MYTHOR Der Fall von Thormain von Ernst Vlcek Band 06
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MYTHOR Der Fall von Thormain von Ernst Vlcek Band 06
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Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, wie sehr sich die Fantasy-Literatur auch bei der klassischen Abenteuerliteratur bedient, können Sie am vorliegenden Buch ganz besonders gut feststellen: Ernst Vlcek schöpft im ersten Roman, »Der Fall von Thormain«, natürlich aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Horror-Schriftsteller, schildert aber die beengende Atmosphäre in der Piratenstadt in einer Art und Weise, wie man sie auch aus verschiedenen Seeräuberromanen und -filmen kennt. Werner K. Giesa, der die Romane »Die Ebene der Krieger« und »Das Turnier der Caer« beisteuerte, orientiert sich auf interessante Art und Weise an Ritterund Abenteuerromanen, die vor allem im 19. Jahrhundert sehr beliebt waren und so als ein direkter Vorläufer der Fantasy-Literatur gelten können. Dem fantastischen Genre blieb dieser Autor übrigens treu: Werner K. Giesa schrieb in den 80er und 90er Jahren zahlreiche Fantasy-, Horror- und Science-Fiction-Romane, schreckte aber auch vor nichtfantastischen Genres wie dem Kriminalroman nicht zurück. Besonders beliebt wurde er vor allem durch die erfolgreiche Heftromanserie »Professor Zamorra«, in der sich stets Horror mit Fantasy-Elementen vermischen und die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Zigtausende von Lesern begeistert. Ich wünsche jetzt Ihnen, daß Sie sich von dem vorliegenden Buch und den neuen fantastischen Abenteuern von Mythor, Nottr, Sadagar und Kalathee begeistern lassen! Klaus N. Frick
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Die gierigen Finger des Bösen greifen wieder aus der Dunkelzone nach der Welt der Menschen. Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Von Dämonenpriestern vorangetrieben, machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die seit langer Zeit auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter der junge Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt fest daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt Mythor, daß er zuerst mehrere Aufgaben zu erfüllen hat, bevor er als Kometensohn anerkannt ist. In Elvinon gerät Mythor mitten in die Invasion durch das Kriegervolk der Caer. Die von Dämonenpriestern geführte Invasionsflotte erstürmt die Stadt. Mythor muß fliehen, um die erste seiner Aufgaben zu erfüllen: Er soll das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, das in Xanadas Lichtburg aufbewahrt wird. Das stellt sich als recht schwierig heraus, denn die ehemalige Lichtburg ist mittlerweile zu einem Hort der Dunkelheit geworden und wird von einem Dämon beherrscht. Nur mit Hilfe einiger neuer Freunde gelingt es Mythor, bis zur Lichtburg vorzudringen und das Schwert an sich zu bringen. Doch die Burg wird durch den gewaltigen Nöffenwurm und seine Brut vollständig zerstört. Durch viele Meilen lange 4
unterirdische Gänge fliehen Mythor und seine Gefährten. Als sie wieder an die Oberfläche kommen, finden sie sich in der von der Pest gebeutelten und von den Caer belagerten Stadt Nyrngor wieder, deren junge Königin Elivara Mythor um Hilfe bittet. Aber auch hier läßt sich der Sieg der Caer nicht verhindern, und Mythor muß erneut fliehen. Nach Abenteuern auf dem Mammutfriedhof macht er sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort, um dort den Helm der Gerechten an sich zu bringen. Nach einem übernatürlichen Sturm verschlägt es die Gefährten zunächst auf die von Schwarzer Magie beherrschte Insel Zuuk, dann in die Küstenstadt Lockwergen. Lockwergen, einst ein blühender Hafen, ist mittlerweile zur Geisterstadt geworden, in deren leeren Straßen gefährliche Banditen ihr Unwesen treiben. Dazu treffen Caer ein, angeführt von dem Dämonenpriester Drundyr, der dort mit Hilfe eines Wolfsmannes die Herrschaft ergreifen will. An seiner Seite: Nyala von Elvinon, Mythors ehemalige Geliebte, die längst in der Gewalt der Finstermächte ist. Nach heftigen Auseinandersetzungen gelingt es, den Wolfsmann zu besiegen und aus Lockwergen zu fliehen. Dabei benutzen die Gefährten einen Weg, der vor langer Zeit von den mittlerweile ausgestorbenen Titanen angelegt wurde. Auch der Wolkenhort wurde von einem alten Volk angelegt. Auf den verschiedenen Ebenen des himmelhohen Turms muß sich Mythor mit den Geistern früherer Eindringlinge auseinandersetzen, bis er schließlich den Helm der Gerechten erringen kann. Dieser Helm soll ihn künftig schützen und ihm gleichzeitig den Weg zu anderen Stützpunkten des Lichtboten weisen. Auf dem Weg zu der Piratenstadt Thormain wird Mythor mit seinen Freunden von dem mächtigen Caer-Ritter Coerl 5
O’Marn gefangengenommen. Der Sohn des Kometen merkt bald, daß er keinen dämonischen Feind vor sich hat, sondern einen tapferen Menschen, der sich unter Mythors Einfluß von den Dämonenpriestern abwendet. Die Männer trennen sich unweit der Piratenstadt, und Mythor begibt sich mitten hinein in turbulente Auseinandersetzungen. Thormain ist ein chaotischer Stadtstaat, aber irgendwo dort drinnen wartet ein Hinweis des Lichtboten, den Mythor unter allen Umständen kennen muß…
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Ernst Vlcek
DER FALL VON THORMAIN Ein qualvoller Schrei drang durch die fellbehangenen Fenster des Thronsaals. Einige der am Fenster stehenden Männer und Frauen hoben die Felle, um einen kurzen Blick auf den Richtplatz zu werfen, und wandten sich dann wieder gelangweilt ab. Was sie zu sehen bekommen hatten, war in Thormain ein alltägliches Schauspiel. »Der Herr der Schultern ist wieder einmal am Werk«, sagte Kend, der gar nicht nachzusehen brauchte, um zu wissen, was sich auf dem Platz vor dem Nest tat. Argur von Solth verzog angewidert sein verlebtes Gesicht. »Muß Welleynn ausgerechnet jetzt eines seiner Spektakel aufführen?« fragte der Herrscher von Thormain und hustete, als ihm Rauch in die Atemwege kam. Er schimpfte und fragte: »Warum qualmt das so?« »Kein Feuer ohne Rauch«, sagte Kend spöttisch und meinte damit die vielen Fackeln, die den Thronsaal erhellten, und das große Feuer im offenen Kamin, das für Wärme sorgte. »Offenbar sind der Kamin und die Luftschächte verstopft. Ich schicke jemand aufs Dach, um sie durchputzen zu lassen.« Kend gab Rigon einen Wink, der daraufhin verschwand. Er würde jemanden bestimmen, der diese gefahrvolle Aufgabe übernehmen sollte. Wieder ertönte ein langgezogener Schrei. »Wen läßt Welleynn an diesem Tag schultern?« wollte Argur von Solth wissen. »Er heißt Mythor«, antwortete Kend. »Aber der Herr der Schulter muß gleich hiersein, dann kannst du von ihm Einzelheiten erfragen.« Kend beugte sich näher zu Argur von Solth 7
und fügte mit drohendem Unterton hinzu: »Und du wirst auch über das andere mit ihm reden, nicht wahr? Oder soll ich dich nochmals an das Schicksal deines Vorgängers erinnern? Oder an das, was einst mit Jorgan passiert ist?« »Laß diese Anspielungen, Kend!« sagte Argur von Solth kläglich. »Noch bin ich der König der Meere und bestimme, was in Thormain zu geschehen hat.« Kend lachte bösartig und flüsterte: »Du hast nur etwas zu bestellen, solange du für deine Leute sorgst. Aber es ist doch so, daß schon seit Wochen keine Enterfahrt mehr stattgefunden hat. Wann haben deine Leute die letzte nennenswerte Beute gemacht? Sag es doch!« »Ich weiß«, sagte Argur von Solth unbehaglich und wischte sich mit dem pelzbesetzten Ärmel seines Prunkgewands den Schweiß von der Stirn. »Ich werde mit Welleynn reden. Ich verspreche dir, daß wir schon in den nächsten Tagen auf große Fahrt gehen werden. Die Caer werden uns nicht daran hindern.« »Das sind große Worte, vergiß sie nur nicht, Argur«, sagte Kend. »Ich kann dir nur raten, zu deinem Wort zu stehen, sonst…« Kend ließ die Drohung unausgesprochen. Aber vom Richtplatz erklang wieder der unmenschliche Schrei des Unglücklichen, der an den Schultern aufgehängt worden war. Dazu lächelte Kend vielversprechend. Argur von Solth atmete erleichtert auf, als die beiden großen Torflügel des Thronsaals aufgingen und darin die schwarzgekleidete Gestalt des Scharfrichters auftauchte. Welleynn kam mit langen, schnellen Schritten herein und strebte geradewegs dem Thron zu. An seiner Seite entdeckte der Herrscher von Thormain eine zierliche Gestalt in einem wallenden weißen Gewand. Das mußte die Schönheit sein, die ihm der Scharfrichter versprochen hatte. Argur konnte auf diese Entfernung 8
jedoch keine Einzelheiten erkennen, weil es mit seinem Augenlicht nicht mehr zum besten stand. Er sah nur, daß die Frau in dem weißen Gewand trippelnd mit Welleynn Schritt zu halten versuchte und verzweifelt nach ihm griff. In diesem Moment erklang wieder ein Schrei. Er kam jedoch nicht vom Richtplatz, sondern vom Dach, verlor sich in der Tiefe und endete in einem dumpfen Aufprall. Argur verzog das Gesicht ob dieser Störung und beschloß, den ungeschickten Kaminfeger kielholen zu lassen, falls er den Sturz vom Dach überhaupt überlebt hatte. Welleynn erreichte mit seiner Begleiterin den Thron und verneigte sich vor der untersten Stufe. Der Scharfrichter sagte mit gesenktem Kopf und salbungsvoller Stimme: »Das ist Kalathee, deren Schönheit ich dir gepriesen habe, mein Herr.« »Komm herauf, schönes Kind, damit ich dich näher betrachten kann«, verlangte Argur und leckte sich die Lippen. Was er auf drei Armlängen von der Frau sah, gefiel ihm außerordentlich. Sie war mittelgroß, sehr schlank und so zartgliedrig, daß sie geradezu zerbrechlich wirkte. Ihre tiefliegenden, dunkelbraunen Augen blickten verzweifelt zu ihm empor. Ihre aufgetürmte Frisur hatte sich aufgelöst, und Strähnen des blonden Haares hingen ihr ins Gesicht. »Aber du weinst ja, Herzchen«, stellte Argur bedauernd fest. »Was ist dir Schreckliches widerfahren, daß Tränen dein Antlitz nässen?« »Herr…«, kam es über die zitternden Lippen, dann brach ihr die Stimme. Als Argur mit beiden Händen nach ihr griff, richtete sie sich auf und fuhr mit flehender Stimme fort: »Herr, bitte hilf mir! Man hat meinen geliebten Milchbruder zum Richtplatz geschleppt und will ihn an den… Schultern zu Tode hängen. Aber er hat dir nichts getan. Was man ihm auch vorwirft, er ist unschuldig. Wenn du, als Herrscher von Thor9
main, ein Wort sprichst und Mythor Gnade widerfahren läßt, will ich auf ewig deine Dienerin sein.« »Na, na«, machte Argur beruhigend. Er blickte zu Welleynn, schnippte mit dem Finger und sagte in befehlendem Ton: »Erlasse dem Verurteilten die Strafe und schenke ihm die Freiheit!« Welleynn zog sich wortlos zurück und ging zu einem der Fenster, um den Henkern ein Zeichen zu geben. »Danke, Herr.« Kalathee ergriff Argurs Hand und küßte sie dankbar. Er aber entzog sie ihr und hob ihr Gesicht. Es verschlug ihm den Atem. In ganz Thormain gab es keine Frau, die mit dieser vergleichbar gewesen wäre. Er hatte schon lange nicht mehr in ein so sanftmütiges Gesicht geblickt, keine Frau mehr gesehen, bei der sich kindliche Unschuld mit Sinnlichkeit in diesem Maß paarte. »Du sollst noch Gelegenheit bekommen, deine Dankbarkeit zu beweisen«, sagte Argur. Er würde das Gespräch mit Welleynn rasch zu einem Abschluß bringen und sich dann diesem schönen Kind zuwenden. »Dein Milchbruder ist begnadigt, du kannst zufrieden sein. Oder?« Diese Frage schloß er an, als er sah, daß Kalathee den Blick betroffen senkte. »Was willst du noch?« fragte Argur mißtrauisch. »Ist dir das Leben deines Milchbruders nicht genug? Soll ich ihn noch in Seide und Hermelin kleiden?« »Das ist es nicht«, sagte Kalathee mit kaum vernehmlicher Stimme. »Aber meine Freunde Nottr und Sadagar, die auch im Kerker schmachten müssen, sind ebenso unschuldig. Wäre es vermessen, auch um ihre Begnadigung zu bitten?« »Was wirft man diesen Leuten vor?« fragte Argur seinen Scharfrichter, der eben zurückkam. »Wir sind harmlose Spielleute, die nichts anderes wollen, als die Menschen mit ihrem Spiel und Gesang zu erfreuen«, sagte Kalathee schnell. »Wir haben nichts Verwerflicheres getan, 10
als…« »Genug!« sagte Argur, als er von Welleynn einen Wink bekam. »Ich werde das schon richten. Geh voraus in meine Gemächer, Kindchen, eine Zofe wird dich betreuen. Ich komme bald nach und werde vermutlich eine erfreuliche Nachricht für dich mitbringen.« »Danke.« Kalathee wollte offenbar noch etwas hinzufügen, aber zwei Wachen drängten sie vom Thron fort. Welleynn kam die Stufen zum Thron hoch und ließ sich auf dem Bärenfell daneben nieder. »Was ist das für eine Geschichte?« erkundigte sich Argur stirnrunzelnd. »Warum läßt du diesen Mythor ausgerechnet dann schultern, wenn du mir seine Milchschwester als Bettwärmer bringst?« Der Scharfrichter lächelte, aber seine Augen blieben dabei kalt. »Im Vertrauen, Argur«, sagte er dabei, »es war gar nicht Mythor, dessen jämmerliche Schreie du hörtest. Ich habe das der Frau nur eingeredet, damit du deine Großmut zeigen und sie dir auf diese Weise gefügig machen kannst.« Ein verstehendes Lächeln zeigte sich auf Argur von Solths Gesicht. Es verschwand jedoch sofort wieder, als Welleynn fortfuhr: »Allerdings habe ich nicht nur an die Befriedigung deiner fleischlichen Begierden gedacht. Die Frau und ihre Freunde scheinen mir mehr als harmlose Musikanten zu sein. Ich möchte, daß du sie zum Sprechen bringst und von ihr erfährst, was sie wirklich in Thormain wollen.« »Was vermutest du denn?« fragte Argur. Welleynn hob die Schultern. »Yargh Mainer, der sie an mich auslieferte, hat die vier belauscht und behauptet, daß sie eine Verschwörung planen. Mythor, der ohne Zweifel der Anführer ist, hat Erkundigungen über den thormainischen Brunnen eingeholt. Das erscheint mir verdächtig. Ich möchte wissen, was die vier vorhaben, und das geht am ehesten über Ka11
lathee. Sie ist in deiner Abhängigkeit, du kannst alles von ihr haben.« »Ich werde sie nebenbei aushorchen«, versprach Argur von Solth. »Aber ich verstehe deine Befürchtungen nicht, Welleynn. Diese vier Leute können uns doch nichts anhaben. Gegen unsere Übermacht stehen sie auf verlorenem Posten.« »Caer!« sagte Welleynn, und Argur zuckte bei diesem einen Wort wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Caer?« wiederholte er. »Du meinst, die vier könnten eine Vorhut der Caer sein?« Argur lachte gekünstelt. »Vier Mann! Was sollen sie ausrichten können? Ja, wenn es wenigstens Caer-Priester wären! Aber Kalathee sieht mir nicht wie eine Dämonenpriesterin aus.« »Es könnte sich um Spione der Caer handeln«, gab der Scharfrichter zu bedenken, »die die Lage auskundschaften sollen. Du und ich, wir beide wissen, daß Thormain von den Caer nicht verschont bleiben wird. Eines Tages werden sie auch diese Festung nehmen.« »Steht es bereits so schlimm?« fragte Argur besorgt. Er packte den Scharfrichter an der Schulter. »Und was ist mit der Abmachung, die du mit den Caer getroffen hast, Welleynn? Die Caer haben uns all die Jahre gewähren lassen, solange wir nicht ihre Schiffe und Siedlungen überfielen. Ja, sie haben uns sogar Hinweise gegeben, wann und wo reiche Beute zu machen sei. Es ist doch so, daß wir den Caer eigentlich ganz gute Dienste geleistet haben. Du selbst hast das Abkommen mit ihnen getroffen. Wir haben ihre Schiffe in Ruhe gelassen, und sie haben uns nichts in den Weg gelegt. Wieso ist das auf einmal anders?« »Die Caer brauchen uns nicht mehr, sie fühlen sich stark genug, sich die ganze Welt aus eigener Kraft zu unterwerfen«, sagte Welleynn. »Ich habe seinerzeit mit caerischen Heerführern verhandelt. Aber jetzt sind die Dämonenpriester an der 12
Macht.« Argur hieb mit der Faust auf die Armlehne des Throns. »Wir dürfen uns das nicht länger bieten lassen«, sagte er fest. Etwas kleinlauter fügte er hinzu: »Kend und seine Leute haben mich in die Enge getrieben. Wenn ich nicht bald für reiche Beute sorge, werden sie mich stürzen, und du weißt, Welleynn, daß dies auch dich den Kopf kosten wird. Ich muß sie auf Raubzug schicken. Das sind keine Landratten, die man hinter Mauern einschließen kann. Sie brauchen die Seeluft und den Kampf. Wenn wir ihnen nicht dazu verhelfen, werden sie ihr Mütchen an uns kühlen.« »Du hast Angst, Argur«, sagte Welleynn abfällig. »Aber warte nur, bis die Caer kommen, dann wird dieses Pack genug Gelegenheit erhalten, sich im Kampf abzureagieren. Mach das Kend klar! Wir müssen darauf vorbereitet sein, Thormain zu verteidigen.« »Wie soll ich Kend das klarmachen?« fragte Argur verzweifelt. »Das ist deine Sache, du bist der Herrscher über Thormain«, antwortete Welleynn. »Aber vielleicht kannst du Kalathee zum Sprechen bringen und von ihr etwas über die Pläne der Caer erfahren.« »Ja, Kalathee«, sagte Argur und spürte, wie ihn bei der Erinnerung an dieses zarte Geschöpf ein wohliger Schauer überkam. »Was ist mit ihren Freunden? Ich käme bei ihr leichter ans Ziel, wenn ich ihr eine gute Nachricht überbringen könnte.« »Ich werde ihre Freunde auf freien Fuß setzen und sie beobachten lassen«, sagte Welleynn. »Sie dürfen sich ihrer Freiheit erfreuen, zumindest so lange, bis wir die Wahrheit über sie wissen. Aber ich werde verhindern, daß sie mit Kalathee zusammenkommen.« »Das ist gut«, sagte Argur zustimmend. »Ich werde mich 13
sogleich um sie kümmern. Sie wird Wachs in meinen Händen.« Der Herrscher von Thormain verstummte, als sich plötzlich eine rußige Wolke über ihn senkte und ihn einhüllte. Sofort eilten die Leibwachen herbei und holten ihn aus der Gefahrenzone. »Es besteht weiter keine Gefahr«, versuchte ihn einer der Leibwächter zu beruhigen. »Das ist nur Ruß, der sich beim Reinigen der Luftschächte löste.« Aber Argur von Solth war nicht zu besänftigen. Er befahl, daß der dafür verantwortliche Mann durch Rädern, Schultern, Kielholen und Vierteilen zu bestrafen sei. Dann verließ er wütend den Thronsaal, um sich Kalathee zu widmen. Bevor er jedoch seine Gemächer betrat, wechselte er noch die Kleidung und wischte sich den Ruß aus dem Gesicht. Als Argur von Solth sein Schlafgemach betrat, war Kalathee bereits da. Sie saß gesenkten Hauptes auf einem Stuhl, die Hände artig im Schoß gefaltet und von zwei Wachen flankiert. Argur verscheuchte die beiden Männer, und als die Tür hinter ihnen zufiel, kniete er vor Kalathee nieder und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Sie ließ es mit sich geschehen, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Ihre großen braunen Augen waren verträumt ins Nichts gerichtet, ihre Hände waren kalt. »Warum so traurig, Herzchen?« fragte Argur. »Ich bringe dir gute Nachricht. Deine Freunde sind frei. Du kannst wieder lachen und dich dankbar erweisen.« »Danke«, sagte Kalathee abwesend. »Danke, Herr, für deine Güte. Ich bin deine Sklavin.« Argur hielt inne und beobachtete forschend ihr überirdisch schönes, aber wie entseelt wirkendes Gesicht. »Daß es deinen Freuden gutgeht, scheint dich aber gar nicht froh zu machen«, sagte Argur mißmutig. »Glaubst du mir nicht? Zweifelst du etwa am Wort eines Argur von Solth?« 14
Kalathee schüttelte den Kopf. »Das nicht…« »Was dann?« »Mein Milchbruder«, murmelte Kalathee traurig. »Wenn ich von ihm getrennt bin, fühle ich mich wie tot. Ich muß ihn wenigstens einmal sehen, ihn berühren können, sehen, daß er wohlauf ist, damit ich mich am Leben wieder freuen kann.« »Das läßt sich gewiß einrichten«, sagte Argur. »Du kannst alles von mir haben, Herzchen, wenn du dich freundlicher zeigst. Ich erwarte nur ein wenig Entgegenkommen von dir.« »Ich weiß, aber zuerst muß der Bann von mir genommen werden«, sagte Kalathee traurig. »Was für ein Bann?« wollte Argur wissen. Und Kalathee erzählte: »In jungen Jahren, als wir noch nichts von der Liebe und vom Leben wußten, haben wir, mein Milchbruder Mythor und ich, uns innerhalb eines magischen Kreises ewige Treue geschworen. Keiner sollte ohne das Einverständnis des anderen Zärtlichkeiten eines Außenstehenden an sich zulassen. Dieser Zauber wirkt noch immer. Ich habe schon einmal erlebt, wie ein Mann durch meine Umarmung von magischem Feuer verzehrt wurde. Das darf ich dir nicht antun, Argur.« Argur von Solth ließ sofort ihre Hände los, als habe er sich daran verbrannt. Als er den ersten Schreck überwunden hatte, wurde er jedoch sofort wieder mißtrauisch. »Wenn du mich täuschst, Herzchen, dann sollst du mich kennenlernen«, sagte er. »Ehe sich’s dein Milchbruder versieht, wird er sich im Kerker wiederfinden und du bei ihm.« »O nein, bitte nicht!« rief Kalathee erschrocken aus. »So grausam darfst du nicht sein, wenn du mich wirklich begehrst. Es genügt, daß du mich mit meinem Milchbruder zusammenbringst, damit er den Bann von mir nimmt. Dann kann ich dein sein.« Das Verlangen erwachte in Argur sofort wieder. Er mußte 15
dieses Mädchen besitzen, koste es, was es wolle – nur vom magischen Feuer wollte er sich nicht verzehren lassen. »Gut, es soll sein«, beschloß er. »Es geht aber nur unter einer Bedingung.« »Was denn noch?« Kalathee vollführte eine Geste der Verzweiflung. »Mythor und ich haben herausgefunden, daß der Bann nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gebrochen werden kann«, sagte sie. »Und es eignet sich nicht jeder Ort dafür. Aber in Thormain gibt es einen solchen Ort, und nur darum haben wir so viele Gefahren auf uns genommen und sind hierhergekommen.« »Was für einen Ort meinst du?« erkundigte sich Argur. »Den thormainischen Brunnen.« »Den… Brunnen?« Argur fröstelte unwillkürlich. Es gab keinen Piraten in Thormain, der freiwillig den sagenumwobenen Brunnen aufgesucht hätte. Argur war um nichts in der Welt bereit, sich an diesen unheimlichen Ort zu begeben, nicht einmal für diese begehrenswerte Frau. Aber schließlich wurde das von ihm nicht verlangt; er konnte jemanden bestimmen, der das seltsame Geschwisterpaar zum Brunnen führte. Dennoch war er in Sorge um Kalathee. »Weißt du denn überhaupt, welches Wagnis du auf dich nehmen willst?« fragte er eindringlich. »Wie anders könnte ich dir meine Dankbarkeit erweisen?« fragte sie traumverloren. Daran war etwas Wahres. Die geringe Aussicht, daß sie vom Brunnen wiederkehrte und frei für ihn war, war besser, als sie nur ansehen zu dürfen. Er wollte gerade seine Zustimmung geben, als die Tür aufflog und zwei Wachen hereinstürmten. Hinter ihnen tauchte eine schwarze Gestalt mit wehendem Umhang auf. Es war Welleynn. Er brauchte nur ein Wort zu sagen, um Argur von 16
Solth in Aufruhr zu versetzen: »Caer!« Als der Scharfrichter den »König der Meere« erreicht hatte, vertraute er ihm noch flüsternd an: »Eigentlich wäre das noch kein Grund zur Besorgnis gewesen, denn es hat sich lediglich um eine kleine Reitergruppe gehandelt. Das schlimme ist nur, daß Kend und seine Bande über den Haufen hergefallen sind. Ich weiß selbst noch nichts Genaues, aber wir werden bald mehr erfahren. Es heißt, daß Kend zwei überlebende Caer gefangengenommen habe und nun im Triumphzug mit ihnen in Thormain einreite.« »Dieser Narr gehört geschultert!« sagte Argur von Solth wütend. »Ist das ein Befehl?« erkundigte sich der Scharfrichter. »Nein, das können wir uns nicht erlauben, es würde zu einem Aufstand führen«, beeilte sich Argur zu sagen. Er schüttelte in hilfloser Verzweiflung den Kopf. »Das kann böse Folgen für uns haben.« »Allerdings«, stimmte Welleynn zu. »Wenn die Kunde von diesem Überfall die Caer erreicht, wird sie nichts mehr davon abhalten, Thormain dem Erdboden gleichzumachen.« Argur packte den Scharfrichter an den Schultern und sagte eindringlich: »Wir beide sollten fliehen, Welleynn.« »Ist das deiner Weisheit letzter Schluß, Argur?« fragte der Scharfrichter spöttisch. »Wenn von Flucht die Rede ist, fällt mir immer Yargh Mainer ein, dessen viele Fluchtversuche stets gescheitert sind. Und wir haben noch bekanntere Gesichter.« »Aber was sollen wir tun?« »Die Caer brauchen von diesem Übergriff nichts zu erfahren«, sagte Welleynn. »Komm mit, wir müssen uns beraten!« Argur wandte sich mit einer bedauernden Geste Kalathee zu und verließ dann mit dem Scharfrichter sein Schlafgemach. * 17
Der Kerkermeister war ein glatzköpfiger Riese namens Gaymon, der auch Knochenbrecher genannt wurde. Er trug nichts außer einem Lederschurz, der seine Brust und seine Lenden bedeckte, lederne Kraftbänder an Handgelenken und an den Fesseln und eine lederne Gesichtsmaske. Die Ledermaske hatte Schlitze für Augen, Nasenlöcher und Mund und war bemalt, so daß der Eindruck einer Dämonenfratze entstand. Angeblich trug er sie nur zum Schutz gegen die Glut, in der er seine Folterwerkzeuge erhitzte. Gaymon gefiel sich darin, seinen Gefangenen die ihnen bevorstehenden Torturen in allen Einzelheiten zu schildern. Mythor und Nottr blieben unbeeindruckt, aber Sadagar wurde einmal so übel, daß er sich übergeben mußte. Danach erst verließ der Knochenbrecher den Kerker unter zufriedenem Gelächter. Als der Riese diesmal über die steinernen Stufen gepoltert kam, sagte Sadagar ängstlich: »Kleiner Nadomir, steh uns bei! Gaymon kommt, um uns zum Schultergalgen zu schleppen!« Der Kerkermeister wurde von sechs Piraten begleitet, die kurze Krummschwerter gezückt hatten, deren Klingen fast so breit wie lang waren. Bei ihnen befand sich noch ein weiterer Pirat, der Mythors Kleider trug. Mythor hatte sich gefragt, warum man ihm tags zuvor das Gewand abgenommen hatte und er nackt auf dem Strohlager liegen mußte. Er nahm an, daß Gaymon ihn nun aufklären würde. Der Kerkermeister war bester Laune. »Ich hätte gerne das Gesicht der Jungfrau gesehen«, rief er grölend und hieb dem Mann mit Mythors Kleidern auf die mit einem Holzgestell versehenen Schultern, daß er über die letzten Stufen stolperte. »Was wird die gezittert und gebangt haben, als sie dich an den Schultern baumeln sah und dachte, das sei ihr Milchbruder Mythor.« 18
Mythor horchte auf. Aus Gaymons Worten schloß er, daß Kalathee ihn als ihren Milchbruder ausgegeben hatte, und ihm wurde einiges andere klar. »Das hättet ihr erleben müssen«, sagte der Kerkermeister an seine Gefangenen gewandt. »Corben hat gebrüllt wie am Spieß, so daß alle glauben mußten, Welleynn hätte ihn wirklich geschultert. Und es hielten ihn auch alle für dich, Mythor.« Corben warf Mythor seine Kleider zu. Nun kam das Gestell vollends zum Vorschein, das er mit Lederriemen um die Schultern gebunden hatte. Es war einer Deichsel ähnlich und besaß zwei Löcher, an denen er offenbar »geschultert« worden war. Und das war nur getan worden, um Kalathee zu ängstigen! Mythor ballte die Hände zu Fausten, als Gaymon zu ihm kam. »Nur nicht aufregen, Bürschchen«, warnte ihn der Kerkermeister, »sonst breche ich dir alle Knochen im Leibe! Und dann wirst du mit deiner frisch gewonnenen Freiheit nicht viel anfangen können. Ihr habt schon richtig gehört, Argur von Solth hat euch begnadigt.« Gaymon öffnete Mythors Handschellen, mit denen er an die Wand gekettet war. »Was ist mit Kalathee?« fragte Mythor, während er sich die Handgelenke rieb. Statt einer Antwort begann Gaymon schallend zu lachen. Die anderen fielen darin ein, und einer der Piraten rief: »Deine Milchschwester wird schon auf ihre Rechnung kommen.« Mythor wirbelte wütend herum, aber da erhielt er von Gaymon einen Schlag ins Genick, der ihn zu Boden gehen ließ. Einen Atemzug lang konnte er sich nicht rühren. Ketten klirrten, als auch Steinmann Sadagar und Nottr von ihren Fesseln befreit wurden. »Was habt ihr mit Kalathee gemacht?« rief Nottr außer sich 19
vor Wut. »Wenn ihr uns entlaßt, müßt ihr auch sie freigeben.« »Sie bleibt als Pfand bei Argur von Solth«, sagte einer der Piraten. »Sei gewiß, daß sie keine Langeweile empfinden wird.« »Nottr!« rief Mythor, als er sah, wie sich der Lorvaner zum Sprung duckte. »Ruhig Blut, Kamerad! Wir werden uns schon um Kalathee kümmern.« »Nein, Mythor«, sagte Nottr und schüttelte den Kopf. »Ich kann keine Ruhe finden, solange ich Kalathee als Gefangene dieser Hundesöhne weiß.« Sadagar flüsterte Nottr etwas zu, worauf sich der Lorvaner entspannte. »Komm, gehen wir, bevor man es sich anders überlegt«, sagte der Steinmann dann und drängte Nottr weiter. »Ja, verschwindet, bevor wir euch Beine machen!« rief Corben. Mythor hatte die Zeit genützt, um sich anzuziehen. Er ergriff Nottr am Oberarm und zog ihn mit sich zur Treppe, wo sie von den Piraten in die Mitte genommen wurden. Von den Klingen in Schach gehalten, stiegen sie die Treppe hinauf. »He, Barbar!« rief Gaymon ihnen nach. »Wenn du dich mit mir messen willst, dann komm heute abend in den Nöffenwurm. Wir werden beide erst dann zufrieden sein können, wenn wir das hinter uns gebracht haben.« »Ich werde dasein«, versprach Nottr. Sie erreichten das Ende der Treppe und kamen durch einen düsteren Gang zu einer eisenverstärkten Tür. Sie öffnete sich, und sie wurden von den Piraten ins Freie gestoßen. Hinter ihnen fiel die Tür dumpf zu. Mythor und seine beiden Freunde fanden sich in einem verwilderten Park wieder. Zwischen den Büschen und Sträuchern häuften sich Berge von Unrat, und gerade als sie sich einen gangbaren Weg zwischen den stinkenden Haufen suchten, wurde von der Höhe der Mauer ein Sack geschleudert. Er schlug keine Armlänge vor Sadagar auf, und als er platzte, 20
quollen die Knochen irgendeines Tieres heraus. »Diese stinkenden Piraten werden noch in ihrem eigenen Dreck ersticken«, schimpfte Sadagar. Sie ließen den verwilderten Park hinter sich und kamen zu der Häuserzeile, die ihn begrenzte. Es lungerten nur einige wenige Piraten herum, die offenbar nichts mit sich anzufangen wußten. Mythor entging nicht, daß sie von den Männern abschätzend beobachtet wurden. Obwohl sie unbewaffnet waren, schienen die Piraten jedoch zu der Auffassung zu kommen, daß mit ihnen nicht zu spaßen sei, denn man ließ sie in Ruhe. Mythor lotste die Freunde in eine Gasse, in der etwas mehr Betrieb herrschte, so daß sie in der Menge untertauchen konnten. »Was hast du Nottr gesagt, daß du ihn dazu brachtest, den Kerker ohne weiteres zu verlassen?« erkundigte sich Mythor bei Sadagar. »Ich habe ihm gesagt, daß Kalathee in der Stadt nur Freiwild wäre und im Nest gewiß besser auf gehoben sei«, antwortete Sadagar. »Und daß wir nichts unversucht lassen werden, sie zu befreien.« Nottr, der voranging, bahnte sich stur einen Weg durch die Menschenmenge. Als ein Pirat aufbegehrte, der von Nottr angerempelt worden war, legte ihm der Lorvaner eine Hand aufs Gesicht und stieß ihn gegen die Wand. Mythor beschleunigte seinen Schritt, um zu Nottr aufzuschließen. »Ist dein Zorn noch nicht verraucht?« fragte er den Lorvaner. »Ich weiß, du grollst mir, weil du denkst, ich würde Kalathee im Stich lassen. Aber das ist ein Irrtum.« Nottr drehte den Kopf herum. »Und wann stürmen wir das Nest?« Mythor seufzte. »Man kann nicht immer mit dem Kopf durch die Wand, Nottr. Mir ist nicht bange um Kalathee. Sa21
dagar hatte recht, als er sagte, daß sie im Nest sicherer sei als sonstwo.« »Um den Preis ihrer Ehre!« sagte Nottr. Er blickte Mythor von der Seite an und preßte hervor: »Wieviel kann sie dir bedeuten, wenn du zuläßt, daß der Herrscher von Thormain sich an ihr nach Lust und Laune vergehen kann?« »Dazu gehören immer zwei«, antwortete Mythor. »Gegen Argur von Solths Zudringlichkeiten wird sich Kalathee besser wehren können, als sie es gegen die brutale Gewalt der gemeinen Piraten in den Straßen von Thormain könnte.« Nottr nickte. »Du magst recht haben… du mußt recht haben!« sagte Nottr. »Kalathee darf nichts geschehen. Wann werden wir sie befreien? Willst du zuerst zum thormainischen Brunnen, Mythor?« »Es muß sein«, sagte Mythor fest. »Der Helm der Gerechten hat mich zu ihm gewiesen, und ich bin sicher, daß er ein für mich wichtiges Geheimnis birgt.« »Gut, ich werde dir helfen, es zu lösen«, sagte Nottr. »Aber danach zählt nur noch Kalathee.« »Wäre ich nicht sicher, daß sie im Nest gut aufgehoben ist, würde ich sie keinen Augenblick länger dort lassen«, versicherte Mythor. »Und wie wollen wir zu diesem Brunnen gelangen?« fragte Nottr. »Unser Freund Yargh Mainer wird uns hinführen«, antwortete Mythor. »Das ist gut«, sagte Nottr und schlug in Vorfreude auf diese Begegnung mit der Faust in die hohle Hand. Sadagar übernahm es, sich nach dem Weg zu Yargh Mainers Haus zu erkundigen. Es stellte sich heraus, daß er in Thormain bekannt wie falsches Geld war und es kaum einen gab, der nicht wußte, wo sich sein Haus befand. Es dämmerte bereits, als sie ihr Ziel erreichten. Die ersten Laternen wurden in den 22
Straßen angezündet, der Lärm, der aus den Schenken kam, wurde lauter: Thormain erwachte mit Einbruch der Nacht zum Leben. »Da vorne ist Yarghs Haus«, sagte Sadagar. »Wir haben es gleich geschafft.« Als sie sich dem Eingang näherten, wurde die Tür geöffnet, und eine dickbäuchige Gestalt in Frauenkleidern kam heraus. Ein schwarzer Schleier verhüllte das Gesicht. »Das ist doch…!« rief Nottr aus und wollte nach vorne stürmen. Aber Mythor hielt ihn lachend zurück. »Nicht so hastig, Nottr«, sagte er. »Wir wollen den Schleier erst lüften, wenn wir an einen ruhigeren Ort kommen.« * Yargh Mainer hatte seinen siebten Fluchtversuch noch sorgfältiger vorbereitet. Beim letzten Mal, als er sich als Beinloser ausgab und auf einem Wagelchen aus der Stadt zu rollen versuchte, hatte er das Mitgefühl und die Menschenfreundlichkeit der Piraten überschätzt. Sie hatten vor nichts und niemandem Achtung, außer vielleicht vor schwangeren Frauen. Dies wollte er sich nun zunutze machen, indem er in Frauenkleider schlüpfte, seinen Bauch mit einem Strohballen ausstopfte und sich einen watschelnden Gang zulegte. Tatsächlich blieb Yargh unbehelligt, ja, die Piraten machten ihm Platz, und einer beförderte sogar einen Betrunkenen mit einem Tritt zur Seite, um der werdenden Mutter mit dem schleierverhüllten Gesicht freie Bahn zu verschaffen. Beim Verlassen des Hauses hatte er noch ein mulmiges Gefühl gehabt, aber jetzt stieg seine Zuversicht. Zu seiner wirklich vollendeten Tarnung kam noch der günstige Umstand, daß er seine drei Peiniger Kend, Rigon und Vaughen außerhalb der 23
Stadt wußte. Diesmal konnte wirklich nichts schiefgehen. Es war auch hoch an der Zeit, daß er Thormain verließ. Er hatte nämlich gehört, daß die als Spielleute verkleideten Abenteurer, die er an Welleynn ausgeliefert hatte, wieder auf freien Fuß gesetzt werden sollten. Damit nicht genug, ging das Gerücht um, daß die Caer einen Überfall auf Thormain planten. Es war wirklich an der Zeit, von hier zu verschwinden. Er hatte schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt und kam in eine enge, verlassene Gasse. Als er sich unbeobachtet fühlte, rückte er seinen Strohbauch zurecht und verschränkte dann die Hände davor, um ihn zu halten. Da traten ihm plötzlich zwei Gestalten in den Weg, die er an der Statur sofort erkannte. Die eine war gedrungen und muskulös, die andere dünn und mickrig. Sadagar und Nottr, der wilde Barbar! Yargh riß vor Schreck die Arme hoch, und da spürte er, wie der Strohballen unter seinem Kittel zu Boden plumpste. »Was für ein Unglück, eine Frühgeburt!« sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Und da stand Mythor. Seine starke Hand erschien vor Yarghs Gesicht und entfernte den Schleier. Dabei stellte er hohntriefend fest: »Der Schmerz über den Verlust des Kindes steht der armen Frau ins Gesicht geschrieben. Wie herb ihre Züge sind, wie leichenblaß die Haut!« Yargh brachte keinen Ton über die Lippen. Nottr kam heran und gab dem Strohballen einen Tritt. Sadagar sagte: »Was für ein seltsames Kindlein aus Stroh. Ich dachte, solches habe unser Freund nur im Kopf.« »Was… was wollt ihr?« stammelte Yargh. »Ich habe euch nichts getan. Ihr könnt alles haben, nur…« »Ich nehme dich beim Wort, Yargh«, unterbrach ihn Mythor und packte ihn mit Daumen und Zeigefinger an der Nase. »Du wirst uns den Gefallen tun und uns zum thormainischen Brunnen führen.« 24
»Nein!« rief Yargh entsetzt aus. »Das könnt ihr nicht von mir verlangen. Nur das nicht!« »Auch gut«, sagte Nottr gleichgültig. »Dann mache ich das Hebammenspiel mit dir.« »Was ist das?« »Ich werde dir den Bauch aufschlitzen und nachsehen, ob du nicht noch einen Zwilling in dir trägst«, sagte Nottr und bleckte sein Gebiß. »Ich gebe mich geschlagen«, sagte Yargh ergeben. »Ich führe euch zum thormainischen Brunnen.« »Das ist ein Wort«, sagte Nottr anerkennend und fügte drohend hinzu: »Aber wenn du uns wieder hintergehst, werde ich dir auch das andere Ohr abbeißen!« Yargh wurde daraufhin noch blasser, als er schon war. Schnell versicherte er: »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Diesmal werde ich genau das tun, was ihr von mir verlangt. Wann wäre es euch denn recht? Morgen? Oder vielleicht übermorgen?« »Noch in dieser Nacht«, bestimmte Mythor. »Aber zuerst kehren wir beim Nöffenwurm ein.« »Warum denn das?« fragte Yargh verständnislos. »Wenn Dhalin, der Wirt, erfährt, daß ihr es wart, die seinen Weinkeller geplündert haben, reißt er uns alle in Stücke.« »Vor allem dich, denn du hast uns dazu angestiftet«, erinnerte Sadagar. »Im Fall eines Falles werden wir ihm das gewiß nicht verhehlen. Und jetzt marsch, marsch, sonst macht dir Nottr Beine.« Yargh setzte sich in Bewegung. Dhalins Schenke lag nur drei Straßen weiter in einer belebteren Gegend. Dennoch fand Yargh keine Gelegenheit zur Flucht, denn Nottr hatte ihm den Arm um die Hüfte gelegt, als sei er seine Geliebte. Dhalins Schenke war durch einen Drachen aus Stein gekennzeichnet, der wohl einen Nöffenwurm darstellen sollte. Aber 25
Mythor sah keine Ähnlichkeit mit dem Ungeheuer, mit dem er es in Xanadas Lichtburg zu tun gehabt hatte. »Wollen wir nicht eine andere Wirtschaft aufsuchen?« schlug Yargh vor. »Der Nöffenwurm ist eine gar üble Spelunke.« »Aber es gibt nur von hier einen Verbindungsgang zum thormainischen Brunnen«, sagte Mythor. »Außerdem hat Nottr hier eine Verabredung mit dem Knochenbrecher. Es wäre etwas anderes, wenn Nottr davon Abstand nähme.« »Nie! Oder willst du mich einen Feigling schimpfen?« rief Nottr aus. Er drängte mit Yargh im Arm durch die Tür. Sie mußten eine steile, schlecht beleuchtete Treppe hinuntersteigen, über die sie in ein verrauchtes Gewölbe kamen, in dem ein unbeschreiblicher Lärm herrschte. Da sie keinen freien Tisch fanden, stiegen sie über eine weitere Treppe in ein tiefer liegendes Gewölbe hinab. Dieses war größer und nicht so voll. Ein Buckliger mit nur einem Auge, dem die speckige Lederschürze bis ans Kinn reichte, kam dienstbeflissen heran und führte sie zu einem Tisch, an dem zwei Piraten ihren Rausch ausschliefen. Der Bucklige kippte die Betrunkenen von den Stühlen, um für sie Platz zu machen. Mythor überließ es Nottr, die Bestellung aufzugeben. Der Lorvaner verlangte für jeden einen Krug Wein vom besten und dazu Schinken und Brot. Der Bucklige, zweifellos Dhalin persönlich, wand sich und druckste herum, bevor er es wagte, sich nach der Zahlungsfähigkeit seiner Gäste zu erkundigen. »Das geht alles auf Kosten des großmäuligen Gaymon«, erklärte Nottr. »Wenn es sein muß, werde ich die Goldstücke aus ihm herausprügeln. Und jetzt spute dich, Wirt!« Dhalin hatte es auf einmal eilig, sich von ihrem Tisch zu entfernen. Gewiß hatte er auch nichts Eiligeres zu tun, als die Nachricht zu verbreiten, daß da ein Lebensmüder sei, der sich mit dem gefürchteten Kerkermeister anlegen wollte. Denn über das Gewölbe senkte sich bald ein betretenes Schweigen, 26
und man warf ihnen von allen Seiten scheue Blicke zu. Der Wirt kam mit der Bestellung, stellte das große Tablett ächzend ab und entlud es dann umständlich. Offenbar lag ihm irgend etwas auf der Zunge, was er loswerden wollte. Schließlich nahm er sich ein Herz und sagte zu Mythor: »Es ist mir eine große Ehre, daß so hochwohllöbliche Herren wie ihr zu Gast in meinem Hause sind. Aber wollt ihr nicht ein andermal wiederkommen? Morgen vielleicht? Ihr könnt dann trinken und essen, was ihr wollt, und es wird euch keinen Kupferling kosten.« Nottr schlug die Faust auf den Tisch, daß der Bucklige zusammenzuckte. »Wir sind Gaymons Gäste«, sagte der Lorvaner. »Und wenn du es nicht glaubst, dann warte nur, bis er kommt. Ich werde ihn dazu bringen, vor mir zu knien und es zu bestätigen.« »Ich glaube es auch so, edler Herr«, sagte Dhalin unbehaglich. »Die Sache ist nur die, daß Gaymon heute gar nicht kommen wird.« »Doch, er wird kommen«, versicherte Nottr. »Er hat es mir selbst gesagt. Und jetzt verschwinde!« Bevor sich Dhalin zurückziehen konnte, ergriff ihn Mythor in einer plötzlichen Eingebung am Oberarm und zog ihn zu sich. »Hast du überhaupt noch genügend Wein in deinem Keller?« fragte Mythor. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß man deine Vorräte geplündert habe.« »So, woher weißt du das?« erkundigte sich Dhalin mißtrauisch. Mythor deutete auf Yargh Mainer und sagte: »Von dieser ehrbaren Dirne hier. Sie weiß auch, wie die Diebe in deinen Keller gelangt sind. Willst du, daß sie es dir zeigt?« Dhalin überlegte und blickte prüfend zu Yargh, der sich an der Tischkante festhalten mußte, um seines Zitterns Herr zu werden. Er sagte mit verstellter Stimme: »Ihr seht, Dhalin will 27
es gar nicht wissen. Er wird vorgesorgt haben, daß es nicht wieder passieren kann.« »Es ist mir in der Tat ein Rätsel, wie die Diebe in den Keller gelangt sind«, sagte der Bucklige. »Und es wäre mir schon etwas wert, diesen Schleichweg kennenzulernen.« »Dann führe uns in den Keller!« verlangte Mythor. Dhalin sagte, daß er nur den Schlüssel holen wolle, und entschwand. Als sie unter sich waren, sagte Mythor: »Gaymon wird hoffentlich nicht so schnell kommen. Und sollte er auftauchen, ehe ich zurück bin, haltet ihn solange hin. Sadagar, ich mache dich dafür verantwortlich, daß Nottr sich nicht zu einer Unbesonnenheit hinreißen läßt.« »Ich brauche in dieser Sache deine Hilfe nicht, Mythor«, sagte Nottr. »Ich werde mit dem Knochenbrecher alleine fertig.« »Darum geht es nicht«, versetzte Mythor. »Ich möchte nur dabeisein, um dir den Rücken zu decken. Gaymon hat sicher Freunde, die ihn angesichts einer drohenden Niederlage unterstützen werden.« Nottr billigte diese Begründung, und Sadagar sagte etwas kläglich: »Aber beeile dich, Mythor!« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch da kam Dhalin mit einem großen Schlüsselbund. Mythor zog Yargh, der sich immer noch an den Tisch klammerte, einfach hoch und stieß ihn hinter Dhalin her. Der Wirt führte sie in einen Raum hinter dem Ausschank, sperrte eine eisenverstärkte Tür auf und führte sie über eine Treppe in den Weinkeller, den Mythor nur zu gut kannte. Dort wurden sie von drei verwilderten Gestalten erwartet, die nicht mehr ganz nüchtern waren. Die beiden Männer, die Mythor bei seinem ersten Besuch überwältigt hatte, waren nicht darunter. Dhalin schickte die drei Wachen nach oben und wollte dann, daß ihm Mythor den geheimen Zugang zeigte. 28
Mythor deutete zu einem dunklen Loch hinauf, durch das sie eingedrungen waren, und erklärte wahrheitsgetreu, daß es von Yargh Mainer eine unterirdische Verbindung zum Weinkeller gebe. Dhalin verfluchte Yargh und sagte, daß er ihn von Anfang an verdächtigt habe und auch von Kend gewarnt worden sei. »Ich werde den Geheimgang zumauern lassen«, beschloß er sodann. »Und die gestohlenen Vorräte willst du nicht wiederhaben?« wunderte sich Mythor und machte dem Wirt den Vorschlag, die Beute zurückzuholen. Er bot sich an, dies zusammen mit der »ehrbaren Dirne« zu erledigen, knüpfte jedoch die Bedingung daran, daß Dhalin inzwischen für den Schutz seiner beiden zurückgebliebenen Freunde sorge. »Wie stellst du dir das vor!« rief Dhalin. »Ich bin doch nicht lebensmüde, mich mit Gaymon anzulegen.« »Du brauchst ihm doch nur etwas in den Wein zu tun, was ihn einschläfert«, meinte Mythor, und dann lachten sie beide. Er fügte hinzu: »Ich sehe, wir sind uns einig. Über den Lohn sprechen wir später.« Yargh wollte diesen Moment, da er sich unbeobachtet glaubte, nützen, um sich über die Treppe zu entfernen. Aber Mythor packte ihn im Genick und holte ihn zurück. Dhalin überließ ihnen zwei Laternen und sah zu, wie sie über die Wand nach oben stiegen und hinter dem Vorsprung in dem dunklen Loch verschwanden. Dann rief er die Wachen und befahl ihnen, die Öffnung augenblicklich zuzumauern. »Ohne Waffen sind wir hier unten verloren«, jammerte Yargh, während er vor Mythor den Schacht in das unterirdische Gewölbe hinabstieg. »Du hast keine Ahnung von den Gefahren, die hier unten lauern.« »Du zitterst so, daß du dich mit einer Waffe nur selbst verletzen würdest«, spottete Mythor. »Außerdem habe ich bereits 29
einige der Bewohner der Stadt unter Thormain kennengelernt. Ich fand sie recht umgänglich.« Sie erreichten das Gewölbe, in dem Mythor ihre Ausrüstung in einem Spalt zwischen den Felsblöcken versteckt hatte. Mythor schob Yargh in eine Ecke und stellte beide Laternen in Höhe seines Gesichts ab, so daß er von ihrem Schein geblendet wurde. Er befahl ihm zusätzlich, mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Dann begab er sich zu dem Versteck und holte den Helm der Gerechten hervor. Mythor überzeugte sich, daß Yargh ihm den Rücken zukehrte, dann setzte er den Helm auf. Sofort vernahm er wieder das Wispern in seinem Kopf, das sich noch verstärkte, als er sich in die Richtung wandte, in der der thormainische Brunnen liegen sollte. Das war die endgültige Bestätigung dafür, daß ihm der Helm mit seinen Einflüsterungen den Weg dorthin wies. Mythor wollte nicht mehr länger warten, um dieses Geheimnis zu ergründen. »Was treibst du denn?« fragte Yargh mit bebender Stimme. »Kann ich mich endlich umdrehen?« Mythor nahm den Helm ab und verstaute ihn wieder in dem Versteck. Dabei stießen seine Hände auf das Pergament. Kurz entschlossen holte er es hervor und entfaltete es. Wie immer, wenn er auf das Bildnis der darauf abgebildeten Frau blickte, überkam ihn eine seltsame Erregung. Er hätte stundenlang in dieser Betrachtung versinken können, ohne müde zu werden und ohne sich satt zu sehen. Mythor hatte sich schon oft die Frage gestellt, was für ihn vorrangiger war: die restlichen Fixpunkte des Lichtboten zu finden oder diese Frau, die ihm so ähnlich sah und zu der er sich wie magisch hingezogen fühlte. Er kannte die Antwort darauf nicht, und er hoffte, daß er nicht vor diese Entscheidung gestellt würde, sondern daß sich eines nach dem anderen von selbst ergab. 30
Ein Laut, der aus Yarghs Richtung kam, ließ ihn in die Wirklichkeit zurückfinden, und schweren Herzens schob er das Pergament wieder in das Versteck zurück. Er erhob sich, richtete sich auf und gab Yargh die Erlaubnis, sich wieder umzudrehen. »Ist es dir noch ernst damit, auf diesem Weg zum thormainischen Brunnen zu gelangen?« fragte Yargh. »Ich mache dir einen besseren Vorschlag. Ich habe in einem Versteck meines Hauses ein kleines Vermögen angesammelt. Eigentlich wollte ich es zurücklassen und es mir irgendwann später holen. Aber wenn du willst, teile ich mit dir. Es ist genug…« Yargh verstummte, als er Mythors unerbittlichen Gesichtsausdruck sah. »Du führst mich jetzt zum thormainischen Brunnen, oder du erblickst das Licht der Oberwelt nicht mehr«, sagte Mythor und nahm die eine Laterne an sich. »Daran glaube ich sowieso nicht«, meinte Yargh resignierend, raffte mit der einen Hand seinen Kittel und setzte sich in Bewegung. Mythor ging voran, denn der Weg bis zu Yarghs Haus war ihm vertraut. Er war leicht zu finden, da Sadagar ihn mit Runenzeichen markiert hatte. Diesmal war von den Unbekannten, die das Licht scheuten, weil sie nach eigener Aussage einen viel zu abscheulichen Anblick boten, nichts zu sehen. Mythor war also ganz auf Yargh angewiesen. »Bist du sicher, das dies der Weg zum thormainischen Brunnen ist?« erkundigte er sich zwischendurch, nachdem sie in unbekannte Regionen vorgedrungen waren und er die Führung Yargh überließ.» Wieso kennst du dich überhaupt aus, wenn du noch nie hier unten warst?« »Ich habe nur gesagt, daß mich keine zehn Drachen hier herunterbringen würden«, antwortete Yargh. »Aber früher einmal mußte ich eine Zeitlang in der Unterwelt leben, weil mir der Boden in Thormain zu heiß geworden war. Es hat sich jedoch 31
bald gezeigt, daß ich oben meines Lebens trotz allem sicherer war.« »Hast du damals auch welche kennengelernt, die das Licht scheuen und mit rauher, kaum verständlicher Stimme ein fremdartiges Gorgan sprechen?« erkundigte sich Mythor, während er Yargh durch die Irrwege zwischen den übereinandergetürmten Steinblöcken folgte. Es ging mal aufwärts, dann wieder hinab und kreuz und quer durch die Unterwelt. Manchmal gelangten sie in größere Hohlräume, die sie in aufrechter Haltung durchqueren konnten, dann wiederum mußten sie auf allen vieren kriechen, über im Wege liegende Felsen klettern und über tiefe Spalten und Klüfte springen. Yargh erwies sich als überraschend behende und geschickt, so daß sie rasch vorwärts kamen. »Hier unten scheuen alle das Licht«, sagte Yargh. »Aber deine Beschreibung könnte auf die Aurogaer passen. Das sind ehemalige Nomaden aus dem tiefen Süden, die von den Piraten nach Thormain verschleppt wurden. Der Schmutz der Stadt ist ihnen nicht bekommen. Sie bekamen den Aussatz und flohen in die Unterwelt. Du bist doch nicht mit ihnen in Berührung gekommen?« »Nein«, log Mythor. »Ich habe nur einige aus der Ferne gesehen. Aber sie flohen den Schein meiner Laterne.« »Dann sei froh«, sagte Yargh erleichtert. »Sicher waren sie vermummt, sonst wüßtest du, daß es Aussätzige sind. Sie bieten keinen schönen Anblick.« Vor ihnen war das Rauschen von Wasser. Mythor glaubte schon, daß dies vom thormainischen Brunnen stamme. Doch Yargh erklärte ihm, daß es sich dabei um die Abwässer der Stadt handle, die einfach in die Unterwelt abgelassen würden. Es begann bestialisch zu stinken, und Yargh machte einen großen Bogen um dieses Gebiet. Sie kamen in einen Gang, dessen Boden und eine Wand aus 32
gewachsenem Fels bestanden, und dann erreichten sie eine Mauer aus kleineren Steinen und gebranntem Lehm. »Das sind bereits die Grundmauern thormainischer Häuser«, erläuterte Yargh, »die rund um den Brunnen stehen. Der Brunnenschacht ist geradewegs durch den Fels geschlagen worden. Es gibt von hier unten keinen Zugang. Wir müssen hinauf.« »Worauf wartest du denn noch?« fragte Mythor ungeduldig, als Yargh zögerte. »Ich möchte dir Gelegenheit geben, es dir nochmals zu überlegen«, sagte Yargh. »Vergiß den Brunnen, er bringt Unglück über jeden, der ihm zu nahe kommt. Nicht umsonst sind alle Häuser in seiner Nähe verlassen. Nicht einmal die Verfemten suchen hier Unterschlupf.« »Mach schon, Yargh!« drängte Mythor. »Sonst muß ich mich daran erinnern, daß du uns an Welleynn verraten hast.« Das machte Yargh Beine. Er stieg über eine halb verfallene Treppe hinauf, duckte sich und schlüpfte durch einen niedrigen Durchlaß. Mythor folgte ihm und kam hinter ihm in eine schmale, überdachte Gasse, die weiter oben nach zehn Schritten vor halb verfallenen Hauswänden endete und in Stufen nach unten führte. Dort gabelte sie sich nach zwanzig Schritten. Yargh duckte sich furchtsam und schlich scheu in der Mitte der Gasse dahin, verstohlen zu den dunklen, türlosen Hauseingängen blickend. Er schrie entsetzt auf, als aus einem Hausflur ein Geräusch ertönte und dann ein Rudel schwarzer Schatten herausströmte und ihren Weg querte. Er beruhigte sich auch nicht, als Mythor ihm versicherte, daß es sich nur um aufgescheuchte Ratten handle. Sie erreichten die Abzweigung. Yargh brachte vor Angst keinen Ton über die Lippen und deutete stumm nach links. Mythor sah, daß die Straße nach dreißig Schritten auf einen größeren Platz mündete. Als er die Laterne hob, konnte er un33
deutlich ein Stück eines runden Aufbaus aus behauenem Stein erkennen und den hölzernen Stützpfeiler für ein steiles Schindeldach. »Ist das der thormainische Brunnen?« fragte Mythor. Yargh kam noch dazu, dies mit einem Nicken zu bestätigen. Aber bevor er ein Wort hervorbrachte, tauchten aus einem Hauseingang plötzlich mehr als zehn bewaffnete Gestalten auf und umzingelten sie. »Im Namen Argur von Solths, ihr seid festgenommen«, rief eine befehlsgewohnte Stimme. »Leistet keinen Widerstand, sonst machen wir euch nieder.« »Wir sind unbewaffnet«, sagte Mythor und zeigte seine leeren Hände. »Ihr müßt euch irren, denn Argur von Solth hat uns gerade erst freigelassen.« »Das hat schon seine Ordnung«, sagte der Anführer der Piraten. »Du bist der, den wir erwartet haben. Und wen haben wir denn da? Ist das nicht Yargh Mainer? Machst du also auch schon mit Spionen der Caer gemeinsame Sache?« »Ich habe nichts mit diesem Kerl zu tun«, beteuerte Yargh. »Er hat mich gezwungen, ihn zum thormainischen Brunnen zu führen.« »Das kannst du Welleynn erzählen, wenn du am Schultergalgen hängst«, sagte der Anführer der Piraten, und einige seiner Leute stimmten ein gezwungen klingendes Gelächter an. »Laß uns endlich von hier verschwinden!« sagte einer der Männer und sprach damit vermutlich das aus, was sie alle dachten. »Mann, werde ich mich besaufen, wenn ich dem Brunnen heil entkomme!« Mythor bekam einen Stoß in den Rücken. Jemand nahm ihm die Laterne ab. Er warf einen letzten Blick zurück. So nahe war er dem geheimnisvollen Brunnen schon gewesen, und trotzdem war es ihm nicht vergönnt, ihn zu erforschen. Die Klin34
gen, die ihn in Schach hielten, ließen ihn jeden Gedanken an Flucht vergessen. Und da war auch noch Kalathee, die sich in der Gewalt des Argur von Solth befand. Die Sorge um sie tat ein übriges, daß er sich dazu entschloß, keinen Widerstand zu leisten. * Argur von Solth war ein großer, stattlicher Mann, der seine Männlichkeit durch kostbare Gewänder noch besser zur Geltung brachte. Aber bei genauerem Hinsehen zeigte sich, daß die Haut seines Gesichts schlaff und teigig war, und sein breiter Gürtel teilte seinen Wanst in zwei Fettwülste. Seine Hände hatten verlernt, eine Waffe zu gebrauchen, die Bewegungen der ringgeschmückten Finger waren geziert. Mythor war ein zu guter Beobachter, um nicht zu erkennen, daß er einen Mann vor sich hatte, der vor längerer Zeit die rauhe Seeluft und die Schiffsplanken gegen ruhigere Palastluft und höfisches Parkett vertauscht hatte. Aber so verweichlicht, wie sein übertriebenes Gehabe glauben machen sollte, war er gewiß nicht. Kalathee saß neben seinem Thron auf dem Bärenfell, und als sie Mythors ansichtig wurde, zuckte sie zusammen. Sie erhob sich halb, wie ihm entgegenzueilen. Aber da trat ihr eine schwarzgekleidete Gestalt gebietend entgegen, und Kalathee sank wieder zurück. »Sei tapfer, meine Milchschwester«, sagte Mythor, um ihr zu zeigen, daß er wußte, als was sie sich ausgegeben hatte. »Keine Gewalt dieser Welt ist in der Lage, die Bande zu durchtrennen, die uns zusammenhalten.« »Eine Klinge schafft das noch allemal«, sagte eine bekannte Stimme aus den Reihen der Piraten, die den Thronplatz umstanden. Mythor wußte, daß es Kend war, noch bevor er ihn 35
sah. »Es fragt sich, ob du jemals wieder eine Waffe tragen wirst«, herrschte ihn Welleynn an. »Du scheinst nicht ermessen zu können, wann du davon Gebrauch machen darfst.« Kend wandte sich verächtlich von dem Scharfrichter ab und sagte zu Argur von Solth: »Der Scharfrichter kommt mir wie ein ängstliches Weib vor. Er verurteilt mich und meine Leute, weil wir eine Kriegerhorde im Kampf geschlagen haben. So kann nur ein Feigling denken.« »Diese Krieger waren Caer, und die Caer sind unsere Freunde«, sagte Argur von Solth mit einem Seitenblick zu Mythor, den dieser nicht verstand. »Ach, laß doch diese Heuchelei, Argur!« sagte Kend wütend. »Du weißt so gut wie ich, daß wir von den Caer nichts Gutes zu erwarten haben. Das sind mir schöne Freunde, die versuchen, uns in Thormain auszuhungern. Gib der Wahrheit die Ehre, und gestehe deinen Haß gegen sie ein. Du brauchst vor den caerischen Spionen nicht zu heucheln, denn sie werden Thormain nicht lebend verlassen.« »Halte deine Zunge im Zaum, Kend!« rief Argur von Solth wütend. »Noch habe ich das Wort, und ich sehe die Caer als unsere Verbündeten an.« Mythor spürte wieder den heuchlerischen Blick des Herrschers von Thormain auf sich und begann zu begreifen. Offenbar glaubte man, daß er von den Caer entsandt worden sei. Das gefiel ihm gar nicht, denn es trug keineswegs zur Verbesserung seiner Lage bei. In der Menge entstand eine Bewegung. Jemand sagte: »Da sind die beiden anderen.« Gleichzeitig wurde Sadagar in den freien Raum vor dem Thron gestoßen, und eine reglose Gestalt wurde zu Boden geworfen. Es war Nottr, und er lag wie tot da. 36
»Der Barbar wurde von Dhalin mit einem Schlaftrunk außer Gefecht gesetzt«, erklärte der Pirat, der Nottr abgeladen hatte. »Das war sein Glück, denn der Knochenbrecher schickte sich gerade an, ihn auseinanderzunehmen.« Mythor atmete auf. Die Erleichterung darüber, daß Nottr noch am Leben war, überwog seinen Zorn über die Hinterlist des buckligen Wirtes. Argur von Solth schnitt bei Nottrs Anblick eine Grimasse und wandte sich dann wieder Kend zu. »Wie kannst du dein Verhalten rechtfertigen?« fragte er ihn. »Wie ist es überhaupt zu der Auseinandersetzung mit den Caer gekommen?« »Ganz einfach«, sagte Kend. »Meine Leute und ich waren auf einem Streifzug außerhalb der Stadt, da kamen uns etwa ein Dutzend Reiter entgegen. Als wir erkannten, daß es sich um Caer handelte, forderten wir sie in Güte zum Halten auf. Aber sie eröffneten grundlos die Feindseligkeiten und griffen uns an. Wir wehrten uns natürlich und besiegten sie. Die letzten beiden Überlebenden haben wir gefangengenommen. Es dürfte Welleynns Folterknechten nicht schwerfallen, sie zum Reden zu bringen und von ihnen zu erfahren, welchen Auftrag sie hatten.« »Ich habe etwas anderes gehört«, sagte Welleynn. »Demnach waren die meisten Caer verwundet und so abgekämpft, daß sie sich kaum im Sattel halten konnten. Nur deshalb getrautet ihr euch, über sie herzufallen und sie niederzumetzeln.« »Von Waschweibern und Feiglingen lasse ich mich nicht beleidigen«, sagte Kend, ohne den Scharfrichter anzublicken. »Nicht über meine Handlungsweise soll gerichtet werden, sondern über diese Caer-Spione. Und dazu gehört dieses Dämchen, das dir schöne Augen macht, Argur. Merkst du denn nicht, daß sie dir den Kopf verdreht, damit du nicht durchschaust, was wirklich gespielt wird?« »Es ist genug, Kend!« sagte Argur von Solth scharf und er37
hob sich halb in seinem Thron. Er schnippte mit den Fingern und befahl: »Man bringe die beiden Caer für die Gegenüberstellung mit den Gefangenen.« Mythor merkte Sadagars fragenden Blick und zuckte als Antwort nur mit den Achseln. Er wußte ebensowenig wie der Steinmann, was hier eigentlich vor sich ging. Aber er sah der Gegenüberstellung mit den Caer ruhigen Gewissens entgegen. Man konnte ihnen alles mögliche vorwerfen, aber nicht, daß sie mit den Caer paktierten. Unter den Piraten entstand wieder eine Bewegung, als die Wachen sich einen Weg durch die Umstehenden bahnten. Mythor sah dem Auftauchen der Gefangenen ohne große Erwartung entgegen. Um so überraschter war er, als auf einmal Coerl O’Marn und Nyala von Elvinon vor den Thron traten. O’Marns schulterlanges, angegrautes Haar war wirr und blutverkrustet, an der linken Schläfe hatte er eine Schramme. Sonst wirkte er unverletzt, sein Gang war aufrecht, sein Schritt fest. Den Helm mit dem Federbusch hatte er abgenommen und trug ihn unter dem Arm. Nyala an seiner Seite wirkte dagegen abwesend, was Mythor darauf zurückführte, daß sie sich noch nicht ganz von der Beeinflussung durch Drundyrs Dämon erholt hatte. Als O’Marn ihm das Gesicht zuwandte, hielt Mythor für einen Moment den Atem an. Aber in den grauen, kalten Augen des Ritters zeigte sich kein Erkennen. Mythor atmete auf. O’Marn schien die Situation begriffen zu haben, denn er schenkte auch Sadagar und Kalathee keine weitere Beachtung. »Bei Caers Blut!« schleuderte O’Marn dem prunkvoll gekleideten Argur von Solth entgegen. »Was fällt euch räudigen Piraten ein, wie Wegelagerer über einen Ritter der Caer herzufallen, der euch die unverdiente Ehre erweisen will, eurer Stadt einen Besuch abzustatten? Das wird noch Folgen haben. Für jeden meiner Leute werden hundert von euch fallen.« 38
»Ich bedaure zutiefst, was vorgefallen ist«, sagte Argur von Solth, »aber es läßt sich nicht mehr ungeschehen machen. Ich baue doch sehr auf deine Nachsicht und hoffe, daß du uns den bedauerlichen Irrtum verzeihst. Da uns dein Besuch nicht angekündigt wurde, nahmen meine Leute an, daß ihr euch auf Schleichwegen Zugang nach Thormain verschaffen wolltet.« »Das hat der Ritter Coerl O’Marn nicht nötig«, sagte O’Marn würdevoll. »Du bist der wackere Coerl O’Marn?« staunte Argur von Solth, aber in seiner Stimme lag nicht nur Hochachtung, sondern auch ein lauernder Unterton. »Wenn du nach Thormain geschickt wurdest, so muß das einen bedeutungsvollen Grund haben. Willst du ihn uns nicht nennen?« »Ich bin nicht in einer besonderen Mission unterwegs, sondern wollte Thormain einfach einen Besuch abstatten«, antwortete O’Marn. »Ohne dich der Lüge bezichtigen zu wollen, muß ich das doch bezweifeln, edler Ritter«, sagte Argur von Solth. »Caer befindet sich im Kriegszustand, und da soll ein Kämpfer wie du die Muße haben, seinen persönlichen Launen nachzugeben?« »Wenn du mir nicht glaubst, was glaubst du denn?« erkundigte sich O’Marn. »Kennst du diese Frau?« wollte der Herrscher von Thormain wissen und hob Kalathees Hand. »Nein, ich habe sie noch nie gesehen«, antwortete O’Marn. »Und diese beiden Männer?« fragte Argur von Solth und deutete auf Mythor und Sadagar. O’Marn drehte sich langsam um und betrachtete Sadagar und Mythor eingehend. Mythor erwiderte seinen Blick und versuchte in seinen Augen zu lesen, aber sie waren ausdruckslos. O’Marn wandte sich wieder Argur von Solth zu und sagte: »Mit solch heruntergekommenen Leuten pflege ich keinen 39
Umgang.« »Vielleicht würdest du sie eher kennen, wenn sie caerische Kriegerkleidung trügen«, mischte sich da Kend ein. Er trat vor den Ritter hin und fuhr fort, bevor ihm Argur von Solth das Wort verbieten konnte: »Diese Leute sind als Musikanten gekommen, aber keiner, der sie hörte, nahm ihnen ab, daß sie das wirklich seien. Sie fielen zudem durch ihr neugieriges Benehmen auf, so daß sie eigentlich nur Spione sein können. Dein Erscheinen hat schließlich den letzten Beweis erbracht. Denn ohne Zweifel habt ihr euch verabredet, und du wolltest von deinen Spionen hören, was sie inzwischen in Erfahrung gebracht haben.« »Auf diese Beleidigung kann es nur eine Antwort geben!« rief Coerl O’Marn zornig und griff nach seinem Schwert. Daß man ihn nicht entwaffnet hatte, zeugte deutlich davon, daß man seine Ritterwürde achtete. Aber da O’Marn tätlich werden wollte, nahmen die Piraten keine Rücksicht mehr auf seinen Stand. Während sich Kend durch einen Sprung in Sicherheit brachte, stürzten sich die umstehenden Männer auf Coerl O’Marn und begruben ihn unter sich. Nyala von Elvinon stand reglos daneben und beobachtete das Geschehen mit ausdruckslosem Gesicht. »Wenn der Ritter entwaffnet ist, laßt von ihm ab!« rief Argur von Solth. Welleynn war der Menschentraube über O’Marn ausgewichen und kam nun zu Argurs Thron hinauf. Die beiden unterhielten sich kurz miteinander. Obwohl Mythor nichts davon verstehen konnte, zeigte ihm ein Blick zu Kalathee, die offenbar mithörte, daß bei dem Gespräch nichts Gutes herauskam. Das Menschenknäuel über O’Marn löste sich auf. Dem Ritter waren die Waffen abgenommen worden. Zwei Piraten bogen ihm die Arme auf den Rücken und hielten ihn fest. Zwei ande40
re bedrohten ihn mit kurzen Spießen. »Das werdet ihr noch büßen!« drohte O’Marn wütend. »Du wirst keine Gelegenheit bekommen, deine Rachegelüste zu stillen«, sagte Argur. »Dein Verhalten hat gezeigt, daß du nicht würdig bist, wie ein Ritter behandelt zu werden. Aber du wirst im Kerker Gelegenheit bekommen, uns die Wahrheit zu erzählen. Scharfrichter Welleynns Folterknechte verstehen sich darauf, selbst Steine zum Reden zu bringen. Und wir werden auch von den angeblichen Spielleuten erfahren, ob sie deine Spitzel sind oder nicht. Darauf kannst du dich verlassen.« Kalathee stieß einen erschrockenen Laut aus, doch der Piratenherrscher strich ihr beruhigend übers Haar. »Keine Angst, schönes Kind, du darfst dich auch weiterhin meiner Gastfreundschaft erfreuen«, sagte Argur von Solth heuchlerisch. »Und dein Milchbruder Mythor braucht ebenfalls nicht zu fürchten, in den Kerker geworfen zu werden.« »Wie kann ich dir das nur danken, Herr«, sagte Kalathee scheinbar unterwürfig, aber mit einem bangen Unterton. Offenbar kannte sie den Herrscher von Thormain gut genug, um hinter seinen Worten eine Arglist zu vermuten. Sie fügte hinzu: »Wenn ich meinem Milchbruder nicht den magischen Schwur geleistet hätte, würde ich wissen, wie ich mich erkenntlich zeigen könnte.« »Daran mußte ich eben denken«, sagte Argur. »Ich habe nicht nur von dir gehört, daß dein Milchbruder verzweifelt bemüht ist, den thormainischen Brunnen aufzusuchen – auch meine Leute haben es mir zugetragen. Sein Wunsch soll in Erfüllung gehen.« Er hob den Kopf und befahl mit erhobener Stimme: »Werft ihn in den Brunnen!« Kalathee schrie auf. Mythor wurde gepackt, bevor er Gelegenheit hatte, sich mit Sadagar oder Coerl O’Marn durch irgendein Zeichen zu verständigen. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen die Gefangennahme, aber die Übermacht war zu 41
groß. Zwei Piraten hielten ihm vorne die Hände zusammen, ein dritter fesselte sie mit einem starken Strick. »Wenn du nicht stillhältst, binden wir dir auch die Beine zusammen und werfen dich so in den Brunnen«, wurde ihm angedroht. Mythor sah ein, daß ihm Widerstand nichts einbrachte, und wehrte sich nicht mehr. »Ich verstehe nicht, warum du dich so gebärdest«, sagte einer seiner drei Bewacher, die ihn aus dem Thronsaal brachten. »Wir tun dir doch nur einen Gefallen, wenn wir dich zum Brunnen bringen. Ist es nicht so?« Mythor schwieg. Im Grunde hatte der Pirat recht. Der Unterschied war nur der, daß er nicht als freier Mann zum thormainischen Brunnen gelangen würde. Während ihn seine Häscher über Treppen nach unten in den engen Innenhof brachten und von dort durch ein Tor aus dem schloßähnlichen Gebäude, das sie Nest nannten, versuchten sie ihn zu ängstigen, indem sie ihm erzählten, welches Schicksal er zu erwarten habe. Das reichte von fleischfressenden Fischen, die den Brunnen bewohnten, bis zu Wassergeistern, die ihre Opfer in die Tiefe hinabzogen und ihnen dann qualvoll langsam das Leben aussaugten. Das alles konnte Mythor jedoch nicht beeindrucken. Er wußte, daß der Brunnen ein anderes Geheimnis bergen mußte, von dessen Entschlüsselung für ihn viel abhängen konnte. Der Helm der Gerechten hatte es ihm verraten. Mythor wurde auf demselben Weg in den verlassenen Stadtteil gebracht, auf dem er zusammen mit Yargh Mainer von dort ins Nest gebracht worden war. Seine Häscher verkündeten lauthals, was mit ihrem Gefangenen geschehen würde, so daß ihnen bald eine größere Menschenmenge folgte. Allerdings blieben die Neugierigen an der Grenze zum unbewohnten Stadtteil zurück. Mythors Bewacher wurden auf einmal sehr schweigsam, und ihr Schritt war auch nicht mehr so 42
forsch. »Ihr könnt hier zurückbleiben, und ich verspreche euch, daß ich den thormainischen Brunnen freiwillig aufsuchen werde«, schlug Mythor ihnen vor. »Das könnte dir so passen«, sagte einer und hieb ihm die Faust in die Seite. »Wir führen unseren Auftrag aus.« Mythor wurde auf den freien Platz geführt, in dessen Mitte der Brunnen stand. Die Einfassung des Brunnens war kreisrund und erhob sich eineinhalb Schritt über dem Boden. Darüber stand ein hölzernes Gestell, das giebelförmig überdacht war. Das Holz wirkte uralt und wie versteinert. Es gab auch eine Winde, doch hatte diese kein Seil. Die Häscher führten ihn bis zur Mauereinfassung und waren darauf bedacht, hinter ihm zu bleiben, als fürchteten sie sich davor, einen Blick in die Tiefe zu werfen. »Deine Hände«, sagte einer der Männer. Mythor streckte sie ihm hin, und der Pirat durchschnitt die Fesseln mit seinem Dolch. Im selben Moment wurde Mythor von den beiden anderen gepackt und über den Rand gestoßen. Er glaubte von oben Gelächter und schnell enteilende Schritte zu hören, während er in die Tiefe stürzte. Er dachte noch voll Schreck daran, daß der Brunnen vielleicht leer sei und er an seinem trockenen Grund zerschellen würde. Aber da erfolgte der Aufschlag im Wasser, und das eiskalte Naß schlug über ihm zusammen. Ich bin am Ziel meiner Wünsche, dachte er. Er tauchte auf und durchschwamm den Brunnen mit fünf Stößen. Demnach maß er etwa drei Mannslängen im Durchmesser. Als er hochblickte, sah er weit über sich den helleren Kreis des Brunnenrandes, gut vier Mannslängen höher. Das Wasser war kalt; Mythor begann zu frösteln. Er schwamm entlang der gebogenen Schachtwand und suchte nach einem Halt. Aber die Mauer war fast fugenlos, es gab keine genügend großen Vorsprünge oder Vertiefungen, an 43
denen er sich festhalten konnte. Irgendein glitschiges Zeug, das sich an der Brunnenwand festgesetzt hatte, machte diese aalglatt. Er versuchte einige Male vergeblich, sich hochzuziehen. Einmal konnte er seinen Körper halb aus dem Wasser ziehen, rutschte aber sofort wieder ab und tauchte unter. Prustend brachte er sich wieder über Wasser. Er wußte bald nicht mehr, wie oft er entlang der runden Schachtmauer geschwommen war und wie viele Versuche er unternommen hatte, die senkrechte Mauer hinaufzuklettern. Seine Fingerspitzen, mit denen er halbwegs Halt in den Mauerritzen gefunden hatte, waren bald gefühllos. Er trat Wasser und spürte, wie ihm die Kälte in den Unterleib kroch. Irgendwann würden seine Arme und Beine so klamm sein, daß er sie nicht mehr bewegen konnte. Dann würde er unweigerlich ertrinken. Bevor es jedoch soweit war, wollte er versuchen, zum Grund des Brunnens zu tauchen. Er holte tief Atem, schnellte sich herum und stieß mit dem Kopf voran in die Tiefe. Um ihn war Dunkelheit, kein Lichtschein erhellte das finstere Wasser. Mythor tauchte, so tief er konnte, bis ihm die Luft ausging und er meinte, es würde ihm den Brustkorb sprengen. Aber er fand keinen Grund, nicht einmal eine Öffnung oder Vertiefung in der Brunnenwand. Er unternahm einige Tauchversuche, alle mit dem gleichen Erfolg. Bald war er zu schwach, um sich genügend lange unter Wasser zu halten, und er gab es auf. Es galt nur noch, sich so lange wie möglich über Wasser zu halten und auf ein Wunder zu hoffen, das ihm die Rettung brachte. Er dachte an seine Freunde und an den Ritter Coerl O’Marn. Vielleicht gelang diesem die Flucht aus der Gefangenschaft, so daß er zum thormainischen Brunnen kommen konnte, um ihn herauszuholen. Aber das war zu unwahr44
scheinlich. Warum war O’Marn nach Thormain gekommen, anstatt sich zu seinen Leuten durchzuschlagen? Der Ritter hätte wissen müssen, daß er mit seiner Handvoll verwundeter und geschlagener Krieger nichts gegen die Übermacht der Piraten ausrichten konnte. Wenn er beabsichtigte, zu den Piraten überzulaufen, dann hätte er dies gegenüber Argur von Solth gestanden. Aber da er es nicht getan hatte, mußte es einen anderen Grund geben. Nyala!
O’Marn hatte seine Zuneigung für die Herzogstochter von Elvinon nie verhehlt. Steinmann Sadagar hatte sogar angenommen, daß sich O’Marn Nyalas wegen gegen den Caer-Priester Drundyr gewandt habe, dem er zu Gehorsam verpflichtet gewesen wäre. Wenn der Ritter das für Nyala getan hatte, mußte er sich klar darüber sein, daß er dafür von der caerischen Priesterschaft Bestrafung zu erwarten hatte. Bei diesen Überlegungen kam Mythor ein Gedanke, der ihm jedoch selbst als zu abwegig erschien: Hatte Coerl O’Marn seine Leute vor Thormain absichtlich geopfert, um alle Zeugen loszuwerden? Die Antwort darauf konnte nur der Ritter selbst geben, aber der würde schweigen. Mythor spürte, wie ihn das bleierne Gewicht seines Körpers unter Wasser zog. Seine Arme und Beine waren schon so steif, daß er sie kaum mehr bewegen konnte. Er schluckte Wasser und schlug verzweifelt um sich, um wieder aufzutauchen. Kaum bekam er den Kopf über Wasser, da fiel etwas auf ihn. Ein weiches, nachgiebiges Etwas traf ihn auf den Kopf, und sofort griff er danach. Es war ein Seil! Das Wunder, auf das er gehofft hatte? Oder steckte nur eine Gemeinheit der Piraten dahinter? Mythor zog an dem Seil, bis 45
es sich gestrafft hatte. Als er nach oben blickte, sah er, daß sich einige Schatten über den Brunnenrand beugten. Eine Stimme rief ihm irgend etwas zu, das er jedoch nicht verstehen konnte. Mythor versuchte, sich an dem Seil hochzuziehen. Aber er hatte dazu nicht mehr die Kraft. Er war froh, sich überhaupt daran festhalten zu können. Da ging ein Ruck durch das Seil. Es wurde nach oben gezogen, und Mythor glitt daran aus dem Wasser. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hielt er sich an dem Seil fest, während dieses langsam immer höher gezogen wurde. Ein kalter Lufthauch strich über seinen Körper und ließ ihn erschauern. Jetzt wurde er sich noch mehr der Kälte bewußt, die sich bis tief in seine Knochen gefressen hatte. Endlich erreichte sein Kopf den Brunnenrand. Hilfreiche Arme streckten sich nach ihm aus, bekamen ihn an den Schultern zu fassen und holten ihn endgültig ins Freie. Er spürte die Wärme eines rauhen Stoffes, den man um ihn wickelte. Mythor wurde völlig darin verpackt, so daß er überhaupt nichts sehen konnte. Aber das war ihm egal. Er fühlte sich geborgen, er war dem nassen Tod entronnen. Die Unbekannten hoben ihn hoch und trugen ihn. Nach einer Weile wurde er abgesetzt und aus der wärmenden Decke gerollt. Für einen Moment blendete ihn flackernder Feuerschein, und dann strich eine wohlig wärmende Woge über seinen Körper dahin. Vor ihm brannte eine offene Feuerstelle, um die einige vermummte Gestalten kauerten und standen. Sie trugen Kapuzen mit Augenschlitzen. Die Kutten reichten bis zum Boden herunter, so daß nicht einmal ihre Zehen hervorragten. Die Hände hatten sie in den weiten, losen Ärmeln versteckt. »Ausziehen, warm!« sagte eine kehlige Stimme. Mythor wurde sofort an jene Unbekannten erinnert, die er bei seinem ersten Vorstoß in die Unterwelt getroffen hatte und die Yargh 46
Mainer als Aurogaer und Aussätzige bezeichnete. Jemand warf ihm eine Kutte zu, und Mythor entledigte sich schnell seiner nassen Kleider. Dabei fragte er: »Kennt ihr mich noch? War jemand dabei, als ich einige von euch traf? Ich habe gesagt, daß ich den thormainischen Brunnen suche. Und ihr nanntet mir einen Namen. Wamdon! Ist einer von euch Wamdon?« Die Vermummten schwiegen. Mythor schlüpfte in die Kutte, ohne sich darüber Gedanken zu machen, daß sie wahrscheinlich von einem Aussätzigen stammte. Als er den Kopf durch den Halsausschnitt steckte, stellte er fest, daß sich die Vermummten immer noch nicht rührten. »Seid ihr denn keine Aurogaer?« fragte Mythor. »Kennt ihr Wamdon nicht?« »Doch«, sagte da eine helle Stimme aus dem Hintergrund. Eine vermummte Gestalt trat in den Kreis, die kleiner war und zierlicher wirkte als die anderen. »Wamdon ist unser Anführer. Und wir kennen dich. Wir sind froh, daß wir dir helfen konnten.« Mythor sah, wie sich der Arm des Vermummten hob und eine schmale Hand den Zipfel der Kapuze packte und diese lüftete. Darunter kam das Gesicht eines Mädchens zum Vorschein. Unter der Kapuze quoll dichtes, halblanges Haar hervor, das im Feuerschein rötlich schimmerte. Das Gesicht des Mädchens war makellos. Die großen grünlichen Augen blickten Mythor sanft an, der Mund mit den vollen Lippen lächelte. »Ich bin Royna«, sagte das Mädchen. »Und außer Wamdon die einzige unserer Gemeinschaft, die Gorgan einwandfrei beherrscht. Ich bin keine Aurogaerin, sondern stamme aus Thormain. Wenn es sich ergibt, werde ich dir meine Geschichte erzählen. Aber unterhalten wir uns zuerst über dich. Bist du der Sohn des Kometen?« 47
Mythor verschlug es ob dieser Frage die Sprache. »Wie… wie kommst du darauf?« fragte Mythor verblüfft, als er sich wieder gefaßt hatte. »Das soll Wamdon dir erklären«, entgegnete das Mädchen. »Aber beantworte zuerst meine Frage.« »So einfach kann ich das nicht beantworten«, sagte Mythor vorsichtig. Er überlegte fieberhaft, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte, entschloß sich dann aber für die Wahrheit. Er fuhr fort: »Es gibt einige, die mich für den Sohn des Kometen halten, aber ich selbst bin mir im unklaren. Ich habe bereits drei Stützpunkte des Lichtboten aufgesucht, aber auch dort keine eindeutige Bestätigung erhalten. Nun befinde ich mich auf der Suche nach den weiteren Fixpunkten und bekam dabei einen Hinweis auf den thormainischen Brunnen.« Er zögerte kurz und fragte dann: »Kannst du mir sagen, ob ich hier richtig bin, Royna?« »Das ist Wamdons Sache«, sagte das Mädchen. »Er ist verständigt und wird bald eintreffen. Inzwischen können wir uns über andere Dinge unterhalten. Willst du nicht wissen, wie ich zu den Aurogaern gestoßen bin?« »Doch«, sagte Mythor. Das Mädchen setzte sich neben ihn ans Lagerfeuer und ergriff seine Hände, während es ihm in die Augen blickte. Mythor wurde heiß, und er rückte etwas vom Feuer ab. Royna mißverstand diese Bewegung, ließ sofort seine Hände los und sagte: »Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich dich anstecke. Du siehst doch, daß ich keinen Makel an mir habe. Auch die Aurogaer, wiewohl sie Aussätzige sind, können dir nichts anhaben. Ihre Krankheit ist nicht übertragbar, ich muß das wissen. Sie haben dieses Gerücht nur in Umlauf gebracht, um von den Piraten gemieden zu werden.« »Du hast mich mißverstanden«, versuchte sich Mythor zu rechtfertigen. 48
Aber das Mädchen winkte ab. »Ich will auch sonst nichts von dir«, sagte sie. »Dafür achte ich dich zu sehr. Ich glaube auch, daß du der Sohn des Kometen bist und viel zu schade für mich, die Tochter einer Piratenkurtisane. Als ich in das Alter kam, wollte mich meine Mutter an Argur von Solth verschachern. Aber ich floh aus dem Nest in die Unterwelt und stieß zu den Aurogaern. Hier blieb ich und vermummte mich, um als eine der Aussätzigen zu gelten. Ich habe Gefallen an diesem Leben gefunden. Freilich, manchmal sehne ich mich nach Licht und Sonne. Aber ich bekam schnell genug von dem freien Leben auf der Oberwelt, wenn ich die Grausamkeiten und Gemeinheiten der oben lebenden Menschen mit ansehen mußte.« »Nicht alle sind so verwerflich wie die Piraten«, warf Mythor ein. »Die Aurogaer sind besser.« Royna lächelte verbittert. »Aber das ist meine Sache, damit will ich dich nicht belasten. Wie lautet eigentlich dein Name? Der Name des Kometensohnes wird in den alten Schriften nirgends genannt.« »Mythor«, sagte er. »Meine Zieheltern haben mich so genannt, als sie mich beim Schrei des Bitterwolfs fanden, weil meine Herkunft im dunkeln liegt.« Mythor erzählte in knappen Worten seine Geschichte, sein Leben bei den Marn, die mit ihrer Nomadenstadt durch Salamos und Tainnia nach Norden zogen, wo sich die Yarls nach einem rasenden Lauf mit ganz Churkuuhl über die Klippen von Elvinon ins Meer der Spinnen gestürzt hatten. Er vergaß nicht zu erwähnen, daß die Yarls von Churkuuhl zweifellos von den dunklen Mächten der Schattenzone besessen gewesen waren. Mythor bemerkte, daß ein weiterer Vermummter in den Kreis kam, schenkte ihm aber weiter keine Beachtung. Jetzt sagte der neu Hinzugekommene: »Auch wir Aurogaer sind 49
mit einer Nomadenstadt in den Norden gekommen. Unsere Yarls wählten jedoch den Weg durch die Wildländer, so daß ihre Zahl von den Barbaren stark verringert wurde. Wir erreichten schließlich nur mit drei Yarls die Küste von Eislanden. Dort griffen uns Piraten an. Sie plünderten unsere wandernde Stadt, töteten die Yarls und nahmen uns gefangen. Man brachte hundert von uns als Sklaven nach Thormain. Hier wurden wir Opfer einer geheimnisvollen Krankheit, die einige von uns dahinraffte. Die Überlebenden flohen in die Stadt unter der Stadt. Die meisten der Aurogaer, die du hier siehst, sind Nachkommen dieser Überlebenden, sie haben die körperlichen Makel von ihren Vätern und Müttern geerbt. Ich war beim Untergang von Auroga dabei. Ich war einer der Yarl-Führer. Ich bin Wamdon.« Mythor sprang auf und eilte auf den Vermummten zu. Dieser gebot ihm jedoch mit abwehrend vorgestreckten Armen Einhalt. »Handle nicht voreilig!« sagte Wamdon. »Bei der ersten Begegnung mit meinen Leuten vor wenigen Tagen hast du gesagt, daß dir ihre Häßlichkeit nichts ausmache. Stehst du noch dazu?« »Ich urteile nicht nach Äußerlichkeiten«, sagte Mythor fest. »Für mich zählen andere Werte.« »Das sind schöne Worte, die du beweisen mußt«, sagte Wamdon. »Wenn du dich meinem Anblick gewachsen fühlst, dann komm her, Mythor, und nimm mir die Kapuze ab.« Mythor trat ohne Zögern vor Wamdon hin und zog ihm die Kapuze vom Kopf. Der Anblick, der sich ihm bot, erschreckte ihn im ersten Augenblick doch mehr, als er erwartet hatte, und es kostete ihn Mühe, sich nicht entsetzt abzuwenden. Aber er empfand nicht eigentlich Ekel, sondern es war mehr die Überraschung vor dem Unerwarteten, denn das, was er sah, war unmenschlicher und häßlicher, als er befürchtet hatte. 50
Wamdon hatte anstelle eines Gesichtes nur einen formlosen Klumpen Fleisch, in dem die Augen nach links und rechts verschoben und nach unten versetzt waren. Der Mund mit den rissigen und beulenbesetzten Lippen bildete mit den Augen eine Linie. Die Nasenlöcher lagen darüber und in einem knorpeligen Auswuchs. Der Schädel bestand aus einer Aneinanderreihung von unförmigen Wucherungen und war haarlos. »Ist mein Anblick auch nicht zuviel für dich?« erkundigte sich Wamdon. »Ich könnte mich daran gewöhnen«, sagte Mythor lächelnd. »So spricht nur der Sohn des Kometen«, flüsterte Royna ehrfürchtig. »Vielleicht«, sagte Wamdon. »Wie kommt ihr eigentlich darauf, mich für den Sohn des Kometen zu halten?« erkundigte sich Mythor. »Das ist ganz einfach«, sagte Wamdon und brachte unter den weiten Ärmeln seiner Kutte zwei verkrüppelte Hände zum Vorschein. An der rechten Hand fehlten zwei Finger, die restlichen sahen aus wie knorrige, morsche Wurzeln. Wamdon griff mit beiden Händen nach Mythors Gesicht, der ob der zu erwartenden Berührung die Augen schloß. Er spürte die Rechte sanft seine linke Gesichtshälfte erfassen und die Linke hinter sein rechtes Ohr wandern. Dort verweilte sie kurz, bevor die Fingerkuppen die Narbe betasteten. »Es ist so, wie mir meine Leute berichtet haben«, sagte Wamdon und zog die Hände zurück. Mythor öffnete wieder die Augen und suchte den Blick seines Gegenübers, was nicht leicht war, denn die Augen lagen weit auseinander. Wamdon fuhr fort: »Du hast die kreisrunde Narbe hinter dem rechten Ohr, Mythor, an der man den Sohn des Kometen erkennen soll. Die Zeit ist schon lange reif, und wir haben dein Kommen erwartet.« Die Hand Wamdons legte sich auf Mythors Schulter und 51
drückte ihn wieder zu Boden. Sie setzten sich an die Feuerstelle. Mythor wurde sich erst jetzt bewußt, daß er sich nicht zwischen den mächtigen Steinblöcken der Unterwelt befand, sondern in einem gemauerten Raum, der vermutlich zu einem der verlassenen Häuser rund um den thormainischen Brunnen gehörte. »Woher habt ihr euer Wissen?« erkundigte sich Mythor. »Ich habe die alten Schriften bereits erwähnt«, warf Royna, an Wamdon gewandt, ein. Der winkte ab. »Alles der Reihe nach«, sagte er. »Du wirst schon gehört haben, Mythor, daß Thormain auf einer uralten Gigantenstadt errichtet wurde. Du warst selbst schon in der sogenannten Stadt unter der Stadt. Hier müssen einst Riesen gelebt haben, vielleicht dieselben, die den Titanenpfad erbaut haben. Aber das werden wir nie genau erfahren. Ich habe zwar Aufzeichnungen der Ureinwohner gefunden, aber daraus geht nur hervor, daß sie die großen Steinblöcke als Wehr um den thormainischen Brunnen gebaut haben. Das wiederum zeigt, daß der Brunnen viel älter als selbst die Stadt unter der Stadt ist. In langer, mühevoller Arbeit gelang es mir, diese alten Schriften zu entziffern. Leider sind sie nicht vollständig erhalten, so daß mein Wissen lückenhaft ist. Aber ich erfuhr genug, um mir ein ziemlich klares Bild zu machen und die Zusammenhänge zu erfassen.« Wamdon machte eine kurze Pause und strich sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Mythor schwieg gebannt; er war neugierig, wie die Geschichte weitergehen würde, und konnte es kaum erwarten, bis die Sprache auf den Sohn des Kometen kam. Endlich fuhr Wamdon fort: »Nach allem, was ich erfahren habe, haben die Ureinwohner die Wehr um den Brunnen im Dienst der dunklen Mächte aus der Schattenzone errichtet. Sie wollten damit verhindern, daß der Sohn des Kometen bis zu 52
diesem vordringen konnte. Von ihm geben die Schriften eine recht genaue Beschreibung, die gut auf dich paßt, Mythor. Aber als eindeutiges Merkmal wird eine kreisrunde Narbe hinter dem rechten Ohr genannt, wie du sie hast. Und daran habe ich dich erkannt. In den Schriften steht auch, daß eine Reihe von Abwehrmaßnahmen gegen das Vordringen des Kometensohns vorbereitet wurden und die Riesen sich selbst als Wächter zur Verfügung stellten. Aber seit damals muß unendlich viel Zeit vergangen sein. Die Ureinwohner sind verschwunden, auf den Trümmern ihrer Wehr entstand Thormain. Die Gefahren, die hier einst lauerten, sind nur noch Legende. Nur der Brunnen hat die Zeiten wirklich überdauert.« Wamdon machte wieder eine Pause. Mythor wartete eine Weile ab, aber als der Aurogaer nicht weitersprach, fragte er: »Und welches Geheimnis der Brunnen birgt, steht nicht in den Schriften?« »Doch, aber nichts Genaues«, antwortete Wamdon. »Es heißt, daß tief im Brunnen ein Stein verborgen liege, der einst vom Himmel fiel. In diesem Himmelsstein sei das Geheimnis eingeschlossen, das nur der Sohn des Kometen enträtseln könne. Alles Weitere liegt nun an dir, Mythor.« »Dann muß ich in den Brunnen hinabsteigen«, sagte Mythor. »Aber wie soll ich das bewerkstelligen? Ich würde wie schon beim erstenmal Gefahr laufen zu ertrinken.« »Wir können dir helfen«, sagte Wamdon. Mythor blickte den Aurogaer hoffnungsvoll an und fragte: »Besitzt du magische Kräfte, Wamdon?« »Nein, ich habe keine Beziehung zum Übernatürlichen. Aber dafür kann ich mir die Gesetze der Natur zunutze machen. Ich will dir nicht verhehlen, daß wir selbst schon versucht haben, das Geheimnis des Brunnens zu erforschen. Für diesen Zweck habe ich eine Vorrichtung gebaut. Aber bis jetzt sind alle Versuche gescheitert. Komm mit, Mythor, meine Leute müßten 53
inzwischen die Glocke ins Freie geschafft haben.« Wamdon erhob sich. Mythor blickte zu Royna. Diese schenkte ihm ein Lächeln und bot ihm ihre Hand. Mythor ergriff sie und folgte mit ihr dem Anführer der Aurogaer. Sie kamen durch einen langen Flur ins Freie, und Mythor fand sich auf dem Platz mit dem Brunnen wieder. Von dem flackernden Schein der offenen Feuerstelle war hier nichts zu sehen. »Was ist denn das?« rief Mythor beim Anblick des seltsamen, mannsgroßen Gebildes aus, das neben dem Brunnen auf einem halben Dutzend Rundhölzern stand. »Die Glocke, mit der man in den Brunnen tauchen kann«, erklärte Wamdon nicht ohne Stolz. Die Vorrichtung hatte wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer riesigen Glocke. Sie war jedoch nicht aus Metall gegossen, sondern bestand aus einem hölzernen Gestell, das mit dicken Häuten überzogen und mit einer Teerschicht bestrichen war. An der oberen Rundung befand sich ein eiserner Ring, an dem die Vermummten gerade ein dickes Tau befestigten. Sie überprüften den Knoten, indem sie sich gegen die Glocke stemmten und mit vereinten Kräften zogen. Erst danach warfen sie das Tau über die Winde und hievten die Glocke hoch. Mythor erkannte nun, daß die Glocke unten offen und innen hohl war. Zwei Holzbalken stützten an der unteren Öffnung den Rahmen, und über die Stützbalken war ein Sitzbrett genagelt. »Damit soll man in den Brunnen gelangen können?« fragte Mythor ungläubig. »Die Glocke ist abgedichtet, es kann kein Wasser eindringen«, erklärte Wamdon. »Aber unten ist sie offen!« gab Mythor zu bedenken. »Von unten kann das Wasser die Luft nicht verdrängen und also nicht in die Glocke eindringen«, behauptete Wamdon, 54
und als er Mythors zweifelnden Blick sah, fügte er hinzu: »Das hat nichts mit Magie zu tun. Du kannst mir vertrauen, wir haben die Glocke schon ausprobiert. Allerdings… und das darf ich dir nicht verschweigen… haben bei den Versuchen zwei meiner Leute den Tod gefunden. Aber ich habe die Glocke verbessert.« Mythor sah zu, wie die Vermummten nun, da die Glocke von der Winde in den Brunnen hing, eiserne Gewichte am unteren Rand befestigten. »Warum tun sie das?« wollte Mythor wissen. »Damit die Glocke schwer genug ist, um sinken zu können«, erklärte Wamdon. »Meine Leute werden solange Tau nachlassen, wie die Glocke sinkt. Wenn du aufsteigen willst, dann wirfst du Gewichte ab. Dadurch hebt sich die Glocke, und wenn das Tau nicht mehr straff ist, holen es meine Leute ein. Du kannst dann wieder hochkommen. So einfach ist das.« Mythor biß sich auf die Lippen. So einfach, wie es sich aus Wamdons Mund anhörte, war es gewiß nicht, aber er wollte das Geheimnis des Brunnens ergründen, und da mußte er auch ein Wagnis auf sich nehmen. »Ich werde es versuchen«, sagte er, wie um sich selbst Zuspruch zu geben. Er schwang sich auf den Brunnenrand und wollte nach dem Sitzgestell in der Glocke fassen, um sich hinüberzuziehen, als Wamdon ihm zurief: »Die Kutte wird dir unter Wasser hinderlich sein. Willst du nicht lieber wieder deine Kleider anlegen? Sie sind trocken.« Mythor sprang wieder von der Brunneneinfassung. Royna kam bereits mit einem Bündel und legte es am Brunnenrand ab. Während Mythor die Kutte abstreifte und sie gegen sein eigenes Gewand vertauschte, kehrte Royna ihm den Rücken zu. »Du kannst wieder schauen«, sagte Mythor schmunzelnd, als er in die Felljacke schlüpfte. 55
Royna drehte sich um; ihre Wangen hatte eine leichte Röte überzogen. Sie hielt Mythor etwas hin, das in einen Fetzen eingewickelt war. »Nimm, es soll dir den Weg leuchten«, sagte sie dazu. Mythor nahm den unförmigen Gegenstand entgegen und stellte fest, daß er sehr schwer für seine Größe war, die etwa einer Männerfaust entsprach. Als er den Stoffstreifen hob, sah er es darunter gelblich leuchten. »Der Mondstein leuchtet unter Wasser«, sagte Royna. »Du kannst damit auch an der tiefsten Stelle des Brunnens sehen. Paß auf dich auf, Mythor.« Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Lippen, wandte sich ab und lief davon. Er legte die Fingerspitzen auf den Mund, wie um die Wärme ihrer Lippen festzuhalten, bis er sich bewußt wurde, daß er ihr kein Wort des Abschieds gesagt hatte. Er wollte sie zurückrufen, aber da sagte Wamdon: »Du wirst wiederkommen, Mythor. Ich bin sicher.« Mythor nickte und kletterte von der Brunneneinfassung zur Glocke hinüber. Er setzte sich auf dem Brett zurecht und legte den Stein heben sich. »Vielen Dank für die Hilfe, Wamdon!« rief er unter der Glocke hervor, und seine Stimme hallte dumpf. »Was wir tun, geschieht für alle Menschen der Lichtwelt«, hörte er Wamdon rufen. »Wir lassen dich jetzt hinunter, Mythor. Alles Gute!« Von Mythor ergriff eine seltsame Beklemmung Besitz, als sich die glockenförmige Tauchvorrichtung auf die dunkle Wasseroberfläche des Brunnens hinabsenkte, in der sich der Schein des leuchtenden Steines spiegelte. Das Wasser hatte nun nichts Bedrohliches für ihn, und die Beklemmung rührte auch nicht von dem, was er Schreckliches über den Brunnen gehört hatte. Er war voller Erwartung, aber die Enge der Glo56
cke bedrückte ihn. Seine Sicherheit, sein Leben hing allein von dieser seltsamen Vorrichtung ab, die Wamdon ohne magische Hilfsmittel erbaut hatte. Als Mythors Füße den Wasserspiegel schon fast berührten, kam die Glocke für einen Augenblick zum Stillstand. Von oben drangen Geräusche zu ihm herunter, die wie Kampflärm klangen. Und dann war er sich ganz sicher. Oben wurde gekämpft. Das konnte nur bedeuten, daß die Piraten zurückgekommen waren, um nach ihm zu sehen, und dabei die Vermummten überrascht hatten. Und er saß hilflos in der Glocke! Auf einmal gab es einen Ruck, und die Glocke stürzte nach unten, gerade so, als habe jemand das Tau durchtrennt, an dem sie hing. Mythor holte unwillkürlich Luft, als die Glocke tiefer sank, denn er meinte, daß das Wasser auch im Inneren in gleicher Höhe mit dem Wasserspiegel steigen würde. Doch stellte er zu seiner Erleichterung fest, daß Wamdon wenigstens in diesem Punkt nicht geirrt hatte und kein Wasser in die Glocke drang. Dennoch wurde er immer verzweifelter, je tiefer die Glocke sank: Die Gewichte zogen sie tiefer und tiefer und würden sie, wenn er nichts dagegen unternahm, rasch zum Grund des Brunnens hinabzerren. Aber selbst wenn er einige Gewichte löste, bis die Glocke leicht genug war, um aufzusteigen, war er in ihr und im Brunnen gefangen. Denn das Tau, das die Glocke gehalten hatte, war durchtrennt worden. Diesmal war der Brunnen endgültig für ihn zur Falle geworden. Es war unter diesen Umständen eigentlich egal, wann er mit der Glocke aufstieg. Also konnte er die Reise in die Tiefe fortsetzen und den Brunnen erforschen. Den Gedanken, daß er sein Geheimnis fand und es dann vielleicht in den Tod mitnahm, spann er nicht weiter.
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* Die sieben Flöße waren durch Taue verbunden und trieben in einer Reihe auf dem spiegelglatten Meer. Am vergangenen Tag waren die Flöße in aller Frühe in einer Bucht zu Wasser gelassen worden, und die Strömung trug sie weit ins Meer der Spinnen hinaus. Als an diesem Tag der Morgen graute, war von der Küste nichts zu sehen. Jedes Floß trug rund fünfzig schwerbewaffnete Krieger, die sich um den Mittelpunkt scharten, in dem ein magisches Feuer brannte. Außer den Waffen und dem Rüstzeug war keine Ladung mitgenommen worden. Kein Proviant, kein Tropfen Wasser. Der Hunger begann in den Eingeweiden der Krieger zu nagen, der Durst trocknete ihre Mundhöhlen aus. Der Zorn darüber, daß sie ohne Vorräte fernab vom Land in der Meeresströmung treiben mußten, ohne zu wissen, warum, stand ihnen in die verwegenen Gesichter geschrieben. Der Zorn wandelte sich zur Wut, Hunger und Durst ließen ihre Augen schließlich vor Haß sprühen. Ihre grollenden Blicke galten dem Mann in der Priesterkleidung, der hoch aufgerichtet auf dem mittleren Floß stand und durch die Schlitze seiner Gesichtsmaske auf das ruhige Meer hinausblickte. »Wir sind hungrig«, sagte der Anführer der Kriegerschar. Aber der Priester schien ihn nicht zu hören. Obwohl er aufrecht und steif dastand, war er in sich versunken. »Wir sind durstig, Turwell«, sagte Clingol im Namen seiner Krieger. Turwell, der Caer-Priester, hörte es, aber er fand es noch nicht an der Zeit, zu antworten. Der Dämon, der in seinem Körper wohnte und seinen Geist beherrschte, hatte ihm zum Warten geraten. »Meine Krieger sind ungehalten, Turwell«, sagte Clingol 58
barsch. »Wir wollen zu essen und zu trinken. Und sie wollen wissen, warum sie untätig auf dem Meer der Spinnen treiben müssen.« Jetzt, sag es ihnen!
Turwell drehte sich zu Clingol um und zeigte ihm seine Maske. »Wenn ihr durstig und hungrig seid, dann richtet eure Blicke in die magischen Feuer«, sagte Turwell »Das wird euch stärken, das wird euch unüberwindlich machen. Und die Flammen werden euch alle Fragen beantworten. Ich befehle es dir, Clingol!« Der Befehl eilte von Floß zu Floß, und alsbald starrten die Krieger in die magischen Flammen. Und sobald sie hineinsahen, konnten sie ihre Augen nicht mehr von dem unwirklichen Flammenspiel lassen. Sie vergaßen ihren Hunger, ihren Durst. Sie fühlten sich stark, unüberwindlich. Jeder Krieger wurde so stark, daß er drei Mann ersetzen konnte. Die Flammen wühlten sie auf, brachten sie fast zur Raserei, stachelten ihre Wut ins Unermeßliche an. Aber ihr Haß richtete sich nicht mehr gegen die hoch aufragende Gestalt im Priestergewand, sondern gegen den Feind. Kampf! Turwell nahm die Wandlung des Kriegerhaufens zufrieden zur Kenntnis, und sein Dämon war es auch. Jetzt war er an der Reihe. Es galt, eine magische Brücke zu schlagen und über diese die Beherrscher des nassen Elements zu erreichen. Turwell begann seine Beschwörung. Wie ein Fischer seine Angel oder sein Netz warf Turwell seinen aus Zaubersprüchen gesponnenen Köder aus. Er ließ sein schwarzmagisches Gewebe auf eine weite Fläche der Wasseroberfläche sinken und ins nasse Element eintauchen. Tiefer, immer tiefer, in eine Tiefe, wohin nie ein Strahl Sonnenlicht fiel. Hinunter in die Abgründe des Meeresbodens, wo namenlose Bestien und ab59
scheuliche Ungeheuer ihre Jagdgründe hatten. Das magische Netz erreichte eine Herde dieser Wesen, die die ewige Nacht ihres Reiches nur verließen und zur Meeresoberfläche kamen, wenn sie in ihrem eigenen Revier keine Nahrung mehr fanden. Turwells Magie schlug sie augenblicklich in ihren Bann, versprach ihnen reiche Beute und Befriedigung ihrer mörderischen Triebe. Und er holte den Köder ein und zog einen Schwarm blutgieriger und heißhungriger Meeresbewohner mit. Auf einmal begann das eben noch ruhige Meer zu schäumen und zu brodeln. Schuppige Schädel auf langen Hälsen stießen aus dem Wasser hervor, schlangengleiche Körper peitschten zuckend durch die Luft. Aber Turwell hatte das magische Netz sicher im Griff. Er bändigte die wilde, ungestüme Meute und lenkte sie schließlich wie ein Kutscher sein Pferdegespann. Auf den schaukelnden Flößen regten sich die Krieger nicht. Sie starrten in die magischen Flammen, die sie sättigten und ihren Durst löschten, die sie stärkten und ihnen übermenschliche Kräfte gaben. Und die magischen Flammen bewirkten, daß aus jedem Mann drei Krieger wurden. So strebten die sieben Flöße, im Schlepptau des magischen Netzes und von riesigen Seedrachen gezogen, dem Land zu. Es war eine rasende Fahrt. Eine unheimliche Fahrt ohne Wind und Segel, die nur kraft der Schwarzen Magie von Turwells Dämon zustande kam und an deren Ende die Krieger der ersehnte Kampf erwartete. * Als Argur von Solth berichtet wurde, daß der caerische Ritter 60
durch nichts zum Sprechen zu bringen sei, machte er sich auf in den Kerker. Es gefiel dem »König der Meere« nicht, daß er dabei gestört wurde, als er gerade durch List und Tücke versuchte, die schöne Kalathee herumzubekommen. Sie beharrte noch immer darauf, zusammen mit ihrem Milchbruder Mythor ein magisches Gelübde geleistet zu haben. Argur hätte die Wahrheit herausfinden können, indem er ihr einfach Gewalt antat. Doch im Fall, daß sie nicht log, hätte magisches Feuer ihn verzehrt, und daran lag ihm wenig. So versuchte er ihre Aussage im Verhör zu erschüttern. Aber sie blieb bei ihrer Behauptung. O’Marn kann eigentlich auch nicht hartnäckiger sein, dachte Argur, wozu noch kam, daß man es mit dem Ritter einfacher hatte, weil man ihn foltern konnte. Kalathee dagegen wollte er nicht verstümmeln. Argur fand O’Marn in der Folterkammer vor. Der Ritter baumelte an Ketten mit dem Kopf nach unten. Gaymon heizte gerade ein Kohlenbecken an. Ein anderer Folterknecht richtete Reißwerkzeuge und Brandeisen her. Nyala von Elvinon lag auf dem Streckbett, aber am Rad war noch nicht gedreht worden. Nottr, der Wilde aus dem fernen Osten, steckte mit beiden Beinen in Zwingen, aber man war noch nicht dazu gekommen, sie ihm zu quetschen. Sadagar hatte ein Würgeeisen um den Hals. Seine Schultern waren entblößt. Welleynn, der neben dem Steinmann stand, gab einem Folterknecht ein Zeichen, damit er ihm die Schultern durchbohre. Als Sadagar das merkte, verlor er die Besinnung, und Welleynn gebot dem Gehilfen enttäuscht Einhalt. Argur war froh, daß die Folterung noch nicht begonnen hatte. Er konnte schon lange kein Blut mehr sehen, und die Schreie der Gepeinigten setzten ihm arg zu. Er ging zu O’Marn, legte den Kopf schräg und sagte: »Ei61
gentlich würde ich dir lieber gerade ins Gesicht sehen, Ritter, wenn ich mich mit dir unterhalte.« »Ich habe dir nichts zu sagen«, erwiderte Coerl O’Marn. »Das war mein letztes Wort.« »Du wirst noch um ein Gespräch mit mir betteln«, sagte Argur von Solth und gab Gaymon ein Zeichen. Der Knochenbrecher ließ von dem Becken mit der Glut ab, rückte sich Gesichtsmaske und Schürze zurecht und kam zu O’Marn. Mit ein paar schnellen Griffen entledigte er ihn seines Kettenhemdes und seines leinenen Untergewandes und warf alles achtlos in eine Ecke. »Wie gehst du vor?« fragte Argur mit belegter Stimme und blickte dabei zur Seite. Dabei fiel sein Blick auf Nyala, und er dachte, daß dieses üppige Mädchen eigentlich zu schade für die Folterkammer sei. Gaymon zupfte O’Marn an den grauen Brusthaaren und riß ihn dann am Haupthaar, doch der Ritter verzog keine Miene. »Zuerst werden wir ihm die Körperhaare versengen«, erklärte Gaymon. »Dann werde ich ihn mit glühenden Zangen reißen. Wenn das nichts hilft, dann werde ich…« »Genug!« befahl Argur. Er hatte Nyala beobachtet, und es war ihm aufgefallen, wie sie bei Gaymons Worten zusammengezuckt war, als hätte er diese Torturen bereits vorgenommen. »Hast du gehört, O’Marn?« sagte Argur zu dem Ritter. »Du könntest dir das alles ersparen, wenn du uns verrätst, was dein Volk vorhat. Ein Mann deines Standes muß wissen, ob und wann und wo die Caer einen Überfall auf Thormain planen. Wenn du uns das verrätst und uns Vorschläge unterbreitest, wie wir uns am besten verteidigen können, bist du ein freier Mann.« Coerl O’Marn schwieg. »Genausogut könnte man einen Granitblock beschwatzen«, sagte Gaymon. »Aber ob er auch schweigt, wenn ich ihn be62
handle?« »Doch, denn ein Ritter wie er fürchtet weder Schmerz noch den Tod«, sagte Argur. »Aber ob er auch stumm bleiben wird, wenn er mit ansehen muß, wie dasselbe mit seinem Liebchen geschieht?« O’Marns Gesicht blieb auch bei diesen Worten ausdruckslos, und er zeigte durch nichts an, ob Argur seinen wunden Punkt getroffen hatte. Argur ging zum Streckbett und beugte sich über Nyala. »Eigentlich schade, daß so viel Schönheit in einer Folterkammer zerstört werden soll«, sagte er in scheinheiligem Bedauern. Nyala sagte kein Wort. Sie kräuselte die Lippen – und dann spuckte sie ihm ins Gesicht. Argur fuhr mit einem zornigen Aufschrei zurück. Er blickte wie rasend um sich, sah, wie Gaymon gerade eine Zange ins Kohlenbecken hielt, um sie zum Glühen zu bringen. Er stürzte hinzu, um sie ihm aus der Hand zu reißen. Doch dazu kam er nicht mehr. Die Kerkertür flog auf, und eine Wache erschien darin. »Caer!« Argurs Wut verrauchte. »Schon wieder eine Vorhut?« fragte er. »Nein, diesmal handelt es sich um eine größere Streitmacht«, berichtete der Wachtposten atemlos. »Von See aus nähern sich große Flöße, die von Ungeheuern gezogen werden. Ganz Thormain ist in Aufruhr!« Argur wandte sich ab. »Keiner rührt die Gefangenen an!« befahl er. »Wir brauchen sie lebend!« Dann winkte er Welleynn, und gemeinsam verließen sie den Kerker. * Argur von Solth stand mit Welleynn am höchsten Turm des 63
Nestes und überblickte von dort die Situation. Weit draußen auf dem Meer der Spinnen näherte sich Thormain eine seltsame Flotte. Die vorderste Front wurde von gewaltigen schlangenähnlichen Wesen gebildet, deren geschuppte Schädel gezackte Kämme aufwiesen. Vorne wuchsen ihnen Beine aus dem Hals, die sie wie im Laufen nach vorne stießen. Aus den Seiten der Schlangenkörper wuchsen große Flossen, mit denen sie das Wasser peitschten und die sie wie Galeerenruder im Takt schlugen. In ihrem Schlepptau hatten sie insgesamt sieben große Flöße, die von Kriegern dicht besetzt waren. In der Mitte eines jeden Floßes brannte ein helles Feuer, dessen Schein sich in den Waffen der Krieger spiegelte. Aus dem Hafen erklang das Tuten der Alarmhörner. »Schiffe klar zum Auslaufen!« befahl Argur dem Herold hinter ihnen. Dieser blies dreimal hintereinander in sein Horn. Das Folgetonzeichen wurde von anderen Herolden aufgenommen und immer wiederholt. »Das ist eine lächerlich kleine Streitmacht, die die Caer gegen uns aufzubieten haben«, sagte Argur von Solth spöttisch. »Es können nicht mehr als fünfhundert Mann sein. Ha, wir werden die Flöße auf See abfangen und diese ganze Bande ertränken.« »Vergiß die Seeungeheuer nicht!« mahnte Welleynn mit besorgter Stimme. »Das ist nicht der Angriff eines herkömmlichen Kriegerheers. Hier ist Magie mit im Spiel.« Argur wurde für einen Moment unsicher, dann winkte er herrisch ab. »Wir haben einhundertzwanzig Kriegsschiffe gegen sieben Flöße aufzubieten«, sagte er. »Nicht einmal Drudins Magie wäre imstande, dies wettzumachen. Sieh, die ersten Schiffe laufen aus. Nein, mir ist nicht bange vor dieser Schlacht.« »Es ist nur die Frage, ob alle Schiffe rechtzeitig aus dem Ha64
fen kommen«, meinte Welleynn. »Es herrscht fast völlige Windstille.« Argur mußte dem Scharfrichter recht geben. Die Segel der Schiffe hingen schlaff von den Masten. Die Mannschaften mußten zu den Rudern greifen, um sie überhaupt von der Stelle zu bringen. Hinzu kam noch, daß die Schiffe einander im Wege waren. Solche Schwierigkeiten hatten die Caer nicht. Die Windstille konnte ihnen überhaupt nichts anhaben, denn ihre Flöße wurden von den Seedrachen gezogen, die eine schier unglaubliche Geschwindigkeit entwickelten. Noch ehe ein Dutzend Schiffe den Hafen verlassen hatten, waren die Seedrachen heran. Sie schwärmten fächerförmig aus und suchten sich Lücken zwischen den Schiffsbäuchen. Plötzlich aber peitschten sie ihre Schlangenkörper nach links und rechts und schleuderten sie wuchtig gegen die Breitseiten der Schiffe. Argur konnte es bis zum höchsten Turm des Nestes herauf krachen hören, als die starken Planken zersplitterten. Die Seedrachen aber schwammen weiter und zogen die Flöße ungehindert hinter sich her. »Die Seeschlacht findet nicht statt«, stellte Welleynn fest. »Im Hafen sind sich unsere Schiffe nur gegenseitig im Wege und laufen zudem noch Gefahr, von diesen Seeungeheuern zertrümmert zu werden. Du mußt den Befehl zum Rückzug geben, Argur!« Aber der »König der Meere« war nicht in der Lage, irgendeinen Befehl zu geben. Fassungslos mußte er mit ansehen, wie die Seedrachen das Hafenbecken in gerader Linie durchpflügten und die im Wege stehenden Schiffe zerschmetterten. Die Flöße mit den caerischen Kriegern wurden längst nicht mehr von den Ungeheuern gezogen. Sie trieben in den Hafen hinein und auf die inneren Kaimauern zu. Kaum legten sie an, 65
als die Caer auch schon ihre Gefährte verließen und an Land stürmten. Die wenigen Piraten, die sich ihnen in den Weg stellten, wurden einfach niedergerannt. »Ein Glück, daß die Warnung zu spät kam und wir nicht alle Schiffe ausreichend besetzen konnten«, sagte Welleynn. »Denn sonst hätten wir nicht mehr genügend Leute, um die Stadt zu verteidigen.« »Herold, blas zum Rückzug!« befahl Argur, als sei er aus einem Traum erwacht und erkenne die bedrohliche Lage erst jetzt. »Wir schließen die Tore. Sollen sich die Caer an den Stadtmauern die Schädel einrennen.« Wieder erschollen die Hörner. Aber es war gar nicht mehr nötig, die Piraten dazu aufzufordern, sich innerhalb der Stadtmauern zurückzuziehen. Sie hatten erkannt, daß sie außerhalb der Stadt auf aussichtslosem Posten standen, und flohen vor den heranrückenden Ungeheuern, die den wie besessen kämpfenden Caer vorauseilten. Viele der Piraten fielen, bevor sie die sicheren Stadttore erreichten. Sie wurden entweder von den Ungeheuern niedergewalzt, von ihren Klauen erschlagen oder durch die Luft geschleudert, oder sie sahen sich rasenden Caer gegenüber, die ihnen keine Gelegenheit zur Gegenwehr gaben. »Was kann diese Macht aufhalten?« sagte Welleynn wie zu sich selbst. »Es gibt nichts in der Welt, was man der Magie der Caer-Priester entgegenhalten könnte.« Argur wirbelte herum und schlug dem Scharfrichter den flachen Handrücken ins Gesicht. »Kluge Reden führen, das kannst du!« schrie er ihn an. »Aber noch ist Thormain nicht gefallen. Die Caer haben uns überrascht, das ist alles. Wenn sich unsere Leute erst gesammelt haben, dann werden sie es ihnen schon zeigen. Wir Thormainer verstehen immer noch zu kämpfen.« Argur drehte sich wieder um und blickte zum Hafen hinun66
ter. Der Rückzug war abgeschlossen, die Piraten hatte sich hinter die Mauern zurückgezogen. Argur ballte die Hände und lächelte grimmig. »Jetzt werden wir uns verteidigen!« sagte er. Aber das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, die gerade noch empfundene Zuversicht wandelte sich in blankes Entsetzen, als er sah, was sich dort im Hafen anbahnte. Dort stand auf einem der Wehrtürme eine schwarzverhüllte Gestalt, deren Umhang silbrig schimmerte und deren Gesicht im Rot einer Maske leuchtete. Ein Caer-Priester! Argur schleuderte ihm einen wütenden Fluch entgegen, als er sah, wie der Caer-Priester beschwörend die Arme durch die Luft schlenkerte. Und dann geschah das Unglaubliche. Die Seeungeheuer sammelten sich zu einer Linie und setzten sich in Richtung der Stadtmauer in Bewegung. Sie verfielen in immer schnelleren Lauf, als ziehe sie dieses auch für sie unüberwindliche Hindernis magisch an. Argur widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen, als die schweren Körper wuchtig gegen die Mauer prallten. Es gab ein dumpf dröhnendes Geräusch, die Ungeheuer zuckten unter unnatürlichen Verrenkungen und brüllten markerschütternd auf. Für Argur und für alle, die das Gebrüll dieser Kreaturen hörten, war klar, daß der Caer-Priester sie in den Tod getrieben hatte. Aber sie hatten durch die Wucht des Aufpralls nicht nur ihr Leben gegeben, sondern auch die Mauer eingerannt. Argur konnte sehen, wie die Mauer Risse bekam und sich dann nach innen senkte und krachend einstürzte, die Piraten mit sich reißend, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Die Ungeheuer hatten eine Bresche von gut sieben Mannslängen geschlagen. Dort tauchten nun die Caer-Krieger auf, kletterten über die Trümmer der Mauer und über die zuckenden Leiber der Un67
geheuer hinweg und drangen durch die Bresche in Thormain ein. »Welleynn!« Als der Scharfrichter keine Antwort gab, drehte sich Argur um. Aber er war mit dem Herold allein. »Welleynn, du Schuft!« schrie Argur und stürzte zur Wendeltreppe und diese hinunter. Er war sicher, daß der Scharfrichter alles für eine Flucht vorbereitet hatte. Und was sollte aus ihm werden? Das Nest ließ sich gut verteidigen, so daß er sich mit seinen Leuten einige Zeit würde halten können. Aber was war danach? In seiner Verzweiflung fielen ihm die Gefangenen ein, und in seinem Kopf nahm die Idee Form an, sie den Caer im Austausch für freies Geleit anzubieten. Aber noch war Thormain nicht gefallen. Dreitausend Piraten, die weder Tod noch Dämonen fürchteten, sollten es doch mit einem kümmerlichen Haufen Caer-Kriegern aufnehmen können. Argur von Solth ließ noch nicht alle Hoffnung fahren, aber er baute für den Fall vor, daß seine schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheiteten. * Mythor hielt den Lichtstein mit einer Hand ins Wasser, so daß er gegen sein Gesicht abgedeckt war, ihn nicht blenden konnte und nur nach unten schien. Das Wasser war gar nicht so dunkel, wie es ihm beim erstenmal vorgekommen war. Aber Unreinheiten trübten es. Von irgendwelchen gefräßigen Ungeheuern war nichts zu sehen. Doch vielleicht warteten sie weiter unten auf ihn? Die Glocke sank ziemlich rasch tiefer. Mythor schätzte, daß er sich nun schon vier Mannslängen unter dem Wasserspiegel 68
befand. Die Mauer des Brunnenschachts war mit einer grünlichen, schleimigen Schicht überzogen. Herausragende Pflanzenfasern wogten wie im Wind leicht hin und her. Plötzlich sah Mythor unter sich in der Wand einen dunklen Fleck, der einigermaßen rund war und eine Armspanne groß. Er richtete das Licht des Steines darauf und erkannte, daß es sich um eine Öffnung handelte, offenbar um einen Stollen, der seitlich aus dem Brunnenschacht führte. Die Glocke war nun schon fast auf Höhe dieses Stollens. Mythor überlegte nicht lange. Kurz entschlossen glitt er vom Sitzbrett, tauchte kopfüber unter der Glocke hindurch und schwamm auf die Öffnung in der Wand zu. Beinahe hätte er sich verschätzt und die Öffnung verfehlt, denn er bekam einen starken Auftrieb. Aber er schaffte es gerade noch, den Kopf unter den Mauerrand zu senken und durchzutauchen. Den Leuchtstein vor sich haltend, schwamm er mit kräftigen Stößen in den Stollen hinein. Dieser führte kurz geradeaus, machte dann einen leichten Knick und führte in flachem Winkel nach oben. Irgendwann, so hoffte er, mußte der Stollen aus dem Wasser führen. Aber Mythor schwamm und schwamm, ohne den Wasserspiegel zu erreichen. Der Stollen führte noch immer schräg nach oben, aber im Schein des Leuchtsteins war kein Ende abzusehen. Mythor kam in Atemnot. In seinem Brustkorb tobte ein stechender Schmerz. Vor seinen Augen tanzten Kreise, und er konnte kaum mehr sehen. Seine Bewegungen wurden immer lahmer, er stieß gegen die seitliche Wand und schlug sich den Kopf an. Der Schmerz klärte für einen Moment seine Sinne, gerade so lange, daß er das Ende des Stollens knapp vor sich sehen konnte. Es ging auf einmal nicht weiter! 69
Entsetzt dachte Mythor, daß er nun den Stollen wieder zurückschwimmen müsse, um in den Brunnen zu gelangen. Die Tauchglocke würde natürlich schon längst abgesackt sein, so daß er zusätzlich noch die gesamte Länge überwinden mußte, um die Oberfläche des Brunnenwassers zu erreichen. Das schaffte er nie! Ihm ging jetzt schon die Luft aus. Ein Schwindel erfaßte ihn, und in seiner Todesangst schlug er um sich und stieß sich nach oben ab. Statt wie erwartet gegen ein Hindernis zu stoßen, trieb er nach oben weiter und drang auf einmal völlig unerwartet ins Freie. Er konnte atmen. Luft – er sog sie gierig und geräuschvoll ein. Er war noch ganz benommen, für eine Weile wie berauscht. Dann legte sich der Schwindel, die Sehkraft seiner Augen kam zurück. Mythor merkte erleichtert, daß er den Leuchtstein noch immer umklammert hielt. Er hob ihn aus dem Wasser und erkannte in seinem Schein, daß er sich in einem Gewölbe befand. Das Becken, in dem er trieb, war nicht groß; es hatte höchstens einen Durchmesser von sieben Schritten. Und abgesehen von dem Loch, durch das er eingedrungen war, war es so seicht, daß er bis zum Beckenrand waten konnte. Er tat es und ließ sich dann erschöpft zu Boden sinken. Während er seine Kräfte sammelte, blickte er um sich. Das Gewölbe war nicht gemauert, sondern aus dem Stein herausgewaschen. Die Wände waren glatt und geschwungen. Im Hintergrund waren drei übermannsgroße Höhlen zu sehen, wie für Riesen geschaffen. Die Durchgänge unterschieden sich so stark von der Grotte, daß es für Mythor gar keinen Zweifel über ihre Herkunft gab – sie waren künstlich erschaffen worden. Von wem? Von jenen Riesen, die die mächtigen Grundsteine für Thormain gelegt hatten? Mythor erhob sich und betrat die mittlere Höhle. Der Stein 70
leuchtete weit in sie hinein und zeigte ihm, daß sie etwa zwanzig Schritt geradeaus führte und dann nach rechts abzweigte. Die Wände bestanden aus fugenlosem Fels. Hinter der Biegung mündete die Höhle in eine andere, noch größere, und diese endete bald in einem großen Gewölbe, das aus dem Fels herausgeschlagen worden war. Ein kurzer Rundblick zeigte ihm, daß er sich offenbar an einer uralten Kultoder Opferstätte befand. Der Boden war eben und glattgeschliffen. Daraus ragten einige Felsblöcke hervor, die eckig waren und scharfe Kanten hatten. Sie schienen mit dem Boden verschmolzen, und so lag die Vermutung nahe, daß sie mit dem Gewölbe eine Einheit bildeten. An einer Wand war eine breite Treppe aus dem Fels gehauen, deren Stufen jede einen Schritt hoch war und nicht für normalgewachsene Menschen gebaut war, sondern für Riesen. Oder aber es war gar keine Treppe, sondern eine siebenstufige Terrasse. Die Stufen verjüngten sich nach oben und endeten vor einem oben abgerundeten Portal, das drei Mannslängen breit und vier hoch war. Der große Torbogen paßte zu den hier herrschenden Größenverhältnissen; hier war alles riesenhaft. Während Mythor die Stufen zum Portal hochkletterte, mußte er unwillkürlich an die Gruft der Gwasamee denken. Auch diese war als Ganzes aus einem riesigen Fels gehauen worden, wenngleich es sich um einen edleren Stein gehandelt hatte. Bedeutete dies, daß es sich hier ebenfalls um einen Fixpunkt des Lichtboten handelte? Aber warum war hier alles ins Riesenhafte vergrößert? Mythor mußte daran denken, was ihm Wamdon über die Ureinwohner dieses Gebiets gesagt hatte. Der Aurogaer war überzeugt, daß es sich bei ihnen um Diener der dunklen Mächte gehandelt hatte, die das Werk des Lichtboten zunichte ma71
chen wollten. Demzufolge hätte dies ein Stützpunkt des Lichtboten sein können, den die Riesen auf ihre Bedürfnisse abgestimmt und entfremdet hatten. Mythor spürte Enttäuschung in sich aufkommen. Wenn er nun zu spät kam und das Vermächtnis des Lichtboten nicht mehr vorfand? Wenn statt dessen die Dämonen ihre böse Saat hinterlassen hatten…? Er kämpfte gegen die wachsende Verzweiflung an und sagte sich, daß er sich erst mal umsehen mußte, um die Lage zu erkunden, bevor er voreilige Schlüsse zog. Da war der Torbogen. Mythor überwand die letzte Stufe. Er blickte zu dem Portal hoch und kam sich darunter wie ein Zwerg vor. Langsam senkte er den Blick und richtete das Licht des Steines nach vorne. Hinter dem Portal lag ein kurzer Gang, der zu einer Nische führte. Dort stand auf einem steinernen Sockel ein annähernd eiförmiges Gebilde, das ebenfalls aus Stein zu bestehen schien. Aber einen solchen Stein hatte Mythor noch nie gesehen. Er wirkte brüchig und besaß eine zerfurchte und löchrige Oberfläche. Er erinnerte Mythor an erkaltete Lava, an Schlacke – und doch war er irgendwie anders. Die vielen großen und kleinen Löcher wirkten wie zerplatzte Blasen, die erstarrt waren. Das mußte der Himmelsstein sein, von dem Wamdon erzählt hatte. Beim Näherkommen stellte Mythor im Schein des Lichtsteins fest, daß in den Himmelsstein ein derbes Gesicht gehauen worden war. Im Spiel von Licht und Schatten erkannte er den drohend nach unten gezogenen Mund, eine breite, flache Nase und die Augen. Diese Augen… es waren im Grunde genommen nur zwei Löcher, wie sie der Himmelsstein in großer Zahl aufwies, de72
ren Umrisse mit dem Meißel verfeinert worden waren. Das Besondere dieser Augen war jedoch das zunehmende Leuchten, das aus ihrer Tiefe drang, je näher ihnen Mythor kam. Zuerst waren sie ihm als zwei leere, dunkle Höhlen erschienen, die das Abstoßende dieser steinernen Fratze nur unterstrichen. Doch mit jedem Schritt, den er darauf zumachte, milderte sich dieser Eindruck durch das sich verstärkende Leuchten. Und jetzt, als er keine zwei Schritte mehr entfernt war, erstrahlten die beiden Augen in hellem Glanz. Es glitzerte und funkelte darin das Feuer von zwei großen Edelsteinen, und dieses Lichterspiel hatte eine beruhigende Wirkung auf Mythor. Er wußte auf einmal, daß nicht der Himmelsstein selbst maßgebend war, sondern daß es nur auf diese beiden Leuchtfeuer ankam. Ihre sanfte Ausstrahlung vermittelte ihm den Eindruck, als habe der Lichtbote selbst sie hinterlassen, und er wußte, daß er am Ziel war. Die Diener der dunklen Mächte hatten den Himmelsstein selbst in eine Dämonenfratze verwandeln können, aber sie vermochten nicht, das Licht des Guten abzutöten. Alles Widerwärtige und Böse verblaßte neben diesen Lichtern. Mythor war ehrfürchtig stehengeblieben; die Hand mit dem Leuchtstein hing an seiner Seite herab. Er brauchte ihn jetzt nicht mehr, da das Licht des Lichtboten ihn traf. Und während er im Schein der feurigen Steine badete, da war ihm, als sehe er in dem rechten Auge eine Bewegung. Er blickte genauer hin und erkannte auf einmal ganz deutlich, daß er sich nicht geirrt hatte. Die farbensprühenden Lichter des Edelsteins formten sich zu einem Bild von erhabener Schönheit und majestätischer Bewegung. Es schlug Mythor augenblicklich in seinen Bann. * 73
»Diese verdammten Caer haben uns um unser Vergnügen gebracht«, sagte einer der Folterknechte, nachdem Argur von Solth und Welleynn den Kerker verlassen hatten. »Die Schlacht kann Tage dauern, und wir müssen dieses Pack so lange durchfüttern.« Er meinte damit Coerl O’Marn, Nyala von Elvinon, Nottr und Steinmann Sadagar. Gaymon, der Kerkermeister mit dem Metzgerschurz und der ledernen Gesichtsmaske, stieß ein Brandeisen in die Glut des Kohlenbeckens, daß diese aufspritzte. »Wir werden schon dafür sorgen, daß uns nicht langweilig wird«, sagte er durch den Sprechschlitz seiner fratzenhaft bemalten Maske. »Aber Argur hat geboten, daß wir uns nicht an den Gefangenen vergreifen dürfen«, sagte ein anderer Folterknecht. »Daran werde ich mich halten«, sagte Gaymon lachend und schürte mit dem Brandeisen in der Glut. »Ich werde keinen der Gefangenen berühren, wenn ich ihnen einheize. Und Argur wird es mir nachträglich danken, wenn ich sie zum Sprechen bringe.« »Das nützt uns jetzt nichts mehr«, wagte ein Gehilfe einzuwenden und bekam gleich darauf Gaymons Faust zu spüren. O’Marn hing noch immer mit dem Kopf nach unten an Ketten von der Decke, Nyala lag auf dem Streckbett. Nottrs Beine steckten in einer Zwinge, und Sadagars Hals wurde von einem Würgeeisen umspannt. Der Steinmann, der ohnmächtig geworden war, als er hörte, daß er geschultert werden sollte, kam gerade wieder zu sich. Er richtete sich auf, wurde jedoch vom Gewicht des Würgeeisens wieder zurückgeworfen. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich aufzusetzen. Er blickte verwirrt um sich und atmete auf, als er feststellte, daß er sich noch nicht unter dem Schultergalgen befand. 74
»Hast du noch gesunde Beine, Nottr?« erkundigte sich der Steinmann bei dem Lorvaner. »Ich fürchte, nicht mehr lange«, sagte Nottr. »Der Knochenbrecher wird seinem Namen alle Ehre machen. Aber ich weiß jetzt, wie er ihn bekommen hat. Er kann nur Wehrlosen, Frauen und Greisen die Knochen brechen.« »Mit dir nehme ich es auch im Zweikampf jederzeit auf«, sagte Gaymon grollend. »Wenn du dich beim Nöffen-Wirt nicht besoffen hättest, hätte ich dich längst in Stücke gerissen. Und dir wäre wenigstens die Folter erspart geblieben.« »Dhalin hat mich mit seinem Wein vergiftet«, sagte Nottr. »Und das war deine Rettung.« Gaymon spannte sich an und blickte zu Nottr. Er sah ihn lange an. »Seid friedlich«, versuchte Sadagar zu vermitteln. »Ich wüßte einen Weg, um uns gütlich mit Gaymon zu einigen. Ich bin sicher, daß er viel umgänglicher wäre, wenn er Haare hätte. Ich könnte mit Hilfe des Kleinen Nadomir dafür sorgen, daß du deine Haarpracht zurückbekommst, Gaymon.« »Und ich kann dafür sorgen, daß du deine verlierst«, versetzte der Kerkermeister, ohne Nottr aus den Augen zu lassen. An diesen richtete er auch seine nächsten Worte. Er sagte nachdenklich: »Du glaubst wirklich, du räudiger Barbar, daß du es mit mir aufnehmen könntest?« »Ohne diese Zwinge und mit freien Händen jederzeit«, sagte Nottr. »Ich werde dir den Hals umdrehen, daß du dein schmutziges Hinterteil betrachten kannst.« Gaymon schleuderte mit einem wütenden Aufschrei das Brandeisen von sich und traf damit fast einen Gehilfen. »Gaymon, laß das!« rief ein anderer Folterknecht. »Du weißt, was Argur befohlen hat!« »Zum Taitan mit ihm!« schrie der Kerkermeister. Er erreichte mit einigen großen Schritten Nottr und blickte haßerfüllt auf 75
ihn hinab. »Wir kommen nicht drum herum. Das muß geregelt werden.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Nottr spöttisch, »dich wie einen räudigen Hund durch den Kerker zu jagen.« Aus dem Hintergrund meldete sich wieder einer der Gehilfen, um Gaymon zur Vernunft zu bringen. Aber der Kerkermeister ließ ihn nicht aussprechen. »Verschwindet!« brüllte er. »Alle! Ihr stört mich. Haut ab, oder ich…« Die Folterknechte setzten sich eilig in Bewegung. Sie flohen die Treppe hinauf und aus dem Kerker. Ihre Schritte verhallten, die schwere Tür fiel hinter ihnen zu. »So, Barbar, jetzt sind wir unter uns«, sagte Gaymon und beugte sich zu der Beinzwinge hinunter. Gemächlich öffnete er den Verschluß. Als Nottrs Beine frei waren, ergriff er seine Arme und durchschnitt die Handfesseln. Kaum war Nottr frei, als Gaymon auch mit der anderen Hand zugriff, Nottr packte und ihn durch den Kerker schleuderte. Nottr fiel gegen das Kohlenbecken und riß es um. Die Glut spritzte nur so davon. Zum Glück wurde Coerl O’Marn von keinem der glühenden Kohlenstücke getroffen. »Wollen wir nicht doch lieber zu einer gütlichen Einigung kommen?« meldete sich Sadagar. Gaymon stieß einen Wutschrei aus, packte den Steinmann an seinem Halseisen und schleuderte ihn gegen die Wand. »He, Gaymon, hier bin ich!« rief Nottr, ergriff eine von der Decke hängende Kette und schwang sich daran in Richtung des Kerkermeisters. Als Gaymon sich ihm zuwandte, trafen ihn Nottrs vorgestreckte Beine in den Unterleib und hoben ihn aus dem Stand. Gaymon wurde durch die Luft gewirbelt und schlug bäuchlings auf. Aber er war sofort wieder auf den Beinen. »Bist du so häßlich, daß du dein Gesicht hinter einer Maske 76
verbergen mußt?« spottete Nottr. Aber wenn er geglaubt hatte, damit Gaymons wunden Punkt zu treffen, so war er im Irrtum. Der Kerkermeister lachte und sagte: »Nein, ich bin so schön. Paß auf, Barbar!« Gaymon entledigte sich seiner Maske. Darunter kam ein glattes, faltenloses Gesicht mit großen Augen, sanft geschwungener Nase und vollen Lippen zum Vorschein. Es war in der Tat ein schönes Gesicht mit fast feminin zu nennenden Zügen. Gaymon legte nun auch seinen Lederschurz ab, der seine Brust und seinen Unterleib bedeckt hatte. Darunter war er nackt. Nottr wollte seinen Augen nicht trauen. Gaymon hatte zwar die Statur eines Mannes, aber das Geschlecht einer Frau. »Ein Weib!« rief Nottr überrascht aus. »Darum verbirgst du dich hinter einer Maske. Was werden deine Folterknechte sagen, wenn sie das erfahren?« »Keiner von euch wird mehr Gelegenheit haben, mein Geheimnis zu verraten«, antwortete Gaymon. »Warum, glaubst du, habe ich meine Gehilfen weggeschickt?« Die beiden Kämpfer umlauerten einander. Nottr ließ sich nicht von Gaymons Worten täuschen. Er sah, wie die haarlose Riesin noch während des Sprechens ihre Muskein anspannte und dann unvermittelt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zustürmte. Dieser Angriff war ganz auf das Überraschungsmoment ausgerichtet und wurde entsprechend ungestüm vorgetragen. Nottr hatte keine Mühe, unter den Armen durchzutauchen und zur Seite zu springen. Dabei zog er das eine Bein nach, so daß Gaymon darüber stolperte und der Länge nach über den Boden glitt – genau in ein vor ihr liegendes Glutnest. Nottr nutzte die Gelegenheit, um zum Streckbett zu eilen und Nyala von den Stricken zu befreien. Kaum hatte er das getan, als Gaymon zum nächsten Angriff überging. Der weibliche Kerkermeister hatte sich mit einer Hellebarde bewaffnet 77
und ging damit auf Nottr los. »Du hast geglaubt, mich mit deinem Geschlecht blenden zu können«, sagte Nottr, während er vor der Waffe zurückwich, mit der Gaymon ungestüm nach ihm schlug. »Aber bei meinem Volk kämpfen die Frauen wie die Männer. Darum kann ich mich auf dich einstellen. Es ist keine Schande, einen weiblichen Gegner zu haben.« »Auch, von ihm in Stücke geschlagen zu werden?« fragte Gaymon. Nottr gelang es, den Schaft der Hellebarde zu fassen. Er versuchte, Gaymon die Waffe zu entreißen. Eine Weile rangen sie miteinander, ohne daß einer von ihnen Vorteile für sich verzeichnen konnte. Aber dann spürte Nottr, wie Gaymons Druck immer stärker wurde und sie ihn langsam, aber sicher zurückdrängte. Wie verärgert er über seine Schwäche auch war, Nottr konnte sich der Tatsache nicht verschließen. Er wußte, daß er durch die Gefangenschaft geschwächt und Gaymon ihm kräftemäßig überlegen war. Darum mußte er versuchen, dies durch eine List wettzumachen. Nottr ließ sich auf einmal nach hinten fallen und riß Gaymon mit, die zu spät merkte, was er im Schilde führte, und darum ihr Gewicht nicht mehr verlagern konnte. Nottr rollte sich nach hinten ab und schleuderte Gaymon über sich, ohne den Hellebardenschaft loszulassen. Nottr brachte auf diese Weise die Waffe an sich und sprang sofort wieder auf die Beine. Während Gaymon taumelnd auf die Beine kam, rannte Nottr mit vorgehaltener Waffe auf sie zu. Da erklang Nyalas Entsetzensschrei. Nottr wurde dadurch verunsichert und zögerte. Das genügte Gaymon, eine Kette an sich zu bringen und dem Lorvaner damit die Waffe aus der Hand zu schlagen. Gaymon kam kettenrasselnd auf ihn zu. Sie drehte die Kette über den Kopf und ließ sie dann plötzlich in Nottrs Richtung 78
schnellen. Der ersten Attacke dieser Art konnte Nottr noch ausweichen, aber beim zweitenmal traf ihn die Kette an den Beinen und wickelte sich um sie. Gaymon zog an der Kette und brachte Nottr zu Fall. »Das ist dein Ende!« sagte Gaymon, und in ihren Augen stand die Mordlust zu lesen. Da kam von der Decke ein ächzendes Geräusch. Als Nottr hochblickte, sah er dort ein großes dornengespicktes Brett. Jeder der eisernen Stacheln war daumendick und handspannenlang. Gaymon blickte ebenfalls hoch und schrie auf, als sie sah, wie sich das schwere Gestell mit den Stacheln geradewegs auf sie senkte. Der Schrei erstickte in einem dumpfen Aufprall, Gaymon wurde unter dem mörderischen Gestell begraben. »Ich habe es getan«, sagte Nyala in die Stille. Sie stand an einer Wand, ihre Hand lag noch an der Vorrichtung, an der sie den Verschluß geöffnet hatte, so daß das Folterinstrument auf Gaymon gestürzt war. »Bist du mir böse?« Nottr schüttelte widerwillig den Kopf, ging zu Coerl O’Marn und löste die Schellen, mit denen er an der Kette hing. Dann ließ er den Ritter langsam zu Boden gleiten. »Und wo bleibe ich?« rief Sadagar. Nottr ging zu ihm, durchschnitt seine Handfesseln und befreite ihn von dem Würgeeisen. Sadagar rieb sich den geröteten Hals und folgte Nottr zu Coerl O’Marn, der noch so schwindlig war, daß er sich beim Knien mit den Händen abstützen mußte. Nyala war schon bei ihm und reichte ihm sein braunes Untergewand und das Kettenhemd. Der Ritter sah sie an und sagte: »Dein Blick ist wieder klar, Nyala. Bist du wirklich wieder du selbst?« »Um mich war bis zuletzt Nacht«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich bin eben erst erwacht. Ich habe nur eine ungewisse Erinnerung daran, was vorher war. War ich besessen?« »Vergiß es«, sagte O’Marn knapp und erhob sich. Er taumel79
te und mußte von Nottr gestützt werden, schlug seine helfende Hand aber gleich wieder beiseite. Er zog sein Unterhemd an und schlüpfte dann in den Kettenpanzer. »Bewaffnet euch!« sagte er. »Wir werden diese Gelegenheit nützen und entweder unsere Freiheit erkämpfen oder fallen.« »Genügt es nicht, wenn wir einfach die Stellung halten?« meinte Sadagar. »Wir haben gehört, daß die Caer Thormain stürmen, und brauchten nur zu warten, bis sie das Nest erobern.« O’Marn warf ihm einen kalten Blick zu, sagte aber kein Wort. Sadagar verstand auch so. Der caerische Ritter hatte sich Drundyr nicht widersetzt und war ihnen nach Thormain gefolgt, um sich dafür nun vor einem anderen Caer-Priester rechtfertigen zu müssen. »Wir werden kämpfen!« bestimmte Nottr und entnahm einer Wandhalterung zwei Schwerter. Eines davon warf er Sadagar zu, der es geschickt am Griff auffing. Dann fragte er O’Marn: »Und welche Waffen bevorzugst du, Ritter?« »Ich hole mir meine eigenen zurück«, antwortete O’Marn. Er wandte sich der Treppe zu und stürmte diese hinauf. Nottr folgte ihm. Sadagar ließ Nyala den Vortritt und bildete den Abschluß. Vor der Tür am Ende der Treppe hielt O’Marn kurz an. Als Nottr bei ihm war, stieß er die Tür auf und stürmte nach vorne. Bei seinem Anblick stoben die Folterknechte, die hier auf den Ausgang des Kampfes gewartet hatten, entsetzt auseinander. O’Marn erwischte einen von ihnen am Kragen und holte ihn zurück. Er drückte ihn gegen die Wand und fragte drohend: »Wo sind meine Waffen?« Der vor Angst schlotternde Mann wies in einen Gang, und O’Marn drängte ihn in diese Richtung. Der Folterknecht führte sie in eine Kammer, in der die Habseligkeiten untergebracht waren, die man den Gefangenen abgenommen hatte. Dort 80
fand der Ritter seinen Helm, sein Schwert und den verbeulten Rundschild. Er nahm alles an sich und setzte den Helm mit aufgeklapptem Visier auf. So wandte er sich wieder dem Folterknecht zu. »Wo liegt der geheime Fluchtweg aus dem Nest?« fragte er. »Es… es gibt keinen Geheimgang«, stotterte der Mann. »Es gibt nur einen einzigen Zugang zum Kerker, und der wird bewacht.« O’Marn stieß den Mann in die Kammer und verriegelte die Tür von außen. »Ich glaube diesem Burschen kein Wort«, sagte Sadagar. »Ganz Thormain wird von einem Netz unterirdischer Gänge und Höhlen durchzogen. Es muß auch vom Nest einen Zugang dorthin geben.« »Wir werden ihn finden«, versprach der Ritter. »Da kommt jemand«, meldete Nottr. »Ich glaube, Argur von Solths Stimme erkannt zu haben.« »Er wird gewarnt sein«, sagte Sadagar. »Wir müssen uns verstecken.« O’Marn machte eine ablehnende Handbewegung. »Wir tun das, was man nicht von uns erwartet«, sagte er energisch. »Wir werden sie über den Haufen rennen und Argur als Gefangenen nehmen.« Er schlich bis zu dem Seitengang vor, aus dem die Schritte und das Waffenklirren drangen, und gebot dann den anderen mit erhobener Hand Einhalt. Als die Geräusche schon ganz nahe waren, ließ er die Hand sinken und stürmte gleichzeitig nach vorne. Nottr folgte ihm auf dem Fuß, Sadagar hielt einen Sicherheitsabstand. Als er um die Ecke stürmte, sah er ein verschlungenes Menschenknäuel und mitten darin Nottr und O’Marn. Und da war auch Argur. Er wollte den Tumult zur Flucht nützen, aber da sprang Sadagar mit einem mächtigen Satz zu 81
ihm, packte ihn von hinten und legte ihm die Schwertklinge an die Kehle. »Gebt auf, oder euer König der Meere ist um einen Kopf kürzer!« rief Sadagar über den Kampflärm. »Haltet ein, Männer!« sagte Argur von Solth mit kläglicher Stimme. »Zieht euch zurück, bevor mich diese Kerle meucheln.« Die Piraten zögerten, aber als sie sahen, daß ihr sogenannter König bei Sadagar in sicherem Gewahrsam war, trotteten sie davon. Zwei von ihnen standen nicht mehr auf. Nottr und O’Marn waren unverletzt. Der Ritter gab Sadagar ein Zeichen, Argur loszulassen, und sagte dann zu diesem: »Du wirst uns durch den Geheimgang ins Freie führen. Dafür schenken wir dir das Leben.« »Das ist nicht nötig«, sagte Argur. »Ich wollte euch gerade freilassen und dafür bei den Caer um freies Geleit bitten.« »Das wäre ein schlechter Handel für uns«, meinte O’Marn kühl. »Du solltest endlich begreifen, daß wir wirklich keine Spione der Caer sind. Wir haben nichts mit ihnen zu schaffen.« »Aber…«, begann Argur, der offenbar nicht verstand, warum ein caerischer Ritter nichts mehr von seinem Volk wissen wollte. »Der Geheimgang!« erinnerte O’Marn. »Es gibt nur einen Fluchtweg«, sagte Argur kleinlaut. »Aber diesen wählt niemand, denn er führt geradewegs in die Unterwelt.« »Dann sind wir richtig«, sagte der Ritter, ohne zu zögern. »Führe uns hin!« »Ohne mich«, sagte da Nottr, und als der Ritter ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu: »Ich gehe nicht ohne Kalathee und Mythor.« Er wandte sich Argur zu und fragte: »Wo sind sie?« Der König der Meere beleckte sich die Lippen und sagte: »Das Mädchen befindet sich in meinem Schlafgemach, aber sein Milchbruder wurde in die Unterwelt gebracht. Und zwar 82
lebend, das schwöre ich. Ihm wurde kein Haar gekrümmt.« »Wenn das wahr ist, brauchen wir uns um Mythor keine Sorgen zu machen«, sagte Sadagar zuversichtlich. »Er wird sich schon durchschlagen und früher oder später zu unserem Waffenversteck kommen. Nur Kalathee…« »Nottr!« gellte da eine verzweifelte Stimme durch den Gang. »Kalathee!« entfuhr es dem Lorvaner, und er wollte davonstürmen. Aber er prallte dabei gegen O’Marn, der sich ihm in den Weg stellte. »Ruhig Blut«, sagte der Ritter. »Wir werden Kalathee im Austausch gegen den Piratenführer bekommen. Ist es nicht so, Argur?« »Gewiß«, versicherte Argur. »Meine Leute werden bestimmt darauf eingehen.« Am anderen Ende des Ganges tauchte eine Schar Piraten auf. Der vorderste hielt Kalathee an den Haaren und hatte ihr die Spitze eines Dolches ans Herz gesetzt. »Tut dem Mädchen nichts!« rief Argur seinen Leuten zu. Die beiden Gruppen kamen einander langsam näher. O’Marn blieb stehen, als sie zu einem Seitengang kamen. Er schob Argur wie einen lebenden Schild vor sich her. »Deine Vorsicht ist unbegründet«, sagte der König der Meere. »Aus diesem Gang führt eine Treppe zum Zugang in die Unterwelt. Dort lauert euch bestimmt niemand auf.« O’Marn nickte zufrieden. Er hatte keinen Grund, Argurs Worte zu bezweifeln. »Sage jetzt deinen Leuten, daß sie Kalathee schicken sollen«, verlangte der Ritter. »Erst wenn sie sich auf halbem Weg befindet, lasse ich dich frei.« »Männer, laßt das Mädchen los!« rief Argur mit belegter Stimme. »Macht keine Dummheit, sonst bin ich verloren.« Kalathee wurde losgelassen und kam zögernd näher. »Lauf, Kalathee!« rief O’Marn, gleichzeitig gab er Argur ei83
nen Stoß, daß er nach vorne taumelte. Kalathee erfaßte die Situation sofort und lief Nottr in die Arme, der sie auffing und sofort in den Seitengang schob. Gleich darauf durchschnitten einige Wurfgeschosse pfeifend die Luft. Während sie durch den Seitengang zu einer in die Tiefe führenden Treppe rannten, hörten sie hinter sich Argur zu seinen Piraten sagen: »Laßt sie ruhig ins Verderben laufen. Die Schrecklichen aus der Unterstadt werden uns die Arbeit abnehmen.« »Vielleicht wäre es klüger, auch diesen Weg zu nehmen«, sagte daraufhin einer der Piraten. »Die Caer werden bald vor dem Nest stehen.« Die Stimmen hinter ihnen verstummten, als sie einen Treppenabsatz erreichten, der von einer Fackel erhellt wurde. Dahinter verlor sich die Treppe im Dunkeln. Sadagar nahm die Fackel an sich, um damit den Weg zu beleuchten. Dabei dachte er an die namenlosen Schrecken der Stadt unter der Stadt und fragte sich, was aus Mythor geworden war und ob sie sich je beim Waffenversteck wiederfinden würden. * Mythor war, als blicke er durch ein Fenster in eine andere, paradiesische Welt, in eine Welt der Tiere. Doch sah er weder eine Landschaft noch verschiedene Tierarten. Er erahnte sie nur. Er sah überhaupt nur ein einziges Tier. Es war ein schönes, edles Pferd mit schwarzem Fell, das wie Samt schimmerte. Auf der Stirn hatte dieses Pferd ein weißes Horn von Unterarmlänge. Ein Einhorn! Es kam auf Mythor zugetrabt, ohne sich jedoch wirklich zu nähern oder sich zu vergrößern. Es schien auf der Stelle zu 84
laufen. Jetzt wandte es sich mit majestätischem Kopfnicken nach links und trabte in diese Richtung weiter, ohne aus dem Blick zu verschwinden. Es bewegte sich im Laufen nicht vom Fleck. Nun machte es eine ganze Kehrtwendung, wobei seine Mähne wie im Wind wehte, und schien auf die andere Seite zu laufen. Mythor genoß jede einzelne Bewegung dieses prächtigen Tieres. Er hatte noch nie zuvor ein Einhorn gesehen, und dennoch hatte er sofort das Gefühl, dieses Tier schon ewig zu kennen. Wie kam das? Lag die Antwort irgendwo in seiner dunklen Vergangenheit? Er erkannte enttäuscht, daß das Bild verblaßte. Er dachte sich, daß er das Einhorn zurückholen könne, wenn er nur ganz fest daran denke. Aber es half alles nichts, das Tier zeigte sich nicht wieder. Er hatte sogar den Eindruck, daß das Leuchten dieses rechten Augensteins schwächer wurde. Dafür erregte nun das linke Auge seine Aufmerksamkeit, und er sah dorthin. Dort war eine flatternde Bewegung. Aus dem nebligen Licht tauchten Flügel auf. Es waren weite Schwingen, die kraftvoll die Lüfte durchschnitten. Ein großer weißer Vogel, ein Falke… Ein Schneefalke! Mythor wußte sofort, welcher Art er angehörte, obwohl er auch ein solches Tier noch nie gesehen hatte und es ihm auch nicht beschrieben worden war. Und auf den Schneefalken traf dasselbe wie auf das Einhorn zu – er erschien ihm vertraut. Er fühlte sich mit dem weißgefiederten Falken verbunden wie mit einem uralten Gefährten, der ihn lange Zeit durch die Höhen und Tiefen des Lebens begleitet hatte. Und wieder fragte er sich, in welcher Beziehung er zu diesem Tier stand. Oder – auch das war eine Möglichkeit – handelte es sich nur um eine Vorschau auf Kommendes? Während der Schneefalke seine Kreise durch das leuchtende 85
Nichts zog, tauchte vom Grunde des Auges ein dunkler Punkt auf. Er wurde größer und entpuppte sich als dickfelliges Tier, das auf vier Beinen heranhetzte. Und Mythor erkannte einen großen Wolf, dessen Fell grauschwarz war. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Er hielt im Laufen den Kopf etwas gesenkt, den buschigen Schweif steif nach hinten, und er blickte Mythor geradewegs an. Aus seinen Augen sprach Klugheit und noch etwas, das Mythor sofort Vertrauen zu ihm fassen ließ. Ein alter Freund? Vielleicht ein Bitterwolf, wie er geheult hatte, als die Marn ihn fanden? Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf! Die Bilder lösten sich auf, Mythor sah nur noch einen funkelnden Stein vor sich, der eine Augenhöhle der Dämonenfratze schmückte. Die Bilder waren verschwunden, und er konnte sie nicht mehr zurückholen. Aber ihr Nachhall blieb in seinem Geist erhalten. Er war nun sicher, daß es diese drei Tiere irgendwo auf der Welt in Wirklichkeit gab. Sie lebten und warteten darauf, daß er zu ihnen fand. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber wo sollte er nach ihnen suchen? Würde der Helm der Gerechten ihm den Weg zu ihnen weisen? Oder hatten ihm die Tiere selbst, während er sie in lebensechten Bildern geschaut hatte, ein Zeichen gegeben? Wenn dem so war, dann konnte er diese Zeichen nicht deuten. Er war jedoch sicher, daß Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf in engem Zusammenhang mit einem der Fixpunkte des Lichtboten standen. Der thormainische Brunnen war kein solcher, Mythor hatte soeben sein Geheimnis ergründet. Nun erlosch das Licht in den steinernen Augenhöhlen endgültig. Mythor faßte seinen Mondstein, den ihm Royna überlassen hatte, fester. In seinem Schein wirkte die Fratze im 86
Himmelsstein auf einmal wieder bösartig. Mythor wich zurück und kletterte, so schnell er konnte, die Terrassenstufen hinunter. Er fragte sich, ob jedem, der bis hierher vordrang, ein solches Erlebnis beschieden war wie ihm oder ob dieses Vorrecht nur ein Auserwählter hatte. Er wollte sich nicht zuviel darauf einbilden. Aber wie dem auch war, er wußte, wie diese Bilder zu deuten waren. Für ihn stand fest, daß es von nun an sein Bestreben sein mußte, Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf zu finden. Das sah er als eine weitere der ihm auferlegten Prüfungen an. Doch das war noch Zukunft. Die Gegenwart stellte ihn vor andere Probleme. Er mußte nun zusehen, wie er aus dem unterirdischen Gewölbe kam. Er versuchte sich zu erinnern, in welcher Richtung das Nest lag, und ging darum den Weg durch den wasserführenden Stollen im Geist zurück. Er drehte sich dabei, bis er glaubte, in die Richtung zu blicken, in der das Nest lag. Auf dieser Seite des Gewölbes lagen zwei Durchlässe, beide kleiner als die Höhlen, durch die er hierhergekommen war, und ganz gewiß nicht von und für Riesen geschaffen. Da einer der Durchlässe über seinem Kopf lag und nur schwer zu erreichen war, wählte er den einfacheren Weg. Der Stein leuchtete ihm wieder. Einige Schritte führte der Gang durch gewachsenen Fels. Aber dann verengte er sich und war so niedrig, daß sich Mythor gerade noch durchzwängen konnte. Dahinter lag der Irrgarten aus Steinblöcken, die das Fundament von Thormain bildeten. Plötzlich ging ein Rumoren durch die Unterwelt, das die mächtigen Steine erbeben ließ. Der ersten Erschütterung folgten eine zweite und eine dritte, jede heftiger als die vorangegangene. Nicht viel später wiederholte sich das Beben mit verstärkter 87
Kraft. Mythor beeilte sich. Er wollte die Unterwelt so rasch wie möglich verlassen und ins Nest gelangen. Er wußte dort seine Freunde im Kerker und wollte alles daransetzen, sie zu befreien. Er hob den Leuchtstein, um das Gelände vor sich besser einsehen zu können. Da traf ihn ein harter Gegenstand am Handgelenk, und er ließ vor Schmerz den Leuchtstein fallen. Er sah noch, wie eine mit Fetzen umwickelte Hand zwischen seinen Beinen hindurchgriff und den leuchtenden Stein durch einen Spalt wegschob. Um Mythor wurde es dunkel, aber scharrende Bewegungen zeigten ihm an, daß sich mehrere Gestalten von verschiedenen Seiten her auf ihn zubewegten. »Seid ihr Aurogaer?« fragte er in die Finsternis. »Ich bin euer Freund. Wamdon und Royna…« »Wir wissen«, unterbrach ihn eine rauhe Stimme dicht an seinem rechten Ohr, und dann spürte er, wie etwas seine Narbe betastete. »Wenn ihr mich kennt, warum habt ihr mich dann überfallen?« fragte Mythor und rieb sich das schmerzende Handgelenk. »Kein Licht… wir häßlich«, erklang es von der anderen Seite. »Du nicht sehen. Wir führen.« »Ich muß zum Nest, meine Freunde befreien«, erklärte Mythor. »Wir führen… dich richtig.« Mythor spürte, wie er vorsichtig betastet wurde. Hände zupften an ihm und drängten ihn sanft weiter. Er spürte eine Berührung an seinem linken Bein, und er hob es. Der Druck wurde stärker und lenkte ihn in eine bestimmte Richtung. Dann machte sich der Druck an seinem anderen Bein bemerkbar, und Mythor ließ sich auch den nächsten Schritt führen. »So geht das nicht«, sagte er. »Wir kommen nicht schnell ge88
nug voran.« »Weiter, weiter.« Es klang ungeduldig. Mythor wurde gezupft, gedrängt und manchmal halb getragen. Allmählich spielte sich diese Art der Fortbewegung ein, und Mythor stellte fest, daß er bei aller Umständlichkeit doch recht rasch vorankam. Sicher gelangte er auf diese Weise eher ans Ziel, als sich durch diesen steinernen Irrgarten erst einen Weg zu suchen. »Weiter, weiter«, drängten die rauhen Stimmen. Mythor fand sogar Zeit, einige Fragen zu stellen. Aber die Aurogaer konnten ihm keine befriedigenden Antworten geben. Das lag aber vor allem daran, daß sie sich nicht richtig auszudrücken wußten. Sie gaben ihm aber zu verstehen, daß alles seine Ordnung habe und sie ihn an den richtigen Ort bringen würden. Endlich ließen sie das Durcheinander von übereinandergetürmten Felsblöcken hinter sich und kamen in einen geraden Gang. Obwohl Mythor geführt wurde, stützte er sich gelegentlich an den Wänden ab. Plötzlich zuckte er zusammen und blieb stehen. Seine Fingerspitzen hatten seltsam geformte Rillen im Stein ertastet. Er fuhr sie noch einmal nach und war dann sicher, daß es sich um eine der Runen handelte, die Sadagar bei ihrem ersten Abstieg in die Unterwelt als Wegweiser hinterlassen hatte. Demnach befand er sich irgendwo zwischen Yargh Mainers Haus und Dhalins Schenke. »Ihr habt mich in die falsche Richtung geführt!« rief Mythor wütend. »Das Nest liegt auf der anderen Seite.« »Richtig, richtig«, behaupteten mehrere Stimmen gleichzeitig. Und wieder wurde an ihm gezerrt, heftiger und drängender als zuvor. Da riß Mythor die Geduld, und er schlug um sich. Die Aurogaer heulten auf und liefen stöhnend und ächzend davon. 89
Mythor bereute seinen Zornesausbruch sofort wieder, denn ohne die Hilfe der Aurogaer würde er länger brauchen, um den Weg zu Yargh Mainers Keller oder zum Weinkeller Dhalins zu finden. Ohne Licht durch die Unterwelt den Weg zum Nest zu suchen, daran war nicht mehr zu denken. Er mußte nach oben und sich durch die Straßen von Thormain zum Schloß durchschlagen. Wenn er dem Versteck schon so nahe war, wollte er aber zuerst seine Waffen und das Pergament mit dem Bildnis des unbekannten Mädchens an sich bringen. »Kommt zurück!« rief er in die Dunkelheit. »Lauft doch nicht weg!« Er lauschte, und da hörte er auf einmal jemanden sagen: »Hat da nicht Mythor gerufen?« »Sadagar?« fragte Mythor unsicher. »Steinmann Sadagar?« »Er ist es!« hörte er Sadagar erfreut ausrufen. Und dann fiel ein flackernder Lichtschein aus einem Seitengang. Mythor eilte darauf zu, und gleich darauf sah er sich seinen Freunden gegenüber. Nottr und Sadagar, Kalathee, Coerl O’Marn und Nyala, sie alle waren beisammen. Und bei ihnen waren Wamdon, der sein Gesicht jedoch unter der Kapuze versteckt hatte, und Royna. Den Anführer der Aurogaer erkannte er an der Stimme, als er sagte: »Du bist wohlauf, Mythor, der Brunnen hat dich nicht verschlungen. Dann hast du deine Bestimmung gefunden?« »Ich habe einen wichtigen Hinweis erhalten«, sagte Mythor nur. Er war von dem unerwarteten Wiedersehen so überwältigt, daß er keine Lust zum Erzählen hatte. Er platzte selbst vor Neugierde. »Wie ist es möglich, daß ihr nicht mehr im Kerker des Nestes seid?« »Kommt, wir führen euch aus Thormain«, sagte Wamdon. »Früher oder später werden die Caer auch in die Unterstadt vordringen, und dann solltet ihr in Sicherheit sein. Ihr könnt euch auf dem Weg alles erzählen.« 90
* Bevor Mythor nach seiner Ausrüstung fragen konnte, wurde ihm diese von Sadagar überreicht. Wamdon ging voran, den Weg mit einer Fackel leuchtend. Royna blieb neben Mythor. Als sie jedoch sah, wie sich Kalathee auf der anderen Seite an ihn drängte, fiel sie zurück. Mythor ließ sich im Gehen von Sadagar die Ereignisse im Kerker erzählen und staunte nicht schlecht, als er hörte, daß Gaymon ein Mannweib gewesen war. Sadagar vergaß nicht zu erwähnen, daß Nyala nun wieder völlig Herr ihrer selbst war und nicht mehr unter den Nachwirkungen des Dämons von Drundyr litt. Als Mythor zurückblickte, sah er Coerl O’Marn und Nyala einträchtig, aber schweigsam einhergehen. »Hast du dich eigentlich gefragt, warum O’Marn nach Thormain gekommen ist?« fragte Sadagar so leise, daß nur Mythor es hören konnte. Und er gab auch sogleich selbst die Antwort: »Ich bin sicher, daß er Nyalas wegen zu uns überlaufen wollte. Sein Stolz läßt es nur nicht zu, daß er es eingesteht.« »Ich werde ihn auch nicht fragen«, sagte Mythor. Die Gänge und Hohlräume, durch die sie kamen, sahen aus wie alle anderen, in denen sie bereits gewesen waren. Mythor mußte sich über Wamdons feinen Spürsinn wundern, der es ihm erlaubte, sich so sicher in der Unterstadt zurechtzufinden. Sadagar beendete seine Erzählung: Als sie in die Unterwelt vorgedrungen waren, hatten sie sich auf einmal von vermummten Gestalten umringt gesehen. Es kam zum Kampf, der jedoch bald darauf abgebrochen wurde, als Nottr einen der Gegner überwältigte und unter Todesdrohungen nach Mythors Schicksal ausfragte. Die Aurogaer, denn um solche han91
delte es sich bei den Vermummten, hatten Frieden mit ihnen geschlossen und sie zu Wamdon geführt, der sie zu dem Waffenversteck brachte und versprach, daß seine Leute auch Mythor herbeischaffen würden, falls er den Sturz in den Brunnen überlebt hatte. »Thormain ist also in den Händen der Caer!« stellte Mythor fest. »Auch das Nest ist gefallen«, berichtete dazu Wamdon. »Ich habe überall meine Späher. Diese berichteten, daß Welleynn am Schultergalgen sein Ende gefunden habe. Argur von Solth fiel, als er sich den Caer ergeben wollte. Auch die anderen Piraten werden keine Gnade zu erwarten haben; ihnen droht zumindest Sklaverei.« »Was wohl aus Yargh Mainer geworden ist?« meinte Sadagar. »Da wir ihn nicht im Kerker vorgefunden haben, wird er sich wohl wieder herausgeredet haben.« »Erinnere mich nicht an diesen Schurken«, sagte Nottr grollend. »Ich bedaure, daß ich ihm damals nicht gleich an die Kehle gegangen bin.« Mythor wandte sich an Wamdon: »Wenn die Caer ein solch furchtbares Strafgericht halten, was wird dann aus euch?« »Um uns ist mir nicht bange«, sagte Wamdon, und er kicherte hinter seiner Kapuze. »Laß sie nur in die Unterstadt kommen, wir werden sie schon das Gruseln lehren. Vielleicht werden wir einige Opfer zu beklagen haben, das wäre bedauerlich. Aber nicht lange, und dann wird kein Caer-Krieger mehr wagen, seinen Fuß in unser Reich zu setzen.« Ein grollendes Geräusch setzte ein, das sich anhörte, als komme es aus den Tiefen der Erde. Es wurde immer lauter, und dann ächzte das Gestein um sie, der Boden unter ihren Füßen wurde erschüttert, und von der Decke rieselte Sand. Kalathee klammerte sich haltsuchend an Mythor. »Kommt es hier öfter zu solchen Beben?« erkundigte sich 92
Mythor besorgt. »Wir haben uns bereits daran gewöhnt«, antwortete Wamdon. »Wir wundern uns höchstens, wenn unsere Stadt einmal einen Tag lang nicht von Beben heimgesucht wird. Das hat nichts zu bedeuten. Die Riesen haben für die Ewigkeit gebaut.« »Ich bin dir noch eine Antwort schuldig, Wamdon«, sagte Mythor. »Du bist nicht dazu verpflichtet«, erwiderte der Aurogaer. »Doch«, sagte Mythor bestimmt. »Aber ich fürchte, meine Antwort wird dich enttäuschen. Ich habe im Brunnen nicht meine Bestimmung gefunden. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt auserwählt bin. Ich habe nach wie vor Zweifel.« »Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Wamdon. »Du zweifelst an dir, weil du nicht ohne Fehl und Tadel bist. Doch wer ist schon vollkommen? Wahrscheinlich nicht einmal der Lichtbote. Verspürt nicht auch der Tapferste manchmal Angst, ohne deswegen gleich ein Feigling zu sein? Der Stärkste wird oft schwach, ohne sich seiner Schwäche schämen zu müssen. Geh aufrecht deinen Weg, Mythor, dann erreichst du dein Ziel.Wir sind da!« »So schnell?« wunderte sich Steinmann Sadagar. »Macht die Fackel aus!« ordnete Wamdon an, und der flackernde Feuerschein erlosch. Der Aurogaer fuhr fort: »Da vorne ist eine kleine Höhle, die in der Bucht herauskommt. Es ist Nacht, so daß die Caer euch nicht entdecken werden. Ich kann euch außer meinen guten Wünschen nichts mit auf den Weg geben.« Mythor suchte in der Dunkelheit die Hand des Aurogaers und drückte sie. »Du hast uns sehr geholfen, Wamdon«, sagte er. »Danke für alles.« »Ich glaube, ich habe es für den Sohn des Kometen getan.« 93
Mythor suchte in der Dunkelheit Royna, die sich während des ganzen Marsches schweigsam verhalten hatte. Er glaubte den Grund zu kennen. Er ging zu dem Mädchen und ergriff seine Hände; es war zu dunkel, um in ihrem Gesicht lesen zu können. Ihr Atem ging schwer. »Willst du nicht mit uns kommen, Royna?« fragte er. »Mein Platz ist bei Wamdon und seinem Volk«, sagte sie. »Und deiner ist an Kalathees Seite.« »Du irrst, Royna«, sagte Kalathee mit spitzer Zunge. »Mythor ist ein Bilderschauer. Aus Frauen aus Fleisch und Blut macht er sich nichts.« Mythor spürte, wie ihm Royna die Hände entzog, und sah sie undeutlich in der Finsternis verschwinden. »Sie wird darüber hinwegkommen«, versicherte Wamdon. »Mythor, der Schwerenöter«, sagte Sadagar kichernd und brachte sich rasch außer Mythors Reichweite. Coerl O’Marn hatte den Höhlenausgang erreicht und kletterte ins Freie. Nottr folgte seinem Beispiel gerade. Mythor verabschiedete sich ein letztes Mal von Wamdon und folgte den anderen. Kalathee kam neben ihn und schob ihre Hand in die seine. »Mythor?« sagte sie. »Dir kann es nicht entgangen sein, daß Nottr mich noch immer verehrt. Trotzt du deshalb, und bist du deswegen so abweisend zu mir?« »Nottrs Gefühle zu dir sind bestimmt aufrichtig«, sagte Mythor. »Und wie ist es um deine bestellt?« »Still!« erklang da Sadagars ermahnende Stimme. »Draußen wimmelt es nur so von Caer, und ihr beiden turtelt.« Mythor war es nicht unangenehm, daß ihm Schweigen geboten wurde und er Kalathee nicht zu antworten brauchte. * 94
Sadagar hatte maßlos übertrieben, als er sagte, daß es im Hafen nur so von Caer wimmle. Auf dem Kai brannten einige große Lagerfeuer, an denen sich eine Handvoll Caer wärmten. Diese Wachtposten waren nicht besonders aufmerksam, denn Thormain war praktisch gefallen, die Piraten waren besiegt, und andere Gefahren drohten nicht. Aus der Stadt drang Lärm, Feuerschein flackerte hier und dort auf. Aber offenbar hatten die Caer nicht die Absicht, Thormain niederzubrennen. Gelegentlich war ferner Kampflärm zu hören, Schreie gellten durch die Nacht. Im Hafen war es verhältnismäßig ruhig. Im Schein der Feuer waren einige Wracks zu sehen, die halb aus dem seichten Wasser ragten. Die meisten der Piratenschiffe trieben führungslos innerhalb der Hafenmauern, nur wenige waren angedockt. Einige Caer waren damit beschäftigt, Leichen auf eines der Schiffe zu verfrachten. An den bunten Kleidern waren Piraten zu erkennen. Eine andere Gruppe von Caer-Kriegern arbeitete an der Stelle der Stadtmauer, wo die Seeungeheuer eine Bresche geschlagen hatten. Sie zerteilten die Kadaver der schlangenähnlichen Seedrachen in dicke Scheiben und schleppten die Brocken dann zu den Feuern, über denen sie sie brieten. Klauen und Flossen behielten sie als Beutestücke, die harten Schuppen der Tiere befestigten sie an ihren Gewändern, denn sie waren leicht und trotzdem beinahe so widerstandsfähig wie Eisen. Mythor konnte auch beobachten, wie die Caer die häßlichen Schädel der Ungeheuer aushöhlten und mit Schutzfarben bestrichen. Vielleicht machten sie aus den Schädeln Rammböcke, bei deren bloßem Anblick die Verteidiger einer Festung den Mut verlieren sollten. Die Szene vermittelte einen Eindruck vom Kriegeralltag nach der gewonnenen Schlacht. Von dem 95
Caer-Priester, der die Streitmacht angeführt hatte, war nichts zu sehen. Als Coerl O’Marn merkte, daß Mythor an seiner Seite aufgetaucht war, deutete er auf den im Dunkeln liegenden Teil der Bucht, der außerhalb der Hafenmauern lag. Dort schaukelte ein einzelnes Piratenschiff auf den Wellen. Es war unbemannt und nicht besonders groß, aber es würde ihnen allen genügend Platz bieten. »Das wäre ein Schiff für uns«, meinte der Ritter. »Können wir damit das Meer der Spinnen überqueren und das Festland erreichen?« wollte Mythor wissen. Er hatte den Helm der Gerechten aufgesetzt und trug Alton am Gürtel. »Von großer Fahrt würde ich abraten«, sagte Coerl O’Marn. Seine Stimme klang ruhig, er wirkte gelöst. »Aber es genügt, wenn wir damit auf die andere Seite der Elvenbrücke gelangen. Das Land dort ist kaum besiedelt. Die Küste ist steil und unzugänglich und wird nicht bewacht. Wenn wir dicht dranbleiben, könnten wir in ihrem Schutz ziemlich weit kommen.« Mythor war von der langen Rede des Ritters überrascht. »Ich vertraue dir, Coerl«, sagte er. Der Ritter nickte, Mythor erkannte es an der Bewegung seines Helmes. »Mythor, du kommst mit mir«, bestimmte O’Marn. »Wir ziehen das Boot an Land. Nottr! Du folgst mit Sadagar und den Frauen, sobald wir das Schiff an uns gebracht haben.« »Wird gemacht«, bestätigte der Lorvaner, fügte aber hinzu: »Wenn Mythor damit einverstanden ist.« O’Marn wandte Nottr das Gesicht zu, und durch das offene Visier war sein humorloses Lächeln zu sehen. »Ich habe nicht vor, Mythor die Führung streitig zu machen«, sagte er. »Es bringt uns nichts, wenn wir hier die Zeit vertrödeln«, sagte Mythor. »Worauf warten wir noch?« Coerl O’Marn erhob sich und schlug sich geduckt durch die Büsche. Er hielt den zerbeulten Rundschild, als könne er ihm 96
Sichtschutz bieten, dabei ragte jedoch der Federbusch des Helmes verräterisch darüber. Mythor folgte ihm und blickte dabei immer wieder voll Besorgnis zu den Caer hinüber. Aber die waren zu sehr mit sich beschäftigt. Offenbar war es ihnen egal, ob einigen Piraten die Flucht gelang. Mythor geriet mit einem Fuß in ein Schlagloch und stürzte. Danach achtete er wieder mehr auf den Weg. O’Marn erreichte die Böschung, die zum Strand führte, und rutschte diese hinunter. Er befand sich bereits im Schutz der Hafenmauer und konnte von den Wachen der Caer nicht mehr gesehen werden. Mythor schloß zu dem Ritter auf, und sie erreichten gemeinsam das Ufer. Das kleine, etwa sechs Mannslängen große Schiff war nur einen halben Steinwurf von ihnen entfernt. Coerl O’Marn watete ein Stück ins seichte Wasser, bis es ihm über die Knie reichte. Dann blieb er stehen und hielt ein dickes Tau hoch. Er spannte es an, bis es sich straffte und es sich zeigte, daß es mit dem Bug des kleinen Schiffes verbunden war. »Hilf mir, Mythor.« Mythor watete ebenfalls ins Wasser, und als er den Ritter erreicht hatte, griff er nach dem Tau. Mit vereinten Kräften zogen sie das Schiff ans Ufer, bis sein Kiel sich knirschend in den Sand grub. Mythor winkte mit beiden Armen, um Nottr ein Zeichen zu geben. Bald darauf erschien der Lorvaner auf der Böschung, hinter ihm Kalathee und Nyala; zuletzt tauchte Sadagar auf. »Macht schnell!« sagte Mythor. Er wollte sich Kalathee zuwenden, um sie aufzunehmen und zum Schiff zu tragen. Aber da kam ihm Nottr zuvor. Coerl O’Marn hatte sich Nyalas angenommen und hielt sie fest in den Armen. Sie lehnte sich an ihn und legte ihm den Kopf auf die Schulter. »Und wer erbarmt sich meiner?« fragte Sadagar vom Ufer her. Als ihm niemand Beachtung schenkte, überwand er sich und watete das kurze Stück zum Schiff durchs Wasser. 97
Mythor und Nottr stemmten sich mit vereinten Kräften gegen den Bug, bis sich der Kiel aus dem Ufersand löste und das Schiff in die Bucht hinaustrieb. Dann erst kamen sie an Bord. O’Marn hatte die beiden Frauen im Heck des Schiffes untergebracht, wo sich Felle über irgendeiner Ladung bauschten. Der Ritter trug Nyala und Kalathee auf, diese nach Brauchbarem zu durchsuchen. Er selbst setzte sich neben Sadagar an die Ruderbank. Der Steinmann spuckte in die Hände und legte sich in die Riemen, aber er wirkte nicht recht glücklich dabei. Mythor teilte sich mit Nottr die andere Ruderbank. Zwei der insgesamt sechs Ruder holten sie ein. O’Marn bestimmte mit einem verhaltenen »Hetoi« den Takt, und sie ruderten gleichmäßig und kraftvoll bis auf Sadagar, der körperlich mit den anderen nicht ganz mithalten konnte. »Wir müssen die Strömung erreichen«, sagte O’Marn. »Dann können wir uns treiben lassen.« Das kleine Schiff trieb langsam aus der Bucht und umrundete eine felsige Landzunge. Als sie dahinter verschwanden, wußten sie, daß sie nun vor den Caer endgültig in Sicherheit waren. »Da hat jemand sorgfältig seine Flucht vorbereitet«, meldete sich Kalathee, während sie die unter den Fellen versteckte Ausrüstung sortierte. »Da sind Pelze, Wämser und Umhänge zum Schutz gegen die Kälte, Waffen und ausreichend Nahrung und Wasser. Damit können wir uns bestimmt zehn Tage versorgen.« »So lange bleiben wir nicht auf See«, sagte O’Marn. »Mir tut der Mann leid, dessen Fluchtschiff wir gestohlen haben«, sagte Kalathee. »Vielleicht verschulden wir seinen Tod.« »Du brauchst mit ihm kein Mitleid zu haben, denn das ist bestimmt ein Schurke«, sagte Nottr. »In Thormain gibt es nur Schurken.« 98
»Da sind Aufzeichnungen«, ließ sich Nyala vernehmen. »Aber es ist zu dunkel, als daß ich sie lesen könnte.« »Kein Feuer machen!« ermahnte O’Marn. Sie trieben endgültig aus der Bucht heraus, und O’Marn gönnte ihnen eine Ruhepause. Der Ritter beobachtete ihre Fahrt und blickte immer wieder in Richtung Land, das sich unweit von ihnen als dunkler, unregelmäßiger Schatten abhob. »Das ist genug«, erklärte er schließlich. »Wir treiben in der Strömung.« Nyala und Kalathee hatten inzwischen für jeden von ihnen einen Imbiß zusammengestellt, so daß sie ihren Hunger stillen konnten. Die Wasserflasche wurde gereicht, und als Abschluß gönnten sie sich einen Krug Wein. »Ihr könnt jetzt schlafen«, sagte Coerl O’Marn. »Ich übernehme die erste Wache.« »Ich werde dich ablösen«, bot Nottr sich an, so daß Mythor nur die dritte Wache blieb. Steinmann Sadagar wurde von dieser Pflicht entbunden, aber er bestand darauf, daß er nicht ausgenommen werden wolle. Sie hüllten sich in die Pelze. O’Marn übernahm das Ruder, Sadagar und Nottr suchten sich mittschiffs Schlafplätze, und Mythor begab sich zum Bug, wo er sich hinter den Aufbauten zusammenrollte. Er mied absichtlich Kalathees Nähe, denn sie brauchten alle ihre Ruhe und er wollte nicht, daß Nottr eine schlaflose Nacht hatte. Wenig später waren alle eingeschlafen. Nur Coerl O’Marn saß wach am Ruder und blickte versonnen auf Nyala, deren Gesicht aus den Pelzen herausragte. * Der Schneefalke zog am klaren Himmel seine majestätischen Kreise. 99
Das schwarze Einhorn trabte anmutig durch saftiges grünes Gras. Der große Bitterwolf heulte den vollen Mond an. Und eine Göttin lustwandelte durch die paradiesische Landschaft, in der Sonne und Mond gleichzeitig schienen und es ebenso Tag wie Nacht war. Ein Dämmertag in einem unwirklich schönen Land, wie nur Träume es hervorbringen können, in einer verzauberten Welt. Das war Mythors Traumland, mit seinen Traumgefährten und seiner Traumfrau. Ein Ruck, und der Traum zerfiel. Mythor schreckte hoch und war sofort wach. Um ihn war heller Tag. Coerl O’Marn saß zusammengesunken am Ruder. Vor ihm kauerte Steinmann Sadagar und war in den Anblick einer Pergamentrolle versunken. Die See spiegelte den Sonnenschein, aber das Schiff lag im Schatten einer felsigen Steilküste. Links und rechts ragten Riffe aus dem Wasser, die die Bordwand streiften. Durch eine solche Erschütterung war Mythor geweckt worden. Und auch Nottr richtete sich gerade auf und blickte schlaftrunken um sich. »Warum hast du mich nicht geweckt, damit ich dich hätte ablösen können, Coerl?« fragte Mythor ganz vorwurfsvoll. »Du wirst deine Kräfte noch brauchen«, sagte O’Marn. »Hier gehen wir an Land. Es braut sich ein Sturm zusammen, wir können nicht weiter.« Mythor sah, daß sich aus dem Westen eine dunkle Wolkenwand heranschob. Die Sonne verdunkelte sich bereits und verschwand. Ein kalter Wind kam auf, die See wurde unruhig, die Wellen hatten bereits weiße Schaumkronen. »Weißt du, von wem diese Aufzeichnungen stammen?« sagte Sadagar zu Mythor. »Du brauchst nicht zu raten, ich sage es dir auch so. Von Welleynn. Der Scharfrichter von Thormain 100
hat dieses Schiff zur Flucht vorbereitet. Unser Glück, daß die Caer seine Pläne durchkreuzt haben.« Das Schiff lief zwischen bizarren Felsen auf Grund, und das weckte auch die Frauen. Sie behielten die Pelze zum Schutz gegen die Kälte an und schnürten einige Bündel mit Nahrungsvorräten zusammen. Nottr vertäute das Schiff an einem Krüppelbaum, dann machten sie sich an den Aufstieg. Auf halber Höhe der Steilküste fanden sie einen geeigneten Rastplatz, und O’Marn schlug vor, daß sie hier ihr Lager aufschlagen sollten. Mythor stimmte zu. Sie aßen die unverpackten Nahrungsmittel auf und besprachen dabei ihre Lage. »Wir befinden uns etwa zwei Tagesreisen unterhalb der Elvenbrücke«, erklärte O’Marn zu ihrer aller Erstaunen. »Das verdanken wir der günstigen Strömung, die hier herrscht. An Land wären wir nicht so rasch vorangekommen.« Mythor bedauerte, daß der zu erwartende Sturm sie gezwungen hatte, an Land zu gehen, denn nun befanden sie sich mitten im Feindgebiet. Er sprach seine Bedenken auch laut aus, um Coerl O’Marn zu einer Stellungnahme zu bewegen. Aber der Ritter schwieg dazu. Er kaute stumm und warf dabei Nyala gelegentlich Blicke zu. Plötzlich erhob er sich, murmelte etwas Unverständliches und verschwand. Nyala blickte ihm nach und sagte dann: »Was für ein seltsamer Mann. Obwohl ich mich nur sehr dunkel an die vergangenen Ereignisse erinnere, hatte ich immer das Gefühl, daß mir der Ritter von Anfang an zugetan war.« »Deine Gefühle trügen dich nicht«, sagte Mythor. »Du hast in Coerl einen Mann gefunden, der sein Leben für dich geben würde.« Nyala öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann aber betreten, als sie die Blicke aller auf sich gerichtet fühlte. »Bist du dir bewußt, daß du dich viele Tage in der Gewalt 101
eines Dämons befunden hast?« fragte Mythor, um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. »Ja«, antwortete Nyala leise. »Aber mir ist nur diese schreckliche Erinnerung geblieben. Über die Pläne und Ziele der dämonischen Mächte kann ich dir nichts sagen. Ich war nur eine willenlose Sklavin. Tut mir leid, daß ich dir nicht die erhofften Auskünfte geben kann, Mythor.« »Hauptsache, du bist wiederhergestellt«, sagte Mythor. »Es tut mir leid, daß ich mich gegen euch gestellt habe«, sagte Nyala bekümmert. »Dich trifft keine Schuld«, sagte Kalathee und drückte sanft ihre Hände. »Was O’Marn bloß im Schilde führt?« fragte Nottr nachdenklich. »Er tut, als sei er auf unserer Seite, aber er spricht sich nicht aus. Er ist nicht einmal gewillt, uns zu verraten, was uns hier erwartet.« »Ich werde nach ihm sehen«, sagte Mythor und erhob sich.»Ich kann mir vorstellen, was in dem Ritter vorgeht.« Mythor begab sich in die Richtung, in der O’Marn verschwunden war. Hier führte ein schmaler Pfad die Steilfelsen hinauf. Links und rechts nisteten Vögel, die sich bei Mythors Annäherung in Scharen erhoben und die Luft mit ihrem Gekreisch erfüllten. Es waren schwarze Vögel, die sich ihm manchmal bedrohlich näherten, aber nicht wirklich zum Angriff übergingen. Allmählich schienen sie sich an seinen Anblick zu gewöhnen und beruhigten sich wieder. Als Mythor fast das Ende der Felswand erreicht hatte, kam er zu einem einzelnen Felsen, der wie eine Nadel aufragte. Oben war er abgeflacht, und auf dieser Plattform entdeckte er Coerl O’Marn. Der Ritter starrte von seinem Standort in Richtung des Landesinneren. Ohne zu zögern, erklomm Mythor die Felsnadel und gesellte sich zu O’Marn, der sein Kommen überhaupt nicht zu bemer102
ken schien. Mythor war enttäuscht, als er feststellen mußte, daß die Aussicht nicht so gut war, wie er gehofft hatte. Das Gelände stieg hinter der Steilküste noch etwas an und versperrte den Blick ins Landesinnere. »Ich habe erwartet, daß du mich aufsuchst, Mythor«, brach O’Marn das Schweigen. »Du mußt denken, daß es zwischen uns einiges zu bereden gibt. Aber dem ist nicht so. Wenn du so alt wärst wie ich und meine Erfahrung hättest, würdest du erkennen, daß es Dinge gibt, über die man nicht sprechen kann.« »Dafür habe ich Verständnis«, sagte Mythor. O’Marn winkte ab. »Das sagst du so, aber du denkst anders. Es ist das Vorrecht der Jugend, nach Wissen zu streben. Ich bewundere dich, Mythor, denn du besitzt Mut und Entschlossenheit. Und du bist klug, fast zu klug für dein Alter. Du strebst große Ziele an, aber dabei übernimmst du dich.« »Willst du mir den Mut nehmen, für die gute Sache zu kämpfen, Coerl?« fragte Mythor. »Es stimmt, ich habe noch nicht viel von der Welt kennengelernt, aber ich habe bereits so viel Ungerechtigkeit und Grausamkeit mit ansehen müssen, daß es mir graut. Ich kann nicht tatenlos daneben stehen. Und die meisten Greuel, die ich kennengelernt habe, kamen von deinem Volk.« »Caer ist nicht gleich Caer«, sagte O’Marn. »Aber ich weiß, daß du unsere Priester meinst. Von ihnen geht alles Böse aus, und es wird noch mehr kommen.« »Ich werde mich dagegenstellen.« O’Marn nickte wissend. »Ich werde dir die Augen öffnen, Mythor«, sagte er dann. »Ich bin kein Mann großer Worte, ich habe schon zuviel geredet. Ich will nicht mehr sagen. Aber ich werde dir zeigen, was die Welt erwartet. Du sollst einen Vorgeschmack dessen bekommen, was die Zukunft bringen 103
wird.« »Wann?« »Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es dabei nicht an«, sagte O’Marn. »Wir haben Zeit, uns auszuruhen und zu Kräften zu kommen.« »Mehr willst du dazu nicht sagen?« »Laß mich wieder allein, Mythor.« Mythor kletterte von der Felsnadel, aber er kehrte nicht sogleich zum Lager zurück. Er suchte sich einen Platz, an dem er ungestört war. Dort holte er das Pergament hervor und betrachtete das Bildnis der Unbekannten. Der Anblick half ihm, O’Marns düstere Worte zu vergessen. Das Pergament gab ihm die Kraft, die er im Kampf gegen das Böse brauchte. Nein, er stand nicht allein gegen die Übermacht der Caer-Priester. Die Welt war nicht dem Bösen verfallen; er glaubte an das Gute. Er hatte Gleichgesinnte gefunden und würde eines Tages noch viele um sich sammeln. Er stand erst am Anfang, während sich die Mächte des Bösen lange und ausgiebig auf ihren Vernichtungsschlag hatten vorbereiten können. Er hatte erst drei Stützpunkte des Lichts aufgesucht und nur einen Teil des Vermächtnisses des Lichtboten an sich gebracht. Als nächstes warteten Einhorn, Schneefalke und Bitterwolf auf ihn. Und aus unbekannter Ferne lockte ein überirdisches Wesen in der Gestalt einer feenhaften Frau. Er trug ihr Andenken am Herzen, es gab ihm Kraft. Mythor verstaute das Pergament unter seiner Jacke und kehrte frohen Mutes zu den Gefährten zurück. Er war nun sicher, daß er auch Ritter Coerl O’Marn für sich gewinnen würde. *
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Yargh Mainer hatte die erste Angriffswelle der Caer gut überstanden und war auch den Trupps entgangen, die die Häuser nach versteckten Piraten durchsuchten. Der erste Sturm war abgeebbt, die Caer hatten ihre Wildheit verloren und machten sich daran, ihren Sieg zu feiern. In der Schenke Zum Nöffenwurm ging es hoch her. Yargh wurde übel, als er sah, daß Dhalins Kopf von dem steinernen Lindwurm über dem Eingang baumelte, und er wandte sich ab. Bis auf diesen Zwischenfall kam er ganz gut voran. Seine Zeit war nun gekommen, das wußte er. Vor ihm tauchte in der Straße eine Horde grölender Caer auf. Als sie ihn sahen, verstummten sie erschrocken und machten, daß sie ihm aus dem Wege gingen. Yargh kicherte in seine Maske. Seine Tarnung war vollkommen. Wie gut, daß er sein Kostüm vom letzten Umzug aufgehoben hatte. Als er damals das Gewand eines Caer-Priesters trug und sich hinter der roten und silberdurchsetzten Gesichtsmaske verbarg, hatte er nur wenig Erfolg gehabt. Anstatt damit den Piraten Furcht einzujagen, hatte er sie geradezu herausgefordert, üble Scherze mit ihm zu treiben. Aber das war vorbei, jetzt wehte ein anderer Wind in Thormain. Die Caer hatten das Kommando übernommen, und der Anblick einer Gestalt im Dämonenpriestergewand genügte, um die Straßen leer zu fegen. So leicht hätte es sich Yargh eigentlich nicht vorgestellt. Er hatte das Jorgan-Tor schon fast erreicht, als ihm jemand entgegentrat. Ohne seinen forschen Schritt zu mäßigen, setzte Yargh seinen Weg fort. Beim Näherkommen erkannte er jedoch in dem düsteren Licht, daß die Gestalt vor ihm das gleiche Gewand wie er trug. Ein Caer-Priester! »Welch Freude, einen Dämonenbruder anzutreffen«, sagte der Caer-Priester und lüftete seine Maske. Dahinter kam ein 105
gläsern wirkendes Gesicht zum Vorschein. So maskenhaft starr dieses Gesicht auch war, etwas bewegte sich darin wie ein dunkler Schatten. Yargh verspürte auf einmal den Zwang, auch seine Maske abzunehmen. Als er dies mit einer fahrigen Bewegung tat, da stieß etwas aus dem Gesicht des anderen hervor und schlug wie ein Blitz in ihn ein. Etwas unbeschreiblich Schwarzes ergriff von Yargh Mainer Besitz, etwas abgrundtief Häßliches und Böses, das dunkler als seine eigene Seele war. Es nahm ihn gefangen, umklammerte sein Innerstes, saugte sich daran fest und sog es in sich auf. Yargh Mainer verging… Turwell setzte die Maske wieder auf und stieg über das Bündel Stoff, in das die leere Hülle eingewickelt war, die einst Yargh Mainer dargestellt hatte.
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Werner K. Giesa
DIE EBENE DER KRIEGER Die ersten Strahlen der Morgensonne fraßen sich förmlich durch den Frühnebel. Es war kalt, und Mythor fröstelte leicht. Sie hatten das wärmende Lagerfeuer zurückgelassen, das jetzt langsam verglomm, und waren Coerl O’Marn gefolgt. Sie hatten den westlichen Rand des Küstengebirges erreicht. Längst lagen die Steilküste und der beschwerliche Aufstieg hinter ihnen. Durch das Gebirge waren sie in westlicher Richtung gegangen, über schroffe Gipfel und durch zerrissene Bergtäler und Schluchten. Früh waren sie wieder aufgebrochen und dem offenbar ortskundigen O’Marn gefolgt. Jetzt, als sich ein blutroter Streifen am Horizont zeigte und vom Sonnenaufgang kündete, blieb der Ritter stehen. Mythor schloß zu ihm auf und wartete dann, bis auch die anderen bei ihnen waren. »Was nun?« fragte Nottr. Sie standen auf einer Felsplatte in schwindelnder Höhe. Ein schmaler Pfad hatte sie hier heraufgeführt. Coerl O’Marn lächelte hart. Seine grauen Augen unter den ebenfalls grauen Brauen blitzten. »Ich will dir etwas zeigen, Mythor«, sagte O’Marn. Der Sohn des Kometen straffte sich. Er machte sich auf eine Überraschung gefaßt. Unwillkürlich umklammerte seine Hand den Griff Altons. »Ich will dir zeigen, wie mächtig die Caer sind«, sagte der Ritter und trat an den Rand der Felsplatte. Mythor folgte ihm langsam. Coerl O’Marn streckte die Hand aus und deutete hinunter in 107
die Tiefe. Mythors Blick folgte der angegebenen Richtung. Unter ihnen zog sich eine langgestreckte Nebelbank hin. Sie behinderte den Blick auf das, was sich in der Tiefe befand. Mythor schürzte die Lippen. »Und?« fragte er knapp. »Warte einen Augenblick«, sagte O’Marn. Sie brauchten nicht lange zu warten. Nottr, Kalathee, Nyala und Sadagar waren zu ihnen getreten. Die glühende Scheibe der Sonne stieg hinter ihnen auf und tauchte sie in blutrotes Licht. Da rissen die Nebelbänke im Tal auf. Es war nicht nur ein Tal. Hier endete das Küstengebirge abrupt. Unter und vor ihnen lag eine ausgedehnte Ebene, und auf dieser Ebene… Unwillkürlich hielt Mythor den Atem an. »Die Ebene der Krieger«, verkündete O’Marn. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne rissen die Szenerie aus der Dunkelheit und tauchten sie in ein von langen Schatten durchzogenes, seltsames Licht. So weit das Auge reichte, war die Ebene übersät von einem gigantischen Lager. Zelt an Zelt reihten sich die Unterkünfte aneinander, durchsetzt mit Lagerfeuern. Und diese Zelte waren nicht leer. Menschen wimmelten zwischen ihnen wie Ameisen. Hunderte, Tausende, Hunderttausende. Zwischen den Zelten und Lagerfeuern befanden sich hier und da verstreut Pferdekoppeln, Waffentürme, Katapulte, Rammen und anderes Kriegsgerät. Und alles machte den Eindruck, als sei es bereit, jederzeit eingesetzt zu werden. »Das ist die Macht der Caer?« fragte Mythor tonlos. Er war blaß geworden und trat vom Rand der Felsenplatte zurück. Im Wind flatterten dort unten Banner und Wimpel unzähliger Armeen. Krieger, so weit das Auge reichte. Coerl O’Marn wandte den Kopf und sah Mythor an. Zufrieden erkannte der Caer, daß der Anblick seine Wirkung offen108
bar nicht verfehlt hatte. »Das ist nicht die Macht der Caer«, sagte O’Marn. »Das hier sind nur die Krieger von Caer… ein geringer Teil. Nicht mehr als ein Schulungslager. Die hier leben, üben sich im Kampf und warten darauf, eingesetzt zu werden und die Macht Caers über die ganze Welt zu tragen.« Coerl O’Marn war vorn stehengeblieben und blickte wieder hinunter. »Was du da unten siehst, Mythor, ist nur der Anfang«, erklärte er. »Die Dunklen Mächte stehen hinter Caer. In ihrem Auftrag wird Caer sich ausbreiten und das Land überfluten, überdecken wie ein Geschwür.« Mythors Augen wurden schmal. Er starrte den Ritter an und sann über dessen Wortwahl nach. Er wurde aus O’Marn nicht ganz klug. Auf wessen Seite stand er wirklich? Hatte er sich von den Caer losgesagt, oder trieb er noch ein ganz anderes Spiel? Mythor hütete sich allerdings, den Ritter zu bedrängen, Farbe zu bekennen. Wenn die Zeit reif war, würde O’Marn von selbst den Mund aufmachen. Bis dahin sprachen seine Taten für ihn. »Was ist das?« fragte Nottr plötzlich. »Ich höre etwas.« Sie lauschten. Jetzt nahmen auch die anderen wahr, was das feine Gehör des Barbaren zuerst vernommen hatte. Der kalte Wind brachte aus der Tiefe der Ebene Fanfarenklänge mit sich. Mythor trat wieder an den Felsenrand, um hinunterzusehen. »Sie rüsten zum Aufbruch«, vermutete er. »Eine weitere Stadt, eine Burg, ein Land wird erobert werden.« »Nein«, widersprach O’Marn. »Es ist etwas anderes.« »Was?« fragte Nottr. »Das Drudin-Turnier«, antwortete der Ritter. Langsam stiegen sie wieder hinunter. Hier, etwas tiefer, waren sie ein wenig vor dem kalten Wind geschützt, der selbst durch warme Kleidung drang. 109
»Das Drudin-Turnier«, wiederholte Mythor, während sie den schmalen Pfad wieder zurückschritten, über den Coerl O’Marn sie hinaufgeführt hatte. »Was ist das?« O’Marn folgte dem muskulösen, dunkelhaarigen jungen Mann mit den hellen Augen. »Das Drudin-Turnier ist ein großes, zweimal im Jahr stattfindendes Kampfspiel, in dem die Besten unter den Caer ermittelt werden.« »Erzähle mehr darüber!« verlangte Mythor, der neugierig geworden war. Er verlangsamte seinen Schritt, und an einer Stelle, an der sich der Felsenpfad verbreiterte, blieb er schließlich stehen. Auffordernd sah er den Ritter an. »Zweimal im Jahr findet das Turnier statt«, wiederholte O’Marn und setzte sich auf einen Felsblock. »Es ist bald soweit. Aus vielen Städten des Caer-Reiches reisen Krieger an, um ihre Kräfte zu erproben.« Er begann zu erzählen. In diesem Turnier wurde in einer Reihe von Kampfspielen ermittelt, welche Männer stark, mutig und klug genug waren, um zu Befehlshabern der CaerArmeen ernannt zu werden. Auf diese Weise vergewisserten sich die Caer, daß nur die Besten der Besten ihre Armeen anführten. Auch Machtkämpfe und Intrigen in den eigenen Lagern wurden dadurch so gut wie ausgeschlossen. Wer im Drudin-Turnier gesiegt hatte oder zumindest weit im Vorfeld gelandet war, wurde geachtet und verehrt, und kaum jemand würde es wagen, ihm eine Führungsposition streitig zu machen, weil er einfach keine Chance hatte, gegen den Sieger zu bestehen. »Nicht schlecht ausgedacht«, warf Mythor ein, der den Worten des Ritters mit steigendem Interesse lauschte. O’Marn sah es in den Augen des Dunkelhaarigen leuchten. »Die Turniere stehen unter der Kontrolle von CaerPriestern«, endete O’Marn. »Und der jeweilige Sieger des Turniers«, schloß er, »wird von Drudin persönlich empfangen 110
und mit einem Dämonenkuß geehrt.« Nyala von Elvinon schüttelte sich bei diesen Worten. Nur zu genau wußte die Herzogstochter, was es bedeutete, unter der Gewalt eines Dunklen zu stehen – und was sonst sollte der Dämonenkuß bedeuten, als den damit Geehrten unter die Kontrolle des Bösen zu bringen? Lange genug hatte Nyala unter dem Einfluß des Priesters Drundyr gestanden. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Und es erging nicht nur ihr so. Auch die anderen konnten sich des düsteren Eindrucks nicht erwehren, den allein das Wort auf sie machte. »Drudin«, flüsterte Mythor überlegend. »Er ruft den Sieger zu sich? Der Sieger steht dem Priester selbst gegenüber, von Angesicht zu Angesicht?« O’Marn nickte nur. Ein hartes Lächeln spielte um Mythors Lippen, und da wußte der Ritter, daß Mythor einen Entschluß gefaßt hatte. »Gibt es besondere Kontrollen für Krieger, die von außerhalb kommen, um an dem Turnier teilzunehmen?« O’Marn begann zu ahnen, was Mythor beabsichtigte. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Es gibt nur oberflächliche Kontrollen. Denn wer würde es schon wagen, sich als Feind Caers in die Höhle des Löwen zu begeben?« »Ich«, sagte Mythor trocken. »Du bist verrückt!« schrien Kalathee und Nyala gleichzeitig auf. »Hat dir der Anblick nicht gezeigt, was da unten auf uns und die ganze Welt lauert?« fügte Kalathee hinzu. »Mythor, was immer du vorhast, vergiß es!« Mythor schüttelte den Kopf. Während Coerl O’Marn erzählt hatte, war in ihm ein Gedanke gereift. Es war ein riskanter Plan, der ihn das Leben kosten konnte. Aber er war zu der Ansicht gekommen, daß das Ergebnis das Risiko wert sein mußte. »Ich werde an dem Turnier teilnehmen«, sagte er fest. 111
Nottr zog sein Krummschwert. »Halt einmal still!« verlangte er. »Warum?« »Damit ich dir den Kopf abschlagen kann«, sagte der Barbar grimmig. »Das geht schneller, erspart uns die Angst um dein Schicksal und dir den beschwerlichen Abstieg und die Kämpfe. Denn tot wirst du so oder so sein, wenn die Sache vorüber ist. Du bist wahnsinnig.« »Steck die Klinge wieder ein«, sagte Mythor lächelnd. »Ich bin durchaus nicht wahnsinnig, und ich rechne mir auch gute Chancen aus. Ich stelle mir die Sache so vor, daß die Möglichkeit eines Sieges besteht. Ich traue mir durchaus zu, es mit den Caer-Kriegern aufzunehmen. Wenn ich also siege und Drudin mich zu sich ruft…« »… wird er dich zu seinem Werkzeug machen«, unterbrach Nottr. »Wenn ich ihm gegenüberstehe, habe ich die Möglichkeit, ihn zu töten und damit die Dunklen Mächte empfindlich zu schwächen.« »Caers Blut!« fluchte O’Marn und spuckte aus. »Du unterschätzt Drudins Macht und Stärke! Niemand kann ihn töten!« Der Ritter kam mit wuchtigen Schritten auf Mythor zu, schob Nyala sanft, aber bestimmt zur Seite und stieß Mythor die geballte Hand dicht vor die Brust. »Du Narr!« knurrte er. »Ich habe dir die Ebene der Krieger gezeigt, um dir deine Illusionen zu nehmen. Ich hatte gehofft, du wärst einsichtig genug, aufzugeben. Niemals kannst du Caer besiegen, niemals die Dunklen Mächte schwächen und niemals gegen Drudin bestehen. Du wirst sterben!« Mythor lächelte immer noch. Er schob die Faust des Hünen beiseite. »Wer ist Drudin?« fragte er. »Ein Mensch, ein Dämon, eine dämonische Gottheit?« »Ein Mensch«, knurrte Coerl O’Marn. »Ein Mensch, der über 112
furchtbare Kräfte gebietet. Niemand kann ihn töten! Auch du nicht, Mythor. Du wirst ihm gar nicht so nahe kommen, daß du mit dem Schwert zustoßen kannst. Und selbst wenn deine Klinge in sein Herz führe, ich bezweifle, ob du ihn damit töten könntest! Wahrscheinlich würde er nur lachen und dich einen qualvollen Tod sterben lassen!« Mythor preßte die Lippen zusammen. »Und wenn ich ihn nicht töten kann, kann ich zumindest einiges über ihn erfahren. Von jenen im Lager, die Drudins Macht kennen. Und von Drudin selbst, wenn ich ihm gegenüberstehe.« Steinmann Sadagar lachte auf. »Wem nützt dein Wissen, wenn du tot oder Drudins Werkzeug bist?« »Es gibt immer eine Möglichkeit«, murmelte Mythor. »Du gehst stets davon aus, daß du siegen wirst«, wandte Nyala ein. »Doch was ist, wenn du verlierst? Sieh die vielen Krieger dort unten. Einige hundert werden kämpfen. Und ausgerechnet du willst siegen? Die Chancen stehen gegen dich, so stark und schnell du auch bist.« »Dreihundertsechsunddreißig Teilnehmer wird es geben«, sagte Coerl O’Marn dumpf. »Wie jedesmal. Es ist eine feststehende Zahl. Du wirst dreihundertfünfunddreißig Gegner haben. Und jeder ist sicher, daß er siegen wird.« »Ihr könnt mich nicht umstimmen«, erwiderte Mythor. »Ich gehe hinunter. Selbst wenn es nicht gelingt, war es wenigstens den Versuch wert. Ich muß es einfach tun.« »Narr«, brummte O’Marn. »Du hast keine Chance da unten. Und ich werde dich nicht unterstützen können. Ich kann nicht mitkommen, jeder dort unten würde mich sofort erkennen. Erstens bin ich ein Ritter und als solcher weithin bekannt, und zum anderen habe ich selbst auch schon einmal an einem Drudin-Turnier teilgenommen und es gewonnen. Sie wissen es alle da unten.« Mythor betrachtete O’Marn aufmerksam. Er verstand die 113
Beweggründe des Caer. Der Ritter hatte sich wohl innerlich von seinem Herzogtum losgesagt, und abgesehen davon mußte sich sein Verschwinden inzwischen herumgesprochen haben. In dieser unruhigen Zeit waren Nachrichten und Gerüchte schneller als der Wind. Wenn O’Marn jetzt überraschend in der Ebene der Krieger auftauchte, mußte das Aufsehen erregen. Aber was hatte der Ritter behauptet: Er hatte ein DrudinTurnier gewonnen? Als Mythor sich mit seiner Frage vergewissern wollte, verschloß sich O’Marns Gesicht. Der Ritter wandte sich ab. Es war offensichtlich, daß er sich dazu nicht mehr äußern wollte. Er schien bereits zuviel gesagt zu haben. »Ich werde mich schon durchschlagen«, sagte Mythor. Coerl O’Marn wandte sich noch einmal Mythor zu. »Noch eines«, sagte er. »Du wirst damit rechnen müssen, daß sie dich sofort als Feind Caers erkennen. Was würdest du tun, wenn du ein Caer wärst und sähst einen Krieger auftauchen, der das Gläserne Schwert mit sich führt?« »Ich würde ihn für Mythor halten«, brummte der Sohn des Kometen. »Aha!« schrie Nottr. »Und da du als Caer wüßtest, daß Mythor ein Feind der Dunklen Mächte ist, würdest du ihn erschlagen! Nicht wahr?« »Das ist schon möglich«, gestand Mythor. »Aber…« »Kein Aber«, sagte Nottr. »Sie werden dich töten, sobald du auftauchst. Es wäre geradezu ein Wunder, wenn noch niemand im Lager von dem Krieger mit dem Gläsernen Schwert gehört hätte. Und selbst wenn die Krieger es nicht wissen, die Priester wissen es auf alle Fälle!« »Laß mich doch ausreden, Barbar!« brummte Mythor. »Selbstverständlich werde ich mich hüten, Alton und den Helm der Gerechten in aller Öffentlichkeit spazierenzuführen. Es wird eine Möglichkeit geben, sie zu verbergen.« 114
»Du mußt wirklich verrückt sein, Mythor«, sagte Sadagar leise. »Und du ziehst uns mit in deinen Untergang hinein.« Der Dunkelhaarige legte den Kopf leicht schräg. »Wer hat denn gesagt, daß ich euch mitnehme?« fragte er verwundert. »Davon war doch niemals die Rede! Coerl O’Marn hat schon zu erkennen gegeben, daß er nicht mitkommt. Soll er allein zurückbleiben? Ihr werdet hier auf mich warten.« »Dann können wir uns auf eine lange Wartezeit gefaßt machen«, sagte Nottr. »Ich werde ein paar Bäume fällen, damit wir uns ein Haus bauen können, ehe der Winter kommt.« »Ich komme zurück, verlaßt euch darauf«, behauptete Mythor. Der Lorvaner verzog das Gesicht und bewegte unruhig die Schultern. Seine gesamte Gestik strahlte deutliches Unbehagen aus. »Du bist allein hilflos«, meinte er. »Ich kann es nicht mit ansehen, wie du in deinen Tod rennst. Ein richtiger Turnierkämpfer benötigt einen Waffenträger. Ich komme mit, dann hast du wenigstens eine kleine Chance.« Mythor grinste erleichtert. »In Ordnung, Nottr«, sagte er. »Laß uns gehen.« *
Als die Sonne sich um zwei Handspannen weiterbewegt hatte, brachen die beiden Männer auf. Sie hatten Pläne geschmiedet, wie sie in das riesige Lager eindringen wollten. Nottr zeigte sich, was das Gelingen anging, äußerst skeptisch. Aber dennoch konnte ihn nichts mehr davon abhalten, Mythor zu begleiten. O’Marn hatte Mythor noch einige Verhaltensregeln gegeben, ihn auf verschiedene Dinge aufmerksam gemacht. Dankbar hatte Mythor die Ratschläge entgegengenommen. Dann hatte er sich gemeinsam mit Nottr an den Abstieg in die Ebene ge115
macht. Die anderen sahen den beiden nach. Kalathee blickte den Caer an. »Glaubst du, daß er es schafft, Coerl?« Der Ritter hob die breiten Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich traue ihm viel zu, warum nicht auch einen Sieg beim Drudin-Turnier? Aber alle Geister der Unterwelt und Caers Blut… Wenn er siegt, wird er es bereuen!« Kalathee schluckte. »Mythor«, flüsterte sie. »Ich wünsche dir alles Glück, das du brauchst!« Der eisige Wind riß ihr die Worte von den Lippen. Weiter unten kletterten der Lorvaner und der Mann mit dem Gläsernen Schwert in die Tiefe hinab. * »Dieser Idiot«, murmelte der Henker. Seine dunklen und scharfen Augen musterten den Riesen Kwinn, der sich breitbeinig vor einem anderen Krieger aufgestellt hatte und sich seiner Taten rühmte. Rhubo, der Caer-Henker, saß in der Öffnung seines Zeltes und betrachtete das Geschehen um ihn her. Er hielt sich zurück; nur selten verließ er das Zelt und mischte sich unter die anderen. Sein Tagesablauf unterlag einem strengen Ritus. Er trainierte für die Kämpfe, hielt sich vom Fusel fern und nahm kräftigende Mahlzeiten zu sich. Rhubo wußte genau, worauf es bei den Kämpfen ankam. Schon mehrmals hatte er an Turnieren teilgenommen. Wie Kent war er auch schon einmal Sieger gewesen. Außerdem hatte er bereits wertvolle Erfahrungen sammeln können und konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Anders der Riese Kwinn, ein Hüne von Gestalt, der den lieben langen Tag damit verbrachte, mit seiner Kraft zu protzen. Er hielt sich für den Stärksten, Tapfersten und Klügsten im 116
ganzen Lager. Was die Stärke anging, konnte ihm so schnell niemand widersprechen, aber ansonsten… Rhubo lächelte zurückhaltend. Immerhin galt Kwinn als einer der Favoriten in diesem Turnier. Aber er beging Fehler. Nicht nur Rhubo hielt Kwinns Vorgehen für falsch. Dadurch, daß der Riese protzend und prahlend durch das Lager marschierte und seine Stärken pries, machte er seine Konkurrenten ungewollt auf seine Schwächen aufmerksam. So entnahm Rhubo den Reden des Riesen zum Beispiel, daß dieser ausgezeichnet mit dem Schwert umgehen konnte, aber mit dem Morgenstern nichts anzufangen wußte, denn er erwähnte diese Waffe bei seinen Prahlereien nicht ein einziges Mal. Und Rhubo wußte aus früheren Turnieren, daß diese heimtückische, an der Kette kreisende Stachelkugel mit absoluter Sicherheit zu den Waffen gehörte, die im Drudin-Turnier zur Anwendung kamen. Also ein Punkt, in dem der Riese Kwinn zu schlagen war. Kwinn prahlte weiter. Der andere Krieger, den Rhubo nicht kannte, wandte sich still ab und wollte seines Weges gehen. Doch Kwinn war anderer Meinung. »He, was ist?« brüllte er. »Hast du Angst vor mir bekommen, daß du dich zurückziehst?« Der Krieger wandte den Kopf. »Mitnichten, Kwinn, aber dein Geschwätz ödet mich an!« »Was?« brüllte Kwinn. »Halt still, damit ich dir eins über den Schädel ziehen kann!« Er verausgabt sich bereits jetzt mit seinen Herausforderungen, dachte Rhubo. Er war einer derjenigen, die ein Einzelzelt beanspruchen durften. Die meisten Krieger im Lager mußten zu dritt oder zu viert in einem gemeinsamen Zelt hausen. Aufgrund seiner kämpferischen Leistungen und seiner gesellschaftlichen Stellung genoß Rhubo das Privileg eines Ein117
zelzelts, einmal ganz abgesehen davon, daß sich die meisten Caer geweigert hätten, mit diesem unheimlichen Mann das Zelt zu teilen. Immerhin war Rhubo einer der gefürchtetsten Männer des Herzogtums. Zwar bestimmte er nicht über Tod oder Leben, aber er war die ausführende Hand. Der andere Krieger schien klüger zu sein als der Polterer Kwinn. Er schüttelte den Kopf. »Du kannst mir beweisen, wie stark du bist, wenn wir uns im Turnier gegenüberstehen. Ich halte es für sinnlos, uns jetzt schon zu verprügeln.« Sprach’s und ging davon. Verblüfft blieb Kwinn stehen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Ja gibt’s denn so etwas?« röhrte er. »Der Bursche kneift!« »Er ist nur ein wenig klüger als du«, sagte Rhubo halblaut. Kwinn hörte es, obwohl er rund zwanzig Schritt entfernt stand, und fuhr herum. Der Henker lächelte. »Willst du dich mit mir anlegen?« fragte er spöttisch. Der Riese Kwinn winkte heftig ab. »Ach, du… du hast gegen mich ohnehin keine Chance!« Rhubo lächelte wissend. »Was hältst du von einem Kampf mit dem Morgenstern?« »Pah!« stieß Kwinn hervor und stampfte davon. Rhubo schmunzelte. Vielleicht hatte Kwinn endlich etwas begriffen. Aber er glaubte nicht daran. Dafür hatte Kwinn einfach nicht genug Verstand. Rhubo sah dem Riesen nach, bis er zwischen den Zelten verschwand. Dann entspannte er sich und begann sich zu sammeln. Es galt, Geist und Körper auf das Turnier vorzubereiten. Rhubo war sicher, in der Spitzengruppe zu landen. Wer der Sieger sein würde, vermochte er nicht zu sagen. Einer aus der Favoritengruppe, das war sicher. O’Karwain, Kent, Coorn, von Corvanth oder er; und wenn das Glück dem 118
Riesen hold war, mochte auch vielleicht Kwinn den Sieger stellen. Aber daran mochte Rhubo am wenigsten glauben. * »Heee, hooo!« brüllte der Rottenführer. Muskeln spannten sich, harte Fäuste packten kraftvoll zu. Prinz Adin von Corvanth verfolgte mit einiger Spannung die Arbeit. Die halbnackten, muskulösen Gestalten der Arbeiter waren in ständiger Bewegung. Es war das erste Turnier, an dem der Prinz teilnahm, und allein die Vorbereitungen waren für ihn ein beeindruckendes Schauspiel. Aufmerksam verfolgte er, wie die Männer der Rotte damit beschäftigt waren, eine hohe Tribüne zu errichten, auf denen später die Ersten des Herzogtums, die Priester, die Adeligen und ihre Ladys den Turnierspielen beiwohnen würden. Die Höhe der zu errichtenden Tribüne deutete darauf hin, daß hier nur die Höhergestellten Platz finden würden. Doch bis jetzt standen erst das rohe Gerüst, die Stützpfeiler und die Verstrebungen. Das Pferd tänzelte unruhig. Der Prinz parierte es. Überall im weiten Rund waren Männer an der Arbeit. Eine der Tribünen war bereits fertig. Sie war niedriger, als jene sein würde, der die momentane Aufmerksamkeit des Prinzen galt. Wahrscheinlich würden hier die Krieger und unteren Offiziersränge ihre Zuschauerplätze finden. Eine Menge von Zelten hatte abgebrochen werden müssen, um Platz für die Arena und die Tribünen zu schaffen. Da die Drudin-Turniere nur zweimal im Jahr stattfanden, gab es keinen festen Platz; nach jedem Turnier wurden die Bauten wieder abgerissen, um Platz zu schaffen. Wenn die Spiele bevorstanden, wurde eine entsprechend große Fläche geräumt; die Betroffenen hatten sich nach anderen Plätzen für ihre Zelte 119
umzusehen. Die Arbeiten machten rasch Fortschritte. Dafür sorgte allein die Anwesenheit der Caer-Priester, die die heimlichen Herrscher des Ausbildungslagers waren. Adin beobachtete, wie einer dieser geheimnisumwitterten Männer in seinem silberverzierten Mantel und dem spitzen, knochenverzierten Helm am Rand der Baustelle dahinhuschte. Er schien mehr zu schweben, als zu gehen. Zu gern hätte Adin einen dieser Priester einmal ohne seinen Mantel gesehen, doch das kam nie vor. Etwas Unirdisches ging von diesen Gestalten aus, was den normalen Caer Schauer über den Rücken laufen ließ. Das Gerücht ging, daß die Priester unverwundbar seien, daß ein magischer Schirm sie umgebe. Adin verfolgte, wie die Arbeiter damit begannen, in schwindelnder Höhe auf dem Gerüst die ersten Bodenbretter zu verlegen, auf denen es später die Sitzbänke geben würde. Die Männer waren unglaublich schnell. Immer wieder erschollen die Kommandos des Rottenführers. Schließlich wandte sich Adin ab und gab seinem Pferd einen leichten Schenkeldruck zu spüren. Das Tier gehorchte sofort und setzte sich in Bewegung. Adin wollte zu seinem Einzelzelt zurückkehren. Doch vorerst kam er nicht dazu. Ein heller Ruf ließ ihn verharren. * »Wir haben zwei Verrückte im Lager«, sagte Ritter Jay von Horkus ruhig und stützte sich auf sein Schwert. Er fing einen seltsamen Seitenblick des Caer-Priesters auf, den dieser ihm unter seiner Gesichtsmaske hervor zuwarf. »Wen?« fragte Parthan. Er war klein, aber massig gebaut, und seine sanfte Stimme paßte nicht zu seinem Aussehen. Parthan war der eigentliche Befehlshaber des Lagers. Er entstammte dem Obersten Rat unter Drudin und ließ die anderen 120
immer wieder seine Macht fühlen. Jay von Horkus war lediglich der militärische Befehlshaber. »Sieh sie dir an«, sagte Ritter von Horkus. »Kwinn, dieser Pulverkopf, zum Beispiel. Wenn er nur halb so gut ist, wie er erzählt, wird er in Kürze die Welt aus den Angeln heben.« »Und der andere Verrückte?« »Die da«, sagte der Ritter. »Die da« war eine anziehende, zierlich wirkende Frau, die mit ihrem Gefolge langsam durch das Lager ritt. Sie saß auf einem der rassigsten Rappen, die Jay jemals gesehen hatte. Neben ihr, auf einem Pferd, das dem der kleinen Frau kaum nachstand, ritt ihre Zofe, auf der anderen Seite ein kahlköpfiger Hüne, ihr schwarzhäutiger Leibwächter. »Wenn es bei diesem Turnier einen Preis für Auffälligkeit gäbe, könnte sie sicher sein, zu gewinnen«, knurrte der Ritter. Ihre geballte Weiblichkeit, gehüllt in kostbare Kleider und wertvollen, seltsamen Schmuck, ließ den Ritter kalt. Frauen hatten ihn noch nie interessiert. Seine Begeisterung galt Waffen, Kampftechniken und der Ausbildung von Kriegern. »Diese Frau plant etwas«, sagte der Caer-Priester. Jay von Horkus lachte verhalten. »Sie plant immer etwas«, stimmte er zu. »Sie will Macht. Unterhalte dich eine halbe Stunde mit ihr, und du weißt, was ihre Ziele sind. Und ich bin sicher, daß sie erreicht, was sie sich vornimmt, und ihr ist jedes Mittel recht. Sie rechnet schon fest mit einem weltumspannenden Caer-Imperium, in dem sie eine führende Rolle einnehmen wird.« Der Ritter sah, wie die Augen des Priesters hinter der silberroten Maske schmal wurden. »Glaubst du nicht an ein weltumspannendes Imperium?« fragte er schnell. »Was ich glaube oder nicht, sollte dir egal sein, Priester«, sagte der Ritter kühl. »Aber wenn ich Zweifel hegte, würde ich dann dafür sorgen, daß hier immer neue und immer bessere 121
Krieger ausgebildet werden?« Der Priester schwieg. Er sah hinüber zu der jugendlich wirkenden Frau und ihren Begleitern. »Was hat sie jetzt wieder vor?« murmelte er, ohne weiter auf die Worte des Ritters einzugehen. * Adin von Corvanth verhielt sein Tier und wandte dann langsam den Kopf. Auch das noch! dachte er. Er sah die Frau mit ihren beiden Begleitern auf sich zureiten. Er war noch nicht persönlich mit ihr zusammengetroffen, hatte aber schon von ihr gehört. Sie war eine derjenigen, die auf der erhöhten Tribüne sitzen und den Turnierspielen zusehen würden: Prinzessin Lydia von Ambor! Prinz Adin entsann sich, was er über sie gehört hatte. Sie entstammte dem alten Geschlecht derer von Ambor zu Ambor. Über viele Generationen hatte diese Familie die Geschicke des gleichnamigen Herzogtums bestimmt. Adin wartete, bis die Prinzessin ihn erreicht hatte, und neigte grüßend den Kopf. Sie musterte ihn lächelnd. »Ein stattlicher junger Mann«, sagte sie schließlich und wandte den Kopf zu ihrem schwarzhäutigen Leibwächter. »Wer ist es?« Der Hüne sah sich in der Runde um und entdeckte Ritter Jay von Horkus am Rand des Platzes. Er winkte herrisch. Resignierend kam von Horkus herüber. Der Schwarze machte mit den Händen ein paar blitzschnelle Zeichen. Prinz Adin begriff, daß der Kahlkopf stumm war. »Das ist Prinz Adin von Corvanth, Eure Majestät«, sagte der Lagerkommandant. »Ihr kennt ihn noch nicht, Prinzessin Lydia?« »Ich hatte bislang noch nicht das Vergnügen, lieber Ritter«, sagte sie und entließ ihn mit einer hoheitsvollen Geste. 122
Adin starrte die Prinzessin an und zwang sich zu einem Lächeln. Eure Majestät, dachte er erschüttert. Für wen hält sie sich? Immerhin, für die sechsunddreißig Sommer, die man ihr nachsagte, wirkte sie erstaunlich jugendlich und anziehend. Dunkelblond gelockt umfloß ihr Haar das weiche Gesicht mit fast kindhaft großen, so unschuldig wirkenden Augen. Die vollen roten Lippen waren eine einzige Herausforderung. Adins Blicke wanderten verstohlen über ihren vollkommenen Körper, den das kostbare und in seinem einfachen Schnitt beeindruckende Kleid weich nachzeichnete. Adin spürte, wie seine Lippen trocken wurden. Diese Frau war atemberaubend, und sie wußte es. »Du gefällst mir«, sagte sie sanft. »Du scheinst auch ein guter Kämpfer zu sein, Adin von Corvanth.« Der Prinz schluckte. Ohne es zu wollen, befand er sich bereits in ihrem Bann. »Soll ich es dir beweisen?« fragte er leise. Der Kopf des Schwarzen ruckte herum. Ein drohender Blick traf den Prinzen. »Prinzessin Lydia ist mit Eure Majestät und mit Ihr anzusprechen«, sagte die Zofe, die klein und unscheinbar an der Seite der Prinzessin ritt. Lydia wandte den Kopf und sah sie an. »Danke, Aileen«, sagte sie weich. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, wir kehren bald zurück.« Die Zofe atmete hörbar auf. Adin war die Zuneigung der Prinzessin zu der alten Frau nicht entgangen, und sein Lächeln entkrampfte sich etwas. »Beweise es mir im Turnier«, sagte Lydia von Ambor lockend. »Wenn du dich gut hältst, vielleicht…« Sie sprach nicht weiter, sondern ritt an. »Kommt, Numir und Aileen!« Sie ließ ihn stehen wie einen kleinen Jungen, und Adin konnte nicht verhindern, daß ihm die Röte ins Gesicht schoß. Er sah der Frau nach, jede Linie ihres Körpers brannte sich in seinem 123
Gedächtnis fest. War es nicht fast ein Versprechen gewesen, das sie ihm gegeben hatte? Er ballte die Hände. Er mußte siegen! Für diese Frau! Mit einem wilden Kampfschrei gab er seinem Pferd die Hacken zu spüren. * »Sie hat die Männer im Griff«, sagte der Caer-Priester spöttisch, als Jay von Horkus langsam zurückkam. »Sogar dich, mein lieber Ritter. Ein Pfiff, und du tanzt!« »Diplomatie«, sagte der Ritter ungerührt. »Was soll’s? Ich will ihr den Glauben nicht nehmen, daß sie unwiderstehlich ist, und in gewisser Hinsicht erfüllt auch sie eine nützliche Funktion im Lager. Sie stachelt die Männer zu Höchstleistungen an.« »Mir wäre es lieber, wenn etwas anderes die Krieger anspornen würde«, brummte der Priester. Jay von Horkus nickte. »Sicher«, sagte er spöttisch. »Aber du verstehst eben nichts von Frauen, Parthan, und noch weniger von dem Einfluß, den sie auf Männer haben können.« »Du etwa?« regte sich Parthan auf. »Wann jemals sah man dich mit einer Frau?« Horkus hob die Schultern. »Was geht’s dich an?« fragte er und ließ den Priester stehen. Den Dunklen Mächten und ihren Vertretern stand er ablehnend gegenüber, es gefiel ihm nicht, daß die Macht Caers von den Priestern Drudins gestützt und beeinflußt wurde. Hatte Caer es nötig, sich auf diese fragwürdige Hilfe zu stützen? Waren die caerischen Krieger nicht auch so die besten der Welt? Manchmal fragte er sich, wie es dort draußen aussah, wie sich die Männer, die er ausbildete und ausbilden ließ, im Kampf bewährten. Seit Jahren war er nicht mehr aus dem La124
ger hinausgekommen. Er hörte nur immer wieder die Botschaften von gefallenen Städten und von Siegen seiner Krieger, und er war stolz darauf, eine Elitetruppe auszubilden, wie es sie kein zweites Mal gab. Er spürte die bohrenden Blicke des befehlenden CaerPriesters wie Lanzenspitzen in seinem Rücken. Die Priester kannten seine ablehnende Einstellung ihnen gegenüber. Seit langem schon war er ihnen ein Dorn im Auge, und Parthan, der Mann mit den blutigen Händen, wie er genannt wurde, war derjenige, der am heftigsten wider Jay von Horkus sprach. Aber da war seine ungebrochene Loyalität zu Caer, da waren seine Qualitäten. Die Krieger schätzten ihn als einen aufrechten und vor allem gerechten Mann. Wahrscheinlich hätte es im Lager einen Aufstand gegeben, wäre er überraschend gestürzt worden. Lydia von Ambor ließ sich von Numir aus dem Sattel helfen und gab ihrem Rappen einen leichten Klaps auf die Schulter. Dann wartete sie, bis Numir auch ihrer Lieblingszofe Aileen beim Absteigen geholfen hatte, und setzte sich in Bewegung. Der Schwarze überließ die Pferde in der Obhut eines Sklaven, der die Tiere zu versorgen hatte, dann folgte er seiner Herrin. Sie betraten die Zelt-Burg. Es war ein geradezu gigantisches, kunstvoll zusammengestelltes Gebilde, das sich beträchtlich von den im Lager üblichen Einzel- und Mannschaftszelten unterschied. Allein die Größe war beeindruckend; das Zelt verfügte über eine Unzahl von kleinen Räumen, die allesamt mit fast unverschämt wirkendem Luxus ausgestattet waren. Einige amborische Krieger bewachten die Zelt-Burg. Das seinerzeit von Caer unterworfene Herzogtum Ambor war inzwischen voll eingegliedert. Lydia wußte, daß ihre Zukunft bei Caer lag. Sie wollte Macht, und nur Caer konnte ihr Macht bieten, wenn sie es geschickt anstellte. Die amborischen Wächter waren auch weni125
ger eine Absicherung gegen Caer, sondern hatten nur darauf zu achten, daß nicht irgendwelche Tölpel, die ihre Versprechungen etwas zu ernst nahmen, überraschend in der ZeltBurg erschienen und unverschämt wurden. Die Prinzessin spielte mit den Kriegern, aber ihre Liebhaber suchte sie sich sehr sorgfältig aus. Momentan spielte sie mit dem Gedanken, den aus Weirdale stammenden Fürsten Coorn zu ihrem persönlichen Favoriten zu erklären, aber ganz sicher war sie noch nicht. Es gab da noch einige andere hervorragende Kämpfer, die berechtigte Aussichten hatten, im Turnier zu siegen oder zumindest auf den ersten Plätzen zu landen. Quinlain O’Karwain gehörte zum Beispiel dazu, der Ritter aus der Akinborg-Provinz Worles, oder der Krieger aus Gianton, Salmacar Kent, der bereits einmal Sieger gewesen war. Der Riese Kwinn war unbrauchbar, denn Lydia mochte keine dummen Männer. Und Rhubo, der Henker…? Irgendwie war er ihr unheimlich, aber nichtsdestoweniger faszinierend. Der Hauch des Todes, der ihn ständig umwehte, erregte sie. Sie lächelte, als sie an den jungen Adin von Corvanth dachte. Die von Corvanth waren alteingesessener Caer-Adel. Es mochte vielleicht ganz nützlich sein, sich ein wenig näher mit ihm zu befassen. Vielleicht konnte sie ihn benützen, um Verbindungen zu Herzog Murdon von Caer anzuknüpfen. Der Herzog war im Lauf der Zeit von den Priestern so gut wie entmachtet worden, aber noch galt sein Wort. Und Prinzessin Lydia ließ keine Chance aus, so weit wie möglich an die Spitze vorzudringen. * Hoch ragte das Küstengebirge mit seinen schroffen Zacken und Gipfeln auf, und zwischen dem Fuß des steil abfallenden 126
Gebirges und dem gigantischen Lager der Caer bewegten sich zwei Gestalten durch die Ebene. Männer, deren offenkundiges Ziel das Lager war. Sie kamen zu Fuß, ein ungewöhnlicher Anblick in der Ebene. Wer versuchte, ihre Spuren genau zu verfolgen, mußte erkennen, daß sie einen leichten Bogen gezogen hatten, um den eigentlichen Ort ihrer augenblicklichen Herkunft nicht allzu offenkundig werden zu lassen. Der beeindruckendere der beiden Männer war in weiches Leder gekleidet. Braune, geschnürte Pelzstiefel, ein kurzer Fellrock und ein hellbraunes Lederwams ließen genug von der Kraft und Geschmeidigkeit dieses Mannes ahnen. Er mochte etwa zweiundzwanzig Sommer zählen, seine Haut war von jenem Braun, wie es bei den Menschen in südlichen Ländern üblich war. Dunkles Haar fiel bis auf seine Schultern, die Augen schimmerten hell. Der zweite, untersetzte Mann mit braungelber Haut fiel vordringlich durch sein fehlendes linkes Ohr auf. Bis zu den Hüften hinab hing der Zopf, zu dem er sein Haar geflochten hatte. Der Mann zählte sechsunddreißig Sommer, aber seine zerfurchte Lederhaut ließ ihn älter erscheinen. Stellenweise war sein Körper mit Fell überwachsen. Über seinem Rücken hingen ein großer Bogen und ein Köcher mit Pfeilen, an seiner Seite hing ein kurzes Krummschwert mit diamantverziertem Griff. Pelzstiefel, Lederrock und geflochtene Felljacke ergänzten seine Erscheinung, und es war ihm anzusehen, daß ihm der Fußmarsch wenig behagte. Die Lorvaner waren ein Volk von Reitern. Mythor und Nottr bewegten sich nicht schnell, aber mit gleichmäßigem Tempo durch die Ebene. Der Barbar, der sich als Mythors Waffenträger ausgeben wollte, schleppte zusätzlich zwei in Stoffe eingewickelte Gegenstände mit sich: Mythors Gläsernes Schwert und den Helm der Gerechten. Mythor hatte Coerl O’Marns Warnung beherzigt. Es mochte sein, daß 127
man ihn an diesen beiden Gegenständen erkannte. Wenn er sie im entscheidenden Augenblick zum Vorschein brachte, war das früh genug. Immer näher kamen sie der riesigen Zeltstadt. Inzwischen konnten sie schon die ersten Menschen erkennen, die sie vom Felsen aus bereits beobachtet hatten. Hier und da stiegen dunkle, dünne Rauchfahnen zum Himmel empor und wurden vom kalten Wind davongetragen. Lagerfeuer, die ständig unterhalten wurden. Plötzlich gewahrte Mythor, daß eine Gruppe von Reitern aus dem Lager auf die beiden einsamen Wanderer zupreschte. Bald schon hatten die Reiter sie erreicht; schwerbewaffnete Caer-Krieger, die die beiden umkreisten und sie mißtrauisch musterten. Immerhin war es mehr als ungewöhnlich, daß sich jemand zu Fuß dem Lager näherte. »Wer seid ihr?« fragte der Anführer des kleinen Trupps. Offenbar handelte es sich um eine Streife, die sich um alles zu kümmern hatte, was im Vorfeld des Lagers geschah. Angesichts der beiden Wanderer war man aufgebrochen, um sie näher in Augenschein zu neh men. »Wir kommen aus Akinborg«, sagte Mythor. »Ich bin Kalmar, und das«, er deutete auf Nottr, »ist Ruden.« »Ich drehe dir den Hals um, alter Freund«, knurrte der Barbar in seiner abgehackten Sprechweise. »Ich bin nicht das, sondern der!« Unwillkürlich mußte Mythor grinsen. Auch der Anführer der Caer-Patrouille lachte, aber es war ein hartes, brutales Lachen, das den beiden Gefährten einen ersten Eindruck dessen vermittelte, was sie im Lager erwartete. »Aus Akinborg, soso…«, knurrte der Caer. »Ein langer Weg. Ihr habt ihn zu Fuß zurückgelegt? Alle Achtung!« »Unsere Pferde wurden uns von Wegelagerern abgenommen«, sagte Mythor. »Sie waren in der Überzahl. Wir wehrten 128
uns, aber sie waren zu viele. Vielleicht führen die Götter sie uns noch einmal unter besseren Umständen vor unsere Klingen…« Wieder erfolgte ein rauhes Gelächter. Ob die Caer Mythors knappe Erklärung glaubten oder nicht, blieb offen. »Und was treibt euch in diese Gegend?« fragte der Anführer. »Nein, warte«, stoppte er Mythor, als dieser antworten wollte. »Dein Freund Ruden ist so schweigsam. Er soll sprechen, oder ist er nicht dazu in der Lage?« Nottr bleckte seine gelben Zähne. »Du wirst schon sehen, wozu ich fähig bin«, bellte er. »Steig ab, damit ich dir das Gesicht auf den Rücken drehen kann!« »He, langsam«, wehrte der Caer ab. Nottr grinste. »Wir haben vom Drudin-Turnier gehört«, sagte er. »Vielleicht wollen wir teilnehmen!« Abermals lachten die Caer. »Zwei Burschen, die sich die Pferde haben abnehmen lassen«, grölte der Anführer. »Ich…« Was er noch sagen wollte, blieb unausgesprochen. Es ging alles blitzschnell. Sekunden später saß Nottr im Sattel des Caer-Pferdes, lachte über das ganze Gesicht und streckte dem am Boden liegenden Patrouillenführer das Schwert entgegen. »Noch Fragen?« Der Caer raffte sich mühsam auf. Seine Glieder schmerzten von dem Sturz. Er blickte zu Nottr auf, dann zu Mythor. Dann ging sein Blick in die Runde. Die anderen Caer schwiegen. Einige blickten finster drein. Nottr glitt wieder aus dem Sattel und schob sein Schwert in die Scheide zurück. Er griff nach den Zügeln des Tieres und drückte sie dem überraschten Caer in die Hand. Der Patrouillenführer schüttelte den Kopf. Er rätselte immer noch darüber nach, wie es Ruden gelungen war, ihn so blitzschnell zu überraschen und aus dem Sattel zu holen. »Dein Freund«, fragte er schnell und warf Mythor einen 129
mißtrauischen Blick zu, »ist er ebenso schnell?« Mythor lächelte. »Für den Hausgebrauch reicht es«, sagte er. Der Caer entspannte sich. Er streckte Mythor und Nottr die Hände entgegen. »Wäret ihr Feinde, hättest du mir nicht das Pferd zurückgegeben, Ruden. Steig hinter mir auf, ich bringe euch ins Lager. Du, Kalmar, kannst bei einem meiner Männer zusteigen.« Augenblicke später waren sie in vollem Galopp unterwegs. * »Ihr seid ein paar seltsame Vögel«, sagte der Patrouillenführer, als sie den Rand des Lagers erreicht hatten und absaßen. »Andere Teilnehmer an den Turnieren reiten mit Prunk und Protz und großem Gefolge ein.« Mythor zuckte mit den Achseln. »Wir mögen keinen übermäßigen Prunk«, sagte er. »Und das wenige, was wir mitbrachten, nahmen uns die Wegelagerer ab. An wen müssen wir uns wenden, um an dem Turnier teilnehmen zu können?« Der Patrouillenführer schürzte die Lippen. »Es geht nicht so einfach, wie du es dir vorstellst, Kalmar«, sagte er. »Die Teilnehmer, die aus dem Lager kommen, werden von den Priestern ausgewählt. Jene urteilen nach den Leistungen, die die Kandidaten bisher erbracht haben, denn es ist Unsinn, jemanden in die Arena zu stellen, von dem man von Anfang an weiß, daß er verliert. Das nimmt die Spannung. Und da die Priester über alles Bescheid wissen, können sie sorgfältig auswählen. Ihr seid von außerhalb. Für Fremde gibt es deshalb Zulassungsprüfungen, die ihr bestehen müßt. Denn hier im Lager kennt euch niemand, weiß niemand, wie gut oder wie schlecht ihr seid. Nur wer die Prüfungen besteht, wird zum Turnier zugelassen. Wollt ihr etwa beide…?« »Nur er«, sagte Nottr knapp. »Ich bin sein Waffenträger.« 130
»Du wärest würdig, teilzunehmen, glaube ich«, sagte der Caer. »Nun, die Konkurrenz ist groß. Nur dreihundertsechsunddreißig Krieger sind zugelassen, eine Zahl, die niemals eine Veränderung erfährt. Und allein im Lager gibt es bestimmt tausend Männer, die alle Voraussetzungen erfüllen. Du mußt schon ziemlich gut sein, Kalmar, um die Prüfung zu bestehen.« »Ich hege keine Bedenken«, sagte Mythor selbstbewußt. »An wen muß ich mich wenden?« »Wir reiten hier draußen Streife«, sagte der Caer. »Ich weiß nicht genau, wer die Prüfungen abhält. Am besten, ihr wendet euch direkt an den Befehlshaber, den Priester Parthan.« Er sah, wie Mythors Lider leicht zucken. »Oder, falls dir das nicht gefällt, an den militärischen Kommandanten, Ritter Jay von Horkus. Man wird dir sagen, welche Prüfungen du zu bestehen hast.« Mythor nickte. »Ich danke dir für deinen Rat«, sagte er. Der Caer streckte die Hand aus. »Mein Name ist Dafydd«, sagte er. »Ich wünsche dir Glück im Turnier.« Mythor ergriff die Hand des Caer und drückte sie. »Ich danke dir, Dafydd«, sagte er. Nebeneinander schritten dann Nottr und er weiter in das Lager hinein. Mythors Gedanken kreisten um Dafydd. Der Patrouillenführer war ihm durchaus nicht unsympathisch. Es war eine seltsame Sache. Das Herzogtum Caer, Werkzeug der Dunklen Mächte, war sein Feind, aber die einzelnen Caer wirkten durchaus menschlich. Einzelschicksale! Du darfst dich nicht beirren lassen! warnte etwas in ihm. Die einzelnen Caer sind unwichtig. Die hohe Politik wird von den Priestern bestimmt. Sie herrschen über Caer, von ihnen geht die Gefahr aus. Sie sind Caer, und Caer ist dein Gegner!
Mythor nickte stumm. Sein Ziel war Drudin, und er mußte jede Chance nutzen, um an den verfluchten Priester heranzu131
kommen und ihn außer Gefecht zu setzen! Langsam schlenderten sie durch das gigantische Lager dem Zentrum entgegen. Breite »Straßen« zogen sich durch die Ansammlungen von großen und kleinen Zelten. Mythor vermutete, daß sich in den kleineren Zelten Offiziere und Unteroffiziere oder andere höhergestellte Caer aufhielten. Die einfachen Krieger waren wahrscheinlich in den großen Massenzelten untergebracht. In verschiedenen Teilen des Lagers herrschte entweder Totenstille oder hektische Betriebsamkeit. Ganze Zeltgruppen waren vollkommen leer, obwohl alles darauf hindeutete, daß sie bewohnt waren. Offensichtlich rückte man in großen Gruppen zu den Übungsplätzen aus. Dort aber, wo sich Caer-Krieger bei den Zelten befanden, herrschte hektische Betriebsamkeit. Das Lagerleben stand vollkommen im Zeichen des bevorstehenden Drudin-Turniers. Mythor lächelte. Er beobachtete, wie die Krieger Wetten abschlossen. Offenbar gab es einige wenige Favoriten. Namen wie Salmacar Kent, Rhubo oder O’Karwain wurden erregt geschrien, und auch ein Riese namens Kwinn wurde von vielen Männern erwähnt. Unter anderen Begleitumständen wäre Mythor vielleicht auch froh gewesen, wenn sein Name unter denen der Favoriten erklungen wäre. Aber jetzt und hier war es ihm lieb, sowenig wie möglich aufzufallen. Er wollte sich zunächst das Lager näher ansehen, bevor er sich bei der Turnierleitung vorstellig machte. Hier und da waren annähernd runde Flächen freigehalten worden. Hier glommen Holzfeuer, die wahrscheinlich gegen Abend voll entfacht und tagsüber nur kurz vor dem Ausgehen gehalten wurden. Zuweilen wurden die beiden Männer von herumstehenden Kriegern gemustert. Allmählich näherten Mythor und Nottr sich dem Zentrum 132
des Lagers. Sie gewannen langsam einen Eindruck von der wirklichen Größe. Was sich ihnen von oben, vom Fels her, als eine unüberschaubare Fläche gezeigt hatte, wurde hier unten noch unüberschaubarer. Zu Fuß waren sie nun schon über zwei Stunden unterwegs, und das Lager fand kein Ende. Einmal blieb Mythor stehen und fragte einen Krieger. Jener zeichnete eine Faustskizze in den Boden, die die wichtigsten Punkte im Lager markierte. »Immerhin«, bemerkte Nottr, »kommen wir der Sache näher. Die Turnierleitung wird ihr Quartier sicher im Zentrum des Lagers aufgeschlagen haben.« Der Krieger, der sich Hwyllcor nannte, schüttelte sich heftig. »Im Zentrum?« stieß er hervor. »Nein, Ruden! Nicht im Zentrum!« Nottr machte ein verwundertes Gesicht. »Wo denn dann?« fragte er. Mythor indessen war der Unterton in den Worten des Caer nicht entgangen. »Was ist mit dem Zentrum?« fragte er. »Ihr seid Fremde, nicht wahr?« stieß Hwyllcor hervor. »Nun, ganz so fremd sind wir nicht«, versetzte Mythor. »Wir kommen aus Akinborg.« »Dennoch, ihr könnt es nicht wissen. Das Zentrum, das schwarze Zelt…« »Was ist damit?« hakte Mythor nach. Doch der Krieger wehrte ab. »Fragt nicht danach!« Jäh wandte er sich ab und verschwand. Aus verengten Augen sah Mythor ihm nach. »Das schwarze Zelt«, wiederholte er die Worte Hwyllcors. Beschworen die Priester dort die Macht der Schattenzone? Mythor straffte sich. »Komm, Ruden, wir gehen weiter. Wir werden bald genug herausfinden, was sich in dem schwarzen Zelt verbirgt.« »Hoffentlich überleben wir es.« murmelte Nottr, dem ein 133
Schauer über den Rücken lief. Nur zu deutlich hatte er das Erschrecken in den Augen Hwyllcors gelesen, als Mythor nach der Bedeutung seiner Worte fragte. * Der Mann sah aus wie der leibhaftige Tod. Hager und knochig, hochgewachsen und kahlköpfig stand er da, die Arme leicht angewinkelt. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und es sah aus, als sei er schon vor ein paar Tagen gestorben. Aber der äußere Eindruck täuschte. Padrig YeCairn war hellwach und quicklebendig. Niemand traute diesem Klappergestell Kraft und Schnelligkeit zu. Jeder, der ihn zum erstenmal sah, glaubte, YeCairn müsse alle seine Kraft darauf verwenden, die Knochen zusammenzuhalten, die durch seine pergamentene Haut zu dringen drohten. Den meisten entgingen die stählernen Sehnen. Padrig YeCairn bevorzugte Kleidung, die locker um seinen dürren Körper schlotterte und verbarg, daß seine Muskeln dennoch keinen Vergleich zu scheuen brauchten. Der Mann mit dem an einen Totenschädel gemahnenden Kopf hielt die knöehernen Hände zu Fausten geballt. »Noch ein Wort, und ich stopfe dir dein großes Maul«, sagte er mit Grabesstimme. Sein riesiges Gegenüber lachte dröhnend. »Oh, Gevatter Tod, verschone mich«, röhrte Kwinn. »Ich werde dich niemals wieder beleidigen.« Niemand entging der Spott in den Worten des Riesen, der auf seinem polternden und prahlenden Streifzug durch das Lager unversehens mit dem Knöchernen zusammengetroffen war, den man seiner Gestalt wegen scherzhaft »Gevatter Tod« nannte. Padrig YeCairn, der aus Weirdale stammte, lächelte, und es wirkte wie das Grinsen eines Totenschädels. Auch er hörte den 134
Spott aus Kwinns Worten heraus. Einen Augenblick überlegte er, ob es ratsam sei, seine Drohung wahr zu machen. Er sah blitzschnell in die Runde; zu viele Zuschauer gab es mittlerweile, die grundsätzlich immer durch Kwinns Gehabe angelockt wurden. »Ich habe dich gewarnt«, sagte Gevatter Tod leise. Abermals lachte Kwinn. YeCairn war schnell. Auch der Riese unterschätzte ihn. Gevatter Tod zog blitzschnell blank. Sein dürrer Arm, an dem die stählernen Muskeln und Sehnen durch das weite, schlotternde Gewand kaum zu sehen waren, flog hoch. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht grell auf und beschrieb einen weiten Bogen. Kwinns Lachen riß abrupt ab. Aus geweiteten Augen verfolgte der Riese die Bahn der Klinge, zu überrascht von der Schnelligkeit der Bewegungen YeCairns, als daß er eine Ausweichbewegung hätte machen können. Da war das Schwert des Knöchernen bereits heran und zischte haarscharf vor dem Gesicht des polternden Riesen vorbei. Augenblicke später steckte es bereits wieder in der Scheide, aber YeCairns Rechte schwebte über dem Knauf, bereit, die Klinge jederzeit wieder zu ziehen. Es schien nur so, als hätte sie Kwinn nicht berührt. Aber da fuhr die Hand des Riesen überrascht hoch zu seinem Gesicht. »Eh«, röhrte er. Verblüfft starrte er seine Fingerspitzen an, die eine rote Spur zeigten, das gleiche Rot, das sich an seiner Nasenspitze zeigte. Schallendes Gelächter erklang. Der Riese wurde blaß. Gevatter Tod hatte ihm zielsicher mit der Schwertspitze die Nasenspitze angeritzt! Erst jetzt bemerkte Kwinn den leichten Schmerz der unbedeutenden Wunde, aber was schlimmer brannte, war das spöttische Gelächter der Zuschauer, die dem Prahler die Lektion gönnten. Finster starrte Kwinn den Mann aus Weirdale an. Padrig 135
YeCairn lächelte. »Genügt dir das, Kwinn?« fragte er leise. »Ich sagte dir doch, daß ich dein großes Maul stopfen würde! Ich mag Leute nicht, die sich auf Kosten anderer aufspielen, als seien sie die Herren der Welt.« Wie klirrendes Eis klangen seine Worte. Mahnend und drohend zugleich. Die Krieger entsannen sich der Worte Kwinns, der Gevatter Tod als Klappergestell beschimpft hatte. Sinngemäß hatte er gefragt, welchem Irrtum die Turnierleitung unterlegen sei, als sie einen lebenden Toten zum Drudin-Turnier zugelassen hatte. Er solle sich lieber selbst einscharren, tief unter die Erde, wo seine Knochen hingehörten, statt die anderen Kämpfer im Turnier zu behindern. Und jeder, der die Worte Kwinns gehört hatte, war auf die Reaktion YeCairns gespannt gewesen. Kwinn war totenbleich, fast noch blasser als der Schädel YeCairns. Er schwieg. Mit geballten Händen starrte er YeCairn an, senkte aber unter dessen herausfordernd stechenden Augen den Blick. YeCairn wandte sich achselzuckend um und schritt davon. Für ihn war der Fall erledigt. Nicht aber für den Polterer. »Achtung!« schrie eine Stimme aus der Gruppe der Zuschauer. Instinktiv ließ YeCairn sich fallen. Ein Messer zischte mit pfeifendem Geräusch über ihn hinweg und bohrte sich etwa zehn Schritt weiter in den lockeren Boden. Im nächsten Moment wirbelte Gevatter Tod herum. Sein Schwert blitzte wieder auf. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen funkelten, als er Kwinn anstarrte. Kwinn, der die Hand noch erhoben hatte, wirkte wie eine Statue. Langsam, fast zu langsam ging sein Blick in die Runde und suchte nach dem Warner. Dann sah er wieder YeCairn an. Ruhig stieß Gevatter Tod die Klinge in die Scheide zurück. »Du hast dich nicht in der Gewalt, Kwinn«, sagte er gelassen. 136
»Ich möchte dir nicht wünschen, mir in der Arena gegenüberzustehen. Es wäre dein Ende.« »Warum tötest du ihn nicht jetzt?« schrie jemand aus der Runde. »Er wollte dich heimtückisch ermorden!« »Er wird es kein zweites Mal versuchen«, sagte Gevatter Tod dumpf. »Und ich will ihm die Gelegenheit nicht nehmen, sich im Turnier zu blamieren. Er mag vorerst gehen, ich bin nicht nachtragend. Aber er soll sich hüten, gegen mich anzutreten.« Kwinn wandte sich abrupt um und schritt hastig davon. Er wußte, daß er in diesem Teil des Lagers nichts mehr zu gewinnen hatte. Er hatte einen Fehler begangen, indem er Gevatter Tod mit seinen Prahlereien provozierte, hatte die Gefährlichkeit des Knöchernen unterschätzt. Padrig YeCairn sah ihm nicht nach. Er sah wie zuvor Kwinn in die Runde und versuchte den Warner zu erkennen. Plötzlich wurden seine Augen schmaler, und mit einem jähen Ruck setzte er sich in Bewegung. Direkt auf Mythor zu! * Nach dem Bad hatte Lydia von Ambor sich von ihrer Lieblingszofe wieder ankleiden lassen. Sie trug jetzt ein lang fallendes Gewand, das aus dem Garn der seltenen Scy’lairnSpinne gewebt worden war. Eine Elle dieses seidenweichen, anschmiegsamen Gewebes kostete soviel, wie ein Krieger im Dienste Caers in drei Monden verdienen konnte. Die Prinzessin strich mit den Händen über das durchscheinende Gewand, das die Reize ihres Körpers mehr hervorhob denn verbarg. Ihre Gedanken kreisten abwechselnd um Fürst Coorn, den Kämpfer aus Weirdale, und den Jüngling Adin von Corvanth. Die Vorstellung des Prinzen durch Ritter von Horkus war mehr eine Spielerei gewesen, natürlich kannte Lydia Adin aus Erzählungen und Beschreibungen. Adin nahm zum erstenmal 137
am Drudin-Turnier teil. Er galt als schneller, hervorragender Kämpfer, aber ihm fehlte die Erfahrung. Lydia schätzte, daß er den dritten oder vierten Platz erringen würde, nicht mehr. Dennoch war es ratsam, ihm Hoffnungen zu machen; immerhin ließen sich Verbindungen knüpfen. Und Macht und Einfluß waren die beiden einzigen Götzen, die es im Leben der Prinzessin von Ambor gab. Das, was andere Menschen unter Liebe verstanden, hatte sie niemals kennengelernt. In gewisser Hinsicht war sie gefühlskalt, benutzte das, was sie als Liebe ausgab, als Mittel zum Zweck. Sie strich sich durch ihre blonden Locken und griff nach dem Krug mit Honigbier, den einer ihrer Sklaven bereitgestellt hatte. Ihr heimliches Laster. Sie genoß das Getränk und ließ es über ihre Zunge rinnen. Sie liebte den berauschten Zustand, der nach einigen Krügen erreicht wurde, und den süßen Geschmack des Getränks. Lydia klatschte in die Hände. Der Sklave erschien und verneigte sich. Die Prinzessin hielt ihm den leeren Krug entgegen. »Füllen!« befahl sie. Hurtig eilte der Sklave davon, um den Befehl seiner Herrin auszuführen. Lydia von Ambor lächelte. Vielleicht würde sie in dieser Nacht Fürst Coorn zu sich holen. Aber bis dahin würde sie noch einige Krüge mit süßem Honigbier genießen. Was wohl Adin von Corvanth in diesem Augenblick anstellte? Wahrscheinlich verging er fast vor Liebesglut. Er war noch jung, und Lydia hatte genug Männer seines Alters kennengelernt, um seine Reaktionen vorauszusehen. Vom ersten Moment an hatte sie gewußt, daß er ihrer Ausstrahlung verfallen war. Vielleicht würde sie ihm tatsächlich eine Nacht gewähren – doch nur, um dabei Verbindungen zu knüpfen zum Zentrum der Macht. * 138
Der Mann, der aussah wie der leibhaftige Tod, blieb vor Mythor stehen. »Ich danke dir für deine Warnung, aber du hast dir in Kwinn einen Feind geschaffen. Ich bin Padrig YeCairn.« Er streckte die Hand aus. Mythor ergriff sie mit gemischten Gefühlen. Jetzt hatte er doch Aufmerksamkeit erregt, was er eigentlich gar nicht wollte. Aber er hatte auch nicht einfach zusehen können, wie der rachsüchtige Riese dem Caer das Messer in den Rücken schleuderte. »Du siehst wirklich aus wie Gevatter Tod«, sagte Mythor lächelnd. »Ich bin Kalmar.« YeCairn betrachtete Mythors Kleidung. »Du bist fremd im Lager? Ich schulde dir Dank, sei mein Gast für die Dauer deines Besuchs.« Mythor machte ein umfassende Handbewegung. »Das ist Ruden, mein Waffenträger«, sagte er. »Wir wollen am Turnier teilnehmen.« Padrig YeCairn sah den Barbaren an. »Eine gute Idee«, sagte er. »Seid ihr schon eingeteilt?« »Wir sind gerade ins Lager gekommen«, antwortete Nottr. »Wir suchen noch nach der Turnierleitung.« Padrigs Totenschädelaugen vergrößerten sich. »Aber… ihr seid zu Fuß«, sagte er überrascht. »Ihr seid doch wohl nicht zu Fuß gekommen?« »Die Pferde wurden uns von Wegelagerern abgenommen«, erzählte Mythor seine Geschichte von der haushohen Übermacht, gegen die sie schließlich hatten unterliegen müssen. Gevatter Tod schürzte die dünnen Lippen. »Das ist eine seltsame Geschichte«, meinte er. »Von Wegelagerern, noch dazu in solcher Zahl, hört man in letzter Zeit eigentlich wenig in der Ebene. Aber was soll’s. Ich lade euch zu einem kleinen Trunk ein.« 139
Mythor grinste. »Das ist ein Wort«, sagte er. Dann zuckte er zusammen, als Gevatter Tod ihm kräftig auf die Schulter schlug und ihn zum Mitkommen aufforderte. Lieber Himmel, hatte dieses Knochengestell eine Kraft… * Ritter Jay von Horkus machte einen seiner üblichen Rundgänge durch die inneren Bezirke des Lagers. Im Gegensatz zu vielen anderen Offizieren tat er dies nicht zu Pferd, sondern ging zu Fuß. Hier, im Mittelpunkt des gigantischen Lagers, herrschte hektisches Treiben. Krieger eilten einzeln oder in Gruppen geschäftig hin und her. Von einem der Pferche schlug dem Ritter die Ausdünstung der Pferde entgegen, und er lächelte. Solange er ein Schwert und ein Pferd besaß, fühlte er sich wohl. Ritter Jay bewegte sich zwischen den großen Mannschaftszelten hindurch und an den kleinen Spitzzelten derer vorbei, denen Einzelunterkünfte zustanden. Fast alle der Heroen, die als Favoriten des Turniers galten, lebten in Einzelzelten. Vor einem der Zelte blieb Jay von Horkus kurz stehen. Der Zelteingang war zurückgeschlagen und gab den Blick ins Innere frei. Salmacar Kent, der Krieger aus Gianton und Sieger im vorletzten Turnier, hockte im Lotossitz am Boden und rührte sich nicht. Er schöpfte seine Kräfte aus der geistigen Sammlung. Im Hintergrund erkannte Jay eine Art Zielscheibe, die über einen besonderen Mechanismus verfügte, der verschiedene Ziele auf der Scheibe in Bewegung versetzte. Der Ritter wußte, daß Salmacar Kent seine Pfeile über mehr als hundertfünfzig Schritt hinweg ins linke Auge eines Mannes senden konnte. Auch was den Schwertkampf anging, hatte der Giantoner eine besondere Taktik entwickelt. 140
Langsam ging Jay von Horkus weiter. Lärm scholl ihm entgegen. Er beschleunigte seine Schritte und sah zwei sich prügelnde Caer vor einem Mannschaftszelt. Er schüttelte den Kopf. Auch diese beiden waren bereits für das Turnier ausgewählt und eingeteilt worden. Wahrscheinlich hatten sie sich gegenseitig ihre eigenen Fähigkeiten und die Fehler des anderen vorgehalten, was dann zum Streit führte, oder sie wollten einfach ihre Kräfte erproben. Von Horkus bewegte sich noch schneller. Mit kräftigen Fausthieben durchbrach er die Gruppe der Schaulustigen und griff in die Auseinandersetzung ein. Der eine flog nach rechts, der andere nach links, und dann stand von Horkus zwischen ihnen und ließ sein Donnerwetter los. »Ihr seid wohl von der Orkspinne gebissen!« brüllte er. »Eure Kräfte auf diese Weise zu vergeuden! Ich dachte bisher, die Priester würden bei der Auswahl auch das Gehirn mit beurteilen! Bei euch scheint das nicht der Fall gewesen zu sein!« Finster starrten die beiden Krieger sich und den Lagerkommandanten an. »Er hat angefangen«, sagte der Linke, dessen Auge bereits eine buntschillernde Färbung annahm. Der andere wollte widersprechen, aber der Ritter ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Ich will nicht wissen, wer angefangen hat«, sagte er laut. »Geht euch aus dem Weg! Wenn die Einteilung und eure Leistungen es ermöglichen, werdet ihr euch im Turnier wiedersehen. Dann könnt ihr nach den Regeln aufeinander einschlagen! Nicht aber hier und jetzt!« Damit ließ er sie stehen und ging weiter. Vorfälle dieser Art waren an der Tagesordnung. Nur die wirklich großen Kämpfer verhielten sich ruhig und zurückgezogen vielleicht, weil sie es längst nicht mehr nötig hatten, mit ihren Kräften und Fähigkeiten zu protzen. Mit den anderen, vornehmlich jenen, die zum ersten Mal am Drudin-Turnier teilnahmen, gab es oft 141
Schwierigkeiten. Jay von Horkus kribbelte es förmlich in den Fingern, als er an das bevorstehende Turnier dachte. Es juckte ihn, ebenfalls teilzunehmen. Aber als militärischer Befehlshaber des Lagers trug er eine große Verantwortung. Also würde er sich damit begnügen müssen, jenen zuzusehen, die er ausgebildet hatte. In gewisser Hinsicht war das auch eine Teilnahme seiner Person, wenn auch nur indirekt. Er sah eine Gestalt zwischen den Zelten verschwinden. Ein Priester! Sie beobachteten ihn oftmals. Suchten sie nach irgend etwas, das sie ihm anhängen konnten, um den von ihnen ungeliebten Kommandanten von seinem Posten zu entfernen? »Sollen sie ruhig«, murmelte Ritter Jay von Horkus. Er war bereit, sich jederzeit auch mit den Priestern auseinanderzusetzen. Die Macht, die sie vertraten, gefiel ihm nicht. Weit vor sich sah er die gigantische Zelt-Burg der Prinzessin von Ambor auftauchen, die fast soviel Platz einnahm wie ein großes Mannschaftszelt. Er überlegte, ob er ihre Ausdehnung nicht auf ein vernünftiges Maß zurechtstutzen sollte. Immerhin konnte eine Reihe der an den Lagerrand umgesiedelten Krieger dort ihren Platz finden. Dann aber entschied er sich gegen seine Idee. Lydia von Ambor besaß inzwischen zuviel Macht. Zu vertraut war sie bereits mit den Caer-Führern. »Lassen wir ihr ein wenig Narrenfreiheit«, murmelte Jay. »Und wenn das Turnier vorbei ist, wird sie ohnehin wieder abreisen. Was sie jetzt wieder ausbrüten mag?« Er war ahnungslos. Er ahnte auch nicht, wer sich mittlerweile im Lager befand. * Mythor und Nottr alias Kalmar und Ruden waren Padrig YeCairn gefolgt. Gevatter Tod schritt voraus und wich dabei von 142
der Hauptstraße des Lagers ab, die sich über zwanzig Schritt breit vom Rand des Lagers zum Mittelpunkt hin erstreckte, um sich auf schmaleren Pfaden zwischen den dicht an dicht stehenden großen und kleinen Zelten hindurchzubewegen. Schließlich blieb er vor einer hölzernen Hütte stehen. Mythor hob die Brauen. Es war das erste Mal, daß er hier Holz sah. Er fragte Gevatter Tod danach. YeCairn lächelte, und es wirkte wie das Grinsen eines Dämons. Mythor wollte ihm nicht überraschend im Dunkeln begegnen. »Es ist notwendig«, sagte YeCairn mit seiner geisterhaft wirkenden Stimme. »Dies ist eine der Feldschenken. Was glaubst du, Kalmar, was hier los ist, wenn die Betrunkenen sich prügeln? Die Wände eines Zeltes würden es niemals aushalten. Deshalb werden die Schenken und einige andere Bauten aus Holz errichtet. Das ist massiv und hat schon so manchen Kriegerschädel aufgehalten.« Mythor konnte sich denken, was mit den »einigen anderen Bauten« gemeint war. Es gab kein Feldlager, in dem es nicht Frauen gab, die dafür sorgten, daß die Krieger ihren Sold nicht lange bei sich behielten. Hier, in der Ebene der Krieger, würde es nicht anders sein. »Kommt, ich lade euch ein«, sagte Padrig YeCairn und trat ein. Er stieß die Tür nach innen auf und betrat den schwach erhellten Raum. Nur wenig Licht drang durch kleine Fenster, und an den Wänden flackerten Kerzen. Obgleich draußen heller Tag war, herrschte hier ein eigentümliches Dämmerlicht. Ein feister, spitzbärtiger Mann tauchte hinter dem breiten Tresen auf und musterte die drei Eintretenden mit verkniffenen Schweinsaugen. Mythor sah sich mit einem raschen Blick um. Nur drei weitere Caer saßen an einem runden Tisch in einem dämmrigen Winkel der Schenke und würfelten. Gevatter Tod hieb mit der Faust auf den Schanktisch, und als 143
er sie wieder hob, lagen einige kleine Münzen auf der Holzplatte. »Drei überschäumende Krüge mit Honigbier, Dicker«, verlangte er. »Schnell!« Mit einer Beweglichkeit, die man ihm kaum zutraute, begann der feiste Wirt zu zapfen. Die golden im dämmerigen Kerzenlicht schimmernde Flüssigkeit rann schäumend in die Krüge. »Aus Akinborg kommt ihr?« fragte YeCairn. »Wo haben euch die Wegelagerer erwischt?« Mythor versuchte sich zu erinnern, wo genau Akinborg lag und wo das Ausbildungslager sich befand. Er machte eine vage Angabe. »Wenn das Turnier vorbei ist, werde ich mich darum kümmern«, versprach YeCairn. »Ich habe eine Gruppe von dreißig Kriegern unter mir. Sie befinden sich zwar in der Ausbildung, aber warum sollen sie ihre erlernten Kriegskünste nicht an einem Haufen von Räubern erproben?« »Du bildest sie aus?« fragte Mythor. YeCairn nickte. »Wirt, wo bleibt das Bier?« »Es geht alles nicht so schnell, Gevatter Tod«, jammerte der Dicke. »Oder willst du nur den Schaum?« »Den kannst du selbst saufen«, knurrte YeCairn. »Halte die Krüge schräg, und der Schaum wird weniger.« »Als ob ich das nicht selbst wüßte«, keifte der Wirt. YeCairn grinste wieder. »Mir scheint aber, du wüßtest es nicht, sonst ständen die Krüge doch längst vor uns! Willst du, daß wir die Schenke wechseln?« »Erpresser!« schrie der Dicke. YeCairn zuckte achtlos mit den Schultern. Er war einer der besten Kunden des feisten Wirtes. Wortgeplänkel dieser Art gehörten zum guten Ton zwischen den beiden. Endlich watschelte der Spitzbärtige mit den vollen Krügen heran und stellte sie vor den drei Männern ab. 144
»Du kannst gleich anfangen, die nächste Runde zu füllen«, machte ihn YeCairn aufmerksam. »Bei deinem Tempo verdursten wir sonst nämlich.« Schmollend wandte sich der Wirt ab. Nottr griff nach dem Krug und setzte ihn an die Lippen. »Nicht so hastig, mein Freund«, lächelte Mythor. »Denke an Baumer und seinen Obstler!« »Grrr«, machte Nottr, der sich nur zu deutlich daran erinnerte, wie heftig er jenem Gesöff zugesprochen hatte. Sie tranken, Nottr mit großen Schlucken, Mythor ruhig und verhalten und Padrig YeCairn fast gleichgültig. »Ihr wollt also am Turnier teilnehmen«, setzte YeCairn die Unterhaltung fort. »Ihr habt euch eine Menge vorgenommen. Ihr seid Krieger?« Nottr brachte noch ein paar Falten mehr in sein Ledergesicht. »Sieht man das nicht?« fragte er grimmig. YeCairn musterte seinen Fellbewuchs. »Du bist ein Lorvaner«, sagte er. Nottr nickte. In seinem Volk war es üblich, schon von Kindheit an Tierfelle auf der Haut zu tragen, die dann irgendwann mit dieser verwuchsen. Besonders stolz war Nottr auf das gelbe, schwarz getüpfelte Fell, das seine Beine bis zu den Hüften bedeckte. Weiterhin zierte ein etwa drei Handspannen breiter schwarzer Bärenfellstreifen seinen Rücken, und über dem Herzen trug er ein nahezu kreisförmiges weißes Bärenfell. »Es ist nicht schwer zu erkennen«, sagte Gevatter Tod. »Ich kenne die Lorvaner.« »Wie kommt es, daß wir uns nie begegnet sind?« fragte Nottr. »Ich…« Er fühlte Mythors Händedruck auf seiner Schulter, der besagte: Halte den Mund! Verrate dich nicht! Nottr begriff sofort. Er hatte sagen wollen, daß er der Anführer seines Stammes war und daher Gevatter Tod hätte kennen 145
müssen, wenn dieser jemals dem Stamm der Lorvaner begegnet wäre. »Ich bin ihnen selbst nie begegnet«, sagte YeCairn. »Ich ließ mir von den Lorvanern erzählen.« Nottr entspannte sich und trank wieder. »Ruden ist eigentlich ein für Lorvaner ungewöhnlicher Name«, sagte YeCairn. Mythor furchte die Stirn. Was wollte YeCairn damit sagen? Wußte er so gut über diesen Barbarenstamm Bescheid? Er sah Nottr ruhig nicken. Der Freund wußte, worauf es ankam. »Nicht ungewöhnlicher als YeCairn für einen Caer«, sagte er. »Fürwahr«, sagte Gevatter Tod. »Du magst recht haben. Nimm mir meine Neugier nicht krumm, aber wir leben in unruhigen Zeiten, und ich bin ein mißtrauischer Mensch.« »Schon gut«, brummte Nottr. »Ich nehme fast nichts krumm, solange du mein Bier bezahlst.« Lachend schlug ihm der Knöcherne auf die Schulter. Nottr verschluckte sich und hustete. Mythor lehnte sich an die Theke. Wann würde er sich mit ihm befassen? Aber bevor Gevatter Tod sich ihm zuwenden konnte, geschah etwas anderes. Zwei weitere Krieger betraten die Schenke, sahen sich um und stutzten fast gleichzeitig, als sie Mythor und Nottr sahen. Sie haben uns erkannt, durchfuhr es Mythor. Langsam setzte er den noch halb gefüllten Krug auf die Theke und sah den neuen Gästen entgegen. Padrig YeCairn hob grüßend die Hand. Die beiden Neuen erwiderten den Gruß. Sie traten zu Gevatter Tod und seinen beiden Begleitern. Einer musterte Mythor und Nottr nachdenklich. »Ich sah euch noch nie hier. Wer seid ihr?« fragte er. »Ich habe dich auch noch nie hier gesehen«, antwortete Mythor lächelnd. In seinen Augen glitzerte es. »Wir kommen von 146
Akinborg.« Er nannte seinen und Nottrs angenommenen Namen. Auch der zweite Krieger musterte Mythor jetzt eingehend. »Seine Augen schimmern gelb«, sagte er gedehnt. »Sollte er es sein?« »Was sollte ich sein oder wer?« fragte Mythor. »Der Gesandte des Lichtboten«, sagte der Krieger, während seine Hand zum Schwertgriff glitt. Mythor blieb ruhig. Gevatter Tod schwang herum, setzte den fast leeren Krug ab. Nottr spannte die Muskeln, bereit einzugreifen. »Der Gesandte des Lichtboten«, wiederholte Mythor nachdenklich. »Wie kommst du darauf?« Die beiden Krieger traten ein wenig auseinander. Eine gespannte Atmosphäre herrschte plötzlich. Die Würfelspieler hörten mit ihrer Beschäftigung auf und sahen herüber. Mythor ahnte, daß in einem Atemzug eine kleine Hölle ausbrechen konnte. Es fehlte nur ein winziger Funke. »Nun«, sagte der Krieger. »Du entsprichst den Beschreibungen in der Legende, die man sich erzählt. Am besten wird sein, daß wir einen Priester benachrichtigen, er mag entscheiden.« »Diese hellen Augen«, wandte der andere ein. »Welcher Mensch hat helle, gelb schimmernde Augen? Er muß es sein!« Immer noch hielt Mythor sich ruhig. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Diese schummerige Beleuchtung in der Schenke! Sie ließ seine Augen heller schimmern als sonst, und diese Helle wollte zum Verräter an ihm werden! Er wagte nicht, zu Nottr zu schielen, der in der Umhüllung das Gläserne Schwert und den Helm der Gerechten trug. Hoffentlich kam keiner der beiden auf die Idee… »Laß uns nach draußen gehen«, verlangte Mythor jetzt. »In dieser seltsamen Beleuchtung magst du einem Irrtum unterliegen. Betrachte meine Augen im Freien bei Tageslicht, wenn 147
du dich so unsterblich in sie verliebt hast.« Ein paar Männer lachten leise. Der Krieger krampfte seine Faust um den Schwertgriff. Dann nickte er. »Los, komm! Ich will es jetzt wissen!« sagte er. Hinter ihnen atmete der feiste Wirt hörbar aus. Eine Prügelei mit Fäusten – schön und gut, das war nichts Besonderes, und die Sklaven würden die zertrümmerten Tische und Stühle schon wieder herrichten, nachdem die Streithähne dafür bezahlt hatten. Aber wenn es hier wirklich um eine so schwerwiegende Sache ging, würde bei einem Kampf Blut fließen, und das tat dem Ansehen der Schenke bestimmt nicht gut. Mythor und die beiden Krieger traten ins Freie. »Nun?« fragte Mythor. »Du hast helle Augen«, wiederholte der Krieger. »Aber nicht mehr so unerträglich gelb wie drinnen.« »Sie mögen das Licht der Kerzen widergespiegelt haben«, sagte der zweite. »Vielleicht stand er ungünstig. Warum sollte auch der Sohn des Kometen so töricht sein, sich mitten unter ein paar hunderttausend Feinde zu begeben?« »Ihr habt recht«, sagte Mythor. »Eure Aufmerksamkeit ist gut. Wenn alle Krieger so wachsam sind wie ihr, muß Caer siegen.« Ihnen entging der heimliche Spott in seinen Worten, auch die Erleichterung, die ihn erfaßt hatte. Die Gefahr der Entdeckung und des Kampfes war noch einmal an ihm vorübergegangen. Er wandte sich um und wollte wieder in die Schenke zurückkehren, in der sein Honigbier allmählich ausschalte, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah. Auf dem Absatz fuhr er herum. Seine Augen wurden unwillkürlich schmal. Jemand hatte die Szene beobachtet und eilte nun geschwind davon. Ein Priester!
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* Gevatter Tod lächelte eigenartig, als Mythor und die beiden Krieger wieder zurückkamen. Nach kurzem Überlegen hatte Mythor darauf verzichtet, dem Priester zu folgen. Er hätte sich dadurch nur verdächtiger gemacht. »Ihr habt euch also noch nicht bei der Turnierleitung beworben«, sagte YeCairn, ohne auf das Vorgefallene einzugehen. Mythor schüttelte den Kopf. »Nein, wir wissen noch nicht einmal, wo wir die Leitung finden. Ich nehme an, sie befindet sich im Zentrum des Lagers.« Unwillkürlich zuckte YeCairn ein wenig zusammen, als Mythor das Wort Zentrum aussprach. Mythor hob die Brauen. »Was ist mit dem Zentrum?« fragte er. Auch Nottr lauschte aufmerksam, denn ihm war das Zusammenzucken ebenfalls nicht entgangen. »Die Turnierleitung befindet sich im Mittelpunkt des Lagers«, sagte YeCairn. »Ritter von Horkus und zwei Priester entscheiden darüber, wer teilnehmen darf und wer nicht. Ich möchte dir raten, Kalmar, dich so rasch wie möglich zu melden, denn die Teilnehmerzahl ist begrenzt und es bleibt nicht mehr viel Zeit. Du könntest zu spät kommen.« »Ich werde mich bemühen«, sagte Mythor. »Gibt es viele Priester im Lager? Ich sah draußen einen.« »Warum fragst du? Sie sind nicht gerade dünn gesät, und sie sind überall. Magst du sie nicht?« »Ich weiß nicht, was ich von ihnen halten soll«, log Mythor. »Sie sind mächtig und in gewisser Hinsicht unheimlich.« YeCairn zuckte mit den Achseln. »Aber du hast meine andere Frage noch nicht beantwortet«, griff Mythor das andere Problem wieder auf. »Was hat es mit dem Zentrum auf sich?« Täuschte er sich, oder flackerten YeCairns Augen bei diesem 149
Wort, als habe er Angst? »Du wirst es erkennen, wenn du es siehst«, murmelte Gevatter Tod dumpf und setzte den Krug an die Lippen, um seinen Gesichtsausdruck dahinter zu verbergen. Mythor begann an seiner Unterlippe zu nagen. Ein finsteres Geheimnis mußte dieses Zentrum umgeben. Er beschloß, es zu ergründen, wenn es ihm möglich war. »Haben die Priester damit zu tun?« schoß Nottr eine Frage ab. YeCairn runzelte die Stirn. »Ihr seid zu neugierig, Akinborger. Ich kann und will es euch nicht sagen, das ist alles. Wenn ihr die Zeltstraße weiter verfolgt, kommt ihr zum Mittelpunkt des Lagers. Dort befindet sich auch die Turnierleitung. Sagt, Gevatter Tod würde euch empfehlen. Vielleicht erleichtert das die Prüfung, die ihr als Fremde zu bestehen habt. Ritter Jay kennt mich gut.« Mythor begriff, daß er YeCairn mit seiner Frage nach dem Zentrum verstimmt hatte. Diese Empfehlung war nichts weiter als eine Verabschiedung in höflichster Form. YeCairn schien das Zentrum, was immer sich dahinter verbergen mochte, zu fürchten. »Ich danke dir für die Einladung und die Hinweise«, sagte Mythor. »Du nimmst auch am Drudin-Turnier teil? Ich wünsche dir Glück.« »Dir auch«, sagte Padrig YeCairn. »Vielleicht treten wir gegeneinander an.« Als sie hinausgingen, grübelte Mythor über die letzte Äußerung des Knöchernen nach. Was hatte er damit sagen wollen? War es Anerkennung oder Drohung gewesen? * Wieder schmetterten die Fanfaren. Mythor lächelte, als er 150
Nottr zusammenzucken sah. Sie hatten jetzt etwa die Mitte des Lagers erreicht. Ein paar hundert Schritt weiter erhob sich das Gerüst einer Tribüne über die umliegenden Zelte. Die beiden Gefährten sahen, wie die Männer in dem Gerüst hingen und fieberhaft daran arbeiteten. Weiter nach rechts erhob sich die wuchtige Konstruktion eines Waffenturms. Als sie näher kamen, stellten sie fest, daß er breite, große Räder besaß und von Pferden gezogen werden konnte. Mythor sah nach dem Stand der Sonne. Sie hatte den höchsten Punkt längst wieder verlassen und neigte sich dem Boden zu. Gleichzeitig wurde es kühler. »Wir sollten zusehen, daß wir vor Einbruch der Dunkelheit noch ein Quartier bekommen«, brummte Nottr. Er sah sich ständig um. Endlich erreichten sie das weite Rund der Arena. Der unmittelbare Rand wurde bereits abgezäunt. Mannshohe Palisaden entstanden. Dahinter würde sich ein Rundgang erstrecken, an den sich die Tribünen anschlossen. Noch war alles nur zu einem geringen Teil fertig, aber schon jetzt war das Grundkonzept der Anlage zu erkennen. Plötzlich glaubte Mythor ein leichtes Prickeln im Genick zu spüren. Beobachtete ihn jemand? Das Gefühl glich jedenfalls jenem, das starre Blicke auszulösen vermögen, wenngleich man den Beobachter nicht sieht. Irgend etwas war hinter ihm. Langsam drehte sich Mythor um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb, aber niemand zeigte Interesse an ihm oder Nottr. Die wenigen Krieger, die hier unterwegs waren, beachteten die beiden Fremden nicht. Sie hatten andere Dinge im Sinn. Verbarg sich irgendwo ein Priester? Womöglich jener, der den Vorfall an der Schenke beobachtet hatte? Zwischen zwei kleinen Zelten hindurch sah Mythor etwas Dunkles. Von ihm ging jenes seltsame Gefühl aus. Der Sohn des Kometen setzte sich wortlos in Bewegung. Ohne ein Wort 151
folgte der Lorvaner ihm. Er wirkte plötzlich kleiner, als ducke er sich vor einer unbekannten Gefahr. Etwas stimmte hier nicht! Zwischen zwei kleinen Zelten, die offenbar von nur je einer Person bewohnt wurden, blieben die beiden Gefährten stehen. Mythor sah mit zusammengepreßten Lippen das schwarze Gebilde an, das sich vor seinen Augen erhob. Es war ein verhältnismäßig großes Zelt, das ziemlich frei stand. Die nächsten Aufbauten befanden sich in gebührendem Abstand – mehr als fünfzig Schritt entfernt. Mythor konnte sich gut vorstellen, warum man in der drangvollen Enge des gigantischen Lagers derart viel Platz verschenkte. Bis hierher spürte er den bösen Hauch finsterer Magie, die von dem schwarzen Zelt ausging. Kein Mensch war in der direkten Nähe zu sehen. Sie alle schienen das Zelt zu meiden. Auch die Vogelstimmen waren hier in der Nähe des Bösen nicht zu hören; selbst die Tiere schienen die unheimliche Ausstrahlung wahrzunehmen. Der Lorvaner stieß einen Fluch in seinem Barbarendialekt aus. Seine Hand klammerte sich fast instinktiv um den Griff seines Krummschwertes. Jetzt verstand Mythor auch, warum jeder Befragte dem Thema des Zentrums ausgewichen war. Dies hier mußte das Zentrum sein, das magische Zentrum des Lagers, beherrscht von den Caer-Priestern und den Dunklen Mächten, die hinter ihnen standen. Von hier im Mittelpunkt des Lagers bot sich die Möglichkeit, alles unter Kontrolle zu halten. Das Gefühl, beobachtet zu werden…
Aber kein Priester befand sich in der Nähe. Nirgendwo ein knochenverzierter Helm, nirgendwo einer der schwarzen, silberbesetzten Mäntel. Mieden auch sie das Zentrum der Macht, oder hielten sie sich in dem schwarzen Zelt auf, um von dort aus alles zu lenken? 152
»Ich möchte wissen, wie es drinnen aussieht«, murmelte Mythor. »Was immer es beherbergt, fürchten selbst die Caer… Vielleicht einen der Dämonen, die die Priester aus der Schattenzone herholen.« Nottr brummte etwas Unverständliches. Unverwandt starrte er das Zelt an, als könne er dort etwas sehen. Aber da war nichts. Starr und unbeweglich stand das spitze Ding mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Schritt und einer Höhe von acht Mannslängen da. Nicht einmal der kühle Wind vermochte die Zeltbahn zu bewegen! Das war es, was Nottr aufgefallen sein mußte, und jetzt bemerkte es auch Mythor. Es war, als bestünden die Zeltbahnen aus einem harten Material, Holz oder Metall. Vielleicht war es auch nur Magie, die die Sinne trog. Eine Weile standen sie da und betrachteten das unheimliche Zelt. Dann aber ging ein jäher Ruck durch Mythors Körper. »Was hast du vor?« stieß Nottr hervor. »Ich werde versuchen, einen Blick hineinzuwerfen«, sagte Mythor. Eine harte Faust schoß hervor, ergriff Mythors Arm und riß ihn zurück. »Du bist verrückt«, stieß Nottr hervor. »Du läufst in deinen Tod!« Mythor schüttelte den Kopf. »Das habt ihr alle schon einmal behauptet, heute früh in den Felsen. Und? Wir leben immer noch, obwohl wir uns mitten im Lager befinden.« »Pures Glück«, sagte Nottr. »Wären wir statt über Gevatter Tod über einen Caer-Priester gestolpert, dann…« »Ein Caer-Priester ist längst über mich gestolpert«, sagte Mythor. »Trotzdem ist bisher nichts geschehen.« »Kein Grund, leichtsinnig zu werden«, sagte Nottr. Der Barbar war aufgeregt, seine Stimme überschlug sich fast und ließ die in der bellenden Sprechweise der Lorvaner hervorgestoßenen Worte fast unverständlich werden. 153
»Ich bin nicht leichtsinnig. Ich will nur wissen, was sich in diesem verdammten schwarzen Zelt befindet.« »Reicht es dir nicht, daß jeder bei der Erwähnung zusammenzuckt? Reicht es dir nicht, daß sogar Gevatter Tod sich davor fürchtet? Ich spüre das Böse, das darin wohnt, Mythor.« Der Dunkelhaarige fuhr zusammen. »He, Kalmar heiße ich«, flüsterte er. »Hier können selbst die Zeltwände Ohren haben.« Nottr senkte den Kopf. »Ich muß wissen, was in dem Zelt steckt«, sagte Mythor. »Vielleicht hilft es uns. Du kannst mich nicht umstimmen.« Nottr nickte hilflos. Er fand sich allmählich damit ab, daß Mythor stets seinen Dickkopf durchsetzte. »Nimm wenigstens Alton mit!« schlug er vor. Doch der Sohn des Kometen schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran. Soll an dem verdammten Ding jeder erkennen, wer ich bin? Hätte ich Alton in der Schenke offen getragen, wäre alles zu spät gewesen. Gerüchte und Erzählungen sind schnell in Tainnia.« »Wie überall«, brummte Nottr. »Mythor… Kalmar, überlege es dir noch einmal gut. Es ist heller Tag! Wäre es nicht besser, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten?« »Bis dahin hoffe ich, daß wir Quartiere gefunden haben«, versetzte Mythor. »Aber damit unterwerfen wir uns gleichzeitig der Lagerdisziplin. Wir müssen damit rechnen, in einem Mannschaftszelt untergebracht zu werden. Es wird auffallen, wenn ich mich nächtens davonschleiche. Außerdem treibt sich hier niemand herum. Keiner wagt sich in die Nähe des schwarzen Zeltes. Also kann mich auch keiner sehen.« »Dann renn in dein Verderben!« knurrte Nottr. »Manchmal muß man selbst das riskieren«, murmelte Mythor und setzte sich in Bewegung. Erst langsam, dann sicherer werdend, ging er auf das schwarze Zelt zu. Was mochte drinnen sein, das diese furchtbare Strahlung aussandte? 154
* Scharfe Augen, halb verborgen unter einer roten Maske, verfolgten jede Bewegung der beiden Männer. Der Caer versuchte zu hören, was die beiden sprachen. Sie waren Fremde im Lager, das rechnete er ihnen zu ihren Gunsten an. Sie konnten nicht ahnen, was sie taten, aber warum hielt sie die Aura des Bösen nicht fern? Waren sie etwa gefeit gegen die Kraft der Magie? Der Priester beobachtete weiter. Was hatten die beiden vor? Wollten sie wirklich das schwarze Zelt aufsuchen, das magische Zentrum des Lagers? Der Priester versuchte, die Gedanken der beiden zu erkennen, aber seine Kräfte reichten nicht aus. Sein Dämon war nicht stark genug, es ihm zu ermöglichen. Zu weit waren sie von der Schattenzone entfernt. Es hätte eines umfangreichen Rituals und der Opferung von Lebensenergie bedurft. Eines geringen Teils zwar nur, aber immerhin… So mußte sich der Priester mit den Beobachtungen begnügen. Der Wind stand ungünstig und trieb die Gesprächsfetzen in die andere Richtung. Dann aber setzte sich der große, braunhäutige Mann in Bewegung. Er wirkte wie ein Südländer, der nahe der Schattenzone geboren war. War es nicht der Fremde, der behauptete, aus Akinborg zu kommen? Das paßte nicht zusammen. Die Akinborger waren wesentlich blasser. Aber vielleicht hatte er sich längere Zeit unter südlicher Sonne aufgehalten. Als der Dunkelhaarige mit den hellen Augen auf das schwarze Zelt zuging, wirbelte der Priester jäh herum. Er sah einige Krieger, die im Augenblick wohl nichts zu tun hatten, und stieß einen schrillen Pfiff aus. Einer sah herüber, und der Priester winkte heftig. 155
»Kommt her!« zischte er gerade so laut, daß sie ihn hören konnten. Widerwillig folgten die Krieger dem Befehl, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Er hätte sie zwingen können. Dicht vor ihm blieben sie stehen. Er spürte das leichte Unbehagen, das sie beherrschte. Sie fürchteten seine Macht. »Dort«, sagte er und deutete auf das schwarze Zelt. Sein ausgestreckter Arm ließ den Mantel wehen wie die Schwinge einer Fledermaus. »Er nähert sich dem Zentrum. Warum? Geht und fragt ihn!« Und zufrieden sah er, wie sie gehorchten. Er selbst blieb im Hintergrund und beobachtete weiter. * Mythor war noch wenige Schritte von dem schwarzen Zelt entfernt, als er die Bewegungen hinter sich mehr ahnte als sah. Mit jedem Schritt war die Aura des Unheimlichen im Zelt stärker geworden; er mußte sich zu jedem weiteren Schritt zwingen. Offenbar galt das auch für die anderen, denn sie näherten sich ihm nur langsam. Mythor fuhr herum. Fünf Krieger waren es. Noch hatten sie ihre Schwerter nicht gezogen, aber ihre Hände lagen an den Waffen. Es gab keinen Zweifel, daß er ihr Ziel war. Er überlegte. Im Moment trug er nur einen Dolch. Aber damit hatte er gegen die fünf Krieger keine Chance. Einen konnte er vielleicht austricksen, mit etwas Glück auch zwei, aber wenn alle fünf über ihn herfielen, war es aus. Also blieb er stehen. Die Krieger verharrten ebenfalls. »Was tust du hier?« fragte einer, der sein Schwert schon halb gezogen hatte. »Ich will einen Blick in das Zelt werfen«, sagte Mythor unverblümt. »Ich möchte wissen, wer es bewohnt.« 156
»Es ist verboten«, sagte der Krieger, erschrocken ob Mythors Dreistigkeit. »Du übertrittst ein Gesetz!« Eine Klinge streckte sich Mythor entgegen. Der mimte Erstaunen und breitete die Arme aus. »Ich kenne die Gesetze nicht alle, die in diesem Lager gelten«, sagte er. »Ich bin ein Fremder. Du solltest es an meiner Kleidung erkennen.« »Wer bist du?« »Kalmar aus Akinborg«, sagte der Dunkelhaarige. »Ich bin gekommen, um am Drudin-Turnier teilzunehmen.« »Du kommst mit. Auch ein Turnier-Teilnehmer muß die Gesetze kennen.« »Ich bin doch nicht…« Der Krieger unterbrach ihn. »Komm mit, oder wir zwingen dich!« sagte er und winkte herrisch. Mythor folgte ihm resignierend. Die fünf Caer bewegten sich um ihn; er war ständig in ihrer Mitte. Kurz sandte er einen beruhigenden Blick zu Nottr, der zwischen den Zelten zurückgeblieben war. Er sah, daß es dem Lorvaner in den Fingern juckte, einzugreifen und mit den Kriegern zu kämpfen. Aber er beherrschte sich eisern. Es mußte ihm schwerfallen. Die Krieger brachten Mythor zu einem Priester. Also doch, durchfuhr es den Dunkelhaarigen. Ist es der Bursche, der mich beobachtet hat? Mythor sah die silberrote Maske unter dem spitzen, hohen Helm. Waren es Knochen von Menschen, die ihn zierten? Unter der Maske funkelten böse Augen. »Du bist Kalmar?« fragte der Priester. Mythor nickte. »Ich hörte von dir«, sagte der Priester. »Du kommst aus Akinborg. Ein weiter Weg. Was treibt dich in dieses Lager? Weißt du, daß nur Krieger es betreten dürfen?« »Ich bin ein Krieger«, behauptete Mythor. »Ich will am Turnier teilnehmen und meine Kräfte und Fähigkeiten beweisen.« 157
Unter der Maske blieben die Veränderungen der Gesichtszüge verborgen. Der Priester sah Mythor weiterhin prüfend an. »Hast du dich schon beworben?« »Ich suche noch.« »Dann beeil dich!« sagte der Priester schroff. »Was wolltest du im schwarzen Zelt?« »Mich umsehen«, sagte Mythor. »Es sieht ungewöhnlich aus. Ich wollte wissen, wer darin wohnt.« »Das geht dich nichts an«, sagte der Priester. »Nur wir dürfen es wissen, und das ist gut für euch. Du bist sehr neugierig. Ich hörte bereits davon. Beherrsche dich. Du hast allen Grund dazu.« Mythor sann noch über den Sinn des letzten Satzes nach, als der Priester nach dem Stand der Sonne sah. »Hast du ein Quartier?« »Noch nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. Der Priester starrte ihn wieder an. Mythor wurde es unter dem prüfenden Blick unbehaglich. Ihm war, als könne der Priester bis auf den Grund seiner Seele blicken. Erkannte er, wer Kalmar wirklich war? Mythor war bereit, jederzeit zum Dolch zu greifen und sich zur Wehr zu setzen. Es hieß jedoch, daß gewöhnliche Waffen die Mäntel der Priester nicht durchdringen könnten. »Du sprichst wahr«, sagte der Priester. »Beeile dich! Wenn du die Prüfungen bestehst, wird dir ein Quartier zugewiesen. Wenn nicht, hast du das Lager wieder zu verlassen.« »Keine Sorge, ich bestehe sie«, sagte Mythor selbstbewußt. »Wir werden sehen«, murmelte der Priester. »Einen Rat will ich dir noch geben: Hüte dich davor, das Zelt zu betreten. Spiele auch nicht mit dem Gedanken, wissen zu wollen, was sich darin befindet. Es wäre dein sicherer Tod!« Abrupt wandte er sich ab und schritt mit wehendem Mantel davon. Es war, als gleite eine Fledermaus dicht über den Bo158
den. Ein seltsames Gefühl überkam Mythor. Wie auch den anderen war ihm dieser Priester unheimlich. Hatte er erkannt, wen er vor sich hatte, und spielte nur ein grausames Spiel mit ihm, oder war er wirklich ahnungslos? Mythor hätte viel darum gegeben, die Gedanken des Priester zu kennen. So aber blieb ihm nur die Ungewißheit. * »Ich fürchtete schon, sie würden dir den Hals umdrehen«, sagte Nottr leise, als Mythor zu ihm zurückkehrte. »Na, bist du jetzt klüger?« »Klüger vielleicht nicht, aber um eine Erfahrung reicher, Ruden«, antwortete Mythor. »Die Priester sind überall und sehen alles.« »Was wollte er von dir?« fragte der Barbar. »Er hat mir einen Tip gegeben«, sagte Mythor. »So schnell wie möglich aus dem Lager zu verschwinden«, vermutete Nottr. »Aber nein. Mich so schnell wie möglich um die Teilnahme am Turnier zu bewerben«, sagte Mythor. »Erstaunlich«, murmelte Nottr verblüfft. »Glaubst du, daß er wahrhaftig keinen Verdacht geschöpft hat?« »Schwer zu sagen, was im Kopf eines Caer-Priesters vorgeht. Er hatte jedenfalls nichts gegen meine gelben Augen.« Mythor dachte mit leichtem Unbehagen daran, was Gevatter Tod gesagt hatte. Die Turnierleitung bestand aus dem militärischen Befehlshaber des Lagers und zwei Priestern. * Fürst Coorn aus Weirdale hob den Kopf, als er den Hufschlag hörte. Er erkannte die Prinzessin und ihren Leibwächter. Ein 159
stilles Lächeln umspielte den Mund des hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mannes. Die Prinzessin gefiel ihm, sie war genau nach dem Geschmack des Fürsten. Und er glaubte auch zu wissen, daß es sie häufiger in seine Nähe trieb als in die der anderen. Sie näherte sich seinem Zelt. Für Coorn ging die Sonne auf. Wollte sie tatsächlich zu ihm? Erwartungsvoll sah er ihr entgegen und verneigte sich, als sie vor ihm anhielt. »Seid mir gegrüßt, Majestät«, sagte er. »Danke, Coorn«, lächelte sie strahlend. »Wie geht es dir? Fühlst du dich stark genug, im Turnier zu siegen?« Er nickte. »Und ob, Majestät«, behauptete er. »Euch zu Ehren werde ich jeden Gegner aus dem Feld schlagen.« »Ich hoffe es«, lächelte sie. »Wenn du siegst, werde ich dich belohnen.« Er konnte sich vorstellen, wie die Belohnung aussehen würde. Unter dem weich fallenden, durchscheinenden Kleid zeichneten sich deutlich die Konturen ihres sehr weiblichen Körpers ab. Coorn spürte, wie ihm warm wurde. Frauen waren sehr rar im Lager. Und jene, die ein Krieger haben konnte, waren nicht nach Coorns Geschmack. Er hielt nicht viel von den Hetären. Seine Ansprüche lagen höher, und Prinzessin Lydia… Nun, man würde sehen. »Alles Glück«, sagte sie, winkte ihm noch einmal mit strahlendem Lächeln zu und ritt an. Das Herz des Fürsten machte einen Sprung. Um diese Frau zu gewinnen, würde er siegen! Er sehnte bereits das Ende des Turniers herbei, ehe es begonnen hatte, und sah sich schon als Sieger. Zumindest fühlte er sich als Favorit der Prinzessin und konnte das spöttische Lächeln nicht sehen, das jetzt auf ihren Lippen lag. *
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Männer! dachte sie amüsiert. Sie genoß es, die harten und wilden Krieger um den kleinen Finger zu wickeln. Je stärker und wilder der Mann war, den sie beherrschte, desto größer war ihr Vergnügen. Und wieder dachte sie an Rhubo, den Henker. Was mochte er fühlen, wenn er einem Verurteilten den Kopf abschlug? Allein schon der Gedanke daran, wie nahe dieser Mann ständig dem Tod war – nicht als Opfer, sondern als Freund –, erregte sie. Aber auch Coorn war nicht gerade zartbesaitet. Wahrscheinlich würde sie doch ihn erwählen. Als sie an der Arena vorbeikam, an welcher die Arbeiten immer rascher voranschritten, sah sie einen dunkelhaarigen Hünen und einen fellgeschmückten Barbaren mit ledriger Haut auf das Zelt der Turnierleitung zugehen. Gleichgültig zuckte sie mit den Achseln. Kleine Krieger, Anfänger, die ohnehin keine Chance besaßen. Es war zwecklos, sich mit ihnen abzugeben. Und doch war da etwas an der Gestalt des Dunkelhaarigen, was sie zu einem zweiten Blick veranlaßte. War es sein muskulöser Körper, die geschmeidige, kraftvolle Art, sich zu bewegen, oder noch etwas anderes? Einen dritten Blick schenkte sie dem Fremden nicht mehr und ritt weiter. Es war an der Zeit, noch ein paar Worte mit diesem jungen Prinzen Adin von Corvanth zu wechseln. * »He, Mann!« rief Mythor einen vorübergehenden Krieger an. Der Caer verharrte und wandte sich ihm zu. »Wo ist das Zelt der Turnierleitung?« Der Krieger musterte Kalmar und Ruden. »Ihr kommt von draußen und wollt euch bewerben? Nun, so beeilt euch, heute ist der letzte Tag, und ich weiß nicht, ob die Zahl der Teilneh161
mer nicht bereits erreicht ist. Dort drüben, auf der anderen Seite der Arena, steht das Zelt. Ihr werdet es nicht verfehlen.« »Wir danken dir«, sagte Kalmar und ging weiter. Sein Waffenträger folgte ihm. Sie umrundeten die Arena und passierten zwei Katapulte, die man hier aufgefahren hatte. Mythor vermochte nicht zu beurteilen, ob sie für das Turnier benötigt wurden oder nur zufällig hier standen. Aber sie mußten über eine gewaltige Kraft verfügen, ihre Reichweite mußte enorm sein. Schließlich sahen sie das Zelt. Es war rund, zweimal mannshoch und äußerst auffällig. Die Zeltbahnen waren rot und weiß gestreift und hoben sich dadurch schon von weitem von dem üblichen Grau oder Braun der Zelte ab. Vor dem Zelt erhoben sich zwei beflaggte Masten. »Niemand zu sehen. Sie werden doch wohl nicht schon Sperrstunde haben?« brummte Nottr. »Das werden wir feststellen«, antwortete Mythor, beschleunigte seine Schritte und eilte direkt auf das rotweiße Zelt zu, dessen Eingang halb zurückgeschlagen war. Im Inneren des Zeltes war es düster. Mythor blieb vor dem Eingang stehen, dann beugte er sich vor und streckte den Kopf hinein. »Raus!« brüllte jemand lautstark. »Was fällt dir ein, dreister Vogel? Warte gefälligst, bis man dich ruft! Oder meinst du, man habe dich nicht gesehen?« »Mir scheint«, sagte Mythor, »die Höflichkeit wurde hier bereits zu Grabe getragen. Wer immer du auch bist, bewege dich, denn es wird allmählich Abend.« »He«, murmelte Nottr leise. »Bist du nicht ein wenig zu forsch? Immerhin willst du etwas von denen und nicht umgekehrt.« »Ich bin kein caerischer Krieger, den man nach Belieben anpfeifen kann, sondern ein freier Bürger aus Akinborg«, sagte 162
Mythor gerade so laut, daß man es bei einiger Anstrengung auch im Inneren des Zeltes hören konnte. Er ahnte nicht einmal, daß er durch sein forsches Auftreten bereits seine Vorprüfung bestanden hatte. Duckmäuser hatten hier kaum eine Chance. Im verdunkelten Inneren des Zeltes gab es einige Bewegung, dann glitt eine Gestalt heraus – ja, glitt, denn es war, als berührten die Füße den Boden überhaupt nicht. Ein Priester! Mythor trat unwillkürlich einen Schritt zurück, Nottr sogar zwei. Der Priester blieb stehen und musterte die beiden Männer durchdringend. Er trug keine Maske. Sein Gesicht wirkte, als befinde es sich hinter einer gläsernen Schicht. »Wer seid ihr, und was wollt ihr?« fragte er scharf und zischend wie eine Schlange. »Wir sind Kalmar und Ruden und kommen aus Akinborg. Und was wir hier wollen, ist wohl offensichtlich!« Das Gesicht des Priesters verfinsterte sich. »Mir scheint, du bist flink mit dem Maul. Hoffentlich bist du genauso flink mit der Klinge.« »Du kannst es ausprobieren«, schlug Mythor vor. Der Priester lachte leise, aber es klang nicht gut. »Wir werden es, aber nicht an mir, wie du gerne möchtest. Ich sehe es dir an.« Die Lautstärke des Priesters lockte dessen Kollegen aus dem Inneren des Zeltes. »Er will teilnehmen«, sagte Nottr und deutete auf den Dunkelhaarigen. »Ich bin sein Waffenträger.« »Schön, wir werden über dich entscheiden, Kalmar. Holt die anderen!« Er gab einem Krieger einen herrischen Wink, und dieser setzte sich sofort in Bewegung. Offenbar hatte sich die Prüfungsversammlung bereits aufgelöst, ein Zeichen dafür, daß es wirklich höchste Zeit war, sich für die Teilnahme vorstellig zu 163
machen. Wenig später tauchte mit raschen Schritten ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit kurzem, angegrautem Haar auf. Ihm folgten ein paar andere Männer, die weitaus prunkvoller gekleidet waren als der etwa sechzig Sommer alte Mann. Vor Mythor, Nottr und den beiden Priestern blieben sie stehen. Auch ein weiterer Priester war noch mitgekommen. »Ich bin Ritter Jay von Horkus, mein Begleiter dort ist Parthan. Wir befehligen dieses Lager«, stellte er sich und den Priester mit der Gesichtsmaske vor. Mythor musterte den Priester und erschauerte. Etwas ging von Parthan aus, was Mythor ein starkes Gefühl des Unbehagens vermittelte – etwa so wie bei jenem schwarzen Zelt. Es mußte der Dämon sein, den der Priester in sich trug, überlegte Mythor. Es mochte besser sein, gegenüber Parthan nicht so forsch aufzutreten wie zuvor gegen den anderen Priester. Parthan war weitaus gefährlicher. Mythor spürte aber auch, daß Jay von Horkus dem Priester nicht unbedingt gewogen war. Ein Spannungsfeld herrschte zwischen den beiden Lagerbefehlshabern, und obgleich es für Mythor keinen Zweifel daran gab, daß der Priester das Sagen hatte, schien von Horkus doch eigene Wege gehen zu wollen. »Du kommst ziemlich spät«, sagte der Ritter, an Mythor gewandt. »Wir wollten bereits die Endauswahl treffen.« »Es ging nicht schneller, Ritter«, meinte Mythor. »Wegelagerer nahmen uns unsere Pferde und…« Schallendes Gelächter erklang. Parthan gab ein schrilles Kichern von sich. »Zwei Burschen, die sich die Pferde abnehmen lassen«, spottete er. »Wahrlich, das sind bestimmt die Sieger des Turniers! Ich sehe schon, wie dieser Mann all seine Gegner niederwirft und…« Mythor ballte die Hände. »Spotte nicht über Dinge, von denen du nichts weißt, Priester«, sagte er. »Du tätest besser dar164
an, das Land von solchen Banden zu säubern!« »Setzen wir einmal voraus, es gäbe diese Bande«, sagte Parthan mit einer seltsam sanften Stimme, die überhaupt nicht zu seinem bulligen, untersetzten Aussehen paßte. »So wäre es dennoch nicht meine Aufgabe. Ich bin nur für das Lager zuständig.« Nottr ergriff das Wort und erzählte das Märchen von der gewaltigen Übermacht, der sie nicht hatten standhalten können, so daß sie zu Fuß die Ebene der Krieger durchqueren mußten. Parthan schüttelte den Kopf. »Und das sollen wir euch glauben? Was erwartest du denn in der Arena? Dort wirst du mehr als ein paar Pferde verlieren. Wegelagerer, lächerlich!« Mit wehendem Mantel eilte Parthan davon. Mythors Hände ballten sich zu Fäusten, und er öffnete den Mund, um hinter dem Priester herzurufen, als ihm das verhaltene Lächeln des Ritters auffiel. »Es ist eine seltsame Geschichte, daß sich ein Held, der am Turnier teilnehmen will, die Pferde nehmen läßt. Außerdem bist du nur mit diesem einen Begleiter gekommen?« Mythor nickte. »Ich halte nicht viel von übermäßigem Protz und Prunk. Ein Waffenträger genügt mir.« Jay lächelte. »Das ist eine gute Einstellung. Ich kann mir nicht helfen, aber da ist etwas an dir, was mir gefällt. Ich will dir eine Chance geben.« »Aber…«, wandte der Priester abermals ein. Erneut kam er nicht dazu, das zu sagen, was er sagen wollte. »Parthan bestimmt nicht allein«, sagte Jay scharf. »Er mag über das Lager herrschen, er mag auch Einfluß auf andere Dinge nehmen. Aber die Turnierleitung liegt bei mir, bei diesen Männern.« Er deutete auf die anderen Krieger in prunkvoller Ausstattung, die mit ihm gekommen waren. »Wenn ihr euch von Parthan befehlen laßt, wie ihr zu entscheiden habt, 165
ist das eure Sache. Ich will sehen, wie gut dieser Fremde ist. Von den Männern aus dem Lager, die teilnehmen, würden wahrscheinlich viele die Prüfungen nicht bestehen. Die Qualität der Ausbildung läßt nach. Ich denke, daß ich bei Gelegenheit einige Ausbilder austauschen werde. Sie sind zu lasch in ihren Anforderungen, vielleicht weil sie es selbst nicht mehr besser können. Aber das gehört nicht hierher.« Er wandte sich wieder Mythor zu. »Die Prüfungen werden nicht leicht sein«, warnte er. »Das sagte mir auch Gevatter Tod«, erwähnte Mythor beiläufig. »Aber er meinte, ich würde es schaffen.« »Soso…«, brummte Jay. »Den Knochenmann kennst du also schon. Nun, dann zeige dein Können, ehe es dunkel wird.« »Was habe ich zu tun?« fragte Mythor. Jay von Horkus sah in die Runde. »Wir werden es dir zeigen«, sagte der Lagerkommandant. * Es begann mit leichten Prüfungsaufgaben. Feststellen der Reaktionsschnelligkeit durch das Auffangen eines mit Markierungen versehenen fallenden Stabes, Feststellen der Sicherheit durch das Balancieren dreier aufeinandergelegter Würfel auf der Fingerkuppe, während eine bestimmte Strecke in einer bestimmten Zeit abgegangen werden mußte, und zwei weitere kleine Spielchen. Mythor ließ sich Zeit, so daß er es gerade noch schaffte. Er dachte nicht im Traum daran, seine Qualitäten jetzt schon zu zeigen. Er untertrieb maßlos. Beim Würfelbalancieren setzte er dreimal an, und beim Stab ließ er gemütlich zwei zusätzliche Markierungen durchgehen, ehe er Zugriff. Das schweigende Nicken der Prüfer zeigte ihm, daß er die Prüfungen bestanden hatte, aber nur gerade, wie die skeptischen und zweifelnden 166
Gesichter zeigten. »Schlechte Leistungen«, brummte Jay von Horkus mißgestimmt. »Sei froh, daß du nicht in meiner Ausbildungsgruppe steckst. Ich würde dich scheuchen, daß dir Hören und Sehen verginge!« »Habe ich die erforderlichen Leistungen erbracht oder nicht?« fragte Mythor herausfordernd. »Ja, aber darauf brauchst du dir nichts einzubilden«, knurrte der Ritter. »Was du geschafft hast, schaffe ich im Vollrausch.« Innerhalb kürzester Zeit vollzog er selbst die Aufgaben und erzielte Glanzleistungen. »Siehst du den Unterschied?« fragte er. »Ich will nicht hoffen, daß du an einen der ersten Plätze glaubst.« Mythor winkte ab. »War das schon alles?« »Im Gegenteil«, sagte Jay. »Siehst du dort hinten die Zielscheibe? Sie ist etwa hundertfünfzig Schritt entfernt. Du mußt in der Zeitspanne, in der ich bis zehn zähle, drei Pfeile ins Zentrum der Scheibe senden. Kannst du es erkennen?« »Ja«, behauptete Mythor. Der schwarze Punkt war erschreckend klein. »Wie schnell zählst du?« fragte er. »Sehr schnell«, antwortete Jay. »Und falls du glaubst, ich würde bei den verschiedenen Kandidaten verschieden schnell zählen… Hier ist eine Sanduhr mit Markierungen, nach denen ich zähle. Sie läuft schnell durch. Wenn ich zehn sage, ist der Sand durchgelaufen und die Zeit um. Bist du bereit?« Ohne ein Wort griff Mythor nach dem Bogen und dem Köcher, den ihm jemand entgegenhielt. Es befanden sich ein gutes Dutzend Pfeile darin. »Du kannst auch mehr als drei Pfeile verschießen, wenn du es schaffst«, sagte der Ritter unbewegt. Er sah Mythor an, und als der nickte, drehte Jay die Sanduhr um. Mythor griff nach dem Bogen, legte den Pfeil auf und spannte die Waffe voll aus. Was seine Kraft und damit die Reichwei167
te seiner Pfeile anging, konnte er schlecht tiefstapeln. Jay und die anderen sahen seine Muskeln, und es war dem Ritter zuzutrauen, daraus auf die Stärke des Kandidaten zu schließen. Mythor zog die Sehne also voll aus, bedachte die Distanz und den Wind, der durch das Lager strich, und zielte. Dann ließ er den Pfeil losschnellen. Die Sehne schlug hart gegen den Armschutz, den er angelegt hatte. Der Pfeil steckte eine Handbreit neben dem kleinen schwarzen Kreis. Mythor mimte Verblüffung. »Ich war mir sicher…«, murmelte er. »Drei«, sagte Jay ruhig. Mythor sah die spöttisch lächelnden Gesichter der anderen. Sie konnten nicht einmal ahnen, daß sein Fehlschuß beabsichtigt gewesen war. Er griff nach einem neuen Pfeil, zielte und schoß, als Jay »fünf« sagte. Der Pfeil saß im Zentrum. Ein anerkennendes Summen ging durch die Runde. Mythor reagierte jetzt blitzschnell, nahm den dritten Pfeil, schoß bei sieben, sandte den vierten noch rascher auf die Reise und konnte diesmal nicht verhindern, daß er danebenging! »Neun«, sagte Jay, als Mythor nach dem fünften Pfeil griff. Jetzt nur keine Panik, dachte der angebliche Kalmar, zog die Sehne noch einmal aus und schoß. »Zehn!« Einen Augenblick später knallte der fünfte Pfeil ins Ziel. »Immerhin«, brummte Jay. »Ich habe dich belogen, denn nur zwei Pfeile im Zentrum waren erforderlich. Immerhin hast du fünf Stück auf die Reise geschickt und dreimal getroffen. Ich glaube, mein Verdacht ist richtig.« So leise, daß nur Mythor es hören konnte, nicht aber die beiden Priester, fügte er hinzu: »Du kannst mehr, als du zeigen willst.« Mythor schüttelte den Kopf. 168
»Kannst du reiten?« fragte Jay. Mythor nickte. »Du wirst im Turnier reiten müssen«, sagte Jay. »Warum fragst du?« schnappte Mythor. »Ich sagte doch, daß wir nur deshalb zu Fuß kamen, weil die Wegelagerer…« »Jetzt kommt die letzte Prüfung für heute«, sagte Jay von Horkus ruhig. Nichts an ihm verriet das Kommende, nicht einmal ein Lidzucken. Übergangslos pfiff sein Schwert durch die Luft – direkt auf Mythors Kopf zu! * »Mythor ist ein Narr«, sagte Steinmann Sadagar dumpf. »Er wird es nicht überleben. Sie werden ihn erkennen und vierteilen.« »Erzähle uns keine Schauergeschichten«, fuhr Kalathee ihn an. »Es ist schlimm genug, wenn wir selbst ständig daran denken müssen. Du brauchst es uns nicht auch noch vor Augen zu halten.« Sadagar, der seine Bezeichnung »Steinmann« auf ein Volk zurückführte, dem er entstammte, obgleich außer ihm noch niemand etwas von den »Steinmännern« gehört hatte, wandte sich beleidigt ab. »Frag doch deinen Kleinen Nadomir, welche Chancen Mythor hat!« rief Kalathee ihm nach. »Ich brauche den Kleinen Nadomir nicht mit Fragen zu belästigen, auf die der menschliche Verstand ebenfalls Antworten kennt«, sagte der Alte giftig. »Ich weiß, daß du nicht an ihn glaubst.« »An deinen menschlichen Verstand?« fragte Kalathee anzüglich. Verärgert winkte Sadagar ab. Er sah nach unten. Einige Me169
ter unter ihnen zog eine dunkle Wolke an den Felsen entlang und verhüllte den Blick auf die Ebene der Krieger. »Wir hätten ihn mit Gewalt aufhalten sollen«, sagte Nyala von Elvinon leise. »Wie besorgt du um ihn bist«, giftete Kalathee eifersüchtig. »Du etwa nicht?« versetzte Nyala spöttisch. Die beiden Frauen sahen einander fast finster an. »Ich möchte wissen, was dort unten geschieht«, sagte Nyala nach einer Weile. »Es wird regnen«, sagte Sadagar trocken. Verblüfft sahen sie ihn an. Der Mann der schnellen Messer und falschen Prophezeiungen streckte den Arm aus und deutete auf die dunkle Wolke. »Sie führt viel Wasser mit sich, und der Wind treibt sie über die Ebene. Dort wird sie sich abregnen.« Coerl O’Marn saß auf einem Stein, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und das Kinn auf die Hände, und dachte über irgend etwas nach. Niemand wagte, den Denker zu stören. Und niemand ahnte, was Coerl O’Marn für einen Plan ausbrütete. Der Ritter selbst sprach nicht darüber. Er war kein Mann, der viele Worte verlor. Er handelte lieber. Aber bevor er handelte, dachte er gründlich nach. * Nottr zuckte zusammen. Seine Hand fuhr zum Krummschwert. Hatte der Ritter erkannt, wer sich hinter Kalmar verbarg, und wollte er ihn jetzt töten? Hatte er die beiden Fremden durchschaut, die Feinde Caers waren, und bis zu diesem Moment nur mit ihnen gespielt? Der Barbar traute es dem Ritter ohne weiteres zu. Es ging alles unheimlich schnell. Mythor handelte rein ins170
tinktiv. Er sah das Schwert des Lagerkommandanten wie einen in der Abendsonne blitzenden Schatten auf sich zukommen. Jay von Horkus hatte es in einer weiten Ausholbewegung gezogen, im Halbkreis hochgeführt und ließ es jetzt in der gleichen Bewegung herabkommen. Fehler! dachte Mythor mit Genugtuung. Wenn von Horkus ihn hätte erschlagen wollen, hätte er besser noch in der Aufwärtsbewegung zugeschlagen und fehlende Kraft durch Überraschung ausgeglichen. So aber hatte Mythor einen Lidschlag länger Zeit. Dieser Augenblick genügte, ihn in die Knie gehen zu lassen und damit den Weg, den die Klinge zurückzulegen hatte, etwas zu verlängern, gleichzeitig aber eine Vorwärtsbewegung zu machen und gegen den zu nahe stehenden Ritter zu fallen. Mythors Hände breiteten sich im Fallen aus, umgriffen von Horkus’ Unterschenkel knapp unter den Knien und rissen daran. Von Horkus strauchelte, der Schwerthieb verfehlte Mythor um Handbreite, und der Ritter stürzte über den Mann aus Akinborg, der ihn auf der Stelle von sich schleuderte. Beide Männer federten gleichzeitig herum, der Ritter noch immer mit dem Schwert in der Hand. Doch diesmal war ihm Mythor zu nahe. Ein Handkantenschlag Mythors traf den Oberarmmuskel des Ritters. Der ließ das Schwert nicht los, aber seine Hand sank herab. Im nächsten Moment saß ihm Mythor an der Kehle. »Schluß!« peitschte der Ruf eines Priesters. Doch Mythor dachte nicht daran, aufzuhören. Er schob den Kopf des Ritters in den Nacken, wartete, bis er beide Hände einzusetzen versuchte, um seinen Gegner abzuwehren, und ließ blitzschnell los, um ihm das Schwert zu entwinden. Dann sprang er auf und richtete die Klinge gegen Jay von Horkus. In diesem Augenblick sah er etwas, das ihm Schrecken bereitete. Jay von Horkus hatte nur mit ihm gespielt! So, wie der 171
Ritter dalag, hätte er in dem kurzen Zweikampf Mythor jederzeit töten können, wenn er nur gewollt hätte! »Schluß!« schrie abermals der Priester. Mythor spürte, wie eine unfaßbare Macht nach seinem Gehirn greifen wollte. Sofort schleuderte er das Schwert zur Seite und trat zurück. Der Druck ließ nach. Mythor schwang herum, drohend sah er den Priester an. »Wage es nicht noch einmal!« Der Priester lachte überheblich. »Du kannst froh sein, daß ich dir das Leben schenkte«, sagte er. »Du müßtest für deinen Frevel eigentlich sterben!« »Daß ich mich wehrte?« »Daß du meinen Befehl mißachtet hast, als ich dir befahl, aufzuhören«, sagte der Priester. Inzwischen hatte sich der Ritter wieder erhoben, ließ sich sein Schwert zurückgeben und schob es ruhig in die Scheide zurück. Nottr entspannte sich. Der Ritter sah Mythor abschätzend an. »Du warst nicht schlecht«, sagte er. »Aber du hast Fehler gemacht. Dein Gegenangriff war richtig, aber dann warst du zu langsam. Ich hätte dich jederzeit verwunden und dann töten können.« Mythor nickte. »Ich weiß«, kommentierte er gelassen. »Dennoch«, sagte der Ritter, »hast du die letzte Prüfung bestanden. Es kam auf die erste Reaktion an. Wärest du zurückgewichen, hätte ich dich tanzen lassen und mit dem Schwert aus dem Lager getrieben.« »Tröstliche Worte«, brummte Mythor sarkastisch. Ritter von Horkus sah die anderen Mitglieder des Prüfungsrats an. Sie nickten. Da winkte der Kommandant einem der Priester. »Geh zu Parthan und sage ihm, daß Kalmar die Prüfung bestanden hat und am Turnier teilnimmt. Der Priester braucht sich nicht länger seinen wertvollen Kopf zu zerbre172
chen, wen er noch aus den Kriegern auswählt. Kalmar wird antreten.« Der Priester glitt davon. Der Ritter sah zur sinkenden Sonne, dann traf sein Blick wieder Mythor. »Laßt euch ein Quartier zuweisen, Kalmar und Ruden. Man wird euch den Tagesablauf erklären. Ihr habt euch an die Anweisungen zu halten. Ein Verstoß wird an euch ebenso bestraft wie an jedem Krieger.« Grußlos schritt er davon. Einer der Hauptleute, die mit ihm gekommen waren, wandte sich den beiden zu. »Folgt mir!« befahl er und marschierte auf ein großes Zelt zu, ohne sich zu vergewissern, daß die beiden Neuankömmlinge ihm auch wirklich folgten. Mythor und Nottr sahen sich nur schweigend um, und in Mythors Augen blitzte es triumphierend auf. Er hatte es geschafft – er war für das Turnier zugelassen worden! Und er würde siegen. * Das Mannschaftszelt, in das der Hauptmann Mythor und Nottr führte, glich einer großen Jurte. Mit raschen Schritten ging der Offizier darauf zu und schlug den Eingang zurück. »Hier ist eure Unterkunft«, sagte er. Mythor und Nottr nickten ihm zu. Als Mythor an dem Offizier vorbeischreiten wollte, hob dieser die Hand und hielt ihn auf. »Wenn die Sonne aufgeht, ist die Nacht vorbei«, sagt er. »Wenn die Fanfare ertönt, verlaßt ihr das Zelt. Beim zweiten Fanfarenklang meldet ihr euch bei der Turnierleitung. Man wird die ersten Spiele einteilen. Wo es Essen und Trinken gibt, werden euch die Krieger sagen. Es herrschen Ordnung und Disziplin im Lager. Wer betrunken randaliert, wird bestraft. Wer verschläft, wird bestraft. Wer zu langsam ist, ebenfalls. 173
Wir verlangen absoluten Gehorsam. Jeder Befehl eines Vorgesetzten ist zu befolgen. Das gilt für euch genauso wie für die Krieger. Nur wenn ein Befehl gegen den Ablauf des Turniers verstößt, braucht er nicht befolgt zu werden. Ihr untersteht der Lagerordnung. In Zweifelsfällen fragt die Krieger, wie ihr zu handeln habt. Ausgang ist bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang. Die Fanfaren werden zum Zapfenstreich blasen. Wer sich danach noch ohne besonderen Befehl im Freien aufhält, wird bestraft.« Mythor und Nottr nickten. »Das Drudin-Turnier beginnt morgen«, sagte der Hauptmann. »Denkt daran. Welche Kämpfer beginnen, wird morgen bekanntgegeben. Jeden kann es treffen.« Abermals nickten die beiden Gefährten. »Dann seht, daß ihr Lager findet. Es ist noch Platz im Zelt.« Nottr sah dem davoneilenden Offizier nach. »Mann«, murmelte er. »Der hat’s aber eilig.« Mit leichtem Mißvergnügen stimmte er die ersten Takte des Liedes Ein Hauptmann im Hetärenhaus erwachet an, aber Mythor winkte ab. »Du weckst mit deinem Gegröle das halbe Lager auf!« »Glaubst du im Ernst, daß schon irgend jemand schläft?« fragte Nottr zurück und hielt die Stoffplane des Eingangs offen. Mythor glitt hinein. Die Dunkelheit des Zeltinneren nahm die beiden Männer auf. Ein paar niedrige Tische standen in der Mitte der Jurte, und auf jedem Tisch flackerte eine Kerze und erhellte das Innere des Zeltes mäßig. Ein halbes Dutzend Männer sahen den beiden Eintretenden entgegen. Mythor blickte sich rasch um. Etwa dreißig Schlafstätten, zweistöckig übereinander, befanden sich in dem Mannschaftszelt. Die meisten Krieger mußten sich also noch draußen befinden, denn mehr als ein halbes Dutzend Lager zeugten davon, Besitzer zu haben. 174
»He«, krächzte einer der Caer, der im Lotossitz auf seiner Bettstatt kauerte. »Wer seid ihr?« Mythor stellte sich und Nottr vor. »Und wer bist du?« fragte er. »Shoenn«, sagte der Sitzende. »Wir wurden hier eingewiesen«, sagte Mythor trocken. »Ich hoffe, es ist noch Platz da.« »Seht euch um«, brummte Shoenn. »Es ist eigentlich ungewöhnlich, daß Jung-Krieger mit Ausgebildeten in ein Zelt kommen.« »Wir sind keine Jung-Krieger«, wies ihn Nottr zurecht. »Kalmar nimmt am Drudin-Turnier teil, ich bin sein Waffenträger.« »Oha«, grunzte Shoenn. »Ein ganz hohes Tier, ein Turnierkämpfer! Na, da haben wir ja einen Gast gewonnen…« Er ließ offen, wie die Bemerkung gemeint war, aber für Mythor klang sie wie eine halbe Herausforderung. Der Dunkelhaarige hatte zwei Lager erspäht. Er winkte Nottr zu. »Dort«, sagte er. Geradezu primitiv gearbeitet, waren sie ein Musterbeispiel an Härte und Ungemütlichkeit. Mit einem leichten Achselzucken ging Mythor darüber hinweg. Oft genug hatte er auf nacktem Boden geschlafen. Nottr warf seine Tragelast auf das untere Lager. »Ich habe gern festen Boden unter mir«, murmelte er. Mythor nickte und warf sein Bündel hinauf. Draußen war die Sonne schon fast versunken. In zwei Stunden war Zapfenstreich. Er glaubte bereits die Ausdünstung der Krieger zu riechen, die dann das Zelt füllen würden. Unwillkürlich glitt seine Hand zur Innentasche seines Wamses und zog das Pergament hervor, das er seinerzeit von Nottr bekommen hatte. Er entfaltete es und betrachtete es eine Wei175
le, wie so oft. Das Bild einer Göttin…
Irgendwann würde er sie finden, das wußte er. Und ihr Anblick gab ihm die Kraft für das, was er tun mußte. Da war jemand hinter ihm. Jemand, den er nicht hatte kommen hören, weil er so tief in das Bild versunken gewesen war! Und dieser Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter, sah auf die Zeichnung und grunzte: »Ein tolles Liebchen hast du da, Mann.« Bewunderung lag in seinen Worten, aber in einer Art, die Mythor nicht gefallen konnte. In der Bewunderung ihrer Schönheit lag gleichzeitig die Abwertung ihrer Moral. Es war die Art Bewunderung, die ein Krieger einer Hetäre zollt, deren Körper ihm gefällt. Vor Mythors Augen verdunkelte sich etwas. Zornesröte schoß ihm ins Gesicht. Seine Faust kam hoch, traf zielsicher und ließ den anderen durch das Zelt fliegen. Ein lauter Schrei ertönte, dann stürzte der Mann gegen eines der Lager und sank kraftlos zusammen. Mythors wuchtiger Schlag hatte ihm die Kinnlade zertrümmert und das Bewußtsein genommen. Drei andere sprangen auf, um ihrem Freund zu Hilfe zu kommen, aber da stand Nottr neben Mythor und hielt sein Krummschwert in der Hand. »Zurück!« fauchte er. »Er trägt selbst die Schuld!« Mythor stand in angespannter Haltung da, die Hände geballt. Es war nicht das Krummschwert, vor dem die anderen schließlich kapitulierten. Es war etwas in Mythor selbst, etwas Mächtiges, Unbeugsames, das sie förmlich zurückzwang. »Er wird es nicht noch einmal sagen«, knurrte Mythor und wandte sich um. Nottr verschoß noch einige wachsame Blicke. Irgend jemand huschte aus dem Zelt, um den Feldscher zu holen, die anderen kümmerten sich um ihren verletzten Ka176
meraden. Immer wieder sandten sie feindselige Blicke herüber. Mythor schalt sich einen Narren. Er hatte sich Feinde geschaffen. Und doch hatte er im entscheidenden Moment zuschlagen müssen, hatte die abwertende Bemerkung nicht verkraften können. Kurz darauf kam der Feldscher und begann sich mit Knochenbrechermethoden um den Verletzten zu kümmern. Nur Nottr sah ihm gespannt zu. »Nach dem Motto: Was uns nicht tötet, macht uns härter«, brummte er, als der Mann plötzlich einen wilden Schrei von sich gab und um sich schlug, aber der Bauchaufschneider wich geschickt aus. Mythor warf Nottr einen kurzen Blick zu. »Ich gehe noch einmal hinaus«, sagte er. »Kommst du mit?« Der Lorvaner nickte und folgte Mythor. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Ein paar Sterne funkelten am Himmel, ein blasser Mond strahlte sein Licht zwischen den jagenden Wolken hindurch. Hier im Lager war aber der Wind nicht so stark zu spüren, die Außenbezirke fingen ihn teilweise auf. Mythor zog unbehaglich die Schultern hoch. Der nahende Winter machte sich bemerkbar. Es war kalt. »Wo ist die Schenke?« fragte Nottr. »Schenke?« Mythor lachte lautlos. »Wir werden uns nicht betrinken. Es dürfte aber ratsam sein, die nähere Umgebung ein wenig besser kennenzulernen. Vor allem die Arena interessiert mich.« »Und das schwarze Zelt«, murmelte Nottr. Doch diesmal schüttelte Mythor den Kopf. »Zu gefährlich«, wehrte er ab. »Bei Tageslicht würde ich es vielleicht noch einmal versuchen, aber nicht so, nicht jetzt. Die Dunkelheit stärkt die Magie.« »Vielleicht hast du recht«, brummte Nottr. 177
Sie wanderten durch das nächtliche Lager und begannen sich allmählich zurechtzufinden. Überall brannten Wachfeuer. Mythor sah keinen praktischen Nutzen darin. Kein Feind würde es wagen, dieses gigantische Lager anzugreifen. Mythor schritt in der von entfernten Wachfeuern und dem blassen, zeitweilig wolkenverdeckten Mondlicht nur mäßig erhellten Dunkelheit vor allem die Arena ab. Sie war fast fertiggestellt. Wenn am nächsten Morgen allerdings die ersten Spiele beginnen sollten, hatten die Arbeiter noch einiges zu leisten. Plötzlich verhielt er seinen Schritt. Von irgendwoher erklang Lärm. Laute Stimmen brüllten Befehle und Anweisungen, und einmal glaubte Mythor das Klirren von Waffen zu hören. Übergangslos wurde wieder alles ruhig. Vergeblich hatte Mythor versucht festzustellen, woher die Geräusche kamen. Sie hatten sein Interesse geweckt, und er wollte erfahren, worum es gegangen war. Je mehr er über die Vorgänge im Lager wußte, desto besser konnte er reagieren. Vielleicht konnte er einen Krieger fragen, was geschehen war. Er winkte Nottr, ihm zu folgen. Der Barbar hielt mit ihm Schritt. Einmal erinnerte er Mythor kurz an die verstreichende Zeit. »Keine Sorge«, wehrte Mythor ab. »Wir werden vor dem Zapfenstreich im Zelt sein. Schließlich kennen wir uns mittlerweile in der Gegend aus.« Nottr brummte etwas Unverständliches. Vor einem Wachfeuer, das in der Nähe des vorangegangenen Aufruhrs liegen mußte, blieben sie stehen. »Was war da los?« fragte Mythor. Der Caer-Wächter verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht genau. Irgendein Krieger oder Ritter oder Bürger oder Fürst, was weiß ich, soll noch ins Lager gekommen sein. Er will am Turnier teilnehmen.« 178
»Ich dachte, die Auswahl der Teilnehmer sei beendet«, sagte Mythor. Der Wächter lachte kurz. »Das hat man dem Fremden auch gesagt, und wie man mir erzählte, soll er daraufhin zornig geworden sein. Er muß einen gewaltigen Wirbel veranstaltet haben. Man hat sogar Parthan geholt. Und Parthan hat entschieden, daß der Fremde teilnimmt. Einer der Krieger aus dem Lager soll dafür von der Teilnehmerliste gestrichen werden.« Eine Frosthand griff nach Mythors Herz. Hatte Parthan ihn wieder gestrichen? »Ein Krieger oder einer derer, die nicht aus dem Lager stammen?« fragte er nach. »Oh«, grinste der Wächter. »Du scheinst auch ein Teilnehmer von außerhalb zu sein. Nein, einer aus dem Lager wird ausfallen. Du weißt sicher, daß die Fremden eine Prüfung ablegen müssen, deren Ergebnis unanfechtbar ist. Krieger aus dem Lager jedoch werden nach ihren allgemein gezeigten Leistungen ausgewählt, und wie es heißt, sind dieses Mal nur wenige gute Männer dabei.« »Ritter Jay von Horkus sagte es bereits«, bestätigte Mythor. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Das hätte ihm noch gefehlt, daß er für einen zu spät gekommenen Fremden von der Teilnehmerliste entfernt worden wäre! Dabei war das Turnier seine momentan beste und einzige Chance, irgendwie an Drudin heranzukommen. Nicht teilnehmen zu dürfen hätte einen gewaltigen Rückschlag für ihn bedeutet. Er mußte kämpfen und siegen. Er vertraute auf die Kraft, die ihm seine Bestimmung gab. Und darauf, daß er seinen Weg machen würde, bis er jenes zauberhafte Wesen fand, das ihm sein Pergament zeigte. »Ich danke dir für die Auskunft«, sagte er und winkte Nottr, ihm zu folgen. »Zurück zu unserem Zelt. Es ist bald Zapfen179
streich.« Zusammen eilten sie wieder durch die Dunkelheit. Nur kurze Zeit fragte sich Mythor, wer der Fremde sei und über welche Macht er verfüge, daß man für ihn eine Ausnahme machte. Die folgenden Ereignisse jedoch ließen ihn den Fremden wieder vergessen. Mythors Zeitgefühl war hervorragend. In dem Moment, in welchem er den Jurteneingang zurückschlug, erklang der Ton der Fanfare. Ahnungslos betrat Mythor das Mannschaftszelt. Augenblicke später fühlte er sich von starken Fäusten gepackt. »Haben wir dich, du Hund!« zischte eine Stimme, und Mythor spürte den Fausthieb, der ihn traf. Ein zweiter erwischte ihn voll. »Das ist für Ralcon und das und das…« Mythor reagierte reflexhaft. Er krümmte sich zusammen, wand sich im Griff seiner Gegner und riß sie zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Nottr in den ungleichen Kampf eingreifen wollte und von den anderen Caer daran gehindert wurde. Im nächsten Augenblick war die schönste Prügelei im Gange! »Macht ihn fertig«, hörte er die unterdrückte Stimme Ralcons, des Mannes, dem er das Kinn zertrümmert hatte. So war das also! Sie wollten an ihm Rache nehmen dafür, daß er die Ehre jenes Mädchens verteidigt hatte, das er nur vom Bild her kannte und dennoch liebte. Mythor wurde zum Berserker. Er schlug gezielt um sich. Seine Fausthiebe schleuderten den einen Caer hierhin, den anderen dorthin. Er kämpfte sich frei, schlug um sich und warf einen Gegner nach dem anderen aus dem Rennen. Schließlich stand er allein da, reckte die Arme hoch und wandte sich um, um Nottr zu Hilfe zu eilen. Aber der Barbar grinste nur. Er war mit seinen Gegnern ebenfalls fertig geworden. 180
»Noch jemand?« fragte Mythor scharf und ließ die Krieger im Kerzenlicht seine Fäuste und die gespannten Muskeln sehen. Er zählte sieben Männer, die er niedergeschlagen hatte. Allerdings hatte er auch eine Menge einstecken müssen. Keiner der anderen insgesamt vier Dutzend Krieger zeigte Lust, sich noch mit Mythor anzulegen. Der marschierte geradewegs auf das Lager zu, von dem aus Ralcon den Kampf beobachtet hatte. Vor dem Verletzten blieb Mythor stehen und ballte die Hand. »Du hast sie angestiftet«, sagte er. »Ja…«, murmelte Ralcon, soweit es sein gebrochenes Kinn zuließ. »Du hast Glück«, sagte Mythor drohend. »Unverschämtes Glück, daß ich mich nicht an Verwundeten vergreife. Sonst würde ich dich jetzt aus dem Zelt prügeln.« Er wandte sich ab und ging zu seinem Lager. Auch Nottr machte es sich bequem. Nur noch zwei Kerzen blieben brennen. Mythor schloß die Augen. Er wollte schlafen und im Schlaf Kräfte schöpfen für den kommenden Tag. Dabei war ihm vollkommen bewußt, daß die Zahl seiner Feinde nach diesem kurzen Faustkampf gewachsen war. Wenn sie wüßten, wer er wirklich war, sie würden ihn nicht nur mit den Fäusten angreifen. Mythor hatte trotz allem einen leichten Schlaf. Er spürte die schleichenden Schritte, noch bevor er sie hörte. Sofort war er hellwach, öffnete die Augen und hob den Kopf. Die beiden Männer, die sich ihm genähert hatten, verhielten. »Schert euch in eure Betten!« murmelte Mythor leise. »Oder ich drehe euch das Genick um!« Da begriffen sie endgültig, daß dieser Mann ihnen überlegen war, und kehrten um. Mythor aber fühlte nach dem Pergament in der Innentasche seines Wamses und war beruhigt, es noch dort zu wissen. Sein Traum zeigte ihm das Gesicht jenes 181
bezaubernd schönen Mädchens, und er träumte, bei ihm zu sein. * Noch jemand im Lager träumte gut in dieser Nacht. Fürst Coorn von Weirdale. Er träumte von Prinzessin Lydia von Ambor. Zwar hatte sie ihn noch nicht in ihr Lager geholt – das würde erst geschehen, wenn er im Turnier gesiegt hatte –, aber das Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte, war ein Versprechen gewesen. Sie war kurz nach Sonnenuntergang noch einmal bei ihm gewesen, und ihre Schönheit hatte dem sonst so ruhigen und besonnenen Mann schier den Verstand geraubt. Er würde alles für sie tun. Auch im Turnier siegen. Unruhig wälzte Coorn sich auf seinem Lager hin und her, aber es war eine angenehme Unruhe, und in seinen Träumen sah er sich bereits an der Seite der Prinzessin als Sieger des Turniers. An Drudin, den obersten Priester, und seine spezielle Art der Siegerehrung dachte Fürst Coorn nicht einmal in seinen Träumen. * Beim ersten Fanfarenstoß war Mythor hellwach. Er glitt von seinem Lager. Neben ihm wuchs Nottr in die Höhe. »Frühstück«, knurrte er. »Wo gibt es das?« Einer der Caer winkte ihm. Seit dem Abend hatten die Krieger einigen Respekt vor den beiden Männern. Der Caer führte die beiden zu einem Platz, der offenbar Anlaufpunkt für mehrere Zelte war. Große Tröge mit Wasser standen bereit, und die beiden Männer erfrischten sich. Danach wurde in einem Flachzelt ein karges Frühstück gereicht. Mißmutig kaute Mythor an den zähen 182
Brotfladen. Ihm schien, als sei hier nicht nur Teig, sondern auch Leder mit verarbeitet worden. Etwas später begaben sie sich zum Zelt der Turnierleitung. Dort wimmelte es bereits von Kriegern und Kämpfern, die sich zum Teil beschimpften oder sogar zu prügeln begannen. Jeder hielt sich für den künftigen Sieger. Nur wenige der Männer hielten sich ruhig zurück. Mythor vermutete, daß das die wirklichen Größen waren. Seine Augen suchten nach dem Riesen Kwinn, aber er konnte ihn nicht entdecken. Dafür aber sah er Gevatter Tod, der am Rand der Versammlung heftig auf einen Priester einredete. Die Priester mußten allgegenwärtig sein. Unwillkürlich warf Mythor einen Blick in Richtung des schwarzen Zeltes, und ein Schauer lief über seinen Rücken. Erneut glaubte er die Macht des Bösen fast körperlich zu spüren. Plötzlich traten Parthan und Jay von Horkus aus dem Zelt. Sofort trat Stille ein. Niemand sprach mehr. Erwartungsvoll sahen die Turnierteilnehmer die beiden ungleichen Männer an. Der Ritter und der Priester sahen sich an, dann kletterte Parthan auf eine Kiste, um von allen gesehen zu werden. Er begann den Ablauf des Drudin-Turniers zu erklären. Es würde mehrere Ausscheidungsrunden geben, von denen die ersten jeweils auch die längsten sein würden, weil hier noch die meisten Teilnehmer im Rennen waren. Jeweils zwei Kämpfer würden gleichzeitig in der Arena sein und gegeneinander antreten. Ein besiegter Gegner durfte nicht getötet werden. Die Caer wollten ihre Armeen schließlich nicht durch das Turnier dezimieren. Mythor hörte, wie Nottr hörbar erleichtert aufatmete. Selbst wenn er besiegt wurde, würde er es überleben. Mythor selbst machte sich weniger Illusionen. Aus Gesprächen anderer Krieger hatte er herausgehört, daß es zuweilen zu mehr oder minder schweren Verletzungen kam; manch 183
einer der Teilnehmer war zum Krüppel geschlagen worden. »Zeigt euer Bestes, dann wird Drudins Auge gnädig auf euch liegen«, sagte Parthan zum Abschluß. »Hoffentlich liegt Drudins Auge nicht zu eindringlich auf mir«, murmelte Mythor fast unhörbar. Jay von Horkus nahm das Wort. Im Gegensatz zu dem Priester verzichtete er darauf, auf die Kiste zu klettern. Er hatte das nicht nötig. Kurz rief er die ersten zehn Begegnungen auf, die nacheinander erfolgen würden, und nannte die Zeit des Kampfbeginns. Mythor fuhr sich mit der Zunge über die trocken werdenden Lippen. Eine eigenartige Spannung hatte ihn ergriffen. Als sein Name fiel, zuckte er zusammen. Sein Ausscheidungskampf würde der dritte sein, der stattfand. Eine ungünstige Plazierung. An den Anfang wurden die weniger aussichtsreichen Kandidaten verlegt, um den Zuschauern einen Spannungsanstieg zu bieten. Die Favoriten würden in der ersten Runde die Schlußkämpfe bestreiten. Aber das konnte ihm nur recht sein. Nicht auffallen, keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, ehe er nicht unanfechtbar an der Spitze stand. Aus diesem Grund hatte er sich auch noch nicht mit Helm und Schwert gewappnet. Er wollte kein Risiko eingehen und die Turnierwaffen benutzen, die allgemein zur Verfügung standen. Langsam setzte er sich in Bewegung, auf den Unterbau der großen Arena zu. Männer nahmen Nottr und ihn in Empfang und wiesen sie ein. Über ihnen befand sich eine der großen Tribünen, auf denen zu dieser frühen Morgenstunde erst wenige Zuschauer saßen. Mythor trat bis zu der Tür, die zunächst in die umlaufenden Korridore führte und dann erst in die Arena. Er machte einen Klimmzug an der Palisadenwand, die mannshoch aufragte, und sah hinüber. In den frühen Morgenstunden erst waren die Aufbauten vollendet worden. Die Tribünen befanden sich an zwei Seiten 184
der Arena in einer Länge von vielleicht jeweils zweihundert Schritt, die dritte, höhere, ragte am Kopfende auf. Dort würden auch die Priester ihre Plätze finden. Zur anderen Seite hin liefen die Palisaden flacher werdend aus, um auch Zuschauern, die keine Zeit hatten, sich auf die Tribünen zu begeben und nur eben so einen Blick in die Arena werfen wollten, die Möglichkeit dazu zu geben. »He, runter da!« hörte Mythor hinter sich eine barsche Stimme. Sofort ließ er sich wieder nach unten fallen. »Wenn du hinaussehen willst, geh gefälligst auf die Tribüne«, knurrte der Mann. »Die untersten Reihen sind den Turnierteilnehmern vorbehalten!« Mythor nickte. »Es lohnt sich für mich noch nicht, da ich bald kämpfen werde«, sagte er. »Oh, die Kämpfe beginnen erst in einer Stunde«, sagte der Mann versöhnlicher. »Ich an deiner Stelle würde mir einen guten Platz reservieren, von dem aus ich meine zukünftigen Gegner genau studieren kann. Du nimmst zum ersten Mal teil?« »Ja«, antwortete Mythor. »Ich danke dir für deinen Hinweis.« Er sah sich um, entdeckte die kleine Holzleiter, die zu den Tribünenplätzen hinaufführte, und schritt dann durch die unterste Reihe. Der Rat des Caer war nicht der schlechteste gewesen. Nur drei oder vier Teilnehmer befanden sich bislang hier oben. Mythor belegte einen Platz, von dem aus er ein günstiges Blickfeld hatte. Nottr war unten geblieben. Wie es seiner Aufgabe als Waffenträger entsprach, inspizierte er die Turnierwaffen für seinen Herrn und versuchte, die besten davon schon einmal zu reservieren. Mythor wartete. Nur langsam füllten sich die Ränge mit Zuschauern. Die ersten Kämpfe waren wenig interessant, erst später, 185
wenn sich die Spreu vom Weizen geschieden hatte, kam Spannung auf, welcher der Kämpfer sich bis zum Schluß halten würde. Langsam verstrich die Zeit. * »He, Kalmar!« rief der Waffenmeister. »Du bist dran!« Zu Beginn des ersten Kampfes hatte Mythor sich wieder nach unten begeben. Somit hatte er keine Gelegenheit gehabt, die ersten beiden Kämpfe zu verfolgen. Jetzt erhob er sich und trat zu dem Waffenmeister und Nottr, der unentwegt darauf beharrte, seinem Herrn eine ganz bestimmte Waffe auszuhändigen. Mythor wußte lediglich, daß der erste Kampf zu Pferde ausgetragen werden mußte und daß die Bewaffnung aus Schild und Morgenstern bestand. Er musterte die Reihe der Turnierwaffen. Nicht jeder Krieger konnte selbst eine Waffe besitzen, so daß von der Turnierleitung Leihwaffen zur Verfügung gestellt wurden. Auf diese Weise konnte Mythor auch ohne weiteres verhindern, daß das Gläserne Schwert Alton und der Helm der Gerechten zu früh zum Einsatz kamen und ihn verrieten. Der Waffenmeister drückte ihm einen Schild in die Hand und einen Morgenstern, ohne auf die Proteste Nottrs zu achten, der eine andere Kugel ausgewählt hatte. Mythor wog das Instrument überlegend in der Hand. Die Waffe bestand aus einer schweren Eisenkugel, die mit spitzen, fingerlangen Dornen besetzt war, die wie die Stacheln eines Igels in alle Richtungen drohten. Die Kugel hing an einer stabilen Kette, die wiederum in einen unterarmlangen Griff überging. Mythor nagte an der Unterlippe. Richtig eingesetzt, war die Kettenkugel eine furchtbare Waffe, in der Hand des Ungeübten aber eine Katastrophe. Denn es gehörte eine Menge an Kraft und Geschicklichkeit dazu, die Kugel ins Ziel zu lenken, und wer 186
nicht mit dem ersten Hieb traf, hatte in einer Schlacht kaum eine Chance zu einem zweiten Angriff. Wenn er aber traf… Mythor erkannte, daß man die Spitzen der Dorne abgesägt hatte, um übermäßige Verletzungen zu vermeiden, darüber hinaus war es Sache des anderen Kämpfers, den Schild zur Abwehr zu benutzen. Er bestand nicht wie üblich aus mehreren übereinandergenähten Lederschichten, um allenfalls Pfeilen oder leichten Schwerthieben Einhalt zu gebieten, andererseits aber den Krieger nicht mehr als unbedingt nötig mit Gewicht zu belasten, sondern aus Metall. Selbst in seiner entschärften Form war die Stachelkugel in der Lage, ein Kettenhemd zu zerreißen oder durch die Aufprallwucht eine Rüstung einzudrücken. Jemand brachte ein Pferd heran. Da Mythor kein eigenes Reittier besaß, wurde ihm ein solches gestellt. Er schwang sich in den Sattel und spürte, wie das Tier unter ihm unruhig wurde. Er sah es mit gemischten Gefühlen. Er war kein sonderlich guter Reiter, denn in der wandernden Nomadenstadt Churkuuhl hatte er keine Gelegenheit gehabt, reiten zu üben. Aber er hoffte, er würde das Tier einigermaßen lenken können. »Hart durchgreifen«, flüsterte Nottr, der um Mythors Schwäche wußte. »Wenn du dem Pferd eine Chance gibst, spielt es mit dir. Es muß von Anfang an wissen, wer der Herr ist!« Mythor nickte. Pferd und Morgenstern – beides Dinge, die er nicht zum besten beherrschte. Er hoffte, daß sein Gegner ein miserabler Kämpfer war. Von ihm wußte er nur, daß er Jaylcor hieß, mehr nicht. Jetzt schritt Jaylcor lässig heran, schwang sich auf sein Pferd und wippte mit dem Griff seines Morgensterns. Die Kugel tanzte dicht neben dem Pferd auf und ab. Er vergeudet seine Kraft, dachte Mythor. 187
Der Caer lächelte überheblich und musterte Mythor, der versuchte, mit seinem Pferd klarzukommen. In diesem Moment wurde der Verlierer des zweiten Kampfes der ersten Runde hereingebracht. Sie trugen ihn. Er war bewußtlos, und der Morgenstern seines Gegners hatte ihm das linke Ohr abgerissen. Der Feldscher eilte bereits herbei, um seine Heilkunst anzuwenden. »Los!« rief der Waffenmeister. »In die Arena mit euch!« Jaylcor ritt sofort an. Mythor folgte ihm etwas zögernd. Er fühlte sich auf dem fremden Pferd unsicher. Und die fremde Waffe war auch nicht geeignet, ihm Selbstvertrauen einzuflößen. Aber dann dachte er an Drudin, und der Name genügte, Mythors Kampfgeist wieder anzustacheln. Er ritt in die Arena. Trotz der frühen Morgenstunde und der relativ uninteressanten Vorkämpfe waren es rund tausend Augenpaare, die von den Tribünen herabblickten. Ein finsteres Lächelnd spielte um Mythors Mundwinkel. Jemand wies ihm seinen Platz zu. Jaylcor ritt hinüber zur anderen Seite und nahm dort Aufstellung. Der Kampf konnte beginnen! * Lydia von Ambor, die verzweifelt versuchte, sich ihren vom Honigbier schweren Kopf nicht anmerken zu lassen, saß wieder im Sattel ihres Pferdes und ritt in gemütlichem Tempo durch das Lager, begleitet von ihrem stummen, kahlköpfigen Leibwächter. Ihre morgendlichen Ausritte waren Tradition. Sie hatte kein besonderes Ziel. Irgendwo traf sie immer einen Kämpfer, den aufzustacheln es sich lohnte. Es war mehr Zufall, daß ihr Weg sie an der Arena vorbeiführte. Im Grunde war sie an den ersten Runden nicht beson188
ders interessiert. Nur jene, die mit Kraft, Geschicklichkeit und Brutalität unter die ersten zwanzig oder dreißig kamen, faszinierten sie. Deshalb hatte sie ihren Tribünenplatz auch nicht bezogen. Wahrscheinlich würde sie sich erst gegen Mittag des vorletzten Tages dort oben hinbegeben und huldvoll lächeln. Sie ritt an jener Seite der Arena vorbei, an der die Umrandung offen und der Palisadenzaun niedrig genug war, selbst Unberittenen Einblick zu gewähren. Unwillkürlich hielt sie ihr Pferd an. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie auch einem der Kämpfe zusehen. Vielleicht war er gut genug, sie ein wenig zu unterhalten. Ihre blauen Augen verengten sich, als sie den Mann sah, der jetzt in die Arena einritt. Er war so tollkühn, ohne Helm anzutreten; sein dunkles Haar wehte leicht im Wind. Hatte sie ihn nicht gestern einmal abends kurz gesehen? Er mußte einer der letzten gewesen sein, die sich für das Turnier eintragen ließen. Numir, der Leibwächter, hielt sein Pferd neben der Prinzessin an. Auch er runzelte unwillkürlich die Stirn, als er den Mann ohne Helm sah. Und so ungeschützt kämpfte er gegen einen Morgenstern? »Das muß ich mir ansehen«, sagte Lydia leise. Ein wohliger Schauer überkam sie bei der Vorstellung, wie die Kugel des anderen… Sie schüttelte sich. Sie liebte die Gewalt, die Brutalität. Vielleicht wurde es ein spannender Kampf. Oder ein schneller… Jemand gab das Zeichen: einen schrillen Pfiff. Dann ritten die beiden Turniergegner aufeinander zu. Lydia von Ambor hielt unwillkürlich den Atem an, als der Dunkelhaarige mit einer geschmeidigen, kraftvollen Bewegung seinen Morgenstern in kreisende Bewegungen versetzte. *
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Mythor sah, wie Jaylcor anritt und auf ihn zustürmte. Er hielt den Morgenstern etwas von sich ab. Der Sohn des Kometen drückte seinerseits seinem Pferd die Hacken in die Weichen. Das Tier setzte sich in Bewegung. Mythor überlegte blitzschnell. Jaylcor würde wahrscheinlich einen Moment vor der Begegnung den Morgenstern hochreißen und die Kugel auf seinen Gegner zuschnellen lassen. Er beschloß, dem einiges entgegenzusetzen. Mit kurzen Schwüngen versetzte er die Kettenkugel in kreisende Bewegungen. Die Kugel stieg, erst einmal in Bewegung versetzt, fast von selbst höher. Es kostete allerdings einige Kraft, diese Waffe zu beherrschen. Die rotierende Kugel zerrte an Mythors Muskeln, drohte sich selbständig zu machen. Schnell, viel zu schnell kam Jaylcor auf Mythor zu. Da war er heran. Im gleichen Moment schien es sich das Pferd in den Kopf gesetzt zu haben, ausbrechen zu wollen. Es machte einen Satz nach vorn. Instinktiv duckte sich Mythor. Er hörte das Pfeifen der Stachelkugel dicht über seinem Kopf. Gut gezielt, aber Jaylcor hatte die überraschende Bewegung von Mythors Pferd nicht mitbedacht. So entging Mythor der fürchterlichen Waffe. Aber auch sein Morgenstern verfehlte den Gegner. Die rotierende Kugel sauste knapp an Jaylcor vorbei. Anschließend hatte Mythor Mühe, den Morgenstern im Griff zu behalten und die langsamer werdende Kugel nicht gegen den Leib des eigenen Pferdes schmettern zu lassen. Hinter ihm wendete Jaylcor schon wieder, um erneut anzugreifen. Bis es Mythor gelang, seinem Pferd mit Schenkeln und Fersen klarzumachen, wer das Sagen hatte, war Jaylcor fast bei ihm. Mythor ließ seine Kugel wieder kreisen. Jaylcor hielt seine wie beim ersten Angriff ruhig, um dann überraschend zuzuschlagen. Mythor bog sich im Sattel zur Seite, während er sei190
ne eigene Kugel auf den Gegner zuschwang. Die Ketten verfangen sich! durchfuhr es ihn. Doch sie verfehlten sich um Haaresbreite, und Jaylcors Kugel zischte knapp an Mythor vorbei, während sein Eisenschild Mythors Morgenstern stoppte. Metall klirrte gegen Metall, und Funken sprühten auf. Jaylcor schwankte heftig und bewegte sein Pferd zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, bevor die herabfallende Kugel den Hals des Tieres verletzen konnte. Jaylcor gab einen Fluch von sich. Mythor fühlte sich sofort ruhiger. Er hatte den ersten Treffer erzielt. Der andere mußte den Schlag sehr wohl gespürt haben. Jaylcor zog eine kurze Schleife durch die Arena und griff abermals an. Schon an seinen ersten Bewegungen erkannte Mythor, daß sein Gegner sich jetzt auf die Kreisrichtung des Morgensterns eingestellt hatte. Der andere war erfahrener. Mit der gleichen Taktik konnte er ihn kein zweites Mal erwischen, aber… Mythor änderte die Richtung, ließ die Kugel jetzt andersherum kreisen! Hatte Jaylcor es nicht bemerkt? Er fegte heran, und Mythor sah die Kugel mit gewaltiger Wucht auf sich zufliegen. Er konnte nicht mehr ausweichen. Diesmal mußte auch er den Schild einsetzen, mußte abwehren. Er riß die runde Eisenplatte hoch. Im nächsten Moment krachte der Morgenstern dagegen. Mythor glaubte, sein Arm würde unter dem Aufprall zerschmettert. Er fühlte, wie ihn eine unglaubliche Kraft fast aus dem Sattel hob. Im gleichen Moment waren sie nebeneinander. Mythors Morgenstern schmetterte den Schild des von der Schlagrichtung überraschten Jaylcor zur Seite. Jaylcor stieß einen gellenden Schrei aus. Da hatte die Kugel, fast ungebremst, die nächste Runde vollendet und schmetterte den Caer in weitem Bogen aus dem Sattel. 191
Mythor konnte sich gerade noch abfangen und im Sattel halten. Jaylcor reagierte ebenfalls noch schnell genug, rollte sich beim Aufprall geschickt ab und kam mit einem Schrei wieder empor. Sein Schildarm war offensichtlich ausgerenkt. Mythor reckte beide Arme empor, in der einen Hand den Schild, in der anderen den Morgenstern. Jaylcor dagegen war am Boden und waffenlos. »Der Sieger ist Kalmar!« hörte er jemanden rufen. Jaylcor ballte wütend die Hände. Aber es gab keinen Zweifel. Er war aus dem Sattel geworfen worden. Kalmar war besser gewesen. Im gleichen Moment setzten zwei Reiter über die niedrigen Palisaden. Eine zierlich wirkende, kostbar gewandete Frau und ein hünenhafter Kahlkopf. Die Frau ritt direkt auf Mythor zu und hielt ihr Pferd vor ihm an. »Du bist Kalmar?« fragte sie. Mythor nickte und sah zu ihr hin. »Ja«, antwortete er mit rauh klingender Stimme. Er war selbst mehr als überrascht davon, wie plötzlich er gesiegt hatte. Aber wer war diese Frau? Und was wollte sie? Er glaubte nicht, daß es Sitte war, daß eine schöne Frau sich ausgerechnet um den Sieger des dritten Kampfes der ersten Runde kümmerte. Es mußte mehr dahinterstecken! »Und wer bist du?« fragte er zurück. Der Kahlkopf machte eine drohende Gebärde. Aber die Prinzessin lachte auf. »Laß nur, Numir, er scheint ein Fremder zu sein, der nicht wissen kann, wie er sich mir gegenüber zu verhalten hat. Kalmar, ich bin Prinzessin Lydia von Ambor, und ich werde als Majestät angesprochen.« Mythor nickte. »Ich erwarte dich in meinem Zelt«, sagte sie plötzlich, gab ihrem Pferd leichten Schenkeldruck zu spüren und preschte wieder davon. Numir, der Stumme, folgte ihr. Verwirrt blieb Mythor in der Arena zurück. 192
* »Es ist besser, wenn du gehst«, hatte der Waffenmeister gesagt, der die Szene vom Arenaeingang her beobachtet hatte. »Die Prinzessin verfügt über sehr viel Macht. Selbst wenn du der beste Kämpfer wärest, könnte sie dafür sorgen, daß du verlierst. Außerdem hast du jetzt Zeit, wahrscheinlich wirst du heute nicht mehr zu kämpfen brauchen.« Mythor entschied sich, dem Rat zu folgen. Er nickte Nottr grüßend zu, händigte ihm Schild und Morgenstern aus und verließ den Unterbau der Tribüne. Der Waffenmeister beschrieb ihm den Weg zu Prinzessin Lydias Zelt. Während Mythor durch das Lager schlenderte, massierte er seinen linken Arm, mit dem er die gegnerische Kugel hatte abwehren müssen. Er konnte froh sein, daß nicht mehr passiert war. Mythor fragte sich, was die Frau von ihm wollte. Wenn sie soviel Einfluß besaß, wie der Waffenmeister behauptete, konnte es nur schlecht für Mythor sein, wenn sie sich zu sehr mit ihm befaßte. Dann erregte er bald allgemeines Aufsehen. Er hatte die Blicke wohl bemerkt, die man der Prinzessin zuwarf. Vor dem Zelt, besser der Zelt-Burg, blieb er stehen. Ein schwarzhäutiger Sklave sah ihn prüfend an. »Du bist Kalmar?« Mythor nickte. »Tritt ein, Herr«, forderte der Sklave ihn auf und schlug den Zelteingang nach innen. Mit gemischten Gefühlen betrat Mythor das Zelt, das allein von außen schon riesig wirkte und innen vielfach unterteilt war. Er durchquerte einen Vorraum und kam in eine Art Thronsaal. Die Zeltwände waren mit kostbaren Stoffen überzogen, überall glitzerte und schimmerte es. Und auf einem breiten Sitzkissen erwartete ihn die Prinzessin. »Zu Euren Diensten, Majestät«, sagte Mythor und deutete 193
eine Verneigung an. Dabei hoffte er, daß sein leichter Spott unbemerkt blieb. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet. Als Mythor stehenblieb, erhob sie sich. Das leicht durchscheinende, kostbare Gewand umfloß ihren gut geformten Körper weich. Mythor schluckte. Unter ihrem prüfenden Blick fühlte er sich unbehaglich. Er kam sich vor wie ein Stück Vieh, das begutachtet wird, ehe man es verkauft. Was wollte sie von ihm? »Du bist ein gutaussehender und starker Mann«, stellte sie fest. »Und du bist irgendwie anders. Du hast etwas an dir, was mir gefällt. Wer bist du, woher kommst du? Erzähle mir alles!« Einladend winkte sie ihm, ließ sich auf das weiche, große Sitzkissen sinken und zog ihn zu sich. Ein Sklave brachte auf einem Tablett einige ausgesuchte Erfrischungen. »Greif zu«, forderte sie Mythor auf. »Und erzähle!« Vorsicht! durchzuckte es ihn. Die Frau ist gefährlich! Sie spielt mit mir, aber es steckt noch mehr dahinter! Er begann seine Geschichte zu erzählen, wie er mit Nottr aus Akinborg gekommen war und unter die Räuber fiel. Gespannt lauschte sie der Schilderung des heldenhaften und verzweifelten Kampfes, und Mythor merkte wohl, daß ihr gerade diese Szene gefiel. Er schmückte sie ein wenig aus, ließ die Räuber förmlich durch die Luft fliegen unter seinen wuchtigen Schlägen, bis sie ihn und Nottr schließlich doch zu sehr bedrängten. »Und dann kam ich ins Lager«, schloß er. Sie sah ihn an. »Bin ich schön?« fragte sie. Mythor atmete tief durch. Jetzt wird es gefährlich, dachte er. Er nickte. »Du bist stark und ein guter Kämpfer, und du interessierst mich. Ich bin sicher, daß du siegen wirst«, sagte sie. »Willst du, daß ich dich zu meinem persönlichen Favoriten erkläre? Ich kann dir helfen, dich unterstützen. Dein Ruhm wird…« Er sprang auf und verneigte sich leicht. Es sah verdämmt so 194
aus, als wollte sie ihn zum bekanntesten Kämpfer des Turniers machen! Er als Günstling der Prinzessin, von allen beachtet und ständig im Gerede… Das fehlte ihm gerade noch! Das war genau das Gegenteil von dem, was er anstrebte: Unauffälligkeit! »Zuviel der Ehre, Majestät«, wehrte er ab. »Das kann ich nicht für mich in Anspruch nehmen. Ich bin nur ein einfacher Krieger aus Akinborg, es gibt andere Männer hier, die würdiger sind, an Eurer Seite zu stehen.« Sie sprang ebenfalls auf. In ihren blauen Augen loderte ein wildes Feuer. »Du Lügner!« schrie sie. »Du hast gelogen! Ich bin dir wohl nicht schön genug, wie? Du wagst es, mich zu beleidigen, indem du mein Angebot zurückweist? Ich…« »Ich wollte Euch nicht verletzen, Majestät«, unterbrach Mythor sie. Doch ihr Zornesausbruch war noch nicht beendet. Sie erging sich in Drohungen und Beschimpfungen, die alle darauf hinausliefen, daß sie sich zurückgewiesen und beleidigt fühlte und er schon merken werde, was er sich damit eingebrockt hatte. Das eine war so fatal wie das andere. Schließlich entschied er sich für die Flucht nach vorn. Wenn sie wirklich die Macht besaß, über die man erzählte, war es besser, mit ihr im Turnier zu kämpfen als gegen sie. Mythor traute ihr ohne weiteres zu, daß sie ihn mit Intrigen und Ränkespielen rasch zu Fall bringen würde. »Ich nehme Euer Angebot an«, sagte er, als sie eine Atempause einlegen mußte. Sie schnappte noch heftiger nach Luft. »Verzeiht, daß meine Bescheidenheit Euch verletzte, Majestät«, sagte er. »Doch ich konnte nicht ahnen, daß…« Er ergriff ihre Hand und küßte sie. »Ich danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt, edle Prinzessin.« 195
Der Ausdruck in ihren Augen wandelte sich überraschend, wechselte von Wut zu Begehren. In diesem Moment begann Mythor zu ahnen, was er sich da aufgeladen hatte… * Worte sind schnell wie der Wind. Gerüchte sind noch schneller als Wahrheiten. Wie der Wind eilten die Worte durch das Lager, daß Lydia von Ambor ihre Gunst einem Fremden schenkte, einem Mann namens Kalmar, der sich sein Pferd von Räubern hatte abnehmen lassen. Doch wenn sich die Prinzessin bereits zu Anfang des Turniers einem bestimmten Mann zuwandte, so sah sie ihn bereits als Sieger. Denn ihr Machthunger und ihre Eitelkeit ließen es nicht zu, sich mit einem möglichen Verlierer überhaupt nur näher zu befassen. Plötzlich stand Mythor im Mittelpunkt des Interesses aller. Wer war dieser Mann? Woher kam er? Konnte er wirklich die Erwartungen erfüllen, die die Prinzessin in ihn setzte? Wie gut war er wirklich in der Arena? Einen gab es, der Kalmar beweisen wollte, wie wenig er wirklich im Turnier und wohl auch im Bett der Prinzessin taugen würde. Jener Mann, der sich schon fast an der Seite der Prinzessin gesehen hatte, ballte die Hände. »Mit dir werde ich noch ein Hühnchen rupfen«, murmelte er und sah hinter Mythor her. »Ich werde dich aus dem Lager hinausprügeln… mit meinen bloßen Fäusten!« Und Fürst Coorn aus Weirdale sah auf seine Fäuste und glaubte, diesen Fremden schon zwischen ihnen zappeln zu sehen.
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Werner K. Giesa
DAS TURNIER DER CAER Gevatter Tod lehnte sich an einen mannshohen Pfahl. »Die Schattenwelt soll ihn verschlingen«, murmelte er und spuckte in den Sand. Mythor folgte dem Blick des dürren, knöchern wirkenden Mannes, der aussah, als sei er längst gestorben, und dabei nicht die unglaubliche Kraft und Zähigkeit verriet, die in ihm steckte. Eine kleinwüchsige Gestalt in wehendem Mantel, schwebend fast, eilte zwischen den Zelten umher. Die silberrote Maske verbarg das wie unter einer gläsernen Schicht gefangen wirkende Gesicht fast vollständig. Der spitze, hohe Helm mit bemalten Hörnern und Knochen, von denen kaum jemand sagen konnte, ob es die von Tieren oder von Menschen waren, ließ den Priester größer erscheinen, als er wirklich war. »Du magst Parthan nicht?« fragte Mythor leise. »Ich fürchte seine Macht«, gab Padrig YeCairn zurück. »Er beherrscht nicht nur dieses Lager, seine Macht reicht viel weiter. Er gehört zum Priesterrat.« Mythor pfiff leise durch die Zähne. Das bedeutete, daß Parthan sich einzig und allein dem Willen des geheimnisumwitterten Oberpriesters Drudin zu beugen hatte und im Rang weit über den anderen Priestern stand. Jemand tauchte unter dem Tribünenbau auf. »He, Gevatter Tod!« schrie er und winkte heftig. »Dein Kampf findet gleich statt!« Bedächtig stieß sich YeCairn von dem Pfahl ab. »Wir unterhalten uns später weiter«, schlug er vor. 197
Mythor grinste und schlug dem Mann auf den Rücken. »Wenn die Prinzessin mir die Ruhe gönnt«, sagte er. »Viel Glück!« »Danke«, knurrte YeCairn, dessen Gesicht sich beim Erwähnen der Prinzessin schlagartig verdüsterte. Dann schritt Gevatter Tod davon, hinein in die Räume unter der Haupttribüne, in der sich die Kämpfer auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen vorbereiteten. Mythor selbst suchte seinen Tribünenplatz in der untersten Reihe auf. Er nahm jede sich bietende Gelegenheit wahr. Je mehr er über die anderen Teilnehmer und ihre Kampftechniken erfuhr, desto besser konnte er sich darauf einstellen. Diesmal aber war es das Interesse an dem Kampf selbst. Er hatte Gevatter Tod bis jetzt noch nicht in der Arena gesehen. Doch Gevatter Tods Kampf war ganz schnell zu Ende. Der Knöcherne hatte seinen Gegner geschlagen und wieder Punkte gemacht. Mythor gönnte es ihm. Padrig YeCairn gehörte zu den wenigen Caer, die er achtete. Ein Caer tauchte auf der Tribüne auf. »Kalmar!« rief er leise. »Der übernächste Kampf ist deiner.« Kalmar-Mythor hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und der Mann, der zu den Ausrichtern des Turniers gehörte, zog sich wieder nach unten zurück. Mythor erhob sich und folgte ihm. Unten erwartete ihn eine böse Überraschung! Blitzartig griffen harte Fäuste nach ihm, wirbelten ihn herum. Er spürte, wie ihn harte Schläge trafen. Seine Abwehrreaktion kam zu spät. Er war einfach nicht auf diesen hinterhältigen Angriff gefaßt gewesen. Sein erster Gedanke galt dem Riesen Kwinn, dem ewigen Polterer, den er sich bereits bei seiner Ankunft im Lager zum Feind gemacht hatte. Doch es war nicht Kwinn, sondern Coorn, der Fürst aus Weirdale! 198
»Nimm das!« zischte Coorn mit verzerrtem Gesicht und schlug erneut zu. Diesmal gelang es Mythor, der Attacke auszuweichen. Warum griff der Fürst ihn an? Sie hatten sich bisher noch nicht gegenübergestanden. Mythor hatte Coorn noch keinen Punkt genommen, und Coorn gehörte ohnehin zur Spitzengruppe, die die Endkämpfe erreichen würde. Warum also mochte der Weirdaler Haß gegen Kalmar empfinden? Mythor konterte. Er wandte eine Kampftechnik an, die er einmal in einem fremden Land erlernt hatte, als das Wanderfort Churkuuhl, die Nomadenstadt, in der er aufgewachsen war, einen kurzen Halt gemacht und der junge Mythor einen seiner Erkundungsausflüge unternommen hatte. Fürst Coorn wurde völlig überrascht. Er wurde durch die Luft gewirbelt und stürzte schwer zu Boden. Der Waffenmeister und seine Gehilfen waren wie erstarrt. Zu schnell war alles vor sich gegangen, der Überfall, die Prügelei und die überraschende Abwehr Kalmars in einem Augenblick, in dem Coorn nicht mehr an eine Gegenwehr dachte. Mythor riß einem der Waffenknechte das Schwert aus der Hand und setzte es an Coorns Kehle. »Was soll das?« fragte er scharf. »Verfluchter Schurke!« keuchte Coorn. »Ich schlage dir alle Knochen kaputt… Laß mich nur hochkommen, du verdammter Hund!« »Warum?« fragte Mythor, der die Schwertspitze nicht von Coorns Kehle ließ. Mit der Linken wischte er sich über den Mund, ein roter Faden blieb an der Hand, ein deutliches Zeichen des ersten Treffers, den der rasende Fürst erzielt hatte. »Darüber spricht doch das ganze Lager, Kalmar«, mischte sich jetzt der Waffenmeister ein. »Ich verstehe Coorns Haß, aber ich billige sein Vorgehen nicht. Nicht zu diesem Zeitpunkt, Coorn, das ist unfair!« 199
»Es ist auch unfair, daß er mir die Prinzessin genommen hat«, schäumte Coorn. Mythor schnappte überrascht nach Luft und ließ das Schwert ungewollt abirren. Sofort schnellte sich Coorn wieder empor, während der Waffenmeister zu kichern begann. »Hattest du dir ernsthafte Hoffnungen gemacht, Fürst?« fragte er. »Die Prinzessin wechselt ihre Liebhaber wie ihre Armreifen. Vielleicht läßt sie Kalmar schon heute fallen.« Daran glaubte Mythor selbst am wenigsten, der sich kaum der Nachstellungen Lydia von Ambors erwehren konnte. Dennoch lachte er bitter auf, während er mit dem ausgestreckten Schwert den tobenden Fürsten auf Distanz hielt. »Du bist ein verdammter Narr, Fürst Coorn«, sagte er. »Nicht ich bin der Prinzessin nachgelaufen, sondern sie hat sich meiner erbarmt. Wider meinen Willen, Coorn! Ich möchte lieber heute als morgen ihrer ledig sein, aber sie läßt mich nicht mehr aus ihren lackierten Klauen! Geh zu ihr und frag sie!« »Hund«, keuchte Coorn. »Irgendwann erwische ich dich, und dann kommst du mir nicht so billig davon!« Abrupt wandte er sich ab und eilte davon. Mythor warf das Schwert zur Seite. »Er muß verrückt sein«, murmelte er. »Verrückt vor Liebe«, sagte der Waffenmeister ruhig. »Er ist vernarrt in die Prinzessin. Sie hat ihm Hoffnungen gemacht wie allen anderen, aber Coorn fühlt sich wohl ganz besonders angesprochen. Dabei müßte gerade er wissen, wie wechselhaft die Launen der Prinzessin sind.« »Oh, im Augenblick sind sie leider recht beständig«, murmelte Mythor und rieb sich die schmerzenden Glieder. Coorn hatte beachtlich harte Fäuste. Mythor ahnte, daß der Fürst sehr gezielt geschlagen hatte. Er hatte Mythor schwächen wollen, damit er im nächsten Kampf unterlag. Er sollte schmählich 200
versagen und der Prinzessin vor Augen führen, daß sie auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Aber er mußte siegen. Er mußte Drudin erreichen. »Gegen wen werde ich heute antreten?« fragte er und sah im Hintergrund Nottr. »Ich ahnte nicht, was er plante, Kalmar«, versuchte sich Nottr-Ruden zu entschuldigen. »Ich hätte ihn sonst aufgehalten.« Mythor winkte ab. »Schon gut. Ich bin mit ihm fertig geworden.« Fragend sah er den Waffenmeister an. »Wen hat die Turnierleitung für mich bestimmt?« Der Waffenmeister wurde der Antwort enthoben, denn Mythors Gegner betrat in diesem Augenblick den großen Vorbereitungsraum unter der Haupttribüne. »Der da«, sagte der Waffenmeister lakonisch. Mythor hielt unwillkürlich den Atem an. Sein Gegner war – der Riese Kwinn! Der polternde Hüne, der mit seinem Kraftprotzen durch das Lager gezogen war und sich damit nicht nur Bewunderer, sondern auch Feinde geschaffen hatte, blieb im Eingang stehen. Sein Blick fiel auf Mythor und verfinsterte sich unwillkürlich. »Ah«, grollte er. »Wir kennen uns doch, Winzling, nicht wahr?« Mythor reagierte nicht. Er sah an Kwinn vorbei und begann seine Chancen zu überdenken. Es kam ganz darauf an, welche Kampfart gewählt wurde. Wenn Verstand gebraucht wurde, war er Kwinn überlegen. Ging es um Kraft, war der Ausgang des Kampfes ungewiß. Mythor wußte nicht, was ihn erwartete. Er und Kwinn würden eine neue Runde eröffnen, die fünfte. Es gab rund zwanzig Männer, die in der Punktzahl weit genug vorn lagen, um noch Chancen auf den Sieg zu haben. Von den dreihundertsechsunddreißig Teilnehmern, die ursprünglich angetreten 201
waren, kämpften noch insgesamt rund sechzig. Mythor lächelte bitter. Er gehörte zum Spitzenfeld und hatte vor, dort zu verbleiben. Irgendwie mußte er mit Kwinn fertig werden. Er hatte den Riesen in einigen Kämpfen beobachtet und befürchtet, daß er ihm gegenübertreten mußte. Im Drudin-Turnier ging es nicht allein darum, den stärksten und geschicktesten Kämpfer zu ermitteln; auch die Denkfähigkeit spielte eine tragende Rolle, und da lagen seine Vorteile. Denn der Sinn der Kampfspiele war, aus der Masse der Teilnehmer jene auszuwählen, die würdig waren, die Caer-Armeen anzuführen. »Ich werde dich zerquetschen wie eine Wanze«, grollte der Riese Kwinn und rieb sich seine prankenähnlichen Hände. Kwinn haßte Mythor. Durch Mythors Warnung war es Gevatter Tod gelungen, auszuweichen und den Riesen in seine Schranken zu verweisen. Wenn nicht, wäre Padrig YeCairn jetzt vermutlich tot. Mythor warf einen kurzen Seitenblick auf Kwinn, dann sah er wieder den Waffenmeister an. »Wie sieht der Kampf aus?« »Schaurig«, verkündete der Waffenmeister. »Es wird ein Zweikampf werden. Ich soll euch beide mit Stäben ausrüsten. Damit werdet ihr gegeneinander antreten.« »Stäbe, hm…«, brummte Mythor. »Das gefällt dir wohl nicht?« schrie Kwinn. »Du Schwächling! Ich werde dich an den Palisaden entlangprügeln!« Mythor zog es vor, auch diesmal nichts zu erwidern. Das stachelte den haßerfüllten Riesen nur noch weiter auf. Er erging sich in genauen Beschreibungen dessen, was er mit Kalmar anstellen wolle. Der nahm schweigend zwei Stäbe entgegen. Als der Waffenmeister auch dem Riesen zwei dieser metallenen Waffen reichte, griff Kwinn nur nach einer. Ein Stab gegen zwei… Mythor hätte das wahrscheinlich nicht riskiert. 202
»Mit einem Stab werde ich dich besiegen«, grollte der Riese. Mythor überlegte blitzschnell, dann gab er eine seiner beiden Waffen zurück. Der Riese lachte grollend. »Du Narr! Jetzt bist du verloren!« Im Augenblick der Stabübergabe flüsterte der Waffenmeister etwas. Mythor hatte längst herausgefunden, daß der Meister Gefallen an ihm gefunden hatte. Kalmars Kampfweise, seine Stärke und Schnelligkeit hatten ihn rasch auch in der Gunst der Zuschauer ins Spitzenfeld gebracht. »Achte auf seine linke Hand«, kam es wie ein Hauch. »Kwinn ist Linkshänder, aber er kämpft rechts, um es zu verbergen. Doch wenn es um alles geht, wechselt er die Waffe in die Linke!« Mythor schloß kaum merklich die Lider zum Zeichen, daß er den Hinweis verstanden hatte. Kwinn schien nichts bemerkt zu haben. »Wann beginnt endlich der Kampf?« röhrte er. »Ich will diesem Waschlappen das Maul stopfen!« »Es wäre sinnvoller, wenn dir jemand das Maul stopfen würde«, brummte der Waffenmeister. Kwinn ballte die Hände. Doch es war nicht ratsam, sich am Waffenmeister zu vergreifen. Es konnte den Ausschluß von den Kämpfen bedeuten. Draußen erklang ein Trompetenton. Der Kampf konnte endlich beginnen. * Mythor trat in die Arena hinaus, Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Die Caer auf den Tribünen unterhielten sich und sparten dabei nicht an Lautstärke. Sein Blick suchte die Prinzessin auf der Haupttribüne. Zu seiner Erleichterung war sie nicht anwesend. Mythor atmete auf. Er sah sich um. Nach ihm 203
betrat Kwinn die Arena. Das Gemurmel wurde leiser. Man erkannte den Kämpfer, der sich bislang gut geschlagen hatte. Kwinn schwang den Metallstab, der, richtig geführt, dem Gegner furchtbare Verletzungen zufügen oder ihn töten konnte. Als Mythor in die Augen Kwinns sah, wußte er, daß der Caer ihm keinen Pardon geben würde. Er sah sich um. Die Zuschauer begrüßten jetzt die beiden Kämpfer mit Applaus. Jemand winkte und wies den beiden Kontrahenten ihre Plätze zu. Mythor wog den drei Ellen langen Stab in der Hand. Die meisten Kampfarten des Turniers waren ihm nur wenig vertraut. Er schalt sich im nachhinein einen Narren, den ihm von Kwinn geschenkten Vorteil eines zweiten Stabes vergeben zu haben. Doch jetzt war es zu spät. Er nahm seinen Platz ein und warf noch einmal einen Blick zur Haupttribüne. In diesem Augenblick traf Lydia von Ambor ein und winkte ihm aufmunternd zu. »Ah, dein Schätzchen«, grollte Kwinn dumpf. »Nun, ich werde ihr zeigen, wie wenig du wert bist!« Die letzten Worte hatte er so laut geschrien, daß auch die Zuschauer es hören mußten. Mythor zeigte ein spöttisches Lächeln. »Hol dir deine Tracht Prügel!« rief er herausfordernd. Mit einem Wutschrei stürmte Kwinn auf ihn zu. Der Riese griff frontal an. Er benutzte den Metallstab wie ein Schwert. Mit einem wilden Aufschrei holte er aus und wollte seine Waffe auf Kalmars Kopf niederschmettern. Dieser hielt den Stab an beiden Händen, riß ihn hoch und blockte den Schlag ab. Im nächsten Moment sprang Kwinn mit bösem Grollen wieder zurück. Mythor preßte die Lippen zusammen. Kwinn war stark, sehr stark sogar. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Mit einem 204
einfachen Schlagabtausch war der Riese nicht zu besiegen. Kwinn ließ ihm kaum Zeit. Schon war er wieder heran. Metall traf auf Metall. Funken sprühten. Mythor sah Kwinns haßerfülltes Gesicht dicht vor sich. Dann wich Kwinn wieder zurück, um zum nächsten Angriff auszuholen. Achte auf seine linke Hand, brannten die Worte des Waffenmeisters in Mythors Gedächtnis. Noch kämpfte Kwinn rechtshändig, spielte er mit seinem Gegner. Mythor wußte, daß er selbst angreifen und den Kampf bestimmen mußte, wenn er nicht die Gunst der Zuschauer verlieren wollte. Wieder stürmte Kwinn auf ihn ein. Diesmal blockte Mythor nicht ab. Er wich einfach aus, um in einer überraschenden Bewegung schräg hinter Kwinn aufzutauchen. Kwinn schrie auf. Er wirbelte herum und wußte im Augenblick nicht, seinen Stab zur Abwehr einzusetzen. Zu sehr hatte er sich auf pausenlosen Angriff eingestellt, weil er glaubte, mit Kalmar rasch fertig zu werden. Mythor nutzte seine Chance. Sein Stab beschrieb einen weiten Bogen. Flog dann förmlich um Kwinns mangelhafte Deckung herum. Zerschmetterte ihm das Handgelenk – das linke! Sofort wich Mythor wieder zurück, wie es zuvor Kwinn getan hatte. Der brüllte wütend und schmerzerfüllt auf. Er konnte seine linke Hand nicht mehr benutzen! Von diesem Augenblick an spielte Mythor mit seinem Gegner. Das Blatt hatte sich überraschend gewendet. Die Gewißheit, daß er seine Kampfhand nicht mehr einsetzen konnte, hatte das Selbstvertrauen des Riesen erschüttert. Es gelang Mythor, ein paar weitere Treffer zu landen, ohne daß er selbst berührt wurde. Und dann schlug er noch einmal zu, benutzte seinen Stab als Hebel und entwaffnete den Riesen völlig überraschend. Die Zuschauer auf den Tribünen tobten. Bis zu diesem Mo205
ment war Kwinn unbesiegt geblieben, hatte fast immer die volle Punktzahl einkassiert. Und jetzt war er waffenlos, ohne seinen Gegner auch nur einmal getroffen zu haben. »Der Kampf ist beendet!« rief der Punktrichter und eilte auf die beiden Männer zu. »Der Sieger ist Kalmar mit sechs von sieben möglichen Punkten. Keine Punkte für Kwinn!« »Ich bringe dich um«, grollte der Riese und stampfte davon. »Warum nur sechs Punkte?« fragte Mythor. »Du zögertest anfänglich zu lange, und du hast sein Handgelenk zertrümmert. Die Verletzung ist unangemessen schwer.« »Gut«, nickte Mythor und wandte sich um. »Kalmar!« rief eine Frauenstimme. Er sah auf, und ein Schatten flog über sein Gesicht. Lydia von Ambor winkte ihm begeistert zu und warf ihm Kußhändchen zu. Widerwillig zauberte Mythor ein strahlendes Lächeln auf Kalmars Gesicht und winkte zurück, ehe er die Arena verließ. Der Waffenmeister und Nottr in seiner Tarnung als Ruden erwarteten ihn. »Wo ist Coorn?« fragte Mythor. Der Waffenmeister grinste. »Irgendwo im Lager. Ich nehme an, er schmiedet Rachepläne. Gut, wie du mit Kwinn fertig geworden bist. Das Großmaul hatte diese Abreibung verdient.« »Mit null Punkten dürfte er jetzt so gut wie aus dem Rennen sein«, überlegte Mythor. »Also wieder ein Konkurrent weniger.« »Du setzt alles daran, Sieger zu werden«, sagte der Waffenmeister. »Warum? Wegen der Prinzessin?« »Ich sähe es lieber, wenn sie nicht im Lager wäre. Nenn es persönlichen Ehrgeiz! Ich will mir vielleicht beweisen, daß ich besser bin als alle anderen Caer.« »Die Endausscheidungen werden schwieriger«, murmelte der Waffenmeister. »Es sind nur absolute Spitzenkämpfer, die noch Chancen haben. Die anderen kämpfen nur noch um die 206
Reihenfolge.« »Punktmäßig liege ich eigentlich nicht schlecht«, murmelte Mythor. »Ich denke, daß ich es schaffen werde.« »Ich soll dir eine Botschaft der Prinzessin überbringen«, sagte Nottr endlich. »Sie erwartet dich so bald wie möglich in ihrer Zelt-Burg.« Mythor stieß zischend die Luft aus seinen Lungen. »Caers Blut!« benutzte er ungewollt Coerl O’Marns Fluchwort. »Hast du ihr nicht gesagt, daß…« Nottr winkte ab. »Ich sagte ihr, daß du bestimmt Ruhe benötigst, aber sie ließ mich kaum zu Wort kommen.« »Schön«, brummte Mythor. »Ich werde sie jetzt aufsuchen, solange sie noch auf der Tribüne ist.« * »Es ist unmöglich!« behauptete der Priester schrill. »Noch nie ist es geschehen, daß Kwinn ein Kampfspiel mit null verlassen mußte! Mit diesem Kalmar stimmt etwas nicht!« Parthan, der kleinwüchsige, aber stämmige Oberpriester, sah sein Gegenüber schweigend an. Hinter der Maske waren nur die Augen zu erkennen. Auch sie wirkten, als befänden sie sich hinter einer dicken Glasschicht. »Du meinst also, wir sollten uns um Kalmar kümmern?« fragte er schließlich. »Ja! Vielleicht verwendet er Magie.« »Wir würden es spüren«, wehrte Parthan ab. Plötzlich kicherte er und rieb sich die Hände. »Wenn dieser Kalmar wirklich ein faules Ei ist, werde ich von Horkus einen Kopf kürzer machen! Das wäre endlich die Gelegenheit! Beobachte Kalmar weiter und sei auf der Hut. Melde mir alles, was mit ihm zusammenhängt!« Der untergeordnete Priester verneigte sich und huschte aus 207
dem Zelt Parthans. Lydia von Ambor schien nicht zu frieren. Trotz der spätherbstlichen Kühle trug sie ein dünnes Kleid, das die Konturen ihres zierlichen, wohlgeformten Körpers nachzeichnete. Ein seidener Umhang lag um ihre Schultern; von Schmuck war sie förmlich übersät. Ringe, Armreifen und Ketten funkelten in der Sonne. Dunkelblondes, gelocktes Haar umfloß ihr Gesicht mit den fast kindhaft großen blauen Augen und den vollen Lippen. Als Mythor auf der Haupttribüne erschien, flog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Mein Held«, rief sie und streckte winkend den bereiften Arm aus. »Komm zu mir!« Mythor näherte sich ihr. Ein Raunen ging durch die Menge, wie stets, wenn er sich in der Nähe der Prinzessin zeigte. Stumm, mit verschränkten Armen, aber stets bereit, zu Dolch oder Kurzschwert zu greifen, stand Numir hinter ihr, der schwarze, kahlköpfige und stumme Leibwächter. Ein paar weitere Diener befanden sich neben, vor und hinter der Prinzessin. Mythor kniete vor ihr nieder und küßte die Hand, die sie ihm reichte. »Ihr habt mich gerufen, und ich bin gekommen, Majestät«, sagte er. Sie lächelte und genoß es, wie dieser starke, kluge Kämpfer vor ihr kniete. »Nun, ich ließ dich in meine Zelt-Burg bitten, Kalmar«, sagte sie. »Dort haben wir mehr Zeit für uns.« »Verzeiht, Majestät!« sagte er. »Doch der Kampf war hart, und ich bedarf der Ruhe. Und auf die Dauer werden die Kämpfe immer beschwerlicher. Ich muß mich auf den morgigen Tag vorbereiten.« »Ach, das sagst du immer«, schmollte sie. »Du wirst doch ein, zwei Stunden erübrigen können… oder ist dir der Weg zu meiner Zelt-Burg zu weit? Soll ich zu dir kommen?« Mythor wand sich. Diese Frau wurde immer zudringlicher! 208
Wenn sie nicht über eine derartige Machtfülle verfügt hätte, wenn ihre Verbindungen nicht so unheimlich weit reichten… Mythor warf einen Blick nach unten. Dort kämpfte Rhubo, der Henker von Caer, gegen einen anderen Krieger. Rhubo war bereits einmal Turniersieger gewesen. Kalmar erkannte, daß die Prinzessin auch diesem Kampf gebannt folgte. Kraft und Gewalt wurden dort unten freigesetzt, das metallische Klirren der Stäbe drang zu ihnen empor. Lydia zeigte sich beeindruckt. »Würdest du nicht gern auch gegen Rhubo kämpfen?« fragte sie leise. »Ich möchte wissen, wer stärker ist – er oder du.« Mythor sah sie an. »Wahrscheinlich Rhubo«, sagte er. »Ich glaube es nicht«, versetzte sie. »Soll ich dich in deinem Zelt besuchen?« »Ich bin in einem Mannschaftszelt untergebracht«, sagte er. Erstaunt sah sie ihn an. »Wie? Hat man dir immer noch kein Einzelzelt zugeteilt? Bei deinen Leistungen? Du, der strahlende Held, in einem gewöhnlichen Mannschaftsquartier? Ich werde das regeln.« Sie gab einem der Diener einen Wink. »Geh nun und ruh dich ein wenig aus«, sagte sie. »Heute abend erwarte ich dich dennoch in meiner Zelt-Burg.« Mythor nickte, froh, aus der unmittelbaren Nähe der Prinzessin verschwinden zu können. * »Das darf nicht wahr sein«, murmelte Fürst Coorn. »Dieser Bauer bekommt ein Einzelzelt! Ich schlage ihn tot! Er hat bestimmt die Prinzessin beschwatzt!« Der Weirdaler ballte die Hände. Er verfolgte, wie ein paar Männer in fliegender Hast ein Zelt errichteten. Er hörte auch ihre Unterhaltung und entnahm daraus, daß sie zu Prinzessin Lydias Dienerschaft gehörten. 209
Ein Caer-Offizier stand bei ihnen und verfolgte, wie sie das Spitzgerüst errichteten und dann die Zeltbahnen darumlegten. Der Offizier hatte auch den Platz bestimmt, kaum fünfzig Schritt von der Zelt-Burg der Prinzessin entfernt. Das Zelt war erheblich größer als das, das man Coorn zur Verfügung gestellt hatte. Mit einem jähen Ruck wirbelte der Fürst herum und prallte gegen eine Gestalt in schwarzem Mantel. Er hatte nicht bemerkt, daß ein Priester hinter ihn getreten war. Erschrocken fuhr der Fürst zusammen. Er fragte sich, wieso seine scharfen Sinne den Behelmten nicht hatten wahrnehmen können. »Verzeih mein Ungestüm«, sagte Coorn unterwürfig. »Habe ich dich verletzt?« »Zu deinem Glück nicht«, antwortete der Priester barsch. »Was geschieht dort, wenn du so davon gefesselt bist, daß du mein Nahen nicht bemerktest?« »Sie errichten ein Zelt für Kalmar«, stieß Coorn wütend hervor. »Ah«, lachte der Priester spöttisch auf. »Die Eifersucht, Fürst… Ist es so schwer für dich, die Prinzessin zu vergessen?« »Ich verehre sie«, keuchte der Fürst. »Liebe macht blind«, brummte der Priester. »Du weißt hoffentlich, wen und was du noch stärker zu verehren hast als diese Frau. Vergiß es nie! Ein Einzelzelt für Kalmar, soso.« Im nächsten Moment war Fürst Coorn wieder allein und fragte sich, warum der Priester es plötzlich so eilig hatte. Nottr schob seinen Kopf durch den Zelteingang. »Komm herein!« forderte Mythor ihn auf. Er war überrascht gewesen, wie schnell die Anweisung der Prinzessin ausgeführt worden war. Offensichtlich hatte sie auch die Lagerleitung unter ihrem Einfluß, denn sonst hätte man ihm kaum ausgerechnet hier ein Zelt errichtet, noch dazu in dieser Größe. 210
Nachdem er den Turnierplatz verlassen hatte, war Mythor kurz in eine der Lagerschenken eingekehrt, hatte einen Krug Bier getrunken und noch ein wenig mit Padrig YeCairn geplaudert. Gevatter Tod lag etwa fünfzehn Punkte unter dem Wert Kalmars, aber immer noch höher als Kwinn, der durch seine Niederlage gegen Mythor empfindlich zurückgefallen war. YeCairn hatte sein Totenkopfgrinsen gezeigt und gesagt: »Wenn Kwinn morgen trotz seiner Verletzung wieder antritt, werde ich gegen ihn kämpfen. Ich erfuhr es um ein paar Ecken herum, daß die Turnierleitung bereits die Gegnerlisten erstellt, und wir stehen beide darauf. Kwinn wird abermals Punkte verlieren, Kalmar.« »Und ich?« fragte Mythor. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube den Namen Adin von Corvanth gelesen zu haben.« Mythor pfiff durch die Zähne. »Der Jüngling? Mhm… er hat sich bisher gut geschlagen, aber er hat nicht genügend Punkte. Selbst wenn er gegen mich gewinnt, kommt er nicht besonders weit. Was glaubst du, wer siegt?« »Salmacar Kent, Rhubo, Taine oder du. Einer von euch vieren«, brummte der Ausbilder. »Kent und Rhubo haben früher schon jeweils einmal gewonnen. Das Rennen läuft gewissermaßen nur noch zwischen euch. Wir anderen zählen nicht mehr, außer jemand tötet euch oder besiegt euch so, daß ihr nicht weiterkämpfen könnt.« »Ich dachte, in diesem Turnier wird nicht getötet«, warf Mythor überrascht ein. »Im Turnier nicht«, brummte Gevatter Tod trocken. »Aber in der Nacht. Hüte dich vor Kwinn. Er sinnt auf Rache.« »Da gibt es noch andere«, murmelte Mythor und dachte an Fürst Coorn und jenen Krieger, dem er in der ersten Nacht im Lager das Kinn zertrümmert hatte. Er trank aus, legte YeCairn 211
grüßend die Hand auf die Schulter und verließ die Schenke. * Das war vor gut einer Stunde gewesen. Zu seiner Überraschung hatte man ihn vor dem Mannschaftszelt erwartet und zu seiner neuen Unterkunft gebracht. Auch seine persönlichen Habseligkeiten waren bereits in das Einzelzelt gebracht worden. Mythor war überrascht von der Größe. Als der Diener aus Lydias Gefolge, der ihn hierhergebracht hatte, wieder verschwunden war, überprüfte Mythor seinen Besitz. Zu seiner Erleichterung hatte man auch das Gläserne Schwert und den Helm der Gerechten mitgebracht, beide sorgsam in Decken gehüllt. Jetzt trat Nottr ein. »Du bist eine gefragte Persönlichkeit«, sagte er. »Ich weiß«, versetzte Mythor. »Ich fürchte, daß ich mich der Gunst der Prinzessin nur noch durch eine totale Niederlage in der Arena entziehen kann. Nun, ein Einzelzelt hat auch seine Vorteile.« Der Barbar grinste. »Ich als dein Waffenträger erfreue mich im Mannschaftszelt jetzt der ungeteilten Aufmerksamkeit aller anderen Caer.« »Du ziehst mit in dieses Zelt«, schlug Mythor vor. »Es ist groß genug, und vielleicht hält deine Anwesenheit die Prinzessin fern.« Der Lorvaner grinste noch immer. »Vielleicht. Es gibt aber auch andere Leute, die sich sehr für dich interessieren. Hast du noch nicht bemerkt, daß du ständig unter Beobachtung stehst?« »Wer? Coorn?« Nottr winkte ab. »Der auch, ist aber unwichtig. Denk mal an spitze Helme mit Hörnern und Knochen…« 212
Mythor ballte die Hände. »Priester!« stieß er hervor. »Richtig geraten«, sagte der Lorvaner. »Ich glaube, sie ahnen etwas. Wir sollten noch vorsichtiger sein als bisher.« Mythor nickte. Er dachte wieder an das schwarze Zelt im Zentrum des Lagers. Die Macht der Priester… Sie waren gefährlich, tausendmal gefährlicher als die Krieger, obgleich sich nur ein paar Dutzend im Lager befanden. Wenn sie Mythors Geheimnis entdeckten, wenn sie ihn als den Gesandten des Lichtboten erkannten, dann konnte er nur noch sich selbst das Schwert in die Brust stoßen. Das war dann die harmloseste und schmerzloseste Art zu sterben… * Kurz vor Einbruch der Dämmerung erschien einer der Diener der Prinzessin und machte Mythor nachdrücklich darauf aufmerksam, daß seine Herrin das Erscheinen des Helden herbeisehne. »Die vergißt mich wirklich nie…«, flüsterte Mythor verbissen und warf Nottr einen hilfesuchenden Blick zu. Doch der Lorvaner grinste nur. »Denk an die Vergünstigungen und opfere dich!« brummte er. Mythor ergab sich in sein Schicksal und folgte dem Diener zu Lydias Zelt-Burg. »Die Prinzessin erwartet dich bereits sehnsüchtig, Kalmar«, raunte der Diener, öffnete einen weiteren Durchgang und blieb selbst zurück, während Mythor hindurchschlüpfte. Er blieb stehen und sah sich um. Es war ein kleiner, geradezu gemütlich eingerichteter Zeltraum, mit rotem Samt und weichen Teppichen ausgeschmückt. Kerzen in mehrarmigen Leuchtern flackerten und schufen ein eigenartig weiches Licht. Von einem breiten, bequemen Lager erhob sich die Gestalt der Prinzessin. 213
Ein eigenartiger Glanz lag in den Augen der Frau. Unwillkürlich trat Mythor einen Schritt zurück und stand an der samtüberzogenen Zeltwand. Lydia von Ambor hatte sich recht sparsam gewandet. Ihre Brüste wurden von goldenen Schalen bedeckt, der ebenfalls golden glitzernde Rock war bis zu den Hüften geschlitzt und ließ Mythor einen Blick auf lange, schöne Beine erhaschen. Sie streckte die Arme aus. »Komm zu mir, Kalmar«, verlangte sie. Er wußte, welche Freuden ihn erwarteten. Lydia wollte ihn nicht nur als Aushängeschild, ihn, den kraftvollen Fremden, der alle Gegner aus dem Felde schlug, sondern sie wollte mehr. Kurz schloß er die Augen. Nicht etwa, daß er sich nichts aus Frauen gemacht hätte, und diese Prinzessin war hübsch, verteufelt hübsch. Wie Fürst Coorn, so rissen sich auch die meisten anderen Männer im Lager um sie, und eine Nacht mit der Prinzessin hätte sie die eigenen Familien verraten lassen. Doch der Charakter der Frau gefiel Mythor nicht. Sie gierte nach Macht, und Männer waren dabei nur Mittel zum Zweck. Sie spielte mit ihnen, setzte sie nach Belieben ein wie Figuren in einem Spiel. Aber Mythor ließ nicht mit sich spielen, vor allem nicht, wenn um das Erringen von Macht gespielt wurde, die auf dunkler Magie begründet war. Soviel hatte er inzwischen über Lydia erfahren, um zu wissen, daß sie auf ein weltumspannendes Caer-Reich hoffte und darin eine machtvolle Rolle zu spielen gedachte. Als er stehenblieb, kam sie zu ihm, schloß ihn in die Arme. »Ich habe auf dich gewartet«, flüsterte sie. »Komm!« Für sie völlig überraschend gähnte Mythor herzhaft. »Verzeiht, Majestät«, sagte er dann. »Doch der Tag war anstrengend, und ich bin müde. Ich fürchte, ich werde kein aufmerksamer Gast sein.« 214
Enttäuschung flog über ihr Gesicht. Dann aber zog sie ihn zu sich auf das breite Lager. Trotz ihrer körperlichen Reize ließ sie Mythor weitgehend kalt. Er dachte an das Bild jenes Mädchens, das er auf einem Pergament in der Innentasche seines Lederwamses trug und das ihn mit Sehnsucht erfüllte. Seine Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart zurück. Er täuschte ein weiteres Gähnen vor, während die Hand der Prinzessin durch sein bis auf die Schultern fallendes, dunkles Haar strich. »Kalmar, mein starker Held…« Sie bedachte ihn mit ein paar Zärtlichkeiten in der Hoffnung, seine Lebensgeister zu wecken, aber Kalmar reagierte nur träge und immer müder. Schließlich erlaubte er sich die Dreistigkeit, einfach einzunicken. Wütend sprang sie auf und stampfte mit dem Fuß auf. Sie rief nach einigen Sklaven. »Schafft ihn in sein Zelt zurück!« befahl sie, und die Enttäuschung trieb ihr die Tränen in die Augen. »Sofort! Ist denn das die Möglichkeit? Schläft der Kerl hier einfach ein!« Sie trugen ihn hinaus. Lydia klatschte in die Hände. »Bring mir Honigbier!« fuhr sie den erscheinenden Diener an. »Sofort, und nicht zuwenig!« Sie versuchte, ihre Enttäuschung damit fortzuspülen. Unheimliche Mengen des goldgelben, schäumenden Trunkes konnte sie vertragen, den sie still und heimlich in ihrem Zelt zu genießen pflegte. Es dauerte einige Zeit, bis die Umgebung um sie zu verschwimmen begann und ihr Ärger verrauchte. »Was soll’s«, murmelte sie. »Morgen ist auch noch ein Tag oder übermorgen. Ich muß sehen, ob ich nicht dafür sorgen kann, daß ihm weniger anstrengende Gegner gegenübergestellt werden, dann ist er vielleicht abends wacher.« Sie ahnte nicht, wie wach ihr Favorit in diesem Augenblick war, nachdem die Sklaven ihn in seinem Zelt unter Nottrs Ob215
hut zurückgelassen hatten. * Unter der seltsam glasigen Schicht wirkten ihre Gesichter wächsern. Das Kerzenlicht warf harte, scharf umrissene Schatten in einem ständigen Wechselspiel. Nur Parthan trug seine Maske. »Ich weiß nicht, was ich von Kalmar halten soll«, sagte einer der Priester dumpf. »Er benimmt sich unauffällig, und doch ist etwas an ihm, was mich beunruhigt.« »Man trug ihn schlafend aus der Zelt-Burg der Prinzessin«, sagte ein anderer. Sein Gesicht verzog sich. »Es muß ein heißer Abend gewesen sein.« »So verausgabt er also seine Kräfte. Das ist gut. Morgen ist er schwach und wird Punkte verlieren.« »Oder auch nicht«, knurrte Parthan unter seiner Maske hervor. Der eigentliche Befehlshaber des Lagers, Mitglied im Priesterrat von Caer und nur Drudin selbst unterstellt, machte eine gleitende Handbewegung. Fasziniert starrten die anderen Priester auf diese Hand. Klebten da nicht Blutreste unter den Fingernägeln? Selbst sie, die mit der Macht der Schattenzone vertraut waren, fürchteten Parthan. So klein dieser Mann von Wuchs war, so gefährlich war er, und man erzählte sich unheimliche Geschichten über ihn. »Irgend etwas stimmt mit Kalmar nicht.« »Auch sein Waffenträger…«, murmelte einer der anderen. »So er nicht Kalmars Kampf zusieht, schleicht er durch das Lager und hat seine Augen überall. Ich traue ihm nicht. Wir sollten auch ihn im Auge behalten.« Parthan erhob sich abrupt. »Laßt mich jetzt allein. Wir werden sehen, was der morgige Tag bringt.« Die anderen Priester standen ebenfalls auf und verließen 216
Parthans Zelt. Als der stämmige Oberpriester, den die anderen nahezu um Haupteslänge überragten, ihnen ins Freie folgen wollte, zuckte er mit einem Fluch zurück. »Wasser«, zischte er erbittert. Leichter Regen hatte eingesetzt, den der kalte Nachtwind mit sich brachte. Wilde Verwünschungen ausstoßend, kehrte Parthan wieder in sein Zelt zurück. »Regen«, murmelte einer der anderen Priester überrascht. »Es regnet.« »Feuchtigkeit ist das einzige, was Parthan abhalten kann, eine Schandtat zu begehen«, brummte der andere. »Wer weiß, vielleicht wird in dieser Nacht jemand überleben, dem Parthan den Tod bestimmt hatte. Denn solange es regnet, wird er sein Zelt nicht verlassen.« Sie dachten an jene Geschichten, die man sich über Parthan erzählte. Oft wollte man ihn im Morgengrauen ins Lager zurückkehren gesehen haben, die Hände rot von Blut. »Der Mann mit den blutigen Händen« hieß er bei den Kriegern. Parthans Zornesausbruch über den plötzlich aufkommenden Regen jedenfalls deutete darauf hin, daß er in dieser Nacht wieder einen Ausflug beabsichtigt hatte. * Kurz vor dem Morgengrauen hörte der Regen so überraschend auf, wie er abends begonnen hatte. Mythor und Nottr hatten sich erfrischt und das Frühstück eingenommen, als draußen vor dem Zelt Schritte erklangen. Jemand näherte sich durch den aufgeweichten Boden. »Ein Diener der Prinzessin«, vermutete Nottr und schob sich einen größeren Krümel des im Lager gebackenen Fladenbrots zwischen die Zähne. Mit dem Bezug des Einzelzeltes, das sie nun zu zweit bewohnten, hatten sie zugleich das Privileg er217
worben, ihre Mahlzeiten dort in Ruhe und Abgeschiedenheit einnehmen zu können, während die in den Mannschaftszelten untergebrachten Krieger sich zur »Abfütterungsstelle«, wie Nottr jenen Platz nannte, zu begeben hatten. Mythor hatte Nottr in kurzen Worten von seinem galanten Abenteuer erzählt. Der Barbar hatte schallend aufgelacht. »Ob sie es wirklich geglaubt hat? Hoffentlich nimmt sie uns in ihrer maßlosen Enttäuschung nicht alle Vergünstigungen wieder ab. Nun, der Diener wird es uns gleich sagen.« Die Schritte draußen waren verstummt, und eine sanfte Stimme, die wie unter einer Maske hervordringend klang, rief: »Kalmar!« Unwillkürlich zuckten die beiden Männer zusammen. Nur einmal hatten sie diese Stimme gehört, aber so leicht vergaß man sie nicht wieder, wenn man wußte, wem sie gehörte. Parthan stand vor Mythors Zelt! »Komm herein!« forderte Mythor seinen ungebetenen Gast auf. Es schien, als schwinge der Stoff des Zelteingangs von selbst nach innen, zumindest konnte Mythor nicht erkennen, ob Parthan ihn berührt hatte oder nicht. Der breite, stämmige Caer blieb im Zelteingang stehen. Unter seiner Maske hervor funkelten die Augen und nahmen blitzschnell jede Einzelheit in sich auf. Der Blick des Priesters blieb auf Nottr haften. »Du bist Ruden?« Eine Feststellung mehr denn eine Frage. Unmerklich fast nickte der Lorvaner. »Geh hinaus!« »Was…?« begann Mythor verärgert. Parthan warf ihm einen zwingenden Blick zu, der den Sohn des Kometen unwillkürlich verstummen ließ. Nottr erhob sich und schlich an dem Priester vorbei, der ein paar Schritte vorwärts tat und damit den Eingang freigab. Mythor bezwang seinen Ärger. Es galt, jeden Streit zu vermeiden. 218
Und auch Parthan würde es auf keine offene Feindschaft ankommen lassen. Kalmar war dank seiner Erfolge zu beliebt unter den Zuschauern – von jenen abgesehen, die ihm seine Verbindung zu Lydia neideten –, als daß man ihn so rasch hätte aus dem Turnier entfernen können. Aber galt Parthan nicht als Meister der Fallen und Intrigen? »Was führt dich zu mir, Parthan?« fragte Mythor und verzichtete darauf, dem Priester einen Sitzplatz anzubieten. »Ein wenig respektvoller solltest du sein«, knurrte Parthan. »Du scheinst nicht lernen zu wollen, und du scheinst nicht viel von uns zu halten.« »Die Mächte, über die ihr gebietet, sind mir unheimlieh«, versetzte Mythor. »Kannst du es mir verdenken, Parthan, wenn ich euresgleichen lieber gehen als kommen sehe?« Parthan machte einen bedächtigen Schritt vorwärts. »Kühne Worte, mein lieber Kalmar. Würdest du sie auch draußen in der Arena äußern?« Mythor schüttelte den Kopf. »Ich würde mich hüten, Parthan, weil ich dich damit zwänge, mich zu töten. Hier aber sind wir unter uns.« »Eine weise Einstellung«, murmelte Parthan. Langsam kamen seine Hände empor, griffen nach der Gesichtsmaske und lösten sie ab. Mythor fuhr unwillkürlich zusammen. Er hatte geglaubt, Parthan wolle ihm mit einem furchteinflößenden Gesicht einen Schock bereiten, doch es war ein geradezu nichtssagendes, von Sommersprossen übersätes Gesicht. Allein in den blaßgrauen Augen glomm ein kaltes Feuer. Unter dem Helm lugten rote Haare hervor. »Etwas mit dir stimmt nicht, Kalmar«, sagte Parthan leise. »Ein Fremder, über den ich viel zuwenig weiß, siegt gegen die besten Krieger. Das bereitet mir ein Gefühl des Unbehagens. Wer bist du, Kalmar? Welche Macht steht hinter dir?« Mythor gab sich gelassen. »Ich verstehe dich nicht, Parthan«, 219
antwortete er. »Ich bin ein guter Kämpfer, weiter nichts.« »Der Sieger wird mit dem Dämonenkuß geehrt«, erläuterte Parthan mit einer waagrechten Handbewegung. »Deine erklärte Abneigung gegen das, wofür wir stehen, wird dann ausgelöscht sein. Aber ich spüre, du hast noch ein Eisen im Feuer.« »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, wiederholte Mythor. »Sei gewarnt, Kalmar. Du bist ein guter Kämpfer, und es wäre schade um dich.« Abrupt wandte er sich um und setzte seine Maske wieder vor sein wie unter Glas liegendes Gesicht, um das Zelt zu verlassen. Mythor atmete erleichtert auf, als der Priester gegangen war und Nottr wieder hereinschlüpfte. Aber ein ungutes Gefühl blieb. Hatte Parthan ihn durchschaut? Er hatte plötzlich das Gefühl, als habe jemand eine Schlinge um seinen Hals gelegt. Eine Schlinge, die mit jeder verstreichenden Stunde ein kleines Stück weiter zugezogen wurde. * Offenbar hatte Gevatter Tod sich geirrt. Was da in der Arena aufgebaut worden war, sah nicht nach einem üblichen Kampfschauplatz aus. Gut zwei Dutzend Hängebrücken von je zwanzig Schritt Länge spannten sich in der Arena. Mythor wandte sich um. Er erkannte, daß auch unter den anderen Kriegern Verwirrung herrschte, und ging auf den Waffenmeister zu. »Was soll das da draußen?« fragte er. »Such dir eine Axt aus, Kalmar«, brummte der Waffenmeister nur. Getreu seiner Rolle gab Mythor Nottr einen Wink, und sein Waffenträger begab sich an die Auswahl. Er griff nach einer Axt, die Kalmar schon einmal geführt hatte. Sie besaß eine Doppelschneide und einen unterarmlangen Griff, lag gut 220
in der Hand und konnte im Notfall auch geschleudert werden. »Keine Schilde?« Der Waffenmeister schüttelte den Kopf. »Man wird es euch erklären«, sagte er nur. Mythor war gespannt. Die Hängebrücken mußten in aller Stille vorbereitet worden sein; am Abend vorher war noch nichts davon zu sehen gewesen. Ein Fanfarenstoß erklang, dann ein zweiter. »Geht hinaus!« sagte der Waffenmeister. Mythor winkte Nottr kurz zu, dann nahm er die Axt und trat in das Rund der Arena. Applaus brandete den Kämpfern entgegen. Mythors Blick suchte die Tribünen ab, sie waren gut besetzt, und die Caer schrien ihren jeweiligen Freunden oder Favoriten Anfeuerungen zu. Auch die Prinzessin und ihr Gefolge befanden sich auf der Haupttribüne; in ihrer Nähe erkannte Mythor Parthan und den militärischen Befehlshaber des Lagers, Ritter Jay von Horkus. Der Ritter erhob sich jetzt, als alle noch aktiven Teilnehmer des Turniers in der Arena standen. Mythor sah zu dem einfach und unauffällig gekleideten Kommandanten mit dem ergrauten Haar empor. Jay von Horkus mochte sechzig Sommer zählen, was ihn nicht daran hinderte, immer noch ein guter Reiter und Kämpfer zu sein. Was er von anderen forderte, verlangte er auch sich selbst ab. Es wurde still, als Jay von Horkus den Arm hob. »Männer!« zerriß seine Stimme die Stille. »Dieses Turnierspiel sprengt ein wenig den Rahmen des Gewohnten. Parthans genialer Geist hat es ersonnen.« Mythor entging nicht der beißende Unterton, als der Ritter Parthan erwähnte. Er mochte ihn nicht. Es hatte sich längst im Lager herumgesprochen, daß der Kommandant den Priestern und den Dunklen Mächten ablehnend gegenüberstand. Wie lange er sich das noch leisten konnte, war ungewiß; noch hin221
derten seine Qualitäten und seine Beliebtheit unter den Kriegern die Priester daran, ihn zu beseitigen. »Es gibt noch hundertzwanzig Teilnehmer an diesem Drudin-Turnier. Die anderen sind entweder im ersten Kampf ausgeschieden oder haben später aufgegeben, weil ihre Punktzahl zu gering war und sie keine Chance auf einen Sieg mehr sahen. Dieses Spiel nun bietet den noch Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Punktzahl erheblich zu verbessern und vielleicht doch wieder bis zur Spitzengruppe aufzuschließen. Denn wer nicht gut mit dem Schwert ist, mag vielleicht ein geschickter Turner sein. Dreißig Hängebrücken sind hier errichtet worden, und je vier Männer werden gleichzeitig auf einer Brücke sein. Laßt mich euch das Spiel erklären…« Jede der dreißig aus starken Hanfseilen geflochtenen Brücken überspannte eine Distanz von zwanzig Schritten. An ihrem Ende befand sich ein stabiler, hölzerner Verhau, hinter dem ein Gegenstand verborgen war, der zum Anfang der Brücke zurückgebracht werden mußte. Um ihn zu erlangen, mußte der Holzverhau zerstört werden. Dazu dienten die Äxte. Nur einer der vier Männer konnte den Gegenstand in sein Ziel bringen, sie würden also jeder gegen jeden kämpfen müssen. Hinzu kam, daß in jenem Moment, in dem der erste Hieb gegen den Verhau getan wurde, die Brücke in Brand gesetzt wurde, womit der Zeitdruck hinzukam. Riß die Brücke unter dem Feuer, ehe der Sieger den Gegenstand zum Ausgangspunkt zurückgebracht hatte, war für alle vier das Spiel verloren. Jede Quersprosse der Brücke zählte für einen Punkt. Jedem wurde jene Punktzahl zuerkannt, die der Zahl der beschrittenen Sprossen gleichkam, sowohl auf dem Hin- als auf dem Rückweg. Wer jedoch den Gegenstand ins Ziel brachte, konnte seine damit erreichte volle Punktzahl verdoppeln. Für geschickte Kletterer eine gute Chance, zumal die Sprossen nicht 222
aus stabilen Querhölzern bestanden, sondern ebenfalls aus Hanfseilen, die unter jedem Tritt nachgaben und die Brücke ins Schwanken brachten. Mythor lächelte. In Churkuuhl, auf den Rückenpanzern der Yarls, war es oft genug schwankend zugegangen. Dies war für ihn wie eine Rückkehr in die Vergangenheit. Männer begannen, die Kämpfer in Vierergruppen einzuteilen. Mythors Lächeln vertiefte sich. Er brauchte nicht einmal seine Punktzahl zu verdoppeln, sie war ohnehin hoch genug, um dennoch im Spitzenfeld zu bleiben. Die Männer, mit denen er zusammen war, kannte er bis auf einen nicht. Dieser eine war Rhubo, der Henker, ein bulliges Muskelpaket. Sie traten zu der Brücke, die ihnen zugeteilt wurde. Mythor warf Blicke nach rechts und links. Auf der rechten Brücke würde der Unbekannte kämpfen, der sich Taine nannte. Auch er hatte eine nicht unerhebliche Punktzahl erreicht. Wer war Taine? Niemand kannte sein Gesicht, das er stets unter Helm und geschlossenem Visier verbarg. Den Regeln nach durfte niemand ihn fragen. Mythor entsann sich, daß in der Nacht seiner Ankunft ein kleiner Aufruhr stattgefunden hatte. Ein Nachzügler hatte darauf gedrungen, an den Spielen teilzunehmen, und dies lautstark durchgesetzt. Im Lauf der Tage hatte Mythor ihn vergessen. War jener Fremde Taine? Und woher kam er? Taine, der Mann in der schwarzen Rüstung. Ein Kämpfer, der sich in den letzten Turnierspielen fast noch wilder als Mythor an die Spitze gekämpft hatte. Die Stimme des Kommandanten riß ihn aus seinen Gedanken. Ritter Jay von Horkus hob beide Arme. »Es geht los!« rief er, und ein abermaliger Fanfarenstoß gab das Signal. Mythor griff nach den Seilen. Jay von Horkus warf einen Blick auf die Prinzessin. Sie lehnte sich zurück, schien enttäuscht zu sein. Hatte sie etwas ande223
res von dem Kampf erwartet? Aber für sie würde es wohl wieder interessant sein, wenn das Feuer aufglomm und die Brücken zu verzehren begann. Das war dann etwas nach ihrem Geschmack, überlegte er. Sein Blick ging weiter zu Parthan. Der beugte sich zu einem anderen Priester vor und tuschelte etwas. Der Ritter glaubte den Namen Ruden zu verstehen. Sofort huschte der Priester davon, verließ die Tribüne. * Jay von Horkus verstand nicht, warum die Priester ein derartiges Interesse an Kalmar und seinem Waffenträger hatten. Kalmar war ein hervorragender Krieger – besser als die meisten Männer im Lager. Es juckte von Horkus in den Fingern, selbst seine Kräfte an dem dunkelhaarigen, großen Jüngling zu erproben, der mit so spielerischer Leichtigkeit seine Gegner aus dem Felde geschlagen hatte. Sein erster Verdacht bei den Zulassungsprüfungen, daß Kalmar schamlos untertrieben hatte, war richtig gewesen. Kalmar konnte mehr, als er damals gezeigt hatte. Warum hatte er bei der Prüfung so tiefgestapelt? Wollte er etwas verbergen? Wieder sah Jay zu Parthan hinüber. Der Mann mit den blutigen Händen schien nur Augen für Kalmar zu haben, beobachtete jede seiner Bewegungen. Jays Blick irrte zu der benachbarten Brücke ab. Dort war Taine, der Unbekannte, von dem selbst Jay von Horkus nicht wußte, wer er war. Doch Taine hatte alle Vorbedingungen erfüllt, um am Drudin-Turnier teilnehmen zu können. Wenn nicht in diesem Spiel eine überraschende Wende eintrat, stand der diesmalige Endsieger schon so gut wie fest. Jay von Horkus gab nur zwei Männern eine Chance. Kalmar und Taine! 224
* Mythor griff zu. Er spürte die Hanfseile zwischen seinen Fäusten und zog sich blitzschnell empor. Neben und hinter ihm folgten die anderen drei Kämpfer. Mythor tastete sich auf das schwankende Gebilde zu. Unter seinem Gewicht bog sich das Sprossenseil durch und zog damit die ganze Konstruktion an dieser Stelle zusammen. Die seitlichen Halteseile schwangen eng heran. Rhubo schwang die Axt. Auch er hatte zu jenen gehört, die im Interesse der Prinzessin gestanden hatten, doch er nahm es weit weniger tragisch als Coorn. Mythor blockte den Schlag ab. »Narr«, zischte er Rhubo zu. »Laß uns erst gemeinsam den Verhau zerstören, dann können wir immer noch feststellen, wer stark genug ist! Denk daran, daß beim ersten Hieb das Feuer kommt!« Rhubo stutzte und sah die beiden anderen Krieger an. Die nickten überrascht. »Du hast recht, Fremder«, knurrte der Henker. »Los, beweg dich!« Er stieß Mythor an. Der fuhr wieder herum und hangelte sich vorwärts. Unter den heftigen Bewegungen schwankte die Brücke erheblich. Plötzlich schrie einer der beiden anderen Caer auf. Mythor wandte den Kopf. Der Krieger war abgeglitten und hing jetzt in den Seilen. »Weiter!« stieß Rhubo hervor. Er versuchte, sich an Mythor vorbeizubewegen. Doch Mythor dachte nicht daran, ihm das zu gestatten. Am Ende der schwankenden Hängebrücke, direkt vor dem hölzernen Verhau, befand sich ein kleines, stabiles Podest, und wer es zuerst erreichte, hatte die beste Ausgangsposition. Mythor eilte also weiter, stets bemüht, die sich in ständiger Bewegung befindenden Seile nicht zu verfehlen. Abermals ein Schrei von hinten. Der vierte Mann war beim 225
Versuch, über den zwischen den Seilen hängenden dritten hinwegzuklettern, abgestürzt! Für ihn war die Runde beendet. Der dritte kam jetzt langsam wieder aus seiner unglücklichen Lage hoch. Mythor erkannte sofort, daß er der gefährlichste war. Gefährlicher noch als Rhubo. Denn wenn er schlau war, würde er bleiben, wo er sich befand, sich irgendwie in den Seilen verankern und auf die Rückkehr der oder des anderen warten! Mythor warf rasche Blicke nach rechts und links. Links bekämpfte man sich noch, was auf der schwankenden Brücke nicht gerade einfach war, denn die meisten Axt- und Fausthiebe verfehlten ihr Ziel. Rechts dagegen, auf der »Taine-Brücke«, mußte man zu der gleichen Erkenntnis gekommen sein wie Mythor, wenngleich auch dieses Verfahren eine große Gefahr in sich barg. Wenn der anschließende Kampf auf der brennenden Brücke zu lange dauerte, stürzten sie ab und hatten nichts erreicht. Aber zwei oder drei Äxte konnten den Holzverhau leichter beseitigen als eine einzige. Und er traute sich zu, die folgende Auseinandersetzung dank seiner Erfahrungen auf schwankendem Untergrund rasch zu seinen Gunsten zu beenden. Der achtzehnte Schritt, der neunzehnte! Und dann war er da und holte mit der Axt aus, kaum daß er auf der kleinen Plattform Fuß gefaßt hatte. Als seine Axt wuchtig in das Holz krachte, tauchte Rhubo neben ihm auf. »Wo bleibt der Kerl? Er sollte uns helfen«, knurrte Rhubo mit gerunzelter Stirn. Er schlug mit aller Kraft auf das unter den Hieben zersplitternde Holz ein, während auf der Plattform Flammen aufsprangen und nach der Hand leckten. Niemand war zu sehen, der das Feuer entfacht hatte. Da begriff Mythor. Die Priester selbst steuerten das Kampfspiel, setzten ihre finstere Magie ein, um die Flammen zu erzeugen! Da flogen die letzten Bretter zur Seite. Mythor erkannte den 226
Gegenstand hinter der Bretterwand. Ein kleines, vergoldetes Kästchen! Mit seinem ganzen Körpergewicht warf er sich gegen Rhubo in der Hoffnung, der Henker würde zwischen die Seile stürzen. Aber Rhubo mußte damit gerechnet haben. Er hatte sich abgesichert und packte jetzt blitzschnell zu. Seine Arme waren wie Schraubstöcke, als er Mythor packte und gegen einen der Gerüstbalken schmetterte, an denen die Bretterwand befestigt gewesen war. Mythor sah Sterne. Er war mit dem Kopf gegen das Gerüst geschlagen und konnte kaum die Axt halten. Er schüttelte sich, sah alles wie durch einen Schleier. Die Benommenheit drohte ihn zu überwältigen. Irgendwie bekam er mit, wie Rhubo an ihm vorbeistürzte, sich vorbeugte und nach dem goldenen Kästchen griff, um sich sofort wieder auf die Brücke zu begeben. An den Plattformrändern schlugen jetzt die Flammen empor. Immer noch benommen, folgte Mythor vorsichtig Rhubo, der mit seinen ungestümen Bewegungen die Brücke in heftige Schaukelbewegungen versetzte. Die Priester schienen den Brand irgendwie zu lenken, denn sonst hätte der Hanf längst überall gelodert. Doch die Glut fraß sich nur langsam voran und noch langsamer in die Seile hinein. Dennoch zu schnell… Kein Blick nach links oder rechts! Wie weit der geheimnisvolle Taine war, war jetzt uninteressant! Mythor sah nur verschleiert das Feuer und ein paar Schritte vor sich Rhubo. Da wußte er, daß der Henker von Caer einen Fehler begangen hatte. Er hatte Mythor nicht völlig außer Gefecht gesetzt oder von der Brücke geworfen! Rhubo stürmte auf den dritten Mann zu, der ihn mit erhobener Axt erwartete. Zwar war es verboten, Turniergegner zu töten, aber ein Schlag mit der flachen Seite der Axt konnte ausreichen, den anderen für ein paar Stunden in das Reich der 227
Träume zu schicken. Rhubo war behindert. In einer Hand hielt er das Kästchen, und mit einer mußte er sich festhalten. Wie sollte er sich wehren? Mythor versetzte die Brücke in noch stärkere Schwingungen. Er konnte wieder klar sehen, und sein Verstand arbeitete wieder, nur ein pochender Schmerz war zurückgeblieben. Rhubo taumelte und wehrte den ersten Schlag des anderen ab. Er kam nicht dazu, zurückzuschlagen. Er wurde vom Rückhandschlag des Caer erwischt und schlug rücklings auf die Seilsprossen. Ehe das Kästchen seiner Hand entgleiten konnte, griff der andere zu. Blitzschnell erkannte Mythor seine Chance. Die Hand mit dem Kästchen schwebte über Rhubos Körper, der fest in den Sprossen hing. Mythor schleuderte die Axt so, daß sie den Caer nicht verletzen und nicht töten konnte. Haarscharf über seinen Kopf hinweg! Der Griff der Axt traf seine Schläfe. Der Caer ließ Kästchen und Axt los. Die Axt verschwand in zwei Metern Tiefe unter der Brücke und prallte auf den regennassen Arenaboden. Das goldene Kästchen fiel auf Rhubos Bauch. Im nächsten Augenblick verschwand der Caer zwischen den Sprossen und blieb bewußtlos unten liegen. Mythor lächelte. Er warf einen Blick nach hinten. Das Feuer ließ ihm noch Zeit, fraß sich in gleichbleibender Geschwindigkeit in die Tragseile. Er hangelte sich geschickt wie ein Affe auf Rhubo zu, nahm das Kästchen auf und eilte weiter. In dem Henker sah er keine Gefahr mehr. Noch fünf Schritte – da spürte er den heftigen Ruck. Die Hängebrücke sackte nach einer Seite durch. Das Feuer!
Aber es konnte doch nicht… Mythor wandte den Kopf. Rhubo mußte blitzartig erwacht 228
sein. Und er hatte eines der Tragseile mit seinen schier unglaublichen Kräften zerrissen. Was das Feuer nicht schnell genug schaffte, schaffte der Henker! »Wenn ich das Kästchen nicht ins Ziel bringe, dann keiner«, keuchte er grimmig und spannte die Muskeln. Mythor begriff, daß er den Henker nicht mehr daran hindern konnte, die Brücke zu zerstören. Und das Ende der Brücke war noch fünf Schritt entfernt. Mit einem wilden Schrei sprang Mythor! * Im Gegensatz zu Parthan, der sich nur auf Mythor konzentrierte, behielt Jay von Horkus das gesamte Geschehen im Auge. Sämtliche Brücken waren jetzt in Brand gesetzt. Kalmars Brücke war die erste gewesen. Direkt danach waren die von den Priestern erzeugten magischen Flammen bei Taine entstanden. Dort wurde das Rennen gemacht, alle anderen waren langsamer. Zu der Punktverdoppelung der jeweiligen Brückensieger kam noch eine Verdreifachung für denjenigen hinzu, der als absolut Erster sein Ziel erreichte. Rhubo oder Taine… Da fiel Rhubo, Augenblicke später der andere. Nur noch Mythor war auf seiner Brücke aktiv. Jay sah zu einer anderen Brücke hinüber. Dort versuchte man, die Flammen auszutreten, um danach in aller Ruhe den Rückweg antreten zu können. Bei normalem Feuer wäre ihnen das wohl gelungen, aber diese Flammen waren nicht normal. Sie erloschen nicht. Die dortigen Kämpfer hatten keine Chance mehr. Da stieß die Prinzessin einen erstickten Schrei aus. Es mußte um Kalmar gehen! Jay sah, daß Rhubo wieder aktiv geworden war. Der Henker hatte eines der Tragseile mit seinen unglaublichen Kräften ein229
fach durchgerissen, etwas, das selbst einem erfahrenen Mann wie von Horkus unwahrscheinlich vorkam. Und jetzt zerriß Rhubo auch das zweite Seil! Warum tut er das? fragte sich der Ritter, der Kalmar bereits in die Tiefe stürzen sah. Die Halteseile an den Seiten konnten die Brücke nicht mehr halten. Die Verbindungen rissen von selbst. Rhubo und der rückwärtige Teil der Hängebrücke stürzten zwei Meter tief. Geschickt fing der Henker sich ab und federte wieder empor. Und Kalmar… * Mythor erkannte, daß er nur noch eine einzige, winzige Chance besaß, sein Ziel zu erreichen. Er sprang! Stieß sich einfach ab, in einer Hand das vergoldete Kästchen. Streckte eine Hand weit vor! Er flog förmlich durch die Luft, während unter ihm die Hängebrücke verschwand. Und er wußte, daß er auf der nachgebenden Sprosse nicht genug Schwung hatte entwickeln können, um jenen Querbalken des Gerüsts zu erreichen, an dem die Hängebrücke auf dieser Seite befestigt war. Aber seine Hand erreichte die vorletzte Sprosse. Die Finger schlossen sich wie Eisenklammern um das Seil. Da kam der Ruck! Sein stürzender Körper wurde von einer Hand aufgefangen! Riß sein Arm unter der Belastung des Schultergelenks? Etwas anderes drohte zu reißen, das Seil, das nicht stark genug war, den Ruck auszuhalten! Und dennoch mußte es noch mehr halten, denn Mythor spannte noch einmal die Armmuskeln und schnellte sich empor! Blitzschnell ging alles, und er fragte sich, woher er die Kraft nahm, die ihn zu dieser unmenschlichen Leistung beflügelte. Er schnellte sich förmlich über den Querbalken hoch, warf den 230
zweiten Arm darüber und zog sich jetzt empor, ohne dabei das Kästchen loszulassen. Ein paar Atemzüge lang hing er zwischen Himmel und Erde, dann erreichten seine Füße die Quersprossen der Seile, die emporführten zur zerstörten Hängebrücke. Auf der Unterseite kletterte er nach unten, machte ein paar Schritte von der Brücke fort und riß die schmerzenden Arme hoch. Taine tat im gleichen Moment zehn Schritt neben ihm das gleiche! * »Es ist unwahrscheinlich«, brummte Jay von Horkus. »Normalerweise hätte er es gar nicht schaffen können. Entweder hat er unverschämtes Glück, oder die Götter begünstigen ihn.« »Oder er steht mit einer fremden Macht im Bunde«, zischte Parthan, der herübergekommen war. Auch die Prinzessin war aufgesprungen, aber sie hatte nur Augen für Kalmar, der unten in der Arena die Arme wieder sinken ließ und Rhubo ansah, der langsam, fast schwankend auf ihn zukam und die Rechte ausstreckte. »Stehst du nicht auch mit einer fremden Macht im Bunde?« fragte Jay den Priester kühl. »Eine gefährliche, gegnerische Macht meine ich«, stieß Parthan hervor. »Was sollte gefährlicher sein als die Dunklen Mächte?« versetzte Jay. »Es ist erschütternd, daß Caer sich nur noch darauf verläßt, dabei wären unsere Krieger auch ohne jede magische Unterstützung allzeit bereit, die Welt zu unterwerfen.« »Narr«, flüsterte Parthan. »Oh, du unverbesserlicher Narr… eines Tages wirst du für deine Torheit bezahlen.« Inzwischen waren auch die anderen Brücken zerstört, und die jeweiligen Sieger sammelten sich unten. Mythor nahm Rhubos Gratulation entgegen; der Wind trug Wortfetzen her231
über, »… wollte nicht zulassen… aber dennoch…« »Du an meiner Stelle hättest es auch geschafft, und vielleicht hätte ich an deiner Stelle nicht anders…«, hörten sie Kalmar sagen. »Was nun?« fragte einer der Punktrichter. »Kalmar und Taine waren die Schnellsten, aber sie waren beide gleich schnell.« Jay von Horkus sah kurz zu Parthan, der keine Regung zeigte. »So verdreifachen wir beider Punktzahl«, sagte der Ritter einfach. »Wir können bei gleicher Leistung nicht einen niedriger bewerten als den anderen.« »Aber… es kann nur einen mit dreifacher Punktzahl geben.« Zu Jays Überraschung mischte sich Parthan ein, der dieses Spiel ersonnen hatte. »Warum?« fragte er schroff. »Gleiche Leistung bedeutet gleiche Punktzahl! Ich glaube sogar, das Kalmar schwerer kämpfte als Taine! Gebt beiden die dreifache Zahl!« »Nun gut…« Die Punktrichter, die die Spiele aus der Nähe verfolgt und alles genau gewertet hatten, kamen zur Tribüne empor. Jay von Horkus ließ sich die Ergebnisse mitteilen, dann verlas er die Punktzahlen, die dieses Spieles und die Gesamtzahlen aller Teilnehmer. Zuletzt waren die Gewinner an der Reihe. Die Vorentscheidung war bereits gefallen. * »Taine und Kalmar erreichten die volle Punktzahl als Gesamtgewinner dieses Spiels. Die Punktzahl beider Kämpfer wird verdreifacht und…« Wie durch Watte vernahm Mythor die Punktzahlen. Er sah zu Taine hinüber. Der Mann in der schwarzen Rüstung und mit stets heruntergeklapptem Visier zeigte keine Regung. Mythor und er waren punktgleich und lagen jetzt weit vorn. Der 232
Abstand zum dritten Rang betrug fast zwanzig Punkte. Unmöglich, in den beiden letzten Runden noch aufzuholen. Taine also! Zwischen Taine und ihm würde die Entscheidung fallen. Einer von beiden würde der endgültige Turniersieger sein. Die anderen zählten nicht mehr. Mythors Arme schmerzten. Er würde etwas für seine Muskeln tun müssen. Zwei Turnierrunden gab es noch, in denen sich die anderen um die nachfolgenden Plazierungen streiten würden. Irgendwie mußte auch Taine zu schlagen sein. Aber er würde kein leichter Gegner sein. Er betrachtete das goldene Kästchen, das er immer noch in der Hand hielt, und öffnete es. Es war leer. Ihm kam eine Idee. Begleitet vom donnernden Applaus der Zuschauer, verließ er die Arena und stieg die Holztreppe der Haupttribüne empor. Er nickte Parthan und dem Ritter kurz zu und schritt geradewegs auf die Prinzessin zu. Lydias Augen leuchteten auf, als sie ihn sahen. »Mein Held…« »Verzeiht, Majestät, daß ich Euch kein würdigeres Geschenk machen konnte. Aber im Andenken an diesen Kampf möchte ich Euch dieses Kästchen als Schmuckschatulle anbieten!« Sekundenlang war sie sprachlos. Sie liebte Geschenke so sehr wie das Honigbier. Je erlesener und kostbarer die Geschenke waren, um so lieber nahm sie sie entgegen. Und so einfach das Kästchen auch war – die Erinnerung an ein faszinierendes Schauspiel war damit verbunden. »Ich danke dir, Kalmar«, stieß sie überrascht hervor. Sie ging auf Mythor zu, und ihre Lippen berührten die seinen. Wie ein Schlag durchfuhr es ihn, Feuer brannte in ihren Lippen. »Du wirst siegen, ich weiß es«, sagte sie, als sie sich wieder von ihm löste. 233
Abrupt wandte er sich um und verließ die Tribüne wieder. In seinen Armen brannte es wie Feuer. * Mythor fühlte sich etwas besser. Nottr hatte seine Armmuskeln massiert, Lydia von Ambor hatte ihm den erneuten Versuch einer Verführung in der kommenden Nacht ankündigen lassen, und das Mittagsmahl war zwar nicht sonderlich schmackhaft, dafür aber kräftigend gewesen. »Vielleicht solltest du deine Beziehungen zu der Prinzessin etwas verbessern«, nuschelte Nottr kauend. »Möglicherweise lädt sie uns dann zum Essen in ihre Zelt-Burg ein.« Mythor verschluckte sich am letzten Bissen. »Sag mal«, stieß er hustend hervor, »denkst du nur an dein leibliches Wohl?« Nottr betrachtete ihn mitleidlos. »Immerhin bin ich der einzige, der das tut«, stellte er in der bellenden Sprechweise seines Volkes fest, »und gerade deshalb muß ich besonders daran denken.« »Barbar«, murmelte Mythor. »Man sollte dich rasieren!« Mit wild rollenden Augen sprang Nottr auf. »Das meinst du nicht im Ernst!« stieß er hervor. Mythor lachte. »Natürlich nicht«, versetzte er. »Beruhige dich wieder. Ich werde mich hüte
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