Jane Robinson
Der Geist seiner verstorbenen Frau Irrlicht Band 076
Brenda riß die Augen auf. Da stand sie! Die Frau ...
7 downloads
378 Views
376KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jane Robinson
Der Geist seiner verstorbenen Frau Irrlicht Band 076
Brenda riß die Augen auf. Da stand sie! Die Frau mit den starren, toten Augen, Sie war wunderschön, aber trotzdem furchterregend, weil ihr Gesicht so wächsern war. Sie sah aus, als sei sie aus einer Totengruft gestiegen. Brenda war wie gelähmt. Sie wollte schreien. Doch ihre Stimmbänder gehorchten nicht…
Es ist wundervoll, so geliebt zu werden! dachte Brenda Keaton. Sie schloß die Augen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Das Leben mit Mark wird herrlich sein. Plötzlich riß ein unheimliches Geräusch sie aus ihren Träumen. Es war, als ob jemand mit schweren schleifenden Schritten auf die Tür des Wohnzimmers zukäme. Brenda fuhr erschrocken hoch. War jemand in ihre Wohnung eingedrungen? Sie beugte sich erregt vor und starrte mit weitaufgerissenen Augen auf die Tür. Das Schlurfen verstummte. Die Klinke bewegte sich, wurde nach unten gedrückt! Brenda sträubten sich die Haare. Das kann doch nur ein Alptraum sein! dachte sie und wollte schreien. Aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sie saß wie gelähmt da, nicht fähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie ein eisernes Band legte es sich um ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer. Die Türklinke wurde langsam heruntergedrückt, so, als wollte der Eindringling jedes Geräusch vermeiden. Wären nicht zuvor die schlurfenden Schritte in der Diele zu hören gewesen, Brenda wäre ganz sicher nicht aufmerksam geworden. Wie hypnotisiert hing ihr Blick an der Türklinke. Öffnete sie sich wirklich? Oder bildete sie sich das alles nur ein? Brenda rang keuchend nach Atem und schloß einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war sie sicher, daß die Tür bewegt wurde! Sie stöhnte auf. Sie wollte fliehen, aber sie konnte sich nicht rühren. Da! Etwas schob sich neben der Klinke um das Holz der weißen Tür. Nein! wollte Brenda schreien. Das ist zu entsetzlich!
Ihr brach der kalte Schweiß aus. Durch den Türspalt schoben sich fünf schwarze Finger – eine Hand – eine große Hand, wie von einem Mann! Sie tastete sich über den Türpfosten und fuhr suchend über die Tapete mit dem zarten Rosenmuster. Der Lichtschalter! durchfuhr es Brenda. Er sucht den Lichtschalter, um das Licht zu löschen. Und wenn es im Zimmer dunkel geworden ist, wird er… Sie war nicht fähig, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Die große schwarze Hand erreichte mit den Fingerspitzen den Lichtschalter und rückte ihn hinunter. In derselben Sekunde war es stockfinster um Brenda. Die Finsternis war wie ein erstickendes Tuch, das über sie gefallen war. Die Tür knarrte in den Angeln. Das tat sie immer, wenn sie geöffnet wurde. Es klang nicht so entsetzlich wie in diesem Augenblick. Brenda duckte sich tief in den Sessel. Vielleicht würde der Eindringling sie nicht bemerken. Natürlich nicht! sagte ihre Vernunft. Er muß wissen, daß jemand im Zimmer ist. Sonst hätte das Licht nicht gebrannt. Wenn er trotzdem hereingekommen ist, kann er keine Skrupel kennen. Dann muß er sicher sein, daß sie ihm nicht entkommen kann. Sie fröstelte vor Angst und kauerte sich noch tiefer in den Sessel. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. In der Türöffnung zeichnete sich ein großer Schatten ab. Es mußte ein Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern sein – ein Hüne von Gestalt. Die schweren Schritte begannen erneut zu schlurfen. Der große Schatten bewegte sich und kam auf den Sessel zu, in
dem Brenda saß. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis er sie erreicht hatte. Was wird mit mir geschehen? dachte sie halb besinnungslos vor Angst. Wenn ich doch nur um Hilfe rufen könnte! Sie machte einen verzweifelten Versuch und öffnete die Lippen. Doch da begannen ihre Zähne vor Angst so zu klappern, daß sie die Lippen erschrocken wieder zusammenpreßte. Was würde das Schreien schon noch nützen? resignierte sie. Die Büros im Parterre und im ersten Stock sind längst leer. Und die Mieter darüber würden mich ohnedies nicht hören können…
*
Lord Mark Bentham versuchte vergebens, sich auf die Ausführungen des Vorsitzenden zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und befaßten sich, statt mit der trockenen Materie, die der Ausschuß zu behandeln hatte, mit der Frau, die sein Herz so ganz erfüllte. Brenda Keaton war ihm erst vor wenigen Wochen begegnet. Doch er hatte schon nach dem ersten Abend gewußt, daß sie die Frau war, nach der er sich immer gesehnt hatte – liebenswert, verständnisvoll, charmant und klug, und dabei so bezaubernd und schön. Brenda bedeutete für ihn die Erfüllung, und er war überglücklich, als er erkannte, daß ihr Herz für ihn schlug. Sie hatten sich in den vergangenen Wochen beinahe jeden Tag gesehen und immer mehr erkannt, wie wunderbar sie zueinander paßten. Gestern abend hatte er sie gebeten, seine Frau zu werden.
Ein seliges Lächeln umspielte Marks Lippen, und sein Gesicht bekam bei den Gedanken an Brenda einen so weltentrückten Ausdruck, daß Lord Ashwood aufmerksam wurde. Er beugte sich zu ihm hin und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen. Mark schreckte auf und sah ihn bestürzt an. »Was ist?« fragte er leise. »Nichts«, erwiderte Lord Harry Ashwood lächelnd. »Nur solltest du dein Gesicht ein wenige besser unter Kontrolle haben, wenn du auch hier noch von deiner großen Liebe träumst.« Mark Bentham lächelte verlegen und machte eine kleine Geste mit den Händen, die sein Verhalten entschuldigen sollte. »Ich verstehe dich ja«, flüsterte Lord Ashwood ihm zu. »Sie ist wirklich ganz bezaubernd. Und eine junge Liebe kann einen ganz schön durcheinanderbringen.« »Weiß Gott!« Lord Bentham seufzte. »Ehe ich Brenda begegnet bin, hätte ich das nicht für möglich gehalten.« Der Vorsitzende hatte seine Ausführungen beendet und erkundigte sich mit einem Blick in die Runde, ob einer der Anwesenden weitere Argumente für oder gegen das Projekt vorzubringen habe. Es meldete sich niemand zu Wort. Offenbar waren alle Anwesenden nur noch daran interessiert, diese Sitzung endlich zu Ende zu bringen. »Da keine Wortmeldungen…« Der Vorsitzende schnarrte die im Protokoll vorgeschriebenen Redewendungen herunter, ließ durch Handzeichen abstimmen und verkündete danach zu aller Erleichterung, die Sitzung sei beendet. Lord Mark atmete auf.
»Manchmal frage ich mich, ob man die Prozedur nicht vereinfachen; könnte. Es würde ziemlich viel Zeit einsparen«, bemerkte er. »Vielleicht«, sagte Lord Ashwood. »Aber Tradition ist Tradition. Dies ist ein System, das sich seit langem bewährt!« Er schob seine Hand in den Arm des Freundes. »Kommst du mit an die Bar?« »Ja, gern«, antwortete Mark. »Aber vorher möchte ich noch telefonieren.« »Brenda?« fragte Lord Ashwood lächelnd. »Sie wird schon auf meinen Anruf warten. Wir treffen uns an der Bar. Es dauert nicht lange.« Lord Mark hatte es eilig, die nächste Sprechzelle zu erreichen. Er hatte zwar erst am Nachmittag mit Brenda telefoniert, aber das schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Harry Ashwood sah ihm nach und unterdrückte einen Seufzer. Einmal so verliebt sein wie Mark, dachte er. Lord Mark nahm den Hörer ab, schob eine Münze in den Schlitz des Automaten und wählte Brendas Nummer. Ungeduldig lauschte er auf das Rufzeichen. Fünfmal – sechsmal kam der langanhaltende Ton. Aber Brenda meldete sich nicht. Hatte sie nicht vorhin versprochen, auf seinen Anruf zu warten? Wieso nahm sie jetzt den Hörer nicht ab? War sie am Ende gar nicht zu Hause? Lord Mark legte den Hörer enttäuscht aus der Hand und verließ die Sprechzelle. Als er in der Bar erschien, sah ihm der Freund gleich an, daß dieses Gespräch nicht so verlaufen war, wie er es sich erhofft hatte. »Kleine Meinungsverschiedenheit?« fragte er und schob ihm den Whisky zu, den er inzwischen für ihn bestellt hatte. Lord Mark schüttelte den Kopf.
»Sie hat den Hörer nicht abgenommen.« Er nahm einen hastigen Schluck. »Dabei hat sie gewußt, daß ich anrufen würde. Sie ist noch nie ausgegangen, wenn sie – wenn ich…« Er nahm noch einen Schluck und setzte das Glas heftig ab. Harry lachte leise auf. »Wenn man dich reden hört, könnte man annehmen, du seist im Begriff, die Eifersucht zu entdecken.« »Ach was!« Mark winkte unwillig ab. »Ich weiß, daß ich keinen Grund habe, wegen Brenda eifersüchtig zu sein. Aber es beunruhigt mich, daß sie nicht auf meinen Anruf gewartet hat. Es muß etwas passiert sein.« Harry schüttelte den Kopf über ihn. »Typisch für Verliebte!« entgegnete er. »Immer alles gleich dramatisieren. Wahrscheinlich sitzt sie in der Badewanne oder hat das Radio zu laut gestellt, so daß sie das Läuten des Telefons überhört hat. Versuche es in einer halben Stunde noch einmal. Du wirst sehen, dann steht sie schon neben dem Apparat und wartet voller Ungeduld auf deinen Anruf.« »Wahrscheinlich hast du recht.« Mark seufzte und fuhr sich mit einer nervösen Geste übers Haar. »Zigarette?« fragte Harry und hielt ihm sein Etui hin. »Danke.« Mark bediente sich und ließ sich Feuer geben. Er machte ein paar hastige Züge und streifte das Aschenhäubchen von seiner Zigarette. »Ich weiß, ich benehme mich kindisch«, sagte er. »Aber seit ich Brenda kenne, ist alles anders. Schon der Gedanke, daß ihr etwas zustoßen könnte, macht mich wahnsinnig.« Harry legte ihm den Arm um die Schultern. »Wahrscheinlich ist das der Preis, den man bezahlen muß, wenn man so liebt wie du«, erwiderte er. »Trotzdem solltest du dich nicht verrückt machen, Mark. Was sollte Brenda zustoßen? Du kannst nicht gleich an so etwas denken, nur weil sie mal den Hörer nicht aufnimmt, wenn du anrufst. Was sollte
ihr passieren? Wir leben hier nicht im Wilden Westen, sondern in England.« Mark seufzte wieder und nickte. »Du hast ja recht. Ich weiß, daß du recht hast, Harry. Und trotzdem habe ich plötzlich Angst um sie. Ich kann es nicht begründen, aber es ist so. Ich spüre es. Irgendwie ist sie in Gefahr. Es gibt doch so etwas wie Telepathie, oder?« Mark wiegt den Kopf. »Manche behaupten das. So was läßt sich schwer beweisen. – Trinken wir noch ein Glas«, lenkte er ab und gab dem Barkeeper ein Zeichen, ihre Gläser noch einmal zu füllen.
*
Brendas Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Der große Schatten schien sie nicht zu bemerken, denn er ging an ihrem Sessel vorüber auf das Wandregal zu, dorthin, wo ihr Plattenspieler stand. Wollte er ihn stehlen? Sie duckte sich weiterhin tief in ihren Sessel. Ihr Pulsschlag dröhnte so laut in ihren Ohren, daß er alle anderen Geräusche übertönte. Sie hatte für den Plattenspieler lange gespart und war so stolz, ihn zu besitzen. Aber wenn sie dafür ihr Leben retten konnte, wollte sie gern auf den Plattenspieler verzichten. Wenn sie erst Marks Frau war, würden solche Dinge ohnedies kein Luxus mehr für sie sein. Der Mann dachte offenbar gar nicht daran, den Plattenspieler zu stehlen. Er hatte kaum die Hände danach ausgestreckt, da erklang Musik. Es war wilde, aufpeitschende Musik, wie Brenda sie nie zuvor gehört hatte. Ganz sicher kam sie nicht von einer ihrer eigenen Schallplatten.
Hatte der unheimliche Eindringling sie etwa mitgebracht, um sie hier abzuspielen? Brenda blieb keine Zeit, über das Wieso und Warum nachzudenken, denn die Musik lockte aus allen Winkeln ihres Zimmers furchterregende Gestalten an. Sie hatten übergroße Köpfe und Augen, die grünlich schillerten. Sie trugen schleierartige Gewänder, die bis auf den Boden reichten, und sie führten einen wahren Höllentanz auf. Sie wanden sich in ekstatischen Bewegungen zu der immer schneller werdenden Musik, bis sie auf ein Zeichen des hünenhaften Schattens den Sessel umringten, in dem Brenda saß. Brenda preßte zitternd beide Hände über die Lippen. Sie zog die Füße an und kauerte sich ängstlich in den Sessel. Narrte sie in der Dunkelheit ein Spuk? Oder mußte sie ihren Augen trauen? Wäre sie auf einem einsamen Schloß in Schottland gewesen, hätte sie an Gespenster geglaubt. Aber sie befand sich in ihrer Wohnung in London! Sie wohnte seit fünf Jahren in diesem Haus, und es hatte sich niemals zuvor etwas Absonderliches ereignet – etwas, das mit dem Verstand nicht zu erklären war. Die unheimlichen Wesen stimmten ein solches Freudengeheul an, daß Brenda glaubte, das Blut müsse ihr in den Adern gefrieren. Sie spürte, wie sich ihr Sessel bewegte. Er wurde hochgehoben, schwebte einen Moment so hoch in der Luft, daß Brenda mit der Hand die Decke hätte erreichen können, und sank dann mit heftigem Druck auf die Erde zurück, so daß seine dünnen Beine zersplitterten und Brenda auf den Boden stürzte. Als sie sich von diesem Schreck erholt hatte und sich aufrichten konnte, waren die Geistergestalten verschwunden, und vor ihr stand eine Frau. Sie war schön, aber auch furchtbar
anzusehen. Ihre Augen blickten sie so starr an wie die Augen einer Toten. Ihr Gesicht war wächsern bleich und von dunkelbraunem Haar eingerahmt. Sie trug ein langes Gewand, das aussah wie ein Totenhemd, und in der Hand hielt sie einen kostbaren Kerzenleuchter, dessen brennende Kerze einen seltsamen süßlichen Duft verströmte. Die Geisterfrau hob den Kerzenleuchter hoch, so daß es aussah, als wollte sie Brenda damit erschlagen. Brenda legte instinktiv die Arme vor den Kopf und duckte sich. Doch der Schlag blieb aus. Die Musik verstummte. Das Licht flammte auf, und als Brenda sich umsah, war von dem schrecklichen Spuk nichts mehr zu sehen. Sie strich sich verstört über die Augen. Vielleicht bin ich eingenickt und habe geträumt, dachte sie. Aber wieso sitze ich auf dem Fußboden? Ich hatte mich doch in den Sessel gesetzt. Sie drehte sich um, und als sie den Sessel sah, rann ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Der Sessel war umgekippt und seine zierlichen Holzfüße zersplittert. Hatte sie das also doch nicht geträumt? Hatte sich das Gespenstische, das eben hier geschehen war, wirklich zugetragen? Ihr Blick glitt zur Regalwand hinüber und blieb an dem Plattenspieler hängen. Sie konnte von hier aus erkennen, daß eine Schallplatte auf der Scheibe lag. Sie war aber sicher, daß sie die letzte gespielte Platte ordentlich in den Umschlag zurückgesteckt hatte. Ein Zittern lief durch ihre Glieder. Sie hatte Mühe aufzustehen.
Zögernd und mit bang klopfendem Herzen näherte sie sich dem Plattenspieler. Auf der Scheibe lag tatsächlich eine Schallplatte, und die Nadel war da stehengeblieben, wo die Musik geendet hatte. Brenda beugte sich über die Platte, um die Aufschrift lesen zu können. Die Nacht auf dem kahlen Berge, stand da. Den Namen des Komponisten hatte sie nie zuvor gehört. Diese Schallplatte hatte sie nie gekauft. Sie wußte mit aller Sicherheit, daß diese Platte vorhin noch nicht in ihrer Wohnung gewesen war! Das alles geht doch nicht mit rechten Dingen zu, dachte sie. Sie streckte die Hand nach dem Tonarm aus und wollte ihn in die Ruheposition ziehen. Doch da sprang er von selbst zurück, noch ehe sie ihn berührt hatte. Brenda hielt den Atem an. War der Spuk noch nicht zu Ende? Sekundenlang stand sie reglos da und starrte auf die fremde Platte. Es ereignete sich nichts. Endlich faßte sie sich ein Herz, griff zu, hob die Platte auf und wollte sie untersuchen, um vielleicht einen Hinweis zu finden. Doch ehe sie sie genauer ansehen konnte, schmolz die schwarze Scheibe in ihren Händen und tropfte in großen schwarzen Tropfen auf den Teppich, daß es einen häßlichen Fleck gab. Brenda starrte verstört darauf. Sie bückte sich und strich mit den Fingerspitzen über den Fleck. Er fühlte sich feucht an und färbte ihre Fingerspitzen dunkel. »Ich verliere noch den Verstand!« stöhnte sie. »Ich sehe Dinge, die man gar nicht sehen kann! So etwas kann es nicht geben!« Um sie herum kicherte es. Sie schreckte auf und sah sich zitternd um.
Woher kam dieses unheimliche Lachen? Waren die Spukgestalten nicht verschwunden? Hielten sie sich noch als unsichtbare Schatten in ihrem Wohnzimmer auf? Konnten sie sie beobachten? Vielleicht hatten sie nicht nur den Sessel zerstört, sondern auch die rätselhafte Schallplatte? Vor der Tür zur Diele war ein Geräusch. Brenda fuhr mit einem Ruck herum. Zu sehen war nichts. Aber sie hörte ganz deutlich, wie sich schwere schlurfende Schritte entfernten. Das schattenhafte Ungeheuer! dachte sie erschauernd. Es hat hinter der Tür gestanden! Sie lauschte den dumpfen Schritten nach, bis sie verklungen waren. Er ist fort! Brenda atmete erleichtert auf. Als sie sich dem Fleck auf dem Fußboden wieder zuwandte, war er verschwunden. »Nein!« stöhnte sie. »Das ist ja entsetzlich.« Brenda starrte auf ihre Fingerspitzen, die eben noch schwarz verfärbt gewesen waren. Auch davon war nichts mehr zu sehen. Der Sessel. Das war ihr nächster Gedanke. Er lang zertrümmert auf dem Boden. Doch als sie sich ihm zuwandte, stand er wie immer neben der Leselampe, so, als sei nichts geschehen. Brenda sprang auf, ging auf den Sessel zu und untersuchte die zierlichen Beine. Nichts deutete darauf hin, daß sie eben noch zersplittert vor ihr gelegen hatten! Da hörte sie wieder das gespenstische Kichern. Brenda drehte sich einmal um ihre eigene Achse und suchte nach den Spukgestalten, die sie mit ihrem wilden Tanz erschreckt hatten. Sie waren aber nicht zu sehen! Alles, was noch an die unheimlichen Geschehnisse dieses Abends erinnerte, war der seltsam süßliche Duft, den Brenda
zum erstenmal wahrgenommen hatte, als die Frau mit den toten Augen erschienen war. Sie sank vor dem Sessel in die Knie und barg den Kopf in den Armen. »Es ist alles nicht wahr!« flüsterte sie. »Ich habe nur geträumt! Es gibt keinen Spuk! Nichts kann geschehen, was nicht mit dem Verstand zu erklären wäre. Nichts!« Lord Bentham war an diesem Abend kein guter Gesellschafter. Was immer Lord Ashwood auch sagte, er reagierte nur zerstreut, denn seine Gedanken befaßten sich mit Brenda. Auch wenn es gegen die Vernunft schien, er sorgte sich um sie. Er hatte das Gefühl, daß sie in Gefahr war. »Weißt du, Mark«, Lord Ashwood legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe dich in den vergangenen Wochen beneidet, weil du vor Glück überschäumtest. Seit heute abend sehe ich das alles doch etwas anders. Nur weil Brenda nicht pünktlich den Hörer abhebt, wirst du zu einem Nervenbündel. Soweit sollte es nicht gehen.« Mark zuckte die Schultern und sah ihn unglücklich an. »Es ist nicht allein, daß sie das Gespräch nicht beantwortet«, gestand er. »Ich spüre es hier.« Er schlug sich auf die Brust. »Ich kann es nicht erklären. Es ist so, als riefe Brenda um Hilfe.« Sein Freund schüttelte den Kopf über ihn. »Wenn sie wirklich Hilfe brauchte, würde sie dich hier anrufen. Oder weiß sie nicht, wo du bist?« »Doch, natürlich«, sagte Mark. »Na also! Und da sie nicht angerufen hat, braucht sie auch keine Hilfe«, folgerte Lord Ashwood. Mark fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Sie braucht Hilfe! Sie ist in Gefahr! Ich spüre es!« stöhnte er.
»Also, dann geh noch mal zum Telefon. Versuche, sie zu erreichen. Vielleicht ist sie inzwischen zu Hause – oder sie hat das Bad verlassen – oder das Radio abgestellt. Du wirst sehen, es wird sich alles aufklären.« Es war, als hätte Mark nur auf diese Aufforderung gewartet. Er glitt sofort von seinem Barhocker hinunter und durchquerte den Raum mit eiligen Schritten. Seine Finger zitterten vor Aufregung, als er die Münze in den Automaten steckte und Brendas Nummer wählte. Der Ruf ging dreimal hinaus, dann knackte es in der Leitung. Mark schloß die Augen. Endlich! dachte er. Aber bevor er dazu kam, erleichtert aufzuatmen, meldete sich eine fremde Stimme. »Die Leitung ist leider gestört. Bitte rufen Sie später wieder an. – Die Leitung ist leider gestört. Bitte rufen…« Mark hängte ein. Als er sich umdrehte, stand Harry hinter ihm. »Immer noch nicht?« fragte er, als er Marks Gesicht sah. Mark schüttelte den Kopf. »Die Leitung ist gestört«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Na also! Ich sagte es doch. Kein Grund, sich zu sorgen. Eine gestörte Leitung ist kein Beinbruch.« »Eine gestörte Leitung nicht.« Mark seufzte. »Aber da ist bestimmt noch etwas anderes.« Der Freund lachte. »Was soll ich dir darauf antworten? Du erwartest doch nicht, daß ich dich jetzt noch ernstnehme?« Mark runzelte die Stirn und schwieg. Harry bereute seine letzte Bemerkung. Es hatte ganz den Anschein, als sorgte Mark sich wirklich um seine zukünftige Frau. »Na, wenn es denn so ist«, lenkte er ein. »Warum fährst du nicht einfach zu ihr und siehst nach, was mit ihr ist?« »Unangemeldet?« fragte Mark.
»Ich denke, deine Sorge um Brenda rechtfertigt diese Ausnahme. Immerhin wird sie in wenigen Wochen deine Frau. Und wenn sie wirklich Hilfe braucht, könnte sie dich ja nicht anrufen, weil ihre Leitung gestört ist.« »Fahren wir«, sagte Mark. »Du kommst doch mit?« Er sah den Freund bittend an. »Wenn du möchtest – natürlich.« Harry schob seine Hand unter Marks Arm. »Am besten nehmen wir meinen Wagen. Du bist in einer Verfassung, in der das Autofahren lebensgefährlich sein könnte.« Mark war mit allem einverstanden. Er wünschte, er wäre schon vor einer Stunde aufgebrochen und zu Brenda gefahren. Er saß voller Ungeduld neben Harry, und seine Angst um Brenda ließ ihn die fürchterlichsten Bilder sehen. Als sie das Haus endlich erreichten, in dem Brenda wohnte, sprang er aus dem Wagen, noch ehe der Wagen richtig hielt, und lief die Treppe zum Eingang der Souterrainwohnung hinunter. Die Tür stand halb offen. Um diese Zeit? durchfuhr es Mark. Sollte Brenda das Haus verlassen haben, ohne die Tür zu verschließen? – Oder befand sie sich im Haus und hatte vergessen, die Haustür hinter sich zuzumachen? Harry hatte inzwischen den Wagen abgestellt und folgte dem Freund. Mark sah ihn bestürzt an. »Die Haustür!« murmelte er. »Brenda hat die Haustür noch nie unverschlossen gelassen! Wieso steht sie offen?«
*
Brenda schreckte auf, weil sie in der Diele wieder Geräusche vernahm. Kam das entsetzliche Schattenungeheuer zurück? Im nächsten Moment vernahm sie eine Stimme, die sie aus Tausenden herausgehört hätte. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. »Mark!« flüsterte sie. »Ihn schickt der Himmel!« Sie sprang auf und riß die Tür zur Diele auf. Da stand tatsächlich Mark mit einem seiner Freunde vor ihr. »Mark?« stöhnte sie. Plötzlich drehte sich alles vor ihren Augen. Sie taumelte. »Brenda!« Er lief auf sie zu und fing sie auf. »Brenda! Was ist geschehen? Wieso steht deine Tür um diese Zeit offen?« Er preßte sie an sich. »Mein Gott, du zitterst ja! Ist dir etwas zugestoßen?« Brenda war nicht fähig zu antworten. Sie lehnte kraftlos an seiner Brust. Harry hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte den Freund geneckt. Dabei war seine instinktive Sorge um Brenda offenbar nicht ohne Grund gewesen. »Ich warte draußen im Wagen«, sagte er, weil er die beiden jetzt alleinlassen wollte. »Danke.« Mark nickte ihm zu. »Brenda, Liebling, was ist passiert?« fragte er und streichelte sie, um sie zu beruhigen. »Wieso war deine Tür nicht zu? Und warum ist deine Telefonleitung gestört?« Brenda war froh, von Marks Armen gehalten zu werden. Sie hätte ihm nur zu gern berichtet, was sich vor kurzem in ihrem Wohnzimmer abgespielt hatte. Doch wie hätte sie ihm den Spuk schildern können, damit er ihr glaubte? Was sie vorhin erlebt hatte, war so ungewöhnlich, daß ihr sicher niemand Glauben schenken würde.
Nein, sie mußte das alles für sich behalten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, daß man an ihrem Verstand zu zweifeln begann. Sie selbst traute ja ihren Augen nicht mehr. »Ich bin nur ein wenig erschöpft«, versuchte sie sich herauszureden. »Es ist nichts weiter.« Mark glaubte ihr nicht. Er faßte sie bei den Schultern und hielt sie ein Stück von sich ab. »Du zitterst«, meinte er. »Und in deinen Augen spiegelt sich Angst wider. Du willst mir doch nicht einreden, daß alles in Ordnung ist?« Er versuchte ihren Blick festzuhalten. Doch Brenda wich ihm aus. »Sieh mich an!« forderte er. Brenda gehorchte, und ihr Blick strafte ihre Worte Lügen. »Habe ich nicht ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen ist?« fragte Mark. Brenda senkte den Blick. Sie mochte ihn nicht anlügen. Aber die Wahrheit getraute sie sich nicht auszusprechen. »Es ist wirklich nichts«, beteuerte sie noch einmal. »Ich war nur so erschrocken, als ich Stimmen in der Diele hörte. Da fiel mir ein, daß ich vorhin in der Eile vergessen haben könnte, die Haustür zu schließen.« Keine gute Lüge! dachte sie bei sich. Aber sie war viel zu verwirrt, um geschickt zu lügen. »Nun – wenn du es mir durchaus nicht sagen willst…« Mark nahm die Hände von ihren Schultern und machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl. »Möchtest du nicht hereinkommen?« bat Brenda. Mark war verstimmt. Er hatte sich eingebildet, daß es zwischen Brenda und ihm keine Geheimnisse mehr gebe. Nun verschwieg sie ihm ganz offensichtlich etwas sehr Entscheidendes.
»Ich bin nicht allein«, entgegnete er. »Harry ist mitgekommen. Als deine Leitung gestört war, beschloß ich herzukommen und nach dir zu sehen. Irgendwie war ich beunruhigt. Mehr noch, ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Aber wie ich jetzt sehe, war das völlig unbegründet – Oder?« Er sah sie prüfend an und erwartete, daß sie jetzt endlich sprechen würde. »Wie aufmerksam du bist, Mark!« sagte Brenda. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich möchte euch nicht ohne eine Erfrischung gehen lassen. Willst du Lord Ashwood nicht hereinbitten?« »Ich glaube nicht.« Mark wandte sich zum Gehen. »Wir haben an der Bar schon etwas getrunken. Und Harry muß noch fahren. Es ist…Du solltest schlafen gehen.« Brenda spürte aus jedem seiner Worte, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte. Sie war betrübt darüber und hätte so gern alles aufgeklärt. Wenn sie doch nur den Mut gefunden hätte, sich ihm anzuvertrauen! »Ich bringe dich zur Tür«, bot sie an. »Danke, ich finde schon allein hinaus«, erwiderte er steif. Sie gingen plötzlich wie Fremde miteinander um. Der vertraute Ton, der von Anfang an zwischen ihnen geherrscht hatte, schien verloren zu sein. »Danke, daß du hergekommen bist, Mark«, sagte Brenda und wollte die Arme um seinen Hals legen. Doch Mark wich ihr aus. Er drückte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und wandte sich der Haustür zu. »Bis morgen«, sagte er beim Hinausgehen. »Ich hole dich wie vereinbart ab.« Brenda stand wie erstarrt in der Diele und wartete so sehr darauf, daß er sich noch einmal umdrehen würde. Aber das tat er nicht. Er ging hinaus und zog die Haustür hinter sich ins Schloß.
Brenda hörte seine Schritte auf der Treppe vor dem Haus. Dann wurde eine Wagentür geöffnet und darauf wieder ins Schloß geworfen. Ein Motor sprang an. Der Wagen setzte sich in Bewegung.
*
Mark fuhr mit seinem Freund fort, ohne ihr eine gute Nacht gewünscht zu haben. Brenda schlug die Hände vors Gesicht und weinte vor Verzweiflung. Jetzt, da es zu spät war, begriff sie, wie falsch sie sich verhalten hatte. Mark hatte erkannt, daß sie ihm etwas verschwieg, und dieses Schweigen empfand er wie einen Vertrauensbruch. Es schmerzte sie unsagbar, ihn so enttäuscht zu haben. Der erste Rauhreif war auf ihr Glück gefallen. Von nun an konnte es nie wieder so werden, wie es zu Beginn ihrer Liebe gewesen war. Brenda kehrte mit schleppenden Schritten in ihr Wohnzimmer zurück. Unglücklich blickte sie zu jenem Sessel hin, in dem sie vor kurzem noch von einer glücklichen Zukunft geträumt hatte. Konnte dieses Glück noch Wirklichkeit werden? Was sollte werden, wenn sich ähnliche spukhafte Erscheinungen wie an diesem Abend wiederholen würden? Brenda schreckte auf und sah sich verstört um, weil sie Stimmen zu hören glaubte. Es war wie aufgeregtes Getuschel, von amüsiertem Gekicher gefolgt. Oder war es schadenfroh? Vielleicht gibt es jemanden, der mir das Glück mit Mark nicht gönnt? durchfuhr es sie. Könnte es sein, daß die bösen
Gedanken eines Menschen sich trennend zwischen Mark und mich drängen? »Das darf nicht geschehen!« flüsterte sie und faltete die Hände vor der Brust. »Lieber Gott, das laß nicht zu!« Plötzlich war wieder der unangenehme süßliche Duft in der Luft, der Brenda zum ersten Mal aufgefallen war, als ihr die Frauengestalt mit der brennenden Kerze erschien. War die Spukgestalt auch jetzt wieder im Zimmer? Brenda hielt den Atem an, weil ihr der Duft Übelkeit verursachte. Sie schaute sich suchend um, doch von der Gespensterfrau war nichts zu sehen. Es war überhaupt nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Meine Nerven spielen mir einen Streich, dachte Brenda. Ich wollte wirklich zu Bett gehen. Ich werde eine Schlaftablette nehmen. Morgen früh werde ich mich bedeutend besser fühlen. Wahrscheinlich kann ich dann über all das lächeln, was mich heute abend so sehr erschreckte. Sie löschte das Licht und begab sich ins Bad, um sich auszukleiden. Während sie vor dem Spiegel ihr Gesicht reinigte, öffnete sich der Wasserhahn über der Wanne, und heißes Wasser begann einzulaufen. Zuerst nahm Brenda das mehr unbewußt wahr. Doch dann wurde ihr klar, daß sie doch gar kein Bad nehmen wollte. Sie konnte den Wasserhahn nicht aufgedreht haben. Oder hatte sie es vielleicht ganz in Gedanken doch getan? Ich bin heute abend völlig verwirrt, dachte sie. Jetzt weiß ich schon nicht mehr, was ich getan habe und was nicht. Vielleicht würde mich ein warmes Bad entspannen und ich könnte ohne Tablette einschlafen? Brenda cremte ihr Gesicht ein, schlang ein Frottiertuch um ihr Haar und streifte ihren Bademantel ab. Sie prüfte mit den Fingerspitzen die Temperatur des Wassers und empfand sie als angenehm.
Brenda nahm ein Badetuch aus dem Schrank und legte es bereit. Dann stieg sie in die Wanne. Sie drehte den Hahn noch nicht zu, weil sie noch etwas mehr Wasser haben wollte. Brenda streckte sich behaglich aus, lehnte den Kopf gegen das Stützkissen und schloß die Augen. Morgen wird ein wundervoller Tag sein, dachte sie. Morgen werde ich Bentham Castle kennenlernen – meine neue Heimat. Vielleicht ergibt sich im Laufe des Tages auch eine Gelegenheit, mit Mark über die seltsamen Erlebnisse dieses Abends zu sprechen. Wie konnte es sein, daß mir meine Phantasie so durchgeht? Sicher werden wir über meine Einbildungskraft lachen können, und alles wird wieder gut sein. Brenda vertiefte sich ganz in die Gedanken an ihre glückliche Zukunft und bemerkte dabei nicht, daß die Temperatur des Wassers gefährlich anstieg. Der Dampf wurde immer dichter. Brenda war fast völlig von den feuchten Dunstschleiern eingehüllt, so daß ihr nur noch wenig Sauerstoff zum Atmen blieb. Sie merkte auch nicht, daß sie über ihren Träumen von der glücklichen Zukunft immer müder wurde. Ihre Lider senkten sich über die Augen, und sie schlief ein. Das Wasser kam inzwischen kochendheiß aus dem Hahn. Die Temperatur des Badewassers stieg immer weiter an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Brendas Schlaf in Bewußtlosigkeit übergehen würde. Ihr Körper würde alle Spannkraft verlieren, ihr Kopf vom Stützkissen gleiten und untertauchen. Damit würde ihr Schicksal besiegelt sein. Man würde sie ertrunken in der Badewanne auffinden und von einem tragischen Unglück sprechen. Niemand würde je erfahren, daß nicht Brenda selbst den Wasserhahn aufgedreht hatte. Niemand würde jemals auf die
Idee kommen, eine unsichtbare, finstere Macht könnte hier ihre Hand im Spiel gehabt haben. In der Diele läutete das Telefon. Der schrille Ton durchzuckte in gleichbleibenden Abständen die Stille dieses Abends. Irgendwann erreichte das durchdringende Geräusch auch Brendas Ohren. Es bohrte sich in ihre Trommelfelle, verursachte ihr geradezu physische Schmerzen und riß sie allmählich aus ihrer Bewußtlosigkeit. Zuerst nahm sie nur helle Dunstschwaden wahr, die sie wie eine weiße Decke völlig einhüllten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Brenda begriff, daß sie in der Wanne lag und das Wasser inzwischen viel zu heiß geworden war. Und noch etwas begriff sie: das heiße Wasser umspülte bereits ihren Mund! Die Wanne war bis zum Überlaufen gefüllt. Sie hätte nur ein wenig tiefer ins Wasser zu sinken brauchen, dann wäre sie unweigerlich im Schlaf ertrunken. Diese Erkenntnis wirkte wie ein Schock. Ihr Körper mobilisierte alle Kräfte. Sie richtete sich auf und wollte den Wasserhahn zudrehen. Doch der war inzwischen so heiß geworden, daß sie ihn nicht berühren konnte. Brenda griff nach einem Handtuch und umfaßte damit den heißen Hahn. Er ließ sich nur schwer zudrehen, aber sie schaffte es. Sie riß den Stöpsel aus der Wanne, damit das Wasser ablaufen konnte. Als sie sich aufrichtete, begann sich alles um sie zu drehen. Das Schrillen des Telefons schwoll in ihren Ohren zu einem irren Crescendo an. Mark, dachte sie noch. Es ist bestimmt Mark. Dann sank sie zu Boden, und es wurde Nacht um sie.
*
Lord Bentham kehrte mit finsterer Miene zum Wagen zurück. Harry öffnete ihm die Tür und ließ ihn einsteigen. »Ins Hotel!« stieß Mark hervor. Harry zögerte und betrachtete ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Bist du sicher, daß du schon fort möchtest?« Mark wandte ihm halb den Rücken zu. »Ganz sicher«, sagte er grimmig und schaute durch das Seitenfenster auf die Straße hinaus. Harry zögerte noch immer. »Du solltest eine kleine Meinungsverschiedenheit nicht gleich so schwernehmen«, redete er auf den Freund ein. Mark wandte sich ihm erregt zu. »Es handelt sich nicht um eine Meinungsverschiedenheit.« »Aber auch nicht um Untreue, wie ich vermute«, konterte Harry und startete den Wagen. »Natürlich nicht«, gab Mark zu. »Aber Brenda verheimlicht mir etwas. Sie hat kein Vertrauen zu mir. Das ist ebenso schlimm wie Untreue.« »Ich glaube, du schießt ganz erheblich übers Ziel hinaus!« hielt Harry ihm vor. »Ich kenne Brenda zwar nicht so gut wie du. Aber eines weiß ich ganz bestimmt: Sie ist eine wundervolle Frau. Sie liebt dich und würde dich niemals hintergehen.« »Und warum verschweigt sie mir dann etwas?« begehrte Mark auf. »Redest du dir das nicht nur ein?« »Bestimmt nicht!« versicherte Mark. »Du hast dir auch eingeredet, daß sie nicht zu Hause ist, weil sie das Telefon nicht beantwortete. Und dann stellte sich heraus, daß die Leitung gestört war.«
»Ja – schon«, gab Mark widerwillig zu. »Aber das war etwas anderes. Du hättest sie sehen sollen, Harry. Sie zitterte wie Espenlaub und wirkte völlig verstört.« »Vielleicht, weil du so unvermutet auftauchtest«, meinte Harry. »Nein, ich glaube, darüber war sie eher froh.« Mark preßte die Lippen fest zusammen. »Wenn sie über dein Erscheinen froh war, ist kaum anzunehmen, daß sie dir etwas verheimlichen wollte«, hielt Harry ihm entgegen. »Ich lasse mich nicht davon abbringen, daß sie etwas vor mir verbergen wollte!« beharrte Mark eigensinnig. »Und dann die Sache mit der offenen Haustür! – Nein, du kannst mir sagen, was du willst, da stimmt etwas nicht!« Nach dieser Bemerkung schwieg Harry, und es war eine Weile still zwischen den Freunden, bis Mark sagte: »Ich habe Brenda noch nie so erlebt. Sie war ganz außer sich.« »Wenn sie tatsächlich so verstört war, wie du annimmst, hättest du ihr vielleicht nur etwas mehr Zeit lassen müssen, um sie zum Sprechen zu bringen«, entgegnete Harry. Mark sah ihn betroffen an. Er widersprach nicht mehr. Harry hatte ihn mit seiner letzten Bemerkung nachdenklich gestimmt. »Wollen wir umkehren?« fragte Harry, als Mark schwieg. »Nein, das geht nicht«, lehnte Mark ab. »Brenda wollte zu Bett gehen. Aber ich könnte versuchen, sie vom Hotel aus anzurufen.« »Das wenigstens bist du ihr schuldig«, sagte Harry. »Ich bin sicher, sie wartet darauf. Und vergiß nicht, ihr etwas Nettes zu sagen.« »Natürlich nicht«, brummte Mark. Danach schwiegen sie wieder, bis sie das Claridge erreicht hatten. In diesem Hotel wohnten sie, wenn die Politik ihre Anwesenheit in London erforderlich machte.
Harry legte seinem Freund die Hand auf den Arm. »Einen Moment noch, Mark. Ich würde dir gern noch etwas sagen, ehe wir aussteigen.« Mark ließ sich nur ungern aufhalten, doch blieb er sitzen. »Ich hoffe, du mißverstehst meine Worte nicht und weißt, daß ich dein bester Freund bin?« Harry sah ihn ernst an. Mark zuckte unwillig die Schultern. »Natürlich weiß ich das. Aber bitte fasse dich kurz. Ich habe es eilig, wie du dir denken kannst. Ich möchte Brenda nicht gern mit meinem Anruf aus dem Schlaf schrecken.« »Du hast recht. Es ist schon spät. Wir sprechen ein anderes Mal über die Sache.« Harry wandte sich ab und stieg aus. Mark folgte ihm. Am Hoteleingang trennten sie sich. »Falls es sich ergibt, grüße Brenda von mir«, sagte Harry und nickte dem Freund verabschiedend zu. Mark hat die unglückliche Ehe mit Melissa und ihren tragischen Tod noch immer nicht überwunden, dachte er, während er mit dem Lift nach oben fuhr. Er ist überempfindlich. Ob Brenda es schaffen wird, ihn all das Häßliche vergessen zu lassen? Wird es ihm nicht immer wieder ins Gedächtnis kommen und trennend zwischen sie treten? Er steckte seinen Zimmerschlüssel ins Schloß und sperrte auf. Brenda hat ganz sicher noch keine Ahnung von all den Dingen, die sich auf Bentham Castle abgespielt haben, überlegte Harry weiter, während er sich auskleidete. – Ob ich es ihr irgendwann erzählen soll? Sicher würde sie Marks Reaktionen viel besser verstehen, wenn sie wüßte, was er durchgemacht hat. Aber zu einer solchen Eröffnung muß sich eine passende Gelegenheit ergeben, dachte er und streckte sich auf seinem Bett aus. Und am besten warte ich damit bis nach der
Hochzeit. Sonst könnte es passieren, daß sie sich entsetzt abwendet und Mark wieder allein ist.
*
Mark hatte es plötzlich sehr eilig, mit Brenda zu sprechen. Er nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, sein Zimmer aufzusuchen, sondern rief von einer Sprechzelle in der Hotelhalle aus an. Der Ruf ging hinaus. Doch es meldete sich niemand. Vielleicht habe ich die falsche Nummer in der Aufregung gewählt, dachte Mark. Er legte den Hörer auf und wählte noch einmal. Das Rufzeichen war zu hören. Doch Brenda nahm den Hörer nicht ab. Es meldete sich auch nicht die »eiserne Minna« mit der Durchsage: Die Leitung ist leider gestört. Was hatte das zu bedeuten? Mark rief die Störungsstelle an und wollte die Leitung überprüfen lassen. »Wie ist die Nummer?« fragte eine freundliche Stimme. Mark nannte Brendas Telefonnummer. »Wie werden den Auftrag gleich morgen früh durchführen«, versprach die nette Telefonistin. »Morgen früh erst?« fragte Mark gereizt. »Das ist zu spät. Ich muß es jetzt wissen.« »Außerhalb der Dienststunden überprüfen wir nur in dringendsten Fällen eine Leitung«, eröffnete ihm die freundliche Stimme geduldig. »Dies ist eine äußerst dringender Fall!« rief Mark. »Außerdem war die Leitung vor kurzem erst gestört.«
»Ein äußerst dringender Fall besteht, wenn es um die Sicherheit des Landes geht oder wenn ein Menschenleben in Gefahr ist«, klärte ihn die Telefonistin mit zurechtweisendem Unterton auf. »Das letztere vermute ich!« Mark stöhnte, »Bitte lassen Sie die Leitung überprüfen. Ich komme selbstverständlich für die zusätzlichen Kosten auf.« »Wie ist Ihr Anschluß bitte?« erkundigte sich die Dame. »Lord Bentham. Ich befinde mich im Claridge Hotel«, sagte Mark. »Ich rufe zurück«, erklärte die nette Stimme sachlich. »Legen Sie auf.« Mark gehorchte. Er tastete nervös seine Taschen nach Zigaretten ab, fand sein Etui schließlich und ließ es aufschnappen. Es war keine Zigarette mehr darin. »Auch das noch!« knurrte er und begann unruhig auf und ab zu gehen. Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich kam durch den Lautsprecher die Stimme: »Telefon für Lord Bentham, bitte, Lord Bentham – bitte Zelle zwei.« Mark lief so eilig auf die Telefonzelle zu, daß er beinahe mit einer alten Dame zusammengestoßen wäre. Er murmelte eine flüchtige Entschuldigung und lief weiter. Das freundliche Fräulein vom Amt gab ihm die Auskunft, die Mark befürchtet hatte. »Die Leitung ist nicht gestört. Der Teilnehmer meldet sich nicht!« Mark bedankte sich und legte auf. Er steckte eine Münze in den Automaten und wählte Brendas Nummer erneut an. Er ließ ihr Telefon läuten – zehnmal – fünfzehnmal. Wenn sie zu Hause war, mußte sie das Läuten doch irgendwann hören, gleichgültig wo sie sich befand oder wie tief sie auch schlafen mochte. Der Ruf wurde nicht beantwortet.
Bei fünfundzwanzig begann er einzusehen, daß er auch mit Beharrlichkeit nichts erreichen würde. Wahrscheinlich war Brenda nicht zu Hause und konnte deshalb das Telefon weder hören noch beantworten. Als er bei fünfunddreißig angekommen war, resignierte er und legte auf. Wieder begann er zu grübeln. Vielleicht war die Haustür nur deshalb offen gewesen, weil sie ausgehen wollte – etwas vergessen hatte und noch einmal zurückgelaufen war, dachte er. Auf jeden Fall ist sie jetzt nicht zu Hause! Mark schob die Hände in die Jackentaschen und schlenderte mißmutig zur Bar. Er bestellte sich einen Whisky und versorgte sich mit Zigaretten. Wahrscheinlich war sie so nervös, weil ich sie gerade in dem Augenblick überrascht hatte, als sie das Haus verlassen wollte, überlegte er. Kann man einer Frau überhaupt trauen? Ist nicht die eine wie die andere? Er trank den Whisky in einem Zug und bestellte sich noch einen. Habe ich nicht auch von Melissa zuerst geglaubt, daß sie ein Engel ist? Er rauchte in hastigen, nervösen Zügen. Bis zur Hochzeit war sie tatsächlich ein Engel gewesen, erinnerte er sich. Bis zur Hochzeit hielt ich mich für den glücklichsten Mann der Welt. Ich habe mir eingebildet, daß wir ein Herz und eine Seele sind, und einer könnte ohne den anderen nicht mehr leben. Aber wie schnell sind mir die Augen über Melissas wahren Charakter aufgegangen! Und was kam, war die reinste Hölle! Er umklammerte sein Whiskyglas so fest, daß sich seine Fingerknöchel weiß unter der Haut abzeichneten. Noch einmal könnte ich das alles nicht durchstehen, dachte er und drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus.
Er schob dem Barkeeper einen Geldschein hin und winkte ab, als er ihm Wechselgeld geben wollte. »Der Rest ist für Sie«, sagte er und glitt von seinem Hocker. »Vielen Dank, Mylord«, dienerte der Barkeeper und verbeugte sich mehrmals. »Angenehme Nachtruhe, Mylord.« Mark nickte ihm nur flüchtig zu und verließ mit großen Schritten die Bar.
*
Durch die geöffneten Fenster drang kühle Nachtluft ins Badezimmer, und die Schwaden zogen ab. Da Brenda naß und unbekleidet vor der Wanne auf dem Boden lag, drang die Kälte durch die Haut. Das weckte sie aus ihrer Ohnmacht. Sie schaute verstört um sich und konnte sich zuerst nicht erklären, weshalb sie unbekleidet vor der Wanne auf dem Boden lag. In der Wanne war kein Wasser mehr, aber sie war feucht. Ein Rest Schaum war noch darin. Also habe ich gebadet, überlegte Brenda. Aber dann? Durch das Fenster kam ein Windstoß herein und ließ sie erschauern. Sie erhob sich, schloß das Fenster und nahm ihren Bademantel vom Haken. Er fühlte sich feucht an – so feucht, daß sie ihn nicht überziehen mochte. Brenda griff nach dem Badetuch, das auf einem Hocker lag. Doch auch das Frottiertuch hatte sich mit Feuchtigkeit vollgesogen. Sie entdeckte, daß auf der Tür und den Kacheln Feuchtigkeit Wasserstreifen gezogen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an alles. Sie war in der Wanne eingeschlafen und wäre beinahe ertrunken. Als sie zu sich kam, war das Badezimmer voll Wasserdampf gewesen.
Sie hatte das Fenster noch öffnen können, dann war sie ohnmächtig geworden. Brenda lief ins Schlafzimmer hinüber. Sie rieb sich mit einem Tuch ab, bis ihre Haut rot und warm geworden war. Dann zog sie einen Schlafanzug über. Als sie danach auf die Uhr schaute, stellte sie fest, daß es beinahe Mitternacht war. Da habe ich eine ganze Weile vor der Wanne gelegen, dachte sie. Hoffentlich habe ich mich dabei nicht erkältet. Ich darf auf keinen Fall krank werden. Morgen ist doch ein so wichtiger Tag! Sie legte sich in ihr Bett und zog die Steppdecke über sich. Es ist der erste Abend, an dem Mark mir nicht gute Nacht gesagt hat, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Daran bin ich nicht ganz unschuldig. Ich hätte ihm sagen müssen, was passiert ist – gleichgültig, was er darüber dachte. Wenn man sich liebt, muß man sich auch ungewöhnliche Dinge anvertrauen, damit immer einer vom anderen weiß, was in ihm vorgeht. Es ist, als hätte sich alles gegen uns verschworen, dachte sie. Vor ein paar Stunden noch schien es so, als könnte nichts unser Glück trüben – und jetzt? Alles hat sich verändert! Es ist, als hätte sich eine Wand zwischen uns aufgerichtet. Brenda hörte ein Kichern. Sie erschrak und schaute sich um. War sie nicht allein? War jemand in ihre Wohnung eingedrungen? Oder waren es wieder die Gespenster, die sie vorhin geschreckt hatten? Zu sehen war nichts. Aber der schwere süßliche Duft lag wieder wie eine Wolke in der Diele. »Ich verliere noch den Verstand über diesen unerklärlichen Dingen!« stöhnte Brenda und eilte ins Schlafzimmer zurück. Sie warf sich erschöpft auf ihr Bett und schloß die Augen. Ihre Gedanken galten dem geliebten Mann.
Hätte ich doch nur den Mut gehabt, Mark vorhin alles einzugestehen! Vielleicht hätte er über mich gelacht. Aber es wäre nicht diese unerträgliche Fremdheit zwischen uns entstanden. Wenn dies der Anfang vom Ende wäre? durchfuhr es sie. »Das wäre gar nicht schlecht!« sagte da eine Stimme dicht neben ihrem Bett. Brenda riß die Augen auf. Da stand sie! Die Frau mit den starren, toten Augen. Sie war wunderschön, aber trotzdem furchterregend, weil ihr Gesicht so wächsern war. Sie sah aus, als sei sie aus einer Totengruft gestiegen. Auch diesmal hielt sie den antiken Kerzenleuchter in der Hand, und die brennende Kerze verbreitete den schweren süßlichen Duft, der Brenda das Atmen zur Qual werden ließ. Brenda war wie gelähmt. Ihr Herzschlag dröhnte wie Hammerschläge, und ihr Puls jagte. Sie wollte schreien. Doch ihre Stimmbänder gehorchten nicht. »Das wäre gar nicht so schlecht!« sagte die Stimme, und Brenda war sicher, daß die Geisterfrau wieder gesprochen hatte, obgleich sich ihre Lippen nicht bewegt hatten. Ehe Brenda sich von diesem Schreck erholt hatte, flackerte das Licht ihrer Schlafzimmerlampe und erlosch. Es war so finster im Raum, daß sie nichts mehr erkennen konnte. Von Angst und Grauen geschüttelt lag sie eine ganze Weile regungslos da und lauschte in das Dunkel. Sie hörte nur ihr Herz, das dumpf und heftig schlug. Als Brenda endlich den Mut fand, die Hand nach der Nachttischlampe auszustrecken und das Licht einzuschalten, war ihr Zimmer wie immer. Nichts Ungewöhnliches war mehr zu sehen. Vielleicht habe ich nur geträumt? dachte Brenda. Ganz sicher habe ich nur geträumt! Es gibt keinen Spuk! Es kann nichts Übernatürliches geschehen sein! Sie klammerte sich mit aller
Kraft an diesen Gedanken, weil sie das Alleinsein sonst nicht ertragen hätte. Erst nach einer ganzen Weile beruhigte sich ihr Herzschlag, und der Schlaf erlöste sie von ihren verwirrenden Gedanken.
*
Mark ging nervös in seinem Zimmer auf und ab, um seine Erregung abzureagieren. In Gedanken war er bei Brenda. Manches deutete darauf hin, daß sie ihn hinterging. Aber er wehrte sich dagegen, das zu glauben. Er liebte sie sehr. Seit er ihr begegnet war, hatte sich für ihn alles zum Guten gewandelt. Ihre Liebe hatte ihm das Glück geschenkt, an das er nicht mehr zu glauben gewagt hatte. Sollte das alles nur Lüge und Täuschung gewesen sein? Sollte Brenda ihn genauso hintergehen wie damals Melissa? »Wieso nicht?« fragte da Melissas Stimme hinter ihm. Mark fuhr herum, sah jedoch auch diesmal niemanden. »Glaubst du wirklich, sie ist anders als ich?« fragte die Stimme aus einer anderen Zimmerecke. Mark drehte sich, aber zu sehen war Melissa nicht. Natürlich ist sie nicht zu sehen, dachte er und ließ sich ächzend in den nächsten Sessel sinken. Er barg das Gesicht in den Händen. Melissa ist tot, aber ich höre ihre Stimme noch immer. Wahrscheinlich, weil ich nichts so gehaßt habe wie diese Stimme. »Das war nicht von Anfang an so«, entgegnete Melissas Stimme. Mark fuhr hoch. »Was willst du noch?« stöhnte er. »Laß mich in Frieden! Ich will nicht mehr an dich erinnert werden.«
»Das wird nicht so einfach sein«, sagte die Stimme, und es stieg ihm der Duft des süßlichen Parfüms in die Nase, das Melissa zu ihren Lebzeiten zu benutzten pflegte. »Du hast mich auf dem Gewissen, mein Lieber. Glaube nicht, daß ich dich so einfach freigebe. Die Erinnerung an mich wird dir wie ein Alp den Atem aus den Lungen pressen. Sie wird wie ein Ungeheuer jede Freude überschatten! Ich habe die Macht dazu, dich von ihr zu trennen, dich leiden zu lassen, solange ich will – und sie auch.« »Nein!« schrie Mark. »Nein, nicht sie.« Als Antwort darauf hörte Mark das spöttische Lachen Melissas. Damit hatte sie ihn damals stets in Zorn gebracht. Er sprang auf und floh aus seinem Zimmer. Er hetzte den Flur entlang und auf die Tür zu Harrys Zimmer zu. Er mußte mit einem Menschen sprechen! Nur so würde er die Gedanken an Melissa vertreiben können! Aber als er dann vor Harrys Tür stand, hielt er inne und zog die Hand zurück, die er schon nach der Klinke ausgestreckt hatte. Harry würde inzwischen eingeschlafen sein. Durfte er ihn aufwecken? Und wie sollte er seinen nächtlichen Besuch begründen? Die Wahrheit konnte er selbst seinem besten Freund nicht anvertrauen. Niemand durfte je davon erfahren, weil man sonst an seinem Verstand zweifeln würde. Er atmete ein paarmal tief ein, um sich zu beruhigen. Dann wandte er sich ab und kehrte in sein Zimmer zurück. Er zog sich aus, füllte im Bad Wasser in ein Glas und nahm zwei Schlaftabletten. Dann legte er sich auf sein Bett und wartete darauf, daß durch die Wirkung des Medikaments seine Gedanken ausgelöscht würden.
Er begann in allen Gliedern bleierne Müdigkeit zu spüren, doch seine Gedanken blieben wach. Sie kreisten immer um dasselbe Thema. Melissa! Jahre waren seit ihrem Tod vergangen. Doch tauchte die Erinnerung an damals immer wieder auf. Sie war dann so schmerzlich gegenwärtig, als hätten sich die Ereignisse erst vor ganz kurzer Zeit abgespielt. Vielleicht werde ich niemals darüber hinwegkommen, grübelte er. In einem Punkt hat Harry ganz sicher recht: Ich darf Brenda nicht unter der Bürde leiden lassen, die ich seit damals zu tragen habe. Er warf sich unruhig hin und her. Es war schon früher Morgen geworden, ehe er endlich einschlief. Benommen und mit schweren Gliedern erwachte er, als der Etagenkellner, der das Frühstück brachte, an die Tür klopfte. Mark wälzte sich aus dem Bett und öffnete. »Guten Morgen, Mylord.« Der Kellner sah ihn verlegen an. »Tut mir leid, wenn ich Sie im Schlaf gestört habe. Sie hatten…« »Ja, schon gut.« Mark winkte ab. »Es ist gut, daß Sie mich geweckt haben.« »Wie Sie meinen, Mylord.« Der Kellner schob den kleinen Frühstückswagen herein. »Wünsche wohl zu speisen, Mylord.« Er verneigte sich leicht und verließ das Zimmer. Mark taumelte zum Bett zurück und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Er fühlte sich wie gerädert. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre wieder eingeschlafen. Aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er Brenda abholen und mit ihr nach Bentham Castle hinausfahren wollte. Ich darf sie nicht warten lassen. Was immer gestern auch geschehen ist, ich sollte auf Harry hören und ihr eine Chance geben, sich mir anzuvertrauen, dachte er.
Er stand auf, zog seinen Hausmantel über und band den Gürtel mit energischem Ruck zu. Ich werde die Vergangenheit überwinden! nahm er sich vor. Ich werde die Beziehung zu Brenda nicht leichtfertig abbrechen. Brenda bedeutet mir mehr als alles auf der Welt, und ich werde sie nicht in Gefahr bringen, nur weil der Schein gegen sie spricht. Er riß das Fenster auf und atmete die kühle Morgenluft tief in seine Lungen. Dann trat er an den Frühstückstisch, schenkte sich von dem Kaffee ein und trank ihn in kleinen Schlucken. Das belebte ihn. Er begann sich besser zu fühlen. Jetzt noch eine heiße Dusche, dachte er und dann vergesse ich die entsetzliche Nacht. Dieser Tag soll ein glücklicher Tag werden – trotz allem!
*
Brenda erwachte an diesem Morgen mit heftigen Kopfschmerzen. Das Tageslicht, das in ihr Schlafzimmer fiel, schmerzte sie so sehr, daß sie die Hand über die Augen hielt. Am liebsten hätte sie den Kopf tief in den Kissen vergraben und weitergeschlafen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Dabei entdeckte sie, daß die Fotografie, die auf ihrem Nachttisch stand, umgefallen war. Sie hob sie auf und schaute sie an. »Mark«, flüsterte sie, und trotz aller Müdigkeit umspielte ein Lächeln ihre Lippen. »Oh, Mark! Dem Himmel sei Dank, daß es dich gibt.« Brenda preßte die Fotografie an ihr Herz und schloß die Augen. Sie riß sie jedoch gleich wieder auf, weil ihr einfiel, was am Abend zuvor geschehen war.
Mark hatte sie verlassen, ohne ihr gute Nacht zu sagen. Er hatte sie zum Abschied nur flüchtig auf die Stirn geküßt. Brendas Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. Sie sprang aus dem Bett, lief in die Diele und suchte die Nummer des Claridge Hotels auf ihrem Block. Ihre Finger zitterten, als sie die Wählscheibe drehte, und mit bang klopfendem Herzen wartete sie darauf, daß sich das Hotel meldete. »Bitte, Lord Bentham«, verlangte sie. »Hier spricht Brenda Keaton.« »Moment, ich verbinde«, kam es vom anderen Ende der Leitung. Es knackte – dann war Stille in der Leitung. Brendas Herz schlug immer heftiger. Sie war jeden Augenblick darauf gefaßt, Marks Stimme zu hören. Doch nach einer, wie ihr schien, endlos langen Zeit, meldete sich die Telefonzentrale erneut. »Sie warten noch auf Lord Bentham?« »Ja. Haben Sie mich nicht verbunden?« fragte Brenda unwillig. »Bedaure, Seine Lordschaft meldet sich nicht.« Brenda war es, als habe sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Mark muß doch in seinem Zimmer sein! dachte sie. Natürlich hat er sich gemeldet. Er konnte ja nicht wissen, daß ich ihn sprechen will. Also hat er dem Telefonisten Anweisungen gegeben, mich anzulügen. Er will nicht mit mir sprechen! Brenda war wie von Sinnen. »Möchten Sie eine Nachricht für Lord Bentham hinterlassen?« erkundigte sich der Telefonist. »Sagen Sie ihm nur, daß ich angerufen habe«, murmelte Brenda verstört.
»Ihren Namen bitte?« fragte es vom anderen Ende der Leitung sachlich. »Keaton, Brenda Keaton.« Der Hörer fiel ihr aus der Hand. Sie stand eine Weile regungslos da und starrte auf das Telefon. Ist das das Ende? dachte sie. Tränen drängten sich in ihre Augen. Sie drehte sich um und ging ins Bad. Als sie die Unordnung entdeckte und das geöffnete Fenster, fiel ihr wieder ein, daß sie beinahe in der Wanne ertrunken wäre. Wie konnte das nur passieren? dachte sie. Es ist, als ob seit gestern alles wie verhext sei. Ich habe doch früher nie so seltsame Dinge erlebt. Warum gerade jetzt? Sie schaute sich im Spiegel an. Ihr Gesicht war seltsam verquollen, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Kein Wunder, dachte sie. Nach so einer Nacht! Wenn ich nicht mit Mark verabredet wäre, würde ich wieder ins Bett gehen. Aber vielleicht holt Mark mich gar nicht ab? durchfuhr es sie siedendheiß. Vielleicht ruft er mich an und sagt unter irgendeinem Vorwand ab? Ihr stockte der Atem. Sie faltete die Hände und preßte sie gegen die Lippen. »Lieber Gott, laß es nicht zu Ende sein!« flüsterte sie. »Ich liebe ihn, und ich könnte ohne ihn nicht mehr leben. Ich würde alles für ihn ertragen – nur ohne ihn könnte ich nicht mehr atmen!« Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß jemand ihre Schulter berührte, und schreckte auf. Als sie die Augen aufriß, sah sie im Spiegel neben ihrem Gesicht ein zweites. Es war sehr bleich und starr, und die großen Augen schienen durch sie hindurchsehen zu können.
Brenda erkannte das Gesicht sofort. Die Gespensterfrau mit dem Kerzenleuchter hatte so ausgesehen! Sie verfolgte sie also noch immer! In der Diele läutete das Telefon. Das zweite Gesicht im Spiegel verschwand. Brenda fuhr sich über die Augen und schaute erneut auf die Stelle, an der sie das unheimliche Gesicht gesehen hatte. Nichts! Meine Nerven, dachte sie. Das können nur meine Nerven sein! Das Telefon läutete noch immer. Brenda riß sich los und lief hin. Sie hob den Hörer ab. »Ja, bitte?« meldete sie sich mit bebender Stimme. »Mrs. Worthman?« fragte jemand. »Nein, Sie sind falsch verbunden«, antwortete Brenda, und ohne eine weitere Bemerkung abzuwarten, legte sie auf.
*
Nachdem Mark unter der Dusche gewesen war, fühlte er sich wesentlich besser. Er hatte plötzlich auch Appetit, und als er den Deckel von der Servierschüssel abhob und der köstliche Duft von Schinken und Rührei ihm in die Nase stieg, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er ließ sich nieder und begann zu essen. Gleich darauf klopfte es an seine Tür. »Ja?« rief er und glaubte nicht anders, als daß es jemand vom Hotelpersonal sei. Aber es war Harry. »Kann ich auf einen Moment hineinkommen?« fragte er. »Natürlich. Guten Morgen, Harry.« Mark deutete auf einen Stuhl. »Setz dich. Soll ich noch ein Gedeck kommen lassen?«
»Nein, danke. Ich habe bereits gefrühstückt.« Harry zog sich einen Stuhl heran. »Ich wollte nur nach dir sehen, ehe du… Du bist doch heute mit Brenda verabredet, nicht wahr?« Mark nickte. »Du wirst doch die Sache von gestern abend nicht aufbauschen?« fragte Harry und sah ihn forschend an. »Ich denke nicht«, wich Mark einer direkten Antwort aus. »Hast du gestern abend noch mit ihr gesprochen?« wollte Harry wissen. »Sie hat sich nicht gemeldet.« Mark legte das Besteck aus der Hand und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Sie hat sich nicht gemeldet.« Er spürte, daß die Unruhe des vergangenen Abends wieder Besitz von ihm nahm. »Ich habe ziemlich lange läuten lassen. Ich habe sogar die Störungsstelle bemüht, um sicherzugehen, daß der Anschluß nicht mehr gestört war. Sie war also nicht zu Hause! Außerdem war sie so nervös, weil sie das Haus verlassen wollte und mein Kommen…« »Ich bitte dich, Mark!« unterbrach Harry ihn. »Solltest du das nicht lieber in Ruhe erst mit Brenda klären, ehe du völlig falsche Schlüsse ziehst?« Marks Atem ging heftig. »Und welche Schlüsse würdest du ziehen, wenn meine deiner Meinung nach so falsch sind?« fragte er. »Ganz sicher nicht den, daß Brenda dich hintergehen wollte«, sagte Harry nachdrücklich. »Sie ist einfach nicht der Typ. Außerdem liebt sie dich über alles! Das kann dir doch nicht entgangen sein.« Mark kräuselte die Lippen. »Du vergißt, ich habe das alles schon einmal erlebt. Damals hatte ich den Mut, an das Vollkommene zu glauben. Woher soll ich jetzt noch die Kraft dazu nehmen?«
»Ich weiß, ich kann nicht viel für dich tun«, seufzte Harry, »Versprich mir nur eines: Überstürze nichts. Gib ihr wenigstens eine Chance, dir alles zu erklären. Ich bin sicher, danach wirst du die Situation mit ganz anderen Augen ansehen. Wenn man einer Frau vertrauen kann, dann Brenda.« »Das habe ich bis gestern auch geglaubt. Aber nach dieser Nacht?« Er schüttelte den Kopf. »Man kann doch nicht einfach die Augen vor gegebenen Tatsachen verschließen.« »Es handelt sich nicht um Tatsachen, sondern um deine Vermutungen«, verbesserte Harry ihn. Mark zuckte die Schultern. »Ich sehe da keinen Unterschied.« »Der Unterschied besteht darin, daß Vermutungen nicht unbedingt Tatsachen sein müssen«, sagte Harry. Er schaute auf die Uhr. »Tut mir leid, ich muß gehen.« Er erhob sich. »Am liebsten würde ich dich zu Brenda begleiten und Friedensrichter spielen«, versuchte er zu scherzen. Mark erhob sich ebenfalls und geleitete den Freund zur Tür. »Du magst sie sehr, wie?« »Wenn ich nicht verheiratet wäre, und wenn Brenda nicht in dich verliebt wäre…« Harry seufzte. »Ich glaube, ich würde keinem anderen Mann eine Chance lassen. Sie ist eine wundervolle Frau. Wenn du noch einmal glücklich werden kannst, dann nur mit ihr. Deshalb bin ich heute morgen hergekommen – um dir das zu sagen.« Harry legte ihm die Hand auf die Schulter. Mark nickte ihm zu. »Schon gut, Harry. Ich werde deine Ermahnungen beherzigen. Ich verspreche es dir. Du hast ja recht – mit allem, was du mir vorgehalten hast. Ich trage an meiner Vergangenheit wie an einer zu schweren Last, unter der man jeden Augenblick zusammenbrechen kann.«
»Vergiß das nicht!« sagte Harry. »Erinnere dich wenigstens manchmal daran, damit du Brenda gegenüber nicht ungerecht wirst.« »In ein paar Wochen wird sie meine Frau sein. Das macht vieles einfacher«, meinte Mark. Doch Harry schüttelte den Kopf. »Das ist ein frommer Selbstbetrug, Mark«, widersprach er. »Die amtliche Beglaubigung deiner Verbindung zu Brenda wird deine Probleme kaum lösen können. Solange du nicht lernst, ihr zu vertrauen, wirst du ihr und dir selbst viel Kummer bereiten.« »Ich schaffe es schon.« Mark bemühte sich, optimistisch zu wirken. Aber innerlich war er verzweifelt und hoffnungslos. Harry öffnete die Tür. »Du schaffst es bestimmt!« versicherte er. Einer der Pagen betrat den Vorraum und brachte auf einem silbernen Tablett die Morgenpost für Lord Bentham. Obenauf lag eine Notiz. Anruf Miss Brenda Keaton. Darunter war eine Zeit vermerkt. »Brenda?« Mark schaute verwirrt auf den Zettel. »Was ist mit ihr?« fragte Harry. »Sie hat heute morgen angerufen. Das verstehe ich nicht. Wieso hat man mich nicht mit ihr verbunden?« »Vielleicht weil du den Stecker deines Telefons herausgezogen hattest.« »Unsinn!« Mark runzelte die Stirn. »Das mache ich nie. Und in der vergangenen Nacht habe ich es bestimmt nicht getan. Ich wäre froh gewesen, mit Brenda sprechen zu können.« »Erlaubst du?« Harry kehrte ins Zimmer zurück. Er ging zum Telefon und bückte sich. »Niemals – wie?« fragte er und hielt den Stecker hoch. »Und was ist das hier?« »Du meinst – du hast ihn – du willst mich nicht verulken?« stotterte Mark betroffen.
»Warum sollte ich das tun?« fragte Harry zurück. »Ich bin sicher, daß ich den Stecker nicht herausgezogen habe!« beharrte Mark. »Ob oder nicht spielt keine Rolle mehr. Er war jedenfalls nicht in der Steckdose. Arme Brenda! Wer weiß, was sie empfunden hat, weil man sie nicht mit dir verbinden konnte. Vielleicht macht sie sich die schwärzesten Gedanken. Auf die einfache Lösung, daß der Stecker neben der Steckdose liegt, ist sie sicher nicht gekommen.« Harry bückte sich und stellte die unterbrochene Verbindung wieder her. »Ich denke, du weißt, wie du dich jetzt zu verhalten hast«, sagte er und klopfte Mark auf die Schulter. »Mach es gut, alter Junge. Und ehe du das nächste Mal eine Krise heraufbeschwörst, zähle lieber bis zehn und gib Brenda ein bißchen mehr Zeit, dir die näheren Umstände zu erklären.«
*
Brenda flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel durch ihre Wohnung. Bis gestern abend hatte sie sich hier stets geborgen gefühlt. Seit die rätselhaften Spukgestalten sie verfolgten, ängstigte sie sich in der sonst so vertrauten Umgebung. Mußte sie nicht jeden Moment darauf gefaßt sein, wieder etwas Schreckliches zu erleben? Sie hatte von Menschen gehört, die in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden mußten, weil sie unter Wahnvorstellungen litten. Sie hörten Stimmen und sahen Gestalten, die außer ihnen niemand wahrnehmen konnte. Sie
fühlten sich bedrängt und gepeinigt und waren weder durch Zuspruch noch durch sachliche Erklärungen zu beeinflussen. War sie selbst jetzt auch so ein psychiatrischer Fall? Oder gab es einen Unterschied zwischen den geistig Kranken und dem, was sie seit gestern abend durchzustehen hatte? Würde sich dieser Spuk wiederholen? Und wie lange würde sie vor Mark verheimlichen können, was über sie hereingebrochen war? War es nicht unfair, ihn im Ungewissen zu lassen? Durfte sie überhaupt noch an eine Ehe mit ihm denken? Vielleicht hat er mir gestern sogar angemerkt, daß mit mir etwas geschehen war? grübelte sie. Hat er sich deshalb so schnell zurückgezogen? Hat er sich deshalb verleugnen lassen, als ich im Hotel anrief? »Dann ist alles aus!« wimmerte sie. Sie lehnte neben der Tür ihres Wohnzimmers und sah auf ihren Lieblingssessel. In diesem Sessel hat alles angefangen, dachte sie und wußte, sie würde nie wieder wagen, sich hineinzusetzen, vor lauter Angst, der entsetzliche Spuk könnte sich dann wiederholen. Am besten verschenke ich ihn – oder ich zerhacke ihn, damit nie wieder jemand darin sitzen kann. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, als sich der Sessel bewegte. Brenda beugte sich vor. »Das ist doch nicht möglich!« flüsterte sie. »Das kann gar nicht sein! Das habe ich mir nur eingebildet!« So, als wollte der Sessel ihr eine Bestätigung dessen geben, was sie gesehen hatte, glitt er mitten ins Zimmer. Brenda schluckte und griff mit beiden Händen zum Hals. »Nein!« stöhnte sie. »Nein, das ist völlig unmöglich! Das gibt es nicht!« Sie drehte sich um, floh aus dem Zimmer,
durchquerte mit wenigen hastigen Schritten die Diele und riß die Haustür auf. Sie wäre auf die Straße gestürzt, wenn nicht in diesem Moment Mark die Treppe heruntergekommen wäre. Er war so erregt und so erleichtert, sie zu sehen, daß er im ersten Augenblick gar nicht bemerkte, wie verstört sie war. »Brenda!« rief er und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Brenda, mein Liebling!« Er zog sie an seine Brust. »Verzeih mir!« murmelte er und schmiegte sein Gesicht an ihr Haar. »Bitte, verzeih mir, daß ich gestern so – so unleidlich war. Ich liebe dich! Ich liebe dich. Ich bin so froh, daß du angerufen hast!« Brenda vernahm seine Worte nur wie von ganz weit her. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr. Sie wollte sich an Mark klammern, doch ihren Händen fehlte die Kraft. Hätte Mark sie nicht gehalten, sie wäre zusammengebrochen. Erst als sie in seinen Armen schwer wurde, merkte er auf und sah ihr ins Gesicht. »Brenda?« rief er erschrocken, weil sie so bleich war wie der Tod. »Brenda, was ist mit dir?« Er hob sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Behutsam ließ er sie aufs Bett sinken. »Brenda, Liebling?« Er strich ihr besorgt über das Haar. »Brenda, so komm doch zu dir!« Sie hörte seine Stimme und schlug die Augen auf. »Mark?« Sie sah ihn unglücklich an. »Mark!« Tränen rannen ihr aus den Augen. Mark schlang die Arme um sie und zog sie an seine Brust. »Brenda, was ist nur geschehen? So sprich doch! Ich flehe dich an, sag mir, was passiert ist!« drängte er sie. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Es ist so gut, daß du da bist, Mark!« flüsterte sie. »Ich hatte solche Angst, daß du – daß ich… Ich war so verzweifelt, weil
du gestern abend so kühl warst. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du wolltest mich nicht sprechen.« »Närrchen!« Mark bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen. »Wie kannst du nur so etwas Dummes denken? Ich habe versucht, dich zu erreichen. Aber du hast das Läuten des Telefons entweder nicht gehört – oder du warst nicht zu Hause«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu und sah sie forschend an. »Ich war zu Hause. Ich – ich habe auch das Läuten gehört, aber ich – ich konnte den Hörer nicht erreichen. Ich bin in der Badewanne ohnmächtig geworden. Ich wäre beinahe ertrunken.« »Was sagst du da?« fragte Mark atemlos vor Entsetzen. »Ertrunken?« Er schämte sich für all die häßlichen Gedanken, die er während der vergangenen Nacht gehabt hatte, und er war seinem Freund Harry unendlich dankbar, daß er ihn gebeten hatte, nicht an Brenda zu zweifeln. »Ich weiß nicht, wie es passiert ist«, berichtete Brenda stockend. »Wahrscheinlich war das Wasser zu heiß. Ich habe ein bißchen vor mich hingeträumt, und darüber bin ich eingeschlafen. Als ich aufwachte, läutete das Telefon. Ich lag in der Wanne – die Wanne war fast voll, weil ich den Hahn nicht zugedreht hatte. Es fehlten nur ein paar Zentimeter, dann wäre ich…« Mark schluckte und preßte sie an sich. »Brenda! Mein Gott, Brenda, wenn dir etwas zustoßen würde, ich – ich würde es nicht verwinden können!« stöhnte er. »Ich bin sicher, dein Anruf heute nacht hat mir das Leben gerettet«, sagte sie und streichelte zärtlich über seine Wange. Mark küßte ihr die Worte von den Lippen.
»Man kann dich nicht fünf Minuten alleinlassen«, meinte er liebevoll besorgt. »Am besten ist es, wir trennen uns nie mehr. Dann bin ich immer in der Nähe, wenn du mich brauchst und muß es nicht dem Zufall überlassen, dich zu retten.« Brenda schlug die Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuß. »Warst du gestern abend sehr ungehalten?« fragte sie dann und sah ihn forschend an. Mark schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, nicht ungehalten. Ich war in Sorge um dich, weil du – wie soll ich sagen? Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß dich etwas quälte. Ich wollte dir helfen. Es hat mich gekränkt, daß du mir dazu keine Gelegenheit gabst. Das ist alles. Im übrigen könnte ich nie böse mit dir sein. Ich liebe dich viel zu sehr.« »Ich liebe dich auch«, versicherte Brenda. »Mehr als alles in der Welt. Ich möchte nichts so sehr, wie dich glücklich zu machen.« »Mein Liebling!« seufzte Mark überwältigt. Er küßte sie leidenschaftlich, und unter diesen Küssen schwanden alle Schatten, die ihr Glück verdunkelt hatten.
*
Bentham Castle war ein alter englischer Landsitz. Lord Bentham verfügte über ausgedehnte Wälder, Weiden und Ackerland, die seit zwei Generationen jedoch zum größten Teil verpachtet waren. Der Besitz hatte zwar das Vermögen der Herren von Bentham Castle begründet. Doch schon seit Beginn des Industriezeitalters investierte man in Unternehmen der Schwerindustrie und machte damit beträchtliche Gewinne.
Der Vater des jetzigen Lord Bentham hatte eine glückliche Hand bei Börsenspekulationen gehabt und einem Sohn ein so beachtliches Kapital hinterlassen, daß dieser es sich leisten konnte, seinen politischen Ambitionen zu folgen und sich um einen Sitz im Oberhaus zu bewerben. Das erforderte seine häufige Anwesenheit in London, so daß das alte Schloß der Benthams seit dem Tod der letzten Lady Bentham meistens nur verwaltet, aber nicht mehr bewohnt wurde. Der Butler Charles konnte sich also als der eigentliche Herr von Bentham Castle fühlen. Und er führte sich auch so auf. Er herrschte wie ein Fürst und ließ sich wie ein Fürst bedienen. Und jeder, der Launen nicht ertragen mochte und sich gegen ihn aufzulehnen wagte, wurde schnellstens ausgewechselt. So hatte Charles im Verlauf der letzten Jahre einen Stamm von ergebenen Dienern um sich versammelt. Und da Lord Bentham immer seltener Zeit fand, im Schloß seiner Väter zu wohnen, vergaß Charles allmählich, daß er nicht wirklich der Herr von Bentham Castle war. Aus diesem schönen Leben schreckte ihn der junge Lord Bentham auf, als er ihm vor einigen Tagen ankündigte, daß er am kommenden Wochenende der zukünftigen Lady Bentham seinen Besitz zeigen wolle und anordnete, daß entsprechende Gästezimmer für sie gerichtet werden sollten. Charles hatte sich dem Schloßherrn gegenüber zwar devot gezeigt, sich aber vorgenommen, der junge Dame den Aufenthalt auf Bentham Castle von Anfang an so zu verleiden, daß sie es vorziehen würde, in einer Stadtwohnung zu leben oder gar auf die Heirat mit Lord Bentham zu verzichten. Auf keinen Fall aber wollte er das herrschaftliche Leben aufgeben, an das er sich in den vergangenen Jahren allzu sehr gewöhnt hatte.
Weder Lord Bentham noch Brenda ahnten etwas von dieser Absicht. Sie freuten sich auf das gemeinsame Wochenende. Und Brenda war froh, ihrer Wohnung entfliehen zu können. Es war, als ahnte Lord Bentheim ihre Empfindungen, denn er sagte: »Ich habe seit einiger Zeit kein gutes Gefühl mehr bei dem Gedanken, dich in der Souterrainwohnung zu wissen.« Brenda sah ihn bestürzt an. »Wieso denn das?« fragte sie und dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ahnte er etwas von dem, was sie seit gestern abend in ihrer Wohnung erlebt hatte? »Bitte, verzeih, Liebling, ich möchte dich nicht kränken. Deine Wohnung ist hübsch und sehr geschmackvoll – aber es kommt kaum ein Sonnenstrahl hinein.« Brenda atmete auf. Von Spukerscheinungen sagte er nichts. »Ja, schon.« Sie lächelte wieder. »Aber ich war nie verwöhnt. Meine Eltern waren nicht wohlhabend. Ich empfinde diesen Mangel gar nicht. Ich habe auch nie viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Ich war froh, eine Wohnung in der Stadt zu finden, weil sie mir täglich zwei Fahrten mit der U-Bahn ersparte.« Mark tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Das ist ja nun alles vorbei. In wenigen Wochen wirst du Lady Bentham sein. Was ich sagen wollte, war, warum ziehst du nicht schon jetzt nach Bentham Castle? Da hättest du einen großen Park. Da würde dich ein Butler verwöhnen, eine Köchin umsorgen, ein Zimmermädchen dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.« »Wie lieb von dir, daran zu denken«, entgegnete Brenda und schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Nur eines würde mir da draußen sehr fehlen.« »Ja?« fragte Mark überrascht. »Was denn?« »Du«, sagte Brenda.
Er drückte gerührt ihre Hand. »Ich würde an den Wochenenden natürlich kommen«, versicherte er. »Aber in den Tagen dazwischen wäre ich sehr einsam«, meinte Brenda. »Ich möchte da leben, wo du lebst. Mir wäre eine kleine bescheidene Wohnung in London tausendmal lieber als das fürstliche Schloß, wenn ich dort ohne dich wohnen sollte.« Mark hielt den Wagen an. Dann zog er sie in seine Arme. »Sag das noch einmal«, bat er leise und suchte ihren Blick. »Ich würde lieber in der ärmlichsten Hütte leben, wenn ich nur bei dir sein kann!« wiederholte Brenda. Mark küßte ihr die Worte von den Lippen. »Deine Worte bedeuten mir mehr, als du ahnen kannst«, sagte er. Brenda sah ihm in die Augen. »Dann hast du insgeheim befürchtet, ich könnte nur wegen deiner gesellschaftlichen Stellung oder deines Reichtums deine Frau werden?« fragte sie betroffen. Mark seufzte und nickte. »Verzeih mir«, sagte er beschämt. »Ich hätte spüren müssen, daß deine Liebe nicht berechnend ist. Bitte verzeih mir.« Brenda strich ihm zärtlich über die Wange. »Vielleicht geht es allen reichen Männern nicht anders als dir«, entgegnete sie. »Gab es Enttäuschungen in deinem Leben?« »Enttäuschungen?« Marks Lippen verzogen sich, und sein Blick schweifte ab. »Ich bitte dich, sprechen wir darüber nicht jetzt.« Er löste sich von ihr und wandte sich dem Lenkrad wieder zu. »Ich schlage vor, wir genießen diesen Tag.« »Ja, du hast recht.« Brenda strich ihm tröstend über den Rockärmel. »Nur eines solltest du mir noch versprechen.« Mark lächelte schon wieder. »Alles!« versicherte er impulsiv. »Alles, was du möchtest, mein Herz.«
»Wann immer du an meiner Liebe zweifelst, sag es mir«, bat Brenda. »Sag es mir ganz offen, damit ich dir das Gegenteil beweisen kann.« »Brenda!« Mark wandte sich ihr wieder zu. Ihre Bitte verriet ihm, wie sehr er sie verletzt hatte. »Es ist sehr wichtig«, sagte sie leise. Er nickte. »Ich werde es nicht vergessen.«
*
Auf Bentham Castle waren seit Tagen Vorbereitungen für den Empfang der neuen Herrin getroffen worden. Charles war noch anspruchsvoller als sonst und verlangte der Dienerschaft das Letzte ab. Alle stöhnten, aber niemand wagte sich zu beschweren. Es hätte eine sofortige Entlassung bewirkt, und auf dem Lande waren die Arbeitsplätze rar. Insgeheim hofften wohl alle, daß mit der neuen Herrin auch ein anderes Leben auf Bentham Castle beginnen würde und daß die Herrschaft des arroganten Butlers endlich zu Ende ging. Wie hätten sie auch ahnen können, daß Lord Benthams neue Lebensgefährtin viel zu scheu war, um sich gegen einen Mann wie Charles zu behaupten. Ganz sicher aber ahnten sie nichts von den Plänen des Butlers, Brenda Keaton den Aufenthalt auf Bentham Castle so zu vergraulen, daß sie vorläufig nicht wieder herkommen würde. Im Augenblick hatte es jedoch ganz den Anschein, als bemühte er sich, ihr Wohlwollen zu gewinnen.
Als Lord Bentham und Brenda Keaton eintrafen, eilte er die breite Freitreppe hinunter und auf den Wagen zu. Er riß dienstbeflissen die Wagentür auf. »Guten Tag, Mylord«, begrüßte er Mark. »Darf ich hoffen, daß Sie eine angenehme Fahrt hatten?« Mark stieg aus. »Danke, Charles.« Er nickte dem Butler zu. »Und auf Bentham Castle ist alles in Ordnung?« »In bester Ordnung, Mylord«, versicherte Charles. »Es ist alles zu Ihrem und zu Myladys Empfang bereit.« Er warf einen diskreten Blick auf den Beifahrersitz, und einen Moment stockte ihm der Atem. Er fand Brenda ungewöhnlich schön. Sie steht der ersten Lady Bentham in nichts nach, dachte er. Dann folgte er Lord Bentham auf die andere Seite des Wagens. Charles öffnete Brenda die Tür, und Mark reichte ihr ritterlich die Hand, um sie beim Aussteigen zu stützen. »Brenda, Liebes, dies ist Charles«, stellte er vor. »Der gute Geist von Bentham Castle«, fügte er halb im Scherz hinzu. »Er sorgt dafür, daß der Haushalt reibungslos läuft, und wird auch dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.« »Das werde ich ganz gewiß, Mylord«, versicherte Charles und wandte sich Brenda zu. »Darf ich mir erlauben, Mylady im Namen der Dienerschaft auf Bentham Castle willkommen zu heißen?« Er verneigte sich vor ihr, als wäre er ihr ganz ergeben. »Danke, Charles.« Brenda nickte ihm lächelnd zu und wollte ihm die Hand reichen. Mark bemerkte es gerade noch rechtzeitig und legte schnell den Arm um sie, um sie daran zu hindern. »Gehen wir also hinein, Liebes«, sagte er und zog sie an sich. Brenda begriff sofort, daß sie beinahe einen Fehler gemacht hätte. Das verunsicherte sie. Sie bat Mark mit einem scheuen Blick um Verzeihung. Charles fing den Blick auf, und diesmal hielt er den Atem an.
Wenn es so ist, dachte er. Nun – die Frau ward mir keine Schwierigkeiten bereiten. Lassen wir sie also hier als Herrin einziehen. Seine Lordschaft wird nach den Flitterwochen mehr in London sein als hier, und so bleibt für mich alles wie es war. Er folgte dem Paar die breite Treppe hinauf zum Portal, eilte auf den oberen Stufen mit einem »Sie gestatten, Mylord?« an ihnen vorbei und betrat vor ihnen die Schloßhalle, um sie dort erneut vor der Dienerschaft empfangen zu können. Brenda war überwältigt. Sie würde hier auf Bentham Castle mehr Bedienung haben als früher Kollegen und Kolleginnen. Das erste Zimmermädchen überreichte ihr mit einem Knicks einen kunstvoll gebundenen Blumenstrauß, und sagte einen Willkommensvers auf. Dann gab Charles ein Zeichen, worauf ein Sprechchor einsetzte und auf Alt-Englisch eine Art von Zauberformel sprach, die der zukünftigen Herrin von Bentham Castle Glück bringen und sie vor den bösen Mächten schützen sollte. Brenda bedankte sich gerührt. »Sie haben mich empfangen wie eine Prinzessin«, flüsterte sie Mark zu, als er sie in den Salon führte. Mark küßte sie verliebt auf die Schläfe. »Du bist hier auf Bentham Castle mehr als eine Prinzessin. Du wirst die absolute Herrin sein. Man erwartet deshalb von dir, daß du dich wie eine Königin benimmst.« »Was bedeutet, daß ich dem Butler nicht die Hand schütteln darf?« fragte Brenda. »Unter anderem«, antwortete Mark und lächelte. »Du wirst sehr schnell erkennen, was man von dir erwartet, und dich in deiner neuen Rolle zurechtfinden«, fügte er hinzu. Brenda zuckte unsicher die Schultern. »Ich werde mir ganz sicher alle Mühe geben«, erwiderte sie. »Aber ich fürchte mich ein wenig davor. Ich bin doch an ein
solches Leben nicht gewöhnt. Vielleicht bin ich gar nicht die richtige Frau für dich.« »Was höre ich da?« Mark lachte und zog sie in seine Arme. »Hast du nicht unterwegs erst behauptet, du würdest alles tun, um mich glücklich zu machen?« Brenda nickte. »Und das habe ich auch so gemeint.« »Dann beweise es mir, indem du dich nicht gleich verwirren läßt, nur weil du hier unter anderen Umständen leben mußt als in deiner bisherigen Wohnung.« Brenda konnte nichts mehr erwidern, denn es klopfte, und der Butler Charles trat ein. »Das Gepäck befindet sich auf den Zimmern, Mylord«, meldete er. »Wann wünschen Mylord zu speisen?« Im ersten Impuls wollte Mark antworten. Doch dann besann er sich, legte den Arm um Brendas Schultern und meinte: »Solche Fragen sollten Sie von jetzt an an Miss Keaton richten, Charles. Sie ist ab sofort Herrin auf Bentham Castle!« »Mylady?« Charles verneigte sich vor ihr. »Im Augenblick noch Miss Keaton«, verbesserte Brenda ihn. »Wie Sie wünschen, Miss Keaton«, dienerte Charles und verzog keine Miene. »Wann wünschen Sie, daß serviert wird, Miss Keaton?« wiederholte er seine Frage. »In etwa einer Stunde, Charles. Und schicken Sie mir inzwischen bitte das Zimmermädchen nach oben, damit mein Koffer ausgepackt wird«, fügte sie hinzu. »Sehr wohl, Miss Keaton.« Charles blieb zögernd stehen. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Miss Keaton?« »Im Augenblick nicht.« Brenda nickte ihm zu. »Danke, Charles.« »Bitte sehr, Miss Keaton.« Charles zog sich zurück. Brenda wandte sich Mark zu, und ihre Augen fragten: Wie war ich? Er lächelte und zog ihre Hand an seine Lippen.
»Du warst großartig«, lobte er sie. »Eine richtige Lady. Niemand würde auf die Idee kommen, du könntest jemals ohne Butler ausgekommen sein.« In Brendas Augen blitzte es auf. »Vielleicht wird es mir doch nicht gar so schwer werden, Lady Bentham zu sein.« »Das hoffe ich sehr, mein Herz«, sagte Mark zärtlich. Lord Bentham führte Brenda nach oben. »Bis zu unserer Hochzeit wirst du in Gästezimmern wohnen. Ich habe es der Form halber so angeordnet«, erklärte er ihr. »Und außerdem kannst du so die Renovierung deiner späteren Räume selbst überwachen und sie nach deinem Geschmack einrichten. Ich möchte, daß du dich hier wohl fühlst – so wohl, daß du dich nicht mehr von hier fortsehnst.« »Außer nach dir, oder?« fragte Brenda mit einem verschmitzten Lächeln. »Außer nach mir! Das bitte ich mir aus«, erwiderte Mark gutgelaunt. »Ich schätze, ich werde dir kaum viel Zeit lassen, Sehnsucht nach mir zu bekommen. Ich werde mich ganz einfach nicht von dir trennen können.« »Die Politik wird das nicht zulassen«, wandte Brenda ein. »Ach, die Politik!« Mark winkte ab. »Ich bin nicht der Typ, der eine politische Karriere machen könnte. Und der Reiz des Neuen ist für mich längst verflogen. Seit ich dir begegnet bin, ist eigentlich nur noch eines wichtig für mich – du.« Brenda schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. »Wie lieb von dir, so etwas zu sagen, Mark.« »Gibst du nicht auch mir zuliebe deine Karriere auf?« fragte er. »Meine Karriere?« fragte sie gedehnt. »Ich glaube nicht, daß man das vergleichen könnte. Ich war doch nur eine kleine Angestellte.«
»Eine Angestellte mit einem ganz besonderen Charme«, verbesserte Mark. »Eine junge Dame, die einen gewissen Lord Bentham so sehr verzaubert hat, daß er alle Hebel in Bewegung setzte, um sie wiederzusehen.« Brenda nickte und lachte leise. »Eine Angestellte, die so verwirrt war, daß sie zuerst gar nicht bemerkt hat, weshalb du sie sprechen wolltest.« »Die sich dann sogar gewehrt hat, sich zum Essen ausführen zu lassen!« erinnerte sich Mark. »Und hätte es nicht den guten Harry gegeben, der seine Ehefrau für mich eingespannt hätte, wer weiß, ob es mir jemals gelungen wäre, dir näherzukommen.« Brenda schmiegte sich an ihn. »Dabei ist es mir nicht anders ergangen als dir«, gestand sie. »Ich mußte immer an dich denken, und ich habe mir Tag und Nacht nichts anderes gewünscht, als dir nahe sein zu können. Aber du warst eben ein Lord. Du gehörtest zu einer ganz anderen Gesellschaftsschicht. Ein Abenteuer hätte ich nicht verkraftet.« »Ich weiß, mein Herz.« Mark blieb vor einer der vielen Türen stehen. »Hier wirst du bis zu unserer Hochzeit wohnen«, sagte er. »Ich hole dich in einer Dreiviertelstunde wieder ab. Und wenn du inzwischen Wünsche hast – vergiß nicht, daß du von heute an ein kleines Reich regierst. Was mir gehört, gehört auch dir. Ich habe Anordnung gegeben, daß man jeden deiner Wünsche erfüllt.« »Danke, Liebster.« Mark öffnete für Brenda die Tür. Drinnen ging das Zimmermädchen bereits geschäftig hin und her und räumte Brendas Sachen ein. »Bis später.« Lord Bentham zog ihre Hand mit einer zärtlichen Geste an die Lippen. Dann ging er mit schnellen Schritten fort.
Brenda sah ihm nach. Er schritt zum anderen Flügel hinüber, dorthin, wo auch sie nach der Hochzeit wohnen würde. Wie gut, daß ich nichts über die Spukerscheinungen verraten habe, dachte sie. Hier in der fremden Umgebung wird alles anders sein. Ich werde vergessen, was gestern passiert ist. Und hier werde ich mich schnell erholen, so daß meine Nerven mir so bald nicht wieder einen so dummen Streich spielen werden. Sie wandte sich um und ließ ihren Blick durch den Salon schweifen. Er war mit kostbaren Möbeln aus der Tudor-Zeit eingerichtet. Das blasse Gelb der Vorhänge und Möbelbezüge harmonierte wunderbar mit dem großflächigen Muster des Seidenteppichs. Auf dem niedrigen runden Tisch stand ein herrlicher Strauß Teerosen, deren Farbe sich in das Bild einfügte. Ein schönes Zimmer, dachte Brenda. Hier werde ich mich gern aufhalten. Kaum aber hatte sie das gedacht, da fielen die Blätter der Rosen ab. Die Blüten lösten sich auf. In der gläsernen Kugel standen nur noch die Stiele. Brenda stieß vor Entsetzen einen Schrei aus. Unter der Tür zum Schlafzimmer erschien das Mädchen, das ihren Koffer ausgepackt hatte. »Mylady?« rief sie erschrocken und kam auf sie zu. »Was ist mit Ihnen, Mylady? Sie sehen ja ganz bleich aus.« Sie faßte nach Brendas Arm. »Setzen Sie sich, Mylady.« Sie drückte sie in einen Sessel. »Die Rosen«, flüsterte Brenda verstört. »O mein Gott, die Rosen!« Das Mädchen sah zu dem herrlichen Strauß Teerosen hinüber. »Ich werde die Rosen entfernen, Mylady«, sagte sie, weil sie meinte, Brenda könne Teerosen nicht leiden. Sie nahm die Vase auf und trug die Rosen aus dem Zimmer.
Brenda blieb regungslos in ihrem Sessel sitzen und starrte auf die Tischplatte. Die Rosenblätter waren verschwunden! Nichts deutete mehr darauf hin, daß ein Strauß von herrlichen Teerosen sich vor ihren Augen entblättert hatte. Also auch hier, dachte Brenda zitternd. Verfolgt mich der Spuk? Bin ich nirgends mehr vor ihm sicher? Das Mädchen kehrte zurück. »Möchten Mylady vielleicht eine Erfrischung?« erkundigte sie sich. »Danke, nein.« Brenda bedachte, daß sie auf Bentheim Castle von unzähligen Augen beobachtet wurde. »Man erwartet von dir, daß du dich wie eine Königin benimmst«, hatte Mark gesagt. Ich muß mich zusammennehmen, befahl sie sich. Niemand darf mir etwas anmerken! Um Marks willen muß es mir gelingen, vor allen zu verheimlichen, was mit mir geschieht! »Decken Sie mein Bett auf. Ich möchte eine halbe Stunde ruhen«, sagte sie und vermied es, das Mädchen anzusehen. »Sind meine Kleider ausgepackt?« fragte sie dann. »Gewiß, Mylady. Wenn Mylady sich zum Lunch umziehen möchten?« Das Mädchen stand abwartend da und sah Brenda aufmerksam an. »Bügeln Sie das hellgrüne Kleid auf.« Brenda bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Und nennen Sie mich nicht Mylady. Nennen Sie mich Miss Keaton.« »Es ist recht, Miss Keaton.« Das Mädchen knickste. »Und wie heißen Sie?« fragte Brenda. »Rosa, Myla… Rosa, Miss Keaton.« »Also gut, Rosa. Kommen Sie in einer halben Stunde und helfen Sie mir beim Ankleiden. Bis dahin möchte ich nicht gestört werden.«
Brenda erhob sich und trat an eines der hohen Fenster. Ihr Blick schweifte über den weitläufigen alten Park. Was wird mich hier erwarten? grübelte sie. Werde ich hier wirklich das Glück finden, von dem ich so lange geträumt habe? »Das Bett ist bereit, Miss Keaton«, sagte Rosa hinter ihr. »Ich werde mich in einer halben Stunde wieder bei Ihnen melden, Miss Keaton.« »Ja, danke.« Brenda hörte, daß eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Sie wußte, jetzt war sie allein und unbeobachtet. Sie faltete die Hände vor der Brust und legte das Gesicht darauf. Sie wollte den Himmel um Beistand anflehen. Doch dazu kam sie nicht mehr. Hinter ihr sagte eine Stimme: »Dreh dich um, Brenda Keaton!« Es war eine Frauenstimme, und Brenda erkannte sie sofort. Genauso hatte die Geisterfrau mit der brennenden Kerze gesprochen. Brenda fuhr herum und erwartete, die Spukgestalt in ihrem Zimmer zu erblicken. Aber es war niemand zu sehen. Schon wollte sie aufatmen und sich einreden, sie habe die Stimme gar nicht wirklich gehört. »Ich bin trotzdem im Zimmer!« hörte sie die Stimme sagen. Brenda hatte jedes Wort deutlich verstanden. Sie lehnte sich erschrocken in die Fensternische und preßte die Hände auf ihr Herz, weil es vor Aufregung wild zu klopfen begann. »Geh zum Schreibtisch«, befahl die Stimme der Geisterfrau. Brenda zitterten vor Angst und Schrecken die Knie. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte diesem Befehl nicht gehorchen können. »Geh zum Schreibtisch!« befahl die Stimme nachdrücklicher. »Ich will nicht!« stöhnte Brenda. Sie lehnte kraftlos an der Wand. Ihr Puls raste. Ihre Blicke irrten angstvoll wieder durchs
Zimmer – jeden Moment darauf gefaßt, die Geisterfrau zu sehen. Aber die Spukgestalt blieb unsichtbar! Vielleicht brauche ich mich nur gegen sie aufzulehnen, überlegte Brenda. Die Antwort auf ihre Gedanken war ein spöttisches Lachen. »Das bilde dir nur nicht ein!« sagte die Geisterstimme. Und dann sah Brenda zu ihrem Entsetzen, wie sich der Schreibtisch auf sie zu bewegte, so, als würde er ihr von unsichtbaren Dienern entgegengeschoben. »Nein!« stöhnte Brenda. »Ich kann das nicht mehr ertragen!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Dagegen weiß ich ein Mittel!« sagte die Geisterstimme. »Laß dich auf den alten Turm führen. Wenn du von seinen Zinnen springst, wirst du Frieden haben.« Dann folgte ein gellendes Lachen, das durch das ganze Schloß fallen mußte und Brenda die Trommelfelle zu zersprengen drohte. Sie schrie vor Qual und preßte die Hände auf die Ohren. In diesem Augenblick kehrte Rosa zurück, um das aufgebügelte Kleid zu bringen. Sie blieb erschrocken an der Tür stehen und schaute fassungslos auf die schreiende junge Frau. »Miss Keaton?« rief sie. Doch Brenda hörte sie nicht. Sie war wie von Sinnen. Da warf Rosa das Kleid über einen Sessel und lief fort, um Hilfe zu holen. Brenda war über ihren Schrei selbst so erschrocken, daß sie aus ihrem tranceartigen Zustand aufwachte. Sie sah gerade noch, wie Rosa aus dem Zimmer lief, und begriff sofort, was geschehen war.
Das Mädchen würde Hilfe holen – den Butler oder Mark. Man würde Fragen stellen und sie solange bedrängen, bis sie eine Erklärung für ihr Verhalten abgab. Ich muß sie alle täuschen, dachte Brenda. »Lauf ins Schlafzimmer, stell dich schlafend«, sagte die Geisterstimme. »Wenn du deine Rolle gut spielst, wird man denken, Rosa habe sich etwas aus den Fingern gesogen.« Brenda war so erregt, daß sie nicht mehr zwischen ihren Gedanken und der Geisterstimme unterschied. Sie war nur noch froh, daß ihr ein Ausweg eingefallen war, und eilte ins Schlafzimmer hinüber. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, legte sich aufs Bett und zog die Decke halb über sich. Es blieb ihr nicht viel Zeit, ihren Atem zu beruhigen. Da hörte sie schon, wie die Tür ihres Salons aufgerissen wurde. »Aber hier ist niemand!« sagte eine Männerstimme unwillig. Charles, dachte Brenda und drückte sich tiefer in die Kissen. »Und wieso steht der Schreibtisch mitten im Zimmer? Was soll das heißen?« Der Schreibtisch! durchfuhr es Brenda. Ich habe mir also nicht nur eingebildet, daß er auf mich zukam. Ein so sachlich empfindender Mann wie Charles sieht ihn auch mitten im Zimmer stehen! »Ich – ich weiß es nicht«, stammelte Rosa im Nebenzimmer. »Ich habe Miss Keaton gesehen. Sie stand da drüben am Fenster. Sie schrie und preßte sich die Hände auf die Ohren.« »Unsinn!« fuhr Charles sie an. »Warum sollte sie schreien?« »Das weiß ich doch nicht«, schluchzte Rosa. »Sie sah furchtbar aus, so, als würde sie im nächsten Moment in Ohnmacht sinken! Ich hatte Angst. Deshalb habe ich Sie geholt.« Charles erwiderte nichts, und auch Rosa schwieg. Wahrscheinlich haben sie die offene Schlafzimmertür bemerkt, dachte Brenda. Sicher kommen sie jetzt hierher, um
nachzusehen, was mit mir ist. Ich muß sie täuschen. Arme Rosa! Aber ich habe keine andere Wahl. Tatsächlich hörte Brenda sie Sekunden später hinter sich flüstern: »Sie schläft fest!« Es war Charles. »Du kannst von Glück sagen, daß sie durch dein Theater nicht aufgewacht ist.« »Ich habe es doch nur gut gemeint«, schluchzte Rosa. Brenda nahm sich vor, sie für dieses Mißgeschick zu entschädigen. Sie sollte nicht darunter leiden, daß ihre Herrin von Geistern gepeinigt wurde. »Faß mit an«, hörte sie Charles im Nebenzimmer sagen. »Oder soll der Schreibtisch hier mitten im Zimmer stehenbleiben?« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Rosa kleinlaut. »Und wieso stehen hier keine Blumen auf dem Tisch?« fragte Charles mit strenger Stimme. »Da standen Rosen auf dem Tisch«, verteidigte sich Rosa. »Aber Miss Keaton mochte sie nicht. Ich habe sie hinaustragen müssen.« »Na gut! Also komm schon! Und untersteh dich, noch einmal so einen Wirbel für nichts zu machen«, knurrte Charles. »Es tut mir leid. Ich habe es doch nur gut gemeint«, sagte Rosa unglücklich. »Schweig! Alberne Person!« fuhr Charles sie an. Dann schloß sich eine Tür. Sie hatten den Raum verlassen. Brenda atmete auf und hob den Kopf aus den Kissen. Sie war tatsächlich allein. Zögernd ließ sie ihren Blick durch das große Zimmer schweifen. Es war ein Traum in Rosa und Weiß mit Gold, ein Zimmer, wie sie es sich nicht einmal erträumt hatte. Sie ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken und schloß die Augen. Wenn ich das alles nur genießen könnte! dachte sie.
Was ist all diese Schönheit noch wert, wenn ich jeden Moment darauf gefaßt sein muß, von einem Spuk bedrängt zu werden? Diesmal ist es mir gerade noch gelungen, mein Geheimnis vor meiner Umgebung zu wahren. Aber schon beim nächsten Mal könnte alles herauskommen. Was dann? Mark liebt mich zwar von ganzem Herzen, aber wird er mit einer Frau leben wollen, die, furchterregende Gestalten sieht und seltsame Dinge erlebt? Wenn er erfährt, was seit gestern abend mit mir geschieht, wird er sich bestimmt von mir distanzieren. »Und dann wirst du auf den Turm steigen und nach unten springen«, sagte eine Stimme. Es klang wie eine Beschwörungsformel. »Ja, das werde ich«, flüsterte Brenda, und erst als diese Bestätigung über ihre Lippen gekommen war, begriff sie, was sie gehört und geantwortet hatte. »Nein, das werde ich nicht tun«, flüsterte sie mit zitternden Lippen. »Das nicht! Ich will den Turm niemals betreten! Niemals!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Um seinetwillen darf ich das niemals tun, dachte sie. Es wäre zu schrecklich für Mark! Wenn er schon nicht mit mir glücklich werden kann, will ich ihm wenigstens das ersparen!
*
Rosa kam zur angegebenen Zeit zurück. Sie wirkte verlegen und unsicher. Brenda tat, als bemerke sie es nicht. Sie bemühte sich, besonders freundlich zu ihr zu sein. Es fiel ihr auf, daß Rosa sie immer wieder mit forschenden Blicken musterte. Doch sie tat, als merke sie das nicht.
Sobald sie angekleidet war und ihren Salon wieder betrat, schaute Brenda zuerst zum Schreibtisch. Er stand wieder an der einen Seitenwand, und es war ihm nichts Absonderliches anzumerken. Sie ging langsam darauf zu, jeden Moment darauf gefaßt, daß er sich bewegen würde. Aber es blieb alles, wie es war. Erst als sie schon dicht vor dem Schreibtisch stand, erinnerte sie sich daran, daß die Stimme der Geisterfrau ihr den Befehl gegeben hatte, zum Schreibtisch zu gehen. Sie erschrak, wollte sich umdrehen und fortlaufen, um den Befehl der Geisterfrau zu mißachten. Doch sie war wie gelähmt. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen. Und dann geschah es! Ohne daß sie den Schreibtisch berührt hatte, drehte sich der Schlüssel im Schloß der Schreibklappe herum, und sie öffnete sich. Sie fiel nicht einmal hinunter, sondern senkte sich langsam, so, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geführt. Brenda fuhr sich über die Augen und hoffte, den Spuk auslöschen zu können. Aber als sie die Augen wieder öffnete, wurde gerade eine der zierlichen Schubladen herausgezogen. Sie war angefüllt mit weißen Briefkarten. Brenda wollte nicht danach greifen. Sie tat es trotzdem. Wie unter einem magischen Zwang nahm sie die weißen Karten heraus. Vor ihren Augen veränderte sich die Oberfläche der ersten Karte. Zuerst waren nur Schatten zu erkennen. Dann zeichneten sich immer deutlichere Umrisse ab, und plötzlich erkannte Brenda ein Bild. Es war das Bild der Geisterfrau mit der brennenden Kerze. Brendas Lippen öffneten sich. Doch der Schrei des Entsetzens blieb ihr diesmal in der Kehle stecken.
Deshalb also sollte ich an den Schreibtisch gehen! durchfuhr es sie. Hat er zu irgendeiner Zeit vielleicht ihr gehört? Hat sie am Ende in diesem Schloß gelebt? Vielleicht ist sie unter tragischen Umständen gestorben und findet keine Ruhe in ihrem Grab? Brenda hörte ein Geräusch. Schritte, die sich ihrer Tür näherten. Es klopfte. Sie schob die oberste Karte hastig unter die anderen, um sie zu verstecken. Aber die nächste Karte zeigte dasselbe Bild. Sie steckte sie ebenfalls nach unten und sah, daß auch die dritte Karte das Bild der Geisterfrau zeigte. Da schob Brenda die Karten zu einem Fächer auseinander. Jede einzelne hatte sich in eine Fotografie der Geisterfrau verwandelt. Rosa hatte inzwischen die Tür des Salons geöffnet und Mark hereingebeten. Seine liebevolle Begrüßung blieb unausgesprochen, denn Brendas Anblick verschlug ihm den Atem. Sie stand mitten im Zimmer und warf einige Briefkarten mit einer so heftigen Bewegung auf den Teppich, als hätte sie sich die Finger an ihnen verbrannt. »Brenda?« fragte er befremdet. »Was machst du da?« Sie schreckte auf, sah Mark an wie ein Kind, das bei einer bösen Tat überrascht worden ist, und schaute betreten auf die Karten, die auf dem Teppich lagen. »Ich – es – war doch, weil…«, stotterte sie und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Marks Bild fiel auf den Schreibtisch. »Wie kommt dieser Schreibtisch hierher?« rief er. »Was soll das?« Brenda zucke erschrocken zusammen. »Der Schreibtisch?« murmelte sie verstört. »Ich weiß es nicht.« »Natürlich nicht.« Mark bemühte sich, seine Erregung zu unterdrücken. »Verzeih, ich wollte .! .« Er zog sie in seine
Arme. »Verzeih mir, mein Herz.« Er küßte sie auf die Stirn. »Komm mit.« Er führte Brenda zur Tür. »Es war nur ein Mißgeschick«, versuchte sie zu erklären. »Ich wollte die Karten nicht auf den Teppich werfen.« »Schon gut, mein Liebling.« Mark nickte ihr zu. »Das ist ja nicht der Rede wert. Was liegt schon an diesen albernen Karten.« Brenda zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum auf den Füßen halten. Sie stolperte neben Mark her und war froh über jeden Schritt, mit dem sie sich von dem verhängnisvollen Schreibtisch entfernte. Erst als sie auf der Treppe waren und Mark sie nach unten führte, fragte sie: »Was – was ist mit diesem – Schreibtisch? Warum warst du so böse?« Sie streifte ihn mit einem unsicheren Blick. »Ist er besonders wertvoll?« »Er ist sehr wertvoll, aber das ist es nicht«, entgegnete Mark. »Für dich ist mir nichts kostbar genug. Bitte, frage mich nicht danach. Vielleicht werde ich dir ein andermal erzählen, weshalb ich so aufgebracht war. Vergessen wir es für heute. Wir haben uns auf das Wochenende gefreut, und es soll eine glückliche Zeit werden.« Eine glückliche Zeit, dachte Brenda. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schluckte mehrmals, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie wußte, Mark hätte es nicht gern gesehen, wenn sie vor dem Butler nicht selbstbewußt und gelassen aufgetreten wäre.
*
Charles servierte einen Aperitif. Auch er musterte Brenda, jedoch unauffälliger als Rosa. Offenbar war er froh, daß sie den Zwischenfall in ihren Zimmern nicht mehr erwähnte. Das Essen war ausgezeichnet. Aber Brenda verspürte nach den Aufregungen der letzten Stunde keinen Appetit und stocherte nur auf ihrem Teller herum. »Es schmeckt dir nicht, mein Liebling?« fragte Mark schließlich. »Das tut mir leid. Nun, ab morgen kannst du den Speiseplan selbst bestimmen. Es wird sich alles nach deinen Wünschen einrichten lassen.« »Danke«, murmelte Brenda. »Gefallen dir deine Zimmer?« wollte Mark wissen. Brenda nickte. »Obwohl…« Sie brach erschrocken ab, denn beinahe hätte sie mehr von ihren Gedanken verraten, als gut war. »Obwohl?« fragte Mark bestürzt. Brenda schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie leise. »Ich bitte dich, sprich deine Wünsche aus, wenn ich sie nicht erraten kann. Ich möchte, daß du glücklich bist! Also was ist es?« »Ich hatte nicht solchen Luxus erwartet«, redete Brenda sich heraus, weil sie ihm die Wahrheit nicht sagen konnte. »Ich wäre auch mit einfacheren Zimmern zufrieden.« »Einfachere Zimmer?« Mark lächelte nachsichtig. »Du bist die zukünftige Lady Bentham. Tut mir leid, mein Herz, du wirst dich an den Luxus gewöhnen müssen.« »Ja, ich weiß«, flüsterte Brenda. »Ich werde mich schon einleben.« »Natürlich wirst du das, mein Liebling«, versicherte ihr Mark. »In ein paar Tagen wirst du dich fragen, wie du ohne Butler und Köchin und Kammerzofe hast leben können. Du wirst schon noch lernen, die Ansprüche an das Leben als etwas Selbstverständliches zu betrachten.«
Brenda erwiderte nichts mehr und schaute vor sich auf ihr Gedeck. Wenn ich doch nur über meine Ängste sprechen könnte, dachte sie. Da Mark nicht ahnte, was Brenda seit gestern erlebte, lenkte er ab. »Nach dem Lunch werde ich dir das Schloß zeigen. Die meisten Räume sind zwar seit Jahren zugesperrt. Aber wir werden dafür sorgen, daß die alten Mauern zu neuem Leben erwachen. Und das wird deine Aufgabe sein.« »Sollten wir das nicht lieber gemeinsam in Angriff nehmen?« wandte Brenda ein. »Ich werde in der nächsten Woche noch einige Dinge abzuwickeln haben und deshalb nach London zurück müssen«, erwiderte Mark. »Inzwischen kannst du mit Charles’ Hilfe hier die ersten Veränderungen vorbereiten. Ich denke dabei an eine Art Bestandsaufnahme und einen Plan für die zukünftige Benutzung des Schlosses.« Brenda schluckte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, vor einem riesigen Berg zu stehen, den sie niemals würde erklimmen können. Mark schien es ihr anzumerken. »Keine Sorge, mein Liebes. Du schaffst es. Ich weiß sehr wohl, was ich von dir erwarten kann. Du wirst mich bis zum nächsten Wochenende von einer Verwunderung in die andere stürzen und im Laufe der Zeit aus Bentham Castle ein wahres Märchenschloß machen.« Kaum hatte er das ausgesprochen, da zersprang vor ihren Augen Marks Weinglas, und der Wein ergoß sich auf das Tischtuch. Niemand hatte das Glas berührt, und doch lagen die Scherben auf dem kostbaren Damasttuch. Sekundenlang waren Brenda und Mark wie gelähmt. Sie starrten beide auf die Scherben und wagten nicht, sich
anzusehen. Sie dachten beide dasselbe. Doch keiner hatte den Mut, es auszusprechen, weil keiner vom anderen ahnte, daß auch er seltsame Dinge erlebte. »Wie ungeschickt von mir«, sagte Mark. Seine Stimme war gepreßt und klang anders als sonst. Er war sehr blaß geworden, und sein Gesicht wirkte angespannt. Brenda hatte ihn so noch nie gesehen. Sie selbst war zutiefst erschrocken und wäre am liebsten aus dem Zimmer geflohen. Sie ahnte, wer das Weinglas zerbrochen hatte. Die Luft war angefüllt von dem widerlich süßlichen Duft, den die Kerze der Geisterfrau verströmte! »Wollen wir jetzt den Mokka trinken?« fragte sie. Mark glaubte, sie wollte ihm aus seiner Verlegenheit helfen, und nickte ihr dankbar zu. »Ja, gehen wir in den Salon. Wir hatten heute beide keinen rechten Appetit.« Er erhob sich und kam auf Brenda zu. Brenda wartete nicht ab, bis er ihren Stuhl fortrückte. Auch sie sprang auf und konnte nicht schnell genug aus dem Zimmer kommen. Hinter ihnen lachte jemand. Es war ein unheimliches Lachen, das aus einer Höhle zu kommen schien. Oder kam es aus Grabestiefe? Mark läutete nach Charles und ließ den Mokka bringen. Charles trug das Tablett mit feierlicher Geste herein, hielt es so, daß Brenda aus der kleinen goldenen Kanne die zierlichen Tassen füllen konnte. Brenda bemühte sich vergebens, das Zittern ihrer Hände vor ihm zu verbergen. Als sie ihre Tasse vom Tablett nahm, klirrte das Porzellan ein wenig – eine unverzeihliche Panne für eine zukünftige Lady Bentham. Aber Brenda war schon froh, daß die Tasse nicht zu Boden fiel.
Mark war kaum weniger erregt. Nach dem Erlebnis bei Tisch mußte er davon ausgehen, daß Melissa ihn mit ihrem Spuk zu quälen beabsichtigte. Er hatte so sehr gehofft, Brendas Anwesenheit würde stark genug sein, Melissas unseligen Geist zu bannen. Doch das schien nicht so zu sein. Wie soll ich ihr nur erklären, was damals hier geschehen ist? grübelte er. Ist es nicht unfair, sie an mich zu binden, solange ich Melissas Fluch nicht entkommen bin?
*
Mark und Brenda tranken ihren Mokka schweigend und dieses bedrückende Schweigen wurde immer unerträglicher. Sie hatten beide das Gefühl, daß die zarte Blüte ihrer jungen Liebe von einem eisigen Wind berührt worden war. Etwas Fremdes, Bedrohliches war in ihre Welt eingebrochen und hatte sie aus ihren Träumen von Glückseligkeit aufgeschreckt. Sie wußten jetzt beide, daß es das schattenlose Glück, an das sie so gern geglaubt hatten, für sie nicht geben würde. Aber weder Mark noch Brenda wagten daran zu rühren – ihre Gedanken und Befürchtungen in Worte kleiden. Sie konnten sich nicht einmal mehr in die Augen sehen, aus Angst, dem anderen durch einen Blick die geheimsten Gedanken zu verraten. »Möchtest du das Schloß jetzt kennenlernen?« fragte Mark schließlich. »Ja, gern«, sagte Brenda. Aber es war keine freudige Erwartung in ihrer Stimme, und als sie sich aus dem tiefen Sessel erhob, wirkte sie nicht wie eine junge glückliche Frau,
die sich vom Leben noch wundervolle Überraschungen erhofft, sondern wie eine Greisin, deren Hoffnungen erloschen waren. Mark fühlte sich auch nicht besser. Aber er versuchte, seine Depression zu überspielen. Das war er Brenda schuldig. »Was möchtest du zuerst sehen?« fragte er und legte ihr den Arm um die Schultern. »Den Turm mit den Zinnen«, sagte Brenda und erschrak dann vor ihren eigenen Worten. Sie hatte sie nicht einmal gedacht, geschweige denn aussprechen wollen. Eine unbekannte Macht mußte sie dazu gezwungen haben. Die Geisterfrau? Hatte sie ihr nicht vorhin geraten, auf den Turm zu steigen und von den Zinnen zu springen, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten? Auch Mark erschrak über ihre Worte. »Den Turm – mit den – Zinnen?« wiederholte er tonlos und sah sie entgeistert an. »Wie kommst du gerade darauf?« wollte er wissen. Er war sicher, diesen Turm niemals zuvor erwähnt zu haben. Brenda hatte Mühe, die Fassung nicht völlig zu verlieren. »Jedes Schloß hat doch einen Turm«, versuchte sie sich herauszureden, um Mark nicht gestehen zu müssen, was mit ihr geschah – und was es mit ihrer Äußerung für eine Bewandtnis hatte. »Wenn es dir nicht recht ist, lassen wir den Turm. Es gibt im Schloß sicher sehr viel Schöneres zu sehen.« Mark atmete auf. Brenda war also völlig ahnungslos! Sie hatte sicher nur einen Scherz machen wollen. Wie hätte sie auch wissen können, daß sich in der Geschichte des Schlosses schon zweimal eine Lady Bentham von seinen Zinnen in die Tiefe gestürzt hatte! »Es gibt viel Schönes im Schloß zu sehen«, bestätigte er. »Beginnen wir mit den Festsälen?« »Ja, gern.« Brenda zwang sich ein Lächeln ab.
Mark läutete nach Charles und ließ sich die Schlüssel bringen. Er überreichte sie Brenda mit einer feierlichen Gebärde. »Also, Schloßherrin, schließe auf«, forderte er sie dann auf. »Du mußt mich führen oder mir einen Plan geben«, bat Brenda. Auch sie bemühte sich, alles Bedrückende abzuschütteln und wieder unbefangen zu sein. »Führen«, entschied Mark. »Sonst wirst du mir zu unabhängig.« Als Brenda die erste Tür aufschloß, drang ihre kühle, dumpfe Luft entgegen, so daß sie das Gesicht ein wenig verzog. Mark entging es nicht. »Ich weiß, mein Liebes. Es riecht nach Staub und Alter. Aber nach unserer Hochzeit wird es hier statt nach Staub nach Rosen und kostbaren Kerzen duften. Die Lüster werden ihren alten Glanz haben, weil fleißige Hände sie putzen, und das Parkett wird schimmern.« »Dies ist der Ballsaal, ja?« fragte Brenda. »Stimmt«, bestätigte Mark. »Und hier werden wir nicht nur unsere Hochzeit feiern, sondern danach noch viele rauschende Feste.« Das letzte seiner Worte ging in dem Klirren einer Fensterscheibe unter. Sie zersprang ohne ersichtlichen Grund, und die Scherben fielen Brenda vor die Füße. Brenda stieß einen spitzen Schrei aus. Sie wurde blaß und taumelte. Ihre Hände griffen nach Marks Ärmel. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie mit zitternden Lippen. Mark war kaum weniger erschrocken, als sie und hatte Mühe, sein Entsetzen zu überspielen. »Es ist nichts, mein Herz. Weshalb erschrickst du so sehr? Wahrscheinlich ist ein Vogel gegen die Scheibe geflogen, weil die Lichtspiegelung ihn geblendet hat.«
Brenda hielt den Atem an und dachte über seine Erklärung nach. Sie schien plausibel zu sein. In der Stadt gab es keine Vögel, die gegen Fensterscheiben flogen. Aber hier draußen war ein solches Ereignis wahrscheinlich keine Seltenheit. »Der arme Vogel«, seufzte sie und wollte zum Fenster laufen. »Ob er tot ist?« »Natürlich nicht«, erwiderte Mark und hielt sie am Handgelenk zurück. »Komm weiter«, forderte er. »Wir haben noch viel zu besichtigen.« Brenda fügte sich. Der nächste Saal war etwas kleiner als der erste. »Hier werden wir speisen«, erklärte Mark. »Du kannst dir jetzt kaum ein Bild von der Pracht dieses Saales machen, weil die Spiegel und Leuchter verhängt sind. Du wirst sehen, wenn alles festlich hergerichtet sein wird, bietet der kleine Saal einen fürstlichen Rahmen für ein Festbankett.« Brenda hielt den Atem an und wartete voller Angst darauf, daß wieder etwas Ungewöhnliches geschehen würde. Doch es geschah nichts, und es roch auch nicht nach der Kerze, die die Geisterfrau herumtrug. Vielleicht sind es doch nur meine Nerven, dachte Brenda und beruhigte sich wieder. Mark führte Brenda in sein Arbeitszimmer, in die beiden Empfangssalons und anschließend in die große Bibliothek, an deren Wänden die Bücherregale bis unter die hohe Stuckdecke reichten. »Das müssen ja weit über tausend Bände sein«, staunte Brenda. Mark lächelte. »Wenn ich die letzten Zahlen richtig in Erinnerung habe, handelt es sich um beinahe zehntausend Bände«, entgegnete er. »In fast allen Sprachen der Welt, und fast alle sind bibliophile Kostbarkeiten. Mein Großvater hat die meisten von ihnen
gesammelt. Er hat damals noch einen Bibliothekar beschäftigt.« »Das wäre ich gern geworden«, kam es Brenda über die Lippen. »Leider blieb mir keine Zeit für eine solche Ausbildung. Nachdem ich Waise geworden war, mußte ich Geld für meinen Unterhalt verdienen.« »Was hindert dich daran, das nachzuholen?« fragte Mark. »Auch für mich gibt es nichts Schöneres, als die Beschäftigung mit Büchern. Wir könnten die Bibliothek gemeinsam überarbeiten. Das wäre doch eine großartige Aufgabe.« Brenda strahlte ihn an. »O ja!« rief sie. »Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen, als mit dir zusammen hier in diesem Raum…« Der Rest ihrer Worte erstickte in Grauen, denn plötzlich war das höhnische hohle Lachen wieder zu hören, das wie aus Grabestiefen zu kommen schien. Brenda preßte sich die Hände auf die Ohren und schloß verzweifelt die Augen. Jetzt ist alles aus! durchfuhr es sie. Sie ahnte ja nicht, daß auch Mark dieses Lachen vernahm und das Entsetzen ihm eine Gänsehaut über den Körper jagte. Melissa! dachte er. Sie neidet mir das Glück mit Brenda und versucht, es zu zerstören! »Kannst du mir das verdenken?« raunte ihm Melissa zu. Sie schien ganz dicht neben ihm zu stehen. »Sollte ich ruhig zusehen, wie du hier mit einer anderen glücklich wirst?« Mark machte eine heftige Bewegung mit dem Arm, um sie abzuwehren, traf dabei jedoch auf keinen Widerstand und stieß Brenda so ungeschickt an, daß sie aufschreckte. Sie schaute ihn ängstlich an. Da sie nicht ahnte, daß auch Mark das grauenvolle Lachen vernommen hatte und wußte, wer hier sein Unwesen trieb, glaubte sie nicht anders, als daß er sie mit diesem Stoß aus ihrer Erstarrung reißen wollte.
»Verzeih«, murmelte sie. »Ich – es – bitte verzeih«, wiederholte sie mit verlöschender Stimme, und ihre schönen großen Augen füllten sich mit Tränen. »Was sollte ich dir verzeihen?« fragte Mark. »Ich habe dich um Verzeihung zu bitten für meine Ungeschicklichkeit.« Er schob seine Hand in ihren Ann. »Gehen wir.« Er drängte sie zur Tür. »Ich finde, wir haben für heute genug angesehen. Morgen ist ja auch noch ein Tag.« Er sah auf die Uhr. »Es ist Zeit für den Tee. Es ist ein so herrlicher Tag. Wollen wir nicht draußen auf der Terrasse sitzen?« Mark sprach hastig, als befürchtete er, seine Sätze nicht zu Ende bringen zu können. »Tee auf der Terrasse ist eine gute Idee!« pflichtete Brenda ihm bei und dachte bei sich, daß im hellen Sonnenlicht jeder Spuk verschwinden müßte…
*
Die Terrasse lag in strahlendem Sonnenschein da, und als Mark und Benda hinaustraten, umfing sie Wärme und Helligkeit, und alles, was sie im Festsaal und in der Bibliothek erlebt hatten, verflog. Die düsteren Schatten hatten hier draußen keinen Bestand. »Wie schön es hier ist!« Brenda seufzte und streckte die Arme aus. »Was für ein herrlicher Anblick!« Mark strich ihr zärtlich übers Haar. Brenda lehnte sich gegen seine Brust. »Wenn du nur bei mir bist!« murmelte sie. Mark drückte ihr einen Kuß aufs Haar. »Wir werden bald für immer zusammen sein«, versprach er.
»Das wäre schön«, flüsterte Brenda. »Ich habe nur schreckliche Angst, daß sich etwas trennend zwischen uns stellen könnte.« »Du solltest solche dummen Gedanken erst gar nicht aufkommen lassen«, entgegnete Mark. »Nichts kann uns trennen. Ich liebe dich, und ich will mit dir leben – hier auf Bentham Castle. Nichts und niemand kann das verhindern!« Es klang seltsam. Wie ein Schwur, fand Brenda. Seine Worte berührten sie eigenartig. Nur wußte sie nicht, weshalb, denn eigentlich hätten sie sie glücklich machen müssen. Sie ließ ihren Blick über den Park schweifen und entdeckte einen großen schwarzen Vogel, der mit kräftigen Flügelschlägen auf die Terrasse zuflog. Er landete auf einer kleinen Tanne, die ganz in der Nähe stand. Da er viel zu schwer für den jungen Baum war, brach der dünne Stamm zur Seite. Brenda spürte im gleichen Moment einen so heftigen stechenden Schmerz in der Brust, als habe die abgebrochene Spitze der Tanne ihr Herz durchbohrt. Sie preßte beide Hände auf die schmerzende Stelle und hatte für Sekunden das Gefühl, sterben zu müssen. »Die Tanne!« stieß Mark hervor, der den schwarzen Vogel ebenfalls beobachtet hatte. Der Vogel schwang sich wieder in die Luft und flog zum Turm hinüber. Dort blieb er auf den Zinnen sitzen. Er hob sich wie ein drohender Schatten gegen die Sonne ab. Was für ein unheimlicher Vogel! durchfuhr es Mark. Ich habe ihn nie zuvor hier in der Gegend bemerkt. Und warum hat er sich gerade auf diese Tanne gesetzt? Das kann kein Zufall gewesen sein! Er hatte diese Tanne auf einem Spaziergang am Tag nach Melissas Tod entwurzelt am Rand einer Tannenschonung gefunden. Offenbar hatte jemand sie stehlen wollen und war
gestört worden. Vielleicht hatte man sie auch nur mutwillig ausgerissen. Er hätte die kleine Tanne an Ort und Stelle wieder einpflanzen können. Doch einem Impuls folgend hatte er sie mitgenommen und vor der Terrasse einpflanzen lassen. Sie war für ihn irgendwie das Symbol seiner wiedergewonnenen Freiheit geworden. Der Befreiung von einem Zwang, Glück und Liebe heucheln zu müssen, weil die Konvention es ihm so vorschrieb. Nun hatte ein unheimlicher Vogel die Tanne abgeknickt. Sie hatte ihre Spitze verloren – gerade in dem Augenblick, als Brenda vor Schmerz halb ohnmächtig geworden war. »Komm mit, wir schauen sie uns an«, sagte er erregt. »Und dann hole ich ein Gewehr und werde dieses entsetzliche Tier abschießen.« Er wollte mit Brenda die Stufen hinunterlaufen. Doch sie Sank plötzlich kraftlos zu Boden. Er starrte sie entsetzt an. Sie war so bleich wie der Tod. »Brenda, was ist dir?« Er kniete sich neben sie und zog sie in seine Arme. »Mein Herz!« keuchte Brenda. »Es sticht, als sei es von einem Dolch durchbohrt worden.« »Brenda? Liebling! Was sagst du da?« Mark preßte sie erschrocken an sich. Brenda antwortete nicht mehr. Sie war ohnmächtig geworden. Mark hob sie auf seine Arme und wollte sie ins Schloß tragen. Als sein Blick dabei noch einmal zu der kleinen Tanne hinüberschweifte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen, denn von der abgebrochenen Spitze der kleinen Tanne fielen dicke dunkle Tropfen auf den Rasen. In diesem Moment wurde ihm mit aller Gewißheit klar, daß nicht nur er unter Melissas Fluch litt, sondern auch Brenda!
»Brenda«, flüsterte er mit zitternden Lippen und hielt sie fest an seiner Brust. »Oh, Brenda, du sollst nicht für das büßen, was damals hier geschehen ist. Lieber will ich auf deine Liebe verzichten.« Er eilte auf die Terrassentür zu. Hinter ihm gellte ein Hohngelächter, das er nur zu gut kannte. Charles kam ihm im Salon entgegen. Er war eben im Begriff, den Teewagen auf die Terrasse zu rollen. »Mylord?« fragte erbestürzt. »Was ist passiert?« »Bringen Sie Kognak oder Whisky, Charles!« rief Mark ihm zu. Er trug Brenda zu einem Sofa und ließ sie behutsam darauf niedergleiten. »Brenda! Bitte, komm zu dir!« Er strich ihr zärtlich über die Wangen. »Brenda, Liebling!« Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, um sie aus ihrer Ohnmacht aufzuwecken. Doch Brenda schlug die Augen nicht auf. Charles brachte einen Whisky. Mark hielt Brenda das Glas an die Lippen und ließ etwas von der belebenden Flüssigkeit auf ihre Zunge tropfen. Brenda schluckte. Gleich darauf schlug sie die Augen auf und erkannte ihn. »Mark?« flüsterte sie verstört. »Mark, was ist mit mir?« »Nichts, mein Liebling. Du bist ohnmächtig geworden, weil ein großer schwarzer Vogel dich erschreckt hat. Es wird dir gleich bessergehen. Trinke das.« Er setzte ihr das Glas noch einmal an die Lippen. Brenda spürte, wie der Whisky ihre Lebensgeister weckte und eine wohlige Wärme ihren Körper durchströmte. »Der Vogel… Es war kein gewöhnlicher Vogel, nicht wahr?« Sie sah Mark ängstlich an. Er wurde unter ihrem Blick unsicher. »Ich habe ihn noch nie hier gesehen«, wich er aus. »Ich werde ihn vertreiben lassen.« Er streichelte sie, um sie zu
beruhigen. »Du darfst dich nicht ängstigen. Es wird alles gut«, versicherte er. Dabei hatte er gerade in diesem Augenblick selbst die größten Zweifel, ob es ihm gelingen würde, die Vergangenheit abzuschütteln. Hatte er sich bisher nicht vergeblich gegen Melissas Fluch gewehrt?
*
Mark kehrte mit Brenda nicht auf die Terrasse zurück. Charles servierte den Tee im Salon. Brenda saß bleich und in sich gekehrt auf dem zierlichen Sofa. Sie trank ihren Tee und knabberte an einem Keks. Mark versuchte mehrmals, sie in ein Gespräch zu ziehen. Doch sie gab nur zerstreut Antworten. Er sah ihr an, daß sie sich noch immer mit den Ereignissen auf der Terrasse beschäftigte. Wie lange werde ich mein furchtbares Geheimnis noch vor ihr verbergen können? dachte er. Brenda wird Fragen stellen, und sie hat ein Recht darauf. Aber was könnte ich antworten? Im gleichen Moment fragte Brenda: »Die kleine Tanne vor der Terrasse ist dir besonders ans Herz gewachsen, nicht wahr?« Mark zuckte unter dieser Frage kaum merklich zusammen. »Es handelt sich um eine besonders hübsche Tanne«, erwiderte er. »Und es ist schade, daß der Vogel ihre Spitze abgebrochen hat.« Brenda dachte daran, daß sie im selben Augenblick einen heftigen Schmerz verspürt hatte, so, als habe die abgebrochene Spitze der Tanne ihr Herz durchbohrt. Aber das wagte sie nicht auszusprechen. Mark hätte sie sicher für hysterisch gehalten.
So nickte sie nur und nahm sich noch einen Keks, um Mark nicht ansehen zu müssen. »Tut mir leid, daß sich gerade heute ein Malheur an das andere reiht«, sagte Mark. »Dabei wollte ich, daß es ein ganz besonders schöner Tag für dich wird.« Brenda ergriff seine Hand und schmiegte ihre Wange daran. »Was auch geschieht, es ist trotzdem schön, solange du in meiner Nähe bist«, flüsterte sie. Mark preßte seine Lippen in ihr Haar und schloß die Augen. »Dem Himmel sei Dank, daß es dich gibt!« seufzte er. »Selbst wenn mir nur ein einziger Tag mit dir vergönnt wäre, hätte es sich gelohnt, zu leben.« »Ja, Mark, so fühle auch ich«, entgegnete Brenda. Dann saßen sie eine ganze Weile schweigend da. Wenn Melissa einsieht, daß mich nichts von Brenda trennen kann, wird sie aufgeben, dachte Mark. »Nein, mein Lieber!« flüsterte die Geisterstimme neben ihm. »Das werde ich ganz bestimmt nicht. Eher werde ich euch beide vernichten.« Mark fuhr erschrocken hoch und riß Brenda damit aus ihrer Versunkenheit. »Mark?« Sie sah verstört zu ihm auf. »Was ist los?« »Warum sagst du es ihr nicht endlich?« raunte Melissa ihm ins Ohr. »Oder schweigst du, weil du weißt, daß sie dich verlassen würde, wenn sie die Wahrheit erführe?« Mark wandte sich ab, um sein Gesicht vor Brenda zu verbergen. Er befürchtete, er könnte in der Erregung mehr sagen, als ihm lieb war. Brenda saß wie versteinert da und begriff nicht, was geschah. »Mark? Was habe ich getan?« flüsterte sie unglücklich. »Bitte, sprich doch! Sag mir, warum du plötzlich…«
»Es ist nichts«, stieß er hervor. Er sprang auf und ging zum Fenster. Seine Finger griffen in die kostbaren Stores, und es sah aus, als wollte er sie herunterreißen. »Mark?« flüsterte Brenda. Sie stand auf und folgte ihm. Sie legte die Hände auf seine Schultern. »Du bist ja ganz außer dir. Warum nur? Ich habe doch nichts gesagt – nichts getan.« »Auch wenn du es ihr nicht sagst, werde ich erreichen, daß sie dich verläßt!« hörte Mark Melissa hämisch sagen. Er preßte sich die Hände auf die Ohren, um die verhaßte Stimme nicht mehr hören zu müssen. Doch Brenda mußte glauben, daß er ihre Worte nicht hören wollte. Sie wich betroffen einen Schritt zurück. »Möchtest du, daß ich nach London zurückfahre, Mark?« fragte sie traurig. Im gleichen Moment gellte ein unheimliches Lachen durch den Raum. Brenda erschauerte und schloß die Augen. »Ich werde dir diesen Triumph nicht gönnen!« stieß Mark erregt hervor und wandte sich zu Brenda um. Er sah Tränen an ihren langen Wimpern und riß die geliebte Frau schmerzlich berührt in die Arme. »Ich – liebe dich«, stammelte er. »Ich liebe dich mehr als mein Leben. Was immer auch geschieht, Brenda, du darfst niemals an meiner Liebe zweifeln. Und du darfst mich niemals verlassen. Ich flehe dich an, verlaß mich nicht!« Er küßte ihr die Tränen von den Wangen. Brenda schmiegte sich an seine Brust. Sie spürte seine Küsse und fühlte sich in seinen Armen wieder geborgen. »Ich verlasse dich nicht«, sagte sie mit halberstickter Stimme. »Ich will alles ertragen, als ohne dich sein. Ich gehöre zu dir. Halte mich fest. Halte mich ganz fest.« »Oh, Brenda!« flüsterte Mark. »Meine geliebte Brenda.«
*
Es war Zeit, sich für den Abend umzuziehen. Mark trennte sich nur ungern von Brenda. Manches deutete darauf hin, daß Melissa auch sie quälte. Aber noch hatte Mark nicht den Mut, mit seiner Braut über alles zu sprechen. Er geleitete Brenda bis zu ihrer Tür. »Die Zeit wird mir lang werden«, sagte er, als er sich von ihr verabschiedete. »Trotzdem werde ich geduldig warten, weil ich weiß, du machst dich für mich schön.« Er zog ihre Hände nacheinander an die Lippen. Brenda hätte gern auf das Umkleiden verzichtet. Die Vorstellung, es könnten sich in ihren Zimmern wieder unheimliche Dinge ereignen, bereitete ihr Unbehagen. Deshalb wäre sie lieber in Marks Nähe geblieben. »Ich brauche nicht lange«, sagte sie. »Ich werde dich nie drängen, wenn du dich für mich schön machst«, erwiderte er. »Ich weiß, dein Anblick belohnt mich für alles Warten. Also laß dir Zeit.« Brenda wurde von ihrer Zofe erwartet. Rosa hatte alles vorbereitet. Im Badezimmer rann Wasser in die Wanne, und es duftete nach köstlichem Badesalz. »Ich habe beide Kleider aufgebügelt, Miss Keaton«, sagte Rosa. »Für welches werden Sie sich entscheiden?« Brenda erinnerte sich noch an den Nachmittag, an dem sie diese Kleider gekauft hatte. Eigentlich hatte ihr Geld nur für eins gereicht. Doch da sie in beiden so hübsch ausgesehen hatte, hatte sie sich nicht entscheiden können und beide genommen. Seit sie in ihrem Schrank hingen, hatte sie davon geträumt, sie für Mark zu tragen. Und jetzt, da es endlich soweit war,
waren die Kleider so unwichtig geworden. Es ging um ihre Liebe – vielleicht sogar um ihr Leben. »Ich trage das mit den Sommerblumen«, sagte sie gleichgültig und begann ihr Kleid aufzuknöpfen. »Darf ich Ihnen behilflich sein?« Rosa sprang sofort hinzu und nahm ihr das Aufknöpfen ab. Sie streifte Brenda das Kleid ab und half ihr in einen seidenen Hausmantel. »Sind Sie schon lange im Schloß?« fragte Brenda, weil sie sich von ihrer Angst ablenken wollte. »Nein, Madame, erst seit einigen Wochen«, antwortete Rosa. »Und wo waren Sie vorher?« fragte Brenda weiter, obgleich es sie nicht besonders interessierte. »Ich war Zofe bei Lady Wilmoore. Aber sie hat sich vom Turm gestürzt und brauchte keine Zofe mehr.« Rosa sagte das in einer Art, als berichtete sie über ein alltägliches Ereignis. Brenda sah sie entsetzt an. »Was sagen Sie da?« fragte sie gepreßt. »Sie hat sich vom Turm gestürzt?« »Vorn Turm gestürzt?« murmelte Rosa kopfschüttelnd und machte ein Gesicht, als zweifle sie an Brendas Verstand. »Nein – wieso. Wie kommen Sie darauf, Madame?« »Das haben Sie eben selbst gesagt!« rief Brenda erregt. »Ich sollte…?« ‘Rosa stockte. »Wenn Sie… Miss Keaton…«, stotterte sie. »Aber Lady Wilmoore ist zu ihrem Sohn nach Amerika gezogen. Ich wollte England nicht gern für immer verlassen. Deshalb hat Lady Wilmoore mir freigestellt, aus ihren Diensten auszuscheiden.« »Dann lebt Lady Wilmoore also noch?« fragte Brenda. »O ja!« Rosa nickte eifrig. »Ihre Ladyschaft hat mir sogar einmal eine Karte aus Boston geschickt.« »Wie aufmerksam!« sagte Brenda. Sie hatte Mühe, vor ihrer Zofe zu verbergen, was in ihr vorging. »Ich denke, das Bad wird soweit sein«, lenkte sie ab.
»Gewiß, Madame.« Rosa lief ins Badezimmer hinüber. Ich muß mich zusammennehmen! dachte Brenda und folgte der Zofe zögernd. Es wäre zu peinlich, wenn das Personal anfinge, an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Rosa überprüfte die Temperatur des Badewassers. »Ich denke, es ist so angenehm, Miss Keaton«, meinte sie. »Das Badetuch liegt bereit. Wenn Sie mich noch brauchen?« Sie sah Brenda abwartend an. »Danke, nein. Ich läute nach Ihnen, Rosa.« »Wie Sie wünschen.« Rosa warf noch einen letzten prüfenden Blick auf das Bad und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Brenda wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann band sie den Hausmantel auf und ließ ihn von den Schultern gleiten. »Du solltest in Badezimmern besonders vorsichtig sein«, raunte hinter ihr eine Stimme, die ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Brenda fuhr herum, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Es sind nur meine Gedanken, redete sie sich ein und preßte sich die Hände aufs Herz, um es zu beruhigen. »Es sind nicht nur deine Gedanken«, widersprach die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, und dann streifte Brenda ein eisiger Atem. Sie erschauerte und lehnte sich an die Tür. »Wer bist du? Was willst du von mir?« stöhnte sie. »Ich will, daß du Bentham Castle verläßt oder dich von den Zinnen des alten Schloßturms stürzt«, sagte die Stimme. Und dann sah Brenda wieder die Geisterfrau mit der Kerze. Die Kerze brannte, und ihr süßlicher Duft legte sich Brenda so schwer auf die Lungen, daß sie meinte, ersticken zu müssen. Aber noch ehe Brenda sich soweit gefaßt hatte, daß sie etwas zu fragen wagte, war die Erscheinung wieder verschwunden.
Brenda hielt den Atem an und wartete, ob der Spuk wiederkommen würde. Aber es war nichts mehr zu sehen. Sie hörte auch die unheimliche Stimme nicht mehr. Und wenn es kein Spuk war? dachte Brenda plötzlich. Vielleicht verliere ich den Verstand? Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ehe ich zulasse, daß ich in eine Anstalt eingeliefert werde, stürze ich mich lieber vom Turm«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.
*
Rosa wartete vergebens darauf, daß ihre neue Herrin nach ihr läutete. Schließlich geriet sie in Sorge und klopfte an die Tür des Badezimmers. »Ist alles in Ordnung, Miss Keaton?« rief sie. Brenda schreckte auf und blickte sich verstört um. Sie stand noch immer an die Tür gelehnt da, von Angst und Grauen geschüttelt. »Alles in Ordnung!« rief sie zurück. Sie riß sich hastig die letzten Kleidungsstücke vom Leib, stieg in die Wanne, wusch sich rasch und stieg wieder aus dem Wasser. Sie griff nach dem Badetuch und wickelte sich darin ein. »Habe ich mich zu lange im Bad aufgehalten?« fragte sie, als sie ins Ankleidezimmer kam. »Ein wenig, Madame«, antwortete Rosa. »Aber wir werden Seine Lordschaft sicher nicht ungebührlich warten lassen müssen. Ich werde mich beeilen.« Wie nett die Kleine ist, dachte Brenda. Sie gibt sich alle Mühe, es mir recht zu machen. Ich sollte ihr etwas Nettes sagen. – Aber was?
Sie streifte Rosa mit einem nachdenklichen Blick. Sie ist hübsch – sehr hübsch sogar. Vielleicht beneidet sie mich, weil sich ein Lord in mich verliebt hat und mich heiraten wird. Sie ahnt nicht, wie unglücklich ich bin. »Wenn Madame bitte hier vor dem Spiegel Platz nehmen würden, damit ich das Haar richten kann«, sagte Rosa in ihre Gedanken hinein. »Ja, gern.« Brenda ließ sich auf dem zierlichen Stuhl mit dem rosa Seidenpolster nieder. Die Zofe legte ihr den Frisierumhang um und begann ihr mit geschickten Fingern eine neue Frisur zu legen. »Erstaunlich!« Brenda lächelte. »Und sehr vorteilhaft. Weshalb bin ich nicht schon längst auf die Idee gekommen, das Haar so zu frisieren.« »Sie sind zufrieden? Das freut mich.« Rosas Wangen glühten vor Eifer und Freude. »Ich werde mir noch viele schöne Frisuren ausdenken, damit Seine Lordschaft Sie immer neu bewundert.« »Ich verlasse mich ganz auf Sie, Rosa.« Brenda erhob sich. »Danke, Miss Keaton.« Rosa lief zum Kleiderständer und nahm das bezaubernde Abendkleid vorsichtig vom Bügel. Sie öffnete den Rückenverschluß und hielt es Brenda so hin, daß sie bequem hineinsteigen konnte. Als Brenda sich in dem Kleid und mit der neuen Frisur im Spiegel betrachtete, schüttelte sie insgeheim den Kopf über sich. Ich bin auf dem besten Wege, eine richtige Lady zu werden, dachte sie. Dabei hatte ich furchtbare Zweifel. »Madame sehen bezaubernd aus!« Rosa seufzte und hatte ganz verträumte Augen. Zu weiteren Bemerkungen kam es nicht, denn es klopfte eben an die Tür des Salons.
»Das wird Seine Lordschaft sein«, sagte Rosa. »Ich werde öffnen, wenn Sie gestatten.« Brenda nickte, und Rosa lief zum Salon hinüber. Im selben Augenblick tauchte neben Brendas Spiegelbild das Gesicht der Geisterfrau auf. Brenda sah es voller Entsetzen und öffnete die Lippen. Doch sie brachte keinen Ton hervor. »Zugegeben, du siehst gut aus«, sagte das Spukbild, das aussah wie ein Totengesicht. »Aber das ist nicht alles. Wenn du dir einbildest, du hättest dein Ziel schon erreicht, irrst du dich. Ich werde dich dazu bringen, Bentham Castle wieder zu verlassen – oder dich von den Zinnen des Turms zu stürzen.« Brenda hörte wieder das schauerliche Lachen, und im nächsten Moment war der Spuk wieder verschwunden. »Mylord werden schon erwartet«, sagte Rosa im Nebenzimmer. »Miss Keaton wird jeden Moment erscheinen.« Brenda schloß die Augen. Ihre Knie zitterten und sie taumelte. Wie lange werde ich das noch durchstehen? dachte sie verzweifelt.
*
Lord Bentham war einmal mehr von Brenda fasziniert. »Wie schön du bist!« seufzte er selbstvergessen und betrachtete sie mit leuchtenden Augen. Brenda bemühte sich um Fassung. Doch ihr Lächeln war nicht so strahlend, wie Mark es nach seinen schmeichelnden Worten hätte erwarten können. Sie leidet! dachte er nervös, wagte aber nicht, seine Gedanken in Worte zu kleiden, sondern ignorierte Brendas Blässe.
Er zog ihre Hand an die Lippen und küßte verliebt ihre Fingerspitzen. »Du wirst die schönste Lady Bentham sein, die es je in der Geschichte dieses Geschlechts gab«, sagte er. Brenda dachte an die drohenden Worte der Gespensterfrau. Sie schluckte an dem dicken Kloß, der ihr die Kehle verengte. Aber er wollte nicht weichen. Marks Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es quälte ihn, Brenda so leiden zu sehen. Er wußte längst, daß er ihr die ganze Wahrheit eingestehen mußte, und er fürchtete sich vor Brendas Reaktion. Würde sie die Kraft haben, einen solchen Gedanken zu ertragen? Würde ihre Liebe stark genug sein, diesen Schatten, der seine Vergangenheit verdunkelte, zu bannen? Vielleicht kann ich noch bis morgen warten, dachte er. Oder bis übermorgen? Wahrscheinlich war es keine gute Idee, Brenda nach Bentham Castle zu bringen. Es wäre schön, hier mit ihr zu leben. Aber es ist immer noch besser, mit ihr anderswo zu sein, als sie zu verlieren. »Gehen wir?« Er zwang sich ein Lächeln ab und reichte ihr galant den Arm. »Charles wird schon mit den Cocktails warten.« Brenda schob ihre Hand in seinen Arm und ließ sich nach unten führen. Ihre Knie zitterten noch immer. Hätte Mark sie nicht so sicher geführt, sie wäre kaum von der Stelle gekommen. Mark spürte das Beben ihrer Hand. Wie gern hätte er die geliebte Frau beruhigt. Doch die Angst, sie zu verlieren, schloß ihm die Lippen. Er stützte Brenda nur besonders fürsorglich, als sie die breiten Stufen zur Eingangshalle hinunterstiegen. Charles stand wartend unten in der Schloßhalle. »Madame?« Er verneigt sich vor Brenda.
»Mylord?« Auch vor Mark verbeugte er sich. Nichts in seiner Miene verriet, daß er in den vergangenen Stunden Zeuge des seltsamen Verhaltens der beiden geworden war. »Einen Cocktail, Charles«, befahl Mark. »Bitte sehr, Mylord.« Charles eilte ihnen voran, öffnete die Tür eines Salons und ließ Mark und Brenda eintreten. Sie befanden sich in dem Raum neben dem kleinen Speisezimmer. Dort gab es eine kleine Bar. »Was möchtest du trinken?« erkundigte Mark sich bei Brenda. »Einen Sherry.« »Für mich einen Martini, Charles«, erklärte Mark. Charles bediente sie. Mark versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch Brenda blieb in sich gekehrt. »Ich habe in der Bibliothek im Kamin ein Feuer anzünden lassen«, bemerkte Charles. »Ich dachte, daß es für Madame dort vielleicht sonst zu kühl werden könnte.« »Sehr fürsorglich, Charles«, lobte Mark ihn. Der Butler verneigte sich und zog sich zurück. Brenda nippte an ihrem Sherry. Sie spürte, wie Mark sie prüfend beobachtete und wurde unter seinen Blicken immer unsicherer. Schließlich ertrug sie die Spannung nicht mehr. »Ich möchte nicht hierbleiben, wenn du nach London zurückfährst«, erklärte sie. »Bitte nimm mich wieder mit zurück, Mark.« Sie hatte Widerspruch erwartet. Aber Mark nickte ihr nur lächelnd zu und erwiderte: »Natürlich, Liebes. Wenn du dich hier nicht wohl fühlst, werde ich dich nicht drängen, in Bentham zu bleiben. Wir können ebensogut in London oder in einer anderen Stadt leben. Vielleicht sollten wir nach der Hochzeit eine Weile auf Reisen gehen. Ich könnte dir viel Schönes von der Welt zeigen.«
Brenda atmete erleichtert auf. »Verzeih, wenn es dir kindisch vorkommt«, bat sie. »Davon kann gar keine Rede sein«, versicherte Mark ihr. »Ich möchte dich glücklich sehen. Nur darauf kommt es an.« »Glaube nur nicht, daß du jetzt gewonnen hast, mein Bester«, sagte da hinter ihm eine dumpfe Stimme. »Ich habe die Macht, dich überallhin zu verfolgen – und auch sie. Und ich werde euch keine Ruhe gönnen – nirgendwo! Ich werde euch trennen!« Mark wurde blaß. Das Entsetzen spiegelte sich so deutlich in seinem Gesicht wider, daß Brenda sein Erschrecken nicht verborgen bleiben konnte. »Mark?« fragte sie bestürzt. »Mark, was ist mit dir?« »Nichts«, wehrte er ab. »Laß mich. Ich bitte dich, frage mich nichts.« Er trank den Rest seines Martinis, setzte sein Glas hart ab und wandte Brenda den Rücken zu, um sein Gesicht vor ihr zu verbergen. »Mark?« flüsterte Brenda. Ihre Hände zitterten. Sie stand wie gelähmt da und starrte auf seinen Rücken. Dann traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. Nicht nur sie verheimlichte etwas vor ihm – auch er verheimlichte ihr etwas! Und es mußte etwas sein, das ihre Liebe bedrohte.
*
Sie standen lange da, und keiner sagte ein Wort. Erst als Charles erschien und meldete, daß angerichtet sei, drehte Mark sich wieder um. »Es ist gut, Charles, danke«, sagte er und hatte in der Erregung ganz vergessen, daß er Brenda das hätte überlassen müssen.
»Gehen wir also zu Tisch.« Mark reichte Brenda seinen Arm. Sie blickte unglücklich zu ihm auf. Sie sah ihm an, wie sehr er litt. Aber da er sie so nachdrücklich gebeten hatte, keine Fragen an ihn zu richten, schwieg sie. Mark führte sie an ihren Platz. Er schob ihr den Stuhl zurecht und nahm seinen Platz am anderen Ende der kleinen Tafel ein. Der Tisch war festlich gedeckt für Brendas ersten Abend auf Bentham Castle. Doch nun hatten sie kaum einen Blick für das herrliche Rosenarrangement oder die kostbaren Kerzenleuchter. Charles bediente bei Tisch. Wahrscheinlich wunderte er sich, weil die Mahlzeit so schweigend verlief und kaum etwas gegessen wurde. Aber er zeigte es nicht. Seine Miene blieb unbeweglich. Brenda schaute immer wieder fragend zum anderen Ende der Tafel hinüber. Doch Mark vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Sie wäre gern aufgesprungen und aus dem Zimmer gelaufen. Aber da war der Butler, der sie beobachten konnte, und seinetwegen mußte sie das Gesicht wahren, so schwer es ihr auch fiel. Brenda war froh, als das Dessert endlich abgeräumt wurde und das Essen vorüber war. Mark erging es kaum anders. »Möchtest du den Mokka in der Bibliothek nehmen?« fragte er. Es war seit einer Stunde das erste Mal, daß er sie ansah und das Wort an sie richtete. »Ja, bitte«, murmelte Brenda und nickte. Und ihre Augen flehten: Laß mich nicht so leiden. Vertraue dich mir an! Dieser Blick traf Mark bis ins Herz. »Mokka in der Bibliothek, Charles«, ordnete er an. Seine Stimme klang noch immer gepreßt. »Sehr wohl, Mylord«, dienerte Charles und zog sich zurück.
Mark erhob sich. Er trat hinter Brendas Stuhl und zog ihn ritterlich zurück. »Gehen wir hinüber«, sagte er und vermied es, sie noch einmal anzusehen. »Ja, gern«, flüsterte Brenda. Ihre Lippen zitterten so sehr, daß sie kaum sprechen konnte. In ihren schönen Augen standen Tränen. Ihr Herz war vor Schmerz wie erstarrt. Wie lange war es her, seit sie von Liebe und Glück geträumt hatte? War wirklich erst ein Tag vergangen, seit sich um sie herum Dinge ereigneten, für die man mit dem Verstand keine Erklärungen finden konnte? Und wie würde es weitergehen? Die Sonne war inzwischen untergegangen. Hinter den großen Fensterscheiben der Terrassentüren wurde es allmählich dunkel. Im Marmor gefaßten Kamin brannten die Holzscheite, und die Flammen verströmten ein trauliches Licht. »Setzen wir uns ans Feuer?« bat Brenda und wies auf die bequemen Sessel. »Gern, Liebes«, murmelte Mark. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich und schmiegte sein Gesicht in ihr Haar. »Verzeih mir!« flüsterte er. »Bitte, vergiß nicht, wie sehr ich dich liebe.« Brenda wandte sich ihm zu. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und drückte sich an seine Brust. »Ich liebe dich, Mark! Ich liebe dich von ganzem Herzen. Was immer es ist, ich werde es mit dir tragen, auch wenn du nicht darüber sprechen kannst.« »Brenda!« stöhnte er. Sie war froh, daß das Schweigen zwischen ihnen beendet war. »Es wird alles gut werden, mein Liebster«, sagte sie und klammerte sich fest an ihn. »Solange ich deine Liebe habe, kann ich alles ertragen.« Mark küßte ihr die Worte von den Lippen. Und in diesen Minuten waren alle Schatten verflogen.
Aber ihre Versunkenheit dauerte nur kurze Zeit. Charles erschien, um den Mokka zu servieren. Als er sah, daß Lord Bentham und die zukünftige Lady Bentham sich umarmten, ging er schnell wieder hinaus, schloß die Tür zur Bibliothek geräuschlos und klopfte an. Mark und Brenda schreckten auf. Sie sahen sich an. Die Fremdheit war aus ihren Blicken gewichen und sie waren beide sehr froh darüber. »Das wird Charles sein«, sagte Mark. »Ja, bitte?« rief er zur Tür hin. Charles trat ein und trug auf einem Tablett das Mokkaservice herein. »Setz dich, mein Liebes«, sagte Mark und führte Brenda zu ihrem Sessel. Er selbst blieb stehen. »Stellen Sie das Tablett dort ab, Charles«, wies er den Butler an. »Wir bedienen uns selbst.« »Bitte sehr, Mylord.« Charles setzte das Tablett auf einem kleinen Tisch mit kunstvoller Intarsienarbeit ab. »Haben Sie noch einen Wunsch, Mylord?« erkundigte er sich. »Danke, Charles. Heute nicht mehr. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Mylord. Auch Ihnen, Madame, gute Nacht.« »Gute Nacht, Charles«, sagte Brenda und nickte ihm flüchtig zu. Sobald der Butler die Bibliothek wieder verlassen hatte, setzte Mark sich zu Brenda auf die Sessellehne. »Ich hoffe, es war dir recht, daß ich ihn weggeschickt habe?« fragte er und lächelte. »Natürlich.« Brenda schmiegte ihren Kopf an seinen Arm. »Wie kannst du fragen? Ich werde dich bedienen.« »Nein«, widersprach er. »Du bleibst sitzen. Ich bediene dich.«
*
Mark und Brenda vergaßen für eine Weile alles um sich her. Sie waren glücklich, beieinander zu sein – selig die Liebe des anderen zu spüren. Sie dachten nicht mehr an die Ereignisse des Tages und nicht an die Zukunft. Für sie zählte nur die Gegenwart, in der jeder Augenblick zu einer beglückenden Ewigkeit wurde. Irgendwann schreckte sie ein Klopfen an der Tür auf. Mark wandte sich verwundert um. »Charles?« fragte er kopfschüttelnd. »Jetzt noch?« »Herein!« rief er und erhob sich. Charles trat ein. »Verzeihen Sie die Störung, Mylord«, entschuldigte er sich. »Ein Anruf. Es ist Lord Ashwood. Er sagt, es sei dringend. Er müsse Sie unbedingt heute abend noch sprechen.« Mark wußte, daß Harry ihn so spät nicht anrufen würde, wenn es nicht wirklich dringend war. »Legen Sie das Gespräch ins Arbeitszimmer, Charles«, ordnete er an. Dann beugte er sich über Brendas Hand. »Entschuldige mich für ein paar Minuten, mein Liebling. Ich bin gleich wieder da.« Brenda lächelte glücklich zu ihm auf. »Grüße ihn von mir«, erwiderte sie. »Ja, gern. Danke.« Noch einmal küßte er ihr die Hand, dann folgte er Charles hinaus. Brenda wandte sich dem Kaminfeuer wieder zu und beobachtete die Flammen, die wie in unaufhörlichem Spiel von den prasselnden Holzscheiten aufstieget. Es wird noch alles gut, dachte sie. Mark liebt mich von ganzem Herzen. Alles andere wird zu ertragen sein.
Vielleicht hat mir nur die Angst vor dem neuen Leben schreckhafte Bilder eingegeben. Es gibt ja keinen Spuk, und es gibt keine Geister! Nichts kann geschehen, ohne daß es nicht eine Ursache hat, die mit dem Verstand zu erklären ist. Wenn man etwas nicht erklären kann, liegt es nur daran, daß man die Ursache des Geschehens nicht erkennen kann. Brenda lehnte sich in dem bequemen Sessel zurück und schloß für einen Moment die Augen. Sie war glücklich und entspannt, und sie freute sich wieder auf das Leben an Marks Seite wie nie zuvor. Doch da traf sie plötzlich ein eisiger Lufthauch, der sie aus ihrer gerade wiedergewonnenen Sicherheit schreckte. Brenda riß die Augen auf, und ihr Blick fiel auf einen seltsamen Schatten über dem Kamin, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Er zog sich wie ein dunkler Bogen vom Kamin über die ganze Wand hin bis zur linken Terrassentür. Da Charles den Mokka nicht serviert hatte, sondern fortgeschickt worden war, hatte er auch die Vorhänge vor den Terrassentüren nicht geschlossen. Draußen war inzwischen stockfinstere Nacht geworden. Brenda fröstelte. Irgendwie war ihr das Alleinsein in der großen Schloßbibliothek plötzlich unheimlich. Sie sprang auf, ging auf die erste Terrassentür zu und wollte die Vorhänge zuziehen. Doch gerade als sie die Hand nach der dunkelgrünen Samtdekoration ausstreckte, erschien hinter einer der großen Scheiben ein Gesicht. Es war das totenbleiche Gesicht eines Mannes, in dem zwei dunkle Augen glühten. Von Grauen geschüttelt starrte Brenda dieses unheimliche Gesicht an. Konnte sie ihren Augen trauen, oder war auch dies ein Gebilde ihrer Phantasie? Da bewegte sich das Wesen hinter der Scheibe.
Brenda schrie auf. Sie streckte dem Mann abwehrend die Hände entgegen, doch er verschwand nicht. Er preßte sein Gesicht an die Scheibe. Brendas Schrei erstickte in Angst. Sie wollte zurückweichen. Aber ihre Füße waren wie auf dem Boden festgewachsen. Voller Entsetzen entdeckte sie, daß der Mann seine Hand durch die Scheibe stecken konnte. Er faßte nach der Klinke, drückte sie hinunter und stieß die Flügel zur Terrassentür auf. Da schwanden Brenda die Sinne. Sie sank ohnmächtig in sich zusammen. Als Mark in die Bibliothek zurückkehrte, fiel sein erster Blick auf die ohnmächtige Frau, die vor einer der Terrassentüren lag. »Brenda!« rief er erschrocken und lief zu ihr hin. »Brenda, was ist mit dir?« Er kniete neben ihr nieder und hob ihren Kopf auf. Brendas Augen waren geschlossen. Sie war bleich wie der Tod. Marks Blick ging zur Terrassentür. Hatte Brenda dort etwas gesehen, das sie erschreckt hatte? Er konnte nichts entdecken. Er küßte sie und rief immer wieder ihren Namen, bis es ihm schließlich gelang, Brenda aus der Ohnmacht aufzuwecken. »Mark?« fragte sie verstört und sah an ihm vorbei zur Terrassentür. In ihren Augen spiegelte sich Angst wider. »Was war dort?« flüsterte sie. »Ein Ungeheuer! Er hat die Tür geöffnet und…« Sie brach ab, als sie sah, daß die Tür geschlossen war. Mark richtete sie auf und führte sie liebevoll zu ihrem Sessel zurück. »Es war heute alles ein bißchen viel für dich«, sagte er und begann ihr Haar zu streicheln, um sie zu beruhigen.
Brenda drückte sich tief in ihren Sessel. Sie wehrte sich zwar nicht gegen seine Zärtlichkeiten. Doch sie erwiderte sie auch nicht mehr. Sie war vor Angst und Schrecken wie versteinert. »Vielleicht solltest du schlafen gehen«, meinte Mark. »Es war ein langer aufregender Tag. Und wie du mir berichtet hast, konntest du in der vergangenen Nacht auch nicht viel Schlaf finden.« »Ja.« Brenda nickte. »Das stimmt.« Sie vermied es, Mark anzusehen. Sie meinte ganz deutlich zu spüren, daß er bereits an ihrem Verstand zu zweifeln begann. Wie lange würde es dauern, bis er sich von ihr abwendete, weil er eine Frau, die ihrer Sinne nicht mehr mächtig war, nicht zu einer Lady Bentham machen wollte?
*
Mark hatte kein gutes Gefühl, als er Brenda nach oben geleitete. Er Wüßte, daß sie ratlos und verzweifelt war, und er hätte sie in diesem Zustand eigentlich nicht sich selbst überlassen dürfen. Aber er fand ganz einfach nicht den Mut für die immer dringender werdende Aussprache. Er war auch froh, daß Brenda sich ihm nicht anvertraute und ihn dadurch zwang, über die Dinge zu sprechen, die zu vergessen er bemüht war. Als Brenda sich vor der Tür ihrer Suite von ihm verabschiedete, sah sie ihn mit einem so traurigen Blick an, daß es ihm durch und durch ging. Er zog sie in die Arme. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich über alles. Ich darf dich nicht verlieren! Niemals!« Ehe sie etwas antworten konnte, riß er sich von ihr und lief den Flur entlang. Brenda sah ihm betroffen nach.
Er flieht vor mir! dachte sie. Und er hat mich zum Abschied nicht geküßt. Es ist alles aus! Er wehrt sich noch dagegen, doch seine Liebe zu mir erlischt allmählich – und das ist ihm inzwischen bewußt geworden. Vielleicht werde ich morgen früh von Charles einen Brief überreicht bekommen, in dem steht, daß Mark Bentham Castle verlassen hat, weil ihn dringende Verpflichtungen nach London gerufen haben. In Wirklichkeit aber wird er nur einer weiteren Begegnung mit mir ausweichen wollen. Dabei kann ich es ihm nicht einmal verdenken! Mein Benehmen muß ihm höchst seltsam erscheinen. Das Bild des davoneilenden Mark verschwamm hinter einem Tränenschleier. Brenda wischte sich über die Augen. Aber es drängten immer neue Tränen nach, tropften von ihren Wimpern und rannen über ihre Wangen. Sie öffnete die Tür und trat ein. Im Vorzimmer saß Rosa und erwartete sie. Damit hatte Brenda nicht gerechnet. Es war zu spät, ihre Tränen vor der Zofe zu verbergen. »Rosa?« murmelte sie bestürzt. »Sie sind noch auf?« Rosa hatte gelernt, Gefühle ihrer Herrschaft nicht eher zur Kenntnis zu nehmen, als bis man sie darauf aufmerksam machte. So übersah sie die Tränen ihrer Herrin. »Ich habe auf Sie gewartet, Madame«, sagte sie freundlich. Brenda war einerseits froh, nicht allein zu bleiben. Andererseits aber fiel es ihr schwer, sich zu beherrschen. Sie war so unglücklich und hätte ihren Tränen gern freien Lauf gelassen. »Helfen Sie mir bitte aus dem Kleid, Rosa«, sagte sie. »Dann können Sie schlafen gehen.« »Es ist recht, Madame.« Rosa eilte ihr voran ins Ankleidezimmer. Sie öffnete den Verschluß des Kleides und streifte“ es von Brendas Schultern. Sie hielt ihr einen
Morgenmantel hin und fragte: »Möchten Madame das Haar gebürstet haben?« Brenda spürte, daß sie nahe daran war, völlig ihre Beherrschung zu verlieren. Sie zweifelte zwar nicht an Rosas Diskretion. Trotzdem wollte sie sie nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werden lassen. »Heute abend nicht, Rosa«, lehnte sie ab. »Wenn Sie das Bett abgedeckt haben, können Sie gehen.« »Im Schlafzimmer ist alles bereit, Madame«, versicherte Rosa. »Und wann wünschen Madame das Frühstück?« »Das Frühstück?« fragte Brenda, als müsse sie sich erst daran erinnern, daß es irgendwann Morgen werden würde. »Ich werde läuten. Gute Nacht, Rosa.« »Es ist recht, Madame. Gute Nacht, und schöne Träume.« Rosa knickste und verließ die Suite. Gute Nacht und schöne Träume, dachte Brenda bitter. Diese Worte sind gut gemeint und klingen doch wie Hohn in meinen Ohren. Wie oft habe ich mir meinen ersten Tag auf Bentham Castle ausgemalt! Und wie sehr habe ich mich darauf gefreut! Was ist davon geblieben? Das Glück hat sich in Unglück verwandelt, die Freude in Schmerz, und die Liebe erstickt unter der schrecklichen Angst. Brenda trat vor den Spiegel und löste ihr Haar. Sie fühlte sich unendlich müde und doch fürchtete sie sich vor der Nacht und vor dem Schlaf. Mußte sie nicht damit rechnen, daß wieder etwas Unheimliches geschehen würde? Sie machte sich für die Nacht zurecht und legte sich im Neglige auf das breite Bett. Über ihr war der rosaseidene Baldachin. Sie lag in einem Bett, das wie für eine Märchenprinzessin geschaffen schien, und doch war sie so unglücklich wie nie zuvor in ihrem Leben.
Dieser Abend würde das Ende aller Dinge sein. Wenn sie Mark verlor, bedeutete ihr das Leben nichts mehr. Brenda warf sich herum, barg das Gesicht in den verschränkten Armen und weinte bittere Tränen. Hätte sie geahnt, daß Mark kaum weniger verzweifelt war als sie, sie hätte ganz sicher den Mut gefunden, zu ihm zu gehen und ihm alles anzuvertrauen. Dann hätte auch er offen über sein düsteres Geheimnis sprechen können. So aber verschlossen sich beide voreinander und litten jeder für sich.
*
Erst als Mark allein in seinen Zimmern war, begriff er, wie falsch es gewesen war, sich in dieser Stimmung von Brenda zu trennen. Hatte sie ihm nicht vorhin ganz deutlich zu verstehen gegeben, daß sie alles mit ihm tragen würde, gleichgültig, was immer ihn belastete? Das war sicher ehrlich gemeint, erwiderte die andere Stimme in ihm. Ob sie es auch gesagt hätte, wenn sie von Melissas Fluch wüßte, ist mehr als zweifelhaft. Mark ging unruhig hin und her und grübelte über eine Lösung nach. Aber was immer er auch in Erwägung zog, es schien nur einen Ausweg aus dieser Situation zu geben: eine Aussprache. Es würde ihm auf die Dauer nichts anderes übrigbleiben, als Brenda anzuvertrauen, was ihn belastete – und je eher das geschah, desto besser würde es sein. Je länger er diese Aussprache hinausschob, desto mehr lief er Gefahr, Brendas Liebe zu verlieren.
Warum gehe ich nicht zu ihr hinüber und spreche mit ihr? überlegte er. Vielleicht wartet sie sogar darauf und ist enttäuscht, wenn ich noch länger schweige? War sie nicht zutiefst betroffen über meinen überstürzten Abschied vorhin? Ich muß es tun! dachte er. Ich habe keine andere Wahl. Er faßte sich ein Herz, verließ seine Zimmer und ging zum anderen Flügel hinüber. Er war fest entschlossen, Brenda in alles einzuweihen, und er war überzeugt, ihre Liebe trotzdem nicht zu verlieren. Als er ihre Suite erreicht hatte und bereits die Hand nach der Klinke ausstreckte, stand plötzlich Melissa vor ihm und hob ihm die brennende Kerze entgegen. »Halt!« befahl sie und dabei wehte Mark ein so eisiger Atem an, daß er erschauerte. »Was willst du noch?« stöhnte er. »Laß mich! Ich liebe Brenda, und ich will, daß sie glücklich wird.« »Keiner von euch beiden wird glücklich werden«, entgegnete Melissa mit ihrer unheimlichen Grabesstimme. »Du weißt, daß ich die Macht dazu habe.« »Laß mich!« bat Mark. »Ich flehe dich an, laß mich!« »Niemals!« rief Melissa spöttisch. »Mein Fluch gilt für alle Zeiten. Wenn du ihr einen letzten Liebesdienst erweisen willst, dann schicke sie fort, und sorge dafür, daß sie dich vergißt. Nur so kannst du sie retten.« »Nein!« Mark taumelte. »Nein das kann ich nicht.« »Dann werde ich sie ausschalten!« schwor Melissa ihm, und ihre toten Augen sahen ihn so starr an, als wollten sie sich in ihn hineinbohren. Mark wich entsetzt vor ihr zurück. Sie verfolgte ihn und hielt ihm die brennende Kerze wie ein Schwert entgegen.
Mark blieb nichts anderes übrig, als sich auf seine Zimmer zurückzuziehen. Er schloß die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft gegen das geschnitzte Holz. Ich hätte Brenda nie hierherbringen dürfen, dachte er. Morgen früh fahre ich mit ihr nach London zurück, und wir werden Bentham Castle niemals wieder betreten. Mag das Schloß verkommen oder in andere Hände übergehen – Brendas Liebe und das Glück, an ihrer Seite leben zu können, ist jedes Opfer wert!
*
Brenda schlief über ihren Grübeleien doch ein, und ihre Gedanken gingen in Träume über… Oder war das, was sie erlebte, kein Traum, sondern Wirklichkeit? Sie vernahm eine Stimme. Es war eine freundliche Stimme, und sie nannte sie beim Namen. »Steh auf, Brenda«, sagte sie. »Steh auf und folge mir. Ich zeige dir ein unermeßliches Glück.« »Mein Glück ist Mark«, erwiderte Brenda. »Wenn du ihn glücklich machen willst, solltest du mir folgen«, sprach die Stimme. »Wer bist du?« fragte Brenda. »Ich kann niemanden sehen.« »Du brauchst mich nicht zu sehen«, antwortete die Stimme. »Vertraue mir. Ich meine es gut mit dir. Wenn du mir folgst, wirst du nie wieder weinen müssen. Du findest Ruhe und Frieden – und Mark wird glücklich sein – sehr glücklich!« »Oh, Mark!« Brenda seufzte. »Ich weiß, daß er an einer schweren Last zu tragen hat. Weil er sich mir nur anvertrauen würde! Ich würde ihm so gern beistehen.«
»Du kannst ihn sogar von dieser Last befreien – wenn du nur ein bißchen Mut aufbringst«, sagte die Stimme. »Für Mark kann ich alles tun!« versicherte Brenda. »Dann stehe auf und folge mir«, sagte die Stimme. Sie klang jetzt nicht mehr freundlich, sondern fordernd. Am Fußende des breiten Bettes stand ganz unvermittelt die Geisterfrau mit der brennenden Kerze. Brenda erschrak. »Du bist es?« flüsterte sie tonlos. »Geh, laß mich!« »Sagtest du nicht eben noch, du könntest alles für Mark tun? Wie klein ist deine Liebe, wenn du schon vor der ersten Probe zurückschreckst!« Brenda nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Ich werde tun, was du von mir verlangst, wenn du mir versprichst, daß Mark dann glücklich wird.« »Das soll geschehen«, sagte die Geisterfrau. »Wer bist du?« fragte Brenda. »Das wirst du noch früh genug erfahren. Komm jetzt. Wir haben nicht viel Zeit.« Brenda stand auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fürchtete sich vor dem, was auf sie zukam. Aber sie war entschlossen, diesen Weg zu Ende zu gehen. Sie wollte Mark helfen. »Komm! Komm!« drängte das Gespenst. »Wohin?« fragte Brenda. »Frag nicht. Komm!« forderte die Geisterfrau. Sie führte Brenda aus dem Zimmer. Sie durchquerten die Schloßhalle, einen der Salons, die Brenda am Nachmittag kennengelernt hatte, und traten dann auf die Terrasse hinaus. Vor der Terrasse stand die kleine Tanne, die der große schwarze Vogel am Nachmittag beschädigt hatte. Sie war in blaues Licht gehüllt und sah aus, als sei sie aus einem
Zauberwald hierher verpflanzt worden. Die abgebrochene Spitze hatte sich wieder aufgerichtet. Oder hatte der Gärtner von Bentham Castle sie mit einem Baumverband zu retten versucht? Brenda blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Geisterfrau trieb sie ungeduldig voran, die Stufen hinunter, und durch den nächtlichen Park. Brenda trug keine Schuhe. Doch sie spürte den Boden unter ihren nackten Füßen nicht. Sie hatte nur ein dünnes Nachthemd an. Aber nicht die Nachtkühle ließ sie frösteln, sondern die eisige Hand der Geisterfrau, die auf ihrer Schulter lag und sie vorantrieb. »Wohin gehen wir?« fragte Brenda. »Zum Turm«, antwortete die Geisterfrau düster. »Zum Turm?« wiederholte Brenda tonlos und blieb erschrocken stehen. Sie erinnerte sich daran, daß die Geisterfrau von ihr verlangt hatte, daß sie sich von den Zinnen dieses Turms in die Tiefe stürzte. »Weiter!« drängte das Gespenst. »Komm weiter! Oder ist deine Liebe von Angst erstickt?« »Nein – meine Liebe wird niemals enden!« rief Brenda. »Dann komm!« Der Druck der eisigen Hand verstärkte sich, bis Brenda Schmerzen empfand. Sie begriff, daß sie die Gefangene dieser unheimlichen Erscheinung war. Sie war dem Gespenst hilflos ausgeliefert. Oh, Mark, dachte sie, was wird aus mir? Was wird aus unserer Liebe? Werde ich dich je wiedersehen? Vor ihr hob sich der Turm dunkel und drohend gegen den Nachthimmel ab. Drei steinerne Stufen führten zu einem großen eisernen Tor hinauf. Die Geisterfrau hielt ihm die brennende Kerze entgegen. Da sprang es auf.
Modrige Kälte drang Brenda aus dem Innern des Turms entgegen und legte sich ihr schwer auf die Lungen. Sie wich vor Angst und Ekel zurück. »Geh nur!« forderte die Geisterfrau. »Du hast es gleich geschafft. Du brauchst dich nicht zu fürchten, denn ich bin ja bei dir.« Im Inneren des Turmes mußte Brenda eine steinerne Wendeltreppe hinaufsteigen. »Was soll ich hier?« fragte sie atemlos. »Welchen Sinn hat es, in der Nacht hierherzukommen? Was könnte Mark das nützen?« »Frag nicht, du mußt doch tun, was ich dir befehle«, erwiderte die Geisterfrau und gab ihr einen Stoß. Als sie die Aussichtsplattform des Turmes erreicht hatten und Brenda die Zinnen erblickte, wußte sie, was die Geisterfrau von ihr fordern würde. Sie sollte sich von den Zinnen in den Tod stürzen!
*
Mark fand in dieser Nacht keine Ruhe. Er ging von Angst und Sorgen getrieben in seinen Zimmern hin und her und blieb bald an diesem, bald an jenem Fenster stehen, schaute in die Nacht hinaus und grübelte verzweifelt darüber nach, wie er Melissas furchtbarem Fluch entkommen könnte. Mitternacht war schon vorüber, als seine Aufmerksamkeit auf ein Licht gelenkt wurde, das draußen im Park hin und her schwankte. Was hat denn das zu bedeuten? dachte er. Ist da jemand im Park? Um diese Zeit?
Er riß das Fenster auf und beugte sich hinaus. Was er da sah, raubte ihm den Atem. Der Lichtschein rührte von einer brennenden Kerze her. Und im Kerzenschein erkannte er zwei Gestalten. Die eine war Brenda – Brenda in einem Nachthemd. Auch die zweite Gestalt trug ein weißes Gewand. Sie hielt in der Hand einen Kerzenleuchter mit einer brennenden Kerze und umklammerte mit der anderen Brendas Schultern. »Melissa!« stöhnte Mark. »Mein Gott, das ist Melissa. Sie treibt Brenda vor sich her – durch den nächtlichen Park! Was hat das zu bedeuten?« Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte ihn. Sie gingen in Richtung Turm. Und von diesem Turm hatte Melissa sich vor einigen Jahren gestürzt – mit einem furchtbaren Fluch auf den Lippen! Mark war sekundenlang wie gelähmt. »Das darf nicht sein! Brenda ist unschuldig! Sie darf nicht leiden! Nicht sie!« Ich muß sie retten! dachte er. Ich muß dieses Unglück verhindern! Er überwand das lähmende Entsetzen, wandte sich um, stürzte zur Tür und hetzte die Treppe hinunter. Er lief durch die Halle und durch den blauen Salon hinaus auf die Terrasse. Zum erstenmal in seinem Leben wünschte er sich Flügel, statt dessen waren seine Füße schwer wie Blei und wollten ihm kaum gehorchen. »Brenda!« rief er. »Brenda! Ich komme!« Er bekam keine Antwort. Still und schweigend lag die Nacht über dem Park. Das große eiserne Tor des Turmes stand offen. Mark stürzte die Treppe hinauf. Er konnte kaum etwas sehen, aber er kannte sich hier aus. »Brenda!« rief er atemlos. »Brenda, ich komme!« Auch diesmal erhielt er keine Antwort.
Sein Herz raste. Tausend Gedanken gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Lieber Gott, laß mich nicht zu spät kommen! Ich muß Brenda retten, sonst ist auch mein Leben zu Ende! flehte er. Er erreichte die Plattform. Brenda stand bereits auf den Zinnen. Von Melissa war nichts zu sehen. »Brenda!« flüsterte Mark mit zitternden Lippen. »Brenda, was willst du tun?« Sie bemerkte ihn nicht, obwohl sie sein Rufen hätte hören müssen. Sie war wie in Trance. »Brenda, Liebling, ich bin es, Mark!« sagte er und ging langsam auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken. Wenn sie das Gleichgewicht verlor, würde sie in die Tiefe stürzen, in den sicheren Tod! Brenda reagierte nicht. Sie hatte Mark den Rücken zugewandt und starrte in die Tiefe. Sie schwankte leicht. Genauso hatte damals Melissa dort auf den Zinnen gestanden und ihm einen furchtbaren Fluch entgegengeschrien! »Brenda!« flüsterte Mark. »Brenda, erschrick nicht! Ich bin es, Mark!« Sie taumelte, schrie auf – griff mit den Händen suchend in die Luft, fand aber nirgendwo einen Halt. Mark warf sich vor und faßte zu. Es war die Reaktion eines Verzweifelten. Er riß Brenda im letzten Augenblick zurück. Sie sank ohnmächtig in Marks Arme. Er preßte sie an sich. Nur den Bruchteil einer Sekunde später, dachte er, und sie wäre in die Tiefe gestürzt. Dem Himmel sei Dank, daß es nicht geschehen ist! Jetzt, da alles überstanden und Brenda gerettet war, überfiel ihn eine Schwäche, die ihn in die Knie zwang. Er flüsterte immer wieder den Namen der geliebten Frau, und es war ihm, als seien sie beiden vom Tod errettet worden.
*
Es dauerte eine Weile, bis Brenda wieder zu sich kam. Sie erkannte Mark und flüsterte seinen Namen. »Mein Liebling!« Mark küßte sie. »Was wolltest du tun? – Und warum?« Brenda richtete sich auf und blickte verstört um sich. Sie hatte Mühe, sich zu erinnern. »Du bist auf den alten Turm gestiegen«, half Mark ihr. »Warum?« Plötzlich erinnerte sie sich wieder. »Die Geisterfrau!« flüsterte sie mit zitternden Lippen und klammerte sich an Mark. »Sie hat mich hierhergetrieben! Sie wollte, daß ich von den Zinnen springe.« »Melissa!« stöhnte Mark. »Sie neidet uns unser Glück.« Brenda legte ihre Hände um Marks Gesicht und sah ihn forschend an. »Du hast sie also auch gesehen? Und du weißt, wer sie ist?« Mark schloß die Augen und nickte. »Ja, ich kenne sie«, gestand er. »Sag mir alles, Mark. Ich bitte dich, vertraue dich mir an. Ich kann alles ertragen. Ich liebe dich, und was auch immer es ist, ich werde nicht aufhören, dich zu lieben.« »Du weißt nicht, was du da sagst, Brenda«, erwiderte Mark bedrückt. »Melissa gönnt uns unsere Liebe – unser Glück nicht. Sie wird nicht eher ruhen, als bis sie uns beide vernichtet hat.« Brenda schlang die Arme um Marks Nacken und schmiegte sich an seine Brust. »Lieber will ich mit dir sterben, als ohne dich zu leben«, sagte sie leidenschaftlich.
»Oh, Brenda!« Mark preßte sie an sich. »Du weißt nicht, was deine Worte für mich bedeuten! Aber ich liebe dich zu sehr, als daß ich verantworten könnte, dich…« Brenda legte ihm die Finger auf die Lippen, damit er nicht weitersprechen konnte. »Ich liebe dich, Mark. Ich will mit dir leben – nur mit dir! Ohne dich ist für mich alles zu Ende. Ich bitte dich nur um eines: Vertraue dich mir an. Sag mir, was dich belastet. Sag mir, was es mit diesen unerklärlichen Ereignissen auf sich hat.« »Also gut.« Er seufzte. »Ich habe bis heute nicht darüber gesprochen. Doch ich sehe ein, daß du ein Recht darauf hast, alles zu erfahren. Und dann magst du entscheiden, ob du dein Leben noch mit mir teilen möchtest.« »Melissa war meine erste Frau«, begann er mit seiner Beichte. »Ich war sehr verliebt in sie. Nein, ich glaubte, ich habe sie geliebt, bis ich begriff, daß sie diese Liebe nicht erwiderte. Sie hatte nur mein Geld gesehen und meine gesellschaftliche Stellung. Sie ging sogar so weit, meine Gefühle für sie zu verhöhnen.« »Armer Mark!« Brenda strich ihm mitleidig über die Wange. »Ja, ich habe sehr darunter gelitten«, gestand er. »Ich habe zuerst auch nicht glauben wollen, daß ich mich so sehr in ihr geirrt hatte. Sie war so schön… und diese Schönheit zog mich immer wieder in ihren Bann.« Er stockte und atmete schwer, und es dauerte eine kleine Weile, bis er weitersprechen konnte. »Melissa dachte sich immer neue Bosheiten aus, um mich zu quälen. Sie flirtete nicht nur mit jedem anderen Mann. Ich bin sicher, sie hat mich auch mehr als einmal betrogen. Und das war etwas, das meine Liebe tötete. Ich sah sie mit anderen Augen. Ich litt nicht mehr.«
»Und warum hast du dich nicht von ihr scheiden lassen?« fragte Brenda verwundert. »Das hätte ich gern getan. Doch sie drohte mir, mich in der Gesellschaft unmöglich zu machen, wenn ich das wagen würde.« Mark verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Ich weiß, sie hätte es getan. – Kaum ein Mensch konnte so boshaft sein wie sie. Und dabei hat sie allen den Eindruck vermittelt, ein Engel zu sein.« Mark fuhr sich über die Stirn. Es fiel ihm unsagbar schwer, das alles in Worte zu fassen und auszusprechen. »Sprich weiter«, bat Brenda, als er schwieg. »Sag mir alles. Ich muß es wissen. Nur wenn wir ganz offen miteinander sind, werden wir unsere Liebe retten können.« »Ja, du hast recht.« Mark nickte. »Aber was jetzt noch zu sagen ist, ist schlimm. Ich habe eine furchtbare Schuld auf mich geladen, weil ich Melissa nicht davon abgehalten habe, sich von diesem Turm zu stürzen.« Brenda hielt den Atem an. »Eines Nachts nach einem heftigen Streit stieg sie herauf und stand mit einer brennenden Kerze in der Hand dort auf den Zinnen. Sie wußte, daß ich nachts oft durch den Park ging und sie sehen würde. Ich ahnte, daß es eines ihrer grausamen Spiele war und sie nicht wirklich die Absicht hatte, sich in die Tiefe zu stürzen. Trotzdem kam ich her und warnte sie, es nicht zu weit zu treiben. Sie verhöhnte mich. Sie streckte mir den Leuchter mit der brennenden Kerze entgegen und rief: Ich verfluche dich und alle Frauen, die du lieben wirst.« Mark stützte den Kopf mit beiden Händen. Dann sprach er leise weiter. »Ich war entsetzt und einen Moment wie erstarrt. Sie lachte ein unheimliches, gellendes Lachen. Dann plötzlich geschah es. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte. Vielleicht hätte ich sie retten können. Aber ich war wie
gelähmt von dem entsetzlichen Fluch. Ich stand wie erstarrt da und ließ geschehen, daß sie in die Tiefe stürzte.« Mark barg das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten. Brenda zog ihn in die Arme. Sprechen konnte auch sie nicht. Das, was sie eben vernommen hatte, war zu schrecklich. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie: »Beinahe hätte sich ihr Fluch erfüllt. Aber von heute an hat er seine Wirkung verloren. Ich bin ganz sicher.« Mark hob den Kopf und sah sie ungläubig an. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« fragte er. Brenda küßte ihn zärtlich auf die Lippen. »Du trägst keine Schuld an ihrem Tod. Sie hat mit ihrem Leben gespielt und es verloren.« »Vielleicht hätte ich sie retten können, so wie ich dich habe retten können«, wandte Mark ein. »Vielleicht«, sagte Brenda. »Vielleicht auch nicht. Sie hat das Schicksal herausgefordert, nicht du.« »Ja, du hast recht«, meinte Mark. »Aber seit damals verfolgt sie mich mit ihrem Fluch. Und sie hat es fertiggebracht, dich hierher zu bringen. Nicht auszudenken, daß sie…« Marks Stimme erstickte. »Sie hat es nicht geschafft«, erwiderte Brenda. »Ist das nicht ein Beweis dafür, daß ihre Macht über uns erloschen ist?« Mark küßte sie auf die Schläfe. »Mein Liebling«, murmelte er, und es klang unsagbar hoffnungslos. Mark brachte Brenda zum Schloß zurück. Als sie die Schloßhalle durchquerten, erschien wie aus dem Nichts plötzlich eine Wolke von Licht, und dann stand sie vor ihnen: Melissa.
Ihr Gesicht war wächsern, ihre Augen groß und starr. Das dunkle Haar fiel ihr bis auf die Schultern, und ihre Lippen waren trotzig aufeinandergepreßt. Sie hielt in der Rechten den Kerzenleuchter mit der brennenden Kerze und hob ihn Brenda und Mark drohend entgegen. »Ich werde euch vernichten!« rief sie mit unheimlicher Stimme. »Ihr könnt mir nicht entkommen!« Ehe die beiden sich noch von ihrem Schrecken erholt hatten, gab es eine Stichflamme, so daß sie geblendet die Augen schließen mußten. Danach war es stockfinster und so still, daß sie ihre Herzen laut schlagen hörten. Es geschah überhaupt nichts, bis sich plötzlich die Tür zum Dienerzimmer öffnete und im Lichtschein eine Gestalt zu erkennen war: Charles! Gleich darauf flammte in der Schloßhalle das Licht auf. Mark hatte Mühe, seine Betroffenheit vor dem Diener zu verbergen. »Schon gut, Charles.« Er nickte ihm zu. »Ich schätze pflichtbewußte Angestellte. Danke. Sie können sich wieder zurückziehen.« »Sehr wohl, Mylord. Gute Nacht.« Mark und Brenda sahen sich an. Sie dachten beide dasselbe, wagten es aber nicht auszusprechen. Mark ließ seinen Blick forschend durch die Schloßhalle schweifen. »Die Vase!« stieß er hervor. »Die Vase!« Atemlos vor Erregung näherten sie sich den Scherben. Mark bückte sich, hob den Kerzenleuchter auf und betrachtete ihn mit Schaudern. »Es ist der Kerzenleuchter, den Melissa damals in der Hand hielt, als sie auf den Zinnen des Turms stand«, sagte er.
»Seltsamerweise hat man ihn nicht bei der Leiche gefunden. Er war seit damals verschwunden.« »Immer wenn sie erschien, trug sie ihn in der Hand«, erinnerte Brenda sich. »Jetzt hat sie ihn von sich geschleudert. Vielleicht ist damit auch ihre Macht über uns gebrochen?« »Hoffen wir es!« Mark seufzte. Er zog Brenda zärtlich an sich. Aber Brenda behielt recht. Nach dieser Nacht geschah nichts Übernatürliches mehr auf Bentham Castle. Die kleine Silbertanne vor der Terrasse behielt durch den fachgerechten Baumverband des Gärtners ihre Spitze. Die kostbare chinesische Vase wurde von einem Restaurator so kunstgerecht wiederhergestellt, daß man die Beschädigung kaum noch sah. Der verhängnisvolle Kerzenleuchter kam mit einigen unbrauchbar gewordenen Dingen zu einem Altwarenhändler, und den Turm, von dessen Zinnen sich zweimal eine Lady Bentham in den Tod gestürzt hatte, ließ Mark abreißen. An seinem Platz erbaute man einen Pavillon der in späteren Jahren über und über mit Rosen umrankt war. Manchmal, wenn Brenda und Mark in der Mitternachtsstunde noch in diesem Pavillon saßen, war ein seltsames Raunen um sie her und die Kerzen flackerten, obgleich kein Lüftchen sich bewegte. Aber die Geisterfrau erschien nie wieder. Melissas böser Fluch war für alle Zeiten gebannt.
ENDE