Hansjörg Martin
Der Fall Geisterbahn Roman
WELTBILD
Sonderausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Auto...
15 downloads
831 Views
624KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Hansjörg Martin
Der Fall Geisterbahn Roman
WELTBILD
Sonderausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
Copyright © 1969 by Hansjörg Martin und AVA Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: Hessischer Rundfunk, Frankfurt Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Mitten im Trubel eines Rummelplatzes geschieht ein Mord passenderweise in der Geisterbahn. Kommissar Klipp wollte sich eigentlich einen schönen Abend machen, doch der Wagen mit dem Toten kommt genau vor ihm zum Stehen. Er muß eingreifen. Das will er auch, denn er möchte vom Einbruchsdezernat endlich zur Mordkommission. Der Ermordete gehörte zur Geisterbahn, seine Frau benimmt sich nicht wie eine Witwe, der betrunkene Alte, der eine Aussage machen will, stirbt unter sonderbaren Umständen, ehe er vernommen werden kann, und der Mann, auf den sich der Verdacht richtet, hat plötzlich ein Alibi. Die Ermittlungen konzentrieren sich schließlich auf den auffallend wohlhabenden Geisterbahnchef… Der vorliegende Roman wurde am 12.3.1972 als Tatort erstmalig ausgestrahlt. Der erkrankte Kommissar Konrad, der insgesamt achtmal für den Hessischen Rundfunk bis 1979 ermittelte, mußte seinen zweiten Tatort-Fall weitgehend an den ehrgeizigen Klipp abgeben.
Die Hauptpersonen
Madame Sylvia: weiß alles und verrät es gegen Honorar. Stanko Konyas: stirbt in der Geisterbahn. Tony Konyas: trägt dies mit Fassung. Paul Horn: murmelt Unverständliches, ehe er stirbt. Herr Zink: sammelt teure Garderobe und Liliputaner. Kriminalrat Spannagel: hat es im Kreuz. Kommissar Klipp: hat eine Idee, die sich als falsch erweist und zum Erfolg führt.
Wenn ich’s recht überlege, verdanke ich das alles Kurt Koschnieder, und ich darf eigentlich nicht mit der Geschichte beginnen, ohne auf ihn, auf seine Diebstähle und Kellereinbrüche gebührend hinzuweisen… Aber er hat nichts davon, weil er noch ungefähr vier Jahre absitzen muß. Und es ist unwahrscheinlich, daß ihm Danksagungen dieser Art im Zuchthaus zu Gesicht kommen. Dennoch: Ohne Kurt Koschnieders Einbruchserie in die Keller rund um den Pfaffendorfer Platz wäre ich sicher nicht mit dem »Fall Geisterbahn« in Berührung gekommen. Möglicherweise säße ich heute noch im Dezernat VI (Einbrüche) und langweilte mich. Es ist nämlich ungewöhnlich, daß ein Kriminalbeamter unter 30 mit so einer Sache betraut wird – noch dazu, wenn er bis dahin nie mit Mordfällen zu tun gehabt hat, außer im theoretischen Unterricht auf der Polizeischule.
1
Es regnete nicht mehr. Obschon es später Nachmittag war und Dämmerungszeit, wurde es draußen heller, als es den ganzen Tag über gewesen war. Ich sah das silbergraue Rechteck Himmel vor meinem Bürofenster und hatte plötzlich von meinem Beruf die Nase so gestrichen voll, wie – aber das ist nur eine Vermutung von mir – ein Ballettmeister nach acht Stunden Probe von Mädchenbeinen die Nase voll hat. Ich hatte es satt, diesen Mist zu lesen. Polizeiliches Protokoll über die Vernehmung der persönlich erschienenen Luise verwitwete Giebel geborene Bauernfeind, die am 16. November abends, als sie von der Geburtstagsfeier ihrer Schwägerin kam, einen sehr verdächtig aussehenden Mann mit einem Handkoffer gesehen hatte. Oder die unsachlichen Aussagen des Zuschneiders Anton Stoszinsky, aus dessen Keller sieben Büchsen Fleischkonserven, elf Gläser eingemachtes Obst, eine defekte Fahrradpumpe und ein Karton mit acht Dutzend Gummiabsätzen verschwunden waren… Was um Himmels willen macht ein kinderloses Ehepaar in den Sechzigern – wie die Stoszinskys – mit 96 Gummiabsätzen? Im übrigen fehlte bei den Gummiabsätzen die Größenangabe. Stoszinsky bezichtigte nacheinander sieben Personen. Keine seiner Verdächtigungen hatte sich bei näherer Nachprüfung im mindesten als stichhaltig erwiesen. Die Akte war fast drei Zentimeter dick. Ein drei Zentimeter hoher Stapel beschriebenes Papier, von mehreren fleißigen Beamten – wie heißt das – erstellt… wegen sieben Büchsen Fleischkonserven, elf Gläsern eingemachter Kirschen, einer
Fahrradluftpumpe und – Himmel noch mal – 96 Gummiabsätzen. Ich hatte es satt, satt, satt! Ich klappte den graubraunen, filzigen Pappdeckel zu und knallte den Kram mit Schwung auf die acht ähnlichen Akten, die sich – mehr oder minder dick – auf meinem gelben Schreibtisch türmten und von weiteren Einbrüchen in Mietshauskellern berichteten, bei denen ein paar Flaschen Wein, ein paar Gläser Eingemachtes, ein Satz Werkzeuge, ein Vogelbauer, ein Radio und was weiß ich noch geklaut worden waren… Das Ganze roch nach Halbstarken, die aus Jux und Tollerei Dummheiten machten, vielleicht auch ihr Taschengeld aufbessern wollten, oder nach einem kleinkarierten Einzelgänger, der so primitiv arbeitete, so ohne persönliche Note, daß es schwer war, ihn zu fassen. Ich rätselte schon seit einigen Tagen an der Geschichte herum – aber nun hatte ich’s dick. Bis oben hin dick. Schluß für heute. Feierabend! Ich packte das Aktenbündel in den wackligen Spind, der links von der Kunstdruck-Heidelandschaft (Staatseigentum) steht, angelte aus dem Wandschrank neben der Tür meinen Trenchcoat und warf noch einen müden Rundblick auf die Stätte meines Wirkens im Dienste der Gerechtigkeit; dann schloß ich die Tür von außen – aber leise, denn es war erst halb sechs. Bis zum offiziellen Dienstschluß fehlte noch eine halbe Stunde. Der Pförtner im Hofausgang, der ein Zwölfender ist und entsprechend durchgeistigt, hob seinen Bullenbeißerblick vom Groschenblatt-Sportbericht: »Schon Feierabend, Herr Klipp?« »Wie man’s nimmt«, entgegnete ich mit jener betonten Fröhlichkeit, bei der die Augen nicht mitlachen. »In unserer
Branche gibt’s nie Feierabend – das müßten Sie doch am besten wissen!« Halb geschmeichelt, halb irritiert nickte er und schürzte die bläuliche Oberlippe, so daß sich sein Bart stachelig sträubte. Dann drückte er auf den Knopf, der die große Flügeltür entriegelt, und fuhr fort, den Essay über die gestrigen Gewichtheberkämpfe (Halb-Schwergewicht) zu genießen. Die Luft schmeckte, trotz ihres hohen Benzingehalts, auch noch nach Frische, feuchter Erde und seltsamerweise nach Heu. Ich ging durch die Reihen der geparkten Autos, meditierte zum hundertstenmal über die Beziehung zwischen Hubraum, Geltungsbedürfnis und Sozialprestige und amüsierte mich bei der Vorstellung, was wohl geschähe, wenn einer der kleinen Angestellten aus dem Archiv oder aus der Registratur eines Tages statt mit seinem Fiat 500 mit einem silbergrauen Cadillac zum Dienst käme – noch anderthalb Meter länger als der Mercedes des Chefs… Meine Laune besserte sich. Ich pfiff schon wieder irgendwas, ohne hinzuhören, als ich meinen standesgemäßen Volkswagen aufschloß, den 34 Pferden unter seiner Haube aufmunternd zuschnalzte und im vorschriftsmäßigen Zwanzig-Kilometer-Tempo den Hof des Polizeipräsidiums verließ. Die erste Reaktion auf die Geräusch- und Geruchswolke, die mich umfing, als ich neben dem Rummelplatz aus dem Auto stieg, war Hunger. Richtiger, überfallartiger Heißhunger auf Bratwurst. Thüringer Bratwurst vom Rost – brutzelnd, fettspritzend, dunkelbraun knusprig und dick mit Senf beschmiert. Ich drängelte mich schluckend quer durch die Menge auf die nächstgelegene Wurstbude zu und vertilgte dort im Stehen hintereinanderweg drei der daumendicken Dinger.
»Noch eine, der Herr?« fragte das blasse Mädchen hinter dem Rost mit abwesendem Lächeln. Die Blässe war gut abgestimmt auf die Farbe der noch nicht gebratenen Würste. Ich dankte, zahlte, wischte mir den Mund und mischte mich unter die Menschen, die sich einzeln, zu zweien und in Gruppen langsam zwischen Bratwurst-, Schmalzgebäck- und Türkischem-Honig-Geruch, zwischen Drehorgelgeleier, Beatlärm und rauhem Anreißergeschrei die Budenstraßen entlangbewegten. Zweihundert Meter weiter – es wurde allmählich dunkel und überall flammten Leuchtröhren in allen möglichen Farben auf – zweihundert Meter weiter also, kurz vor dem großen Bayerischen Bierzelt, begannen die Bratwurstgewürze zu wirken. Mein plötzlicher Durst bestätigte meinen alten Verdacht, daß die Bierzeltbesitzer den Bratwurstbudeninhabern Pfeffer und Salz kostenlos liefern. Ich unterwarf mich dieser indirekten Verbraucherbeeinflussung um so lieber, als ich das bayrische Bier (neben Ludwig Thoma und Karl Valentin) für einen der wesentlichen Beiträge des süddeutschen Raumes zur Kultur unseres Volkes halte. Auf die Blasmusik, die mir im Zelt um die Ohren schlug, hätte ich zur Not verzichtet – aber sie ist nun mal inbegriffen. Und Bayrischzell kann nichts dafür, daß es in dem Tal liegt, dort wo die Glooocken klingen hell. Ich schrie der Kellnerin über ihr freigebig enthülltes Busengebirge meinen Wunsch zu und hatte, noch ehe die Seppein auf dem Podium die Spucke aus Posaunen und Trompeten schüttelten, einen Litersteinkrug vor mir, obwohl ich nur einen halben bestellt hatte. Aber ich meuterte nicht, führte den Irrtum auf die Dienstwilligkeit sowie den Bizepsumfang der dekolletierten Dame zurück und hob das kühle Kilo mit dem festen Vorsatz, mich seiner unbedingt würdig zu erweisen.
Der erste Schluck war herrlich. Die Seppein hatten zu blasen aufgehört. Der Oberseppel sagte auf bayrisch etwas an, das durch die scheppernden Lautsprecher noch unverständlicher wurde. Darauf riefen alle Musikanten etwas im Sprechchor und hoben Krüge wie den, der vor mir stand. Und dann bliesen sie ein trauriges Stück. Es handelte von Edelweiß und Alpenglühen, von einem Bua in der Fe-helsenwand sowie einem Marterl am Wiesenraihain… Ich weiß das, weil der Oberseppel leider auch sang… Der weibliche Teil des Liebespaares, das mir gegenübersaß, kriegte richtige Weh-Weh-Augen und lehnte sich trostsuchend an seinen Partner, der genierte Blicke in die Runde warf, ehe er den Arm schützend um seiner Schönen Schulter schlang. Aber das Bier war vorzüglich. Als ich der geballten Folklore entrann, war es draußen schon ziemlich dunkel und zwischen den glitzernden Karussells und Buden noch voller geworden. Ich ließ mich wieder in der Menge treiben. Die Väter und Mütter mit ihren Kindern waren nun verschwunden. Jetzt bummelten miniberockte Teenager – poposchwenkend, kichernd und von schlaksigen Jünglingen verfolgt – durch das Geplärr und Gebimmel. Bürobelegschaften aller Branchen und Jahrgänge drehten noch eine Rummelplatzrunde, und vereinzelte Junggesellen, denen die Angst vor ihrem möblierten Dasein und der Hunger nach irgendeinem Abenteuer im Gesicht stand, flanierten an den geräuschvollen Attraktionen vorbei, ohne sie so recht wahrzunehmen. Die ersten Huren tauchten auf und sondierten das Gelände. Ein paar Strichjungen standen vor der Achterbahn und ließen die blonden Locken wehen. Es fing an kühl zu werden. An den Kinderkarussells wurden die Lichter gelöscht und geflickte Zeltplanen vor die Miniaturpracht aus Feuerwehrautos und Peterwagen gerollt und gebunden.
Auf den Stufen vor der und rund um die Raupenbahn hatte sich eine Horde langmähniger Knaben versammelt, die dem dröhnenden Getrommel und Gekreisch aus den überlauten Verstärkern mit zuckenden Gliedmaßen hingerissen lauschte. Gegen den irrsinnigen Krach hatte die wunderschöne alte Karussellorgel nebenan keine Chance; beziehungslos hob die dazugehörige hochbrüstige und knallbunt bemalte Holzdame im Rokokokostüm den Taktstock und drehte ruckartig den Kopf mit den gläsernen Kuhaugen. Ich stand eine Weile unter dem Kettenkarussell und prämierte im Geiste die Kniekehlen der Mädchen, die gegen den Abendhimmel über mir schwebten. Dann sah ich, daß neben mir mehrere Männer standen und wie ich in die Luft guckten. Da trottete ich schnell davon, denn ich wollte meine reinen ästhetischen Freuden nicht in der Gesellschaft grober Sinneslust… und so weiter. Aber hübsche Kniekehlen waren da zu sehen gewesen – und die Mädchen wußten das wohl. Um mir selbst zu beweisen, daß ich nicht in die Kategorie vom Alkohol lüsterner Beingucker gehörte, steuerte ich einen Schießstand an. Ich schoß stehend freihändig mit fünf Schuß fünf wundervolle Wachspapierblumen aus den weißen Tonröhrchen und wandte mich dann, nach größeren Gewinnen suchend, den Scheiben zu. Der Schießbudenbesitzer machte ein ängstliches Gesicht, als ich gleich eine Zwölf schoß. Er tat mir beinahe leid. Es war kein faires Spiel. Wenn unsereiner, bei dem dauernden Schießdrill, den sie uns angedeihen lassen, keine Zwölf auf dem Rummelplatz schießen kann, dann ist entweder das Gewehr nicht in Ordnung oder er ist betrunken. Betrunken war ich nicht, ein gutes Gewehr hatte ich offenbar auch erwischt –
ich hätte dem armen Mann die Bude ausräumen können. Drei Schuß eine Mark. Dreimal die Zwölf – freie Auswahl! Die freie Auswahl bestand aus roten, blauen und grünen Riesenteddybären, Tischlampen in Gestalt von Hansekoggen, riesigen Blumenvasen mit Goldschnörkelgewürm darauf, Einmeter-Puppen, absolut unzerbrechlich, mit Schlafaugen, Mammastimme und in lila Organdy gehüllt, sowie aus echten Gemälden, in Essig und Öl gemalt und silbrigglitzernd gerahmt. Das Schönste davon stellte eine liegende halbnackte Dame dar, die sehr rosa war, von sieben Elfen umschwebt und von Mondschein berieselt. Aber ich brachte es nicht übers Herz, den Schießbudenbesitzer seiner Schätze zu berauben. Ich legte das Gewehr aus der Hand, kramte in meiner Tasche nach Geld und griff nach den Wachspapierblumen. »Ach – wie schade!« sagte eine Mädchenstimme hinter mir. »Ich dachte, Sie schießen einen Hauptgewinn!« Ich drehte mich um. Zwei Teenager standen da. Sie hatten mir zugeschaut, hatten sich offensichtlich über meine Treffer gefreut und machten nun richtig enttäuschte Gesichter. Die eine, die gesprochen hatte, trug auf kurzgeschnittenem dunklen Pagenkopf eine lustige grüne Mütze, deren Farbe mit ihren ebenfalls grünen Augen so verblüffend harmonierte, daß ich erstaunt sagte: »Sie haben ja doll grüne Augen!« Das Mädchen wurde rot und blickte zu Boden. »Verzeihung!« sagte ich. Die andere kicherte und schob ihren Arm unter den der Grünäugigen. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß der Schießbudenonkel – als ob er Böses ahnte – das Gewehr, mit dem ich geschossen hatte, an die Seite legte und ein anderes an seine Stelle schob. Das ärgerte mich.
»Darf ich Ihnen irgendwas schießen, meine Damen?« fragte ich und machte eine leichte Verbeugung. »Ich bin ›Null-NullFünf‹ – also noch zwei Nummern besser als der Berühmte. Soll ich’s Ihnen beweisen?« Die Grünäugige fand ihre Fassung wieder und lachte. Die andere kicherte immer noch albern. Häßlich war sie auch. Zu komisch, daß besonders hübsche Mädchen immer und überall solche Schreckschrauben im Gefolge haben. »Ja – wenn Sie wollen…« sagte die Grünäugige. »So einen Bären möchte ich schon…« »Und ich so ‘ne Lampe!« fiel die Kichergans schnell ein. Natürlich. »Ein Bär – eine Lampe. Bitte sehr – sofort!« tönte ich und griff nach dem Gewehr, das der Schießbudenbesitzer an die Seite gelegt hatte. »Noch fünf Schuß«, sagte ich. »Eine Zwölf hatte ich ja schon.« »Das gilt nicht«, sagte der Mann giftig. »Sie hatten sechs Schuß, und da war nur eine Zwölf bei. Jetzt müssen Sie neu. Außerdem ist das Gewehr nicht in Ordnung.« »Das macht nichts«, sagte ich. »Ich schieße am liebsten mit kaputten Gewehren. Gehn Sie beiseite!« Ich legte schon an, da griff der Kerl nach dem Lauf. »Erst zahlen!« knurrte er. Na warte, du Gartenzwerg! Ich legte ein Fünf-Mark-Stück auf den Tresen, zielte und schoß. »Zwölf«, stellte der Kerl widerwillig fest. Ich nickte. »Die erste, ja. Nun zählen Sie mal fleißig!« Die Mädchen lachten. Ich schoß noch fünfmal und hatte noch fünfmal die Zwölf. »So, mein Bester«, sagte ich, »drei Mark zurück und zweimal die freie Auswahl, ja?« Er war ganz blaß geworden, und er erinnerte mich an eine Ratte. Eine blasse Ratte.
Ich kümmerte mich nicht um ihn, wandte mich an die Mädchen und sagte mit großer Geste: »Bitte, meine Damen – wählen Sie: Alles steht zu Ihrer Verfügung – nur der Besitzer ist nicht zu haben. Aber der lohnt sich auch nicht.« »Dürfen wir wirklich?« fragte die Kichernde und zeigte, als ich nickte, tatsächlich auf so eine Koggenlampe. Der Mann reichte sie ihr mit verkniffenem Gesicht. »Und Sie, mein Fräulein?« fragte ich die Hübsche. Sie musterte mit vorgeschobener Unterlippe und schiefgelegtem Kopf aus großen Augen die Galerie Bären. »Den blauen in der zweiten Reihe«, entschied sie. »Der hat das hübscheste Gesicht.« Es hatten sich einige Zuschauer eingefunden. Ich verteilte meine Wachspapierblumen unter die anwesenden Damen, nickte dem Schießbudenonkel abschiednehmend zu und ging zwischen den beiden Mädchen davon. Die Grünäugige drückte ihren blauen Bären an sich und sagte: »Schönen Dank!« »Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen!« sagte ich und überlegte, ob ich mich nun vorstellen müßte und wie das wohl weitergehen sollte. Schließlich konnte ich ja nicht gut mit zwei achtzehnjährigen Mädchen einen Rummelplatzbummel machen. Außerdem wollte ich das auch nicht. Jedenfalls bestimmt nicht mit zweien. Mein Kopfzerbrechen war unnötig. Eine Gruppe junger Burschen schob sich durchs Gewühl. Einer rief: »Hallo, Gabi – da seid ihr ja!« Die Grünäugige lachte, winkte und rief zurück: »Guck, was ich habe, Charly – ist er nicht schick?« Ich verabschiedete mich mit einem Nicken und fürchte, daß mein Lächeln ausgesehen hat, als ob ich auf ein Pfefferkorn gebissen hätte.
Als ich mich zur anderen Seite wandte, fiel mein Blick auf ein blau angestrahltes Schild: MADAME SYLVIA SAGT IHNEN DIE WAHRHEIT! Da ich schon immer mal die Wahrheit wissen wollte, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, ging ich auf den Wohnwagen zu, über dem das Schild befestigt war. Ein zierliches Fünf-Stufen-Treppchen führte zur Tür des holzverkleideten Wagens. Über dem Treppchen bauschte sich ein roter Baldachin, an gedrechselten Holzstäben befestigt. Neben der Tür hing ein Plakat, das verkündete, welche Künste Madame Sylvia beherrschte und feilbot. Die Wahrheit über Ihren Charakter, las ich, erfahren Sie durch Madame Sylvias magnetisch-telepathische Handliniendeutung ebenso, wie Sie mittels streng wissenschaftlicher Deutung Ihres Horoskops einen Blick in die Zukunft tun können! Die einfache Analyse kostete drei Mark, ein umfassendes Wesensbild mit Zukunftsdeutung Ihrer Chancen in Liebe, Gesundheit und Beruf zehn Mark. Wer es schwarz auf weiß haben wollte, mußte gar fünfundzwanzig Mark berappen. Unter dem Plakat befand sich ein kleines Messingschild, auf dem Thea Riethmüller zu lesen war. Ich kombinierte, daß dies der bürgerliche Name der Rummelplatz-Pythia sei und machte mich auf einiges gefaßt. Aber schon die Stimme, die auf mein Klopfen »Herein!« rief, klang nicht so, wie ich erwartet hatte, und als ich eintrat, war ich ehrlich überrascht von dem Raum und von der Frau, die darin stand. Der Raum – etwa zweimal zweieinhalb Meter groß – duftete nach Kaffee und Eau de Cologne, eine Mischung, die ich immer schon geschätzt habe. Links neben der Tür war ein
Bücherregal voll wissenschaftlich wirkender Wälzer, rechts – wo mehr Platz war – stand eine Eckbank mit buntbezogenen Kissen, davor ein runder Tisch und auf dessen anderer Seite ein sehr schöner, lederbezogener Ohrensessel. Über der Eckbank hing, um einen Druck von Degas’ ›Tänzerinnen‹ gruppiert, ein oder anderthalb Dutzend Fotos mit und ohne Widmungen. Das größte, in einem Silberrahmen, zeigte einen sehr männlichen Mann in einer schneeweißen Phantasieuniform. Quer stand in großen Schriftzügen: Der tüchtigsten Kartenhexe! Hans Albers. Ich hab den Burschen immer gemocht und gut verstanden, daß Frauen weiche Knie kriegten, wenn er das vom Stapel ließ, was er unter Singen verstand. Daß ich seinem Konterfei hier begegnete, machte mir Madame Sylvia auf Anhieb sympathisch. Sie stand vor dem dunkelblauen Samtvorhang, der wohl ihren Wohnwagen in Arbeitsraum und Privatgemächer teilte, und schaute mich an. »Guten Abend«, sagte ich. Fast hätte ich ›gnädige Frau‹ hinzugefügt. Der buntseidene Kimono, den sie halblang über einer engen schwarzen Hose trug, hatte zwar ein bißchen etwas Zigeunerisches – aber Gesicht, Blick, die einladende Handbewegung, die mich zum Setzen aufforderte – alles war große Dame. Die große Dame war klein, zierlich, silberhaarig und etwa sechzig Jahre alt. Sie rauchte aus einer langen, elfenbeinernen Zigarettenspitze, was mir etwas zu sehr nach Schau schmeckte, und sagte mit einem fast unmerklichen Lächeln: »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr…« »Klipp!« sagte ich hastig.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Klipp«, wiederholte sie und ließ sich, als ich nach kurzem Kampf mit meinem Trenchcoat endlich saß, mir gegenüber in dem rostroten Ledersessel nieder. »Was kann ich für Sie tun?« »Tja…« Ich wußte nicht so recht, was ich sagen sollte. Eigentlich war ich doch auf einen Jux eingestellt gewesen, auf eine dicke Tante, die mir mit dämonischem Gehabe Glück und langes Leben weissagen würde. Ich hatte mir ein paar flachsige Fragen ausgedacht, die ich stellen wollte: Ob die Millionenerbschaft, die ich erwartete, noch vor dem Winter käme – ob ich meinem unwiderstehlichen Drang zur Bühne folgen sollte – ob ich die Geliebte erobern würde, die sich jetzt in der Gewalt eines unmenschlichen Vaters befände, der sie mit einem hundertjährigen orientalischen Großkaufmann verheiraten wolle, und lauter solche Sachen. Aber nun, da Madame Sylvia weder dick noch dämonisch war, da sie eine Dame war und sich mit allerlei kultivierten Dingen umgab – auf dem Bücherregal stand eine kleine schwarze Bronzefigur, die nach Maillol aussah, und von der Decke hing eine schöne alte Kupferlampe – nun also war mir sämtlicher Wind aus den Segeln meiner Spottlust genommen. Ich stotterte: »Tja, also… Ich wollte… Ich möchte Sie bitten, mir – ehern…« »Eine Beratung, ja?« fragte sie. Ich nickte. Sie erhob sich, nahm von einem Häkchen neben der Tür ein Holztäfelchen mit Öse, auf dem BITTE NICHT STÖREN stand, und hängte es an die Außenseite der Wohnwagentür. Dann kam sie auf mich zu, sah mich aus schmalen grauen Augen an, atmete nachdenklich den Zigarettenrauch aus und sagte: »Geben Sie mir Ihre linke Hand!« Ich gehorchte.
Sie nahm meine Hand in ihre beiden Hände, behielt die Zigarettenspitze im Mund und bewegte meinen Daumen und meine Finger, wobei sie die Linien in meiner Handfläche betrachtete und wie im Selbstgespräch murmelte: »So um die Dreißig… Einigermaßen gesund… Naja, der Magen muckert zuweilen, aber eine starke Lebenslinie… Nur in der Liebe, da ist nicht viel los – noch nicht. Ziemlich dünn. Und der Beruf… hm… ein seltsamer Beruf. Kopfarbeit – und doch irgendwie… ja: gefährlich…« Sie blinzelte, überlegte, ließ meine Hand los und sah mich wieder an. Ich war ziemlich verdattert. Das mit dem Magen stimmte; ich hatte im vorigen Jahr sechs Wochen von Brei gelebt, einer Gastritis wegen. Das Alter stimmte; ich war eben neunundzwanzig. Die Anmerkungen zum Thema Liebe stimmten – aber das war nicht Mangel an Masse, sondern Mangel an Glück und Gelegenheit. Vielleicht auch Mangel an Mut… Und ihre Berufsbemerkung stimmte auch! Und das alles wußte sie aus den zufälligen Runzeln und Falten meiner Handfläche? »Ihr Beruf macht mir Schwierigkeiten…« Madame Sylvia legte die Zigarettenspitze beiseite und kuschelte sich in ihren herrlichen Ohrensessel. »Giftgaschemiker oder Atomphysiker oder so was gräßliches sind Sie nicht. Dann hätten Sie eine Brille oder wenigstens angestrengte Augen… Nein, sagen Sie’s nicht! Ich werde mal in die Karten gucken.« Irgendwoher, mit einer Taschenspielergeste, hatte sie auf einmal ein Kartenspiel in der Hand, beugte sich, mischte geläufig und forderte mich auf, zweimal abzuheben. »Mit der linken Hand«, befahl sie, »denn Sie sind nicht verheiratet!«
Trotz aller Verblüffung wurde ich von einer plötzlichen Lachlust ergriffen, die ich nur mühsam unterdrücken konnte. Aber das Lachen verging mir, als sie mich ansah und sagte: »Lachen Sie ruhig, Herr Klipp, ich nehme Ihnen das nicht übel Lachen ist ein gutes Ventil für Verlegenheit.« Gedankenlesen konnte sie also auch. Es war unheimlich. Sie klappte die drei Kartenhäufchen auf, flüsterte vor sich hin, legte die lange Zigarettenspitze endlich beiseite und blätterte flink das ganze Spiel auf den Tisch, vier Achterreihen untereinander; es ging wie geschmiert. Auf dem Treppchen vor dem Wohnwagen wurden Schritte laut. Jemand stand da, entzifferte wohl das Täfelchen an der Tür und ging wieder. Madame Sylvia nahm keine Notiz davon. Sie brütete über den Karten. Es war ein sächsisches Skatblatt: Unter, Ober, König, Daus – lustige, reichgeschmückte bunte Bilder. Der Schellenober sah aus wie mein Großvater selig. »Da sind Sie«, sagte die imponierende Dame und tippte auf den Herzkönig. »Neben Ihnen das große Haus und links die gute Nahrung… Sind Sie etwa Beamter? Beamter mit Kopfarbeit? Beamter und gefährliche Tätigkeit… Ach so – natürlich!« Sie lachte, freute sich sichtlich, klatschte in die Hände und rief: »Ein Polizist also. Nein, aber so was! Das nenne ich einen Spaß. Aber Kopfarbeit? Ach so – Kripo, nicht wahr?« Ich nickte fassungslos. »Na also, wer sagt’s denn!« fuhr sie fort. »Maigret läßt sich die Karten legen!« »Maigret!« wehrte ich ab. »Ihre Vorstellung in allen Ehren, gnädige Frau – doch die Literatur verhält sich zur Praxis wie ein Lipizzaner zum Brauereigaul. Obwohl ich Maigret schätze, aber…« Ich hielt inne, denn sie hörte nicht zu.
»Hm…« Sie schüttelte den Kopf. »Der kurze Weg gefällt mir nicht. Da liegt Ärger, Aufregung, böser Trubel… Ein dunkler Herr – das braucht nicht die Haarfarbe zu sein, vielleicht ist’s der Charakter… Eine schlechte Nachricht – ein schlimmes Erlebnis. Sie sollten in allernächster Zukunft vorsichtig sein, wenn Sie mit einem dunklen Herrn zu tun haben, der Ihnen ins Haus liegt… Na ja, es geht gut aus. Es löst sich auf – hier, bitte: die Schellenneun. Und da ist auch die Herzdame in der Diagonalen. Also bitte! Dazwischen liegt eine Reise ins Haus. Eine dienstliche Reise… Ziemlich überraschend. Keine schlechte Karte. – Bis auf den dunklen Herrn. Und was die gute Nahrung angeht…« So redete sie noch zehn Minuten. Vom großen Haus war noch mehrfach die Rede, auch vom kurzen Weg, von guter Nahrung, Schreck in der Abendstunde und Glück durch eine Unterredung. Ich fing an, mir ein bißchen albern vorzukommen, wie ich so dasaß und mir aus 32 buntbedruckten Kartonstückchen die Zukunft weissagen ließ. Schließlich war Madame Sylvia fertig. Sie fragte, ob ich noch ein Horoskop gestellt haben wollte, was ich dankend verneinte, und nahm mir lächelnd zehn Mark ab. Ich fand, das sei der halbstündige Spaß wert gewesen, bedankte und verabschiedete mich. Die Hand, die sie mir reichte, war heißtrocken und schmal und faßte sich außerordentlich zerbrechlich an. Vor dem Wohnwagen fiel mein Blick auf das blau angestrahlte Schild. Madame Sylvia sagt Ihnen die Wahrheit… Es war nicht übertrieben. Wirklich nicht. Nur ihre Prophezeiungen – na schön.
Ich mußte lachen, als ich an den dunklen Herrn dachte, vor dem sie mich gewarnt hatte. Ein dunkler Herr über den kurzen Weg… So was! Eine halbe Stunde später verging mir das Lachen.
2
Es ging auf neun. Während ich, statt nach Hause und mit einem Buch ins Bett zu gehen, aufgekratzt und trotz aller Skepsis ein bissel durcheinander von Madame Sylvias Weissagungen, noch auf dem Rummelplatz blieb und ahnungslos den kurzen Weg entlangbummelte, auf dem ich wenig später jenem dunklen Herrn begegnen sollte – während ich also den Aufregungen entgegenging, die mir für zehn Mark prophezeit worden waren, erledigte der Oberwachtmeister Bünting vom Streifenwagen Peter Elf das Problem, das sich noch am Nachmittag ungelöst auf meinem gelben Büroschreibtisch getürmt hatte. Laut seinem Bericht, den ich am nächsten Tag erhielt (als ich den Kopf schon voll anderer, schlimmerer Fragen hatte), hatte die Besatzung von Peter Elf um 20.35 Uhr ein knapp vierjähriges Mädchen entdeckt, das – verheult und verängstigt – in einer Telefonzelle hockte, heim wollte und nicht heim fand. Nach einiger geduldiger Fragerei hatten die beiden Polizisten herausbekommen, daß die Kleine Carmen hieß – obschon sie wie Sieglinde aussah, nämlich blond, blauäugig und mollig – und in der Buschstraße wohnte. Die Buschstraße, die vom Pfaffendorfer Platz ausgeht und schmal und düster bis hinüber zur Rosentalallee läuft, ist zwar ziemlich lang und gehört eigentlich nicht zum Bezirk, den Peter Elf zu kontrollieren hat. Aber Oberwachtmeister Bünting fand, es sei richtiger, die plärrende Carmen auf dem direkten und nicht auf dem Dienstweg nach Hause zu befördern.
20.51 Uhr hielt der Streifenwagen also vor dem Haus Buschstraße 21, das Carmen immerhin als ihr Elternhaus bezeichnen konnte. Oberwachtmeister Bünting brachte die verlorene Tochter in den dritten Stock, wo schon einige Aufregung herrschte und gerade ein saftiger Ehekrach loszubrechen drohte, weil beide Erziehungsberechtigten sich die Schuld am Verschwinden des Kindes – mit unbeschreiblichen Injurien geschmückt – an den Kopf warfen. Bünting verzichtete auf die angebotene Zigarre, verkniff sich die für solche Fälle vorgeschriebene Ermahnungsrede und stiefelte treppab. Im Augenblick, da er um den letzten Treppenabsatz bog, kam vom Kellereingang her ein Mann mit einem Rucksack über der Schulter, der beim Anblick des Polizisten so deutlich erschrak, daß Bünting selber erschrak. Darauf ließ der Mann seinen Rucksack einfach so – plumps – auf die Erde fallen. Es klirrte und schepperte gewaltig. Der Erschrockene flitzte wie ein geölter Blitz den Hausflur entlang auf die Straße. Nun, um es kurz zu machen: Bünting ist beim letzten Polizeisportfest in voller Montur die Hundertmeterstrecke in 11,4 gelaufen und auch sonst sehr ehrgeizig. Er erwischte den Flitzer nach dreihundert Metern, noch bevor der Kollege im Peterwagen das Blaulicht eingeschaltet und ebenfalls die Verfolgung aufgenommen hatte. Im Hausflur Buschstraße 21 standen indessen schon neun Personen um den Rucksack des Flitzers herum. Aus den Scherben der Einmachgläser und anderen Kostbarkeiten schloß der Hausbewohner Barth, Egon, 31, Fernfahrer, Parterre links, daß es sein Keller war, den ein Unbefugter besucht hatte. Der Festgenommene gab alles zu, heulte, gestand neun weitere Einbrüche und vier Ladendiebstähle (nach denen ihn gar keiner
gefragt hatte) und hieß Kurt Koschnieder, 38, ledig, vorbestraft, ohne festen Wohnsitz – der Dummkopf. Wenn er sich vierundzwanzig Stunden früher hätte schnappen lassen, wäre ich an diesem Nachmittag nicht über den Akten seiner Einbrüche verzweifelt, hätte vielleicht keinen Rummelplatzbummel gemacht und alles wäre – wenigstens für mich, wenn auch möglicherweise nicht für die sonstigen Beteiligten am ›Mordfall Geisterbahn‹ – anders gekommen. So geht’s.
Ich ging auf dem bereits mehrfach erwähnten kurzen Weg nicht direkt auf den dunklen Herrn zu – schon weil ich nicht wußte und glaubte, daß dies der kurze Weg war, von dem Madame Sylvia und die Karten gesprochen hatten. Zunächst liebäugelte ich mit einer vierten Rostbratwurst, leistete jedoch Verzicht, weil ich Sorge hatte, das zwangsläufig anschließende Bier möchte meinen Promillegehalt an oder gar über die Grenze des Erlaubten heben. An Schmalzgebäckverlockungen, Eisbuden, Mandelbrennereien und Zuckerwattespinnereien schritt ich unangefochten vorüber. Eine Batterie sich leise drehender Brathähnchen, rot beschienen, brachte mich erneut in Versuchung – aber auch da widerstand ich; der Preis war mir zu gepfeffert. Fünfzig Meter weiter ballte sich eine Menschentraube vor einem Podium, über dem in goldenen Lettern geschrieben stand: PROFESSOR GALATTIS RARITÄTENKABINETT Das Kabinett (zu deutsch: Kleiner Aufbewahrungsraum für Sammlungen, auch: Gesamtheit der Minister) war hier ein
breites Zelt, vor dem eine Art Balustrade aus rotgestrichenen Balken und rohen Brettern entlanglief, die durch Vorhänge und ein vorgebautes Podium wie eine flache Bühne wirkte. Links saß eine Musikkapelle: Schlagzeug, Saxophon und Elektrogitarre. Die Instrumente wurden in Betrieb gesetzt – anders kann man den organisierten Höllenlärm nicht bezeichnen – von einer dicken Frau mit erloschenem Gesicht, die, einen Wollumpen um den Hals, die Pauke malträtierte, ferner von einem ungewaschen aussehenden Mädchen zwischen zwölf und zweiundzwanzig Jahren, das ins Saxophon hustete und einem ebensolchen Jungen, der die Gitarre mehr schlug als spielte, einen filzigen Beatlekopf schlenkerte und den Zuschauerinnen Kußhände zuwarf. Rechts oberhalb des Podiums gab es auf der Balustrade eine Reihe eigenartiger Gestalten zu sehen. Vorn stand ein menschliches Wesen, unklar, ob Mann oder Frau, mit weißgeschminktem Gesicht, in ein weites Pierrotkostüm gehüllt. Es stand völlig unbewegt und starrte, ohne zu blinzeln, aus den Augen, deren Weiß gegen die weiße Schminke rötlich schimmerte, über die Menge hinweg ins Leere. Daneben, das unbewegte Wesen um Haupteslänge überragend, lehnte ein schwarzhaariger, schwarzbärtiger, schwarzäugiger Brocken von einem Mann an einem der roten Balken. Er war mit einem enganliegenden schwarzen Trikot bekleidet, hatte ein Leopardenfell wie eine Mantille um die mächtigen Schultern gehängt und trug an den dichtbehaarten, muskelstrotzenden Unterarmen, die er über dem kolossalen Brustkorb verschränkt hielt, eine Art breiter Ledergamaschen, die den Eindruck von Fesseln hervorriefen. Gelangweilt blickte er mit gerunzelten Brauen ins Publikum, zog ab und zu schnüffelnd die Nase kraus und kaute gemächlich auf irgendwas herum, Kaugummi oder – wahrscheinlich – Priem.
Die Reihe der Raritäten aus Professor Galattis Kabinett, denn um diese handelte es sich wohl bei den Gestalten auf der Balustrade, wurde fortgesetzt von einem dicklichen Mädchen reiferen Alters, das, in einen schreiend scharlachroten Bademantel gehüllt, nichts Besonderes zu sehen bot, außer einem Gesicht von geradezu umwerfender Stupidität. Den Schluß bildete ein überaus magerer Mann in wallender indischer Gewandung, der – ebenfalls mit verschränkten Armen – im Stehen zu schlafen schien. Er hielt die Augen geschlossen und atmete durch den geöffneten Mund. Die drei Instrumenten-Bearbeiter unterbrachen ihre geräuschvolle Tätigkeit. Aus einem Spalt in der Zeltleinwand trat ein Mann in altmodischem Frack und Zylinder ins Scheinwerferlicht. Er verzog das alte, betont jugendlich geschminkte Komödiantengesicht zu einem Grinsen, griff zum Mikrophon, um das ein grauweißes Tuch gewickelt war, warf einen Blick über die Untenstehenden, räusperte sich vernehmlich und rief, wobei er den rechten Arm und die gespreizten Finger im weißen Handschuh zu beschwörender Geste hob: »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie vor unserem Etablissement. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Professor Galatti. Ich freue mich, Ihnen hier und heute eine einmalige Jubiläumsschau präsentieren zu können, wie Sie eine solche in dieser Qualität und Interessantheit sobald nicht wieder zu sehen kriegen werden…« Die dicke Paukenhauerin mit der Halsentzündung quetschte sich hinter den Kassentisch. Das saxophonpustende Mädchen hatte sein Instrument beiseite gestellt und wartete offenbar auf irgendein Stichwort. Der Gitarrenjüngling nahm den Platz hinter den Trommeln ein.
»In der ersten Abteilung«, schrie Professor Galatti ins Mikrophon, »erleben Sie Gajus Elektriko, ein Wunder der Natur!« Er wies auf den bewegungslosen Pierrot. Das Saxophonmädchen ging hinüber, faßte die Gestalt mit beiden Händen an der Hüfte und bewegte sie, als ob sie aus Gummi wäre, scheinbar tragend und stützend in den Vordergrund. Dazu klirrte der langhaarige Jüngling mit dem Schlagzeugbecken und schlug auf die Pauke. »Mensch, Puppe, Affe oder Maschine?« schrie der Professor, hob einen der nach unten gestreckten Arme der grausligen Figur und ließ ihn in halber Höhe los – worauf der Arm, wie von einer Feder gezogen, an den Körper zurückschnellte, einige Male vibrierend wackelte und dann wieder starr nach unten gestreckt blieb. »Hier ist die Wissenschaft am Ende!« fuhr Galatti fort. »Hier versagen Kapazitäten der Medizin und Physik. Hier gibt es Rätsel über Rätsel! Gajus Elektriko, der elektrische Mensch ohne Gefühle! Ohne das mindeste zu spüren bei Reizen aller Art! Es wird Ihnen im Innern des Theaters gezeigt, wie er unter tödlichen Strom gesetzt wird, wie er mit brennenden Kerzen versengt wird und wie er mit beizender Säure verbrannt wird – alles, ohne sich zu rühren! Ein Phänomen – ein Rätsel! Anerkennungsschreiben aus aller Herren Länder! Mensch, Puppe, Affe oder Maschine – Gajus Elektriko, das Wunder der Natur…« Peng – Beckenschlag – Paukendonner – Trommelwirbel. Der vollautomatische Pierrot wurde in die Ecke gestellt, wo er unverändert stehenblieb, weiß, mit halboffenem Mund, den starren Blick seiner roten Augen unverwandt und ohne ein einziges Wimpernzucken über die Köpfe des Publikums ins Jenseits gerichtet. »In der zweiten Abteilung«, schrie der Professor und wies mit großem Schwung auf den schwarzen Brocken, »sehen Sie
den ›Stier von Odessa.‹ Mit den bloßen Händen und seiner phantastischen Körperkraft kann er ein Hufeisen…« und so weiter und so weiter. Der ›Stier von Odessa‹ wuchtete sich aufs Podium, ließ die Suada des Professors über sich ergehen, schüttelte über dem schwarzhaarigen Quadratschädel die gefalteten Hände, zeigte einige seiner Muskeln, wackelte damit und stellte sich sodann neben den elektrischen Gajus. Als nächstes wurde das Mädchen im Bademantel als ›künstlerisches Ereignis und Sensation‹ angekündigt: »… ist sie am ganzen Körper, außer am Kopf, von ersten Meistern der Tätowierkunst aus ganz Europa mit hochkünstlerischen Bildern und Ornamenten bedeckt. Gestalten der Geschichte zieren ihren Leib ebenso wie Wappen, Blumen und auch mehrfarbige Porträts berühmter Staatsmänner…« Wir durften ein Stückchen Bein als Kostprobe besichtigen, auf dem sich um Stalins roten Kopf eine blaue Schlange ringelte und die gespaltene Zunge nach einem Coca-ColaSchriftzug züngelte. ›Bis zu den Grenzen des Anstands‹ sollte die ganze Pracht aber erst innerhalb des Zeltes enthüllt werden. Mit Peng und Bumbum wurde auch die dritte Rarität an die Seite gestellt, und danach kam der Inder dran; der bei der Nennung seines Namens – Rashnipudra oder so ähnlich – aus dem Stehschlaf erwachte und sich gemessenen Schrittes neben den Professor begab. Von ihm hieß es, daß er Feuer fräße, giftige Schlangen beschwöre, sich einen Nagel durch die Zunge schlüge, Glasscherben kaue und was der althergebrachten, unappetitlichen Fakirgewohnheiten mehr sind. Als fünfte Attraktion pries Professor Galatti sich selbst und seine Zauberkünste an, wobei er versprach, unter anderem die einmalige – ›oft kopiert, nicht erreicht‹ – schwebende Jungfrau vorzuführen. »… eine magische Meisterleistung, für die mir
auf dem Weltkongreß der Magier in Venedig 1938 eine goldene Ehrennadel verliehen wurde…« Und er zeigte auf die Nadel, ein mickriges, pfenniggroßes Ding, das er auf der Frackbrust trug wie einen Orden. Bei der Ankündigung der schwebenden Jungfrau knickste das schmuddelige Mädchen, so daß anzunehmen war, sie würde diese Jungfrau darstellen – was die Sache auch nicht verlockender machte. Dennoch drängten sich auf die Aufforderung, sich das Erlebnis nicht entgehen zu lassen, zwei oder drei Dutzend Leute zur Kasse, während die Künstler – Professor Galatti, der Fakir, die tätowierte Zilletype, der Stier von Odessa und der bewundernswerte Elektriko, letzterer mit Hilfe der schwebenden Jungfrau – sich zur Bühne begaben. Außer dem sonderbaren Maschinenmenschen interessierte mich keine der Darbietungen des Herrn Professors, wenn es vielleicht auch ganz amüsant gewesen wäre, festzustellen, ob sie dem stupiden Mädchen eventuell einen der Päpste auf den Busen oder Hitler auf den Hintern tätowiert hatten. Doch ich hatte keine Lust; Raritätenkabinette und sonstige Darbietungen dieser Art stimmen mich meist trübsinnig. Also wandte ich mich ab und überlegte, welchen Weg ich wählen sollte, um zu meinem Wagen zu kommen. Denn ich wollte nach Hause. Es war neun Uhr vorbei. Drei Stunden Rummelplatz genügten. Ich entschloß mich, die Budenstraße, die nach rechts abbog, weiterzugehen, statt umzukehren, denn auch so herum mußte ich den Parkplatz erreichen. Von einer weißbemützten Frau mit Berliner Dialekt ließ ich mir noch vier Lose für eine Mark aufschwatzen und hatte drei Nieten und einen Gewinn – ausgerechnet ein Kartenspiel. Der Herzkönig lag obenauf. Dann machte ich mich endgültig auf den Heimweg, beschleunigte den Schritt und blieb vierhundert Meter weiter
wieder stehen, weil ich glaubte, das Mädchen mit dem blauen Teddybären allein in einem der kleinen Wagen gesehen zu haben, die in der Geisterbahn verschwanden. Ich wartete, um zu sehen, ob ich richtig gesehen hatte. Es wäre ja ganz hübsch, wenn das Mädchen mit den grünen Augen… Ich sah mich um. Von ihrer häßlichen Begleiterin oder von der Gruppe junger Burschen war nichts zu sehen. Außer mir standen nur fünf oder sechs Leute da und guckten sich die verrückt bemalte Fassade des Gruselunternehmens an. An der Kasse stand auch ein halbes Dutzend Menschen, und vier warteten hinter einer Barriere darauf, einsteigen zu können. Die Fassade, aus großen Spanplatten zusammengeschraubt, wies eine Bemalung auf, die den Eindruck hervorrief, ein Fotograf habe durch ein verzerrendes Objektiv Gruppenaufnahmen vom Kongreß des Zentralverbandes europäischer Abnormitäten gemacht. Grüne Skelette, den Kopf unterm Arm haltend, ein Monstrum, gemischt aus Kröte, räudigem Wolf und Fledermaus, ein bläulicher Leichnam, sich im Sarg aufrichtend und eine Flasche schwingend, auf der zu allem Überfluß Gift stand, eine runzlige, lilahaarige Hexe, die in einem Kessel rührte, aus dem ein einsames Bein, eine schielende Schlange und irgend etwas nicht genau zu Erkennendes, aber Scheußliches heraushing; da waren ferner Totenköpfe in vielen Farben und Größen, Knochen, Dolche, glutäugige Kater, Mauerreste, auf denen Eulen hockten, ein Henker in roter Kapuze, der ein bluttriefendes Beil schwang, und alle weiteren Zubehörteile gebräuchlicher Gruselei. Vor diesem – nebenbei gut gemalten – Schreckenskatalog stand auf einem Holzsockel rechts vor den Stufen, die zur Kasse führten, die fünf Meter hohe Figur eines rot- und grünhaarigen Riesen.
Diese Figur stand den gemalten Monstren an Fürchterlichkeit in nichts nach. Sie hatte grünblaue Glotzaugen, deren Wirkung von innen mit flackerndem Licht erhöht wurde, und zwei lange gelbe Hauerzähne im offenen Maul, aus dem ohrenbetäubender Lärm drang: Das Geisterkreischen und Jaulen und das wohligentsetzte Quietschen der Fahrgäste aus dem Inneren des Etablissements. Zudem konnte das Ungetüm aus Sackleinwand und Maschendraht sich unter Gebrüll nach vorne beugen, wobei die langen Affenarme mit den schaufelähnlichen Pfoten direkt über den Köpfen der Menge baumelten, als wollten sie zufassen. Sehr effektvoll! Im Rücken des Riesen hinter der Holzbarriere liefen Schienen entlang. Darauf rollten, von links mit Gepolter aus dem Dunklen kommend, nach rechts mit Gepolter ins Dunkle fahrend, die kleinen zweisitzigen Wägelchen, die mit Nummern versehen waren. Wenn so ein Wägelchen links aus der Klapptür kam, saßen rotgesichtige oder blasse Menschen drin. Manche hielten sich die Augen zu, andere hatten sie schreckhaft aufgerissen, einige probierten mit verkniffenem Gesicht ein erlöstes, erlösendes Lachen, und einzelne schüttelten irritiert den Kopf. Sobald die Leute ausgestiegen waren, gaben zwei Männer in blauen Overalls dem leeren Wagen einen Schubs, so daß er auf den Schienen bis zu denen glitt, die einzusteigen wünschten. Auf dieser Seite stand ein dritter Mann, der die Karten abriß und dafür sorgte, daß nicht mehr als zwei Personen in so einen Wagen kletterten, daß allzu kleine Kinder nicht allein fuhren und daß Stöcke und Schirme vor der Fahrt abgegeben wurden. Die drei Männer unterschiedlichen Alters verrichteten ihre Arbeit im Gekreisch und Gepolter mit der Stumpfheit von Robotern. Ich sah ihnen wartend zu und bewunderte ihr lässiges Unbeteiligtsein. Sie nahmen weder von den Einsteigenden noch von den Aussteigenden besondere Notiz.
Der amtierende Bundespräsident hätte Fahrgast sein können, oder Soraya oder Jackie Onassis – es hätte sie wenig erschüttert. Acht Wagen kamen scheppernd aus der Geisterbahn. Achtmal stiegen Fahrgäste aus und wurden wie Ware abgefertigt. Aber jetzt, beim neunten Wagen, änderten sich plötzlich die Bewegungen der beiden Männer am Ausgang. In diesem Wagen, er trug die Nummer 14, saß ein einzelner Fahrgast. Er saß breitbeinig, flegelig auf dem fleckigen Kunstlederpolster. Seine Arme hingen schlaff herab. Sein Oberkörper lehnte weit zurück, so daß er fast lag. Aber sein Kopf war eigenartig nach vorn auf die Brust gekippt. Er war nicht blasser als andere, die vor ihm aus dem Dunkel gekommen waren, aber er saß, wie jemand sitzt, der ohnmächtig ist, oder schwer betrunken oder – tot. Dieser Mann war tot. Über seiner rechten Schläfe war ein kleines kreisrundes Loch, aus dem ein dünnes Rinnsal Blut sickerte.
3
Ein Jäger, der am Sonntagnachmittag mit Familie, Strohhut und Spazierstock einen Ausflug macht, wird, wenn plötzlich irgendein Raubzeug aus dem Dickicht bricht, den Spazierstock wie eine Flinte hochreißen und anlegen… Der Autofahrer hinten im Taxi hebt den Fuß, um auf die – nicht vorhandene – Bremse zu treten, wenn der Wagen in eine brenzlige Situation kommt… Was ist das? Instinkt? Dressur?
Als ich den Toten sah, reagierte ich sofort, wie jeder Kriminalbeamte reagiert haben würde. Ich rannte los, nahm die zwei Stufen zur Kasse mit einem Satz, winkte ab, als die dünne Frau hinter dem Kassentisch, die noch nichts wußte, protestierend den Arm hob, und rief den zwei Männern im Overall »Halt!« zu. »Halt!« schrie ich noch mal, lauter – denn mein erster Ruf war im Gebrüll des Riesen untergegangen. Der ältere Mann ließ den Toten los, den er gerade an der Schulter rüttelte, als ob er ihn wecken wollte. Der jüngere stand mit offenem Mund ratlos. Ich schrie nach rechts: »Keiner darf mehr einsteigen!« Der Mann am Start hatte noch nicht gemerkt, daß links an der Ausfahrt etwas nicht stimmte. Er hielt die Hand ans Ohr und schrie zurück: »Was ist?«
»Gehen Sie rüber«, befahl ich dem Jüngeren auf meiner Seite, »los, fix! Keiner darf mehr einsteigen! Schicken Sie die Leute weg. Sollen sich ihr Geld wiedergeben lassen. Dalli!« Der Bursche klappte den Mund zu und gehorchte. Aus dem Dunkel kam mit Krach durch die blechbeschlagenen Schwingtüren der nächste Wagen. Ein Mädchen mit einem großen blauen Bären saß darin. Es war ein anderes Mädchen. Aber für Mädchen war jetzt ohnehin keine Zeit. »Halten Sie die Leute fest, die noch rauskommen!« sagte ich zu dem Mann, der den Toten gerüttelt hatte. »Alle müssen hierbleiben!« »Wer sind denn Sie?« fragte er und sah abwechselnd mich an und den Zusammengesunkenen im kleinen Wagen. »Kriminalpolizei«, sagte ich. »Los – machen Sie schon!« Er guckte ein bißchen, dann spurte er. Das Mädchen mit dem Bären war bereits im Begriff, die Stufen hinunterzulaufen. Er lief ihr nach und faßte sie am Arm. Sie blieb stehen. Der nächste Wagen rasselte aus dem Dunkel. Hinter mir wurden Stimmen laut: »Was ist denn los?« »Da ist einem schlecht!« »Nun man weiter!« »Ich will mein Geld wieder!« Die Menschen vor der Kasse meuterten. Diejenigen, die schon hinter der Barriere standen und nicht mehr einsteigen durften, meuterten auch. Und die, die aus den herauskommenden Wagen ausstiegen und festgehalten wurden, meuterten erst recht. Es war ein hübsches Durcheinander. Der junge Bursche kam zurück und wollte den Toten aus dem Wagen heben. »Nix da!« sagte ich. »Nichts anfassen! Stellen Sie mal den Krach ab!«
»Wie kommen Sie denn…« fragte er aufsässig. »Kriminalpolizei«, sagte ich. »Hö!« Er knurrte wie ein Löwe in der Arena, der die Peitsche des Dompteurs knallen hört. Dann lief er zu dem Kassenhäuschen und sagte etwas zu der Frau. Die Lautsprecher im Maul des Riesen verstummten. Es war mit einem Schlag schrecklich still. Nur von nebenan und von gegenüber klang Gedudel und Anreißergerufe. Ich stand neben dem toten Mann und versuchte ihn vor der neugierigen Menge zu verdecken, die von Minute zu Minute wuchs, mit jedem Wagen, der aus der Geisterbahn herausrollte und mit jedem Rummelplatzgast, der zur Kasse kam und mitfahren wollte. Es war schwierig, die Leute zu bremsen, solange der Tote da quasi im Schaufenster lag. Ich zog meinen Trenchcoat aus und deckte ihn, so gut es ging, über die Leiche. Zwischen diesem Wagen und dem am Eingang standen noch zwei leere Wagen. »Lassen Sie die zwei Wagen leer durchlaufen!« rief ich dem Mann am Start zu und schob den Wagen mit dem Toten langsam nach rechts. Vielleicht konnte man ihn im Innern der Geisterbahn, hinter der Schwingtür, erst mal abstellen, damit er hier vorn weg war. »Ja wieso eigentlich?« rief der Start-Mann. »Wie kommen Sie dazu…?« »Kriminalpolizei!« sagte ich zum drittenmal. Jemand aus der wartenden Menge schnappte das auf. Großes Geraune ging los, Getuschel und Gemurmel. Der Mann am Start ließ die leeren Wagen in die Bahn laufen. »Rennen Sie rüber zur Polizeiwache«, sagte ich zu dem jungen Burschen im Overall, der mich mit beflissenen Blicken verfolgte und nun auf Befehle zu warten schien. »Sie sollen drei oder vier Mann herschicken – aber schnell! Und die Mordkommission alarmieren… Los, ab mit Ihnen!«
Er nickte und rannte los. Die Frau aus dem Kassenhäuschen kam auf mich zu, eine Eisenkassette unterm Arm. »Aber das ist doch…! Sie können doch nicht einfach hier den ganzen Betrieb…« »Laß das, Bertha!« sagte warnend der Start-Mann, der auf der anderen Seite des schmalen Schienenstrangs stand und mit mir begann, den Wagen mit dem Toten zu schieben. Die Frau gab nicht auf: »Was macht ihr denn da? Wer sind Sie? Sind Sie der von der Kripo?« »Ja«, sagte ich. »Und wer sind Sie?« »Bertha Weber.« »Schön, Frau Weber…« »Fräulein!« korrigierte sie. »Verzeihung, Fräulein Weber – nun seien Sie nett und holen Sie fix alle Leute zusammen, die zu dem Laden hier gehören. Vor allem informieren Sie mal schnell Ihren Chef. Er soll sich herbemühen. Aber dalli!« »Der Boss? Ja, aber… Der ist doch…« stammelte mein Mitschieber auf der anderen Wagenseite. »Wo?« fragte ich und sah mich um. »Wo ist er?« Der Mann sah mich so mitleidig an, als ob ich ein Analphabet wäre. »Hier«, sagte er und zeigte auf die Leiche unter meinem Trenchcoat. »Das ist er.« »Was?« Fräulein Bertha kreischte fast und begann mit der linken Hand an ihrer Unterlippe zu zupfen, indem sie gleichzeitig die trübblassen Augen weit aufriß. »Der Boss?« »Ja«, nickte der Mann. Er nickte immer wieder. »Ja!« sagte er zwischendurch. In seinem Nicken und Ja-Sagen lag mehr als schlichte Erschütterung über den Tod des Arbeitgebers. Das mußte wohl so kommen… lag darin, und Hab ich’s nicht immer gesagt? und Da sieht man ‘s mal wieder!
Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich mir den Mann auf der Stelle hätte vornehmen können. Aber erst mußte mal der tote Boss von der Bühne. Wie lange das dauerte, bis die Polizisten kamen, verdammt noch mal! Auf der linken Seite, wo der ältere der drei Arbeiter die zehn oder zwölf Leute zusammenhielt wie ein Schäferhund, gab es Aufruhr. Ein dicker, offenbar befehlsgewohnter Herr schnauzte den Alten im Overall an: »… fällt Ihnen denn ein? Da könnte ja jeder kommen! Ich denk überhaupt nicht dran, mich von Ihnen hier rumkommandieren zu lassen. Von Ihnen schon gar nicht!« Ich sagte: »Augenblick mal« zu dem, der mir helfen wollte und ging hinüber. »Was gibt’s denn?« fragte ich den Bewacher der Menschengruppe. Der wies mit dem Kinn auf den Dicken und hob die Schultern. Ich sah den Dicken an. »Ja?« »Sind Sie hier der Vorarbeiter? Der Geisterchef oder so was?« Der Mann fand sich offenbar witzig. »Nein«, sagte ich. »Was wünschen Sie?« »Was ich wünsche? Na, Sie sind gut! Ich wünsche, gefälligst in Ruhe gelassen zu werden. Mit welchem Recht hält der Mann uns fest? Ich will weiter – oder denken Sie, daß es mir Vergnügen macht, hier auf dem Präsentierteller zu stehen und mich angaffen zu lassen, bloß weil da irgend jemand zwei Wagen vor mir zusammengeklappt ist beim Gespensterbegucken? Solln doch wegbleiben, die Leute, wenn sie schlecht zu Fuß sind mit ihrem Nervenkostüm.« Er sah sich im Kreis um. Einige nickten beifällig. »Der Mann ist tot«, sagte ich. Der Aufgeblasene verlor sichtbar Luft. »Ach so…« sagte er. Aber dann nahm er wieder Anlauf: »Ist ja traurig – aber was
können wir daran machen? Schließlich bin ich kein Arzt. Und bei Herzinfarkt oder so ist sowieso kaum was zu retten – oder? Ich gehe jetzt…« »Sie bleiben!« sagte ich – eine Nummer leiser. »Erlauben Sie mal!« begehrte er auf. »Wie reden Sie denn mit mir? Ich bin Kreistagsabgeordneter, und…« »Und wenn Sie Minister wären«, unterbrach ich ihn, denn die Platte kenne ich: »Sie bleiben hier und halten sich zur Verfügung, bis die Mordkommission da ist – klar?« »Mord…?« Pffft – ging ihm ganz die Luft aus. »Aber… Aber…« stotterte er, plötzlich blaß und ängstlich und mit Hut nur noch so klein wie ein Sextaner. »Ich hab aber doch… Ich bin doch…« »Das wird festgestellt werden, was Sie haben oder was Sie sind. Und so lange warten Sie, verstanden!« Ich wartete unwillkürlich, ob er die Hacken zusammenschlagen würde. Er tat es nicht. »Jawohl!« sagte er. Eine Frau in der Gruppe fing an zu schluchzen. Ein junger Mann nahm mit rührender Beschützergeste seine Liebste in den Arm. »Ich muß Sie um etwas Geduld bitten«, sagte ich betont freundlich zu den Erschrockenen. »Dumme Sache – tut mir leid. Aber wir brauchen Ihre Personalien und müssen Ihre eventuellen Beobachtungen notieren. Bitte haben Sie Verständnis!« Wieder nickten die Leute. Diesmal galt die Zustimmung mir. Ich wandte mich wieder dem Wagen zu. Der Tote mußte endlich weg. »Mord!« flüsterte jemand hinter mir. Es klang wie ein Schmierenschauspieler, der zum dritten Rang hinaufflüstert.
Es waren sechs oder sieben Minuten vergangen, seit der Wagen mit dem Toten aus der Geisterbahn herausgepoltert war. Vor dem stumm gewordenen haarigen Riesen, der mitten in einer seiner wirkungsvollen Rumpfbeugungen abgestellt worden war und dessen Arme jetzt, vom abendlichen Wind bewegt, leise schaukelten – vor dem Riesen und der gut gemalten Scheußlichkeiten-Fassade staute sich eine Menschenmenge. Ich kam mir immer mehr vor, als ob ich auf einer Bühne stünde – Mitwirkender, augenblicklich sogar Hauptdarsteller in einem Stück, das die Leute offensichtlich faszinierte. Denn es war eine unwahrscheinliche Stille in der Menge. Es war vor allem in den vorderen Reihen richtig unheimlich still, und diese Stille aus Sensationsgier und Schauder pflanzte sich nach hinten fort, breitete sich aus wie Wellenringe auf der Wasserfläche eines Teiches, in den ein Stein gefallen ist. Außen an der Menschenmauer, die inzwischen an die zehn Meter stark geworden war, wurde jeder Neuankömmling, der lachend, lärmend, fragend dazu kam, mit »Pst!« und »ein Toter!« und »Polizei!« und »Mord!« empfangen und reihte sich ein in die stumme, erwartungsvolle Masse, wispernd, halsreckend und angenehmgruselig überrascht. Dies war keine Rummelplatzsensation, dies war echt. Wir schoben den Wagen nach rechts auf das Tor zu, das ins stillgelegte Gruselvergnügen führte. Der Wagen holperte über eine Weiche, mein Trenchcoat rutschte, das Gesicht des Toten war zu sehen. Ein Gemurmel brach los unter den Zuschauern, wie das Rollen von Kugeln auf einer Kegelbahn. Ein paar spitze kleine Schreck-Abscheu-Quietscher stiegen auf. Ich zog, im Schieben, den Mantel wieder über den Kopf des Erschossenen. Der Mantelkragen schmierte das Blutgerinnsel breit. Auf den Holzstufen waren poltrige Schritte zu hören.
»Halten Sie mal an da!« rief eine rauhe Männerstimme. Wir brachten den Wagen zum Stehen. Er stand nun – einen Meter vor der Schwingtür – so in der Kurve, daß der Tote seinem murmelnden Publikum den Rücken zukehrte. Ich richtete mich auf und drehte mich um. Zwei baumlange Polizisten in Uniform kamen auf mich zu. Ein dritter blieb, die Hände am Koppel, neben der Kasse stehen. Ein vierter drängte sich mit dem Burschen, den ich losgeschickt hatte, noch durch die widerwillig platzmachende Menschenmenge. »Wer sind Sie?« fragte mich der eine Polizist, während der zweite zum Wagen trat und einen Blick auf die Leiche warf, den Mantelzipfel wieder fallen ließ und sich mir dann gleichfalls zuwandte. Ich sagte meinen Namen und holte meine Marke aus der Tasche. Das Mißtrauen erlosch auf den Gesichtern der Polizisten, soweit Mißtrauen auf Polizistengesichtern überhaupt erlöschen kann, und machte einem halb kollegialen, halb subalternen Ausdruck Platz. »Reiner Zufall«, sagte ich, »daß ich dastand und guckte – haben Sie die Mordkommission benachrichtigt?« »Jawohl!« sagte der noch Größere der beiden Großen. »Scheißkram!« brummte der andere. »Wir sollten um zehn abgelöst werden«, erläuterte der erste, mit einem entschuldigenden Lächeln auf seinen Kollegen blickend. »Naja«, meinte der andere. »Satteln Sie um«, sagte ich. »Werden Sie Buchhalter!« »Nee«, sagte der Ärgerliche, »egal rechnen ist auch Käse.« »Tja… denn wollen wir mal!« sagte der Größere müde dienstlich.
»Schieben Sie den Wagen hinter die Klapptür«, ordnete ich an, »und bleiben Sie dabei. Damit er endlich hier aus dem Blickfeld ist. Und Sie sorgen in der Gespensterbude mal für Licht und trommeln die Leute zusammen. Wo ist denn das liebe Fräulein Bertha?« »Hier!« sagte die Frau mit der Geldkassette. »Sie gehen jetzt mit dem Wachtmeister mit und helfen ihm, ja?« Sie war immer noch verstört, befolgte aber meine Anordnung. »Vielleicht versuchen Sie mal mit Ihren Kollegen, die Versammlung da unten aufzulösen«, sagte ich zu dem Brummigen. »Wenn die Mordkommission kommt, die haben nicht so sehr gern Publikum.« »Sie sind gut«, sagte der Polizist. »Die Leute da wegkriegen? Jagen Sie mal Schmeißfliegen von ‘ner toten Katze!« »Rufen Sie ›Huschhusch‹ oder so – was Sie gelernt haben«, sagte ich. Er ging los, winkte seinem Kollegen; man sah sogar seinem Rücken an, daß er nicht für fünf Pfennig Lust zu diesen Überstunden hatte. Auf einmal hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. »Weitergehen!« rief der Unwillige. »Weitergehen, bitte!« rief sein Kollege, der bisher, die Hände am Koppel, neben der Kasse gestanden hatte. Die Leute traten von einem Fuß auf den anderen – aber nicht einen Schritt beiseite oder zurück. Das Gemurmel schwoll an. Die beiden Polizisten versuchten die Neugierigen seitwärts wegzudrängen. Das war sehr mühsam, fast aussichtslos. Doch nach und nach lockerte sich das Knäuel ein bißchen.
Ganz plötzlich fiel mir Madame Sylvia ein. Was hatte sie gesagt?… der kurze Weg gefällt mir nicht, da liegt Ärger, Aufregung, böser Trubel – ein dunkler Herr… War der Tote der dunkle Herr? Ich hatte keine Ahnung. Außerdem, warum sollte ich mich vor ihm vorsehen? Ich zündete mir eine Zigarette an. Also – wenn der erste Teil ihrer Prophezeiungen in Erfüllung gegangen war, und das war er ja wohl, dann mußte der dunkle Herr noch kommen. Durch die Menge drängelte sich ein Mann im blauen Staubmantel. In seinem Kielwasser ruderten drei andere, die Koffer trugen, Aktentaschen und Fotostative. Als sie näher kamen, erkannte ich den vorderen. Spannagel. Donnerwetter, dachte ich. Spannagel selber! Spannagel war unser Paradepferd. Er war einer der drei Chefs der Mordkommission, ein Mann Mitte Vierzig, mittelgroß, schmal, mit einem dichten Bürstenhaarschnitt, der tief in die Stirn reichte und an das Fell eines frischgetrimmten Foxterriers erinnerte. Spannagel hatte überhaupt viel Ähnlichkeit mit einem Terrier; er wirkte nervös, draufgängerisch, manchmal hektisch, und seine Stimme klang hell und bellend, wenn er aufgeregt war. In den Büros des Polizeipräsidiums gingen die unglaublichsten Geschichten über ihn um. Man erzählte zum Beispiel, er habe seine gesamten Ersparnisse abgehoben – von zehn- oder zwölftausend Mark war die Rede – er habe die ganze Summe innerhalb dreier Nächte in einer Spielhölle auf den Kopf gehauen, weil er feststellen wollte, ob dort tatsächlich falsch gespielt und, im Rahmen des Falschspiels, auch gemordet worden war. Er hatte es festgestellt. Der Staat, sagte das Gerücht, habe ihm sogar das Geld zurückerstattet – abzüglich der persönlichen Abgaben für die Getränke natürlich, die er in den drei Nächten zu sich
genommen hatte… Es gibt da so Bestimmungen wegen der Getränke. Spannagel hatte die hölzernen Stufen erreicht, sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, und ließ den Blick über die Menschen und Dinge gleiten wie ein Maler, der ein Motiv prüft, ehe er zu Pinsel und Palette greift. Dann erklomm er das Podest und kam auf mich zu. »Ich habe Ihr Gesicht schon gesehen«, sagte er, als er vor mir stand. »Klipp«, sagte ich, »vom Einbruchsdezernat.« Er stutzte, gab mir die Hand – eine warme, erstaunlich kleine, feste Hand – und fragte: »Wieso Einbruch?« »Ich bin zufällig hier, Herr Kriminalrat«, erklärte ich. »Den Titel schenke ich Ihnen, Herr Klipp!« blaffte er. »Und was ist eigentlich los?« Ich berichtete. Die drei Männer seiner Begleitung hörten zu. Auf jeder Seite war unsere Gruppe von einem Polizisten flankiert. Die Leute, die ich hatte festhalten lassen, standen still und fast bewegungslos vor der blechbeschlagenen Schwingtür und sahen zu uns herüber. Auf der anderen Seite, an der Einfahrt zur Geisterbahn, versammelte sich das Personal. Dort wurde gewispert und getuschelt. Jeder Neuhinzukommende erfuhr, was geschehen war, und jeder reagierte mit den gleichen Blicken: Einem erschrockenen Blick zur Einfahrt, hinter der das Wägelchen mit dem Toten stand, und einem ängstlichrespektvollen Blick zu uns. Vor dem Podest, der Tribüne, dem – was weiß ich, wie man so was nennt – stand die Menge Kopf an Kopf, und es ging ein Raunen von ihr aus, das richtig unwirklich wirkte, weil es trotz des Rummelplatzlärms rundum deutlich zu hören war. Ich war nicht gut bei meinem Bericht, denn von so vielen Augen angeglotzt zu werden, machte mich nervös. Als
Schauspieler, Pastor oder Parteiredner wäre ich sicher kein großer Erfolg; Menschenmengen irritieren mich. »In Ordnung!« sagte Spannagel, als ich ihm aufzählte, welche Maßnahmen ich getroffen hatte. »Woher wissen Sie das alles?« »Ich habe einen Fernseher«, sagte ich. »Und außerdem lese ich Illustrierten-Krimis.« Er musterte mich wortlos von oben bis unten. Dann wandte er sich ab und sagte mit einer fahrigen Kopfbewegung in Richtung der Klapptür: »Na, denn man ran an die Buletten!« Damit ging er auf die mit einem grinsenden Skelett bemalte Tür zu.
4
»Nee, Klipp!« sagte Spannagel, als ich mich verabschieden wollte. »Ich brauche Sie noch… Au!« Er richtete sich langsam, mit verzerrtem Gesicht, aus der gebeugten Stellung auf, in der er den Toten eingehend betrachtet hatte und wandte sich mit einem schnaufenden Seufzer nach mir um. »Verflucht! Mein Kreuz«, murmelte er. »Früher hieß so was Hexenschuß. Heute sagt man Bandscheibe dazu. Auch so ‘n Fortschritt – tut genauso weh… Nee, bitte bleiben Sie noch ‘n bißchen hier, Klipp.« »Jawohl«, sagte ich, »wenn Sie mich brauchen können. Ich verstehe ja aber nichts von der Arbeit der Mordkommission, ich hab immer nur mit Kellereinbrüchen…« »Unsinn!« blaffte Spannagel. »Was ‘n Tatmotiv ist und ‘ne Vernehmung – das wissen Sie ja wohl. Aus dem Fernsehen, meine ich. Oder aus den Illustrierten… Seien Sie nett, Klipp – knöpfen Sie sich mal all die Damen vor. Die zum Personal gehören, und die anderen auch, die vorhin aus der Bahn ausgestiegen sind. Fragen Sie, ob jemand was weiß, was vermutet, was gehört oder gesehen hat – und so weiter. Ich bin sicher, daß Sie mehr als ich rausholen aus dem schwachen Geschlecht – mit Ihrem Playboy-Gesicht!« »Play…?« Ich muß ziemlich dämlich ausgesehen haben. Spannagel lachte laut auf. Das Lachen brach sich in den verwinkelten Papp- und Holzkulissen der Geisterbahn. Irgend etwas schepperte. »Nichts für ungut!« knurrte er dann und beugte sich, die Hand stützend im Rücken, wieder über den Toten.
Ich ging hinaus und lief das Podest entlang auf die wartenden Fahrgäste zu. Der gaffende Menschenklumpen vor den Holzstufen zerbröckelte bereits an den Rändern. Es war auch hier, wie immer in solchen Fällen, ziemlich hoffnungslos, irgendwas von den Leuten zu erfahren. Entweder wissen sie gar nichts, haben nichts gemerkt, nichts gesehen, können nichts sagen – oder sie quasseln das Blaue vom Himmel herunter, erfinden verdächtige Figuren, die sie irgendwo haben herumschleichen sehen und glauben schließlich sogar selbst daran. Aber man fragt immer wieder in der Hoffnung, aus dieser und jener Antwort doch noch etwas Brauchbares herauszuhören. Also fragte ich. Ich fragte eine mollige Mutter mit zwei zappeligen Kindern, ein junges Mädchen, das nach sehr billigem Parfüm roch, ein weiteres junges Mädchen, dessen Begleiter sich immerzu einmischte und dummes Zeug redete, und eine Frau von Vierzig, die mir schon den Mörder beschreiben wollte, wenn ich sie nicht vorher mit ein paar Fragen aus ihrem Phantasiekonzept gebracht hätte – dann wußte sie auch nichts mehr. Ich notierte mir die Namen und Adressen und ließ die laufen, die vernommen waren. Die Männer – allen voran der Kreistagsabgeordnete – murrten. Einer der Kollegen aus Spannagels Begleitung nahm sich ihrer an, während ich zu den Angestellten des Gruselunternehmens ging und das Fräulein Bertha beiseite bat, das – noch immer die Blechkassette mit dem Geld unterm Arm – zwischen sechs Männern stand, die mich abwartend mit verschlossenen Gesichtern betrachteten. Fräulein Bertha folgte mir, nach einem fragend-ängstlichen Seitenblick auf die Männer, zögernd hinter das
Kassenhäuschen, wo wir wenigstens den neugierigen Augen der Menge entronnen waren. Das ältliche Mädchen trug eine graue Strickjacke über einer mit knallbunten Blumen bedruckten Kunstseidenbluse, einen Rock, der fünfzehn Jahre zu kurz und hochhackige Schuhe, die zwei Nummern zu klein waren. Um Berthas Hals hing eine Kette aus roten und blauen Plastikkugeln, und ebensolche Kugeln baumelten an ihren Ohren und bildeten einen komischen Kontrast zu ihrem farblosen Gesicht, in dem das einzig Lebendige der breite Mund zu sein schien. Die Augen waren merkwürdig fischig und erloschen, aber der Mund war ungeheuer lebendig; zerklüftete Lippen in dauernder Bewegung, ein ständiges Zucken um die Mundwinkel, das nach Aufregung, nicht nach Lächeln aussah. Es war kein Kußmund – eher eine Schimpfwortschleuder; ein Mund, den man sich noch am ehesten in Verbindung mit Eisbeinfett und Bierflaschenhälsen vorstellen konnte. Ich riß mich – rein bildlich gesprochen – von Bertha Webers Mund los und ließ meine Fragen vom Stapel. Die Antworten der Geisterbahnkassiererin waren jedoch unergiebig. Ich erfuhr zwar, daß der Tote Stanko Konyas hieß, ein tüchtiger Chef gewesen sei, der die Leute ›auf Vordermann gebracht‹ habe, daß er ganz gern mal einen kippte, aber wer ihn und warum ihn jemand erschossen hatte, das konnte sich Bertha Weber nicht denken. Sie schluchzte trocken, als ihr aufging, daß der Chef nun endgültig tot war. »Feinde?« »Na ja…« sagte sie langsam, »wissen Sie, hat ja wohl jeder mal, nich? Ich weiß keinen. Absolut nich. Paar werden wohl sauer auf ihn sein… aber nich so sauer. Zum Umlegen nich, wissen Sie!« Und dann riet sie mir, die Frau des Toten zu
fragen. »Ist ja wohl nun Witwe«, sagte sie, und es war hämisch, wie sie das sagte. Ich überspielte fix das Erstaunen über die Existenz einer Ehefrau beziehungsweise Witwe des verstorbenen Herrn Konyas, erfragte noch, wo diese wohl zu finden sei und entließ die breitmündige Bertha zu der Männergruppe, aus deren Mitte eine dunkle Stimme fragte: »Na, Bertha, haste ihm gesagt, wer’s war?« Bertha warf den Kopf zurück, daß die Plastik-Kullern an ihren Ohrläppchen klapperten und sagte: »Doofkopp!« Die Männer grinsten.
Wir gingen an der Rückseite des großen Zeltes entlang auf den Wohnwagen zu, den das Fräulein Bertha mir beschrieben hatte. Es war dunkel hier hinten. Man mußte aufpassen, daß man nicht über einen der Stricke fiel, mit denen das Zelt verankert war. Spannagel stieg steifbeinig darüber hinweg. Er schien Schmerzen zu haben. Es roch nach zertretenem Gras und zwischendurch nach Rostbratwurst und nach Chlor, nach Dieselöl und nach Pferd. Ich wußte nicht, ob man die Pferde hier aus Anhänglichkeit oder aus Sparsamkeit hielt. Eine Zugmaschine gab’s außerdem. Das heißt, ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was es mit den Pferden auf sich hatte. Aus einem der Wagen kam Radiomusik. Irgendwas Barockes, Bach oder Telemann… ganz klar ein paar Takte Cembalo dazwischen. Dann hatten wir den Wohnwagen erreicht. Spannagel stieg die vier Stufen des Treppchens hinauf und stand vor der Tür, hinter deren Mattglasscheibe Licht zu sehen war. Ich blieb am Fuße des Treppchens stehen.
»Kommen Sie mit!« sagte Spannagel über die Schulter und klopfte an die Tür. Er klopfte einen kleinen Wirbel mit allen fünf Fingern seiner rechten Hand – aber es rührte sich nichts. Ich stellte mich auf die unterste Stufe. Spannagel wiederholte seinen Wirbel. Nach zwanzig Sekunden drückte er auf die Messingklinke. Die Tür ging nach außen auf. Spannagel mußte eine Art zierlichen Contrétanzschritt machen, um die Tür zu öffnen, ohne von der winzigen Plattform zu fallen. Er ging hinein; ich folgte. Über seinen Rücken sah ich auf einer Bettcouch eine junge Frau sitzen. »‘tschuldigung!« sagte Spannagel und nahm den Hut ab. Das fiel mir auf, denn ich kannte aus dem reichen Born meiner Fernseherfahrung nur Kriminalbeamte mit Hut auf dem Kopf. In jeder Situation bleiben die amerikanischen Kollegen bedeckt, wenn das Fernsehen recht hat. Vielleicht behalten sie den Hut immer auf dem Kopf, um die Hände frei zu haben. Aber wozu? Den Regisseur schlagen sie ja doch nicht zusam… »‘tschuldigung!« wiederholte Spannagel barhäuptig und etwas lauter, da sich die junge Frau nicht rührte. »Aber ich hatte schon zweimal geklopft.« Die Angesprochene hob den Blick – ihr Kopf bewegte sich keinen halben Zentimeter – sie hob wirklich nur den Blick und sah uns an. Nein, das stimmt nicht. Sie sah uns nicht an… Oder vielmehr, sie sah uns an, nahm uns aber nicht wahr. Wir hätten ebensogut aus grauer Buchbinderpappe sein können oder aus Marzipan oder aus Luft. Dabei tat es fast ein bißchen weh, von diesen Augen nicht wahrgenommen zu werden. Es waren sehr große, schwach schräg geschnittene Augen, deren strahlend silbergraue Iris von einem ungewöhnlich breiten, dunkelblauen Rand eingefaßt
war und irrlichternde goldene Pünktchen hatte… Es waren unglaublich schöne Augen. Spannagel räusperte sich und sah sich verlegen nach mir um. Das machte ihn mir noch sympathischer, denn neun von zehn anderen hätten in dieser Lage die barsche Obrigkeit herausgekehrt und von vornherein alles verdorben. Ich wollte ihm helfen und überlegte krampfhaft, was ich sagen oder tun konnte, um die Frau aus ihrer Lethargie zu holen, da richtete sie sich plötzlich auf, ihr Gesicht wurde klar und ihre Augen wach. Es war, als ob jemand mit der Handfläche über eine beschlagene Windschutzscheibe gefahren wäre. »Ja…?« sagte sie, blinzelte, streifte mit einem kurzen Kopfschütteln ihre Verwirrung ab und wiederholte: »Ja? Bitte?« Spannagel nannte seinen Namen, ich murmelte den meinen. »Sind Sie Frau Konyas?« fragte der Chef der Mordkommission und fuhr, als sie nickte, fort: »Ich weiß nicht, ob… Ich nehme aber an, Sie wissen, daß…« »Ja.« Sie nickte. »Mein Mann.« Und dann tat sie etwas, das viel erschreckender war als ihr verstörtes Schweigen: Sie legte den hübschen Kopf in den Nacken, ließ die Augen rundum über die Wände des Wohnwagens wandern, sah uns schließlich wieder an, lächelte unvermittelt und flüsterte: »Er ist tot, nicht wahr?« »Ja«, sagte Spannagel mit einer Stimme, die klang, als sei sie mit Rauhputz beworfen. Heißa, lachte Sauerbrot… schoß es mir durch den Sinn, und ich mußte mir richtig auf die Zunge beißen, um nicht in ein nervöses Gekicher auszubrechen. Hinter dem bunten Chintzvorhang, der den Raum im Hintergrund abschloß, erhob sich ein leises Greinen. Frau Konyas stand sofort auf, machte: »Pscht!« – wobei sie die
Lippen wie zum Kuß spitzte und schob den Stoff ein Stück zur Seite. Ein Kinderkörbchen wurde sichtbar. Sie beugte sich darüber und sprach mit warmer, leiser, beruhigender Stimme auf das Baby ein, dessen eines molliges Händchen nach ihrem herabhängenden schwarzen Haar griff. Ich ertappte mich dabei, daß ich die Kniekehlen der jungen Witwe bewunderte, erschrak und schlug meinen Augen auf die Finger. Das Kind begann zu weinen. Frau Konyas drehte sich um. »Sie müssen mich bitte entschuldigen. Er muß seine Mahlzeit haben. Ich muß ihn jetzt stillen«, sagte sie, und ihren Worten war weiter nichts anzuhören als mütterliche Besorgnis. Spannagel sagte, daß wir später noch mal wiederkämen. Es täte ihm leid, aber es gäbe doch ein paar Fragen. »Ja«, erwiderte sie, »in einer halben Stunde, bitte!« Und hob das Kind aus dem Korb, das sofort schwieg und ins Licht blinzelte. Wir machten gleichzeitig kehrt und verließen den Wohnwagen und gingen schweigend den dunklen Weg am Zelt entlang zurück. »Seltsam«, sagte ich schließlich, »wie sie gelächelt hat…« »Ja«, antwortete Spannagel nur. Die sensationslüsterne Menge vor der Geisterbahn hatte sich indessen bis auf ein paar Hartnäckige verlaufen. Spannagels Assistenten waren mit der Vernehmung der Leute fertig. Sie hatten sich des Toten angenommen, hatten ihn von allen Seiten fotografiert und waren im Begriff, ihn aus dem kleinen Wagen zu heben und auf eine daneben bereitstehende Bahre zu legen. Ich nahm meinen Trenchcoat wieder an mich und warf ihn mir zusammengerollt über die Schulter. Ich mochte ihn nicht anziehen, obschon es mit der einbrechenden Dunkelheit kühl geworden war.
»Wir sollten uns mal die Fahrstrecke anschauen«, meinte Spannagel. »Soll ich…?« fragte ich. »Wenn Sie wollen.« Er zuckte die Achseln. »Kommen Sie nur mit. Meine Leute sind beschäftigt.« Er ging durch die Klapptür, die mich lebhaft an den Eingang zu einem Wildwestsaloon erinnerte. »Wer von Ihnen ist der Vertreter des Chefs?« fragte er draußen die sechs Männer, die da mit Bertha in der Mitte standen, rauchten und uns mit einer Mischung aus Vorsicht, Abneigung und Neugier ansahen. Ein großer, weißblonder Bursche trat einen halben Schritt vor. »Ich«, sagte er. »Sie heißen?« fragte Spannagel. »Warum?« gab der junge Mann zurück und steckte die großen roten Hände in die Hosentaschen, nachdem er mit der rechten seine eingefetteten Locken zurechtgedrückt hatte. Das helle Haar stand wie das Vordach eines Hauses über seiner Stirn und warf Schatten bis zum Mund, der – von vier großen entzündeten Mitessern umrahmt – in heftiger Kaubewegung war. »Nun«, sagte Spannagel und betrachtete den Schmalzlockenjüngling lange und aufmerksam, »weil es unter gesitteten Mitteleuropäern der Brauch ist, sich mit dem Namen anzureden, wenn man miteinander zu tun hat. Meine Name ist Spannagel. Falls Sie es wünschen, kann ich natürlich auch ›He, Mann!‹ zu Ihnen sagen…« »Ich wüßte gar nicht, was ich mit der Kripo zu tun hätte!« raunzte der Blonde und spuckte seinen Kaugummi über die Holzbrüstung. Spannagel schloß für zwei Sekunden die Augen. Das sah aus, als ob er sich selbst an die Kandare nähme – oder aber unendlich gelangweilt sei. Dann sagte er mit leiser Stimme:
»Es ist ein Mord geschehen. Jemand hat vor etwa einer dreiviertel Stunde Ihren Boss erschossen. Ich muß Ihnen gestehen, daß es mir ganz persönlich völlig gleichgültig ist, wer ihn auf dem Gewissen hat. Aber ich werde dafür bezahlt, es herauszufinden, damit die Gesellschaft in Ruhe – also wenigstens einigermaßen in Ruhe – essen, schlafen, lieben und arbeiten kann. Ist das klar? Und Sie können versichert sein, junger Freund, daß ich alles tun werde, um es so schnell und so gründlich und so reibungslos herauszufinden, wie es nur möglich ist. Das ist mein Job, und ich mache ihn, wie der Bäcker Brötchen bäckt und der Pastor predigt… Amen! Haben Sie mich verstanden?« Die Männer waren sichtlich beeindruckt von Spannagels Tirade. Ich auch. Einer vergaß sogar, den Mund zu schließen, der ihm beim Zuhören aufgegangen war. Kriminalrat Spannagel kramte in den Taschen seines Mantels, holte ein zerknautschtes Päckchen schwarzer Zigaretten heraus und bot mir eine an. Dann steckte er selbst eine in den Mund, und dann hielt er die Schachtel den Geisterbahnleuten reihum unter die Nase. Alle langten zu. Auch Bertha bediente sich. Es reichte gerade. Die Schachtel wurde leer. Spannagel knüllte sie zusammen und warf das Knäuel zwischen die Schienen, wo schon allerlei Abfälle lagen. Ein dicker, rotgesichtiger Mann mit Schnauzbart und Koteletten gab ihm und mir Feuer. »Paganini!« sagte plötzlich der hellblonde Bursche mit der Rockerlocke. »Wie bitte?« fragten wir gleichzeitig. »Wollen Sie mich auf die Schippe nehmen?« setzte Spannagel mit einem leise drohenden Unterton hinzu. »Nein«, mengte sich Fräulein Bertha ein, »der Alfred heißt wirklich so!«
»Mein Großvater war aus Genua«, erklärte der Blonde und verzog den Mund zu einem dünnlichen Grienen. »Naja, also schön, Herr, eh, Paganini.« Man sah Spannagel richtig an, wie schwer ihm das von den Lippen ging. »Also schön, wenn Sie der Vertreter des Herrn Konyas sind, dann sorgen Sie bitte dafür, daß ich mit meinem Kollegen Klipp mal die Strecke abfahren kann, ja? Aber schön langsam, wenn Sie’s einrichten können. Ist übrigens der Besitzer des Unternehmens verständigt? Wer ist das? Wo wohnt er? Kommt er her?« Das war zuviel für Alfred Paganini. Zwei Fragen hätte er wohl noch beantworten können – aber vier auf einmal… nein. Also drehte er sich wortlos um und verschwand im Inneren der Geisterbahn. Gleich darauf summte und brummte ein Motor. Die langen Ketten bunter Lämpchen an der Balustrade flackerten auf, und der blödsinnige Riese, dessen Arme noch immer leise im Wind schaukelten, richtete sich auf und stieß sein gurgelndes Gebrüll aus. Zwei Männer und zwei Mädchen kamen die Holzstufen heraufgepoltert und traten an die Kasse. »Hallo!« rief der eine Mann. »Geht’s wieder weiter?« Spannagel schüttelte den Kopf. Das Fräulein Bertha klappte verwirrt mit den Augendeckeln. »Häng das Schild dran!« rief der dicke alte Mann mit den Koteletten. Bertha ging hinüber, redete mit ihrem breiten Mund auf die Besucher ein, nahm aus dem Kassenhäuschen ein Pappschild und hängte es vor den Zahltisch. AUSSER BETRIEB stand darauf. Die Besucher machten kehrt, äußerten mürrisch irgend etwas und zogen ab. Paganini kam aus der Geisterbahn und winkte Spannagel zu. Er hielt die Klapptür offen, und ich sah, wie
zwei Männer die Bahre mit der zugedeckten Leiche an der Seite des Zeltes hinaustrugen. »Kommen Sie, Herr Klipp«, sagte Spannagel. »Nutzen wir die Vorteile unseres Berufs aus – fahren wir kostenlos Geisterbahn.« Wir setzten uns drinnen in den Wagen, der hinter dem kleinen Schienenfahrzeug bereitstand, in welchem Konyas erschossen worden war. Zwei Männer der Mordkommission hoben den Todeswagen aus der Schiene und stellten ihn links neben die schmalen Gleise. Der dicke alte Mann mit dem Schnauzbart im Overall, der uns vorhin Feuer gegeben hatte, stand jetzt neben mir am Wagen und machte Anstalten, uns anzuschieben. Dabei beugte er sich so weit vor, daß sein Seehundsgesicht fast meine Schulter berührte. »Ich muß Sie sprechen«, flüsterte er. »Nachher, hinter dem Zelt. Maschinenwagen.« Es war kaum zu verstehen. Das einzige, was deutlich war, war der Schnapsgeruch. Ich nickte, und da fuhren wir auch schon. Eine zweite Klapptür tat sich auf. Sie war schwarz; zwei leuchtfarbige Skelette tanzten darauf, und eine verzerrte Sirene ertönte, als unser Wagen die Türflügel passierte. Mir kam es vor, als wären die Räder des Fahrzeugs, in dem wir saßen, achteckig. Das rumpelte und ratterte so, daß ich meinen Hut fester in die Stirn drücken mußte. Außerdem schleuderte die zweisitzige Blechkarre in den Kurven. Spannagel flog gegen mich, und dann flog ich wieder gegen Spannagel. Ein riesig wirkender Bär erhob sich – plötzlich angestrahlt – vor uns und fletschte die Zähne. Etwas Rauhes glitt mir über das Gesicht. Scharfe Linkskurve.
Ein Sarg öffnete sich, ein grüner Leichnam richtete sich darin auf, wir fuhren direkt darauf zu. Der Leichnam streckte schon die kralligen Finger nach uns, da schlenkerte der Wagen nach rechts. Dunkelheit. Irgendwas knarrte und quietschte. Von der Decke baumelte plötzlich ein Gehenkter mit hohlen Augen, in denen rote Lichter glommen. Ein Rabe saß auf seiner Schulter und schrie. Noch eine Rechtskurve. Wieherndes Gelächter dröhnte irgendwoher. Rechts und links auf Podesten standen zwei Männer ohne Kopf. Der eine trug den seinen unterm Arm, der andere hielt ihn so in der Hand, daß es aussah, als wolle er ihn uns zuwerfen. Ich zog unwillkürlich meinen Kopf ein. Spannagel lachte. Linkskurve. Dunkelheit. Eine große weiße Gestalt im Standardkostüm der Gespensterzunft beugte sich über uns, wischte uns ihre blutbefleckten Laken über die Augen und rief was Unverständliches mit hallender Stimme: Woinggg… Woingg… Woinggg… Ruckzuck – rüttelte es wieder nach rechts. Der Wagen fuhr jetzt langsamer – als ginge es bergauf – durch die lärmerfüllte Finsternis. Plötzlich grellrotes Licht. Breitbeinig stand über dem Gleis ein überdimensionaler Henker in noch röterer Kapuzenkutte und schwang ein blitzendes Beil. Wir fuhren geduckt zwischen seinen Beinen hindurch… Dann kam wieder eine Rechtskurve, die Fahrt wurde schneller, abermals erschien ein tanzendes Skelett,
diesmal in hellblauer Leuchtfarbe bemalt und akustisch von einem irren Wimmern begleitet, und danach kicherte noch eine Hexe mit Glotzaugen, bei der eine Anleihe auf den griechischen Sagenschatz gemacht worden war: Sie trug Schlangen auf dem Kopf à la Medusa – Gorgo-Look sozusagen –, und nach dieser Begegnung fuhren wir ins Freie. »Haben Sie außer Pappmache-Greueln irgendwas gesehen?« fragte mich Spannagel, als wir ausstiegen. Ich kam mir ein bißchen wie in der Schule vor – so als ob von dieser Antwort eine Osterzensur abhinge. Aber ich hatte nichts anderes gesehen als den Spuk aus Draht, Farbe, Pappe und Licht… oder? »Wissen Sie schon, aus welcher Entfernung Konyas erschossen worden ist?« fragte ich zurück. Spannagel kramte nach Zigaretten. »Ich hab noch welche«, sagte ich und bot ihm von meinen an. »Danke… Der Wunde nach muß der Mörder wenigstens drei bis vier Meter weit weg gewesen sein. Warum?« »Er ist von der Seite getroffen worden, nicht wahr?« fragte ich. »Vermutlich, ja. Wenn er sich nicht im Zusammenfallen gedreht hat.« Spannagel stützte schon wieder die Hand in die Hüfte und kräuselte die Nase; wahrscheinlich machte ihm sein Rücken zu schaffen. »Worauf wollen Sie hinaus, Klipp?« Ich versuchte ihm meine Theorie zu erklären, und ich fand mich ziemlich dilettantisch dabei: Wenn Konyas also aus drei oder vier Meter Entfernung erschossen worden war, mußte die Stelle, von der aus der Täter auf ihn gezielt hatte, eigentlich leicht zu finden sein. Wo war rechts neben dem Gleis drei oder vier Meter Platz? »Gar nicht schlecht«, knurrte Spannagel nachdenklich, als ich ihm meine Gedanken entwickelt hatte. »Sie sind begabt, Klipp! Ich werde eine Gehaltserhöhung für Sie beantragen. Aber
werden Sie nicht leichtsinnig, wenn Sie ab nächsten Januar monatlich Einsfuffzig mehr kriegen!« »Soviel gleich?« sagte ich. »Der Staat ist nicht kleinlich«, gab er todernst zurück. Wir gingen auf und ab und rauchten und schwiegen ein paar Minuten. »Es gibt da eine Stelle«, sagte er plötzlich, »die möchte ich mir noch einmal ansehen!« »Und wo ist das?« wollte ich wissen. »Rechts hinter dem Henker!« sagte er.
5
Wir liefen jetzt die Strecke, die wir eben gefahren waren, noch einmal ab. Spannagel hatte den blonden Paganini gebeten, mehr Licht in der Geisterbahn zu machen und den Gruselmechanismus außer Betrieb zu setzen. Also brannten ein Dutzend nackte Zweihundert-Watt-Birnen statt der roten, gelben und blaugrünen Flackerbeleuchtung – und ich fand, daß der Spuk dadurch eigentlich erst richtig schaurig wirkte, weil die Skelette und Gespenster und Ungeheuer im grellen, kalten Licht eine beklemmende Irrealität hatten – wie auf Barlicht geschminkte Huren im Morgengrauen, wie Generale in langen Unterhosen oder eine halbzerstörte Atelierfest-Dekoration nach dem Abzug der letzten betrunkenen Gäste. Der Kollege, dessen Fachgebiet die Spurensicherung war, ging mit uns und entdeckte, wie es ihm zustand, auch prompt zwei Dinge, die bestätigten, daß der Mord tatsächlich rechts hinter dem Henker geschehen war. Das eine war ein Geschoßeinschlag in einem Holzbalken, das andere war ein Taschenmesser mit perlmuttbelegtem Griff, das zwischen dem zertretenen, verkümmerten Gras innen an der Zeltwand lag. Das Messer war noch aufgeklappt. Der Spurenspezialist fand es zwei Schritte neben der Stelle, wo der Mörder die Leinwand aufgeschlitzt hatte, um in das Zelt hinein- oder herauszukommen – oder beides. »Wir nehmen den ganzen Kram mit ins Labor«, sagte der Kollege. »Welchen ganzen Kram?« fragte Spannagel.
»Nun, den Wagen, den Holzbalken, das Messer…« erwiderte der Spurenmann. »Vielleicht ergibt sich da doch was – Fingerabdrücke oder irgendwas. Manchmal hat man ja Glück, nicht wahr?« »Toi, toi, toi!« sagte Spannagel und wandte sich zu mir. »Kommen Sie, Klipp, hier zieht’s. Mögen Sie noch mal mit mir zu der jungen Frau gehen?« Ich war eigentlich ziemlich müde und fragte mich, was mich das Ganze noch anging. Aber ich war, das gebe ich zu, auch ziemlich geschmeichelt, daß mich der berühmte Spannagel so einbezog. Also sagte ich: »Gern, Herr Spannagel!«, trat mit ihm durch den Schlitz in der Zeltwand nach draußen und wollte ihm, was ich vorhin versäumt hatte, gerade berichten, daß mich der dicke Mann mit dem Schnauzbart angesprochen hatte, als der sich aus dem Schatten eines der Gerätewagen löste. Er kam mit unsicheren Schritten auf uns zu und schwankte sachte. Das sah aus wie eine Reihe kleiner Verbeugungen. »Herr Kommissar«, sagte er mit rauher, flüsternder Stimme, und wiederum wehte mich seine Schnapsfahne an, »hören Sie zu – ich muß Ihnen was sagen!« Spannagel sah mich fragend an. »Ja«, sagte ich, »der Herr wollte uns sprechen.« »Was gibt’s?« fragte Spannagel. »Und wer sind Sie?« »Ich heiße Horn«, raunte der Alte, »und ich arbeite hier. Hauptsächlich muß ich nach den Pferden sehen… Und Sie müssen wissen… Ja, das müssen Sie wissen: Der Stanko, also der Konyas, der war längst fällig, der Lump!« Er erschrak jetzt selbst über seine Worte, schluckte, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah sich um – ängstlich, wie mir schien. »Weiter!« sagte Spannagel. Er flüsterte auch.
»Das ist – das war ein solches Schwein, Herr Kommissar, wenn’s auch vielleicht nicht recht ist, so was zu sagen, wo er doch nun tot ist… Aber Sie müssen das wissen! Ein richtiger Lump, ein Schweinehund, ein… ein richtiger Verbrecher war das!« Er steigerte sich in eine Erregung hinein, die zu seinem runden, guten alten Gesicht gar nicht paßte. Sein Mund bebte unter dem grauweißen Bart, seine Augen zwinkerten, er wischte sich ein ums andere Mal mit zitternden, knorpeligen Fingern übers Gesicht und rang nach Worten. »Nun mal langsam, Herr Horn«, sagte Spannagel. »Beruhigen Sie sich erst mal. Sie sind ja ganz aus dem Häuschen! Zigarette?« Da ich wußte, daß Spannagel keine mehr hatte, hielt ich dem Alten meine Schachtel hin. »Nein, danke«, sagte er. »Das fehlt mir noch: Rauchen! Ich mach sonst schon beinahe alles, was einen vorzeitig unter die Erde bringt…« »So? Was denn?« fragte Spannagel. Der dicke Mann zog eine flache Flasche aus der Tasche und hielt sie uns vor die Augen. »Hier, zum Beispiel!« sagte er nur, schraubte den Verschluß auf, schnupperte an der Öffnung und setzte die Flasche an den Mund. Er hatte es gut im Griff, das sah man sofort. Horn wurde rasch ruhiger. Sein Mund bebte nicht mehr, das Zwinkern der Augen ließ nach, die Hände hörten auf zu zittern. »Alsdann, Herr Horn«, sagte Spannagel, »mal los! Was war das mit Konyas?« Der Mann runzelte die Stirn, als müsse er sich an etwas Verlorenes erinnern. »Tja«, sagte er schließlich, und seine Zunge verhedderte sich an seinen Zähnen, »das müssen Sie wissen: Es ist eine böse Sache – so eine Sache mit doppeltem Boden sozusagen, müssen Sie wissen! Der Stanko hat damit
bestimmt ein paar Dutzend mehr Leute auf dem Gewissen, als…« Jemand kam am Zelt entlanggelaufen. Der alte Horn brach ab. »He, Paul!« schrie der Näherkommende. »Was machst du hier? Los, Mensch, vorn gibt’s Arbeit – dalli!« Es war Paganini. Horn verschwand mit einem gemurmelten Fluch. Der Blonde trat zu uns. »Was wollte der Alte?« fragte er mißtrauisch. »Nichts. Wir haben ihn nach dem Wohnwagen von Konyas gefragt«, sagte Spannagel. »Ach so.« Ich glaubte, aus den zwei Silben Erleichterung zu hören. »Da drüben, neben dem Lichtmast«, erklärte er. Als wir uns zum Gehen wandten, rief er uns nach: »Lassen Sie sich bloß von dem alten Saufkopp nichts erzählen! Der spinnt ja die meiste Zeit!« »Ist schon recht«, sagte ich. »Und wenn er was über den Chef sagt«, rief Paganini noch, »dann können Sie sowieso die Hälfte streichen. Die konnten nicht miteinander, weil Paul immer besoffen war.« »Klar!« rief ich zurück. Paganini drehte um und lief davon. »Na ja«, sagte Spannagel, »die Hälfte reicht auch schon, um ein Gespräch mit dem alten Mann interessant zu machen.« »Wenn er mal nüchtern ist«, warf ich ein. »Im Wein ist Wahrheit«, sagte Spannagel. »Aber der Dicke zieht Korn vor.« Wir hatten nur noch einige Schritte bis zum Wohnwagen des toten Chefs, da öffnete sich dort die Tür, und die junge Frau trat rückwärts heraus. Sie war im Mantel; um den Kopf hatte sie sich ein helles Tuch gebunden. Sie zog einen hochrädrigen Kinderwagen heraus und schob ihn an die Seite der kleinen
Plattform. Dann verschwand sie wieder im Wohnwagen und kam mit einem großen Rohrplattenkoffer wieder, der offenbar sehr schwer war. Wir standen inzwischen stumm am Fuße des Treppchens. Sie bemerkte uns erst, als sie das Licht im Wagen gelöscht, die Tür zugemacht und abgeschlossen hatte. Aber sie erschrak nicht, als sie uns da stehen sah. »Ach ja«, sagte sie; »das hätte ich doch ganz vergessen: Sie wollten mich doch sprechen, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Spannagel. »Ich bin im Begriff, wegzugehen…« Sie deutete auf den Koffer und den Kinderwagen. »Wohin wollen Sie denn?« fragte Spannagel. »Zu meiner Mutter«, sagte sie. »Und wo, bitte, wohnt Ihre Frau Mutter?« Sie antwortete nicht sofort auf die Frage, sondern rangierte den Kinderwagen zur Treppe. »Würden Sie mir bitte helfen?« Ich faßte an und hob den Wagen mit ihr herunter. »Hier auf dem Platz«, sagte sie jetzt zu Spannagel. Und zu mir: »Danke!« Ihre großen Augen schienen auch im Dunkeln zu leuchten. Sie trippelte noch einmal die vier Stufen hinauf, um den Koffer zu holen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß, als sie ihn anhob. »Lassen Sie!« sagte ich, stieg hinauf und trug ihr den Koffer herunter. Er war sogar für mich ziemlich schwer. Wie sie damit von der Stelle kommen wollte, war mir ein Rätsel. »Oder darf ich das nicht?« fragte sie Spannagel. »Doch, sicher dürfen Sie«, gab er zurück. »Nur… Ich meine… Ich dachte…« Es war richtig rührend zu sehen, wie schüchtern und verlegen und unbeholfen er sein konnte… oder wirkte er nur so? »Wir haben noch ein paar Fragen«, sprang ich ein.
»Bitte.« Sie setzte sich auf den schweren Koffer und forderte uns mit einer Handbewegung zu den Stufen hin ebenfalls zum Sitzen auf. Spannagel nahm mit einem leisen Stöhnen Platz. Ich blieb stehen und lehnte mich ans Geländer. Spannagel fragte. Er fragte nur das Wesentlichste. Wußte sie etwas von Feinden, die ihr Mann möglicherweise gehabt hatte? Konnte sie sich einen Grund vorstellen, ein Motiv, weshalb ihm jemand ans Leben gewollt haben mochte? War er – nun – irgendwie verändert gewesen in der letzten Zeit – nervöser? – unruhiger? Hatte er Pläne gehabt? Wenn ja, hatte er darüber gesprochen… und so weiter. Die junge Frau antwortete überlegt, klar und bewundernswert gefaßt. Kein Schluchzen, keine Träne. Nur einmal zögerte sie, bevor sie Antwort gab, runzelte leicht die Stirn, senkte für zwei Sekunden den Blick, und dann sagte sie – noch leiser als sonst, aber genauso klar: »Nein, ich war nicht glücklich mit meinem Mann!« Spannagel schwieg eine kleine Weile, wohl weil er hoffte, sie würde mehr sagen. Aber sie sagte nichts; sie sah vor sich hin und versetzte mit der linken Hand den Kinderwagen behutsam in kleine Schaukelbewegungen, weil das Baby quengelte. »Ich will Sie jetzt nicht länger mit meiner Fragerei strapazieren«, sagte Spannagel, »aber es wird sich nicht vermeiden lassen, daß wir uns morgen und in den nächsten Tagen noch mal unterhalten.« »Selbstverständlich.« Sie stand auf. »Wollen Sie denn mit dem Wagen und dem Koffer zugleich weg – oder wie?« fragte ich. Sie war ein bißchen ratlos: »Vielleicht kann man den Koffer oben auf den Kinderwagen legen?« »Das glaube ich nicht…« Ich hob das Gut-und-gernDreiviertelzentner-Monstrum auf und versuchte, es quer über
den Wagen zu bugsieren, der darauf ächzend in die Knie ging, die Räder nach außen stellte und sich gefährlich nach dem Schiebegriff hin neigte. Das Baby fing an zu weinen. »Geht nicht«, sagte ich. »Nein«, pflichtete sie mir bei, schob die Unterlippe vor und sah mich an wie Kinder den Weihnachtsmann ansehen. »Ich bringe Sie hin«, sagte ich und hob den blöden Koffer wieder herunter. »Ist es weit?« »Fünf Minuten.« Sie lächelte ein ganz winziges Lächeln, so zauberhaft, daß ich zwei Koffer dafür geschleppt hätte. »Sie haben noch nichts an den Bandscheiben, wie?« knurrte Spannagel. »Nein«, erwiderte ich. »Warum?« »Warten Sie’s ab!« unkte er. Die junge Frau nickte ihm zu und schob mit ihrem Kinderwagen davon. »Merken Sie sich die Anschrift, Klipp!« wisperte Spannagel. »Und kommen Sie bitte noch einmal her, ja?« »Mach ich, Herr Spannagel«, sagte ich, hievte den Koffer auf die Schulter und folgte der jungen Witwe mit den reizenden Kniekehlen – pardon, mit den wundervollen Augen.
Natürlich kam ich mir reichlich komisch vor, als ich da, hinter einer fremden, wenn auch sehr hübschen jungen Frau mit Kinderwagen durch die Rummelplatzmenge lief, einen Fünfundvierzig-Kilo-Koffer auf der allmählich schmerzenden Schulter, und langsam ins Schwitzen kam. Die Leute guckten mich verblüfft an, einige machten dumme Bemerkungen, wie: »Haben Sie da ‘n Karussell drin?« oder »Schneller, Mann! Ihr Schiff fährt in drei Minuten!« oder »Einer trage des andern Last!« und ähnliches. Es war das reinste Spießrutenlaufen.
Und schließlich lief mir auch noch das grünäugige Mädchen über den Weg, für das ich vorhin den blauen Teddybären geschossen hatte. Sie trug das Stoffviech noch immer an sich gedrückt, ihre linke Hand aber ruhte indessen in der Hand des großen, strubbelhaarigen Jungen, den sie Charly genannt hatte. »Hallo!« rief sie erstaunt, als sie mich entdeckte. »Da ist ja mein Null-Null-Fünf-Kunstschütze! Sind Sie unter die Gepäckträger gegangen?« »Nur stundenweise!« gab ich zurück und dachte, daß die fünf Minuten wohl schon um sein müßten. Mir kam’s wie ein Tagesmarsch vor, und der Scheißkoffer wurde von Minute zu Minute schwerer. Ich würde morgen bestimmt einen schiefen Hals haben und die entsprechenden Frotzeleien im Büro zu hören kriegen. »So, da sind wir«, sagte die junge Frau Konyas über die Schulter. Ich hob den Blick. Vor mir leuchtete das blau angestrahlte Schild: MADAME SYLVIA SAGT IHNEN DIE WAHRHEIT! Ich war so verdutzt, daß ich beinahe den Koffer hätte fallen lassen. Vorsichtig ließ ich ihn herab und setzte ihn auf die unterste Stufe des zierlichen Treppchens mit dem Baldachin, probierte, ob sich meine Schulter noch bewegen ließ, stellte zufrieden fest, daß dies der Fall war und wandte mich an Frau Konyas: »Sind Sie hier zu Hause?« »Ja«, sagte sie, »Madame Sylvia ist meine Mutter.« Die Bemerkung lag mir auf der Zunge, sie hätte sich von ihrer Mutter vor der Eheschließung mal die Karten legen lassen sollen – aber ich sagte es natürlich nicht. Das Trauerjahr war ja noch nicht rum.
»Ich trag Ihnen das Ding nach oben. Ist ja blödsinnig schwer, der Koffer! Was haben Sie da eigentlich drin – Blei?« Die Wohnwagentür ging auf. Madame Sylvia alias Thea Riethmüller, die Mutter der jungen Frau mit den großen, schönen Augen, die Großmutter des Babys, die Schwiegermutter des erschossenen Geisterbahnchefs, die Wahrsagerin, Kartenleserin, Handliniendeuterin, erschien – und ich erschrak. Sie sah aus, als ob sie in den anderthalb Stunden, seit ich sie verlassen hatte, zehn Jahre älter geworden wäre. »Komm rein, mein Kind«, sagte sie. »Ich weiß schon.« Mir kam der unehrerbietige Gedanke, daß sie ja schließlich von Berufs wegen eben dazu verpflichtet war; ich rief mich zur Ordnung, unterdrückte ein unangebrachtes Grinsen und hastete den Koffer hinauf. Madame Sylvia blickte mich aus kurzsichtigen Blinzeläugen an, unter denen jetzt tiefe, dunkle Schatten lagen, und sagte: »Sie hab ich doch… Sind Sie nicht der Herr Klipp, mit dem komplizierten Beruf?« »Ja«, ächzte ich und hätte gern gewußt, wohin ich mit diesem idiotischen Koffer sollte. »Kommen Sie rein!« sagte sie. »Und du bringst den Jungen am besten erst mal im Kissen rauf. Den Wagen laß stehen, den schieben wir nachher unter die Treppe, Tony!« rief sie ihrer Tochter zu. Tony? Antonia wahrscheinlich. »Warum schleppen ausgerechnet Sie den Koffer meiner Töchter? Gehört dies zu Ihren Dienstpflichten, Herr Klipp? Ist doch richtig: Klipp, nicht wahr?« »Ja, Klipp!« bestätigte ich mit meiner letzten Luft. »Wohin soll ich das Ding stellen?« »Hinter den Vorhang dort, bitte.«
Ich schleppte den knappen Zentner noch sieben Schritte und stellte ihn sehr behutsam auf den Fußboden, weil ich Sorge hatte, der würde sonst glatt durchbrechen. »Es ist eher ein Zufall«, sagte ich, »als Diensteifer, wodurch ich in die Geschichte verwickelt bin… Woher wissen Sie es übrigens schon?« »Einer der Arbeiter kam, gleich nachdem mein Schwiegersohn gefunden worden war. Ich habe ihm aufgetragen, meiner Tochter zu sagen, daß sie hierherkommen soll mit dem Kind. Es ist das beste.« »Ja«, sagte ich. »Ich kann Ihnen ja nicht gut ein Trinkgeld anbieten, Herr Klipp – aber einen Schnaps trinken Sie mit mir, ja?« »Gern«, sagte ich. Es war die volle Wahrheit. Weshalb sieht sie bloß so elend aus? dachte ich. War das der Schock? Doch wohl kaum… Alle benahmen sich sonderbar, fand ich. Die Reaktionen stimmten nicht. Oder entsprachen sie nur nicht meinen handgestrickten Vorstellungen von angewandter Psychologie? Tony kam mit dem Kind, sah mich nett, aber nur flüchtig an, verschwand hinter dem dunkelblauen Samtvorhang. Das Kind schlief in ihren Armen. »Nehmen Sie Platz, Herr Klipp«, sagte Madame Sylvia. Sie holte aus einem Wandschrank eine Cognacflasche und zwei Gläser. »Ja, aber… Ich wollte eigentlich nicht…« Mir fiel Spannagel ein. »Seien Sie kein Frosch!« sagte sie. »Setzen Sie sich!« Ich setzte mich unter das Foto von Hans Albers auf die Eckbank. Sie goß dänisch ein – mit einem Haufen drauf. Der Cognac duftete. Sie setzte sich mir gegenüber und hob ihr Glas: »Prost!« »Prost!« sagte ich. Wir tranken.
Plötzlich verzog sie ihr müdes Gesicht, senkte den Kopf nach vorne, daß die weißen Haare auf ihren buntseidenen Kimono fielen, und preßte die Hände vor den Leib. Ich sprang auf. »Was ist? Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich. Sie richtete sich schon wieder auf. Ihr Gesicht, eben noch wachsbleich, hatte jetzt einen Schimmer Röte. »Danke – nein!« sagte sie leise und legte mit einem Blick zu dem Vorhang hin den Finger an die Lippen. »Danke, Herr Klipp; mir kann keiner helfen… Lassen Sie nur, es geht vorüber.« Ich setzte mich nicht wieder – ich hatte einfach keine Lust auf noch mehr Schicksal, als mir in den letzten Stunden schon begegnet war. »Auf Wiedersehen!« sagte ich. »Und schönen Dank für den Schnaps… Grüßen Sie Ihre Frau Tochter; sie soll die Ohren steifhalten!« »Ich werde es ihr ausrichten«, gab sie zurück, »und ich werde ihr helfen, so gut ich kann.« »Fein«, sagte ich, schon an der Tür. »Im übrigen muß ich Ihnen ein Kompliment machen. Ihre Karten haben gestimmt – bis jetzt wenigstens. Sie haben mir was von Ärger, Aufregung, bösem Trubel über den kurzen Weg vorhergesagt. Und ein dunkler Herr lag mir im Haus, vor dem ich mich vorsehen sollte… War’s nicht so?« »Kann sein«, murmelte sie abwesend. »Das erste ist schon eingetroffen«, sagte ich, »nun warte ich noch auf den gefährlichen dunklen Herrn – und natürlich auf die Herzdame in der Diagonalen… Wiedersehen!« »Toi, toi, toi!« sagte sie und bewegte winkend die Finger ihrer rechten Hand.
Ich ging durch die Gebrannte-Mandeln-, Bratwurst-, Türkischer-Honig- und Backhuhn-Gerüche, zwischen den
hunderttausend Lichtern und Geräuschen hindurch wieder zur Geisterbahn, die dunkel mitten in Lärm und Neongeflimmer lag. Wie eine Zahnlücke. Die Menge der Neugierigen hatte sich bis auf ein paar Unentwegte verlaufen. An dem Kassenhäuschen mit dem Pappschild AUSSER BETRIEB lehnte der baumlange Polizist und gähnte vor sich hin. Durch die graue Leinwand schimmerten die nackten Birnen der Arbeitsbeleuchtung im Innern des Zeltes. Der häßliche Riese stand wieder unbeweglich mit gesenktem Kopf und ließ die Arme im leisen Nachtwind baumeln. Als ich an dem Polizisten vorbeikam, fragte er mich: »Wird das wohl noch lange dauern?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich hab doch nämlich eigentlich schon Feierabend. Und meine Frau hat Geburtstag. Sie wird ganz schön sauer sein, fürchte ich.« »Da gibt’s nur eine Lösung«, riet ich: »Sie soll das nächste Mal einen Lehrer heiraten; die sind ab mittags zu Hause.« »Ich werd’s ihr sagen«, meinte der Polizist und versuchte zu lächeln. Aber er war auch dazu zu müde, wie es schien. Hinter der zerschrammten Klapptür mit dem Skelettporträt fand ich Spannagel im Gespräch mit einem ziemlich großen Mann – nein: Herrn, bei dem mir als erstes eine Eleganz auffiel, die sich zwischen den Gespensterkulissen ausnahm wie eine Sahnetorte im Fenster eines Flickschusters. Der Herr trug zu einem taillierten Mantel mit Revers nach dem neuesten Schnitt – eine Art Halbzylinder und silbergraue Schläfen. Seine Hände, mit denen er den Fluß seiner Rede gestenreich begleitete, waren in gelbes Schweinsleder gehüllt; um den Hals bauschte sich ihm ein Schal – aber nein, kein Schal – ein seidenes Cachenez in Weinrot, mit lauter kleinen silbernen Löwen bestickt. Ich konnte nicht genau erkennen, ob
es so heraldische Löwen mit rausgestreckter Zunge waren. Ich als Löwe hätte diesem Herrn bestimmt die Zunge herausgestreckt. Der Herr unterbrach seinen Monolog, als ich hinzutrat, und sah mich mit schiefgelegtem Kopf und etwas angehobener linker Augenbraue prüfend an. »Das ist Herr Klipp, ein Kollege«, stellte Spannagel vor, »und das ist Herr Zink, der Besitzer der Geisterbahn und einiger weiterer Unternehmen ähnlicher Art.« »Sechzehn«, sagte Herr Zink. »Sehr angenehm«, log ich laut, ohne rot zu werden. »Wie?« Herr Zink stutzte. »Ach so – pardon! Ich wollte sagen… Es ist mir natürlich ebenfalls außerordentlich angenehm, Sie kennenzulernen, Herr… Herr…« »Klipp«, half ich, wie fast immer. Mein Name ist so einfach, daß es die Leute meist nicht glauben. »Herr Klipp!« sagte Herr Zink. »Mit sechzehn meinte ich die Anzahl meiner Betriebe, sozusagen. Verstehen Sie?« »Ich verstehe«, sagte ich ungerührt. »Lauter Geisterbahnen?« »Aber mitnichten!« Herr Zink warf das Köpfchen schelmisch ins Genick. »Zwei Geisterbahnen, vier Auto-Scooter-Anlagen, drei Raupenbahnen, zwei Go-Cart-Rennbahnen und noch fünf verschiedene andere – eine ›Tolle Maus‹ ist dabei und ein ›Wippthewapp‹, falls Sie das kennen.« »Nein«, sagte ich, »ich kenne das Wippthewapp nicht. Sie, Herr Spannagel?« »Bedaure, ich auch nicht«, sagte Spannagel. Wir tauschten einen Blick. Ich hatte große Mühe, nicht loszulachen. Herr Zink hob die linke Seite seiner Oberlippe. Er konnte allerhand mit der linken Seite seines Gesichts. Ein Stückchen Goldzahn glitzerte. »Das Wippthewapp ist ein Schlager!« begann er. »Es besteht aus sieben Stahlträgern, die an jedem Ende eine Art Kabine…«
»Bitte, Herr Zink«, fiel Spannagel ein, »bei Gelegenheit gern – es interessiert mich wirklich außerordentlich. Aber im Augenblick, verstehen Sie, geht es doch um andere Dinge.« »Aber gewiß, Herr Kriminalrat – verzeihen Sie!« rief Zink beflissen. »Wissen Sie, mein Beruf – das ist mein Lebensinhalt; da geht’s eben manchmal mit einem durch… Verzeihen Sie.« Er machte eine Verbeugung, bei der er so nahe an mich herankam, daß ich die Löwen auf seinem seidenen Cachenez erkennen konnte. Sie streckten die Zunge raus. Es war mir ziemlich egal. Ich merkte plötzlich, daß ich hundemüde war. »Gibt’s noch was für mich, Herr Spannagel?« fragte ich. »Eigentlich nicht«, sagte Spannagel. »Wir sind für’s erste soweit fertig. Herr Zink will die Geisterbahn abbauen und woanders hinfahren lassen – gleich morgen früh, wenn ich recht verstanden habe?« »Morgen früh lasse ich abbrechen und verladen«, sagte Herr Zink. »Es erscheint vielleicht… eh, übertrieben – der Festplatz hier ist noch einige Tage geöffnet, acht oder gar zehn, ich weiß jetzt nicht – aber… Also, da spielen Dinge mit, die gewissermaßen, eh, ans Mystische rühren, verstehen Sie?« »Wie bitte?« fragte Spannagel erstaunt. »Ans Mystische?« »Ja… Aberglauben, wenn Sie so wollen, meine Herren. Wir Schausteller arbeiten nur ungern dort weiter, wo der Tod… na, Sie wissen schon!« Der blonde Bursche mit Rockerlocke und dem herrlich unpassenden Namen kam um eine Kulisse gebogen. »Was gibt’s?« fragte Herr Zink. »Haben Sie schon bei der Bahn gefragt, wann wir auf der Rampe sein müssen, Chef?«
Der junge Mann hatte das letzte Wort noch nicht richtig über die Lippen gebracht, als Zink ihn anschrie: »Sie sind wohl nicht ganz dicht, Paganini! Ich? Habe ich Sie zum Nachfolger von Konyas gemacht, damit ich Ihnen die Arbeit abnehme? Kümmern Sie sich gefälligst selber um Ihre Verladerei, zum Kuckuck… und ein bißchen hopp, wenn ich bitten darf!« Das war ein völlig verwandelter Zink. Aus dem beflissenen Lächler war mit einem Schlag ein zeternder Tyrann geworden. Paganini duckte sich richtig unter der schneidenden Stimme, stammelte irgendwas und ging davon wie ein geprügelter Hund. Zink las in unseren Gesichtern offenbar die Verblüffung. »Man muß mit den Leuten so umgehen«, sagte er und lüpfte wieder die Oberlippe. »Sonst werden sie aufsässig!« Spannagel nickte nur. Ich gab ihm die Hand. »Alsdann…« sagte ich. »Schönen Dank, Herr Klipp«, sagte er, »Sie haben mir sehr geholfen! Ich denke, wir sehen uns bald wieder? Auch mal privat bei einem Glas Wein, wie?« »Gern!« erwiderte ich und freute mich. Als ich die Geisterbahn verließ, begannen auf dem Rummelplatz schon einzelne Lichter auszugehen. Es war nicht mehr viel Publikum da. Die Bratwurstverkäufer löschten ihre Feuer, aus Professor Galattis Raritäten-Kabinett kamen die letzten Besucher. Der Muskelmann mit dem Leopardenfell, der als Stier von Odessa für heute Feierabend hatte, trat neben der Schaubude hervor, zog den Schal unter dem verschlissenen Dufflecoat fester und ging mit breiten Stelzschritten ein Stück vor mir her. Madame Sylvias Wohnwagen war dunkel. Unter dem Treppchen mit dem Baldachin stand der hochbeinige Kinderwagen ihrer heute verwitweten Tochter.
Ich lag um halb eins im Bett und schlief sehr schnell ein. Kurz nach sechs riß mich das Telefon aus einem irgendwie verrückten Traum, in dem tanzende Skelette und kleine Wagen mit blutigen Ungeheuern eine unklare Rolle gespielt hatten. Ich meldete mich schlaftrunken, war aber sehr schnell wach, als ich die Stimme erkannte. »Hallo – Klipp? Tut mir leid, daß ich Sie wecke – aber… eh, Spannagel hier. Bitte, fahren Sie möglichst sofort zur Geisterbahn! Da ist ein seltsamer Unfall geschehen. Der alte Horn ist schwer verletzt. Ich kann nicht. Mein Rücken ist so schlimm, daß ich mich nicht bewegen kann. Und mein Kollege weiß doch nicht Bescheid… Geht das?« »Klar!« sagte ich. »Ich fahre gleich hin!« Als ich aufgelegt hatte, sagte ich leise zu mir selbst: »Verdammter Bockmist, verdammter!« Aber ich sagte es gar nicht aus so vollem Herzen wie sonst, wenn ich morgens aus dem Schlaf gerissen werde.
6
Unausgeschlafen fuhr ich durch die neblige Frühe zum Rummelplatz, parkte mein Auto am Eingang neben dem hölzernen Bogen, dessen bunte Lichterketten erloschen waren, und lief die schwarzgrauen, stillen Budenreihen entlang. Ein Rummelplatz, der nicht rummelt, ist das Trostloseste, was es gibt, und ich zweifelte stark am Wahrheitsgehalt deutschen Spruchweistums: Wieso ausgerechnet hier Morgenstunde Gold im Munde haben sollte, war nicht einzusehen. Vor der Geisterbahn – oder richtiger: Vor dem Rest der Geisterbahn standen ein Peterwagen und ein ziviler Mercedes. Ich hätte, amtlich, wie ich kam, ruhig bis hierher fahren sollen. Aber ich hatte, als braver Bürger, das Verbotsschild am Eingang respektiert. Na ja… Von dem Zeltbau stand nur noch das Gerippe. Die Leinwandbahnen waren schon abgenommen. Sie lagen in großen, knittrigen Klumpen umher, als habe ein Goliath irgendwas in Eile ausgepackt und die Paketumhüllung zerknüllt auf die Erde geworfen. Die nackten 500-Watt-Birnen schwammen im Dunst und hatten Mühe, die ganze Abbaustelle zu erleuchten. Der scheußliche Riese lag, in vier Teile auseinandergenommen, vor den Podeststufen. Seine Glotzaugen blickten blind in den Mehlsuppenhimmel, aus dem Inneren seines Kopfes hingen Drähte und Kabel. In den Wohnwagen war Licht. An einem Lkw-Anhänger lehnten gestapelt die Kulissen mit den aufgemalten Skeletten und Gespensterfratzen. Daneben stand eine Gruppe Menschen. Es war nichts zu hören, nicht mal ein Husten oder Murmeln –
nichts. Ich ging darauf zu, stolperte über Leichtmetallgestänge, das kreuz und quer auf dem zertretenen Gras lag, und verursachte dabei solchen Lärm, daß sich mir die Gesichter der Leute alle gleichzeitig zuwandten. Der Polizist mit weißer Mütze löste sich aus der Gruppe und kam mir entgegen. »Was wollen Sie?« herrschte er mich scharf, aber leise an. »Klipp, Kriminalpolizei«, sagte ich, »Kriminalrat Spannagel hat mich angerufen…« »Ach so«, sagte er. »Also, der Mann ist schwer verletzt. Der Arzt ist gerade gekommen.« Der Kreis öffnete sich. Ich ging durch die Menschen. Es roch nach Tabak, ungelüfteten Kleidern und – sekundenlang glaubte ich es in der Nase zu spüren – eigentümlich süßlich wie nach einem angebrannten Gewürz… Ingwer, Zimt – was weiß ich. Ich vergaß diesen seltsamen Geruch auch sofort, denn ich sah im Innern des Kreises den alten Mann liegen. Sie hatten ihn auf eine zerfledderte Decke gelegt und ihm eine zusammengerollte Jacke unter den Kopf geschoben. Sein Gesicht war unwirklich weiß, fast gespenstisch. Das strubbelige graue Haar stand an der linken Seite in Zipfeln in die Höhe; rechts aber war es feucht und dunkel und klebte in der Stirn. Er hatte die Augen geschlossen und atmete rasselnd. Neben ihm kniete ein rundlicher Herr, der die linke Hand des Liegenden zwischen seinen Händen hielt und ihm den Puls fühlte. Jetzt legte er den Arm behutsam so auf den Leib des Alten, daß sich die beiden Hände kreuzten. Die Finger der schwieligen, verarbeiteten Hände zuckten, krümmten sich, krallten sich in den Stoff der Jacke, lockerten sich wieder und krallten sich von neuem in den Stoff. Der rundliche Herr hob behutsam ein Augenlid des Alten, ließ seine helle Hand über das zerfurchte weiße Gesicht gleiten,
legte sie einen Augenblick an die Halsschlagader und richtete sich auf. Er wandte sich an den zweiten Polizisten, der hinter ihm stand. »Wo bleibt denn der Krankenwagen, zum Donnerwetter?« fragte er leise. »Muß jeden Moment kommen, Herr Doktor!« erwiderte der Polizist. »Wir haben ihn vor zehn Minuten über Funk angefordert.« »Der Mann muß schnellstens ins Krankenhaus!« sagte der Arzt. »Wenn es nicht überhaupt zu spät ist«, fügte er flüsternd hinzu. »Ich kann hier nichts für ihn tun – Schädelbruch.« In diesem Moment, wie auf Stichwort, war die Sirene des Unfallwagens zu hören. Gleichzeitig drängte sich jemand zwischen mir und dem anderen Polizisten hindurch in den Kreis. Es war Tony Konyas. Sie trug einen dicken, grobmaschigen Rollpullover und lange Hosen. Ohne von mir oder sonstwem Notiz zu nehmen, kauerte sie sich neben den Alten, faßte nach seinen Händen und rief seinen Namen. »Paul… Onkel Paul!« rief sie. »Was ist denn passiert?« Sie schluchzte. Der Alte wurde unruhig; seine Hände faßten die ihren, sein Kopf wandte sich ihr zu. Ich sah, daß seine rechte Gesichtshälfte blutüberströmt war und daß man ihm eine dicke Lage Verbandmull über das rechte Ohr gelegt hatte. An zwei Stellen war der Verband schon rot gefleckt: Ich sah mich um. Hinter mir stand Paganini. »Was ist geschehen?« fragte ich den Blonden. Die Sirene näherte sich. Paganini schob das Kinn vor, als sei ihm der Kragen zu eng, obschon er gar keinen umhatte. »Keine Ahnung«, murmelte er.
»Der Karl hat ihn gefunden…« Er zeigte mit dem Daumen auf einen schmalen, unrasierten Burschen in einer schwarzen Lederjacke, der auf der gegenüberliegenden Seite stand, die Hände tief in den Taschen und einen toten Zigarettenstummel im Mundwinkel. Ich ging um die kauernde Tony, die immer noch schluchzend: »Paul! Paul!« flüsterte, herum und fragte den Unrasierten: »Sie haben ihn gefunden?« »Ja«, sagte er und spuckte den Zigarettenstummel aus. »Vor einer halben Stunde ungefähr.« Die Unfallsirene war jetzt ganz nah. In einigen entfernteren Wohnwagen, die nicht zur Geisterbahn gehörten, flammte Licht auf. »Und wo?« fragte ich. »Wie? Was ist passiert? So reden Sie doch, Mann!« Er schickte einen schrägen Blick zu Paganini, der aufmerksam herübersah und sagte zögernd: »Im Zelt. Wir hatten die Leinwand schon halb runter und legten vorn die Eckmasten um. Da hab ich was poltern hören. Aber ich hab mich nicht gleich drum gekümmert – poltert ja immer mal was, nicht wahr? Aber dann hab ich gemerkt, daß es drüben an der Ecke, wo Paul die Verspannung losmachen sollte, nicht weiterging – und sehen könnt ich ihn auch nicht mehr…« Der Unfallwagen bremste scharf vorn vor dem demontierten Riesen. Türen klappten. Einer der zwei Polizisten ging den Männern entgegen, die mit einer Tragbahre neben dem Wohnwagen in Sicht kamen. »Tja«, fuhr der Lederjackenbursche fort, »und da bin ich rüber, um nachzugucken – und da lag Paul. Direkt neben der Leiter lag er. Und neben seinem Kopf eins von den schweren Winkeleisen, die oben an den Eckbalken eingehakt sind – die das Gestänge tragen, ja? Er hat so komisch gestöhnt… Gesagt
hat er nichts. Ich hab die anderen gerufen. Wir haben ihn hierhergeschafft, und einer ist los zur Wache…« Er hielt inne. »Ja, das war’s eigentlich.« »War denn, als ihn das Eisen traf, niemand in seiner Nähe?« fragte ich. »In seiner…« Er überlegte. »Nee, da war keiner. Ich war am nächsten dran.« »Und das Eisen ist ihm also von oben auf den Kopf gefallen, glauben Sie?« »Muß ja wohl, nicht?« Der Bursche fing an, sich eine neue Zigarette zu drehen. »Wie schwer ist so ein Eisen?« wollte ich wissen. »Na – so Stücker zwanzig Pfund vielleicht.« »Holen Sie mir doch mal das Eisen, das neben ihm lag«, sagte ich. »Mal sehen, ob’s noch da liegt«, erwiderte er und wollte los. »Warten Sie – ich komme mit!« sagte ich. »Wenn Sie meinen, Herr Kommissar!« Er machte kehrt; ich wollte ihm gerade folgen – aber da riß mich ein Schrei herum. »Nein!« schrie Tony und klammerte sich an den Alten, den die Männer vom Unfallwagen auf die Bahre heben wollten. »Was denn, Fräulein!« sagte der eine. »Machen Sie doch keinen Unsinn!« »Nein!« wiederholte die junge Frau. »Er soll nicht – er darf nicht sterben… Hören Sie!« »Ja, ja – natürlich«, sagte der Mann. »Deshalb holen wir ihn ja!« Der Arzt legte Tony die Hand auf die Schulter: »Beruhigen Sie sich!« sagte er. Tony Konyas ließ den Alten los und sank weinend in sich zusammen. Der alte Paul Horn wurde auf die Bahre gehoben. Plötzlich öffnete er weit die Augen und ließ sie über die
Umstehenden gehen. Er wirkte ganz klar, und als er mich sah, sagte er mit überraschend lauter Stimme: »Herr Kommissar, ich… Ich muß Ihnen… Ihnen was sagen!« Er stöhnte. Ich beugte mich über ihn. Er packte meinen Ärmel. Bebende Finger zerrten an meinem Mantel. »Was ist denn, Herr Horn?« sagte ich. »Lassen Sie doch jetzt. Wir können morgen…« »Ich… ich weiß…« stammelte er; seine Stimme war jetzt rauh und kam tief aus der schwer atmenden Brust. »Ich weiß, warum Stanko… Und jetzt haben sie mich auch… Das… das verfluchte Zeug… Verbrecher… Aufpassen… Gefährlich!« Die nächsten Worte waren unverständlich. Er warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Doppelt… der Boden…« gurgelte er noch. Dann kippte sein Kopf zur Seite; er atmete tief ein, und seine Augen wurden starr. Eine Sekunde oder zwei hing seine Hand noch an meinem Ärmel, dann löste sich der Griff, und sie fiel mit dumpfem Aufschlag neben der Bahre ins Gras. »Onkel Paul!« wimmerte Tony Konyas. »Onkel Paul!« Dann richtete sie sich auf und sah sich mit funkelnden Augen im Kreis um. »Ihr habt ihn umgebracht!« keuchte sie. »Ihr… Ihr… Ihr Schweine, Ihr! Ihr habt…« Ihre Stimme wurde immer lauter: »… Ihr habt ihn ermordet!« kreischte sie schrill. Dann brach sie zusammen. Aus den Reihen der Männer kam kein Laut. Die Polizisten sahen sich ratlos an. Der Arzt faßte nach Paul Horns Handgelenk, behielt es für fünf endlose Sekunden zwischen den Fingern, legte die Hand des Toten dann auf dessen andere Hand und schloß ihm die Augen. »Kommen Sie, Frau Konyas!« sagte ich und nahm die lautlos Weinende an den Schultern. »Ich bringe Sie zu Ihrer Mutter.«
Sie ließ sich ohne Widerstand aufrichten. Ich nahm sie am Arm und führte sie aus dem Kreis, der sich stumm öffnete. »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich über die Schulter zu Paganini, der uns anstarrte, als wir an ihm vorübergingen. »Bis dahin wird nichts verändert, klar?« »Jawohl!« sagte er und fuhr sich mit dem Rücken seiner dicken Hand übers Gesicht, als ob er einen bösen Traum wegwischen wollte. Ich sah auf die Uhr. Es ging auf sieben. Eigentlich hätte es schon hell sein müssen, aber der dichter werdende Nebel verlängerte die Dämmerung. Am Rande des Geisterbahnplatzes, zwischen den Wohnwagen, dem Zeltgerüst, und vor den angrenzenden Buden standen tuschelnde Gruppen, die von der Sirene des Unfallwagens geweckt und angelockt worden waren. Ich schlug meinen Mantelkragen hoch, aber das half nicht viel gegen die nasse Morgenkühle, gegen meine Unausgeschlafenheit und schon gar nicht gegen die Depression, in die ich geraten war… Vor weniger als zehn Stunden hatte ich zusammen mit Tony Konyas den gleichen Weg gemacht wie jetzt. Ich zweifelte, ob es der gleiche Weg gewesen war, denn alle äußeren Umstände waren anders gewesen. Statt naßgrauer Dunkelheit hatte buntes Lichtergeflimmer geherrscht, die triste Leere der Budenstraßen war vom Trubel vergnügter Menschen erfüllt gewesen, und wo es jetzt nach Rauch und Kanalisation roch, hatten Bratenfettschwaden geschwebt. Auch die junge Frau, die jetzt neben mir lief – stolpernd und langsam, mit hängendem Kopf –, war vor knapp zehn Stunden nicht die gleiche gewesen. Da war ich, leise fluchend, mit einem schweren Koffer auf der Schulter, hinter einer erstaunlich gefaßten, zielsicher ausschreitenden jungen Frau hergegangen,
bei der man weder am Gesichtsausdruck noch an der Haltung hätte erkennen können, daß sie soeben Witwe geworden war… Das war’s, was mich beschäftigte und zugleich deprimierte: Wieso wirkte sie jetzt gebrochener, mitgenommener, unglücklicher, fassungsloser, als beim Tode ihres Mannes? Wieso ging ihr das schreckliche Ende des alten Paul Horn offenbar mehr unter die Haut, als das ebenso schreckliche, wenn auch schnellere Ende Stanko Konyas’? »Woher wußten Sie von dem Unfall?« fragte ich, weil mir das schweigsame Nebeneinandergehen auf die Nerven fiel. »Bertha hat Bescheid gesagt«, erwiderte sie mit heiserer Stimme. »Bertha ist die…« »Ich weiß«, warf ich ein. »Die Kassiererin.« »Ja«, sagte sie, »und die einzige Frau außer mir.« Ich schwieg. »Sie hat auch für alle gekocht«, fuhr Tony Konyas fort. »Die Küche und das, was sie Büro nannten, und auch Berthas Behausung ist der eine Wohnwagen. Sie kocht gut. Sogar die Männer haben eigentlich nie gemeckert…« Ich hatte das Gefühl, als ob sie nur redete, um mich von weiteren Fragen abzuhalten. »Waren Sie mit Paul Horn verwandt?« fragte ich deshalb dazwischen. »Nein«, sagte sie. »Wieso? Weil ich ›Onkel Paul‹ gesagt habe? So hieß er bei allen. Er war der Älteste und schon seit zehn Jahren dabei.« »Hatte er Streit mit Ihrem Mann?« Es dauerte zwei Sekunden zu lange, bis ihre Antwort kam. »Nein… Ich weiß jedenfalls nichts davon.« Wieder fing sie an zu weinen, flüchtete in die Tränen mit dem Instinkt der Frauen, die wissen, daß Tränen die meisten Männer hilflos, wehrlos, ratlos machen.
Der Unfallwagen überholte uns. Er hatte die Sirene ausgeschaltet. Es war gleichgültig, ob Paul Horn ein wenig früher oder später eingeliefert wurde. Tony schlug die Hände vors Gesicht. »Kommen Sie!« sagte ich und faßte sie wieder am Arm. Aus einem der Wohnwagen hinter der Achterbahn, an der wir gerade standen, trat ein dicker Mann mit herabhängenden Hosenträgern und reckte die Arme. »Mach die Tür zu, Arthur!« rief eine rauhe Frauenstimme aus dem dunklen Inneren des Wagens. Der Dicke verschwand. Er mußte die Holztür zweimal zuschlagen, ehe sie geschlossen blieb. Irgendwo zwischen den Buden krähte auf einmal ein Hahn. Der Hahnenschrei war so überraschend und fehl am Platze wie ein Kichern in der Kirche. »Hören Sie – ein Hahn!« sagte ich. »Es gibt ein paar, die halten Hühner«, sagte Tony. Und da antwortete auch schon ein zweiter Hahn. Wir gingen weiter. Ich brauchte dreißig Schritte, um meine Verblüffung zu überwinden. Die Scheinwerfer eines zweiten Wagens erfaßten uns von hinten. Ich ließ Tonys Arm los und wandte mich um. Es war der Mercedes des Arztes. Er hielt neben uns. Der Doktor beugte sich nach rechts und drehte das Fenster auf. »Augenblick, bitte«, sagte ich zu Tony und trat an das offene Fenster. »Was gibt’s, Herr Doktor?« »Ich weiß nicht, an wen ich meinen Bericht schicken soll«, sagte er, »auch die Polizisten wußten es nicht. Ich sollte warten, bis Sie zurück sind – aber das konnte ich nicht. Ich muß noch Besuche machen vor der Praxis. Ich habe meine Karte dagelassen. Rufen Sie mich an, Herr Kommissar?« »Ja«, sagte ich. »Es wird das Beste sein, wenn ich Sie anrufe.«
»In Ordnung«, sagte er, legte zwei Finger grüßend an den Hutrand, drehte das Fenster wieder zu und fuhr davon. »Doktor Heilmann«, sagte Tony Konyas. »Hübscher Name für einen Arzt«, gab ich zurück. »Kennen Sie ihn?« »Ja. Seine Praxis ist ganz in der Nähe. Ich bin mit meiner Mutter bei ihm gewesen, als wir im Frühjahr hier waren. Er hat sie dann noch zum Röntgen geschickt. Er ist so quasi der Rummelplatz-Doktor hier…« »Aber gestern abend war er nicht da«, sagte ich. »Nein – es ist ein Polizeiarzt gewesen, glaub ich«, sagte sie. Wir hatten Madame Sylvias Wagen erreicht. Das Schild, auf dem die Wahrheit angepriesen wurde, lag noch im Dunkel, aber hinter den Holzladen, die vor die kleinen Fenster geklappt waren, schimmerte Licht. Wir blieben vor dem Treppchen stehen. Tony Konyas sah mich mit ihren großen Augen, die jetzt ein bißchen verweint waren, ein paar Sekunden stumm an. Dann gab sie mir die Hand. »Sie sind sehr nett, Herr Klipp«, sagte sie. »Ich habe noch keinen so netten Polizeibeamten kennengelernt.« »Danke«, erwiderte ich. »Ich weiß zwar nicht genau, ob das ein Kompliment ist – aber…« »Doch!« sagte sie, »ich meine das ehrlich so. Wir haben erst einmal mit der Kriminalpolizei zu tun gehabt. Das war kurz nach meiner Heirat – vor anderthalb Jahren. Da war irgendwas mit meinem Mann – irgendwas… Ich weiß wirklich nicht was. Aber da war keiner der Beamten so… so… Na, so wie Sie. Die waren alle so… Ja, korrekt waren sie. Korrekt – und kalt und unpersönlich. Sie sind… Sie sind gar kein Beamter, Herr Klipp.« Ich mußte lächeln und merkte plötzlich, daß ich noch immer ihre Hand hielt. Aber sie entzog sie mir auch nicht. Wenn uns
einer da im Morgengrauen hätte stehen sehen, Hand in Hand, der wäre gewiß nicht auf den Gedanken gekommen, daß es sich um einen rein dienstlichen Vorgang handelte. Normalerweise pflege ich auch nur äußerst selten mit Zeuginnen so vor Haustüren zu stehen. Und ich ließ die schmale, zarte Hand der schmalen, zarten WahrsagerinnenTochter ganz schnell los. »Eine Frage werden Sie mir noch beantworten müssen, Frau Konyas«, sagte ich und gab mir Mühe, meinen Worten die nötige Nüchternheit zu verleihen, ohne allzu korrekt, unpersönlich oder gar beamtenhaft zu erscheinen. »Ja?« sagte sie leise. Das kleine Lächeln, das zuletzt um ihre Mundwinkel gespielt hatte, verschwand wie ein scheuer Fisch in der Tiefe des Teiches. »Warum haben Sie vorhin gesagt, Paul Horn sei ermordet worden?« Sie schloß die Augen, als hätte sie Schmerzen. »Hab ich so was gesagt?« fragte sie flüsternd. Ihr Blick wanderte über mein Gesicht. ›Hilfe‹ sagte der Blick. Ich konnte ihr nicht helfen. Ich nickte. »Ich… ich war außer mir!« flüsterte sie. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Das ist aber kein Grund, so etwas zu sagen«, erwiderte ich. »Ohne Grund, meine ich.« Sie ließ den Kopf sinken. Tränen fielen auf ihren dicken Pullover, kullerten zwei, drei Maschen weit und versickerten in der weichen Wolle. »Sagen Sie die Wahrheit!« beharrte ich. »Sagen Sie, was Sie wissen!« Oben am Wohnwagen wurde die Tür geöffnet. Ein breiter Streifen gelben Lichts fiel auf uns. Madame Sylvias Stimme: »Tony – was ist los?«
Die junge Frau wandte sich ab, stolperte die fünf Stufen hinauf und fiel ihrer Mutter um den Hals. »Onkel Paul ist tot!« schluchzte sie laut und klammerte sich an die kleine, weißhaarige Frau. »Geh rein«, sagte die Mutter; »leg dich hin, Kind!« Und dann, zu mir gewandt: »Sind Sie es schon wieder, Herr Klipp?« »Tut mir leid«, antwortete ich, »aber ich kann’s mir auch nicht aussuchen.« Tony ging, nein, taumelte in den Wagen. Madame Sylvia kam die Stufen herunter. Auf der untersten blieb sie stehen. Wir waren jetzt gleich groß. Sie hatte einen wattierten Morgenrock an, der mit großen Blumen bedruckt war. Er machte sie dick und ganz bürgerlich. Wie eine Oberinspektorsgattin sah sie aus. »Paul Horn ist von einem schweren Eisenwinkel getroffen worden«, sagte ich; »es war ihm nicht mehr zu helfen. Er ist tot. Ich habe Ihre Tochter hergebracht, weil sie einen kleinen Zusammenbruch hatte. Sie muß sehr an dem Mann gehangen haben…« »Er hat sich ein bißchen um sie gekümmert – als einziger in der rauhbeinigen Gesellschaft«, erklärte Madame Sylvia. »Wollen Sie auf einen Schnaps reinkommen, und…?« »Nein, danke«, sagte ich; »ich habe noch einen Arbeitstag vor mir.« Ein paar Sekunden standen wir uns gegenüber, ohne zu sprechen. Ich hätte was drum gegeben, wenn ich die Gedanken der Kartenlegerin hätte lesen können. »Ihre Tochter wird noch eine ganze Reihe von Fragen beantworten müssen«, sagte ich. »Das ist mir klar«, erwiderte Madame Sylvia. »Aber ich fürchte, es wird nichts dabei herauskommen. Sie hat keine Ahnung. Wie eine Taubstumme hat sie unter diesen Leuten
gelebt. Sie hat ihre Sprache nicht verstanden. Und ihr Mann hat sich wenig Mühe gegeben, den Dolmetscher zu machen oder ihr sonst zu helfen…« »Es werden nicht nur Fragen wegen des Mordes an Konyas sein«, sagte ich. »Man wird von ihr auch wissen wollen, warum sie glaubt, daß Paul Horn eines gewaltsamen Todes gestorben ist.« »Eines gewaltsamen… Glaubt sie das?« Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, veralbert zu werden. Die Frage hatte beinahe spöttisch geklungen. Aber dem Gesicht der weißhaarigen Wahrsagerin war nicht das geringste anzusehen. »Sie hat es jedenfalls gesagt«, murmelte ich lahm. »Ach, das hat sie doch sicher nur so…« Sie zögerte. »Bißchen happig – ein Mordverdacht, ›nur so‹«, meinte ich. »Ich kann mir nicht helfen – an der ganzen Sache ist was faul! Ich weiß nicht was, aber…« Ich hielt inne. Wie kam ich dazu, vor dieser Frau meine Gedanken auszubreiten? »Kann schon sein«, sagte Madame Sylvia, »aber vielleicht sollte man oben anfangen zu fragen…« »Oben?« »Ja – oben«, erwiderte sie. »Ist doch klar. Wenn einer wissen will, ob es regnen wird, guckt er auch nach den Wolken, nicht wahr?« »Orakel vom Scheitel bis zur Sohle, Madame Sylvia«, knurrte ich; »geheimnisvolle Antworten – sozusagen mit doppeltem Boden… Davon hat der alte Horn auch noch was gesagt.« Ich begriff mich selber nicht, aber es war mir herausgerutscht. »Wovon?« Sie sah mich hellwach an. »Vom doppelten Boden«, gab ich zurück – es kam schon nicht mehr darauf an. »Ich werde der Mordkommission raten, sich einen Weisen aus dem Morgenland zu engagieren, der uns
hilft, Orakelsprüche zu deuten. Schönen Dank erst mal. Auf Wiedersehen!« Und ich wandte mich ab, weil ich’s ziemlich satt hatte. Kalt war mir auch, und ich hatte Hunger. Vor allem brauchte ich einen Kaffee. »Auf Wiedersehen, Herr Klipp!« hörte ich Madame Sylvia noch sagen – da krähte schon wieder so ein blödsinniger Hahn… Auf dem Geisterbahngelände war niemand zu sehen. Das Zeltgerüst ragte schwarz in den heller werdenden Himmel. Die Wohn- und Gerätewagen bildeten eine plumpe Silhouette, die an Urwelttiere erinnerte. Es war still. Nur aus dem halboffenen Fenster des Peterwagens klang das Gezirp und Geplapper des Polizeifunks. Um nicht wieder über das herumliegende Leichtmetallgestänge zu stolpern, ging ich vorsichtig auf den Wohnwagen zu, in dem Licht brannte. Meine Schritte waren sehr leise. Ich hörte die wispernden Stimmen der Männer, ehe die Männer mich hören konnten. Sie standen im tiefen Schatten des größten Wagens, an den die Gespensterkulissen gelehnt waren. Ich blieb stehen. »… bist du ganz sicher?« fragte die eine Stimme. »Klar, Mensch! Die weiß nichts!« erwiderte eine andere. In diesem Augenblick ging die Tür des etwa zehn Meter entfernt stehenden Wohnwagens auf, und einer der Polizisten trat heraus. Die Stimmen verstummten. Ich lief mit vier langen Schritten auf die Stelle zu, wo ich die Männer vermutete, trat bei dem fünften Schritt auf irgendwas Glattes – ein Stück von dem Gleis, auf dem die Kleinwagen fuhren –, und mein Fuß knickte um. Ich schlug längelang hin und knallte mit dem Kopf gegen die Radkappe des Anhängers.
Sterne tanzten in vielen Farben vor meinen Augen, und ich lag ewig lange Sekunden so benommen auf der Erde, daß der herbeilaufende Polizist, der mich hatte stürzen sehen, zweimal »Hallo!« – »Hallo!« rufen mußte, ehe ich Antwort gab.
7
»Schon gut!« sagte ich und setzte mich auf. »Ich bin hingeflogen – über irgendwas gestolpert im Finstern. Was hier aber auch alles rumliegt – da kann man sich ja Hals und Beine…« »Sind Sie das, Herr Klipp?« fragte der Polizist, kam näher und stieß mit dem Fuß gegen die Schiene, über die ich schon gestolpert war, verlor den Halt, fing sich aber, vollführte eine Art Tanzschritt, der beinahe graziös wirkte, und fluchte. Ich stand auf und klopfte mir den taufeuchten Dreck ab. Mein Kopf brummte. »Ja«, sagte ich. »Warum sind Sie denn so gesprungen?« fragte er. »Ich wollte…« Ausgeschlossen, ihm etwas von verdächtigen, wispernden Gestalten zu erzählen, von denen jetzt weit und breit nichts mehr zu sehen war. »Ich wollte mir ein bißchen Bewegung machen… so was Dummes, nichtwahr!« Es war ihm anzusehen, daß er das auch dachte. »Gibt’s was Neues?« lenkte ich also ab. »Hier nicht«, sagte er. »Wir haben den Eisenwinkel sichergestellt, der dem Alten auf den Kopf gefallen ist. Ein Mordsding im wahrsten Sinne des Wortes – aber die Leute wissen alle gar nichts.« »Wen haben Sie gefragt?« »Alle«, sagte er. »Sieben Männer und die eine Frau.« »Und wo sind die Männer jetzt?« »Der Chef mit dem komischen Namen ist doch im Wohnwagen; die anderen…« Er zuckte die Achseln. »Keine
Ahnung. Die wollten frühstücken und warten, bis sie weiterarbeiten können.« »Tja…« Ich war unsicher, was geschehen sollte, aber irgendwas mußte ja geschehen. Es schien mir sinnlos, noch nach irgendwelchen Spuren zu suchen, die den Tod des alten Horn beleuchtet hätten… Vielleicht war es falsch, vielleicht hätte ich die acht übriggebliebenen Geisterbahnleute durch die Mangel drehen sollen. Möglicherweise wäre dabei doch etwas herausgekommen. Aber ich tat es nicht. Ich ließ mir von Paganini die Adresse Zinks geben. Er gab mir die Büroanschrift; eine andere wußte er nicht. Ich verabschiedete mich von den Peterwagenmännern und fuhr in mein Büro. Es war genau acht, als ich dort eintraf.
Wer den Schaden hat, sagt (diesmal mit Recht) das Sprichwort, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Der Spott äußert sich allerdings unterschiedlich. Stammtischbrüder zum Beispiel werden eine Beule auf der Stirn eines Stammtischbruders mit Witzen über die rabiate Nudelholzführung der Ehegefährtin kommentieren. Politiker von der anderen Fraktion werden fragen, ob der Beulenträger wieder mal mit dem Kopf durch die Wand gewollt habe. Meine Polizeikollegen, mit denen ich im Fahrstuhl und auf dem Gang zusammentraf, machten natürlich fachlich ausgerichtete dumme Bemerkungen: »Kleiner Einbruchversuch, Klipp, wie?« »Haben Sie ‘n Boxer verhaftet, Herr Kollege?« So prägt die Umwelt den Humor der Menschen. Ich trug den umweltgeprägten Humor mit Fassung und meine Beule mit Geduld, ließ auch noch den Mitleidsausbruch der Schreibdamen des Einbruchsdezernats über mich ergehen und
rief, Auge in Auge mit dem staatlichen HeidelandschaftsÖldruck, von meinem Zimmer aus bei Spannagel an. Seine Frau war am Apparat. Ich brauchte drei Sekunden, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß so ein berühmter Mann eine Frau hatte, die ihm die Hemden wusch und Stullen mit ins Büro gab; dann sagte ich ihr, wer ich war und was ich wollte. »Sie können meinen Mann im Augenblick nicht sprechen«, erklärte Frau Spannagel. »Er schläft. Der Arzt hat ihm vor zwanzig Minuten eine Spritze gegeben. Ich kann ihn jetzt nicht wecken. Er hat gesagt, daß Sie wahrscheinlich anrufen würden, Herr Klipp. Sie möchten sich bitte mit Herrn Hünlein in Verbindung setzen, Hausapparat… warten Sie mal…« Papier raschelte. »Ja, hier: Hausapparat 1287. Hünlein weiß Bescheid.« Ich bedankte mich, wünschte gute Besserung und legte auf. Dann wählte ich die genannte Nummer. Der Name Hünlein war mir ein Begriff: Sein Träger war eines der höheren Tiere bei der Mordkommission. Aber den zum Namen gehörenden Mann kannte ich nicht… Den Bräuchen der Hierarchie entsprechend meldete das höhere Tier sich nicht selbst, sondern sein Filter – eine Vorzimmerdame. Ich sagte fromm mein Sprüchlein – wes Namens, Standes, Begehrens und so weiter ich sei. Die Filterdame näselte etwas, das ›Einen Augenblick, bitte‹ heißen konnte; dann knackte es, und dann hatte ich eine Stimme im Ohr, die durchaus nicht nach Hünlein – egal, ob mit oder ohne h in der Mitte – klang. Wenn der Besitzer dieser Stimme Bär geheißen hätte oder Löwe oder meinetwegen auch Doktor Moll – schön… aber Hünlein? Nee! »Am besten«, sagte die Bär-Löwe-Moll-Stimme, »Sie kommen mal rauf, Herr Klipp. Sechster Stock, Zimmer 624. Geht das?«
»Okay!« sagte ich. »Wie bitte?« fragte er. »Geht in Ordnung!« korrigierte ich mich. »Schön – also bis gleich!« Ich steckte den Kopf durch die Tür zum Nebenzimmer, in dem mein alter Kumpel Egon saß, und sagte: »Ich geh mal eben rauf zur Mordkommission – falls hier mein Typ verlangt wird.« »Oho«, sagte Egon, »war’s also ein Mordversuch?« »Was?« gab ich verständnislos zurück. »Na, dein Horn!« sagte er. Ich war verblüfft. »Woher weißt du das?« »Was?« Jetzt war auch er erstaunt. »Daß Horn möglicherweise ermordet worden ist.« Er zwinkerte irritiert. »Wovon redest du eigentlich?« fragte er. »Und wovon redest du eigentlich?« fragte ich zurück. »Von dem Horn an deiner Stirn – wovon sonst?« sagte er. »Blödmann!« schimpfte ich und schloß die Tür zwei Phon zu laut. Die Beule hatte ich ganz vergessen gehabt. Jetzt, da ich daran erinnert worden war, tat sie auch wieder weh. Hünlein erwies sich doch als einigermaßen zutreffender Name für den Mann. Er war klein und schmal. Hähnlein hätte vielleicht noch besser gepaßt – er hatte etwas Gespreiztes, Geckenhaftes an sich, trug eine Brille ohne Rand, einen Scheitel, der nach Geometrie roch, und einen Anzug, der ihn mit seinen betonten Streifen noch schmalbrüstiger wirken ließ, so daß man sich unwillkürlich fragte, woher die Stimme wohl kommen konnte, die nach breitem Brustkorb und Bauch klang. Aber er hatte gescheite und gute Augen hinter den Brillengläsern und eine sympathische Quirligkeit, die einen
schnell vergessen ließ, daß man ihn beim ersten Anblick albern gefunden hatte. Er stand auf, als mich seine griesegraue Vorzimmerdame ins Zimmer brachte, reichte mir eine kleine, feste Hand und bot mir einen der zwei Sessel an, die am Fenster standen. Die Sessel, der Teppich, das Mobiliar und ein hübsches, gut gemaltes Original-Aquarell an der Wand wiesen ihn als leitenden Beamten aus. Führungskräfte werden nicht mit Kiefernholzstühlen und Heidelandschafts-Öldrucken ausgestattet. »Herr Spannagel hat mir heute früh telefonisch berichtet, was da los war«, sagte er, als wir uns gegenübersaßen. »Er ist krank. Das wissen Sie. Er hat mir auch schon gesagt, daß er Sie gebeten hat, wegen dieses Unfalls heute früh noch mal hinzufahren, weil Sie ihm gestern abend so gut zur Seite gestanden haben… Bitte, Herr Klipp, berichten Sie!« »Darf ich rauchen?« fragte ich. »Aber natürlich«, sagte er. Ich zündete mir eine Zigarette an und berichtete. Er hörte aufmerksam zu, tief in den Sessel gelehnt, erstaunlich unbeweglich – nur die kleinen Finger seiner gefalteten Hände klopften sich gegenseitig in gleichmäßigem Rhythmus auf die Knöchel. Als ich fertig war, blieb er noch eine halbe Minute so sitzen. Dann sprang er plötzlich auf, ging zum Fenster, kam wieder zurück, stellte sich vor mich und sagte: »Eine interessante Sache!« »Ja«, bestätigte ich. Er trat drei Schritte zurück, lehnte sich an die Platte seines Schreibtisches und schwieg abermals. Ich schwieg mit. Nebenan klingelte das Telefon. Dann schnarrte sein Apparat; er griff danach, ohne hinzusehen, hob ab, sagte nur: »In fünf Minuten!« und legte wieder auf.
Sehr imponierend. Es hätte ja der Justizminister oder sonstwer wichtiges sein können, oder gar seine Frau, die vielleicht wissen wollte, ob sie zu Mittag Schellfisch mit Senfsoße… »Ich habe bereits mit dem Präsidenten gesprochen und ihm gesagt, was Spannagel vorschlägt. Er ist einverstanden – falls mein Eindruck der gleiche…« Er hielt inne. Ich hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Heiß war mir. Die heizten auch besser in den Räumen der Führungskräfte, wie mir schien. »Wenn Sie also wollen, Herr Klipp«, fuhr er fort, »möchten wir Sie beauftragen, den Fall zu übernehmen!« »Ich?« sagte ich. »Aber…« »Aber was?« fragte er. »Trauen Sie’s sich nicht zu?« »Ich habe nicht die…« Er schnitt mir das Wort ab. »Hören Sie auf, Klipp! Ich weiß, was Sie sagen wollen. Uns fehlen zur Zeit elf Leute bei der Mordkommission: Lehrgänge, Krankheit, ein Verkehrsunfall, ein Disziplinarverfahren – was weiß ich. Spannagel entdeckt Sie durch Zufall, nachdem Sie gerade ebenso zufällig eine Leiche entdeckt haben – und er findet, viel besser als Sie hätten auch erfahrene und spezialausgebildete Leute nicht gehandelt. Das ist eine Chance – für uns, aber auch für Sie! Also – ja oder nein?« Ich schluckte. Ich dachte an meine Kellereinbrüche rund um den Pfaffendorfer Platz, an die gestohlenen sieben Dosen Fleischkonserven, die elf Gläser eingemachte Kirschen, die Fahrradluftpumpe und den Karton Gummiabsätze und an die dazugehörigen Aktenstöße auf meinem Schreibtisch. »Ja!« sagte ich. »Fein.« Hünlein lächelte. »Toi, toi, toi, Kollege!« Ich stand auf.
»Mit Ihrem Abteilungsleiter und Ihrem Dezernatschef spreche ich. Holen Sie Ihre Sachen rauf. Im Zimmer 611 ist ein Schreibtisch frei. In die Besonderheiten unseres Dienstes wird Sie Oberkommissar Schramm einweisen… Das wär’s. Wenn Sie Kummer haben, kommen Sie zu mir – oder gehen Sie zu Spannagel, sobald der wieder gesund ist.« »Danke, Herr Rat!« sagte ich, obschon ich mir nicht ganz klar darüber war, ob dieses plötzliche Ereignis einen wirklichen Segen bedeutete. Er wehrte sich nicht gegen den Titel. Na ja, wenn ich Hünlein hieße, würde ich mich auch nicht gegen eine andere Anrede wehren.
Eine halbe Stunde später saß ich im Auto und fuhr zu Zinks Büro. Ich hatte meine Kellereinbruchsakten abgegeben, einige süßsäuerlich geäußerten Wünsche meines alten Chefs mit auf den Weg genommen und meine Siebensachen in ein anderes Stockwerk geschafft, wo mich ein Zimmer empfing, das genauso aussah wie mein bisheriges – nur, daß statt der Heidelandschaft eine Gebirgslandschaft mit rosa Alpenglühen an der Wand hing. Na ja, dachte ich, das ist ja auch vier Etagen höher hier… Der Stadtplan, der Kalender, Schreibtisch, Stuhl und Schrank waren von ebenso ergreifend zweckmäßiger Schlichtheit wie in den Niederungen meiner bisherigen Existenz. Zinks Büro lag in einer grauen, engen Straße nahe dem Bahnhof. Ich hatte einige Mühe, einen Parkplatz zu finden. In dem hohen Geschäftshaus befand sich neben einer kleinen Akzidenz-Druckerei, einer Großhandlung für Drogistenbedarf, verschiedenen Büros für die verschiedensten Branchen und einigen Lagerräumen auch die ›Zentrale‹ der Zink-Betriebe. Sie lag im obersten Geschoß des Gebäudes.
Ich fuhr mit einem großen, knarrenden Fahrstuhl hinauf, der nach scharfer Seife und Schmieröl roch und an dessen Rückwand ein Witzbold neben die üblichen Warn-, Verbotsund Betriebsanleitungsschilder aus kleinen, bunten Heiligenbildchen eine Figur geklebt hatte. Sie war eindeutig obszön, und die fingerlangen Gloriolenträger weiblichen, männlichen oder keinerlei ersichtlichen Geschlechts standen alle auf dem Kopf. Es mußte allerhand Zeit und Mühe gekostet haben, die vielen Heiligen in dieser Form an die Wand zu kleben. An der grauen Tür, der gegenüber der so apart verzierte Fahrstuhl hielt, war ein schwarz-weißes Emailleschild, auf dem in verschnörkelter Schrift Heinrich Zink Söhne zu lesen war. Die Schrift war so altmodisch, daß der Mann mit den silbernen Schläfen über dem Halbzylinder, der gestern als Zink aufgetreten war, bestenfalls einer der Söhne Heinrichs sein konnte, wenn nicht gar ein Enkel. Aber das war ja eigentlich gleichgültig. Es ging um einen Mord – mindestens um einen – und nicht um den Stammbaum des Hauses Zink. Ich öffnete die Tür. Ein kleiner, kalt neonbeleuchteter Flur empfing mich. An den hellgrün gestrichenen Wänden hingen gerahmte Fotos von Karussells aller Art und anderen Rummelplatzattraktionen. Auch die Geisterbahn mit dem häßlichen Riesen sah ich, und – zwischen zwei Türen – ein Foto, das die Attraktion Wippthewapp zeigte. Ich hätte es, zu meiner Schande sei’s gesagt, wahrscheinlich nicht erkannt, wenn es nicht in großen Buchstaben über dem Monsterkarussell gestanden hätte. Die erste Tür links trug die Aufschrift Registratur, auf der zweiten war Anmeldung zu lesen. An der dritten – geradeaus – war kein Schildchen; die zwei rechten hießen Buchhaltung und GESCHÄFTSLEITUNG. Anmeldung gegenüber.
Auf ein dünnes »Herein« öffnete ich die erste Tür. In dem langen, schmalen Raum stand ein Schreibtisch, auf den eine kleine Telefonvermittlung montiert war. Am Schreibtisch, auf einem hohen Stuhl, saß ein winziger Mann. Der Stuhl – eine Art Barhocker mit Lehne – mußte so hoch sein, sonst hätte der Mann nicht auf die Schreibtischplatte gucken können. Der Winzige hatte das alters- und bartlose Gesicht aller Liliputaner. Zink sorgte auch in seinem Büro für Überraschungen. Ich sagte: »Guten Tag!« Gleichzeitig sagte der Liliputaner: »Sie wünschen?« Er sah mich dabei mit dem Interesse an, das etwa Eidechsen Schillers ›Lied von der Glocke‹ entgegenbringen. »Ich möchte Herrn Zink sprechen«, sagte ich. »In welcher Angelegenheit?« fragte das Männchen auf dem Hochsitz. »Kriminalpolizei«, sagte ich. Der Liliputaner versuchte es, aber es gelang ihm nicht, zu verheimlichen, daß er mich plötzlich so interessant fand, wie die Eidechse etwa einen Jungen mit einer Botanisiertrommel. Zum Glück schnarrte in diesem Augenblick seine Vermittlung, und ein rotes Lämpchen leuchtete auf. »Heinrich Zink Söhne, guten Tag!« quäkte er, lauschte, sagte: »Ich verbinde!« und stöpselte an dem Schrank herum. Dann legte er den Hörer wieder auf die Gabel, drückte auf irgendeine Taste, und ein zweites Lämpchen flammte auf. Er lauschte drei Sekunden und wandte mir nun erneut seine Reptilienaufmerksamkeit zu. »Herr Zink ist nicht im Hause«, quäkte er. »So?« sagte ich. »Er ist nicht im Hause? Und weshalb fragen Sie dann, in welcher Angelegenheit ich komme, wenn er sowieso nicht im Hause ist, Ihr Boss?« Das blasse, glatte Gesicht wurde noch blasser. Auf einmal waren da um die Augen, um den weichen Mund, um die
Nasenflügel tausend kleine Fältchen, und die Lippen des Kleinen verzogen sich, als wolle er gleich weinen. Ich hatte wohl ein bißchen zu laut geredet; die dünnen Porzellantassen in seiner Seelenvitrine hatten geklirrt. »Also sagen Sie schon«, fuhr ich leiser fort, »wo ist Herr Zink? Ich muß ihn sprechen. Es ist dringend… Sie wissen doch, was da passiert ist, nicht wahr?« Der kleine Mann nestelte aus der kleinen Weste, die er unter dem kleinen Jackett trug, eine dicke Taschenuhr, die in seiner kleinen Patschhand mit den Babyspeckpolstern am Handgelenk besonders riesig wirkte. Er sah nach der Zeit, bewegte den Mund, als ob er im Kopf rechne, und sagte, ohne mich anzusehen: »Herr Zink ist vor elf Uhr nie im Büro.« »Ich wollte eigentlich nicht wissen, wo er wann nie ist«, sagte ich, schon wieder ungeduldig, »sondern wo ich ihn jetzt – jetzt gleich – erreichen kann!« »Bestimmt zu Hause!« Der kleine Mann strahlte mich plötzlich an, als ob ich ihm ein garantiert wirkendes Wachstumspulver geschenkt hätte. »Und wo ist das?« Er gab mir die Adresse. Sie war im vornehmsten Viertel der Stadt, dort, wo der Quadratmeter Baugrund dreistellig gehandelt wird – mindestens dreistellig… Ein paar Karussells müßte man haben. Unten im Hausflur vor dem Fahrstuhl stand ein alter Mann mit einem Besen. »Ist Herr Zink nach links oder nach rechts gefahren?« fragte ich. »Ich weiß gar nichts«, sagte der Mann. »Überhaupt gar nichts! Ich hab ihn heute noch nicht gesehen – wirklich nicht!« Wenn ich mir Zinks Wohnlage leisten könnte, würde ich nicht an den Gehältern sparen und bessere Lügner engagieren. Der Mann log entsetzlich schlecht. Ich ließ ihn stehen, warf
ihm noch ein »Brav, brav!« über die Schulter zu – nur so, damit er was zum Kauen hatte – und lief aus der offenen Haustür auf die Straße. Oben, ganz am Ende der Straße, bog gerade ein breites weißes Cabriolet nach rechts ab. Dem überdimensionalen Blinklicht nach mußte es ein amerikanischer Straßenkreuzer sein. Ehe ich jedoch in meinem Untermittelklassewagen saß, ihn aus der Parklücke herausmanövriert hatte – wobei ich fast noch ein Kind gestreift hätte, das da seinem Ball nachlief, der den Rinnstein entlangkullerte – bevor ich also gewendet hatte und dem feinen Wagen nachfahren konnte, war der natürlich über alle Berge beziehungsweise um alle Ecken. Ich nahm Kurs auf das vornehme Viertel. Die Straße, die ich fahren mußte, führt zehn oder zwölf Kilometer am steilen Ostufer eines Flusses entlang und gilt als eine der schönsten Straßen Europas. An beiden Seiten liegen wunderbare Besitzungen, aus deren Toreinfahrten um diese Tageszeit – es ging inzwischen auf zehn – hier und da große Wagen der Luxuskategorie gerollt kamen, um ihren Inhalt stadtwärts in Direktionsbüros und ähnliche Gemächer zu bringen. Gelenkt wurden diese teuren Automobile von ernstblickenden Chauffeuren. Im Fond saßen feine Herren mit feinen Hüten, die feine Zeitungen lasen und feine Zigarren rauchten, wenn sie es nicht gerade mit der Galle hatten. Es war ein überaus distinguierter Wagenkorso, der mir da, nur selten von einem Fahrzeug unter zwölftausend Mark unterbrochen, begegnete. Die Spitzen der Wirtschaft begaben sich an ihre Schaltpulte. Es hätte nun vielleicht nahegelegen, am Steuer meines Weitunter-zwölftausend-Mark-Wagens in klassenkämpferisches Brüten zu versinken. Ich versank nicht – weniger, weil ich von Berufs wegen verpflichtet bin, die bestehende Ordnung zu
schützen, sondern weil mir das Blutgerinnsel an Stanko Konyas’ Stirn nicht aus dem Kopf ging; weil ich an den sterbenden Paul Horn denken mußte und an die halben Andeutungen, die mit beider Tod zusammenhingen. Das war wie ein verfilztes Bindfadenknäuel, und ich konnte den Anfang nicht finden, um es aufzudröseln… In Gedanken versunken wäre ich fast an der Straße vorbeigefahren, in der Zinks Villa lag. Im letzten Moment stoppte ich und zog mir den Unwillen eines Wäschereiautofahrers zu, den ich damit zur Vollbremsung zwang. Der Mann war böse und zeigte mir einen Vogel, als er vorüberfuhr. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber ich konnte es mir denken. Ich spreizte Zeige- und Mittelfinger zum V-Zeichen, was Verzeihung bedeuten soll, aber ich wußte nicht, ob er das wußte. Das vierte Tor in der linken Straßenseite trug die Nummer 7. In Schmiedeeisen künstlerisch gestaltet, prangte die Zahl auf dem Sandsteinpfeiler der Einfahrt. Das ebenfalls schmiedeeiserne Tor stand offen. Der linke Torflügel zeigte ein vergoldetes H, der rechte ein ebensolches Z. In dieser Gegend brauchen die Briefträger nur das Alphabet zu kennen. Namen stehen selten an den Toren und Türen der Villen. Ich parkte auf der Straße, überlegte, im Wagen sitzend, eine Zigarette lang, was ich eigentlich von dem schönen Herrn Zink wollte, und begab mich dann zu Fuß durch das dauerhafte Kunstgewerbe ins Innere des großen Grundstücks. Der bunte Kies des breiten Weges knirschte unter meinen Schritten. Irgendwo hinter den hohen Rotbuchenhecken, die den Besitz begrenzten, brummte ein Rasenmäher. Obwohl der Himmel bedeckt war, blendete die weiße Fassade des Hauses, das einen knappen Tagesmarsch weit zwischen
Rasenflächen lag, die so gepflegt waren, daß mir einfiel, ich hatte heute zum Friseur gehen wollen. Der breite Kiesweg bog nach rechts ab, beschrieb einen Bogen und verschwand hinter der Ostecke des Gebäudes. Birken und Koniferen begleiteten ihn. Von Rosenrabatten eingefaßt führte ein mit Platten belegter Pfad zum Haus und mündete vor der geschnitzten Haustür in eine Terrasse, auf der – einziges äußeres Zeichen für die Herkunft des Reichtums – zwei wirklich wunderbare alte Karussellpferde standen. Sie waren knallbunt lackiert, schienen aus Maul und Nüstern zu lachen und blickten starr an mir vorbei. Ich lächelte ihnen zu, überlegte, wo ich so etwas in meiner Wohnung unterbringen könnte, kam zu keinem brauchbaren Ergebnis und klingelte. Die Tür ging sofort auf – ich glaube, ich hatte den Finger noch in der Luft. Ich erschrak, denn da stand, den Scheitel in der Höhe meines Gürtels, eine weibliche Ausgabe des Liliputaners von vorhin, sah mich von unten herauf an und quäkte schrill: »Sie wünschen?« Zink schien so was zu sammeln – oder es war ein Nest in der Nähe. »Guten Tag!« stotterte ich. »Ich möchte Herrn Zink…« »In welcher Angelegenheit?« fragte die Zwergin. Sie war auf ein schnelleres Tempo gedrillt als der Kleine am Klappenschrank, aber der Text war derselbe. »Kriminalpolizei!« Auch mein Text war derselbe. »Treten Sie näher«, kreischte sie. »Ich werde nachsehen.« Und sie öffnete mit hochgerecktem Ärmchen die schwere Tür so weit, daß ich eintreten konnte. Dann gab sie ihr einen Schubs, und die Tür fiel mit weichem Klicken hinter mir ins Schloß.
Ich befand mich in einer Diele von der Größe eines Kleinstadtbahnhofs-Wartesaals; sie war genauso düster und ungemütlich, aber sehr viel kostbarer eingerichtet. Die Liliputanerin, die ein wadenlanges grünes Strickkleid trug – und das war gut so, denn ihre Beine waren reinstes Spätbarock – forderte mich auf, Platz zu nehmen und wies auf eine Sesselgruppe. Als ich saß, watschelte sie quer durch den Wartesaal davon. Ich hörte sie nur, sehen konnte ich sie nicht mehr, denn die Sessellehnen waren höher als sie. Auf der anderen Seite ging leise eine der drei Türen auf und wieder zu. Da mußte sie wohl hindurchgegangen sein. Stille. Nur eine Standuhr tickte im Wartesaal. Als ich gerade ausgemacht hatte, wo sie tickte, schlug sie dröhnend zehnmal. Ich sah mich um. Es knisterte in der Täfelung, an der zwei große, dunkle Gemälde in dunklen Goldrahmen hingen. Auf dem linken versuchten zwei Hirsche, ihre sexuellen Probleme mittels ihrer Geweihe zu lösen. Auf dem rechten verteidigte ein Keiler sein Leben gegen sieben Hunde. Der Keiler hatte eine entfernte, aber vom Künstler gewiß unbeabsichtigte Ähnlichkeit mit Wilhelm dem Zweiten. Von einem riesigen Gladiolenstrauß, der in einer schönen italienischen Vase an der anderen Wand stand, löste sich ein weißes Blütenblatt und fiel langsam auf den dicken Orientteppich – Belutschistan, wenn ich nicht irrte. Sonst geschah nichts. Ich lüftete meinen Hintern ein wenig aus dem Polstersessel, um festzustellen, ob unter den schweren dunkelroten Samtvorhängen, die sich an den Seiten der zwei hohen Fenster bauschten, vielleicht eine Schuhspitze zu sehen wäre.
Doch da war keine zu sehen. Also setzte ich mich wieder hin und redete mir gut zu. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, nicht allein in dieser Diele zu sein.
8
Fünf Minuten oder dreihundert Sekunden saß ich da und wartete darauf, daß irgend etwas geschähe. Als die sechste Minute anbrach, fing ich an, unruhig zu werden. So weitläufig war ja nun sicherlich der Wohnsitz des Karussell- und Geisterbahnunternehmers auch wieder nicht, daß man nicht innerhalb von vier bis fünf Minuten hätte feststellen können, ob er im Haus war oder nicht. Ich beschloß, die kurzen, barockgeschnörkelten Beine der Zwergin noch als Verzögerungsfaktor in Rechnung zu stellen. Sie brauchte damit sicher fünfzig Prozent mehr Zeit, um etwa einen langen Korridor entlangzugehen oder eine Treppe hinaufzusteigen. Und möglicherweise suchte sie ihren Herrn oben auf dem Dachboden. Vielleicht hatte er dort eine stille Kammer, wohin er sich vor des Tages Jammer zurückzog… Am Ende schrieb er gar Verse? Oder er züchtete Tauben – obschon ich dies für wenig wahrscheinlich hielt, denn die unsanften Friedensvögel sind meistens nicht so sauber, wie es ein Mann vom Schlage Zinks für wünschenswert halten mochte. Nein – eher Verse. Ich sah ihn richtig vor mir: Im blauen Samtjackett, einen safrangelben Schal um den Hals, die silberne Schläfe in die nervige Linke gestützt, indes die Rechte den Federkiel übers handgeschöpfte Büttenpapier… Acht Minuten – nein, zum Teufel, das ging zu weit. Außerdem hatte ich meine Zigaretten im Auto gelassen, und hier waren nirgends welche.
Ich stand auf und trat an das linke hohe Fenster, lüpfte vorsichtig die Vorhänge – da stand tatsächlich keiner – und sah hinaus. Das Fenster lag zur Vorgarten- und Straßenseite. Links konnte ich gerade noch das Hinterteil des einen Karussellpferdes sehen. Der Rasen war wirklich phantastisch. Die Bäume, Büsche und Blumen, die Einfassungen der Beete und Wege, die Hecke – alles machte einen so perfekten Eindruck, daß ich fror. Kein Stein, keine verdorrte Blüte, kein geknickter Ast, kein welker Grashalm – als wäre die Natur aus Plastik. Das einzige Menschliche war der hölzerne Hintern des Pferdes, weil an dem geschnitzten Schwanz die Kerben des Schnitzmessers zu sehen waren und weil außerdem ein Stück herausgebrochen war. Sonst war alles in diesem Garten glatt, sauber, vollkommen. Nicht mal Kinder hätten auf solch einem Rasen Spaß am Spielen gehabt. »Gefällt Ihnen mein Garten?« fragte eine Stimme. Ich fuhr herum. Zink. Lautlos wie ein Schatten war er ins Zimmer gekommen. Er trug – ich zwinkerte vor Überraschung – tatsächlich eine samtene Hausjacke. So schön hatte ich sie mir allerdings nicht ausgemalt. Sie war braun und überall, wo es ging, mit elfenbeinfarbenen Bordüren besetzt. Die Knöpfe und Knopflöcher waren in der Art jener Husarenuniformen verziert, zu denen Fellmützen mit einem Totenkopf getragen wurden. Zink hatte natürlich keine solche Mütze auf. Aber die Ulanka allein stand ihm auch schon sehr hübsch. »Nein, Ihr Garten gefällt mir nicht«, sagte ich. »Nein?« Zink schien ehrlich bekümmert. »Und warum nicht, Herr Kommissar… äh… Klipp, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe eine Abneigung gegen kosmetisch behandelte Natur. Ein paar Disteln, etwas Sauerampfer, hie und da Löwenzahn und eine Reihe Fußstapfen auf Ihrem Rasen – dann könnte ich mich erwärmen!« »Das ist Geschmackssache«, meinte Zink. »Gewiß«, pflichtete ich ihm bei. »Mein Garten würde Ihnen gewiß auch nicht gefallen, wenn ich einen hätte…« Pause. Auf Schnoddrigkeit war Zink nicht gefaßt gewesen. Er brauchte acht Sekunden, um sich darauf einzustellen. Es gelang ihm jedoch. Er lächelte wieder sein Goldzahnlächeln und sagte: »Was kann ich für Sie tun, Herr Kommissar?« Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß er sich und mir die Titelei ersparen solle. Ich lege, weiß der Kuckuck, keinen Wert darauf, so angesprochen zu werden. Aber ehe ich mich von Zink ›Herr Klipp‹ nennen ließ – also dann schon lieber die Dienstbezeichnung. »Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen«, verkündete ich. »Sie?« Er schien erstaunt. »Man hat mir den Fall übertragen«, erklärte ich. Es sah für einen Augenblick so aus, als atme er erleichtert auf. Da würde er sich auch umstellen müssen, der Kunstgewerbefreund! »Also bitte«, sagte er, »wollen Sie mit in mein Arbeitszimmer kommen – oder können wir’s gleich hier…?« Er sah auf die superflache goldene Armbanduhr, die er, das Zifferblatt nach innen, am rechten Handgelenk trug. »Ist mir gleich«, erwiderte ich. »Meinetwegen setzen wir uns draußen auf die hübschen Karussellpferde – es sind ja gerade zwei.« »Haha… Sie sind ein Freund des Humors«, lachte Zink. »Nein, so was! Auf die Karussell… haha!« Er tat, als wolle er
sich ausschütten vor Vergnügen, aber seine Augen standen neben dem Lachen wie evangelische Verkehrspolizisten neben einer Fronleichnamsprozession: unbeteiligt und wachsam zugleich. »Kommen Sie mit hinüber, bitte!« forderte er mich auf, als seine untere Gesichtshälfte genug gelacht hatte. »Darf ich vorausgehen?« Er ging schon auf eine Tür neben der Standuhr zu. Ich folgte ihm. Im Augenblick, da ich die Uhr passierte, schlug sie einmal. Auch das Arbeitszimmer war ziemlich groß, jedoch niedriger und heller. Ausgestattet hatte es der Hausherr oder sein Innenarchitekt mit einem heftigen Hang zur herkömmlichen Gediegenheit, ferner mit viel geschnitztem Eichenholz, mit Kupfer und genarbtem Leder. Die Literatur hinter den Butzenscheiben des Bücherschranks trug Gold auf dem Rücken, war gewiß durabel gebunden und gut gedruckt – aber das verriet noch nicht, ob von ihr auch Gebrauch gemacht wurde. Auf der maroquin-gefaßten Schreibunterlage des riesigen Diplomatenschreibtisches lagen akkurat ausgerichtet fünf verschiedenfarbige Schreibstifte. Der schwarze lag ein bißchen schief. Wahrscheinlich war er beim Staubwischen aus der Richtung geraten. »Nehmen Sie bitte Platz!« sagte Zink und zeigte mir mehrere Möglichkeiten dazu. Ich wählte einen hochlehnigen Stuhl, der mit dem Rücken halb zum Fenster stand. Ich mochte den Rasen nicht mehr sehen. »Cognac?« fragte der Hausherr. »Nein, danke«, sagte ich. Es war weder Angst vor Arsen noch unbedingte Unbestechlichkeit. Ich wollte einfach von diesem Mann keinen Cognac.
»Zigarette?« fragte er weiter und hielt mir aufgeklappt einen kupfernen Kasten hin, in dem verschiedene Sorten lagen. Ich fand mich zwar charakterschwach, nahm aber doch eine. Es mußte ja nicht gleich eine Friedenspfeife sein. Natürlich erwischte ich eine, die süßlich nach parfümiertem Tabak schmeckte. Zink setzte sich mir gegenüber. »Also bitte, Herr Kommissar.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung, warum Stanko Konyas erschossen worden ist?« Ich begann mit dieser Frage, die ihm auch Spannagel schon gestellt hatte. »Nein«, erwiderte er. »Heute morgen ebensowenig wie gestern abend. Es ist mir völlig rätselhaft!« Er hatte seine Selbstsicherheit wiedergefunden. Es war ein Fehler gewesen, mit ihm in dieses Arbeitszimmer zu gehen. Ich hätte dort, wo er mich überraschte, in der Diele, im Stehen und mit der Schnoddrigkeit, die ihn verblüfft hatte, sofort meine Fragen stellen müssen. Es gelang mir auch nicht mehr, ihn aus der Fassung zu bringen. Ich erfuhr nichts, was ich nicht schon wußte oder auch von anderen hätte erfahren können. Nur ein einziges Mal – am Ende des Gesprächs – zögerte er einen Bruchteil zu lange mit seiner Antwort, und zwar, als ich sagte: »Sie wohnen sehr schön, Herr Zink. Sie sind kostbar eingerichtet. Sie leben offenbar – na, in recht guten Verhältnissen, ja? Bringen eigentlich Ihre fünfzehn oder sechzehn Betriebe soviel ein? Oder haben Sie noch Nebeneinnahmen?« »Ich… ich weiß nicht«, sagte er, »was diese Frage mit dem Mord an Konyas zu tun haben soll… aber wenn Sie darauf bestehen…« Ich wußte einstweilen auch nicht, was es mit dem Mord zu tun hatte, aber das sagte ich ihm nicht. Ich sah ihn bloß an.
»Also gut – ich habe dieses Haus sehr günstig erworben; ich habe eine Reihe Wertpapiere geerbt, und viele der Einrichtungsgegenstände sind Geschenke…« »Ach! Geschenke? Von begeisterten Geisterbahnbesuchern?« Er schwieg indigniert. »Es ist wohl besser«, sagte er dann und erhob sich, »wenn wir dieses Gespräch beenden… Oder war es eine Vernehmung – ein Verhör?« »Es war nur eine Plauderei, Herr Zink«, sagte ich lächelnd; »ich hätte Sie sonst belehren müssen, daß Sie keine Aussagen zu machen brauchen und so weiter – aber bei Plaudereien unter vier Augen ist das nicht nötig. Ich danke Ihnen vielmals!« Obschon ich wenig genug erreicht hatte, gab ich mich so überaus freundlich und höflich, fast fröhlich, daß er immer nervöser wurde, als er mich durch die Diele zur Haustür brachte. Wir verabschiedeten uns voneinander mit einer leichten Verneigung. Den Händedruck vermieden wir beide. Ich tätschelte im Weggehen dem rechten Karussellpferd das hölzerne Hinterteil und pfiff laut und draufgängerisch, als ich den Kiesweg entlang zum Tor ging. Ich hoffte, daß er mich pfeifen hörte. Ich setzte mich in mein Auto, knallte die Tür zweimal mit Kraft zu und startete wie ein Kavalier vor dem Fenster seines Mädchens. Mit röhrendem Auspuff stieß ich zu allem Überfluß noch zurück, wendete in Zinks Einfahrt und brauste mit so viel Krach davon, wie meine Kiste nur irgend hergab. An der nächsten Straßenecke bog ich nach links, fuhr um den Block, stellte den Motor ab und kam in der gleichen Straße, die ich gerade donnernd verlassen hatte, lautlos hinter einem parkenden Mercedes zum Stehen – hundertfünfzig Meter von Zinks Einfahrt entfernt. Dann steckte ich mir eine normal schlechtschmeckende Zigarette an, rauchte und wartete.
Es dauerte nur bis einen Zentimeter vor dem Mundstück, da kam der breite weiße Straßenkreuzer durch das schmiedeeiserne Tor und fuhr schnell davon. Ich hatte keine Ahnung, was mich – außer der Antipathie gegen diesen Mann – trieb, ihm zu folgen, und ich wußte auch noch nicht, ob es möglich sein würde, ihm ungesehen auf den Fersen zu bleiben. Aber ich setzte mein Mimikryauto in Bewegung und fuhr ihm nach.
Da hatte ich es also gleich an allen vier Zipfeln: Ein Mordfall war mir übertragen worden, die Kulisse war so romantisch und vielgestaltig, wie sie sich einer nur wünschen konnte – denn Rummelplätze und Millionärsvillen sind doch geradezu klassische Tatorte –, ein sehr reicher Mann spielte eine eigenartige Rolle, unsympathisch war der Kerl auch noch, und nun sah es sogar aus wie eine Verfolgung durch die Großstadt. Nach meinen bisherigen Kellereinbruchsermittlungen kam mir das vor wie der Duft der großen weiten Welt… Wenn ich nur nicht solchen Hunger gehabt hätte! Der Höhenflug meiner versponnenen Gedanken wurde von meinem knurrenden Magen gebremst wie ein stürmischer Liebhaber vom Ehemann der Angebeteten. Wo war der weiße Chevrolet? Ich kriegte einen Schreck. Aber nein, da war er wieder! Er fuhr von der großen Uferstraße ab und rollte in Richtung Hafen. Ich mußte dichter ran, wenn ich ihn nicht aus den Augen verlieren wollte. Die Straßen wurden hier enger und kürzer und unübersichtlicher. Ich wagte nicht einmal eine Zigarette gegen meinen Hunger anzuzünden, so sehr mußte ich aufpassen. Draußen stank es nach Sozialfürsorge und nach Fisch. Zwischen den hohen schwarzgrauen Häuserfronten spielten
blasse Kinder. Vor einem Kolonialwarenladen standen ein paar dicke Frauen mit untergeschlagenen Armen und schauten quietschend einem dürren, schmutzigen Hund zu, der sich vergeblich mit einer viel zu großen Hündin abmühte. Mein Freund Zink stoppte kurz vor einer Straßenecke, fuhr rechts ran und hielt an. Ich mußte an ihm vorbei und nahm im Vorbeifahren die Hand vors Gesicht, als striche ich mir die Haare aus der Stirn. Es schien mir unwahrscheinlich, daß er mich erkannt hatte, denn er saß, als ich vorbeifuhr, hinter dem Lenkrad und blätterte in irgendwelchen Papieren, ohne aufzusehen. Ich fuhr über die Kreuzung und fand vierzig Meter weiter eine Parklücke, von der aus ich seinen Wagen im Rückspiegel beobachten konnte. Die Parklücke befand sich genau vor einer Imbißstube, aus deren offener Tür es umwerfend nach gebratenen Zwiebeln roch. Ich rechnete nach und fand heraus, daß ich vor nahezu fünf Stunden eine Scheibe Weißbrot gegessen hatte. So war mir auch zumute. Zink stieg aus seinem Chevrolet und verschwand in der Toreinfahrt eines schmalen Hauses, über der in abbröckelnden Buchstaben WERKZEUG-SCHLOSSEREI MAX SCHRADER zu lesen war. Ich konnte dem Zwiebelbratduft nicht widerstehen, stieg auch aus und rannte in die Imbißstube. Drinnen herrschte die Gemütlichkeit eines Operationssaals. Alles war weiß und aus Plastik und offenbar noch ganz neu. Eine nicht mehr ganz neue Frau, aber auch in Weiß, stand hinter der Theke und faltete Papierservietten. Neben ihr, auf einem Elektrokocher mit sechs Platten, brodelte ein Topf Wasser und bruzzelte in einer großen Pfanne klares Fett, das einen Haufen Zwiebeln in Scheiben goldbraun schmorte. Die Uhr mit der Aufschrift Pepsi-Cola zeigte zehn nach elf.
»Kann ich schnell was auf die Hand zu essen haben?« fragte ich. »‘n Hackbrötchen oder Käse?« fragte die Frau und zog aus einer Kühlvitrine einen Teller, auf dem das Angebotene lag. Doch das Hackfleisch sah mir zu grau und der Käse zu grün aus. Das lag zwar wahrscheinlich an dem grauslichen Neonlicht – aber ich hatte keine Lust auf Abgestandenes. »Gibt’s nichts Warmes?« fragte ich. »‘ne Bockwurst«, sagte sie, »dauert aber paar Minuten.« »Hm«, machte ich und zeigte auf die Bratpfanne: »Und was wird das da?« »Zwiebeln«, erklärte sie, »für ‘ne Suppe.« »Geben Sie mir bitte eine Bockwurst – oder zwei«, bat ich; »mit viel Senf. Ich komme gleich wieder!« Damit lief ich wieder auf die Straße hinaus. Der weiße Wagen war noch da. Zink stand mit dem Rücken zu mir am Kofferraum. Zwei Männer in Schlosseranzügen hoben einen offensichtlich schweren Metallkoffer hinein. Dann gingen alle drei wieder in das schwarze Tor. Ich begab mich zurück in die Nahrungsverkaufsstelle. »Gleich«, sagte die Frau, nahm einen Pappteller, kleckste Senf darauf und stellte sich wartend neben den Wassertopf, in dem meine Würste schwammen. Ich trat von einem Bein aufs andere – teils vor Hunger, teils vor Ungeduld, lief zur Tür, schaute hinaus, sah den Wagen immer noch, ging abermals zur Theke und trommelte mit den Fingern auf der Plastikplatte. »Sie sind aber ganz hübsch nervös!« stellte die Frau fest und schüttelte mitleidig den Kopf. »Oder ist da draußen was?« »Nein«, sagte ich. »Na…?« sagte sie zweifelnd. »Wenn einer so zappelig ist!« »Machen Sie schon zu!« brummte ich. »Die sind ja heiß genug.« Und ging noch mal zur Tür.
Sie angelte mit einer Holzzange die Würste aus dem Topf und schob mir den Teller zu. »Zweivierzig«, sagte sie. Ich biß in die erste Wurst, zückte mein Portemonnaie und stellte entsetzt fest, daß ich nur eine Mark achtzig klein hatte – und zwei Fünfzigmarkscheine. »Ach, du heiliger Bimbam!« schimpfte die Frau in Weiß, als ich ihr den Fünfziger reichte. »Haben Sie’s nicht passend?« Ich verneinte. Sie begann in einer Kassenschublade zu kramen – aber das, was sie zusammenkriegte, reichte nicht aus. Ich sah aus der Tür. Zink stieg gerade in sein Auto. »Ich muß los!« sagte ich hastig. »Nehmen Sie die zweite Bockwurst zurück! Hier – einsachtzig für die eine!« Und steckte meinen Fünfzigmarkschein wieder ein. »Das geht aber nicht!« zeterte die Frau. »Ich darf doch Lebensmittel nicht…« Da war ich schon draußen. Gerade bog der weiße Chevrolet nach rechts über die Kreuzung und verschwand. Ich fuhr hinterher, so schnell ich konnte. Ich fuhr wie eine gesengte Sau. Im Kielwasser meines Autos schäumten Schimpfworte und drohende, Gebärden erschreckter Passanten und geschnittener Kraftfahrer sowie die Trillerpfeife eines Schupos – egal! Mir war alles egal, wenn ich ihn nur einholte. Aber ich schaffte es nicht. Der Chevrolet war weg, wie weggezaubert. Ich fuhr langsamer, hielt an, ordnete meine Gedanken und hoffte auf eine Erleuchtung. Ich hoffte sehr inständig, und da kam sie. Ich fuhr mit meiner Erleuchtung zur nächsten Telefonzelle – aber ich konnte nicht gleich telefonieren, weil ich doch alle meine Groschen für die Bockwurst… Wo war eigentlich die Bockwurst?
Da lag sie, halb gegessen, etwas breiter als ursprünglich vorgesehen, auf meinem Sitz. Es war mir nicht aufgefallen, daß ich darauf gesessen hatte. Ein Zigarrenhändler nebenan wechselte mir endlich den Fünfziger. Ich rief die Bahn an. Nach dreimaligem Verbinden hatte ich die richtige Stelle. »Ja«, sagte die freundliche Männerstimme, »wir haben vor einer guten Stunde zwei Pferde, zwei Traktoren, vier Wohnwagen und sechs Gerätewagen verladen. Die rollen schon seit etwa dreißig Minuten.« »Wohin?« wollte ich wissen. »Augenblick«, sagte die Stimme. Ich hörte, wie Erkundigungen eingezogen wurden. »Über Neuburg nach Endwarden und weiter nach Riebjerg. Riebjerg ist Zielbahnhof.« »Riebjerg?« fragte ich. »Dänemark«, erläuterte die Stimme. »Danke«, sagte ich. »Und wann wird der Zug dort sein?« »Das kann ich Ihnen so aus dem Handgelenk nicht sagen; jetzt hängen die Wagen an einem Zug, der nur bis Neuburg fährt. Da werden sie sortiert, umrangiert – am späten Abend kommen sie vielleicht dort an. Oder nachts.« Ich bedankte mich noch einmal und hängte ein. Mein nächster Anruf galt Spannagel. Seine Frau war nicht sonderlich liebenswürdig, aber sie brachte ihm dann doch den Apparat ans Bett. »Seien Sie nicht voreilig, Herr Klipp«, bellte er – es schien ihm schon wieder besser zu gehen – als ich ihm mein Dankeschön-Verschen für die Protektion aufgesagt hatte. »Seien Sie nicht voreilig! Vielleicht verfluchen Sie mich schon übermorgen! Das ist ein mieser Job bei uns. Mord hält sich nicht an Bürostunden. Ein alter Kumpel von mir hat zweimal seine Trauung verschieben müssen, weil er an einem Fall
arbeitete, der dauernd neue Überraschungen brachte… Sind Sie eigentlich verheiratet?« »Nein«, sagte ich. »Na, dann geht’s ja – dann schimpft nur Ihre Freundin.« »Und meine Wirtin«, sagte ich. »Ach – so einer sind Sie?« kicherte er. Ich kapierte nicht gleich – und als ich kapierte, war’s zu spät, um zu protestieren; er war schon wieder dabei, mich auszufragen. Ich berichtete ihm, was ich erlebt hatte und erklärte ihm meinen Einfall. Vor der Telefonzelle standen schon drei Leute. Ein Mann von zwei Meter Höhe klopfte mit einem Geldstück an die Scheibe. Ich sagte zu Spannagel: »Einen Moment, bitte«, und machte die Zellentür auf. »Tut mir leid, meine Herrschaften«, erklärte ich den drei Wartenden, »aber dies hier ist ein Dienstgespräch, das kann noch dauern!« »Reden Sie keinen Unfug!« raunzte der lange Mensch. »Was für ‘n Dienstgespräch soll ‘n das sein? Erzählense das Ihrer Großmutter, Mann, und beeilen Sie sich ein bißchen!« »Kriminalpolizei«, sagte ich und hielt ihm meine Marke vor die Nase – wozu ich hochlangen mußte. »Holen Sie meine Großmutter inzwischen. Sie wohnt in Lüneburg.« Er wurde zusehends kleiner, zuckte, nahm den Hut ab und flüsterte eine Entschuldigung. Dann machte er kehrt und ging davon. Seine Schritte wurden immer schneller. Es waren richtige Kerbholzschritte… Ich schloß die Tür, erklärte Spannagel den Zwischenfall und bat ihn, mir zu sagen, ob das, was ich vorhatte, richtig war. Er schwieg eine Weile. Ich glaubte geradezu zu sehen, wie sich seine Stirn unter dem grauweißen FoxterrierBürstenhaaransatz in Falten legte. Ob er wohl ein Nachthemd anhatte oder einen Pyjama?
»Tja, Klipp«, sagte er schließlich, »wenn Sie mich später nicht aufhängen, falls sich meine Meinung als falsch erweist – fahren Sie los! Eine Möglichkeit ist es… Wenn Sie recht haben, ist das, was Sie machen, immer richtig. Wenn Ihre Idee aber ein Windei ist, kriegen Sie eins auf den Deckel… Ich würde fahren!« »Danke, Herr Spannagel«, sagte ich, und mir war gleich viel besser. »Aber vorsichtig, Klipp!« warnte er. »Solche Brüder sind nicht zimperlich im Umgang mit der Polente! Wenn die was spitzkriegen… Denken Sie an die Unsumme, die der Staat dann Hinterbliebenenrente zahlen muß – an Freundinnen und Wirtinnen!« »Nicht zu reden von meinen drei angetrauten Gattinnen«, gab ich zu bedenken.
Eine knappe halbe Stunde danach fuhr ich schon auf der Straße nach Norden in Richtung Endwarden und mampfte im Fahren Streuselkuchen, den ich mir am Stadtrand noch gekauft hatte. War ja ‘n bißchen trocken, sättigte aber sehr schön. Die breitgesessene halbe Wurst hatte ich einem Hund in der Nähe des Bäckerladens spendiert, der mich daraufhin ansah wie eine jenseitige Erscheinung… Soweit Hunde Jenseitiges zur Kenntnis nehmen. Ein Glück, daß mein Auto ein paar Umdrehungen schneller war als so ein Güterzug – wenn ich mit den vierunddreißig PS unter meiner Motorhaube auch keine Chance hatte, die achtzig oder hundert oder was weiß ich wie viele Pferde des Chevrolets einzuholen… Immer vorausgesetzt, daß der elegante Herr Zink mit dem eleganten Koffer im eleganten Wagen überhaupt diese Strecke fuhr, was ich ja nur vermutete.
Es wäre auch gar nicht gut gewesen, ihn einzuholen. Ich wußte eigentlich nicht so genau, wie es laufen sollte – aber dann ergab sich alles von selbst… Also, der Reihe nach: Die Straße war gut und trocken, nicht allzu sehr befahren und erstaunlicherweise über die ganze Strecke ohne Baustelle und Umleitung. Ich erreichte Neuburg in weniger als einer Stunde. Bis ich allerdings den Güterbahnhof dort gefunden hatte, waren weitere zwanzig Minuten vergangen. Sehr viel später hätte ich nicht kommen dürfen, denn gerade, als ich dem Aufsichtsbeamten meine Legitimation gezeigt und mein Anliegen vorgetragen hatte, klingelte in seinem ziemlich tristen, nach Bohnerwachs und Schmierseife riechenden Büro irgendeine Klingel. »Das ist Ihr Zug!« sagte der Mann. »Er wird in etwa vier Minuten hier sein.« Mein Auto hatte ich hinter einem Schuppen in Deckung gefahren. Es war weder von der Straße noch von den Gleisen aus zu sehen. Ich ließ mir erklären, wie das mit dem Sortieren und Rangieren und Neuzusammenstellen der Güterwagen vor sich geht; dann durfte ich in die Kanzel des erhöhten Stellwerks klettern, von der aus ich die ganze Strecke – mehrere Kilometer weit nach links und rechts – übersehen konnte. Da kam auch ›mein Zug‹ schon an. Vorn drauf, gleich hinter der Lokomotive, war die Geisterbahn verladen. Ein geschlossener Güterwagen, in dem wohl die Pferde standen, bildete die Spitze, danach kamen fünf Rungenwagen, auf denen die Traktoren, die Wohn- und Gerätewagen festgezurrt standen, die zu Zinks Unternehmen gehörten. Der Zug hielt direkt am Stellwerk. Die Tür des geschlossenen Wagens wurde ein Stück aufgeschoben. Der schmale Bursche mit der schwarzen Lederjacke, den ich heute morgen nach dem Eisenstück gefragt
hatte, das Horn getötet hatte, steckte den Kopf durch den Spalt und sah sich um. Dann verschwand er wieder und schloß die Schiebetür. In keinem der Wohnwagen rührte sich etwas. Die zugeklappten Fensterladen blieben zu, keine der Türen öffnete sich. »Komisch«, sagte ich halblaut zu mir selbst, »schlafen die alle am hellichten Tag?« »Wer?« fragte der Eisenbahner, der vor mir an einem langen Pult saß, auf das ein Wirrwarr von Linien gemalt war, an deren Enden und Kreuzpunkten sich überall Knöpfe befanden. »Na, die Leute in den Wohnwagen da drüben«, sagte ich. »Da ist niemand drin«, erklärte der Mann und drückte auf einen Knopf, denn die Lok hatte sich von dem haltenden Zug gelöst und fuhr zischend davon. »Das ist verboten!« fügte er hinzu. »Aber in dem anderen Wagen…« sagte ich. »Da sind wahrscheinlich Tiere drin.« Er drückte wieder auf zwei Knöpfe, weil die Lok ziemlich weit weg gehalten hatte und nun zurückkam. Lämpchen flammten auf, irgendwas ratterte, eine Klingel schrillte – ganz nervös konnte einen dieses Pult machen. »Wenn nämlich Tiere mitfahren, muß laut Vorschrift jemand dabei sein, ein Pfleger – zum Tränken und so«, belehrte er mich. Die Lok ratterte vorbei und fuhr nach rechts davon. »Ach so«, sagte ich. Inzwischen war vor das Ende des Güterzugs eine kleine rote Rangierlokomotive gespannt. Sie schob die ganze Wagenkolonne langsam an uns vorbei. Auf einem Trittbrett des Pferdewaggons, aus dem der Lederjackenbursche geguckt hatte, stand nun ein Arbeiter mit einer kleinen roten Fahne und einer Trillerpfeife.
Der Knopfdrücker vor mir wurde aktiv, und der Zug wand sich auf ein anderes Gleis. Die Trillerpfeife schrillte. Nun kam der Zug zurück – nur die Güterwagen mit der Geisterbahnfracht blieben draußen, dreihundert Meter außerhalb des Rangierbahnhofs auf einem Abstellgleis. Und da sah ich links an der Böschung, auf einer schmalen, mit Rollsplitt bestreuten Straße, plötzlich den weißen Chevrolet Zinks auftauchen. »Na also!« sagte ich.
9
Der Knopfdruckbeamte vor mir hatte gerade alle Hände voll zu tun, weil ein Personenzug durchfuhr und die Güterzuglokomotive anschließend wieder irgendwohin schnaufte. Deshalb dauerte es drei Minuten, bis er sich umdrehte, meinen gespannten Blick bemerkte, ihm folgte und nun auch den außerplanmäßigen Vorgang am Bahndamm sah. Es dauerte noch eine halbe Minute, bis er darauf reagierte. »Nanu«, reagierte er, »was machen die denn da?« Der schmale Bursche war aus dem Güterwagen herausgeklettert und hinter einem großen Wacholderbusch verschwunden, hinter dem auch – unseren Blicken fast verborgen – Zinks Auto stand. Jetzt kam er wieder hervor und schleppte mühsam den Metallkoffer, den Zink am Hafen in seinem Kofferraum hatte verstauen lassen – und der mich auf die Idee gebracht hatte, die sich nun als offenbar richtig erwies. Der schöne Geisterbahnboss stieg hinter dem Burschen die Böschung hinauf. Er wirkte in seinem silbergrauen Mantel inmitten all der bundesbahneigenen Natur wie eine Pfeffergurke auf einem Obstsalat. Aber außer mir lachte niemand über das komische Gespreize, mit dem er über den Schotter stelzte, denn der Eisenbahner war zu verblüfft, und der Lederjackenbursche hatte zuviel damit zu tun, den Koffer zu bewältigen. »Was machen die da?« wiederholte der Eisenbahner. »Sie bringen einen Koffer in den Güterwagen«, sagte ich.
»Ja… ja, aber…« murmelte er irritiert. »Das hätten sie doch einfacher haben können – und außerdem ist das Betreten der Gleise bei Strafe verboten! Oder… Ist mit dem Koffer irgendwas faul? Wie? Hat das mit dem Fall zu tun, den Sie…?« »Ja«, sagte ich, »obschon ich auch noch nicht alles kapiere.« »Aber warum gehen Sie dann nicht los und greifen ein?« wollte er noch wissen – da tickte schon wieder was und leuchtete und flackerte und ratterte. Er mußte seiner aufreibenden Tätigkeit wieder nachgehen. »Ich brauche noch mehr als den Beweis, daß mit dem Koffer etwas faul ist«, sagte ich. »An der Geschichte hängt noch eine andere, viel bösere Sache.« »Mord?« fragte er. Ich sah die Sensationslust in seinen Augen. Ich nickte. »Ist in dem Koffer etwa eine…« Er schluckte: »… eine Leiche?« Ich verneinte lächelnd. Er war richtig ein bißchen enttäuscht. Eine zerstückelte Leiche, die vor seinen Augen verladen worden war – das wäre doch zu schön gewesen. Viele Stammtischabende hätte er mit seinen Schilderungen im Mittelpunkt gestanden. Schade. »Wann wird der Zug nach Dänemark zusammengestellt und auf die Strecke geschickt?« fragte ich. Er sah auf die Uhr. »In knapp zwei Stunden.« »Und wie lange fährt er bis zur Grenzstation?« »Dreieinhalb Stunden oder vier – je nachdem, wie lange sie in Endwarden noch brauchen. Da wird noch sortiert und angehängt.« »Es wird also kaum vor sieben Uhr sein?« fragte ich. »Kaum«, bestätigte er. »Da fängt’s schon an, dunkel zu werden«, dachte ich laut. »Das ist gut!«
Inzwischen hatten Zink und sein Pferdepfleger den Waggon erreicht und gemeinsam den Koffer hineingehoben. Zink klopfte sich die Hände ab und den Staub vom Mantel und dem Burschen auf die Schulter, tippte mit zwei Fingern an die Krempe seines hübschen Hutes und stelzte die Böschung hinunter zu seinem Auto hinter den Wacholderbusch. Eine halbe Minute später brauste er davon. »Tolles Auto!« sagte mein Eisenbahner bewundernd und schloß mit dem logischen Ausspruch: »Daß solche Leute es nötig haben, krumme Touren zu machen… Also, ich weiß nicht!« Mir stand der Sinn nicht nach einer Rede über kausale Zusammenhänge, über die Rangordnung von Ursache und Wirkung oder ähnliche Volksaufklärung. Also bedankte ich mich, sagte »Auf Wiedersehen« und verließ den Aussichtsturm mit der Aussicht auf einen Erfolg meiner Bemühungen. Der Obergüterbahnhofsvorstand (oder wie der Mann auch immer betitelt sein mochte) fragte, als ich dort adieu sagte, ob ich irgendwas erreicht hätte. Ich speiste ihn mit einem kurzen »Ja, danke!« ab, obwohl er sehr freundlich war. Aber ich würde eine halbe Stunde gebraucht haben, um ihm einen plausiblen Bericht zu geben. Ich ging zu meinem versteckten Auto. Sechs Stunden Zeit blieben mir für eine Entfernung von nur einhundertfünfzig Kilometern; ich überlegte, ob ich nicht einen Waldrand suchen sollte, um dort eine oder zwei Runden zu schlafen. Aber ich hätte vor Aufregung bestimmt kein Auge zugekriegt – abgesehen davon, daß mir als Ruhebett nur mein unbequemes Untermittelklassewagenpolster und kein Chevroletliegesitz zur Verfügung stand. Ein paar Karussells müßte man haben! Obschon ich sonst ein leidenschaftlicher Mittagesser bin – ein viel zu großer Teil meines viel zu kleinen Einkommens
geht für kulinarische Genüsse drauf –, aß ich an diesem Tag lustlos, ohne Konzentration und viel zu schnell. Daß ich heute nicht einmal mehr weiß, was ich damals gegessen habe, obwohl ich sonst ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Speisefolgen, Qualität der Suppen und Saucen, Zartheit der Steaks, Würze der Salate und so weiter habe – daß ich also heute nicht einmal mehr weiß, was ich damals in dem hübschen Restaurant, direkt an einem großen Kanal, gegessen habe, spricht nicht gegen das Restaurant oder seine Küche, sondern für meinen Gemütszustand. Ich weiß nur noch, daß die Masten und Schornsteine, Aufbauten und Flaggen aller möglichen Schiffe vor dem breiten Verandafenster vorbeiglitten, an dem ich saß, nachdachte, Männchen auf Bierdeckel malte und die Zeit verstreichen ließ. Einige der Männchen trugen Zinks Züge; andere glichen Spannagel; wieder andere sahen entfernt wie Paganini – der Geisterbahn-Paganini – aus. Ich zog Linien von Zink zu Paganini und malte Kringel um beide und saß über meinen Kritzeleien, wie Einstein selig über seinen Formeln und Gleichungen gesessen haben mag – ein Vergleich, der wertfrei gemeint ist und die Bedeutung des Resultats außer acht läßt. Der Kellner, ein heiter dreinblickender Endvierziger mit rosarotem, rundem Schädel, auf dessen Decke er etwa neun letzte Haare kunstvoll zu einer Scheitelfrisur geordnet hatte – der Kellner kam in immer kürzeren Abständen an meinen Tisch, um mich nach meinen Wünschen zu fragen. Es ging auf halb vier, als ich endlich merkte, daß ich für die Nachmittagskaffeegäste Platz machen sollte, die um diese Zeit erwartet wurden. Ein Autobus voll älterer Damen mit viel Rouge und Samt und wenig Neigung, jemand anders als sich selbst reden zu hören, war schon eingetroffen und erging sich in zahlreichen einander
überschneidenden Monologen. Weitere Busladungen waren angekündigt, hatte mich der Kellner wissen lassen. Ich zahlte, zog mir aus dem Automaten am Eingang noch Zigaretten und schwamm durch eine Sturzwelle neuer Kaffeedamen ins Freie. Ich hätte nun eigentlich die Gelegenheit nutzen können, um etwas für meine Bildung zu tun; ich hätte mir in den malerischen alten Städtchen, durch die ich fuhr, die Heimatmuseen ansehen und lernen können, wann Bodo der Zahnlose mit seinen Mannen vor den Toren gelagert und mit Brandschatzung gedroht hatte, sofern er nicht die Tochter Hadulf des Haarigen zur Frau… und so weiter. Aber ich hatte absolut keinen Sinn für norddeutsche Kleinstadt-Historie. Mir stand der Sinn nicht nach Steinbeilen, Moorleichen oder nach sonstigen Formen eingemachter Geschichte, die meistens nach Oberlehrern, Mottenkugeln und verstaubtem Volksbildungs-Idealismus riecht und vor deren Besichtigung man fast immer erst jemand zum Aufschließen wecken muß, um dann mutterseelenallein vor Vitrinen, dunklen Bildern, unverständlichen Urkunden, staubigen Steinen und nie gelesenen alten Büchern herumzustehen. Mich deprimiert so etwas. Ich verzichtete also leichten Herzens auf eine Vertiefung meines Wissens, und das um so lieber, als ich in Endwarden feststellte, daß in einem Kino, an dem ich vorbeifuhr, gerade eine Jugendvorstellung mit einem Western lief. Ich kam zu spät, um das Filmkunstwerk von Anfang an zu sehen. Sie ritten schon eine Weile, als ich mich in die letzte Parkettreihe schob. Es war ein Dutzend-Western – mit bösen Cowboys, die natürlich schwarze Hüte trugen, schwarze Augen hatten und schwarze Pferde ritten, und einem Sheriff, der ach so menschlich war und doch besser schießen und boxen konnte und bewies, daß er eben durchaus kein
Schlappschwanz war, wenn sie es auch alle – sogar die wunderschöne Miss Evelyne, die keusche Tochter des alten Ranchers – gedacht hatten. Der Sheriff bewies es nach anfänglichen Schwierigkeiten über die ganzen letzten tausend Meter Zelluloid, und ich zitterte für ihn, als er in die Falle ritt, die ihm die schwarzen Lumpenkerle gestellt hatten, und ich hieb mir aufs Knie, als er den ganz Schlimmen zusammenschlug, wie eben nur in Western die Bösewichter zusammengeschlagen werden… Es war wunderbar. An dem Happy-End war das jugendliche Publikum des Kinos im Gegensatz zu mir nicht so interessiert, denn als die schöne Evelyne dem Helden, der staubig und verschwitzt und mit dem obligatorischen Blutgerinnsel vom linken Mundwinkel zum Kinn als Sieger ins Städtchen einzog – als sie ihm also die Arme um den Hals legte und ihre Münder in Großaufnahme aufeinander zukamen, als die Musik hauptsächlich von Geigen ausgeübt wurde –, da brachen die Zwölf- und Vierzehnjährigen schon auf und strebten dem Ausgang zu. Breitbeinig, wie echte Cowboys, als wären sie soeben vom Pferd abgestiegen nach tagelangem Ritt durch die weite Prärie… Schätze, Partner, ihr werdet ziemlich durchsichtig sein, wenn ich erst zu schießen anfange! So ungefähr. Die enge, altmodische, nach Keller, Kinderwindeln und Kohl duftende Straße, in der das Kino lag, wischte die anderthalbstündige Illusion weg wie ein nasser Schwamm eine Kreidezeichnung. Und der kalte, nach Salz und Tang und Teer schmeckende Wind blies sogar den Kreidestaub davon, der sich möglicherweise in den Winkeln der Gemüter hätte festsetzen können. Ich stieg ernüchtert in mein Auto und fuhr langsam zur Grenze.
Der zuständige Zöllner, mit dem ich verhandelte, hieß Flegel, was mir die ersten zehn Minuten des Gesprächs ungeheuer erschwerte. Aber da der Mensch – laut Schiller – die Gewohnheit seine Amme nennt, ging mir auch dieser Name nach einer Weile leichter von den Lippen, als ich es erst befürchtet hatte. Wenn ich so hieße, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um meinen Namen ändern zu lassen. Oder ich würde auf schnellstem Wege promovieren, damit die Leute ›Herr Doktor‹ zu mir sagen müßten. Als ›Herr Doktor‹ spielt es keine so große Rolle, wie man heißt. Ich trug Herrn Flegel den Fall vor. Wir saßen in der Baracke, die den Zöllnern auf dem Bahngelände als Aufenthaltsraum diente und von der die gleiche kultivierte Wohnlichkeit ausstrahlte, die alle Büros ausstrahlen, für die der Staat verantwortlich zeichnet. Mein Gegenüber war ein Mann Mitte Fünfzig, der so aussah, als pflege er in seiner Freizeit ein Freilufthobby – Beobachtung des Liebeslebens der Mönchsgrasmücke etwa oder Wünschelrutengehen oder Nacktbaden oder irgend so was. Er hatte beneidenswerte ruhige Augen, die Hautfarbe eines Landbriefträgers und nur dort Falten, wo sie vom Schauen kamen. Auf seinem Schreibtisch stand das Foto einer Frau mit einem kleinen Doppelkinn, bei deren Anblick ich sofort an Topfkuchen, Kaffeekannen, Wolkenstores, Geranien und Häkeldeckchen denken mußte. Der Zollbeamte namens Flegel hörte mir zu, ohne etwas zu sagen. Seinem Gesicht war nichts anzusehen. Er rauchte Pfeife und blies die gut riechenden Wolken mit vorgeschobener Unterlippe in die Luft. Als ich fertig war, kratzte er sich am Hinterkopf, klopfte seine Pfeife am riesigen Steingutascher aus und sagte: »Ja… Also, das werden wir ja dann sehen. Und
wenn sich Ihre Idee bewahrheitet – wenn wir also das in dem Koffer finden, was Sie vermuten… Was dann?« »Ich brauche im Grunde nicht mehr als die Bestätigung«, sagte ich. »Was tun Sie denn sonst in solchen Fällen?« »Wir nehmen die Leute fest und holen die Kripo«, erwiderte er. »Manchmal tun wir aber auch so, als ob wir nichts merken und lassen sie laufen – vor allem bei Personenzugkontrollen, wo man sie leichter im Auge behalten kann. Wir verständigen dann die dänische Kripo, und die beschattet sie, um gleich die Empfänger der Ware mit hochgehen zu lassen.« »Ich glaube, das ist in diesem Fall vergleichsweise uninteressant«, sagte ich. »Ich bin hinter einem Mörder her. Sollen die Kollegen vom Rauschgiftdezernat sehen, wie sie zurechtkommen.« »Sie meinen, der Mann mit dem Koffer…?« Herr Flegel bekam runde Augen. »Nein, der nicht.« Ich winkte ab. »Der Mörder sitzt längst zu Hause – das hoffe ich wenigstens… Mann, das Haus sollten Sie mal sehen – fünfzehn Zimmer, schätze ich. Und echte Teppiche, vierzig Quadratmeter groß das Stück, und gewaltige Bilder, in Essig und Öl gemalt… Glauben Sie, das verdient einer mit Karussells und Geisterbahnen allein? Liliputaner hat er auch noch.« »Lili… Wie bitte?« Ich glaube, er überlegte, ob mein Dienstausweis, den ich ihm vorhin gezeigt hatte, echt war. Vielleicht hatte er es mit einem Verrückten zu tun? Dann kam die Erleuchtung. »Ach«, sagte er und sah mich von der Seite an, »die zeigt er auf Jahrmärkten und so?« »Nein«, erklärte ich, »einer sitzt in seinem Büro an der Telefonvermittlung, und eine noch kleinere spielt so ‘ne Art Haushälterin bei ihm – so klein!« Ich hielt meine Hand eben
über Tischplattenhöhe, um die Länge beziehungsweise die Kürze der Liliputanerin zu zeigen. »Also, ich weiß nicht…« meinte Herr Flegel. »Da würde ich mich nicht wohl fühlen, mit so was um mich rum – Sie vielleicht?« Ich gab zu, daß auch meine Vorstellungen von deutscher Gemütlichkeit am heimelig-trauten Herd die Anwesenheit von Liliputanern nicht unbedingt einschlossen, und dann klingelte Gott sei Dank das Telefon. Auch die interessantesten Themen soll man nicht erschöpfen. Der Anrufer meldete die Abfahrt des Güterzugs in Endwarden. In wenigen Minuten mußte der Geisterbahntransport hier an der Grenze sein. Wir gingen in die lange, schmale Halle mit der niedrigen Barriere, neben der einige Waagen standen und ein verglastes Holzgehäuse mit Schreibtisch, Telefon, einer ganzen Batterie Stempel und einem Regal voller Formulare. Neben diesem Gehäuse war ein Holzverschlag aus einfachen Schalbrettern. Die Bretter hatten sich stellenweise so verzogen, daß hier und da Spalten von annähernd Zentimeterbreite klafften. Ich bat den Zollbeamten, mich da hineinstellen zu dürfen, falls sie die Kofferkontrolle innerhalb der Baracke vornehmen würden, denn ich hielt es für besser, wenn mich der Pferdebursche nicht zu sehen bekam. Als Flegel die Tür des Vorschlags hinter mir schloß, fuhr draußen der Zug ein. Bremsen quietschten; jemand rief etwas – eine Anordnung, eine Begrüßung – ich konnte es nicht verstehen. Ich stand in dem dunklen viereckigen Raum, in den durch die Ritzen bläuliches Neonlicht in Streifen fiel. Es roch nach Gummi, rostigem Eisen und Harz. Der Raum war leer bis auf zwei Säcke in einer Ecke und ein Fahrrad, das mit den Rädern nach oben davorstand.
Ich lehnte mich an die Holzwand, von der aus ich die Halle gut überblicken konnte. Meinen heftigen Appetit auf eine Zigarette mußte ich unterdrücken, damit der Rauch nicht durch die Spalten drang und mich verriet. In der Halle war nur der Zöllner, mit dem ich gesprochen hatte. Jetzt aber traten durch die Tür am anderen Ende ein weiterer Zollbeamter, ein Eisenbahner und mein Lederjackenjüngling. Der Bursche schleppte den Metallkoffer zu einem langen Tisch, drei Meter von meinem Versteck entfernt, und wuchtete ihn auf die Tischplatte. »Ich sag Ihnen doch, das ist Werkzeug!« schimpfte er mit rotem Gesicht – rot von der Anstrengung? Oder vor Erregung? »‘n Abend«, empfing ihn Flegel. »Machen Sie mal auf!« »Da ist doch bloß Werkzeug drin«, wiederholte der Bursche störrisch. »Ja«, erwiderte Flegel, »Sie sagten es schon. Ist das auf der Liste angegeben?« Der zweite Zollbeamte hatte ein paar Formulare und Papiere in der Hand und fing an, eins davon durchzulesen. Er bewegte dabei die Lippen und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. »Ja«, sagte er, »hier: Metallkoffer mit Werkzeug.« »Schön«, meinte Flegel. »Na, bitte!« sagte der Bursche. »Machen Sie ihn trotzdem auf«, ordnete Flegel an. Der junge Mann zuckte die Achseln und fummelte an den drei Schnappschlössern des Koffers herum. »Ich fahr nun schon das fünfzehnte Mal über die Grenze«, knurrte er, »aber so was…« Der Koffer war offen. Flegel und der zweite Zöllner beugten sich darüber. »Packen Sie aus!« sagte Flegel. Der Bursche hob nacheinander drei Leinentaschen heraus, in denen Schraubenschlüssel, Einsätze für eine
Handbohrmaschine, Schraubenzieher, Feilen und ein paar kleine Flachzangen steckten. Dann kam die Bohrmaschine, einige Hämmer in verschiedenen Größen, ein Zollstock, zwei Fuchsschwänze, eine Rohrzange, ein flacher Holzkasten mit Schrauben, drei oder vier Kartons Nägel und noch einzelne Teile, deren Funktion ich nicht kannte. Der Koffer war leer. Links und rechts von ihm war die lange Tischplatte mit dem Werkzeug bedeckt. »Das ist alles«, verkündete der Bursche. Flegel sagte gar nichts. Ich sah, wie er den Kofferboden abtastete. Der Bursche sah ihm erstaunt und verständnislos zu. »Einen Zollstock!« sagte Flegel. Der andere Zöllner nahm den Zollstock aus dem Werkzeughaufen und reichte ihn seinem Kollegen. Flegel hielt den Zollstock innen an die seitliche Kofferwand, dann außen. »Fast zwei Zentimeter…« murmelte er. »Was?« fragte der Bursche. »Der Boden ist fast zwei Zentimeter stark«, erklärte Flegel ruhig. »Was ist denn dazwischen?« »Ich… ich… Keine Ahnung!« stotterte der Gefragte und sah so überzeugend ahnungslos aus, daß ich geneigt war, ihm zu glauben. Flegel faßte den leeren Koffer an beiden Seiten und hob ihn hoch. »Ziemlich schwer!« Er sah jetzt gar nicht mehr aus wie einer, der in seiner Freizeit das Liebesleben der Mönchsgrasmücken beobachtet. Der Bursche hob nun auch den Koffer ein Stückchen hoch. »Ja«, murmelte er, »komisch. Aber…?« »Das finden Sie komisch?« herrschte ihn der zweite Zöllner an. »Ich meine ja bloß«, verteidigte er sich lahm. Ich sah, daß Schweißtropfen auf seiner Stirn glitzerten. Er war blaß geworden, nur an seinem Kinn und an seinem Hals waren noch
rote Flecken zu sehen. »Ich weiß also wirklich nich…« setzte er noch hinzu. Dann verstummte er. Flegel hatte eine Ecke der Bodenplatte innen gelöst, schob einen Schraubenzieher darunter und drückte nun mit geschicktem Griff den Einsatz hoch. »Fassen Sie mal an!« sagte er zu seinem Kollegen. Sie standen jetzt beide so mit dem Rücken zu mir, daß ich nicht sehen konnte, was sie da entdeckt hatten. In der Aufregung hatten sie mich wohl völlig vergessen. »Sieh mal einer an!« sagte Flegel leise. »Da hätten wir ja mit einem Griff eine hübsche Zahl Zuchthausjahre beisammen!« Er trat beiseite, weil er sich wohl meiner erinnerte und hielt einen flachen, durchsichtigen Plastikbeutel hoch, in dem längliche, zentimeterdicke Tafeln oder Scheiben waren, die wie Knäckebrot oder Hundekuchen aussahen. Dann nahm er noch einen zweiten solchen Beutel aus dem Kofferversteck, der mit einem zuckerähnlichen Zeug gefüllt war. »Was ist das?« fragte der Pferdebursche ängstlich. »Na, tun Sie bloß nicht so!« schnauzte der zweite Zöllner. Der Bahnbeamte, der sich bisher schweigend im Hintergrund gehalten hatte, trat vor und betrachtete die Bündel interessiert. »Ich weiß davon nichts – das schwöre ich!« rief der Bursche, dem es unter den Blicken der drei Männer offenbar sehr mulmig wurde. Mich hätten die auch nicht fragen dürfen. Ich hatte das Zeug noch nie in natura gesehen. In den Kellern und Gartenlauben, in denen sich meine Laufbahn bis gestern abgespult hatte, war Rauschgift nicht vorgekommen, geschweige denn daraus gestohlen worden. Flegel packte inzwischen aus. Er verkündete bei jedem Beutel, den er aus dem Koffer holte, was darinnen war: »Haschisch!« rief er. »Und hier Marihuana; so ziemlich das gleiche… Da: Meskalin, das Teufelszeug! Sieh mal an, auch
schlichtes LSD – und da, wieder Marihuana… Ihr seid ja prima sortiert! Das sind etwa vier oder gar fünf Kilo, alles zusammen – für hunderttausend Mark Gift! Und Sie…« Er wandte sich an den entsetzt dastehenden Pferdepfleger: »Sie wissen natürlich von gar nichts! Sie tragen den Schiet bloß über die Grenze, weil die dummen jungen Leute in Dänemark und Schweden mehr für den Dreck zahlen, als die bei uns zu Hause… Was? Wie? Keine Ahnung, nicht wahr?« »Aber… aber… Ich sag Ihnen doch, daß ich keine Ahnung…« Der Bursche schrie es fast; er schien tatsächlich völlig aus der Fassung gebracht. »Seit drei Jahren bin ich bei der Geisterbahn«, fuhr er aufgeregt fort; »wir haben schon immer solche Koffer mitgehabt, und immer war da Werkzeug drin – nichts anderes. Nichts, wovon ich was weiß. Und beinahe jedes Mal habe ich die sogar selber mit aufgeladen. Meistens zu Paul in den Pferdewagen…« »Wer ist Paul?« fragte Flegel dazwischen. »Paul… Paul Horn«, sagte der Bursche; er sprach plötzlich leise. »Der hat vor mir die Pferde…« »Und wo ist er jetzt?« wollte der zweite Zöllner wissen. »Tot«, erwiderte der Bursche. »Letzte Nacht…« Alle drei schwiegen. »Es war aber bestimmt ein Unfall«, sagte der Bursche. »Die Kripo war auch schon da… Ich hab ihnen gesagt, was ich gesehen habe. Es war keiner bei Paul in der Nähe. Er hat vielleicht zu toll an den Seilen gezogen oder der eiserne Winkel war oben nicht richtig fest – er ist nämlich von so einem Winkel erschlagen worden… Aber warten Sie mal!« Er wurde wieder ganz aufgeregt: »Paul muß was gewußt haben! Er hat so was geredet, wie er da gelegen hatte… Von ›verfluchtem Zeug‹ hat er geredet und von ›Verbrechern‹ und – ja: von ›doppeltem Boden‹ und von so was alles. Kurz ehe er gestorben ist, war das. Aber es war bestimmt ein Unfall! Der
einzige, mit dem er immer Krach hatte, war Stanko – und der…« Er brach ab. Flegel faßte nicht nach, da er von mir die Geschichte schon kannte. »Ich werde jetzt die Kriminalpolizei benachrichtigen. Nehmen Sie den Mann mit in mein Büro«, sagte er zu seinem Zollkollegen. »Ich kann dann ja wohl gehen?« meinte der Bahnbeamte und ging, als Flegel ihm zugenickt hatte, während der zweite Zöllner mit dem Burschen in einer der Türen verschwand. Sogar die Rückenfalten der Lederjacke des jungen Mannes verrieten, wie sehr er am Boden war. Als mir Flegel die Tür des Verschlags öffnete, sagte er: »Eine schöne Bescherung – haben Sie’s gesehen?«
Eine Dreiviertelstunde danach saß ich wieder im Auto und fuhr mit einem hübschen Triumphgefühl und neunzig Stundenkilometern Geschwindigkeit über die dunklen Straßen zurück. Ich hatte mit den beiden Kollegen, die auf Flegels Meldung gekommen waren, den Fall noch einmal durchgesprochen, und wir waren uns alle drei einig, daß der Koffer mit dem doppelten Boden nicht nur der Schlüssel zu Zinks Reichtum, sondern auch zu Konyas’ Tod sein müsse. Wie sehr sich auch Fachleute täuschen können, erfuhr ich noch vor Mitternacht.
10
Wir waren eine ganze Wagenladung voll Ordnungshüter, als wir um Viertel nach elf vom Polizeipräsidium aufbrachen, um Zink zu besuchen. Eine knappe halbe Stunde zuvor hatte ich dem Diensthabenden berichtet, hatte eine kleine Zigarre geerntet, weil ich diese und jene Vorschrift nicht genau oder auch gar nicht beachtet hatte, war aber auch mit sparsam dotierten Bonbons bedacht worden, denn ich brachte ja eine Erfolgsmeldung mit. Und nun saß ich im Fond eines unauffälligen DienstMercedes, nachdem viel hin und her telefoniert worden war. Mit von der Partie war ein älterer, schweigsam-freundlicher Kollege von der Mordkommission, ein Spezialist vom Rauschgiftdezernat, der von irgendeinem Familienfest weggerufen worden war und darüber eher froh zu sein schien, und ein Fahrer unbestimmten Alters und Aussehens, der selbstvergessene Zwiesprache mit den wenigen anderen Verkehrsteilnehmern hielt, indem er sie halblaut ›Trottel!‹, ›Ochse!‹, ›Hornvieh!‹ nannte und ›Paß doch auf, Brummer!‹ rief, wenn jemand seiner Meinung nach falsch fuhr. Da es ohnehin am Weg lag, fuhren wir – um nichts zu versäumen – durch die schmale Straße, in der sich Zinks Büros befanden. Aber das Haus lag dunkel; die Straße war leer bis auf ein Strichmädchen, das an einer Mauer lehnte und seinen mageren linken Oberschenkel ins Licht unserer Scheinwerfer hielt. »Sperrgebiet!« sagte der heitere Rauschgiftkollege neben mir.
»Überschreiten Sie bloß Ihre Kompetenzen nicht!« meinte der andere Kommissar vorn über die Schulter und grinste. »Ich werd mich hüten! Seh ich aus wie Sitte?« fragte der erste. »Nicht unbedingt«, sagte ich. Im gleichen Moment flogen wir heftig nach vorn. Unser Chauffeur hatte scharf vor einer Katze bremsen müssen, die aus einem der düsteren Hoftore gesaust kam. »Scheißvieh!« schimpfte er. »Katze am Abend, erquickend und labend«, blödelte der Rauschgiftmann. »Aber nur weiße!« blödelte ich mit. »Die war schwarz«, verkündete der Fahrer bierernst. »Auwei!« sagte ich. »Ist sie übern Weg?« »Voll drüber!« sagte der Fahrer. »Na, dann können wir uns ja auf was gefaßt machen«, unkte mein Nebenmann. »Ist Herr Zink bewaffnet?« »Aber meine Herren!« mischte sich der ältere jetzt ein und sandte uns strafende Blicke nach hinten. Ich sah im Rückspiegel, wie er trotzdem seine Hand prüfend auf die Stelle seines Mantels legte, durch die er seine Pistole fühlen konnte. Ich nutzte die Zwanzig-Minuten-Fahrt, den zwei Mitfahrern die Geschichte so genau zu erzählen, wie ich sie wußte und sah und erlebt hatte. Dabei fiel mir ein und auf, daß seit meinem zufälligen Aufkreuzen vor der Geisterbahn in dem Augenblick, als der Wagen mit dem toten Konyas herausgekommen war, erst etwa achtundzwanzig Stunden vergangen waren.
Am verabredeten Treffpunkt, fünfhundert Meter vor der schönen Villa des Liliputanersammlers, wartete im Dunkel
großer Kastanienbäume ein zweiter Wagen, in dem vier Uniformierte saßen, die uns als Schutz und Schirm zugeordnet waren. Während ich nun auch denen sagte, worum es ging, kam ich mir vorübergehend wie ein Stratege vor. Dann wurde es ernst. Wir begaben uns zu siebt – der Fahrer blieb bei den Autos – an die Front. Die Front lag still, dunkel und recht friedlich vor uns, als wir zur Tat schritten. Es war schwierig, die kiesbestreute Einfahrt mit vierzehn Männerfüßen zu beschreiten, ohne in der nächtlichen Stille sämtliche Fensterscheiben der Umgebung zum Klirren zu bringen. Also gingen wir nur zu dritt – was laut genug war – da entlang. Die vier Polizisten liefen über den samtenen Rasen und verteilten sich rund ums Haus, für den Fall, daß Zink vielleicht durchdrehen und Dummheiten machen würde… was weiß ich. Es war jedenfalls an jede Möglichkeit gedacht, wie sich das für einen gut organisierten Apparat gehörte. Ich muß gestehen, daß mir dies sogar ein gewisses Sicherheits- oder Rückendeckungsgefühl gab, als ich nun vor der Haustür stand und klingelte. Trotzdem war das alles so aufregend, daß ich vergessen hatte, im Vorbeigehen eines der Karussellpferde zu tätscheln. Wir warteten. Nichts geschah. Hoch am Himmel zog ein Düsenclipper nach Südwesten. Er war nicht zu sehen, aber das unverkennbare Geräusch schwoll an und verebbte, als er über unsere Köpfe flog. Die Fluggäste setzten sich jetzt in ihren Kissen zurecht, lösten die Sicherheitsgurte, griffen zur Zigarette oder zu einer Zeitung oder zu einem Krimi, um vor der Einladung zum Schlaf über den Wolken noch ein bißchen zu lesen. Sie lasen
vielleicht von einem tollkühnen Detektiv, der kaltblütig in eine Revolvermündung blickte und so was – und sie wußten, daß sie in einigen Stunden in New York landen würden oder in Afrika oder was weiß ich wo. Gewiß kam keiner auf den Gedanken, daß tief unter ihm vor einer Villentür drei Männer standen, die gerade Pistolen entsicherten und einen Verbrecher stellen sollten. Einen Mörder – möglicherweise. Wir standen da noch immer. Ich klingelte ein zweites Mal, diesmal doppelt so lange. »Da kommt keiner!« sagte der eine. »Da ist keiner!« sagte der andere Kollege, was auf den Grad ihres Mißtrauens beziehungsweise auf die Länge ihrer Dienstjahre schließen ließ. Aber in diesem Augenblick klirrte hinter der Tür eine Kette und die Quäkstimme der Liliputanerin rief: »Wer ist denn da?« »Polizei!« sagten wir, fast im Chor. »Machen Sie auf!« »Mitten in der Nacht?« quäkte die Zwergin. »Was wollen Sie denn?« Sie öffnete und steckte ihr Gnomengesicht unter der Türklinke durch. »Wir müssen sofort Herrn Zink sprechen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ihm das recht ist«, nörgelte sie. »Ich auch nicht!« sagte ich. »Los, lassen Sie uns rein!« Ich drückte mit sanfter Gewalt gegen die Türfüllung, so daß ich die kleine Frau mitsamt der Tür langsam beiseite schob. Wir gingen an ihr vorbei hinein. Die Wartehalle-Diele war nur spärlich erleuchtet und wirkte noch ungemütlicher als am Vormittag. Mein Rauschgiftkollege suchte neben dem Türrahmen, fand ein paar Lichtschalter und drückte alle der Reihe nach von oben nach unten. Jetzt war es schön hell in der Halle – und hinten, neben der Standuhr, die gerade mal wieder schlug, Viertel vor zwölf, ging eine Tür auf, und Zink erschien.
Er hatte einen schönen, schwarzseidenen Hausmantel an und ließ, die Hände in den Manteltaschen, den Blick über uns wandern, ohne den Kopf zu bewegen. »Was wollen Sie?« fragte er mit seiner Arbeitgeberstimme. »Nehmen Sie die Hände hoch!« sagte mein älterer Kollege ruhig und griff in die Manteltasche. Da schoß Zink. Viermal hintereinander schoß er aus der Tasche heraus. »Aaaahhh!« kreischte die Zwergin und fiel neben mir mit einem dumpfen Schlag auf das Gesicht. Ich kauerte schon hinter einem Sessel. Mein jüngerer Kollege war verschwunden. Der andere kauerte hinter dem zweiten Sessel. Dort, wo Zink gestanden hatte, gähnte der leere Türrahmen. Die Liliputanerin röchelte. Unter ihrer kleinen, schiefen Figur, die da wie ein Häufchen Lumpen auf dem Parkett lag, bahnte sich ein Blutrinnsal lautlos seinen Weg hervor und kroch wie ein glitzernder dunkelroter Wurm auf mich zu. Von links, aus der Gegend der roten Samtvorhänge, tönte die Stimme meines zweiten Kollegen: »Geben Sie’s auf, Zink! Sie kommen hier nicht raus!« Als Antwort peitschte ein fünfter Schuß aus dem Dunkel hinter der Tür. Glas splitterte. »Sie haben Ihre Haushälterin getroffen, Herr Zink!« schrie ich. »Sie ist schwer verwundet! Hören Sie auf zu schießen!« Plötzlich polterte da im Dunkeln etwas. Jemand schrie: »Au!« Ein Stöhnen war zu hören. Metall klirrte auf Holz, und dann kam – ein wenig atemlos, aber deutlich zu verstehen – die Stimme eines der Polizisten: »Ich hab ihn! Kommen Sie mal her und machen Sie Licht!« »Au!« schrie die andere Stimme noch einmal und keifte: »Lassen Sie mich sofort los!«
Das war Zink. Wir waren fast gleichzeitig an der Tür. Ich fand den Schalter und machte Licht. Es war ein Schlafzimmer. Auf dem Bettrand saß einer der Schupos und hielt, scheinbar ohne jede Anstrengung, die Arme des vor ihm auf dem Bettvorleger kauernden Zink fest. Die Arme waren allerdings so auf den Rücken gedreht, daß Zink bei jeder Bewegung vor Schmerzen ächzte. »Ich bin durchs Fenster«, erklärte der Polizist. Es klang fast wie eine Entschuldigung. »Was fällt Ihnen ein!« keifte Zink, als mein älterer Kollege ihm die Handschellen anlegte. Ich lief zurück zu der Zwergin. Sie lag unverändert in der Halle. Das Blutrinnsal war nicht weitergekrochen. Ich drehte sie vorsichtig um. Der graue kleine Schlafrock, den sie trug, zeigte einen Blutflecken von der Größe eines Suppentellers. Die Kugel war ihr in die linke Schulter gedrungen. Eine Ausschußstelle konnte ich nicht sehen. Ich scheute mich, sie zu untersuchen, ob da noch ein zweiter Schuß getroffen hatte. Ich fürchtete mich davor, ihr den Mantel zu öffnen. Der Puls ging kräftig, aber ein wenig schnell. Meine zwei Kripokollegen kamen in die Halle. Zwischen ihnen ging Zink. Er sah sehr unordentlich aus. Sein schwarzseidener Mantel war verrutscht, seine Frisur bestand nur aus einem wirren Haarkranz rund um eine weißhäutige Glatze – das hervorragende Toupet, das er tagsüber trug, hatte er entweder in der Eile nicht aufsetzen können oder bei dem Kampf mit dem Polizisten verloren. Die drei blieben zwischen den Sesseln stehen.
»Ist es schlimm?« fragte Zink leise und vermied es, auf die Liegende zu sehen. Als er sprach, schlug die kleine Frau die Augen auf. »O Gott, o Gott, o Gott«, wisperte sie, »was ist los?« Sie war vor Schreck und Schmerz ohnmächtig gewesen. Ich half ihr aufstehen. Sie faßte sich grobknochiger an, als sie wirkte. »Meine Schulter!« greinte sie und versuchte mit verzerrtem Gesicht, den Arm zu bewegen, aber es ging nicht. Das Blut begann wieder zu fließen und lief ihr innen im Ärmel entlang und tropfte von den Fingerspitzen auf den Boden. »Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte ich zu dem Polizisten, der im Hintergrund stand. »Irgendwo im Arbeitszimmer da drüben ist wahrscheinlich ein Telefon.« Durch die Haustür, die angelehnt geblieben war, kamen die drei anderen Beamten von draußen. »Wer von Ihnen kann der Dame einen Notverband machen?« fragte ein Kollege. Ein gutmütig aussehender Polizist trat vor: »Mach ich, Herr Kommissar!« »Verbandsstoff ist dort im Badezimmer«, sagte Zink. Die kleine Frau fing laut an zu weinen. »Warum hast du das gemacht, Fritz, mein Junge!« Zink senkte den Kopf. Ich führte sie zu einem Sessel. »Der Krankenwagen kommt gleich!« meldete, aus dem Arbeitszimmer kommend, der Polizist. »Kommen Sie!« sagte mein älterer Kollege zu Zink und faßte nach seinem Arm. »Leb wohl, Tante Helen!« sagte Zink. »Warum hast du nur wieder was Schlechtes gemacht, Junge!« schluchzte die kleine Frau. »Gestern abend hast du mir noch hoch und heilig versprochen, in Zukunft…«
»Wann gestern abend?« fuhr ich dazwischen. »Gleich nach dem Abendbrot!« schluchzte sie erschrocken. »Um welche Zeit war das?« fragte ich schnell. »Halb neun oder so…« stammelte sie und versuchte mühsam, mit der rechten Hand ein Taschentuch aus ihrer linken Hausmanteltasche zu holen, um ihre Tränen zu trocknen. Ich gab ihr mein Reservetaschentuch. Sie lächelte den Bruchteil einer Sekunde dankbar. »War Herr Zink hier, als Sie miteinander gesprochen haben?« bohrte ich weiter. »Ja, hier!« sagte sie. »Waren Sie hier im Haus, gestern abend?« wandte ich mich nun an Zink selbst. »Ja – bis der Anruf kam wegen Konyas…« Auf einmal erstarrte er, riß die Augen auf und sagte ganz langsam und leise: »Sie verdächtigen mich doch nicht, ihn…?« Und er sah die umstehenden Männer einen nach dem anderen totenblaß an – und dann schrie er plötzlich und riß wie ein Irrsinniger an seiner Handfessel: »Nein! Nein! Ich bin doch – aber ich bin doch kein Mörder!« Die große Standuhr schlug zwölfmal. Während sie schlug, wurde mir klar, daß ich ein Dilettant, ein Anfänger, ein Riesenrindvieh war… Was hatte Madame Sylvia mir prophezeit? Bösen Trubel – Aufregung und – Ärger… jawohl: Ärger. Die ganze Wahrheit hatte sie mir vorhergesagt, zum Teufel noch mal! Ich hatte wie ein Idiot gehandelt, darüber tröstete auch die Tatsache nicht hinweg, daß ich – auf der Suche nach dem vermeintlichen Mörder – einen Rauschgifthändler gefaßt hatte.
11
Ich hatte nur dreieinhalb Stunden Schlaf hinter den Augenlidern, als ich mein Auto wieder einmal vor dem Rummelplatzportal parkte und ausstieg. Die Nacht zuvor war auch nicht die ruhigste und längste gewesen; der Job fing an, gesundheitsschädlich zu werden. Außerdem regnete es in jenem gleichmäßigen Nieselstil, den der Wettergott für diese Gegend als Spezialität bereithält. Bei solchem Wetter frage ich mich immer, wieso dies Land als bewohnbar gilt. Was die Menschen hier für Gummigaloschen, Regenmäntel, Hüte und Mützen, für Schirme, Grippetabletten, Nasentropfen, Hustenbonbons, Grog, Heizöl, Strom, Gas und Kohle ausgeben, um zu überleben – damit könnte man bestimmt die Sahara in eine blühende und grüne Oase verwandeln, wo aus den fröstelnden, verschnupften, verquollenen, hustenden, heiseren, mißgelaunten Bewohnern dieses düsteren Landstrichs braungebrannte, fröhliche Sonnenfreunde werden würden. Schnapsidee! Wenn der Dachverband nordeuropäischer Gummiwärmflaschenfabrikanten (DANEUGUFF) davon erführe, er würde mir von bezahlten Ganoven die Fensterscheiben einschmeißen lassen – von den möglichen und kaum auszudenken Maßnahmen des Verbandes der Vereinigten Apotheker ganz zu schweigen. Ich latschte – ohne Lust zum Lachen – durch die Budenreihen. Es war kurz vor neun. Die ohnehin bei Tageslicht trübsinnig machenden Zeltwände waren im Regen schwarz geworden und noch trauriger anzusehen.
Nach den Ereignissen im Hause Zink hatten wir bis gegen drei Uhr früh noch im Präsidium mit dem schießwütigen Schausteller und Rauschgiftgrossisten geackert. Er hatte, hart am Rande eines Nervenzusammenbruchs, alles gestanden, hatte noch ein paar Hintermänner preisgegeben, was zur Verhaftung dreier Zulieferanten führte – auch der Werkzeugfabrikant Schrader konnte festgenommen werden –, und war dann, zerknittert an Leib und Seele, ins Untersuchungsgefängnis geschafft worden. Von den Kollegen des Rauschgiftdezernats hatte ich eine Menge freundlicher Worte zu hören gekriegt, aber bei der Mordkommission war meine Aktivität mehr mit mitleidigem Lächeln bedacht worden. Man vergißt nicht, sich nach dem Alibi eines Verdächtigen zu erkundigen – und wenn er einem noch so eindeutig der Täter zu sein scheint. Ich war ziemlich kleingedreht und ratlos um halb vier schlafen gegangen und nicht sehr optimistisch um sieben wieder aufgestanden. Allerdings hatte mich Spannagel vorhin am Telefon wieder etwas aufgerichtet. »Das ist eine verzeihliche Panne, Klipp«, hatte er gesagt. »Sie wäre mir unter diesen Umständen vielleicht auch passiert. Sie mußten hinter Zink herfahren – das hat sich ja letztlich auch als richtig erwiesen. Selbst wenn Sie ihn vorher gefragt hätten, wo er zur Tatzeit war – würde die Aussage der Liliputanerin… Ist das eigentlich seine richtige Tante?… würde deren Aussage glaubhaft gewesen sein? Machen Sie sich keine Sorgen deshalb!« Und dann hatte Spannagel gesagt: »Suchen Sie lieber weiter nach dem Mörder!« Da ging ich also, machte einen Bogen um die größten Pfützen und bedauerte die Leute in den Wohnwagen rechts und links, denen, wenn das so weiter regnete, ein schlechtes Geschäft bevorstand.
An Madame Sylvias Behausung waren die Fensterladen aufgeklappt. Unter dem kleinen Baldachin über dem Treppchen saß ein etwa sechsjähriger Junge in Gummistiefeln und aß einen Apfel. »Tante Thea ist nicht da!« verkündete er mir, als ich näher kam. »Ist gar niemand da?« fragte ich. »Doch«, krähte er, »das Baby und Tante Tony!« Die Tür des Wohnwagens öffnete sich, und Tony Konyas schaute heraus: »Ach, Herr Klipp!« rief sie, als sie mich sah. »Wollen Sie zu mir?« »Ja«, erwiderte ich. »Kommen Sie rauf!« Ich trat mir sorgfältig die Füße ab und schüttelte den Regen von meinem Hut. Ein paar Spritzer trafen den apfelessenden Jungen. »He… Onkel!« meuterte er. »Entschuldigung!« sagte ich. Es war sehr gemütlich in dem kleinen Geviert, warm, sauber – richtig hübsch. Tony hatte einen weißen Sweater über weinroten langen Hosen an. Sie trug ein korallenrotes Band im Haar und sah zwar ein bißchen blaß und übernächtigt, aber nicht mehr so schrecklich verjagt aus, wie… wann war das?… wie gestern früh. »Legen Sie ab, nehmen Sie Platz!« forderte sie mich auf. Ich tat, wie geheißen. Sie nahm mir Hut und Trenchcoat ab und hängte beides neben die Tür. »Einen Kaffee?« »Gern, wenn’s keine Mühe macht«, sagte ich. »Ich habe Sie eigentlich gestern schon erwartet«, sagte sie, während sie hinter dem halb aufgeschobenen Vorhang Wasser in einem Elektrotopf ansetzte.
»Ich war den ganzen Tag unterwegs«, wich ich aus. Wir schwiegen. »Meine Mutter ist im Krankenhaus – seit gestern nachmittag«, sagte sie über die Schulter und füllte Kaffeepulver in den Filter. »Doktor Heilmann – Sie wissen doch? – hat sie eingewiesen. Es ist was mit dem Magen. Er weiß noch nicht genau was. Die Aufregungen hätten es wohl ausgelöst, meint er. Empfindlich war sie schon lange…« Das Wasser brodelte. Tony ließ es langsam durch den Filter laufen. Kaffeeduft erfüllte den Wohnwagen. Ich bat, rauchen zu dürfen. »Ja, sicher«, sagte Tony Konyas. »Haben Sie auch eine für mich? Ich hab vergessen, mir welche…« »Aber ja, natürlich«, sagte ich, »stört der Rauch auch den Kleinen nicht?« »Danke«, sagte sie. »Nein – der schläft hinter dem zweiten Vorhang.« Ich gab ihr Feuer. Auf der Treppe wurden Schritte laut. Jemand klopfte. Tony ging zur Tür. »Ein Paket für Frau Riethmüller«, sagte eine Männerstimme. Ich konnte ein Stück blaue Postuniform sehen. »Danke schön!« erwiderte Tony, nahm das Paket und schloß die Tür wieder. Sie stellte es an die Seite und goß mir Kaffee ein. »Sahne? Zucker?« fragte sie. Ich verneinte dankend. »Tut mir leid, das mit Ihrer Frau Mutter«, sagte ich. »Hoffentlich ist es nichts Ernstes…« Ich schielte nach dem Paket. Der Absender war gut zu lesen. Ein Versandhaus. »Nein, hoffentlich ist es nichts Ernstes!« wiederholte Tony. Sie kramte in der Schublade des Tisches, suchte auf dem kleinen Bücherregal und in den Fächern neben dem Elektroherd und sagte: »Macht es Ihnen was aus, wenn ich nebenbei das Paket auspacke? Ich glaube, es ist Wäsche drin;
dann kann ich meiner Mutter gleich Bescheid sagen, wenn ich nachher ins Krankenhaus fahre.« »Bitte«, sagte ich. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich suche das Taschenmesser, um den Bindfaden aufzuschneiden«, sagte sie. »Meine Mutter hat so ein Messer mit einem Perlmuttgriff… Wo steckt das Ding denn bloß?« »Wie sieht das aus?« fragte ich. Ich hatte plötzlich Herzklopfen. Vom Kaffee kam das nicht, denn ich hatte erst zwei Schluck getrunken. Tony Konyas beschrieb mir mit wenigen Worten das Messer. Ich wußte sofort, wo ich es schon gesehen hatte…
Der Oberarzt ließ mich zehn Minuten warten. Ich saß in seinem Behandlungszimmer und betrachtete die verschiedenen Geräte, Instrumente und Gefäße. Es roch nach Lysol, Äther, Jod – wie es in Krankenhäusern so riecht. Auf einem Drahtgestell am Fenster hingen einige große Röntgenbilder. Graues Gewölk war darauf zu sehen, ein Knochenschattenriß, der wie ein Becken aussah – seltsam abstrakt wirkende Formen. Auf dem gekachelten Gang draußen war das Rollen eines Bettes zu hören. Stimmen. Eine Tür klappte. Stille. Irgendwo, weit entfernt, leierige Radiomusik. Der Arzt kam herein. Er war lang, dünn und grauhaarig; er ging mit hängenden Schultern. Er trug einen etwas zu steif gestärkten weißen Kittel, der bizarre Falten warf. »Schwab!« sagte er und gab mir die Hand. »Wo brennt’s? Behalten Sie doch Platz, Herr Kommissar.«
»Ich arbeite an einem Mordfall, Herr Doktor Schwab«, sagte ich, »und muß so schnell wie möglich Ihre Patientin Frau Riethmüller sprechen. Ist das wohl zu machen?« Er schwieg, angelte sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber neben den Untersuchungstisch. Ich bot ihm eine Zigarette an. Er nahm sie, wir hatten zur gleichen Sekunde unsere Feuerzeuge brennen und gaben uns gegenseitig über Kreuz Feuer. »Ist das unbedingt nötig?« fragte er, und der Zigarettenrauch quoll ihm aus Mund und Nase. »Ist sie so krank, daß sie…?« »Ja«, nickte er. »Wir haben heute morgen geröntgt. Sie hat keine Chance. Operieren ist sinnlos. Wenn sie Glück hat, geht es schnell. Da kann man nur hoffen.« »Ich werde versuchen, sie nicht unnötig aufzuregen«, versprach ich, »aber ohne ein Gespräch mit ihr bleibt mein Fall möglicherweise ungelöst…« »Ach so«, sagte Doktor Schwab; »sie ist…?« »Ja…« erwiderte ich. »Alles spricht dafür!« Madame Sylvia lag in einem Einzelzimmer. Sie lag schmal, blaß, fast durchsichtig in den weißen Kissen. Auf der Bettdecke vor sich hatte sie viele kleine bunte Spielkarten zu einer Patience ausgelegt, als ich eintrat. »Herr Klipp!« sagte sie, nachdem ich nahe genug bei ihr war, so daß sie mich erkennen konnte. »So eine Überraschung! Gerade habe ich die Karten befragt, ob ich noch Besuch kriege… und da haben die Karten ›Ja!‹ gesagt… und nun kommen Sie! Was gibt’s? Setzen Sie sich!« »Guten Tag, Frau Riethmüller«, sagte ich, fügte hinzu: »Was machen Sie denn für Geschichten?« – und erschrak, weil ich auf einmal empfand, wie doppelsinnig das war, was ich gerade gesagt hatte. Ich murmelte was Verlegenes, daß das
Krankenhaus ja wohl nun doch kein Aufenthalt für so vitale Damen sei, oder – so ähnlich. Dann brachte ich Hut und Mantel am Fußende des Bettes unter, zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben sie, die inzwischen ihre Karten zusammengeschoben und auf den Nachttisch gelegt hatte. Da saß ich nun und wußte nicht, wie ich anfangen sollte. Madame Sylvia sah mich an. Ihre Augen wanderten über mein Gesicht hinab zu meinen Händen und wieder zurück auf mein Gesicht. »Sie wissen alles, Herr Klipp, nicht wahr?« sagte sie leise. »Ja«, erwiderte ich, ebenso leise, »ich weiß nur nicht, warum Sie es getan haben.« »Meine Tochter wäre kaputtgegangen«, sagte sie. »Konyas hatte sie zur Mitwisserin gemacht, um sie ganz in der Hand zu haben. Sie war selbst schon so weit, daß sie von dem Zeug probieren wollte – um in Träume zu flüchten… Ich konnte es nicht mehr ansehen.« Sie faßte nach meiner Hand und hielt sie mit ihren heißen, trockenen Fingern fest. »Da ich sowieso sterbe…« »Aber nicht doch!« widersprach ich. »Lassen Sie’s gut sein.« Sie lächelte. »Ich weiß genau Bescheid. Es ist nur noch eine Frage von Tagen oder höchstens Wochen…« Ich sagte nichts. »Aber was ist mit dem alten Onkel Paul?« fragte sie nach einer Weile. »Das war ein Unfall, sagen die vom Gerichtsmedizinischen Institut«, erwiderte ich. »Ich habe es vor einer halben Stunde erfahren – ich weiß nicht, wie sie das festgestellt haben –, aber sie sind ihrer Sache sicher.« »Ich dachte schon…« Sie brach ab.
»Sie dachten an Zink«, sagte ich. »Nicht wahr? Nein, Zink war’s nicht. Er hat ein hieb- und stichfestes Alibi für beide Zeiten. Aber er sitzt fest wegen Rauschgifthandels. Wir haben ihn überführt. Er hat gestanden.« »Gott sei Dank!« Sie seufzte erleichtert. Abermals entstand eine Pause. Madame Sylvia hielt immer noch meine Hand. Sie wirkte erschöpft, aber Schmerzen schien sie nicht zu haben. Wahrscheinlich hatten sie ihr irgendwas gegeben. »Wird man mich nun noch unter Mordanklage stellen?« fragte sie flüsternd. »Das wäre schrecklich – für meine Tochter vor allem. Sie weiß von nichts…« »Ich habe keine Ahnung!« sagte ich. Und dann sagte ich etwas, was niemals jemand erfahren darf: »Ich habe auch keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis ich mit meinen Ermittlungen so weit bin, daß in dieser Sache überhaupt Anklage gegen irgendwen erhoben werden kann, Frau Riethmüller. Ich tappe völlig im dunkeln.« Sie hob langsam und mit Mühe ihre zarte Hand und strich mir behutsam mit den Fingerspitzen über die Lippen.