter sick to un slög den Weg nah’n Felde in. He wöör noch nich gans wiet von Huuse un wull jüst um den Slöbusch, (Schlehenbusch), de dar vörm Felde liggt, nah den Stähkröwenacker hinup dreien, as em de Haas bemött, de in ähnlichen Geschäften uutgahn wöör, nämlich um sienen Kohl to besehn. As de Swinegel den Haasen ansichtig wöör, so böhd he em en fründlichen go’n Morgen. De Haas aver, de up siene Wies en vörnehmer Herr was, un grausahm hochfahrtig dabi, antwoorde nicks up den Swinegel sienen Gruß, sondern segte tom Swinegel, wobi he en gewaltig höhnische Miene annöhm, ‘wie kummt et denn, dat du hier all bi so fröhem Morgen im Felde rumlöppst?’ ‘Ick gah spazeeren’ segt de Swinegel. ‘Spazeeren?’ lachte de Haas, ‘mi ducht du kunnst de Been ook wol to betern Dingen gebruuken.’ Disse Antword verdrööt den Swinegel ungeheuer, denn alles kunn he verdregen, aver up siene Been laet he nicks komen, eben weil se von Natuhr scheeff wöören. ‘Du bildst di wol in,’ seggt nu de Swinegel tom Haasen, ‘as wenn du mit diene Beene mehr utrichten kunnst?’ ‘Dat denk ick’ seggt de Haas. ‘Dat kummt up ’n Versöök an,’ meent de Swinegel, ‘ick pareer, wenn wi in de Wett loopt, ick loop di vörbi.’ ‘Dat is tum Lachen, du mit diene scheefen Been,’ seggt de Haas, ‘aver mienetwegen mach’t sien, wenn du so övergroote Lust hest. Wat gilt de Wett?’ ‘En goldne Lujedor un’n Buddel Branwien’ seggt de Swinegel. ‘Angenahmen,’ spröök de Haas, ‘sla in, un denn kann’t gliek los gahn.’ ‘Nä, so groote Ihl hett et nich,’ meen de Swinegel, ‘ick bün noch gans nüchdern; eerst will ick to Huus gahn un en beeten fröhstücken: inner halwen Stünd bün ick wedder hier upp’n Platz.’ Damit güng de Swinegel, denn de Haas wöör ett tofreeden. Ünnerweges dachte de Swinegel bi sick ‘de Haas verlett sick up siene langen Been, aver ick will em wol
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
kriegen. He is zwar ehn vörnehm Herr, aver doch man’n dummen Keerl, un betahlen sall he doch.’ As nu de Swinegel to Huuse ankööm, spröök he to sien Fro ‘Fro, treck di gau (schnell) an, du must mit mi nah’n Felde hinuut.’ ‘Wat givt et denn?’ seggt sien Fro. ‘Ick hew mit’n Haasen wett’t üm’n golden Lujedor un’n Buddel Branwien, ick will mit em inn Wett loopen un da salst du mit dabi sien.’ ‘O mien Gott, Mann,’ füng nu den Swinegel sien Fro an to schreen, ‘büst du nich klook, hest du denn ganz den Verstand verlaaren? Wie kannst du mit den Haasen in de Wett loopen wollen?’ ‘Holt dat Muul, Wief,’ seggt de Swinegel, ‘dat is mien Saak. Resonehr nich in Männergeschäfte. Marsch, treck di an un denn kumm mit.’ Wat sull den Swinegel sien Fro maken? se mußt wol folgen, se mugg nu wollen oder nich. As se nu mit eenander ünnerwegs wöören, spröök de Swinegel to sien Fro ‘nu pass up, wat ick seggen will. Sühst du, up den langen Acker dar wüll wi unsen Wettloop maken. De Haas löppt nemlich in der eenen Föhr (Furche) un ick inner andern, un von baben (oben) fang wi an to loopen. Nu hast du wieder nicks to dohn as du stellst di hier unnen in de Föhr, un wenn de Haas up de andere Siet ankummt, so röpst du em entgegen ‘ick bün all (schon) hier.’ Damit wöören se bi den Acker anlangt, de Swinegel wiesde siener Fro ehren Platz an un güng nu den Acker hinup. As he baben ankööm, wöör de Haas all da. ‘Kann et losgahn?’ seggt de Haas. ‘Ja wol’’ seggt de Swinegel. ‘Denn man to!’ Un damit stellde jeder sick in siene Föhr. De Haas tellde (zählte) ‘hahl een, hahl twee, hahl dree’ un los güng he wie en Stormwind den Acker hindahl (hinab). De Swinegel aver lööp ungefähr man dree Schritt, dann duhkde he sick dahl (herab) in de Föhr un bleev ruhig sitten. As nu de Haas in vullen Loopen ünnen am Acker ankööm, rööp em den Swinegel sien Fro entgegen ‘ick bün all hier.’ De Haas stutzd un verwunderde sick nich wenig: he menede nich anders als et wöör de Swinegel sülvst, de em dat torööp, denn bekanntlich süht den Swinegel sien Fro jüst so uut wie ehr Mann. De Haas aver meende ‘datt geiht nich to mit rechten Dingen.’ He rööp ‘nochmal geloopen, wedder üm!’ Un fort güng he wedder wie en Stormwind, datt em de Ohren am Koppe flögen. Den Swinegel sien Fro aver blev ruhig up ehren Platze. As nu de Haas baben ankööm, rööp em de Swinegel entgegen ‘ick bün all hier.’’ De Haas aver, ganz uuter sick vör Ihwer (Eifer), schreede ‘nochmal geloopen, wedder üm!’ ‘Mi nich to schlimm,’ antwoorde de Swinegel, ‘mienetwegen so oft as du Lust hest.’ So löp de Haas noch dreeunsöbentigmal, un de Swinegel höhl (hielt) et ümmer mit em uut. Jedesmal, wenn de Haas ünnen oder baben ankööm, seggten de Swinegel oder sien Fro ‘ick bün all hier.’ Tum veerunsöbentigstenmal aver köm de Haas nich mehr to ende. Midden am Acker stört he tor Eerde, datt Blohd flög em utn Halse un he bleev doot upn Platze. De Swinegel aver nöhm siene gewunnene Lujedor un den Buddel Branwien, rööp siene Fro uut der Föhr aff, un beide güngen vergnögt mit eenanner nah Huus; un wenn se nich storben sünd, lewt se noch. So begev et sick, dat up der Buxtehuder Heid de Swinegel den Haasen dodt lopen hett, un sied jener Tied hatt et sick keen Haas wedder infallen laten mit’n Buxtehuder Swinegel in de Wett to lopen. De Lehre aver uut disser Geschicht is erstens, datt keener, un wenn he sick ook noch so vörnehm dücht, sick sall bikommen laten, övern geringen Mann sick lustig to maken, un wöört ook man’n Swinegel. Un tweetens, datt et gerahden is, wenn eener
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Die sieben Schwaben (KHM 119)
freet, datt he sick ’ne Fro uut sienem Stande nimmt, un de jüst so uutsüht as he sülwst. Wer also en Swinegel is, de mutt tosehn datt siene Fro ook en Swinegel is, un so wieder.
Die sieben Schwaben (KHM 119) Einmal waren sieben Schwaben beisammen, der erste war der Herr Schulz, der zweite der Jackli, der dritte der Marli, der vierte der Jergli, der fünfte der Michal, der sechste der Hans, der siebente der Veitli; die hatten alle siebene sich vorgenommen die Welt zu durchziehen, Abenteuer zu suchen und große Thaten zu vollbringen. Damit sie aber auch mit bewaffneter Hand und sicher giengen, sahen sies für gut an, daß sie sich zwar nur einen einzigen aber recht starken und langen Spieß machen ließen. Diesen Spieß faßten sie alle siebene zusammen an, vorn gieng der kühnste und männlichste, das mußte der Herr Schulz sein, und dann folgten die andern nach der Reihe und der Veitli war der letzte. Nun geschah es, als sie im Heumonat eines Tags einen weiten Weg gegangen waren, auch noch ein gut Stück bis in das Dorff hatten, wo sie über Nacht bleiben mußten, daß in der Dämmerung auff einer Wiese ein großer Roßkäfer oder eine Hornisse nicht weit von ihnen hinter einer Staude vorbeiflog und feindlich brummelte. Der Herr Schulz erschrack, daß er fast den Spieß hätte fallen lassen und ihm der Angst schweiß am ganzen Leibe ausbrach. ‘Horcht, horcht,’ rieff er seinen Gesellen, ‘Gott, ich höre eine Trommel!’ Der Jackli, der hinter ihm den Spieß hielt und dem ich weiß nicht was für ein Geruch in die Nase kam, sprach ‘etwas ist ohne Zweifel vorhanden, denn ich schmeck das Pulver und den Zündstrick.’ Bei diesen Worten hub der Herr Schulz an die Flucht zu ergreifen, und sprang im Hui über einen Zaun, weil er aber gerade auf die Zinken eines Rechen sprang, der vom Heumachen da liegen geblieben war, so fuhr ihm der Stiel ins Gesicht und gab ihm einen ungewaschenen Schlag. ‘O wei, o wei,’ schrie der Herr Schulz, ‘nimm mich gefangen, ich ergeb mich, ich ergeb mich!’ Die andern sechs hüpften auch alle einer über den andern herzu und schrien ‘gibst du dich, so geb ich mich auch, gibst du dich, so geb ich mich auch.’ Endlich, wie kein Feind da war, der sie binden und fortführen wollte, merkten sie daß sie betrogen waren: und damit die Geschichte nicht unter die Leute käme, und sie nicht genarrt und gespottet würden, verschwuren sie sich unter einander so lang davon still zu schweigen, bis einer unverhofft das Maul aufthäte. Hierauff zogen sie weiter. Die zweite Gefährlichkeit, die sie erlebten, kann aber mit der ersten nicht verglichen werden. Nach etlichen Tagen trug sie ihr Weg durch ein Brachfeld, da saß ein Hase in der Sonne und schlief, streckte die Ohren in die Höhe, Da erschraken sie bei dem Anblick des grausamen und wilden Thieres insgesammt und hielten Rath was zu thun das wenigst gefährliche wäre. Denn so sie fliehen wollten, war zu besorgen, das Ungeheuer setzte ihnen nach und verschlänge sie alle mit Haut und Haar. Also sprachen sie ‘wir müssen einen großen und gefährlichen Kampff bestehen, frisch gewagt ist halb gewonnen!’ faßten alle siebene den Spieß an, der Herr Schulz vorn und der Veitli hinten. Der Herr Schulz wollte den Spieß noch immer anhalten, der Veitli aber war hinten ganz muthig geworden, wollte losbrechen und rief
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
‘stoß zu in aller Schwabe Name, sonst wünsch i, daß ihr möcht erlahme.’ Aber der Hans wußt ihn zu treffen und sprach ‘beim Element, du hascht gut schwätze, bischt stets der letscht beim Drachehetze.’ Der Michal rief ‘es wird nit fehle um ei Haar, so ischt es wohl der Teufel gar.’ Drauff kam an den Jergli die Reihe der sprach ‘ischt er es nit, so ischts sei Muter oder des Teufels Stiefbruder.’ Der Marli hatte da einen guten Gedanken und sagte zum Veitli ‘gang, Veitli, gang, gang du voran, i will dahinte vor di stahn.’ Der Veitli hörte aber nicht drauff und der Jackli sagte ‘der Schulz, der muß der erschte sei, denn ihm gebührt die Ehr allei.’ Da nahm sich der Herr Schulz ein Herz und sprach gravitätisch ‘so zieht denn herzhaft in den Streit, hieran erkennt man tapfre Leut.’ Da giengen sie insgesammt auff den Drachen los. Der Herr Schulz segnete sich und rieff Gott um Beistand an: wie aber das alles nicht helfen wollte und er dem Feind immer näher kam, schrie er in großer Angst ‘hau! hurlehau! hau! hauhau!’ Davon erwachte der Has, erschrack und sprang eilig davon. Als ihn der Herr Schulz so feldflüchtig sah, da rieff er voll Freude ‘potz, Veitli, lueg, lueg, was isch das? das Ungehüer ischt a Has.’ Der Schwabenbund suchte aber weiter Abenteuer und kam an die Mosel, ein mosiges, stilles und tiefes Wasser, darüber nicht viel Brücken sind, sondern man an mehrern Orten sich muß in Schiffen überfahren lassen. Weil die sieben Schwaben dessen unberichtet waren, riefen sie einem Mann, der jenseits des Wassers seine Arbeit vollbrachte, zu, wie man doch hinüber kommen könnte. Der Mann verstand wegen der Weite und wegen ihrer Sprache nicht was sie wollten, und fragte auff sein trierisch ‘wat? wat?’ Da meinte der Herr Schulz er spräche nicht anders als ‘wade, wade durchs Wasser,’ und hub an, weil er der Vorderste war, sich auff den Weg zu machen
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Rothkäppchen (KHM 26)
und in die Mosel hineinzugehen. Nicht lang, so versank er in den Schlamm und in die antreibenden tiefen Wellen, seinen Hut aber jagte der Wind hinüber an das jenseitige Ufer, und ein Frosch setzte sich dabei und quackte ‘wat, wat, wat.’ Die sechs andern hörten das drüben und sprachen ‘unser Gesell, der Herr Schulz, ruft uns, kann er hinüber waden, warum wir nicht auch?’ Sprangen darum eilig alle zusammen in das Wasser und ertranken, also daß ein Frosch ihrer sechse ums Leben brachte, und niemand von dem Schwabenbund wieder nach Haus kam.
Rothkäppchen (KHM 26) Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rothem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm ‘komm, Rothkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auff bevor es heiß wird, und wenn du hinaus kommst, so geh hübsch sittsam und lauff nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in alle Ecken herum.’ ‘Ich will schon alles gut machen’ sagte Rothkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rothkäppchen aber wußte nicht was das für ein böses Thier war und fürchtete sich nicht vor ihm. ‘Guten Tag, Rothkäppchen,’ sprach er. ‘Schönen Dank, Wolf.’ ‘Wo hinaus so früh, Rothkäppchen?’ ‘Zur Großmutter.’ ‘Was trägst du unter der Schürze?’ ‘Kuchen und Wein: gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zu gut thun, und sich damit stärken.’ ‘Rothkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?’ ‘Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nußhecken, das wirst du ja wissen’ sagte Rothkäppchen. Der Wolff dachte bei sich ‘das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du mußt es listig anfangen, damit du beide erschnappst.’ Da gieng er ein Weilchen neben Rothkäppchen her, dann sprach er ‘Rothkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die rings umher stehen, warum guckst du dich nicht um? ich glaube du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? du gehst ja für dich hin als wenn du zur Schule giengst, und ist so lustig haußen in dem Wald.’ Rothkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten, und alles voll schöner Blumen stand, dachte es ‘wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, daß ich doch zu rechter Zeit ankomme,’ lieff vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es weiter hinaus stände eine schönere, und lieff darnach, und gerieth immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolff aber gieng geradeswegs nach dem Haus der Großmutter, und klopfte an die Thüre. ‘Wer ist draußen?’ ‘Rothkäppchen, das bringt Kuchen und
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Wein, mach auf.’ ‘Drück nur auff die Klinke,’ rieff die Großmutter, ‘ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.’ Der Wolff drückte auff die Klinke, die Thüre sprang auf und er gieng, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann that er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor. Rothkäppchen aber war nach den Blumen herum gelaufen, und als es so viel zusammen hatte, daß es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein und es machte sich auff den Weg zu ihr. Es wunderte sich daß die Thüre aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, daß es dachte ‘ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mirs heute zu Muth, und bin sonst so gerne bei der Großmutter!’ Es rieff ‘guten Morgen,’ bekam aber keine Antwort. Darauff gieng es zum Bett und zog die Vorhänge zurück: da lag die Großmutter, und hatte die Haube tieff ins Gesicht gesetzt und sah so wunder lich aus. ‘Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!’ ‘Daß ich dich besser hören kann.’ ‘Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!’ ‘Daß ich dich besser sehen kann.’ ‘Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!’ ‘Daß ich dich besser packen kann.’ ‘Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!’ ‘Daß ich dich besser fressen kann.’ Kaum hatte der Wolff das gesagt, so that er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rothkäppchen. Wie der Wolff sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlieff ein und fieng an überlaut zu schnarchen. Der Jäger gieng eben an dem Haus vorbei und dachte ‘wie die alte Frau schnarcht, du mußt doch sehen ob ihr etwas fehlt.’ Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er daß der Wolff darin lag. ‘Finde ich dich hier, du alter Sünder,’ sagte er, ‘ich habe dich lange gesucht.’ Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein der Wolff könnte die Großmutter gefressen haben, und sie wäre noch zu retten: schoß nicht, sondern nahm eine Scheere und fieng an dem schlafenden Wolff den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte gethan hatte, da sah er das rothe Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rieff ‘ach, wie war ich erschrocken, wie wars so dunkel in dem Wolff seinem Leib!’ Und dann kam die alte Groß mutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum athmen. Rothkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolff den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er gleich niedersank und sich todt fiel. Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolff den Pelz ab und gieng damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein den Rothkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rothkäppchen aber dachte ‘du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutter verboten hat.’
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Es wird auch erzählt, daß einmal, als Rothkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolff ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen. Rothkäppchen aber hütete sich und gieng gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter daß es dem Wolff begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: ‘wenns nicht auff offner Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.’ ‘Komm,’ sagte die Großmutter, ‘wir wollen die Thüre verschließen, daß er nicht herein kann.’ Bald darnach klopfte der Wolff an und rieff ‘mach auf, Großmutter, ich bin das Rothkäppchen, ich bring dir Gebackenes.’ Sie schwiegen aber still und machten die Thüre nicht auf: da schlich der Graukopf etlichemal um das Haus, sprang endlich aufs Dach und wollte warten bis Rothkäpp-
König g Drosselbart (KHM 52)
chen Abends nach Haus gienge, dann wollte er ihm nachschleichen und wollts in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte was er im Sinn hatte. Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, da sprach sie zu dem Kind ‘nimm den Eimer, Rothkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.’ Rothkäppchen trug so lange, bis der große große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolff in die Nase, er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, daß er sich nicht mehr halten konnte, und anfieng zu rutschen: so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein und ertrank. Rothkäppchen aber gieng fröhlich nach Haus, und that ihm niemand etwas zu Leid.
König Drosselbart (KHM 52) Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Maßen schön, aber dabei so stolz und übermüthig, daß ihr kein Freier gut genug war. Sie wies einen nach dem andern ab, und trieb noch dazu Spott mit ihnen. Einmal ließ der König ein großes Fest anstellen, und ladete dazu aus der Nähe und Ferne die heirathslustigen Männer ein. Sie wurden alle in eine Reihe nach Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzöge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun ward die Königstochter durch die Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick, ‘das Weinfaß!’ sprach sie. Der andere zu lang, ‘lang und schwank hat keinen Gang.’ Der dritte zu kurz, ‘kurz und dick hat kein Geschick.’ Der vierte zu blaß, ‘der bleiche Tod!’ der fünfte zu roth, ‘der Zinshahn!’ der sechste war nicht gerad genug, ‘grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!’ Und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand, und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. ‘Ei,’ rieff sie und lachte, ‘der hat ein Kinn, ‘ach, wem gehört der schöne Wald?’ ‘Der gehört dem König Drosselbart; hättst du’n genommen, so wär er dein.’ ‘Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!’
Darauff kamen sie über eine Wiese, da fragte sie wieder ‘wem gehört die schöne grüne Wiese?’ ‘Sie gehört dem König Drosselbart; hättst du’n genommen, so wär sie dein.’ ‘Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!’
Dann kamen sie durch eine große Stadt, da fragte sie wieder ‘wem gehört diese schöne große Stadt?’
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
‘Sie gehört dem König Drosselbart; hättst du’n genommen, so wär sie dein.’ ‘Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!’
‘Es gefällt mir gar nicht,’ sprach der Spielmann, ‘daß du dir immer einen andern zum Mann wünschest: bin ich dir nicht gut genug?’
Endlich kamen sie an ein ganz kleines Häuschen, da sprach sie ‘ach, Gott, was ist das Haus so klein! wem mag das elende winzige Häuschen sein?’ Der Spielmann antwortete ‘das ist mein und dein Haus, wo wir zusammen wohnen.’ Sie mußte sich bücken, damit sie zu der niedrigen Thür hinein kam. ‘Wo sind die Diener?’ sprach die Königstochter. ‘Was Diener!’ antwortete der Bettelmann, ‘du mußt selber thun was du willst gethan haben. Mach nur gleich Feuer an und stell Wasser auf, daß du mir mein Essen kochst; ich bin ganz müde.’ Die Königstochter verstand aber nichts vom Feueranmachen und Kochen, und der Bettelmann mußte selber mit Hand anlegen, daß es noch so leidlich gieng. Als sie die schmale Kost verzehrt hatten, legten sie sich zu Bett: aber am Morgen trieb er sie schon ganz früh heraus, weil sie das Haus besorgen sollte. Ein paar Tage lebten sie auff diese Art schlecht und recht, und zehrten ihren Vorrath auf. Da sprach der Mann ‘Frau, so gehts nicht länger, daß wir hier zehren und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten.’ Er gieng aus, schnitt Weiden, und brachte sie heim: da fieng sie an zu flechten, aber die harten Weiden stachen ihr die zarten Hände wund. ‘Ich sehe das geht nicht,’ sprach der Mann, ‘spinn lieber, vielleicht kannst du das besser.’ Sie setzte sich hin, und versuchte zu spinnen, aber der harte Faden schnitt ihr bald in die weichen Finger, daß das Blut daran herunter lief. ‘Siehst du,’ sprach der Mann, ‘du taugst zu keiner Arbeit, mit dir bin ich schlimm angekommen. Nun will ichs versuchen, und einen Handel mit Töpfen und irdenem Geschirr anfangen: du sollst dich auff den Markt setzen, und die Waare feil halten.’ ‘Ach,’ dachte sie, ‘wenn auff den Markt Leute aus meines Vaters Reich kommen, und sehen mich da sitzen und feil halten, wie werden sie mich verspotten!’ Aber es halff nichts, sie mußte sich fügen, wenn sie nicht Hungers sterben wollten. Das erstemal gings gut, denn die Leute kauften der Frau, weil sie schön war, gern ihre Waare ab, und bezahlten was sie forderte: ja, viele gaben ihr das Geld, und ließen ihr die Töpfe noch dazu. Nun lebten sie von dem erworbenen so lang es dauerte, da handelte der Mann wieder eine Menge neues Geschirr ein. Sie setzte sich damit an eine Ecke des Marktes, und stellte es um sich her, und hielt feil. Da kam plötzlich ein trunkener Husar daher gejagt, und ritt gerade zu in die Töpfe hinein, daß alles in tausend Scherben zersprang. Sie fieng an zu weinen und wußte vor Angst nicht was sie anfangen sollte. ‘Ach, wie wird mirs ergehen!’ rieff sie, ‘was wird mein Mann dazu sagen!’ Sie lieff heim und er zählte ihm das Unglück. ‘Wer setzt sich auch an die Ecke des Marktes mit irdenem Geschirr!’ sprach der Mann, ‘laß nur das Weinen, ich sehe wohl du bist zu keiner ordentlichen Arbeit zu gebrauchen. Da bin ich in unseres Königs Schloß gewesen und habe gefragt ob sie nicht eine Küchenmagd brauchen könnten, und sie haben mir versprochen sie wollten dich dazu nehmen; dafür bekommst du freies Essen.’
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Frau Holle (KHM 24)
Nun ward die Königstochter eine Küchenmagd, mußte dem Koch zur Hand gehen und die sauerste Arbeit thun. Sie machte sich in beiden Taschen ein Töpfchen fest, darin brachte sie nach Haus was ihr von dem übrig gebliebenen zu Theil ward, und davon nährten sie sich. Es trug sich zu, daß die Hochzeit des ältesten Königssohnes sollte gefeiert werden, da gieng die arme Frau hinauf, stellte sich vor die Saalthüre und wollte zusehen. Als nun die Lichter angezündet waren, und immer einer schöner als der andere hereintrat, und alles voll Pracht und Herrlichkeit war, da dachte sie mit betrübtem Herzen an ihr Schicksal, und verwünschte ihren Stolz und Übermuth, der sie erniedrigt und in so große Armuth gestürzt hatte. Von den köstlichen Speisen, die da ein und ausgetragen wurden, und von welchen der Geruch zu ihr aufstieg, warfen ihr Diener manchmal ein paar Brocken zu, die that sie in ihr Töpfchen, und wollte es heim tragen. Auff einmal trat der Königssohn herein, war in Sammt und Seide gekleidet und hatte goldene Ketten um den Hals. Und als er die schöne Frau in der Thüre stehen sah, ergrifff er sie bei der Hand, und wollte mit ihr tanzen, aber sie weigerte sich und erschrack, denn sie sah daß es der König Drosselbart war, der um sie gefreit und den sie mit Spott abgewiesen hatte. Ihr Sträuben halff nichts, er zog sie in den Saal: da zerriß das Band, an welchem die Taschen hiengen, und die Töpfe fielen heraus, daß die Suppe floß und die Brocken umher sprangen. Und wie das die Leute sahen, entstand ein allgemeines Gelächter und Spotten, und sie war so beschämt, daß sie sich lieber tausend Klafter unter die Erde gewünscht hätte. Sie sprang zur Thüre hinaus und wollte entfliehen, aber auff der Treppe holte sie ein Mann ein, und brachte sie zurück: und wie sie ihn ansah, war es wieder der König Drosselbart. Er sprach ihr freundlich zu, ‘fürchte dich nicht, ich und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen gewohnt hat, sind eins: dir zu Liebe habe ich mich so verstellt, und der Husar, der dir die Töpfe entzwei geritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen, und dich für deinen Hochmuth zu strafen, womit du mich verspottet hast.’ Da weinte sie bitterlich und sagte ‘ich habe großes Unrecht gehabt und bin nicht werth deine Frau zu sein.’ Er aber sprach ‘tröste dich, die bösen Tage sind vorüber, jetzt wollen wir unsere Hochzeit feiern.’ Da kamen die Kammerfrauen und thaten ihr die prächtigsten Kleider an, und ihr Vater kam und der ganze Hof, und wünschten ihr Glück zu ihrer Vermählung mit dem König Drosselbart, und die rechte Freude fieng jetzt erst an. Ich wollte, du und ich, wir wären auch dabei gewesen.
Frau Holle (KHM 24) Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit thun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auff die große Straße bei einem Brunnen setzen, und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen: sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lieff zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach ‘hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.’ Da gieng das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht was es anfangen sollte: und in seiner Herzensangst
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auff einer schönen Wiese wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auff dieser Wiese gieng es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rieff ‘ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.’ Da trat es herzu, und holte mit dem Brotschieber alles nach einander heraus. Danach gieng es weiter und kam zu einem Baum, der hieng voll Äpfel, und rieff ihm zu ‘ach schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle mit einander reif.’ Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen als regneten sie, und schüttelte bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, gieng es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rieff ihm nach ‘was fürchtest du dich, liebes Kind? bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll dirs gut gehn. Du mußt nur Acht geben daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.’ Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit, und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auff daß die Federn wie Schneeflocken umher flogen; dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort, und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da ward es traurig und wußte anfangs selbst nicht was ihm fehlte, endlich merkte es daß es Heimweh war; ob es ihm hier gleich viel tausendmal besser gieng als zu Haus, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr ‘ich habe den Jammer nach Haus kriegt, und wenn es mir auch noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger bleiben, ich muß wieder hinauff zu den Meinigen.’ Die Frau Holle sagte ‘es gefällt mir, daß du wieder nach Haus verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinauff bringen.’ Sie nahm es darauff bei der Hand und führte es vor ein großes Thor. Das Thor ward aufgethan, und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war. ‘Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist’ sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war. Darauff ward das Thor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auff der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus: und als es in den Hoff kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief ‘kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.’ Da gieng es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und der Schwester gut aufgenommen. Das Mädchen erzählte alles, was ihm begegnet war, und als die Mutter hörte wie es zu dem großen Reichthum gekommen war, wollte sie der andern häßlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück verschaffen. Sie mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre Spule blutig ward, stach sie sich in die Finger und stieß sich die Hand in die Dornhecke. Dann warff sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auff die schöne Wiese und gieng auff demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder ‘ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.’ Die Faule aber antwortete ‘da hätt ich Lust mich schmutzig zu machen,’ und
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Derr Froschkönig oderr derr eiserne Heinrich (KHM 1)
gieng fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rieff ‘ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle mit einander reif.’ Sie antwortete aber ‘du kommst mir recht, es könnte mir einer auff den Kopff fallen,’ und gieng damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich zu ihr. Am ersten Tag that sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde; am zweiten Tag aber fieng sie schon an zu faullenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie Morgens gar nicht aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht wie sichs gebührte, und schüttelte es nicht, daß die Federn aufflogen. Das ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und meinte nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle führte sie auch zu dem Thor, als sie aber darunter stand, ward statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. ‘Das ist zur Belohnung deiner Dienste’ sagte die Frau Holle und schloß das Thor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auff dem Brunnen, als er sie sah, rief ‘kikeriki, unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie.’ Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen.
Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KHM 1) In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warff sie in die Höhe und fieng sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auff die Erde schlug und geradezu ins Wasser hinein rollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tieff daß man keinen Grund sah. Da fieng sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rieff ihr jemand zu ‘was hast du vor, Königstochter, du schreist ja daß sich ein Stein erbarmen möchte.’ Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken häßlichen Kopff aus dem Wasser streckte. ‘Ach, du bists, alter Wasserpatscher,’ sagte sie, ‘ich weine über meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen hinab gefallen ist.’ ‘Sei still und weine nicht,’ antwortete der Frosch, ‘ich kann wohl Rath schaffen, aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?’ ‘Was du haben willst, lieber Frosch,’ sagte sie, ‘meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die goldene Krone, die ich trage.’ Der Frosch antwortete ‘deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine, und
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
deine goldene Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinunter steigen und dir die goldene Kugel wieder herauff holen.’ ‘Ach ja,’ sagte sie, ‘ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel wieder bringst.’ Sie dachte aber ‘was der einfältige Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seines Gleichen und quackt, und kann keines Menschen Geselle sein.’ Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauch te seinen Kopf unter, sank hinab und über ein Weilchen kam er wieder herauff gerudert, hatte die Kugel im Maul und warff sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auff und sprang damit fort. ‘Warte, warte,’ rieff der Frosch, ‘nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du.’ Aber was halff ihm daß er ihr sein quack quack so laut nachschrie als er konnte! sie hörte nicht darauf, eilte nach Haus und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in seinen Brunnen hinab steigen mußte. Am andern Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zur Tafel gesetzt hatte und von ihrem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe herauff gekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an der Thür und rieff ‘Königstochter, jüngste, mach mir auf.’ Sie lieff und wollte sehen wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warff sie die Thür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und war ihr ganz angst. Der König sah wohl daß ihr das Herz gewaltig klopfte und sprach ‘mein Kind, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Thür und will dich holen?’ ‘Ach nein,’ antwortete sie, ‘es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch.’ ‘Was will der Frosch von dir?’ ‘Ach lieber Vater, als ich gestern im Wald bei dem Brunnen saß und spielte, da fiel meine goldene Kugel ins Wasser. Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm er sollte mein Geselle werden, ich dachte aber nimmermehr daß er aus seinem Wasser heraus könnte. Nun ist er draußen und will zu mir herein.’ Indem klopfte es zum zweitenmal und rief ‘Königstochter, jüngste, mach mir auf, weißt du nicht was gestern du zu mir gesagt bei dem kühlen Brunnenwasser? Königstochter, jüngste, mach mir auf.’
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Da sagte der König ‘was du versprochen hast, das mußt du auch halten; geh nur und mach ihm auf.’ Sie gieng und öffnete die Thüre, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auff dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und rieff ‘heb mich herauf zu dir.’ Sie zauderte bis es endlich der König befahl. Als der Frosch erst auff dem Stuhl war, wollte er auff den Tisch, und als er da saß, sprach er ‘nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen.’ Das that sie zwar, aber man sah wohl daß sies nicht gerne that. Der Frosch ließ sichs gut schmecken, aber ihr blieb fast jedes Bißlein im Halse. Endlich sprach er ‘ich habe mich satt gegessen, und bin müde,
Die drei Brüderr (KHM 124)
nun trag mich in dein Kämmerlein und mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.’ Die Königstochter fieng an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren getraute, und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber ward zornig und sprach ‘wer dir geholfen hat, als du in der Noth warst, den sollst du hernach nicht verachten.’ Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauff und setzte ihn in eine Ecke. Als sie aber im Bett lag, kam er gekrochen und sprach ‘ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du: heb mich herauf, oder ich sags deinem Vater.’ Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauff und warff ihn aus allen Kräften wider die Wand, ‘nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch.’ Als er aber herab fiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und Niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen heran gefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auff dem Kopf, und giengen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, daß er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hinten auff und war voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn daß es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief ‘Heinrich, der Wagen bricht.’ ‘Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als ihr in dem Brunnen saßt, als ihr eine Fretsche (Frosch) wast (wart).’ Noch einmal und noch einmal krachte es auff dem Weg, und der Königssohn meinte immer der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.
Die drei Brüder (KHM 124) Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts im Vermögen als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater war aber einer so lieb als der andere, da wußte er nicht wie ers anfangen sollte, daß er keinem zu nahe thät; verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weils von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter sie getheilt. Da fiel ihm endlich ein Rath ein und er sprach zu seinen Söhnen ‘geht in die Welt und versucht euch und
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
lerne jeder sein Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, wer das beste Meisterstück macht, der soll das Haus haben.’ Das waren die Söhne zufrieden, und der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein Barbier, der dritte aber ein Fechtmeister werden. Darauff bestimmten sie eine Zeit, wo sie wieder nach Haus zusammen kommen wollten, und zogen fort. Es traff sich auch, daß jeder einen tüchtigen Meister fand, wo er was rechtschaffenes lernte. Der Schmied mußte des Königs Pferde beschlagen und dachte ‘nun kann dirs nicht fehlen, du kriegst das Haus.’ Der Barbier rasierte lauter vornehme Herren und meinte auch das Haus wäre schon sein. Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biß aber die Zähne zusammen und ließ sichs nicht verdrießen, denn er dachte bei sich ‘fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.’ Als nun die gesetzte Zeit herum war, kamen sie bei ihrem Vater wieder zusammen; sie wußten aber nicht wie sie die beste Gelegenheit finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und rathschlagten. Wie sie so saßen, kam auff einmal ein Hase übers Feld daher gelaufen. ‘Ei,’ sagte der Barbier, ‘der kommt wie gerufen,’ nahm Becken und Seife, schaumte so lange, bis der Hase in die Nähe kam, dann seifte er ihn in vollem Laufe ein, und rasierte ihm auch in vollem Laufe ein Stutzbärtchen, und dabei schnitt er ihn nicht und that ihm an keinem Haare weh. ‘Das gefällt mir,’ sagte der Vater, ‘wenn sich die andern nicht gewaltig angreifen, so ist das Haus dein.’ Es währte nicht lang, so kam ein Herr in einem Wagen daher gerennt in vollem Jagen. ‘Nun sollt ihr sehen, Vater, was ich kann,’ sprach der Hufschmied, sprang dem Wagen nach, riß dem Pferd, das in einem fort jagte, die vier Hufeisen ab und schlug ihm auch im Jagen vier neue wieder an. ‘Du bist ein ganzer Kerl,’ sprach der Vater, ‘du machst deine Sachen so gut, wie dein Bruder; ich weiß nicht wem ich das Haus geben soll.’ Da sprach der dritte ‘Vater, laßt mich auch einmal gewähren,’ und weil es anfieng zu regnen, zog er seinen Degen und schwenkte ihn in Kreuzhieben über seinen Kopf, daß kein Tropfen auff ihn fiel: und als der Regen stärker ward, und endlich so stark, als ob man mit Mulden vom Himmel göße, schwang er den Degen immer schneller und blieb so trocken, als säß er unter Dach und Fach. Wie der Vater das sah, erstaunte er und sprach ‘du hast das beste Meisterstück gemacht, das Haus ist dein.’ Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden, wie sie vorher gelobt hatten, und weil sie sich einander so lieb hatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr Handwerk; und da sie so gut ausgelernt hatten und so geschickt waren, verdienten sie viel Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen, und als der eine krank ward und starb, grämten sich die zwei andern so sehr darüber, daß sie auch krank wurden und bald starben. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt.
Das Räthsel (KHM 22) Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust in der Welt umher zu ziehen und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tags gerieth er in einen großen Wald, und als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wußte nicht wo er die Nacht zubringen sollte. Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zu gieng, und als er näher kam, sah er daß das Mädchen jung und schön war. Er redete es an und sprach ‘liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen
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Das Räthsel (KHM 22)
für die Nacht ein Unterkommen finden?’ ‘Ach ja,’ sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, ‘das könnt ihr wohl, aber ich rathe euch nicht dazu; geht nicht hinein.’ ‘Warum soll ich nicht?’ fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach ‘meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meints nicht gut mit den Fremden.’ Da merkte er wohl daß er zu dem Haus einer Hexe gekommen war, doch weil es finster ward, und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, so trat er ein. Die Alte saß auff einem Lehnstuhl beim Feuer, und sah mit ihren rothen Augen die Fremden an. ‘Guten Abend,’ schnarrte sie, und that ganz freundlich, ‘laßt euch nieder, und ruht euch aus.’ Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen Topff etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke. Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen. Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde saß, sprach die Alte ‘warte, einen Augenblick, ich will euch erst einen Abschiedstrank reichen.’ Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel fest schnallen mußte, war allein noch zugegen, als die böse Hexe mit dem Trank kam. ‘Das bring deinem Herrn’ sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas und das Gift spritzte auff das Pferd, und war so heftig daß das Thier gleich todt hinstürzte. Der Diener lieff seinem Herrn nach und erzählte ihm was geschehen war, wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lieff zurück um ihn zu holen. Wie er aber zu dem todten Pferde kam, saß schon ein Rabe darauff und fraß davon. ‘Wer weiß ob wir heute noch etwas besseres finden,’ sagte der Diener, tödtete den Raben und nahm ihn mit. Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber nicht heraus kommen. Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirthshaus und giengen hinein. Der Diener gab dem Wirth den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube gerathen, und in der Dunkelheit kamen zwölff Mörder und wollten die Fremden umbringen und berauben. Eh sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch und der Wirth und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie aßen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war. Kaum aber hatten sie ein paar Bissen hinunter geschluckt, so fielen sie alle todt nieder, denn dem Raben hatte sich das Gift von dem Pferdefleisch mitgetheilt. Es war nun niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des Wirths, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Theil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Thüren und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon und ritt mit seinem Diener weiter. Nachdem sie lange herum gezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne aber übermüthige Königstochter war, die hatte bekannt machen lassen wer ihr ein Räthsel vorlegte das sie nicht errathen könnte, der sollte ihr Gemahl werden: erriethe sie es aber, so müßte er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit sich zu besinnen, sie war aber so klug daß sie immer die vorgelegten Räthsel vor der bestimmten Zeit errieth. Schon waren neune auff diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte und von ihrer großen Schönheit geblendet sein Leben daran setzen wollte. Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Räthsel auf, ‘was ist das,’ sagte er, ‘einer schlug keinen und schlug doch zwölfe.’ Sie wußte nicht was das war, sie sann und sann, aber sie brachte es nicht heraus: sie schlug ihre Räthselbücher auf, aber es stand nicht darin: kurz ihre Weisheit war zu Ende. Da sie sich nicht zu helfen wußte, befahl sie ihrer Magd in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte sie seine Träume behorchen, und dachte er rede vielleicht im Schlaff und verrathe das Räthsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt und als die
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Magd heran kam, riß er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruthen hinaus. In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen ob es ihr mit Horchen besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg, und jagte sie mit Ruthen hinaus. Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und legte sich in sein Bett, da kam die Königstochter selbst, hatte einen nebelgrauen Mantel umgethan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte er schliefe und träumte, so redete sie ihn an und hoffte er werde im Traume antworten, wie viele thun: aber er war wach und verstand und hörte alles sehr wohl. Da fragte sie ‘einer schlug keinen, was ist das?’ Er antwortete ‘ein Rabe der von einem todten und vergifteten Pferde fraß und davon starb.’ Weiter fragte sie ‘und schlug doch zwölfe, was ist das?’ ‘Das sind zwölff Mörder, die den Raben verzehrten und daran starben.’ Als sie das Räthsel wußte, wollte sie sich fortschleichen, aber er hielt ihren Mantel fest, daß sie ihn zurücklassen mußte. Am andern Morgen verkündigte die Königstochter sie habe das Räthsel errathen, und ließ die zwölff Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat sich Gehör aus, und sagte ‘sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht errathen.’ Die Richter sprachen ‘bringt uns ein Wahrzeichen.’ Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbei gebracht, und als die Richter den nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie ‘laßt den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wirds euer Hochzeitsmantel sein.’
Die kluge Bauerntochter (KHM 94)
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Es war einmal ein armer Bauer, der hatte kein Land, nur ein kleines Häuschen und eine alleinige Tochter, da sprach die Tochter ‘wir sollten den Herrn König um ein Stückchen Rottland bitten.’ Da der König ihre Armuth hörte, schenkte er ihnen auch ein Eckchen Rasen, den hackte sie und ihr Vater um, und wollten ein wenig Korn und der Art Frucht darauff säen. Als sie den Acker beinah herum hatten, so fanden sie in der Erde einen Mörsel von purem Gold. ‘Hör,’ sagte der Vater zu dem Mädchen, ‘weil unser Herr König ist so gnädig gewesen und hat uns diesen Acker geschenkt, so müssen wir ihm den Mörsel dafür geben.’ Die Tochter aber wollt es nicht bewilligen und sagte ‘Vater, wenn wir den Mörsel haben und haben den Stößer nicht, dann müssen wir auch den Stößer herbei schaffen, darum schweigt lieber still.’ Er wollte ihr aber nicht gehorchen, nahm den Mörsel, trug ihn zum Herrn König und sagte den hätte er gefunden in der Heide, ob er ihn als eine Verehrung annehmen wollte. Der König nahm den Mörsel und fragte ob er nichts mehr gefunden hätte? ‘Nein,’ antwortete der Bauer. Da sagte der König er sollte nun auch den Stößer her beischaffen. Der Bauer sprach den hätten sie nicht gefunden; aber das halff ihm so viel, als hätt ers in den Wind gesagt, er ward ins Gefängnis gesetzt, und sollte so lange da sitzen, bis er den Stößer herbeigeschafft hätte. Die Bedienten mußten ihm täglich Wasser und Brot bringen, was man so in dem Gefängnis kriegt, da hörten sie, wie der Mann als fort schrie ‘ach, hätt ich meiner Tochter gehört! ach, ach, hätt ich meiner Tochter gehört!’ Da giengen die Bedienten zum König und sprachen das, wie der Gefangene als fort schrie ‘ach, hätt ich doch meiner Tochter gehört!’ und wollte nicht essen und nicht trinken. Da befahl er den Bedienten sie sollten den Gefangenen vor ihn bringen, und da fragte ihn der Herr König warum er also fort schrie ‘ach, hätt ich meiner Tochter gehört!’ ‘Was hat eure Tochter denn gesagt?’ ‘Ja sie hat gesprochen ich sollte den
Die kluge Bauerntochterr (KHM 94)
Mörsel nicht bringen, sonst müßt ich auch den Stößer schaffen.’ ‘Habt ihr so eine kluge Tochter, so laßt sie einmal herkommen.’ Also mußte sie vor den König kommen, der fragte sie ob sie denn so klug wäre, und sagte er wollte ihr ein Räthsel aufgeben, wenn sie das treffen könnte, dann wollte er sie heirathen. Da sprach sie gleich ja, sie wollts errathen. Da sagte der König ‘komm zu mir, nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg, und wenn du das kannst, will ich dich heirathen.’ Da gieng sie hin, und zog sich aus splinternackend, da war sie nicht gekleidet, und nahm ein großes Fischgarn, und setzte sich hinein und wickelte es ganz um sich herum, da war sie nicht nackend: und borgte einen Esel fürs Geld und band dem Esel das Fischgarn an den Schwanz, darin er sie fortschleppen mußte, und war das nicht geritten und nicht gefahren: der Esel mußte sie aber in der Fahrgleise schleppen, so daß sie nur mit der großen Zehe auf die Erde kam, und war das nicht in dem Weg und nicht außer dem Wege. Und wie sie so daher kam, sagte der König sie hätte das Räthsel getroffen, und es wäre alles erfüllt. Da ließ er ihren Vater los aus dem Gefängnis, und nahm sie bei sich als seine Gemahlin und befahl ihr das ganze königliche Gut an. Nun waren etliche Jahre herum, als der Herr König einmal auf die Parade zog, da trug es sich zu daß Bauern mit ihren Wagen vor dem Schloß hielten, die hatten Holz verkauft; etliche hatten Ochsen vorgespannt, und etliche Pferde. Da war ein Bauer, der hatte drei Pferde, davon kriegte eins ein junges Füllchen, das lieff weg und legte sich mitten zwischen zwei Ochsen, die vor dem Wagen waren. Als nun die Bauern zusammen kamen, fiengen sie an sich zu zanken, zu schmeißen und zu lärmen, und der Ochsenbauer wollte das Füllchen behalten und sagte die Ochsen hättens gehabt: und der andere sagte nein, seine Pferde hättens gehabt, und es wäre sein. Der Zank kam vor den König, und der that den Ausspruch wo das Füllen gelegen hätte, da sollt es bleiben; und also bekams der Ochsenbauer, dems doch nicht gehörte. Da gieng der andere weg, weinte und lamentierte über sein Füllchen. Nun hatte er gehört wie daß die Frau Königin so gnädig wäre, weil sie auch von armen Bauersleuten gekommen wäre: gieng er zu ihr und bat sie ob sie ihm nicht helfen könnte daß er sein Füllchen wieder bekäme. Sagte sie ‘ja, wenn ihr mir versprecht daß ihr mich nicht verrathen wollt, so will ichs euch sagen. Morgen früh, wenn der König auff der Wachtparade ist, so stellt euch hin mitten in die Straße, wo er vorbei kommen muß, nehmt ein großes Fischgarn und thut als fischtet ihr, und fischt also fort und schüttet das Garn aus, als wenn ihrs voll hättet,’ und sagte ihm auch was er antworten sollte, wenn er vom König gefragt würde. Also stand der Bauer am andern Tag da und fischte auff einem trockenen Platz. Wie der König vorbei kam und das sah, schickte er seinen Laufer hin, der sollte fragen was der närrische Mann vor hätte. Da gab er zur Antwort ‘ich fische.’ Fragte der Laufer wie er fischen könnte, es wäre ja kein Wasser da. Sagte der Bauer ‘so gut als zwei Ochsen können ein Füllen kriegen, so gut kann ich auch auf dem trockenen Platz fischen.’ Der Laufer gieng hin und brachte dem König die Antwort, da ließ er den Bauer vor sich kommen und sagte ihm das hätte er nicht von sich, von wem er das hätte: und sollts gleich bekennen. Der Bauer aber wollts nicht thun und sagte immer Gott bewahr! er hätt es von sich. Sie legten ihn aber auff ein Gebund Stroh und schlugen und drangsalten ihn so lange, bis ers bekannte, daß ers von der Frau Königin hätte. Als der König nach Haus kam, sagte er zu seiner Frau ‘warum bist du so falsch mit mir, ich will dich nicht mehr zur Gemahlin: deine Zeit ist um, geh wieder hin, woher du kommen bist, in dein Bauernhäuschen.’ Doch erlaubte er ihr eins, sie sollte sich das Liebste und Beste mitnehmen was sie wüßte, und
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das sollte ihr Abschied sein. Sie sagte ‘ja, lieber Mann, wenn dus so befiehlst, will ich es auch thun,’ und fiel über ihn her und küßte ihn und sprach sie wollte Abschied von ihm nehmen. Dann ließ sie einen starken Schlaftrunk kommen, Abschied mit ihm zu trinken: der König that einen großen Zug, sie aber trank nur ein wenig. Da gerieth er bald in einen tiefen Schlaff und als sie das sah, rieff sie einen Bedienten und nahm ein schönes weißes Linnentuch und schlug ihn da hinein, und die Bedienten mußten ihn in einen Wagen vor die Thüre tragen, und fuhr sie ihn heim in ihr Häuschen. Da legte sie ihn in ihr Bettchen, und er schlieff Tag und Nacht in einem fort, und als er aufwachte, sah er sich um, und sagte ‘ach Gott wo bin ich denn?’ rieff seinen Bedienten, aber es war keiner da. Endlich kam seine Frau vors Bett und sagte ‘lieber Herr König, ihr habt mir befohlen ich sollte das Liebste und Beste aus dem Schloß mitnehmen, nun hab ich nichts Besseres und Lieberes als dich, da hab ich dich mitgenommen.’ Dem König stiegen die Thränen in die Augen, und er sagte ‘liebe Frau, du sollst mein sein und ich dein,’ und nahm sie wieder mit ins königliche Schloß und ließ sich aufs neue mit ihr vermählen; und werden sie ja wohl noch auff den heutigen Tag leben.
Der Meisterdieb (KHM 192)
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Eines Tages saß vor einem ärmlichen Hause ein alter Mann mit seiner Frau, und wollten von der Arbeit ein wenig ausruhen. Da kam auff einmal ein prächtiger, mit vier Rappen bespannter Wagen herbeigefahren, aus dem ein reichgekleideter Herr stieg. Der Bauer stand auf, trat zu dem Herrn und fragte was sein Verlangen wäre und worin er ihm dienen könnte. Der Fremde reichte dem Alten die Hand und sagte ‘ich wünsche nichts als einmal ein ländliches Gericht zu genießen. Bereitet mir Kartoffel, wie ihr sie zu essen pflegt, dann will ich mich zu euerm Tisch setzen, und sie mit Freude verzehren.’ Der Bauer lächelte und sagte ‘ihr seid ein Graff oder Fürst, oder gar ein Herzog, vornehme Herrn haben manchmal solch ein Gelüsten; euer Wunsch soll aber erfüllt werden.’ Die Frau gieng in die Küche und sie fieng an Kartoffel zu waschen und zu reiben und wollte Klöße daraus bereiten, wie sie die Bauern essen. Während sie bei der Arbeit stand, sagte der Bauer zu dem Fremden ‘kommt einstweilen mit mir in meinen Hausgarten, wo ich noch etwas zu schaffen habe.’ In dem Garten hatte er Löcher gegraben und wollte jetzt Bäume ein setzen. ‘Habt ihr keine Kinder,’ fragte der Fremde, ‘die euch bei der Arbeit behilflich sein könnten?’ ‘Nein’ antwortete der Bauer; ‘ich habe freilich einen Sohn gehabt,’ setzte er hinzu, ‘aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungerathener Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen und machte lauter böse Streiche; zuletzt lieff er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.’ Der Alte nahm ein Bäumchen, setzte es in ein Loch und stieß einen Pfahl daneben: und als er Erde hineingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. ‘Aber sagt mir,’ sprach der Herr, ‘warum bindet ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auff den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl, wie diesen, damit er strack wächst?’ Der Alte lächelte und sagte ‘Herr, ihr redet wie ihrs versteht: man sieht wohl daß ihr euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen: Bäume muß man ziehen, so lange sie jung sind.’ ‘Es ist wie bei euerm Sohn,’ sagte der Fremde, ‘hättet ihr den
Derr Meisterdieb (KHM 192)
gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.’ ‘Freilich,’ antwortete der Alte, ‘es ist schon lange seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.’ ‘Würdet ihr ihn noch erkennen, wenn er vor euch träte?’ fragte der Fremde. ‘Am Gesicht schwerlich,’ antwortete der Bauer, ‘aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auff der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.’ Als er das gesagt hatte, zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter und zeigte dem Bauer die Bohne. ‘Herr Gott,’ rieff der Alte, ‘du bist wahrhaftig mein Sohn,’ und die Liebe zu seinem Kind regte sich in seinem Herzen. ‘Aber,’ setzte er hinzu, ‘wie kannst du mein Sohn sein, du bist ein großer Herr geworden und lebst in Reichthum und Überfluß? auff welchem Weg bist du dazu gelangt?’ ‘Ach, Vater,’ erwiderte der Sohn, ‘der junge Baum war an keinen Pfahl gebunden und ist krumm gewachsen: jetzt ist er zu alt; er wird nicht wieder gerad. Wie ich das alles erworben habe? ich bin ein Dieb geworden. Aber erschreckt euch nicht, ich bin ein Meisterdieb. Für mich gibt es weder Schloß noch Riegel: wonach mich gelüstet, das ist mein. Glaubt nicht daß ich stehle wie ein gemeiner Dieb, ich nehme nur vom Überfluß der Reichen. Arme Leute sind sicher: ich gebe ihnen lieber als daß ich ihnen etwas nehme. So auch was ich ohne Mühe List und Gewandtheit haben kann, das rühre ich nicht an.’ ‘Ach, mein Sohn,’ sagte der Vater, ‘es gefällt mir doch nicht, ein Dieb bleibt ein Dieb; ich sage dir es nimmt kein gutes Ende.’ Er führte ihn zu der Mutter, und als sie hörte daß es ihr Sohn war, weinte sie vor Freude, als er ihr aber sagte daß er ein Meisterdieb geworden wäre, so flossen ihr zwei Ströme über das Gesicht. Endlich sagte sie ‘wenn er auch ein Dieb geworden ist, so ist er doch mein Sohn, und meine Augen haben ihn noch einmal gesehen.’ Sie setzten sich an den Tisch, und er aß mit seinen Eltern wieder einmal die schlechte Kost, die er lange nicht gegessen hatte. Der Vater sprach ‘wenn unser Herr, der Graf drüben im Schlosse, erfährt wer du bist und was du treibst, so nimmt er dich nicht auff die Arme und wiegt dich darin, wie er that, als er dich am Taufstein hielt, sondern er läßt dich am Galgenstrick schaukeln.’ ‘Seid ohne Sorge, mein Vater, er wird mir nichts thun, denn ich verstehe mein Handwerk. Ich will heute noch selbst zu ihm gehen.’ Als die Abendzeit sich näherte, setzte sich der Meisterdieb in seinen Wagen und fuhr nach dem Schloß. Der Graff empfieng ihn mit Artigkeit, weil er ihn für einen vornehmen Mann hielt. Als aber der Fremde sich zu erkennen gab, so erbleichte er und schwieg eine Zeitlang ganz still. Endlich sprach er ‘du bist mein Pathe, deshalb will ich Gnade für Recht ergehen lassen und nachsichtig mit dir verfahren. Weil du dich rühmst ein Meisterdieb zu sein, so will ich deine Kunst auff die Probe stellen wenn du aber nicht bestehst, so mußt du mit des Seilers Tochter Hochzeit halten, und das Gekrächze der Raben soll deine Musik dabei sein.’ ‘Herr Graf,’ antwortete der Meister, ‘denkt euch drei Stücke aus, so schwer ihr wollt, und wenn ich eure Aufgabe nicht löse, so thut mit mir wie euch gefällt.’ Der Graff sann einige Augenblicke nach, dann sprach er ‘wohlan, zum ersten sollst du mir mein Leibpferd aus dem Stalle stehlen, zum andern sollst du mir und meiner Gemahlin, wenn wir eingeschlafen sind, das Betttuch unter dem Leib wegnehmen, ohne daß wirs merken, und dazu meiner Gemahlin den Trauring vom Finger: zum dritten und letzten sollst du mir den Pfarrer und Küster aus der Kirche wegstehlen. Merke dir alles wohl, denn es geht dir an den Hals.’ Der Meister begab sich in die zunächst liegende Stadt. Dort kaufte er einer alten Bauerfrau die Kleider ab, und zog sie an. Dann färbte er sich das Gesicht braun und malte sich noch Runzeln hinein, so daß ihn kein Mensch wieder erkannt hätte. End-
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lich füllte er ein Fäßchen mit altem Ungarwein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt war. Das Fäßchen legte er auff eine Kötze, die er auff den Rücken nahm, und gieng mit bedächtigen, schwankenden Schritten zu dem Schloß des Grafen. Es war schon dunkel als er anlangte: er setzte sich in dem Hoff auff einen Stein, fieng an zu husten, wie eine alte brustkranke Frau und rieb die Hände, als wenn er fröre. Vor der Thüre des Pferdestalls lagen Soldaten um ein Feuer: einer von ihnen bemerkte die Frau und rieff ihr zu ‘komm näher, altes Mütterchen, und wärme dich bei uns. Du hast doch kein Nachtlager und nimmst es an, wo du es findest.’ Die Alte trippelte herbei, bat ihr die Kötze vom Rücken zu heben, und setzte sich zu ihnen ans Feuer. ‘Was hast du da in deinem Fäßchen, du alte Schachtel?’ fragte einer. ‘Einen guten Schluck Wein,’ antwortete sie, ‘ich ernähre mich mit dem Handel, für Geld und gute Worte gebe ich euch gerne ein Glas.’ ‘Nur her damit,’ sagte der Soldat, und als er ein Glas gekostet hatte, rieff er ‘wenn der Wein gut ist, so trink ich lieber ein Glas mehr,’ ließ sich nochmals einschenken, und die andern folgten seinem Beispiel. ‘Heda, Kameraden,’ rieff einer denen zu, die in dem Stall saßen, ‘hier ist ein Mütterchen, das hat Wein, der so alt ist wie sie selber, nehmt auch einen Schluck, der wärmt euch den Magen noch besser als unser Feuer.’ Die Alte trug ihr Fäßchen in den Stall. Einer hatte sich auff das gesattelte Leibpferd gesetzt, ein anderer hielt den Zaum in der Hand, ein dritter hatte den Schwanz gepackt. Sie schenkte ein so viel verlangt ward, bis die Quelle versiegte. Nicht lange so fiel dem einen der Zaum aus der Hand, er sank nieder und fieng an zu schnarchen, der andere ließ den Schwanz los, legte sich nieder und schnarchte noch lauter. Der welcher im Sattel saß, blieb zwar sitzen, bog sich aber mit dem Kopff fast bis auff den Hals des Pferdes, schlieff und blies mit dem Mund wie ein Schmiedebalg. Die Soldaten draußen waren schon längst eingeschlafen, lagen auff der Erde und regten sich nicht, als wären sie von Stein. Als der Meisterdieb sah daß es ihm geglückt war, gab er dem einen statt des Zaums ein Seil in die Hand, und dem andern, der den Schwanz gehalten hatte, einen Strohwisch; aber was sollte er mit dem, der auf dem Rücken des Pferdes saß, anfangen? Herunter werfen wollte er ihn nicht, er hätte erwachen und ein Geschrei erheben können. Er wußte aber guten Rath, er schnallte die Sattelgurt auf, knüpfte ein paar Seile, die in Ringen an der Wand hiengen, an den Sattel fest, und zog den schlafenden Reiter mit dem Sattel in die Höhe, dann schlug er die Seile um den Pfosten und machte sie fest. Das Pferd hatte er bald von der Kette los gebunden, aber wenn er über das steinerne Pflaster des Hofs geritten wäre, so hätte man den Lärm im Schloß gehört. Er umwickelte ihm also zuvor die Hufen mit alten Lappen, führte es dann vorsichtig hinaus, schwang sich auff und jagte davon. Als der Tag angebrochen war, sprengte der Meister auf dem gestohlenen Pferd zu dem Schloß. Der Graff war eben aufgestanden und blickte aus dem Fenster. ‘Guten Morgen, Herr Graf,’ rieff er ihm zu, ‘hier ist das Pferd, das ich glücklich aus dem Stall geholt habe. Schaut nur, wie schön eure Soldaten da liegen und schlafen, und wenn ihr in den Stall gehen wollt, so werdet ihr sehen, wie bequem sichs eure Wächter gemacht haben.’ Der Graff mußte lachen, dann sprach er ‘einmal ist dirs gelungen, aber das zweitemal wirds nicht so glücklich ablaufen. Und ich warne dich, wenn du mir als Dieb begegnest, so behandle ich dich auch wie einen Dieb.’ Als die Gräfin Abends zu Bette gegangen war, schloß sie die Hand mit dem Trauring fest zu, und der Graff sagte ‘alle Thüren sind verschlossen und verriegelt, ich bleibe wach und will den Dieb erwarten; steigt er aber zum Fenster ein, so schieße ich ihn nieder.’ Der Meisterdieb aber gieng in der Dunkelheit hinaus zu dem Galgen, schnitt einen armen
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Sünder, der da hieng, von dem Strick ab und trug ihn auf dem Rücken nach dem Schloß. Dort stellte er eine Leiter an das Schlafgemach, setzte den Todten auff seine Schultern und fieng an hinauff zu steigen. Als er so hoch gekommen war, daß der Kopff des Todten in dem Fenster erschien, drückte der Graf, der in seinem Bett lauerte, eine Pistole auff ihn los: alsbald ließ der Meister den armen Sünder herab fallen, sprang selbst die Leiter herab, und versteckte sich in eine Ecke. Die Nacht war von dem Mond so weit erhellt, daß der Meister deutlich sehen konnte wie der Graff aus dem Fenster auff die Leiter stieg, herabkam und den Todten in den Garten trug. Dort fieng er an ein Loch zu graben, in das er ihn legen wollte. ‘Jetzt,’ dachte der Dieb, ‘ist der günstige Augenblick gekommen,’ schlich behende aus seinem Winkel und stieg die Leiter hinauf, geradezu ins Schlafgemach der Gräfin. ‘Liebe Frau,’ fieng er mit der Stimme des Grafen an, ‘der Dieb ist todt, aber er ist doch mein Pathe und mehr ein Schelm als ein Bösewicht gewesen: ich will ihn der öffentlichen Schande nicht preis geben; auch mit den armen Eltern habe ich Mitleid. Ich will ihn, bevor der Tag anbricht, selbst im Garten begraben, damit die Sache nicht ruchtbar wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn nicht wie einen Hund verscharren.’ Die Gräfin gab ihm das Tuch. ‘Weißt du was,’ sagte der Dieb weiter, ‘ich habe eine Anwandlung von Großmuth, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen.’ Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern that, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graff im Garten mit seiner Todtengräberarbeit fertig war. Was zog der Graff für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. ‘Kannst du hexen?’ sagte er zu ihm, ‘wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?’ ‘Mich habt ihr nicht begraben,’ sagte der Dieb, ‘sondern den armen Sünder am Galgen’ und er zählte ausführlich wie es zugegangen war; und der Graff mußte ihm zugestehen daß er ein gescheidter und listiger Dieb wäre. ‘Aber noch bist du nicht zu Ende,’ setzte er hinzu, ‘du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.’ Der Meister lächelte und gab keine Antwort. Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auff dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm, und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. In dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auff den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auff den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauff zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte aussah und klebte sich einen grauen Bart an das Kinn. Als er endlich ganz unkenntlich war, nahm er den Sack, in dem die Krebse gewesen waren, gieng in die Kirche und stieg auff die Kanzel. Die Thurmuhr schlug eben zwölf: als der letzte Schlag verklungen war, rieff er mit lauter gellender Stimme ‘hört an, ihr sündigen Menschen, das Ende aller Dinge ist gekommen, der jüngste Tag ist nahe: hört an, hört an. Wer mit mir in den Himmel will, der krieche in den Sack. Ich bin Petrus, der die Himmelsthüre öffnet und schließt. Seht ihr draußen auff dem Gottesacker wandeln die Gestorbenen und sammeln ihre Gebeine zusammen. Kommt, kommt und kriecht in den Sack, die Welt geht unter.’ Das Geschrei erschallte durch das ganze Dorf. Der Pfarrer und der Küster, die
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zunächst an der Kirche wohnten, hatten es zuerst vernommen, und als sie die Lichter erblickten, die auff dem Gottesacker umher wandelten, merkten sie daß etwas Ungewöhnliches vorgieng und traten sie in die Kirche ein. Sie hörten der Predigt eine Weile zu, da stieß der Küster den Pfarrer an und sprach ‘es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzten und zusammen vor dem Einbruch des jüngsten Tags auf eine leichte Art in den Himmel kämen.’ ‘Freilich,’ erwiederte der Pfarrer, ‘das sind auch meine Gedanken gewesen; habt ihr Lust, so wollen wir uns auff den Weg machen.’ ‘Ja,’ antwortete der Küster, ‘aber ihr, Herr Pfarrer, habt den Vortritt, ich folge nach.’ Der Pfarrer schritt also vor und stieg auff die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster. Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab: so oft die Köpfe der beiden Thoren n auff die Stufen aufschlugen, rieff er ‘jetzt gehts schon über die Berge.’ Dann zog er sie auff gleiche Weise durch das Dorf, und wenn sie durch Pfützen kamen, rieff er ‘jetzt gehts schon durch die nassen Wolken,’ und als er sie endlich die Schloßtreppe hinaufzog, so rieff er ‘jetzt sind wir auff der Himmelstreppe und werden bald im Vorhoff sein.’ Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flatterten, sagte er ‘hört ihr wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen.’ Dann schob er den Riegel vor und gieng fort. Am andern Morgen begab er sich zu dem Grafen, und sagte ihm daß er auch die dritte Aufgabe gelöst und den Pfarrer und Küster aus der Kirche weggeführt hätte. ‘Wo hast du sie gelassen?’ fragte der Herr. ‘Sie liegen in einem Sack oben auff dem Taubenschlag und bilden sich ein sie wären im Himmel.’ Der Graff stieg selbst hinauf und überzeugte sich daß er die Wahrheit gesagt hatte. Als er den Pfarrer und Küster aus dem Gefängnis befreit hatte, sprach er ‘du bist ein Erzdieb, und hast deine Sache gewonnen. Für diesmal kommst du mit heiler Haut davon, aber mache daß du aus meinem Land fortkommst, denn wenn du dich wieder darin betreten läßt, so kannst du auff deine Erhöhung am Galgen rechnen.’ Der Erzdieb nahm Abschied von seinen Eltern, gieng wieder in die weite Welt, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört.
Die vier kunstreichen Brüder (KHM 129) Es war ein armer Mann, der hatte vier Söhne, wie die heran gewachsen waren, sprach er zu ihnen ‘liebe Kinder, ihr müßt jetzt hinaus in die Welt, ich habe nichts, das ich euch geben könnte; macht euch auff und geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht wie ihr euch durchschlagt.’ Da ergriffen die vier Brüder den Wanderstab, nahmen Abschied von ihrem Vater und zogen zusammen zum Thor hinaus. Als sie eine Zeit lang gewandert waren, kamen sie an einen Kreuzweg, der nach vier verschiedenen Gegenden führte. Da sprach der älteste ‘hier müssen wir uns trennen, aber heut über vier Jahre wollen wir an dieser Stelle wieder zusammen treffen und in der Zeit unser Glück versuchen.’ Nun gieng jeder seinen Weg, und dem ältesten begegnete ein Mann, der fragte ihn wo er hinaus wollte und was er vor hätte. ‘Ich will ein Handwerk lernen,’ antwortete er. Da sprach der Mann ‘geh mit mir, und werde ein Dieb.’ ‘Nein,’ antwortete er, ‘das gilt für kein ehrliches Handwerk mehr, und das Ende vom Lied ist, daß einer als
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Schwengel in der Feldglocke gebraucht wird.’ ‘O,’ sprach der Mann, ‘vor dem Gal gen brauchst du dich nicht zu fürchten: ich will dich bloß lehren wie du holst was sonst kein Mensch kriegen kann, und wo dir niemand auff die Spur kommt.’ Da ließ er sich überreden, ward bei dem Manne ein gelernter Dieb und ward so geschickt, daß vor ihm nichts sicher war, was er einmal haben wollte. Der zweite Bruder begegnete einem Mann, der dieselbe Frage an ihn that, was er in der Welt lernen wollte. ‘Ich weiß es noch nicht’ antwortete er. ‘So geh mit mir und werde ein Sterngucker: nichts besser als das, es bleibt einem nichts verborgen.’ Er ließ sich das gefallen und ward ein so geschickter Sterngucker, daß sein Meister, als er ausgelernt hatte und weiter ziehen wollte, ihm ein Fernrohr gab und zu ihm sprach ‘damit kannst du sehen was auff Erden und am Himmel vorgeht, und kann dir nichts verborgen bleiben.’ Den dritten Bruder nahm ein Jäger in die Lehre und gab ihm in allem, was zur Jägerei gehört, so guten Unterricht, daß er ein ausgelernter Jäger ward. Der Meister schenkte ihm beim Abschied eine Büchse und sprach ‘die fehlt nicht, was du damit aufs Korn nimmst, das triffst du sicher.’ Der jüngste Bruder begegnete gleichfalls einem Manne, der ihn anredete und nach seinem Vorhaben fragte. ‘Hast du nicht Lust ein Schneider zu werden?’ ‘Daß ich nicht wüßte,’ sprach der Junge, ‘das Krummsitzen von Morgens bis Abends, das Hin und Herfegen mit der Nadel und das Bügeleisen will mir nicht in den Sinn.’ ‘Ei was,’ antwortete der Mann, ‘du sprichst wie dus verstehst: bei mir lernst du eine ganz andere Schneiderkunst, die ist anständig und ziemlich, zum Theil sehr ehrenvoll.’ Da ließ er sich überreden, gieng mit und lernte die Kunst des Mannes aus dem Fundament. Beim Abschied gab ihm dieser eine Nadel und sprach ‘damit kannst du zusammen nähen was dir vorkommt, es sei so weich wie ein Ei oder so hart als Stahl; und es wird ganz zu einem Stück, daß keine Naht mehr zu sehen ist.’ Als die bestimmten vier Jahre herum waren, kamen die vier Brüder zu gleicher Zeit an dem Kreuzwege zusammen, herzten und küßten sich und kehrten heim zu ihrem Vater. ‘Nun,’ sprach dieser ganz vergnügt, ‘hat euch der Wind wieder zu mir geweht?’ Sie erzählten wie es ihnen ergangen war und daß jeder das Seinige gelernt hätte. Nun saßen sie gerade vor dem Haus unter einem großen Baum, da sprach der Vater ‘jetzt will ich euch auff die Probe stellen und sehen was ihr könnt.’ Danach schaute er auff und sagte zu dem zweiten Sohne ‘oben im Gipfel dieses Baums sitzt zwischen zwei Ästen ein Buchfinkennest, sag mir wie viel Eier liegen darin?’ Der Sterngucker nahm sein Glas, schaute hinauff und sagte ‘fünfe sinds.’ Sprach der Vater zum ältesten ‘hol du die Eier herunter, ohne daß der Vogel, der darauff sitzt und brütet, gestört wird.’ Der kunstreiche Dieb stieg hinauff und nahm dem Vöglein, das gar nichts davon merkte und ruhig sitzen blieb, die fünff Eier unter dem Leib weg und brachte sie dem Vater herab. Der Vater nahm sie, legte an jede Ecke des Tisches eins und das fünfte in die Mitte, und sprach zum Jäger ‘du schießest mir mit einem Schuß die fünff Eier in der Mitte entzwei.’ Der Jäger legte seine Büchse an und schoß die Eier, wie es der Vater verlangt hatte, alle fünfe, und zwar in einem Schuß. Der hatte gewis von dem Pulver das um die Ecke schießt. ‘Nun kommt die Reihe an dich,’ sprach der Vater zu dem vierten Sohn, ‘du nähst die Eier wieder zusammen und auch die jungen Vöglein, die darin sind, und zwar so, daß ihnen der Schuß nichts schadet.’ Der Schneider holte seine Nadel und nähte wies der Vater verlangt hatte. Als er fertig war, mußte der Dieb die Eier wieder auff den Baum ins Nest tragen und dem Vogel, ohne daß er etwas merkte, wieder unter legen. Das Thierchen brütete sie vollends
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aus, und nach ein paar Tagen krochen die Jungen hervor und hatten da, wo sie vom Schneider zusammengenäht waren, ein rothes Streifchen um den Hals. ‘Ja,’ sprach der Alte zu seinen Söhnen, ‘ich muß euch über den grünen Klee loben, ihr habt eure Zeit wohl benutzt und was rechtschaffenes gelernt: ich kann nicht sagen wem von euch der Vorzug gebührt. Wenn ihr nur bald Gelegenheit habt eure Kunst anzuwenden, da wird sichs ausweisen.’ Nicht lange danach kam großer Lärm ins Land, die Königstochter wäre von einem Drachen entführt worden. Der König war Tag und Nacht darüber in Sorgen und ließ bekannt machen wer sie zurück brächte, sollte sie zur Gemahlin haben. Die vier Brüder sprachen unter einander ‘das wäre eine Gelegenheit, wo wir uns könnten sehen lassen’ wollten zusammen ausziehen und die Königstochter befreien. ‘Wo sie ist, will ich bald wissen’ sprach der Sterngucker, schaute durch sein Fernrohr und sprach ‘ich sehe sie schon, sie sitzt weit von hier auff einem Felsen im Meer und neben ihr der Drache, der sie bewacht.’ Da gieng er zu dem König und bat um ein Schifff für sich und seine Brüder und fuhr mit ihnen über das Meer bis sie zu dem Felsen hin kamen. Die Königstochter saß da, aber der Drache lag in ihrem Schooß und schlief. Der Jäger sprach ‘ich darff nicht schießen, ich würde die schöne Jungfrau zugleich tödten.’’ ‘So will ich mein Heil versuchen’ sagte der Dieb, schlich sich heran und stahl sie unter dem Drachen weg, aber so leis und behend, daß das Unthier nichts merkte, sondern fortschnarchte. Sie eilten voll Freude mit ihr aufs Schifff und steuerten in die offene See: aber der Drache, der bei seinem Erwachen die Königstochter nicht mehr gefunden hatte, kam hinter ihnen her und schnaubte wüthend durch die Luft. Als er gerade über dem Schifff schwebte und sich herablassen wollte, legte der Jäger seine Büchse an und schoß ihm mitten ins Herz. Das Unthier fiel todt herab, war aber so groß und gewaltig, daß es im Herabfallen das ganze Schifff zertrümmerte. Sie erhaschten glücklich noch ein paar Bretter und schwammen auff dem weiten Meer umher. Da war wieder große Noth, aber der Schneider, nicht faul, nahm seine wunderbare Nadel, nähte die Bretter mit ein paar großen Stichen in der Eile zusammen, setzte sich darauf, und sammelte alle Stücke des Schiffs. Dann nähte er auch diese so geschickt zusammen, daß in kurzer Zeit das Schifff wieder segelfertig war und sie glücklich heim fahren konnten. Als der König seine Tochter wieder erblickte, war große Freude. Er sprach zu den vier Brüdern ‘einer von euch soll sie zur Gemahlin haben, aber welcher das ist, macht unter euch aus.’ Da entstand ein heftiger Streit unter ihnen, denn jeder machte Ansprüche. Der Sterngucker sprach ‘hätt ich nicht die Königstochter gesehen, so wären alle eure Künste umsonst gewesen: darum ist sie mein.’ Der Dieb sprach ‘was hätte das Sehen geholfen, wenn ich sie nicht unter dem Drachen weggeholt hätte: darum ist sie mein.’ Der Jäger sprach ‘ihr wärt doch sammt der Königstochter von dem Unthier zerrissen worden, hätte es meine Kugel nicht getroffen: darum ist sie mein.’ Der Schneider sprach ‘und hätte ich euch mit meiner Kunst nicht das Schifff wieder zusammengeflickt, ihr wärt alle jämmerlich ertrunken: darum ist sie mein.’ Da that der König den Ausspruch ‘jeder von euch hat ein gleiches Recht, und weil ein jeder die Jungfrau nicht haben kann, so soll sie keiner von euch haben, aber ich will jedem zur Belohnung ein halbes Königreich geben.’ Den Brüdern gefiel diese Entscheidung, und sie sprachen ‘es ist besser so, als daß wir uneins werden.’ Da erhielt jeder ein halbes Königreich, und sie lebten mit ihrem Vater in aller Glückseligkeit, so lange es Gott gefiel.
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Das Waldhauss (KHM 169)
Das Waldhaus (KHM 169) Ein armer Holzhauer lebte mit seiner Frau und drei Töchtern in einer kleinen Hütte an dem Rande eines einsamen Waldes. Eines Morgens, als er wieder an seine Arbeit wollte, sagte er zu seiner Frau, ‘laß mir mein Mittagsbrot von dem ältesten Mädchen hinaus in den Wald bringen, ich werde sonst nicht fertig. Und damit es sich nicht verirrt,’ setzte er hinzu, ‘so will ich einen Beutel mit Hirsen mitnehmen und die Körner auff den Weg streuen.’ Als nun die Sonne mitten über dem Walde stand, machte sich das Mädchen mit einem Topff voll Suppe auff den Weg. Aber die Feld und Waldsperlinge, die Lerchen und Finken, Amseln und Zeisige hatten den Hirsen schon längst aufgepickt, und das Mädchen konnte die Spur nicht finden. Da gieng es auf gut Glück immer fort, bis die Sonne sank und die Nacht einbrach. Die Bäume rauschten in der Dunkelheit, die Eulen schnarrten, und es fieng an ihm angst zu werden. Da erblickte es in der Ferne ein Licht, das zwischen den Bäumen blinkte. ‘Dort sollten wohl Leute wohnen,’ dachte es, ‘die mich über Nacht behalten,’ und gieng auff das Licht zu. Nicht lange so kam es an ein Haus, dessen Fenster erleuchtet waren. Es klopfte an, und eine rauhe Stimme rieff von innen ‘herein.’ Das Mädchen trat auff die dunkle Diele, und pochte an der Stubenthür. ‘Nur herein’ rieff die Stimme, und als es öffnete, saß da ein alter eisgrauer Mann an dem Tisch, hatte das Gesicht auff die beiden Hände gestützt, und sein weißer Bart floß über den Tisch herab fast bis auf die Erde. Am Ofen aber lagen drei Thiere, ein Hühnchen, ein Hähnchen und eine buntgescheckte Kuh. Das Mädchen erzählte dem Alten sein Schicksal und bat um ein Nachtlager. Der Mann sprach ‘schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?’ ‘duks!’ antworteten die Thiere: und das mußte wohl heißen ‘wir sind es zufrieden,’ denn der Alte sprach weiter ‘hier ist Hülle und Fülle, geh hinaus an den Herd und koch uns ein Abendessen.’ Das Mädchen fand in der Küche Überfluß an allem und kochte eine gute Speise, aber an die Thiere dachte es nicht. Es trug die volle Schüssel auff den Tisch, setzte sich zu dem grauen Mann, aß und stillte seinen Hunger. Als es satt war, sprach es ‘aber jetzt bin ich müde, wo ist ein Bett, in das ich mich legen und schlafen kann?’ Die Thiere antworteten ‘du hast mit ihm gegessen, du hast mit ihm getrunken, du hast an uns gar nicht gedacht, nun sieh auch wo du bleibst die Nacht.’ Da sprach der Alte ‘steig nur die Treppe hinauf, so wirst du eine Kammer mit zwei Betten finden, schüttle sie auff und decke sie mit weißem Linnen, so will ich auch kommen und mich schlafen legen.’ Das Mädchen stieg hinauf, und als es die Betten geschüttelt und frisch gedeckt hatte, legte es sich in das eine, ohne weiter auff den Alten zu warten. Nach einiger Zeit aber kam der graue Mann, beleuchtete das Mädchen mit dem Licht und schüttelte mit dem Kopf. Und als er sah daß es fest eingeschlafen war, öffnete er eine Fallthüre und ließ es in den Keller sinken.
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Der Holzhauer kam am späten Abend nach Haus und machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie ihn den ganzen Tag habe hungern lassen. ‘Ich habe keine Schuld’ antwortete sie, ‘das Mädchen ist mit dem Mittagsessen hinausgegangen, es muß sich verirrt haben; morgen wird es schon wiederkommen.’ Vor Tag aber stand der Holzhauer auf, wollte in den Wald und verlangte die zweite Tochter sollte ihm diesmal das Essen bringen. ‘Ich will einen Beutel mit Linsen mit nehmen,’ sagte er, ‘die Körner sind größer als Hirsen, das Mädchen wird sie besser sehen und kann den Weg nicht verfehlen.’ Zur Mittagszeit trug auch das Mädchen die Speise hinaus, aber die Linsen waren verschwunden: die Waldvögel hatten sie, wie am vorigen Tag, aufgepickt und keine übrig gelassen. Das Mädchen irrte im Walde umher bis es Nacht ward, da kam es ebenfalls zu dem Haus des Alten, ward hereingerufen, und bat um Speise und Nachtlager. Der Mann mit dem weißen Barte fragte wieder die Thiere ‘schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?’ Die Thiere antworteten abermals ‘duks,’ und es geschah alles wie am vorigen Tag. Das Mädchen kochte eine gute Speise, aß und trank mit dem Alten und kümmerte sich nicht um die Thiere. Und als es sich nach seinem Nachtlager erkundigte, antworteten sie ‘du hast mit ihm gegessen, du hast mit ihm getrunken, du hast an uns gar nicht gedacht, nun sieh auch wo du bleibst die Nacht.’ Als es eingeschlafen war, kam der Alte, betrachtete es mit Kopfschütteln und ließ es in den Keller hinab. Am dritten Morgen sprach der Holzhacker zu seiner Frau ‘schicke mir heute unser jüngstes Kind mit dem Essen hinaus, das ist immer gut und gehorsam gewesen, das wird auff dem rechten Weg bleiben und nicht wie seine Schwestern, die wilden Hummeln, herum schwärmen.’ Die Mutter wollte nicht und sprach ‘soll ich mein liebstes Kind auch noch verlieren?’ ‘Sei ohne Sorge,’ antwortete er, ‘das Mädchen verirrt sich nicht, es ist zu klug und verständig; zum Überfluß will ich Erbsen mitnehmen, und ausstreuen, die sind noch größer als Linsen und werden ihm den Weg zeigen.’ Aber als das Mädchen mit dem Korb am Arm hinaus kam, so hatten die Waldtauben die Erbsen schon im Kropf, und es wußte nicht wohin es sich wenden sollte. Es war voll Sorgen und dachte beständig daran wie der arme Vater hungern und die gute Mutter jammern würde, wenn es ausbliebe. Endlich als es finster ward, erblickte es das Lichtchen und kam an das Waldhaus. Es bat ganz freundlich sie möchten es über Nacht beherbergen, und der Mann mit dem weißen Bart fragte wieder seine Thiere ‘schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?’
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Das Waldhauss (KHM 169)
‘duks’ sagten sie. Da trat das Mädchen an den Ofen, wo die Thiere lagen, und liebkoste Hühnchen und Hähnchen, indem es mit der Hand über die glatten Federn hinstrich, und die bunte Kuh kraute es zwischen den Hörnern. Und als es auff Geheiß des Alten eine gute Suppe bereitet hatte und die Schüssel auff dem Tisch stand, so sprach es ‘soll ich mich sättigen und die guten Thiere sollen nichts haben? Draußen ist die Hülle und Fülle, erst will ich für sie sorgen.’ Da ging es, holte Gerste und streute sie dem Hühnchen und Hähnchen vor, und brachte der Kuh wohlriechendes Heu einen ganzen Arm voll. ‘Laßts euch schmecken, ihr lieben Thiere,’ sagte es, ‘und wenn ihr durstig seid, sollt ihr auch einen frischen Trunk haben.’ Dann trug es einen Eimer voll Wasser herein, und Hühnchen und Hähnchen sprangen auff den Rand, steckten den Schnabel hinein und hielten den Kopff dann in die Höhe wie die Vögel trinken, und die bunte Kuh that auch einen herzhaften Zug. Als die Thiere gefüttert waren, setzte sich das Mädchen zu dem Alten an den Tisch und aß was er ihm übrig gelassen hatte. Nicht lange so fieng Hühnchen und Hähnchen an das Köpfchen zwischen die Flügel zu stecken, und die bunte Kuh blinzelte mit den Augen. Da sprach das Mädchen ‘sollen wir uns nicht zur Ruhe begeben? schön Hühnchen, schön Hähnchen, und du schöne bunte Kuh, was sagst du dazu?’ Die Thiere antworteten ‘duks, du hast mit uns gegessen, du hast mit uns getrunken, du hast uns alle wohl bedacht, wir wünschen dir eine gute Nacht.’ Da gieng das Mädchen die Treppe hinauf, schüttelte die Federkissen und deckte frisches Linnen auf, und als es fertig war, kam der Alte und legte sich in das eine Bett, und sein weißer Bart reichte ihm bis an die Füße. Das Mädchen legte sich in das andere, that sein Gebet und schlieff ein. Es schlieff ruhig bis Mitternacht, da ward es so unruhig in dem Hause, daß das Mädchen erwachte. Da fieng es an in den Ecken zu knittern und zu knattern, und die Thüre sprang auff und schlug an die Wand: die Balken drönten, als wenn sie aus ihren Fugen gerissen würden, und es war als wenn die Treppe herab stürzte, und endlich krachte es als wenn das ganze Dach zusammen fiele. Da es aber wieder still ward und dem Mädchen nichts zu Leid geschah, so blieb es ruhig liegen und schlieff wieder ein. Als es aber am Morgen bei hellem Sonnenschein aufwachte, was erblickten seine Augen? Es lag in einem großen Saal, und rings umher glänzte alles in königlicher Pracht: an den Wänden wuchsen auff grün seidenem Grund goldene Blumen in die Höhe, das Bett war von Elfenbein und die Decke darauff von rothem Sammt, und auf einem Stuhl daneben standen ein paar mit Perlen gestickte Pantoffel. Das Mädchen glaubte es wäre ein Traum, aber es traten drei reichgekleidete Diener herein und fragten was es zu befehlen hätte.‘Geht nur,’ antwortete das Mädchen, ‘ich will gleich aufstehen und dem Alten eine Suppe kochen und dann auch schön Hühnchen, schön Hähnchen und die schöne bunte Kuh füttern.’ Es dachte der Alte wäre schon aufgestanden und sah sich nach seinem Bette um, aber er lag nicht darin, sondern ein
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
fremder Mann. Und als es ihn betrachtete und sah daß er jung und schön war, erwachte er, richtete sich auff und sprach ‘ich bin ein Königssohn, und war von einer bösen Hexe verwünscht worden als ein alter eisgrauer Mann in dem Wald zu leben: niemand durfte um mich sein als meine drei Diener in der Gestalt eines Hühnchens eines Hähnchens und einer bunten Kuh. Und nicht eher sollte die Verwünschung aufhören, als bis ein Mädchen zu uns käme, so gut von Herzen, daß es nicht gegen die Menschen allein, sondern auch gegen die Thiere sich liebreich bezeigte, und das bist du gewesen, und heute um Mitternacht sind wir durch dich erlöst und das alte Waldhaus ist wieder in meinen königlichen Palast verwandelt worden.’ Und als sie aufgestanden waren, sagte der Königssohn den drei Dienern sie sollten hinfahren und Vater und Mutter des Mädchens zur Hochzeitsfeier herbei holen. ‘Aber wo sind meine zwei Schwestern?’ fragte das Mädchen. ‘Die habe ich in den Keller gesperrt, und Morgen sollen sie in den Wald geführt werden und sollen bei einem Köhler so lange als Mägde dienen, bis sie sich gebessert haben und auch die armen Thiere nicht hungern lassen.’
Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29) Es war einmal eine arme Frau, die gebar ein Söhnlein, und weil es eine Glückshaut umhatte, als es zur Welt kam, so ward ihm geweissagt, es werde im vierzehnten Jahr die Tochter des Königs zur Frau haben. Es trug sich zu, daß der König bald darauff ins Dorff kam, und niemand wußte, daß es der König war, und als er die Leute fragte, was es Neues gäbe, so antworteten sie »es ist in diesen Tagen ein Kind mit einer Glückshaut geboren: was so einer unternimmt, das schlägt ihm zum Glück aus. Es ist ihm auch vorausgesagt, in seinem vierzehnten Jahre solle er die Tochter des Königs zur Frau haben.« Der König, der ein böses Herz hatte und über die Weissagung sich ärgerte, ging zu den Eltern, tat ganz freundlich und sagte »ihr armen Leute, überlaßt mir euer Kind, ich will es versorgen.« Anfangs weigerten sie sich, da aber der fremde Mann schweres Gold dafür bot und sie dachten »es ist ein Glückskind, es muß doch zu seinem Besten ausschlagen,« so willigten sie endlich ein und gaben ihm das Kind. Der König legte es in eine Schachtel und ritt damit weiter, bis er zu einem tiefen Wasser kam: da warff er die Schachtel hinein und dachte »von dem unerwarteten Freier habe ich meine Tochter geholfen.« Die Schachtel aber ging nicht unter, sondern schwamm wie ein Schiffchen, und es drang auch kein Tröpfchen Wasser hinein. So schwamm sie bis zwei Meilen von des Königs Hauptstadt, wo eine Mühle war, an dessen Wehr sie hängen blieb. Ein Mahlbursche, der glücklicherweise da stand und sie bemerkte, zog sie mit einem Haken heran und meinte große Schätze zu finden, als er sie aber aufmachte, lag ein schöner Knabe darin, der ganz frisch und munter war. Er brachte ihn zu den Müllersleuten, und weil diese keine Kinder hatten, freuten sie sich und sprachen »Gott hat es uns beschert.« Sie pflegten den Findling wohl, und er wuchs in allen Tugenden heran. Es trug sich zu, daß der König einmal bei einem Gewitter in die Mühle trat und die Müllersleute fragte, ob der große Junge ihr Sohn wäre. »Nein,« antworteten sie, »es ist ein Findling, er ist vor vierzehn Jahren in einer Schachtel ans Wehr geschwommen,
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Derr Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29)
und der Mahlbursche hat ihn aus dem Wasser gezogen.« Da merkte der König, daß es niemand anders als das Glückskind war, das er ins Wasser geworfen hatte, und sprach »ihr guten Leute, könnte der Junge nicht einen Brieff an die Frau Königin bringen, ich will ihm zwei Goldstücke zum Lohn geben?« »Wie der Herr König gebietet,« antworteten die Leute, und hießen den Jungen sich bereit halten. Da schrieb der König einen Brieff an die Königin, worin stand »so bald der Knabe mit diesem Schreiben angelangt ist, soll er getötet und begraben werden, und das alles soll geschehen sein, ehe ich zurückkomme.« Der Knabe machte sich mit diesem Briefe auff den Weg, verirrte sich aber und kam abends in einen großen Wald. In der Dunkelheit sah er ein kleines Licht, ging darauf zu und gelangte zu einem Häuschen. Als er hineintrat, saß eine alte Frau beim Feuer ganz allein. Sie erschrak, als sie den Knaben erblickte, und sprach »wo kommst du her und wo willst du hin?« »Ich komme von der Mühle,« antwortete er, »und will zur Frau Königin, der ich einen Brieff bringen soll: weil ich mich aber in dem Walde verirrt habe, so wollte ich hier gerne übernachten.« »Du armer Junge,« sprach die Frau, »du bist in ein Räuberhaus geraten, und wenn sie heim kommen, so bringen sie dich um.« »Mag kommen, wer will,« sagte der Junge, »ich fürchte mich nicht: ich bin aber so müde, daß ich nicht weiter kann,« streckte sich auff eine Bank und schlieff ein. Bald hernach kamen die Räuber und fragten zornig, was da für ein fremder Knabe läge. »Ach,« sagte die Alte, »es ist ein unschuldiges Kind, es hat sich im Walde verirrt, und ich habe ihn aus Barmherzigkeit aufgenommen: er soll einen Brieff an die Frau Königin bringen.« Die Räuber erbrachen den Brieff und lasen ihn, und es stand darin, daß der Knabe sogleich, wie er ankäme, sollte ums Leben gebracht werden. Da empfanden die hartherzigen Räuber Mitleid, und der Anführer zerriß den Brieff und schrieb einen andern, und es stand darin, sowie der Knabe ankäme, sollte er sogleich mit der Königstochter vermählt werden. Sie ließen ihn dann ruhig bis zum andern Morgen auff der Bank liegen, und als er aufgewacht war, gaben sie ihm den Brieff und zeigten ihm den rechten Weg. Die Königin aber, als sie den Brieff empfangen und gelesen hatte, tat, wie darin stand, hieß ein prächtiges Hochzeitsfest anstellen, und die Königstochter ward mit dem Glückskind vermählt; und da der Jüngling schön und freundlich war, so lebte sie vergnügt und zufrieden mit ihm. Nach einiger Zeit kam der König wieder in sein Schloß und sah, daß die Weissagung erfüllt und das Glückskind mit seiner Tochter vermählt war. »Wie ist das zugegangen?« sprach er, »ich habe in meinem Brieff einen ganz andern Befehl erteilt.« Da reichte ihm die Königin den Brieff und sagte, er möchte selbst sehen, was darin stände. Der König las den Brieff und merkte wohl, daß er mit einem andern war vertauscht worden. Er fragte den Jüngling, wie es mit dem anvertrauten Briefe zugegangen wäre, warum er einen andern dafür gebracht hätte. »Ich weiß von nichts,« antwortete er, »er muß mir in der Nacht vertauscht sein, als ich im Walde geschlafen habe.« Voll Zorn n sprach der König »so leicht soll es dir nicht werden, wer meine Tochter haben will, der muß mir aus der Hölle drei goldene Haare von dem Haupte des Teufels holen; bringst du mir, was ich verlange, so sollst du meine Tochter behalten.« Damit hoffte der König ihn auf immer los zu werden. Das Glückskind aber antwortete »die goldenen Haare will ich wohl holen, ich fürchte mich vor dem Teufel nicht.« Darauff nahm er Abschied und begann seine Wanderschaft. Der Weg führte ihn zu einer großen Stadt, wo ihn der Wächter an dem Tore ausfragte, was für ein Gewerbe er verstände und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete das Glückskind. »So kannst du uns einen Gefallen tun,« sagte der Wächter, »wenn du
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
uns sagst, warum unser Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, trocken geworden ist, und nicht einmal mehr Wasser gibt.« »Das sollt ihr erfahren,« antwortete er, »wartet nur, bis ich wiederkomme.« Da ging er weiter und kam vor eine andere Stadt, da fragte der Torwächter wiederum, was für ein n Gewerb er verstünde und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete er. »So kannst du uns einen Gefallen tun und uns sagen, warum ein Baum in unserer Stadt, der sonst goldene Äpfel trug, jetzt nicht einmal Blätter hervortreibt.« »Das sollt ihr erfahren,« antwortete er, »wartet nur, bis ich wiederkomme.« Da ging er weiter, und kam an ein großes Wasser, über das er hinüber mußte. Der Fährmann fragte ihn, was er für ein Ge werb verstände und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete er. »So kannst du mir einen Gefallen tun,« sprach der Fährmann, »und mir sagen, warum ich immer hin- und herfahren muß und niemals abgelöst werde.« »Das sollst du erfahren,« antwortete er, »warte nur, bis ich wiederkomme.« Als er über das Wasser hinüber war, so fand er den Eingang zur Hölle. Es war schwarz und rußig darin, und der Teufel war nicht zu Haus, aber seine Ellermutter saß da in einem breiten Sorgenstuhl. »Was willst du?« sprach sie zu ihm, sah aber gar nicht so böse aus. »Ich wollte gerne drei goldene Haare von des Teufels Kopf,« antwortete er, »sonst kann ich meine Frau nicht behalten.« »Das ist viel verlangt,« sagte sie, »wenn der Teufel heim kommt und findet dich, so geht dirs an den Kragen; aber du dauerst mich, ich will sehen, ob ich dir helfen kann.« Sie verwandelte ihn in eine Ameise und sprach »kriech in meine Rockfalten, da bist du sicher.« »Ja,« antwortete er, »das ist schon gut, aber drei Dinge möchte ich gerne noch wissen, warum ein Brunnen, aus dem sonst Wein quoll, trocken geworden ist, jetzt nicht einmal mehr Wasser gibt: warum ein Baum, der sonst goldene Äpfel trug, nicht einmal mehr Laub treibt: und warum ein Fährmann immer herüber- und hinüberfahren muß und nicht abgelöst wird.« »Das sind schwere Fragen,« antwortete sie, »aber halte dich nur still und ruhig, und hab acht, was der Teufel spricht, wann ich ihm die drei goldenen Haare ausziehe.« Als der Abend einbrach, kam der Teufel nach Haus. Kaum war er eingetreten, so merkte er, daß die Luft nicht rein war. »Ich rieche rieche Menschenfleisch,« sagte er, »es ist hier nicht richtig.« Dann guckte er in alle Ecken und suchte, konnte aber nichts finden. Die Ellermutter schalt ihn aus, »eben ist erst gekehrt,« sprach sie, »und alles in Ordnung gebracht, nun wirfst du mirs wieder untereinander; immer hast du Menschenfleisch in der Nase! Setze dich nieder und iß dein Abendbrot.« Als er gegessen und getrunken hatte, war er müde, legte der Ellermutter seinen Kopff in den Schoß und sagte, sie sollte ihn ein wenig lausen. Es dauerte nicht lange, so schlummerte er ein, blies und schnarchte. Da faßte die Alte ein goldenes Haar, riß es aus und legte es neben sich. »Autsch!« schrie der Teufel, »was hast du vor?« »Ich habe einen schweren Traum gehabt,« antwortete die Ellermutter, »da hab ich dir in die Haare gefaßt.« »Was hat dir denn geträumt?« fragte der Teufel. »Mir hat geträumt, ein Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, sei versiegt, und es habe nicht einmal Wasser daraus quellen wollen, was ist wohl schuld daran?« »He, wenn sies wüßten!« antwortete der Teufel, »es sitzt eine Kröte unter einem Stein im Brunnen, wenn sie die töten, so wird der Wein schon wieder fließen.« Die Ellermutter lauste ihn wieder, bis er einschlieff und schnarchte, daß die Fenster zitterten. Da riß sie ihm das zweite Haar aus. »Hu! was machst du?« schrie der Teufel zornig. »Nimms nicht übel,« antwortete sie, »ich habe es im Traum getan.« »Was hat dir wieder geträumt?« fragte er. »Mir hat geträumt, in einem Königreiche ständ ein Obstbaum, der hätte sonst goldene Äpfel
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getragen und wollte jetzt nicht einmal Laub treiben. Was war wohl die Ursache davon?« »He, wenn sies wüßten!« antwortete der Teufel, »an der Wurzel nagt eine Maus, wenn sie die töten, so wird er schon wieder goldene Äpfel tragen, nagt sie aber noch länger, so verdorrt der Baum gänzlich. Aber laß mich mit deinen Träumen in Ruhe, wenn du mich noch einmal im Schlafe störst, so kriegst du eine Ohrfeige.« Die Ellermutter sprach ihn zu gut und lauste ihn wieder, bis er eingeschlafen war und schnarchte. Da faßte sie das dritte goldene Haar und riß es ihm aus. Der Teufel fuhr in die Höhe, schrie und wollte übel mit ihr wirtschaften, aber sie besänftigte ihn nochmals und sprach »wer kann für böse Träume!« »Was hat dir denn geträumt?« fragte er, und war doch neugierig. »Mir hat von einem Fährmann geträumt, der sich beklagte, daß er immer hin- und herfahren müßte, und nicht abgelöst würde. Was ist wohl schuld?« »He, der Dummbart!« antwortete der Teufel, »wenn einer kommt und will überfahren, so muß er ihm die Stange in die Hand geben, dann muß der andere überfahren, und er ist frei.« Da die Ellermutter ihm die drei goldenen Haare ausgerissen hatte und die drei Fragen beantwortet waren, so ließ sie den alten Drachen in Ruhe, und er schlief, bis der Tag anbrach. Als der Teufel wieder fortgezogen war, holte die Alte die Ameise aus der Rockfalte, und gab dem Glückskind die menschliche Gestalt zurück. »Da hast du die drei goldenen Haare,« sprach sie, »was der Teufel zu deinen drei Fragen gesagt hat, wirst du wohl gehört haben.« »Ja,« antwortete er, »ich habe es gehört und wills wohl behalten.« »So ist dir geholfen,« sagte sie »und nun kannst du deiner Wege ziehen.« Er bedankte sich bei der Alten für die Hilfe in der Not, verließ die Hölle und war vergnügt, daß ihm alles so wohl geglückt war. Als er zu dem Fährmann kam, sollte er ihm die versprochene Antwort geben. »Fahr mich erst hinüber,« sprach das Glückskind, »so will ich dir sagen, wie du erlöst wirst,« und als er auff dem jenseitigen Ufer angelangt war, gab er ihm des Teufels Rat »wenn wieder einer kommt und will übergefahren sein, so gib ihm nur die Stange in die Hand.« Er ging weiter und kam zu der Stadt, worin der unfruchtbare Baum stand, und wo der Wächter auch Antwort haben wollte. Da sagte er ihm, wie er vom Teufel gehört hatte, »tötet die Maus, die an seiner Wurzel nagt, so wird er wieder goldene Äpfel tra gen.« Da dankte ihm der Wächter und gab ihm zur Belohnung zwei mit Gold beladene Esel, die mußten ihm nachfolgen. Zuletzt kam er zu der Stadt, deren Brunnen versiegt war. Da sprach er zu dem Wächter, wie der Teufel gesprochen hatte, »es sitzt eine Kröte im Brunnen unter einem Stein, die müßt ihr aufsuchen und töten, so wird er wieder reichlich Wein geben.« Der Wächter dankte und gab ihm ebenfalls zwei mit Gold beladene Esel. Endlich langte das Glückskind daheim bei seiner Frau an, die sich herzlich freute, als sie ihn wiedersah und hörte, wie wohl ihm alles gelungen war. Dem König brachte er, was er verlangt hatte, die drei goldenen Haare des Teufels, und als dieser die vier Esel mit dem Golde sah, ward er ganz vergnügt und sprach »nun sind alle Bedingungen erfüllt und du kannst meine Tochter behalten. Aber, lieber Schwiegersohn, sage mir doch, woher ist das viele Gold? das sind ja gewaltige Schätze!« »Ich bin über einen Fluß gefahren,« antwortete er, »und da habe ich es mitgenommen, es liegt dort statt des Sandes am Ufer.« »Kann ich mir auch davon holen?« sprach der König und war ganz begierig. »So viel Ihr nur wollt,« antwortete er, »es ist ein Fährmann auf dem Fluß, von dem laßt Euch überfahren, so könnt Ihr drüben Eure Säcke füllen.« Der habsüchtige König machte sich in aller Eile auff den Weg, und als er zu dem Fluß kam, so winkte er dem Fährmann, der sollte ihn übersetzen. Der Fährmann kam und hieß ihn einsteigen, und als sie an das jenseitige Ufer kamen, gab er ihm die Ruder-
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stange in die Hand und sprang davon. Der König aber mußte von nun an fahren zur Strafe für seine Sünden. »Fährt er wohl noch?« »Was denn? es wird ihm niemand die Stange abgenommen haben.«
Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19) Dar wöör maal eens en Fischer un syne Fru, de waanden tosamen inn Pißputt, dicht an der See, un de Fischer güng alle Dage hen un angeld: un he angeld un angeld. So seet he ook eens by de Angel und seeg jümmer in das blanke Water henin: un he seet un seet. Do güng de Angel to Grund, deep ünner, un as he se heruphaald, so haald he enen grooten Butt heruut. Do säd de Butt to em »hör mal, Fischer, ik bidd dy, laat my lewen, ik bün keen rechten Butt, ik bünn verwünschten Prins. Wat helpt dy dat, dat du my doot maakst? i würr dy doch nich recht smecken: sett my wedder in dat Water un laat my swemmen.« »Nu,« säd de Mann, »du bruukst nich so veel Wöörd to maken, eenen Butt, de spreken kann, hadd ik doch wol swemmen laten.« Mit des settt he em wedder in dat blanke Water, do güng de Butt to Grund und leet enen langen Strypen Bloot achter sik. So stünn de Fischer up un güng nach syne Fru inn Pißputt. »Mann,« säd de Fru, »hest du hüüt niks fungen?« »Ne,« säd de Mann, »ik füng enen Butt, de säd, he wöör en verwünschten Prins, da hebb ik em wedder swemmen laten.« »Hest du dy denn niks wünschd?« söd de Fru. »Ne,« säd de Mann, »wat schull ik my wünschen?« »Ach,« säd de Fru, »dat is doch äwel, hyr man jümmer inn Pißputt to waanen, dat stinkt un is so eeklig: du haddst uns doch ene lüttje Hütt wünschen kunnt. Ga noch hen un roop em: segg em, wy wählt »ne lüttje Hütt hebben, he dait dat gewiß.« »Ach,« säd de Mann, »wat schull ich door noch hengaan?« »I,« säd de Fru, »du haddst em doch fungen, un hest em wedder swemmen laten, he dait dat gewiß. Ga glyk hen.« De Mann wull noch nicht recht, wull awerst syn Fru ook nicht to weddern syn un güng hen na der See. As he door köhm, wöör de See ganß gröon un geel un goor nich mee so blank. So güng he staan und säd »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.« Do köhm de Butt answemmen un säd »na, wat will se denn?« »Ach,« säd de Mann, »ik hebb di doch fungen hatt, nu säd myn Fru, ik hadd my doch wat wünschen schullt. Se mag nich meer inn Pißputt wanen, se wull geern ne Hütt.« »Ga man hen,« säd de Butt, »se hett se all.« Do güng de Mann hen, un syne Fru seet nich meer inn Pißputt, dar stünn awerst ene lüttje Hütt, un syne Fru seet vor de Döhr up ene Bank. Da nöhm syne Fru em by de Hand un säd to em »kumm man herin, süh, nu is dar doch veel beter.« Do güngen se
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henin, un in de Hütt was een lüttjen Vorplatz un ene lüttje herrliche Stuw un Kamer, wo jem eer Beed stünn, un Kääk un Spysekamer, allens up dat beste mit Gerädschoppen, un up dat schönnste upgefleyt, Tinntüüg un Mischen (Messing), wat sik darin höört. Un achter was ook en lüttjen Hoff mit Hönern un Aanten, un en lüttjen Goorn mit Grönigkeiten un Aaft (Obst). »Süh,« säd de Fru, »is dat nich nett?« »Ja,« säd de Mann, »so schallt blywen, nu wähl wy recht vergnöögt lewen.« »Dat wähl wy uns bedenken,« säd de Fru. Mit des eeten se wat un güngen to Bedd. So güng dat wol n acht oder veertein Dag, do säd de Fru »hör, Mann, de Hütt is ook goor to eng, un de Hoff un de Goorn is so kleen: de Butt hadd uns ook wol een grötter Huus schenken kunnt. Ich much woll in enem grooten stenern Slott wanen: ga hen tom Butt, he schall uns en Slott schenken.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »de Hütt is jo god noog, wat wähl wy inn Slott wanen.« »I wat,« säd de Fru, »ga du man hen, de Butt kann dat jümmer doon.« »Ne, Fru,« säd de Mann, »de Butt hett uns eerst de Hütt gewen, ik mag nu nich all wedder kamen, den Butt muchd et vördreten.« »Ga doch,« säd de Fru, »he kann dat recht good und dait dat geern; ga du man hen.« Dem Mann wöör syn Hart so swoor, un wull nich; he säd by sik sülwen »dat is nich recht,« he güng awerst doch hen. As he an de See köhm, wöör dat Water ganß vigelett un dunkelblau un grau un dick, un goor nich meer so gröön un geel, doch wöört noch still. Do güng he staan un säd »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.« »Na wat will se denn?« säd de Butt. »Ach,« säd de Mann halff bedrööft, »se will inn groot stenern Slott wanen.« »Ga man hen, se stait vör der Döhr,« säd de Butt. Da güng de Mann hen un dachd, he wull na Huus gaan, as he awerst daar köhm, so stünn door n grooten stenern Pallast, un syn Fru stünn ewen up de Trepp und wull henin gaan: do nöhm se em by de Hand und säd »kumm man herein.« Mit des güng he mit ehr henin, un in dem Slott wöör ene grote Dehl mit marmelstenern Asters (Estrich), und dar wören so veel Bedeenters, de reten de grooten Dören up, un de Wende wören all blank un mit schöne Tapeten, un in de Zimmers luter gollne Stöhl und Dischen, un krystallen Kroonlüchters hüngen an dem Bähn, un so wöör dat all de Stuwen und Kamers mit Footdeken: un dat Äten un de allerbeste Wyn stünn up den Dischen, as wenn se breken wullen. Un achter dem Huse wöör ookn grooten Hoff mit Peerd- und Kohstall, un Kutschwagens up dat allerbeste, ook was door en grooten herrlichen Goorn mit de schönnsten Blomen un fyne Aaftbömer, un en Lustholt wol ne halwe Myl lang, door wören Hirschen un Reh un Hasen drin un allens, wat man sik jümmer wünschen mag. »Na,« säd de Fru, »is dat nun nich schön?« »Ach ja,« säd de Mann, »so schalltt ook blywen, nu wähl wy ook in das schöne Slott wanen un wähl tofreden syn.« »Dat wähl wy uns bedenken,« säd de Fru, »un wählent beslapen.« Mit des güngen se to Bedd. Den annern Morgen waakd de Fru to eerst up, dat was jüst Dag, un seeg uut jem ehr Bedd dat herrliche Land vör sik liggen. De Mann reckd sik noch, do stödd se em mit dem Ellbagen in de Syd und säd »Mann, sta up un kyk mal uut dem Fenster. Süh, kunnen wy nich König warden äwer all düt Land? Ga hen tom Butt, wy wählt König syn.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »wat wähln wy König syn! ik mag nich König syn.«
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»Na,« säd de Fru, »wult du nich König syn, so will ik König syn. Ga hen tom Butt, ik will König syn.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »wat wullst du König syn? dat mag ik em nich seggen.« »Worüm nich?« säd de Fru, »ga stracks hen, ik mutt König syn.« Do güng de Mann hen un wöör ganß bedröft, dat syne Fru König warden wull. »Dat is nich recht un is nicht recht,« dachd de Mann. He wull nich hen gaan, güng awerst doch hen. Un as he an de See köhm, do wöör de See ganß swartgrau, un dat Water geerd so von ünnen up und stünk ook ganß fuul. Do güng he staan un säd »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.« »Na wat will se denn?« säd de Butt. »Ach,« säd de Mann, »se will König warden.« »Ga man hen, se ist all,« säd de Butt. Do güng de Mann hen, und as he na dem Pallast köhm, so wöör dat Slott veel grötter n un herrlyken Zyraat doran: un de Schildwach stünn worren, mit enem grooten Toorn vor de Döhr, un dar wören so väle Soldaten un Pauken un Trumpeten. Un as he in dat Huus köhm, so wöör allens von purem Marmelsteen mit Gold, un sammtne Deken un groote gollne Quasten. Do güngen de Dören von dem Saal up, door de ganße Hofstaat wöör, un syne Fru seet up enem hogen Troon von Gold und Demant, un hadd ene groote gollne Kroon up un den Zepter in der Hand von purem Gold un Edelsteen, un up beyden Syden by ehr stünnen ses Jumpfern in ene Reeg, jümmer ene enen Kops lüttjer as de annere. Do güng he staan und säd »ach, Fru, büst du nu König?« »Ja,« säd de Fru, »nu bün ik König.« Do stünn he und seeg se an, un as he do een Flach (eine Zeitlang) so ansehn hadd, säd he »ach, Fru, wat lett dat schöön, wenn du König büst! nu wähl wy ook niks meer wünschen.« »Ne, Mann,« säd de Fru un wöör ganß unruhig, »my waart de Tyd un Wyl al lang, ik kann dat nich meer uthollen. Ga hen tom Butt, König bün ik, nu mutt ik ook Kaiser warden.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »wat wullst du Kaiser warden?« »Mann,« säd se, »ga tom Butt, ik will Kaiser syn.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »Kaiser kann he nich maken, ik mag dem Butt dat nich seggen; Kaiser is man eenmal im Reich: Kaiser kann de Butt jo nich maken, dat kann un kann he nich.« »Wat,« säd de Fru, »ik bünn König, un du büst man myn Mann, wullt du glyk hengaan? glyk ga hen, kann he König maken, kann he ook Kaiser maken, ik will un will Kaiser syn; glyk ga hen.« Do mussd he hengaan. Do de Mann awer hengüng, wöör em ganß bang, un as he so güng, dachd he be sik »düt gait und gait nich good: Kaiser is to uutvörschaamt, de Butt wart am Ende möd.« Mit des köhm he an de See, do wöör de See noch ganß swart un dick un füng al so von ünnen up to geeren, dat et so Blasen smeet, un et güng so em Keekwind äwer hen, dat et sik so köhrd; un de Mann wurr groen (grauen). Do güng he staan un säd »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der see, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.«
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»Na, wat will se denn?« säd de Butt. »Ach Butt,« säd he, »myn Fru will Kaiser warden.« »Ga man hen,« säd de Butt, »se ist all.«
Von dem Fischerr un synerr Fru (KHM 19)
Do güng de Mann hen, un as he door köhm, so wöör dat ganße Slott von poleertem Marmelsteen mit albasternen Figuren un gollnen Zyraten. Vör de Döhr marscheerden die Soldaten und se blösen Trumpeten und slögen Pauken un Trummeln: awerst in dem Huse, da güngen de Baronen un Grawen un Herzogen man so as Bedeenters herüm: do makten se em de Dören up, de von luter Gold wören. Un as he herinköhm, door seet syne Fru up enem Troon, de wöör von een Stück Gold, un wöör wol twe Myl hoog: un hadd ene groote gollne Kroon up, de wöör dre Elen hoog un mit Briljanten un Karfunkelsteen besett: in de ene Hand hadde se den Zepter un in de annere Hand den Reichsappel, un up beyden Syden by eer, door stünnen de Trabanten so in twe Regen, jümmer en lüttjer as de annere, von dem allergröttesten Rysen, de wöör twe Myl hoog, bet to dem allerlüttjesten Dwaark, de wöör man so groot as min lüttje Finger. Un vör ehr stünnen so vele Fürsten un Herzogen. Door güng de Mann tüschen staan und säd »Fru, büst du nu Kaiser?« »Ja,« säd se, »ik bün Kaiser.« Do güng he staan un beseeg se sik so recht, un as he se son Flach ansehen hadd, so säd he »ach, Fru, wat lett dat schöön, wenn du Kaiser büst.« »Mann,« säd se, »wat staist du door? ik bün nu Kaiser, nu will ik awerst ook Paabst warden, ga hen tom Butt.« »Ach, Fru,« säd de Mann, »watt wulst du man nich? Paabst kannst du nich warden, Paabst is man eenmal in der Kristenhait, dat kann he doch nich maken.« »Mann,« säd se, »ik will Paabst warden, ga glyk hen, ik mutt hüüt noch Paabst warden.« »Ne, Fru,« säd de Mann, »dat mag ik em nidi seggen, dat gait nich good, dat is to groff, tom Paabst kann de Butt nich maken.« »Mann, wat Snack!« säd de Fru, »kann he Kaiser maken, kann he ook Paabst maken. Ga foorts hen, ik bünn Kaiser, un du büst man myn Mann, wult du wol hengaan?« Do wurr he bang un güng hen, em wöör awerst ganß flau, un zitterd un beewd, un de Knee un de Waden slakkerden em. Un dar streek son Wind äwer dat Land, un de Wolken flögen, as dat düster wurr gegen Awend: de Bläder waiden von den Bömern, und dat Water güng un bruusd, as kaakd dat, un platschd an dat Äver, un von feern seeg he de Schepen, de schöten in der Noot, un danßden un sprüngen up den Bülgen. Doch wöör de Himmel noch son bitten blau in de Midd, awerst an den Syden, door toog dat so recht rood up as en swohr Gewitter. Do güng he recht vörzufft (verzagt) staan in de Angst un säd »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.« »Na, wat will se denn?« säd de Butt. »Ach,« säd de Mann, »se will Paabst warden.« »Ga man hen, se ist all,« säd de Butt. Do güng he hen, un as he door köhm, so wöör dar as en groote Kirch mit luter Pallastens ümgewen. Door drängd he sik dorch dat Volk: inwendig was awer allens mit dausend un dausend Lichtern erleuchtet, un syne Fru wöör in luter Gold gekledet, un seet noch up enem veel högeren Troon, un hadde dre groote gollne Kronen up, un üm ehr dar wöör so veel von geistlykem Staat, un up beyden Syden by ehr, door stünnen twe Regen Lichter, dat gröttste so dick und groot as de allergröttste Toorn, bet to dem allerkleensten Käkenlicht; un alle de Kaisers un de Königen, de legen vör ehr up de Kne und küßden ehr den Tüffel. »Fru,« säd de Mann und seeg se so recht an, »büst du nun Paabst?« »Ja,« säd se, »ik bün Paabst.« Do güng he staan un seeg se recht an, un dat wöör, as wenn he in de hell Sunn seeg. As he se do en Flach ansehn hadd, so segt he »ach, Fru, wat lett dat schöön, wenn du Paabst büst!« Se seet awerst
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Grimms Märchen: Nicht nurr fürr Führungskräfte
ganß styff as en Boom, un rüppeld un röhrd sik nich. Do säd he »Fru, nu sy tofreden, nu du Paabst büst, nu kannst du doch niks meer warden.« »Dat will ik my bedenken,« säd de Fru. Mit des güngen se beyde to Bedd, awerst se wöör nich tofreden, un de Girighait leet se nich slapen, se dachd jümmer, wat se noch warden wull. De Mann sleep recht good un fast, he hadd den Dag veel lopen, de Fru awerst kunn goor nich inslapen, un smeet sik von en Syd to der annern de ganße Nacht un dachd man jümmer, wat se noch wol warden kunn, un kunn sik doch up niks meer besinnen. Mit des wull de Sünn upgan, un as se dat Margenrood seeg, richtd se sik äwer End im Bedd un seeg door henin, un as se uut dem Fenster de Sünn so herup kamen seeg, »ha,« dachd se, »kunn ik nich ook de Sünn un de Maan upgaan laten?« »Mann,« säd se un stöd em mit dem Ellbagen in de Ribben, »waak up, ga hen tom Butt, ik will warden as de lewe Gott.« De Mann was noch meist inn Slaap, awerst he vörschrock sik so, dat he uut dem Bedd füll. He meend, he hadd sik vörhöörd, un reeff sik de Ogen ut un säd »ach, Fru, wat sädst du?« »Mann,« säd se, »wenn ik nich de Sünn un de Maan kan upgaan laten, un mutt dat so ansehn, dat de Sünn un de Maan upgaan, ik kann dat nich uuthollen, un hebb kene geruhige Stünd meer, dat ik se nich sülwst kann upgaan laten.« Do seeg se em so recht gräsig an, dat em son Schudder äwerleep. »Glyk ga hen, ik will warden as de lewe Gott.« »Ach, Fru,« säd de Mann, un füll vör eer up de Knee, »dat kann de Butt nich. Kaiser un Paabst kann he maken, ik bidd dy, sla in dy un blyff Paabst.« Do köhm se in de Booshait, de Hoor flögen eher so wild üm den Kopp, do reet se sik dat Lyfken up un geeff em eens mit dem Foot un schreed »ik holl dat nich uut, un holl dat nich länger uut, wult du hengaan?« Do slööpd he sik de Büxen an un leep wech as unsinnig. Buten awer güng de Storm, und bruusde, dat he kuum up de Föten staan kunn: de Huser un de Bömer waiden um, un de Baarge beewden, un de Felsenstücken rullden in de See, un de Himmel wöör ganß pickswart, un dat dunnerd un blitzd, un de See güng in so hoge swarte Bülgen as Kirchentöörn un as Baarge, un de hadden bawen alle ene witte Kroon von Schuum up. So schre he, un kun syn egen Woord nich hören, »Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will.« »Na, wat will se denn?« säd de Butt. »Ach,« säd he, »se will warden as de lewe Gott.« »Ga man hen, se sitt all weder inn Pißputt.« Door sitten se noch bet up hüüt un düssen Dag.
Die Lebenszeit (KHM 176) Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte »Herr, wie lange soll ich leben?« »Dreißig Jahre,« antwortete Gott, »ist dir das recht?« »Ach Herr,« erwiderte der Esel, »das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere
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Die Lebenszeit (KHM 176)
Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! erlaß mir einen Teil der langen Zeit.« Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. »Wie lange willst du leben?« sprach Gott zu ihm, »dem Esel sind dreißig Jahre zuviel, du aber wirst damit zufrieden sein.« »Herr,« antwortete der Hund, »ist das dein Wille? bedenke, was ich laufen muß, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?« Gott sah, daß er recht hatte, und erließ ihm zwölff Jahre. Darauff kam der Affe. »Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?« sprach der Herr zu ihm, »du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge.« »Ach Herr,« antwortete er, »das sieht so aus, ist aber anders. Wenns Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.« Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre. Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. »Dreißig Jahre sollst du leben,« sprach der Herr, »ist dir das genug?« »Welch eine kurze Zeit!« rieff der Mensch, »wenn ich mein Haus gebaut habe, und das Feuer auff meinem eigenen Herde brennt: wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! o Herr, verlängere meine Zeit.« »Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen,« sagte Gott. »Das ist nicht genug,« erwiderte der Mensch. »Du sollst auch die zwölff Jahre des Hundes haben.« »Immer noch zu wenig.« »Wohlan,« sagte Gott, »ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.« Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt. Also lebt der Mensch siebenzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauff folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muß das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.
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Wer hat Angst vor dem bösen Wolf? Quelle: Hofbauer/Unzner, Die beliebtesten Märchen der Gebrüder Grimm, illustriert von Christa Unzner, Annette Betz Verlag im Verlag Carl Ueberreuter, Wien/München 2001, S. 36.