Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Der einsame tote Mann
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Der einsame tote Mann
Kriminalroman
An einem warmen Septemberabend geht Doktor Hromádka wie jeden Tag in der Prager Vorstadt spazieren. Plötzlich bemerkt er die Umrisse einer liegenden Gestalt auf dem Rasen. Zögernd geht er darauf zu und erkennt einen bewußtlosen Mann. Als besorgter und hilfsbereiter Bürger benachrichtigt er das Rettungsamt. Die Hilfe trifft schnell ein und bringt den mehr Toten als Lebendigen ins Krankenhaus. Dort stirbt er innerhalb kurzer Zeit, ohne daß man vorher seine Identität hatte feststellen können. Eines jedoch steht fest: Hier handelt es sich um Mord. Kapitän Michal Exner nimmt sich dieses Falles an, und nachdem er ermitteln konnte, daß das Opfer ein Innenarchitekt namens Milan Veber ist, steht er vor einem Rätsel mit nur einem winzigen Hinweis aus Vebers Notizbuch: ZOO.
Václav Erben
Der einsame tote Mann
Verlag Das Neue Berlin
Titel der Originalausgabe: Osamělý mrtvý muž Aus dem Tschechischen von Gustav Just
Der Autor dankt vor allem dem Direktor des Zoologischen Gartens in Prag, Dr. Zdeněk Veselovský, für dessen Entgegenkommen und Anregungen; zweitens möchte er den Leser darauf aufmerksam machen, daß alle handelnden Personen frei erfunden sind und ihre eventuelle Ähnlichkeit mit lebenden Personen rein zufällig ist; ebenso verhält es sich mit dem Ort der Handlung
1 Es war ein Septemberabend, lind und lau, zum Träumen geeignet. Es steht außer Zweifel, daß auf seine Art auch Milivoj Hromádka träumte, früher promovierter Pädagoge, nun Doktor der Philosophie und leitender Mitarbeiter einer bedeutenden Kulturinstitution. Durch die halboffene Balkontür drangen die Düfte der Prager Vorstadt ins Zimmer: Rauch aus den Lokomotiven des nahen Bahnhofs, Auspuffgestank der Verbrennungsmotoren. Nachdem er den ausgelassenen Sohn ins Bett verfrachtet und der grippekranken Gattin zwei Acylpyrin und eine Celaskon aufgezwungen hatte, nachdem er sich die Fernsehnachrichten angeschaut und den Kommentar zum Tage angehört hatte, liefen die Gedanken von Doktor Hromádka auf Pfaden, die man allgemein folgendermaßen definieren könnte: Probleme des Arbeitsplatzes in Zusammenhang mit den Ansichten der zentralen Behörden. Der Doktor seufzte schließlich und stand auf, um vor dem abendlichen Bad den ärztlich verordneten Spaziergang zu absolvieren. Er maß mit langen Schritten die Fußwege des Parks vor dem AWG-Haus, einem Gelände, das zum Teil auch ein Werk seiner Hände war, und es schien, daß sich unter seiner Größe von einhundertfünfundneunzig Zentimetern und seinem Gewicht von einhundertzwanzig Kilogramm der feuchte Asphalt durchbog. Auf der fernen 8
Straße rauschten die Straßenbahnen und sausten zischend die Autos. Die Hochspannungsleitung zu seinen Häupten summte sanft in der feuchtigkeitsgesättigten Luft. Die tiefhängenden Lampen leuchteten bläulich. Am Ende des kleinen Parks stand in einer Seitenstraße eine Reihe von Autos. Er ging um seinen weißen Wartburg herum, um sich flüchtig zu überzeugen, daß nicht herumtollende Kinder den bisher noch glänzenden Lack mit Kratzern und Fußtritten beschädigt hatten, und setzte seinen Spaziergang auf einem dunklen Fußweg zwischen einem Transformatorenhäuschen und einer Reihe niedriger Sträucher fort; die Hände auf dem Rücken, in Gedanken und Erwägungen vertieft, die mit dem morgigen Besuch des Ministers und der anschließenden Reise zu einer UNESCO-Konferenz zusammenhingen. Dessenungeachtet konnte er jedoch den dunklen, hinter einem Strauch liegenden Gegenstand nicht übersehen. Im nassen Gras lag ein Mensch, der sich sachte zu bewegen schien. Mein Gott, dachte Doktor Hromádka, ein Betrunkener. Ein besoffenes Vieh, fügte er im stillen freundlich hinzu, weil er niemals ein Feind des Alkohols gewesen war, jedoch die Gallenkrankheit, an der er litt, ihm eine gewisse Zurückhaltung auferlegte. Er hatte nicht allzuviel Lust, den Betrunkenen aus dem Grase zu hieven und auf die Beine zu stellen. Aber ringsum war es öde und leer. Von den Straßen, die am Park vorbeiführten, konnte man nicht bis hierher sehen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Mitmenschen gab dem Doktor keine Ruhe. Er ging die paar Schritte zurück, betrat den Rasen und beugte sich über die liegende Gestalt. Ihn verwunderte es einigermaßen, daß der Betrunkene, der sich da im Gras herumsielte, überraschend gut und sauber gekleidet war. Offenbar hatte ihn ein Taxifahrer hergebracht und auf der Hauptstraße abgesetzt, der Mann war heimwärts 9
gegangen, und hier hatte ihn eine begreifliche Schwäche überfallen. „He, Herr“, sagte Doktor Hromádka und rüttelte den Mann, „es ist feucht hier. Sie könnten sich den Steiß verkühlen. Oder die Nieren.“ Der Mann war jedoch augenscheinlich völlig vom Alkohol vergiftet, denn er war keiner Bewegung fähig. Er bemühte sich, aber es ging nicht. Das war offensichtlich. Und statt Worten gab er nur unverständliche Laute von sich. „Sie haben zuviel geladen, Freundchen“, ermahnte ihn liebenswürdig Doktor Hromádka. Und er versuchte, den Mann aufzurichten. Er hob ihn hoch, was bei Hromádkas Massigkeit und im Hinblick darauf, daß der Betrunkene einen ganzen Kopf kleiner war und vielleicht um mehr als ein Drittel weniger wog, nicht schwierig war. Aber er hielt sich nicht auf seinen eigenen Beinen, und der Doktor war trotz seiner kräftigen Gestalt wiederum kein solcher Athlet, um ihn auf den Armen wegtragen zu können. So schleppte er ihn wenigstens bis zur Wand des Transformatorenhäuschens und klemmte ihn zwischen dieser Wand und der Treppe zur Eisentür ein. Er stieß einen nachdenklichen Seufzer aus und hatte das Gefühl, diesen Mann vom Sehen zu kennen. Offenbar war er ihm gelegentlich begegnet, der Mann wohnte wahrscheinlich hier in der Gegend. In Gedanken nahm er die Brille ab und rieb sich die Augen. Schaute sich um. Nirgends eine Menschenseele, alles einsam und verlassen. Der Mann auf der Erde verlor sich fast im Dunkel. Sein weißes Hemd konnte aus der Ferne aussehen wie ein weggeworfenes Stück Papier. Doktor Hromádka dachte über die Form der barmherzigen Tat nach, die zu verrichten ihm oblag.
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2 Die zwei älteren Leute beendeten ihr zeremonielles Abendessen in dem Zimmer, in dem die wertvollsten Möbelstücke aus der einst größeren Wohnung versammelt waren. Der weißhaarige Herr mit den vornehmen und wohlerzogenen Gesten wischte sich den Mund mit der weißen Serviette. „Verehrteste“, sagte er, „schon lange, gnädige Frau, habe ich keinen so ruhigen und netten Abend verlebt. Leider Gottes ist die Zeit schon fortgeschritten, und die Enkel warten, Sie wissen ja, heutzutage …“, und er lächelte vielsagend. Die grauhaarige Dame im schwarzen Kleid bekundete herzliches Interesse. Und sie seufzte, wie schön es doch sei, wenn man für jemanden sorgen könne. Er stimmte ihr zu und teilte ihr beim Abschied mit, daß Toníks Uhr, die sie ihm anvertraut habe, damit er sie reparieren lasse, in drei Wochen fertig sei. „Dieser Mann“, sagte er, „hat viel Arbeit. Sie wissen ja, heutzutage!“ Und er küßte ihr die Hand und wünschte eine gute Nacht. Er lehnte ab, daß sie den Aufzug rief. Und frisch und gelenkig stieg er die Treppen hinab. Als er außer Sichtweite war, gaben seine Muskeln in Rücken und Beinen nach. Er ließ sich gehen, und aus dem munteren grauhaarigen Gentleman wurde ein gewöhnlicher alter Mann mit Rheumatismus in den Knien, der sich am Geländer festhielt. Vor dem Hause richtete er sich leidlich auf. Er schickte sich nämlich an, die Straße zu überqueren. Aus dem Schatten hinter ihm tauchte eine alte Frau mit Handtasche auf. „Sakra, Dolfa“, zischte sie, „du lebst aber!“ Jäh drehte er sich um. Zog die Stirn kraus. „Was erlauben Sie …“ Er stutzte. „Herrgott! Die Bobina, ja? Na, du hast mir gerade noch gefehlt …“ „Ich hocke hier zweieinhalb Stunden aufm Gehsteig …“ 11
„Hau bloß ab!“ „Marschiere dir nach, vom Friedhof, mir war klar, daß du in dieser noblen Bude nicht wohnen kannst … Brüll mich nicht an, Dolfa! Ich war dir gut genug …“ „Hau ab, sag’ ich!“ „Wenn du ’n anständiges Leben führst, dann kann ich doch …“ „Was kannst du?“ „Na, zum Beispiel das Weib treffen, wo du heute zum Abendessen warst …“ „Geh hinter die Ecke. Unauffällig“, flüsterte er mit allem Nachdruck, „damit man dich nicht aus’m Fenster sieht.“ „Das ist schon eine andere Rede“, sagte sie zufrieden, und recht munter für ihr Aussehen und Alter trippelte sie davon. Ein lustiges altes Weib voller Leben. Er richtete sich auf und überquerte würdevoll die Straße. Auf dem Gehsteig gegenüber drehte er sich zu den Fenstern um, zog ein weißes Taschentuch aus der Brusttasche und winkte. Dann noch mit dem Hut. Und abschließend eine galante Verbeugung. Er klimperte mit den Schlüsseln und schloß einen älteren schwarzen Wagen auf. Es war ein Praga Sechssitzer aus der Zeit kurz vor dem Kriege. Er stieg ein und fuhr bedachtsam los. Hinter der Ecke bremste er und öffnete die Tür. Die alte Frau trat an den Wagen heran, schniefte, raffte mit der Hand den Rock und schlüpfte auf den Sitz. „Meiner Seel, Dolfa“, sagte sie, „ich bin eine neugierige Frau und möchte dir nur ungern Schwierigkeiten machen. Aber sag mir, du alter Gauner, wie bist du zu diesem Schlitten gekommen?“ Er lächelte fast erhaben. „Dieser Wagen gehört einer meiner Freundinnen.“ Sie lachte auf. „Na, das ist vielleicht ein Witz, Freund12
chen! Hör mal, damit dir’s klar ist – ich war nur neugierig, weil ich dich im Friedhofstor mit diesem Weib gesehen hab’. Und wie ich da so wartete, da hab’ ich überlegt. Ich hab’ einen Plan und brauchte dazu einen Partner. Wenn du willst.“ „Tja …“, sagte er unbestimmt. „Hör mal“, sagte sie, „das ist kein passender Ort für Verhandlungen. Ich kenn’ eine stille Kneipe in Libeň, die du zweifellos auch kennst …“ „Und was sollen wir dort?“ „Wir setzen uns ’rein, trinken was, und ich sage dir, worum es mir geht.“ „Jetzt kann ich nicht. Ich fahre zu der Dame, der dieser Wagen gehört.“ „Zur Nacht?“ fragte sie giftig. „Nein. Zum Abendessen.“ „Ich warte auf dich.“ Er dachte nach. „Ein Stückchen nehm’ ich dich mit. Warte in Libeň auf mich, aber besauf dich nicht. Und vor allem nicht auf meine Rechnung, denn Bargeld hab’ ich nicht. Das muß dir klar sein.“ „Das ist mir nicht klar.“ „Wird es, wenn ich es dir erkläre.“
3 Doktor Hromádka empfand es als sehr unangenehm, daß seine Tagesordnung gestört war. Er hatte beim Rettungsamt angerufen und mußte nun warten, bis der Krankenwagen kam. Er sah ein, daß er es nicht geschafft hatte, am Telefon genau zu erklären, wo die Stelle mit dem bewegungslosen Betrunkenen war. Und so stand er am Rande des Gehsteigs, hielt Ausschau und dachte traurig daran, daß er sich gerade jetzt im warmen Bade13
wasser aalen könnte. Auch die Zukunftsaussichten waren düster. In einer halben Stunde wird nur mehr laues Wasser fließen. Er wurde aufmerksam, hob die Hand. Endlich. Der Wagen hielt dicht bei ihm, und aus dem Fenster steckte der Mann, der neben dem Chauffeur saß, den Kopf heraus. „Sie sind wer?“ „Doktor Hromádka.“ „Stimmt“, meinte der Mann mit einem zufriedenen Nicken. „Nur wegen der Ordnung. Manchmal machen sie sich einen Spaß mit uns, und beim besten Willen kann man nicht erraten, wann ja und wann nicht. Wo haben Sie den Kerl?“ „Sehen Sie im Park das Transformatorenhäuschen?“ „Ja.“ „An der rechten Wand. Dort an den Sträuchern, sehen Sie?“ „Die Sträucher ja.“ „Ich hab’ den Mann an die Wand gelehnt.“ „Aha.“ „Ich fürchte, mit dem Wagen kommen Sie da nicht hin …“ Der Mann wandte sich zum Fahrer um. Der nickte. „Der Kollege meint“, sagte der Beifahrer, „wir kommen hin. Er bewegt sich wirklich gar nicht?“ „Nein.“ „Wer soll denn den so weit über den Rasen schleppen. Fahren wir, Josef.“ Josef steuerte den Wagen geradenwegs auf den Gehsteig, über den Fußweg, auf dem nur zwei Räder Platz fanden, hinter sich einerseits eine Spur im Gras, andererseits stellenweise das vernichtete Werk der freiwilligen Aufbauhelfer zurücklassend. Doktor Hromádka konnte nach Hause gehen. Seine Pflicht hatte er erfüllt. Aber unwillkürlich folgte er dem Wagen. Er sah, wie die beiden ausstiegen, wie sich ihre 14
weißen Mäntel im Dunkel bewegten. Hätte man die Augen halb geschlossen, so konnten die beiden Sanitäter Nachtgespenstern ähneln. Doktor Hromádka aber kniff die Augen nicht zusammen. Er konstatierte lediglich, daß sie den Betrunkenen in den Krankenwagen luden und die Tür schlossen. „In Ordnung, Chef“, sagte der Fahrer. „Kennen Sie ihn?“ fragte er und zeigte mit dem Daumen auf den Wagen. „Nein, Herr.“ „Dann gute Nacht, Chef“, verabschiedeten sie sich, aber plötzlich bemerkte der Fahrer: „Sie wohnen dort?“ Er zeigte auf den Block der AWG-Häuser hinter dem Park. „Ja. Im ersten Aufgang“, erläuterte Hromádka und fügte hinzu, ohne daß ihn jemand darum gebeten hätte: „Ich mache hier regelmäßig meinen Abendspaziergang.“ Der andere Mann war schon im Auto, der Fahrer nickte zum Gruß, kroch hinter das Lenkrad, und der Wagen fuhr schaukelnd an. Vorsichtig glitt er vom Gehsteig auf die Fahrbahn. Unter den Rädern begann der nasse Asphalt zu zischen. „Hör mal, Josef“, sprach der Beifahrer seinen Kollegen an, „ist das nicht ein recht komischer Besoffener?“ „Ja“, stimmte der Fahrer zu. „Deshalb hab’ ich’s ja so eilig. Und deshalb hab’ ich den Burschen auch gefragt, wo er wohnt. Man weiß ja nie, nicht wahr?“
4 Der schwarze Praga fuhr würdevoll über die Palmovka und bog in eine verlassene Straße längs der Eisenbahn ein. Dort parkte Adolf Kroupa, seufzte wonnevoll auf, denn er hatte zwei glänzende Abendessen im Magen und 15
in der Tasche einen Hunderter für die Reparatur des Vergasers, der in den letzten drei Jahren keine Reparatur gebraucht hatte. Er warf den Hut auf den Rücksitz, nahm die Krawatte ab und warf sie auf den Hut. Er stieg aus, legte Sakko und Weste ab, nahm die Manschettenknöpfe heraus und krempelte die Ärmel hoch. Dann zog er den Sakko wieder an und legte das übrige sorgfältig auf den Sitz. Es war nicht ausgeschlossen, daß sich zu dem vereinbarten Treff mit Božena Ciprová noch andere alte Bekannte einstellen würden, und Adolf Kroupa wollte nicht die Zielscheibe ihres Spotts und ihrer blöden Fragen sein. Er stelzte über die Geleise, und ein Stückchen weiter hinter der Ecke war sein Ziel, das matt und gelb auf die Straße leuchtete: Smíchover Staropramen, Weine, Liköre, Limonaden, Kaffee, Tee. Kaltes Gabelfrühstück. Er trat in den Ausschank und sah fast nichts vor lauter Rauch. Sie stand weder an der Theke noch an den Wänden ringsherum. Er fand sie im Nebenraum an einem versteckten Tischchen hinterm Ofen. Sie sah aus wie eine versorgte, bescheidene alte Frau. „Du siehst hervorragend aus“, lobte er sie. „Ach, quatsch nicht“, fertigte sie ihn verlegen ab. „Was bestellst du dir?“ „Nichts“, sagte er knapp. Er schmeckte im Mund immer noch den vortrefflichen Kaffee und die Mehlspeise, die er vor einer knappen halben Stunde genossen hatte. Fast drehte sich ihm in dieser stinkenden Kneipe der Magen um. „Spinnst du, Dolfa?“ „Hab’ keinen Appetit. Hab’ gut gegessen und getrunken, wozu soll ich mir den Magen verkorksen. Und du?“ „Na, ich hatte ein Stück Brot mit Wurst.“ „Und was hast du sonst in dir?“ „Zwei Biere.“ „Lüg nicht!“ 16
„Meiner Seel, zwei!“ „Du lügst, Bobina!“ „Und einen Harten. Na, mein Gott. Bist auch kein Abstinenzler.“ „Aber ich muß mich halten“, sagte er streng. „Sonst verlier’ ich die Geschäfte.“ Sie lachte. „Hör mal, Dolfa, ich würde dich brauchen.“ „Ich habe schon einmal gesagt, daß ich keinen Kies habe.“ „Aber ich brauch’ keinen Kies. Ich brauch’ einen Partner. Das ist mir eingefallen, als ich dich gesehen habe.“ „Ich schlittere in nichts ’rein. Ich habe jetzt mein sicheres Auskommen.“ „Aber es wäre ohne Risiko. Du kannst doch mal ’ner armen alten Frau helfen.“ „Mit dir, Bobina, kann schwerlich etwas ohne Risiko sein. Also – du kannst dich mir anvertrauen. Wo wir schon einmal beisammensitzen und du es doch nicht bei dir behalten kannst. Aber damit ist die Sache für mich auch erledigt, damit mußt du freundlicherweise rechnen.“ „Immer“, sagte sie anerkennend, „immer hast du geredet, wie’s in Büchern steht. Du machst ja auch Karriere, und ich bleib’ eine arme alte Frau …“ Sie seufzte. „Alt wärst du ja“, sagte er unsentimental. „Aber das ist auch alles, was du bist. Nun pack schon aus, worum es geht, damit ich hier nicht bis nach Mitternacht hocke. Ich muß beizeiten ins Bett, um morgen frisch zu sein.“ „Und Spaziergänge, machst du die?“ „Regelmäßig.“ „Das ist fein, das paßt mir. Kann ich mir noch was bestellen?“ „Das kannst du, aber bezahlen werde ich nicht. Ich hab’ dir schon gesagt, daß ich kein Bargeld habe.“ Sie seufzte auf. „Nur ein Zwölfer-Bier. Meiner Seel, nur das eine noch.“ Er seufzte, rief den Kellner und bestellte ein Bier und 17
ein Mineralwasser. Mineralwasser hatten sie nicht, so bestellte er sich eine Selters. Angeekelt schaute er zu, wie der Kellner mit einer schmutzigen Serviette den Tisch abwischte. Sie beugte sich zu ihm. „Hast du auch an Sonntagen Zeit?“ „Selten.“ „Wann am ehesten?“ „Meistens vormittags. Je nach den Umständen.“ Er zückte sein Notizbuch. „Hier schreib ich mir’s ins Kalendarium …“ „Hör mal, ich versteh’ immer noch nicht, was du jetzt eigentlich treibst.“ „Das geht dich nichts an“, sagte er schroff. „Aber ich ahne es.“ „Red du zu deiner Sache.“ Sie beugte sich noch näher zu ihm und begann rasch und halblaut zu sprechen. Als der Kellner den halben Liter vor sie hinstellte, leerte sie ihn fast in einem Zuge.
5 Annähernd zur gleichen Zeit rief man vom Rettungsamt bei der Abteilung für Innere Krankheiten im nächsten, nur ein paar Blocks entfernten Krankenhaus an. Es hatte keinen Sinn, einen Wagen zu schicken. Ein junger Internist kam im Trab herbeigeeilt. „Alkohol ist das bestimmt nicht“, sagten sie ihm. „Ziehen Sie ihn aus.“ Zwei Ärzte standen über dem reglosen Körper. Es war nur ein Zufall, daß sie beide um die Dreißig waren und an diesem Tage Dienst hatten. „So eine sonderbare Starre …“, sagte leise der Internist. „Anzusehen ist ihm nichts … Er atmet schwach …“ 18
„Wird immer schlimmer …“ Der Internist stieß einen Seufzer aus. „Ich ruf den Alten an … Was ist mit dem Magen?“ „Alkohol auf keinen Fall. Das sieht nicht nach Vergiftung oder Schlafmitteln aus … Hier hat er Kratzer … Solche Abschürfungen … Sie haben ihn aus dem Dorngestrüpp gezogen.“ „Was, wenn wir ihn zu Ihnen bringen?“ Der Arzt vom Rettungsamt wollte den rätselhaften Fall loswerden, und außerdem hatte er unten zwei Männer und eine Frau, die mit Sicherheit vollgepumpt mit Alkohol waren. Der Internist stimmte ratlos zu.
6 Der alte Herr verließ das Gasthaus in Libeň kurz nach elf. Das muntere und erstaunlich lebenstüchtige alte Weiblein, dem er vor dem Gehen noch großzügig zwanzig Kronen geschenkt hatte, weil ihm ihr Plan einfach und realisierbar und, was seine Person betraf, risikolos erschienen war, wurde nach der Sperrstunde vor die Tür der Kneipe geschubst und torkelte durch die verlassenen Straßen hin zum Flußhafen. Sie kauerte sich auf die Bohlen in der Nähe der Brücke, wo sie erst die Kühle vor Sonnenaufgang weckte. Die Hoffnungslosigkeit und Trauer des Alters legten sich schwer auf sie, und sie humpelte unsicher in Richtung Karlín. Im Morgengrauen, zwischen Buden, niedergerissenen Zäunen, Haufen von Eisenschrott und anderem Gerümpel, zwischen Disteln und staubbedeckten Sträuchern, tauchte ein Liebespaar auf. Vorgebeugt hielten sie einander an den Händen und ließen sich von den freien Pfaden zwischen dem Unrat leiten, den die Stadt an das flache Ufer des Flusses geschoben hatte. Über die ge19
borstenen Betonplatten, welche die Fahrbahn befestigten, stiegen sie hoch zur Brücke. Sie hielt ihn an der Hand, und in den Augen hatte sie jenen Ausdruck, wie er Frauen eigen ist, die ihren Mann gewonnen haben. Sie war um die Zwanzig, vielleicht jünger, eine schmale Blondine mit runden Augen. Der junge Mann war ein genaues Abbild von männlicher Melancholie und Trauer. Damit ihm die Zähne nicht vor Kälte klapperten, preßte er fest die Kinnbacken zusammen. Er zog seinen hageren Körper am Geländer hoch und schaute traurig auf den Fluß, dessen Schmutz ein milchiger Dunst verhüllte. „Was werden sie zu Hause sagen?“ fragte sie. „Ich weiß nicht …“ „Du bist schon zweiundzwanzig.“ „Weiß ich“, sagte er und fügte irgendwie grundlos hinzu: „Du bist sehr nett, Maruška, sehr …“ Sie antwortete nicht, drückte nur noch mehr seine Hand. Man sah ihm nicht an, daß er das spürte. Durch die unansehnlichen Straßen von Holešovice strebten sie zur Stromovka. Sie hielt ihn weiter an der Hand und fragte ihn, offensichtlich beunruhigt durch seine müde Trauer: „Hast du Angst, Honza?“ „Nein“, entgegnete er. „Ich habe gesagt, ich muß über Nacht auf Arbeit bleiben.“ „Bist du gestern bei ihr gewesen?“ fragte sie schüchtern. „Nein. Bei wem?“ „Na, doch bei ihr! Ich weiß, daß …“ „Nein, ich bin nicht bei ihr gewesen.“ „Aber du solltest bei ihr sein, nicht wahr?“ Er antwortete nicht, und sie hielt das für Zustimmung. Sie ließ seine Hand los. Unterm Viadukt blieben sie stehen. Ein grauer und ungemütlicher Platz. Er lehnte sich an die schmutzigen Steine der Mauer. 20
„Ich muß nach Hause“, sagte sie. „Bevor die Tante aufwacht, aufsteht und um halb) sechs zur Arbeit geht …“ „Ich bin …“, sagte er langsam, und es war zu erkennen, daß er sehr unsicher nach Worten suchte, „heute nicht bei ihr gewesen …“ Sie kam zu dem Schluß, daß er nicht log. Weil es ihr schien, daß zu dieser Stunde und nach der Nacht, die sie gemeinsam verlebt hatten, lügen ungehörig war. Sie umarmte und küßte ihn. „Ahoi …“ Er hielt sie in den Armen. Es war eine zärtliche und unmännliche Umarmung.
7 Bei Tagesanbruch starb auf der Abteilung für Innere Krankheiten in der Universitätsklinik ein unbekannter Mann an einer unbekannten Krankheit. Das Kollegium der fünf Ärzte, die es im Verlauf der Nacht auf der Klinik zusammenzutrommeln gelungen war, konnte die Diagnose nicht bestimmen und keine Therapie vorschlagen. Unter ihnen war ein bedeutender Kenner von Giften, Rauschmitteln und überhaupt aller Tabletten und Präparate, mit denen sich die Leute das Leben nehmen (oder mit denen es ihnen genommen wird), mehr Chemiker als Arzt, der von Zeit zu Zeit durch die Umstände gezwungen war, als Leichenbeschauer einzuspringen – Doktor Arnošt Buble, ein schwarzhaariger Weltmann mit goldgerahmter Brille, der unter den übrigen verschlafenen Männern und Frauen in weißen Kitteln frisch und gebadet wirkte und aussah wie der Hofgynäkologe der englischen Königin. „Was ist es, Kollege?“ fragten sie ihn. Er seufzte. „Ich würde mir gern eine anstecken, meine Herren …“ 21
Sie gingen auf den Flur. „Haben Sie bemerkt … auf der linken Gesäßbacke …“ „Ein Einstich …“ Er nickte. „Er lag angeblich in Dornen“, bemerkte jemand. Doktor Buble neigte den Kopf auf die linke Seite und schaute auf zu den zerzausten Haaren, der Ärztin, die vor ihm stand und einen ganzen Kopf größer war. „Es sind eigenartige Symptome. Von denen ich noch nicht einmal gelesen habe … Er war ohne Papiere, nicht wahr?“ „Ja.“ „Dann lassen Sie ihn auf die Gerichtsmedizin bringen … Das wird das beste sein“, sagte Buble und zog den ausgeliehenen weißen Kittel aus. Er knöpfte den gestreiften Sakko zu, strich sich die Haare an den Schläfen glatt, seine Brille blitzte, als er beim Abschied die Hände schüttelte und die Klinik verließ. Zehn Minuten danach kam aus dem Gebäude ein Angestellter mit einem Handwagen gefahren. Nach der Form der Blechtruhe, die er darauf transportierte, war offensichtlich, worum es sich hier handelte. Seltsam könnte vielleicht der Umstand erscheinen, daß die Beförderung von Verstorbenen durch eine öffentliche städtische Straße in dieser Form geschah. Aber in jenem Stadtteil und zu so früher Stunde … bevor da ein Auto gekommen wäre … Auf der Abteilung für Innere Krankheiten, wollten sie sich den Mann, dem sowieso niemand mehr helfen konnte, vom Halse schaffen; bevor das Auto gekommen wäre, wäre es Tag geworden, und das Institut für Gerichtsmedizin lag gleich um die Ecke.
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8 In der Junggesellenbude herrschte völliges Dunkel, weil die Rollos an den Fenstern noch heruntergezogen waren. Das Telefon mußte dreimal klingeln, bis der junge Mann im Bett etwas murmelte und sich so an den Rand rollte, daß er den Hörer erreichen konnte. „Na?“ gab er einen angewiderten Laut von sich. „Buble“, sagte der Mann am anderen Ende des Drahtes. „Was ist los?“ „Buble“, wiederholte der Mann geduldig. „Du schläfst noch?“ „Ein bißchen“, gab Exner zu. „Es ist ja wohl Nacht.“ „Und bist du allein?“ Kapitän Michal Exner drehte sich um, um auf die andere Hälfte des Bettes blinzeln zu können. Sie war leer. „Ja. Bin ich. Was ist los?“ „Ich würde dich gern besuchen.“ „Was, wenn wir uns vorher ausschlafen würden?“ schlug Michal Exner vor. „Dann wäre uns beiden, Arnošt, vielleicht angenehmer.“ „Hör mal zu“, sagte Buble und artikulierte pedantisch: „Mich hat man vor drei Stunden und achtundzwanzig Minuten geweckt. Ich stehe in der Telefonzelle vor deinem Haus. Habe mich durch den kühlen Morgen zu dir bemüht …“ „Das heißt, wenn du nicht schläfst …“ Exner stieß einen Seufzer aus. „Weißt du was?“ „Weiß ich. Wickle den Schlüssel in eine Zeitung, ich stehe unten auf dem Gehsteig. Fährt der Aufzug?“ „Nein“, sagte Exner zufrieden und legte den Hörer auf. Eine Weile überlegte er, ob er das Bett verlassen sollte oder nicht. Es waren überflüssige Erwägungen. Wenn den Doktor Arnošt Buble etwas dazu bewogen hat, sich hierher zu bemühen, dann wird das sicherlich 23
eine Angelegenheit sein, auf die neugierig zu sein sich lohnt. Exner taumelte ins Bad und stellte die Dusche an. Als Buble in die Wohnung trat, hörte er laute gurgelnde Geräusche. Kapitän Exner spülte sich gründlich den Mund. Buble zog die Rollos hoch und öffnete weit das Fenster. Unten lag die Stadt, die ebenfalls langsam erwachte, nur machte sie dabei nicht einen solchen Krawall wie Exner. Dieser schlug zuerst die Tür des Badezimmers zu, dann die der Küche. Schließlich trat er ins Zimmer. „Mein Gott“, sagte er. „Mach zu. Der Morgen ist kühl.“ Buble gehorchte. Exner hatte einen dunkelblauen Pyjama mit weißem Saum an. Aus der Brusttasche lugten die Zipfel eines weißen Taschentuches. Er gähnte herzhaft. „Und ich habe so gut geschlafen.“ Er seufzte. „Ich auch …“ „Hör mal“, sagte Exner. „Wir sollten was essen.“ „Wenn du Kaffee kochst …“ „Ich hab’ gestern Nierchen zubereitet“, verriet Exner. „Der Rest wird für uns jetzt gerade das Richtige sein. Wir essen sie mit Brot.“ Er verschwand in der Küche. Buble setzte sich in den Sessel und putzte sich die Brille. Das Frühstück brachte Exner auf einem großen Tablett. Geschmorte Nierchen, Butter, Brot, Kompott und Kaffee. „Die lassen wir uns schmecken“, erklärte er. „Ich werde davon wach, und dich muntert das auf.“ „Sie sind prima!“ . „Gewiß. Hättest du den Mut, in aufgewärmte Nierchen vier Löffel Ketschup zu geben?“ „Nein. Wie dir bekannt ist, hätte ich überhaupt nicht den Mut zu kochen.“ „Deshalb sind sie prima“, sagte Exner stolz. „Weil ich einfach den Mut habe. So wie Picasso Mut hatte.“ 24
Das Kompott war gekühlt und schmeckte hervorragend. „Zigarette?“ „Danke“, sagte Buble. „Als ich kam, hatte ich das Gefühl, als ob hier jemand Pfeife geraucht hätte.“ „Vlček“, sagte Exner trübsinnig. „Oberleutnant Vlček versucht immer wieder, Pfeife zu rauchen. Niemals wird er das lernen, und ich werde es niemals schaffen, danach hier ordentlich zu lüften. Ein nächstes Mal schmeiß ich ihn ’raus. Worum geht’s?“ „In der Auffangstation wurde gestern abend ein Mann eingeliefert.“ „Wer?“ „Weiß ich nicht. Er hatte keinen Ausweis bei sich.“ „Solche gibt’s.“ „Er war nicht betrunken.“ „Warum haben sie ihn bei der Auffangstation eingeliefert?“ „Weil er so aussah. Wie ein Klotz. Wie einer, der völlig groggy ist. Aber er hatte keinen Tropfen Alkohol in sich.“ „Und was dann?“ „Das ist ja gerade das Rätsel. Wir sind nicht dahintergekommen. Ich weiß“, fügte Buble hinzu, „bei dieser Hast konnten wir auch gar nicht dahinterkommen.“ „Jemand hat ihm eins mit einem Knüppel übergezogen“, sagte Exner leichthin. „Und nach einem Schlag mit einem Knüppel rührt man sich bekanntlich oft auch nicht.“ Doktor Buble überging diese Hypothese und sagte: „Hast du schon mal von einer Narkotisierungsflinte gehört?“ „Nein.“ „Hast du in der letzten Zeit einen naturwissenschaftlichen Film gesehen, sagen wir, über die Elefantenjagd in Afrika?“ 25
„Nein.“ „Weißt du, wie ein lebender Elefant gefangen wird?“ „In einer Grube auf dem Elefantenpfad, getarnt mit dünnen Zweigen und Pflanzenstengeln“, sagte Exner gelehrt, „aber“, so fügte er hinzu, „es dürfte wohl schon modernere Methoden geben. Aha! Vielleicht diese Narkotisierungsflinten.“ „Mir ist nur der Gedanke gekommen“, sagte Buble trocken, „daß du dir den Fall mal anschauen solltest … von diesem Gesichtspunkt aus …“ „Das ist doch Blödsinn, nicht?“ Arnošt Buble ließ seine goldgerahmte Brille blitzen und strich sich den Scheitel in den rabenschwarzen Haaren glatt. „Aber wegen eines Blödsinns“, sagte Michal Exner nach einer Weile nachdenklich, „wärst du wohl nicht in den fünften Stock gestiegen.“
9 Es war gegen sieben Uhr morgens, und Leutnant Brejt trat soeben seinen Dienst an. In der Nacht war, wie er festgestellt hatte, nichts Erwähnenswertes passiert. Nur ein nächtlicher Streit nach der Polizeistunde vor dem Restaurant Reseda. Aber das war nichts Außergewöhnliches. Er entschloß sich, zuerst zu frühstücken. Zu Hause hatte er die Familie nicht wecken wollen, am Morgen fiel ihm immer alles aus der Hand. Durch die Tür schaute ein jüngerer Wachtmeister. „Hier ist eine Frau …“ Der Wachtmeister deutete mit dem Blick an, daß die Frau hinter ihm stand. „Sie soll reinkommen.“ Dann und wann läßt sich von einem Mann sagen, daß 26
er nur aus Muskeln und Sehnen besteht. Von einer Frau nur selten, aber von dieser da konnte man das behaupten. Nicht allzu groß, der Rock vielleicht zu kurz für ihr Alter – aber sie konnte sich das erlauben. Ihre Beine waren, wie Leutnant Brejt urteilte, zwar nicht außerordentlich schön, lohnten aber das Ansehen. „Verzeihen Sie, daß ich sie belästige“, sagte sie sachlich, „aber ich habe Befürchtungen um meinen Mann.“ „Was ist mit ihm?“ fragte Brejt freundschaftlich, er hatte in den zwanzig Dienstjahren schon allerlei Erfahrungen mit solcherart Problemen. „Die ganze Nacht ist er nicht nach Hause gekommen und hat auch keine Nachricht gegeben.“ „Aber das kommt vor. Vielleicht wurde er irgendwo aufgehalten … Bei Bekannten … Oder so … Machen Sie sich einstweilen keine Sorgen.“ „Wenn mir das nicht wirklich ernsthafter vorkäme, würde ich mir keine Sorgen machen“, erwiderte sie fast schroff, und damit bezwang sie den Leutnant. Er zwinkerte noch auf ihre Knie und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Sie warf ihm einen Blick zu, mit dem sie ihn nachdrücklich an seine Pflichten erinnerte. Er sollte ernsthafter und verantwortungsvoller an sie herantreten. „Bitte“, sagte er. „Mein Mann ist gestern abend um sieben Uhr aus dem Haus gegangen, er wollte noch vor zehn zurückkehren. Er hat weder angerufen noch sonst ein Lebenszeichen gegeben.“ „Und wohin ist er gegangen?“ „Das gerade weiß ich leider nicht.“ „Na sehen Sie …“ Er holte Luft, um sie mit einem allgemeinen Beispiel zu beruhigen. „Es ist doch schon vorgekommen, daß …“ Der Leutnant nickte beruhigend. Auch mit sehr vertrauensseligen Ehefrauen hatte er seine Erfahrungen. 27
Der Mann muß doch überhaupt nicht ins Wirtshaus gegangen sein, sondern wer weiß wohin. Und wer weiß, wie weit … „Nicht unbedingt in ein Gasthaus“, sagte er behutsam, „sondern zu Verwandten …“ Sie schaute ihn so an, daß er rasch hinzufügte: „Ich meine zum Beispiel …“ Sie war offenbar bereit, ihn anzuhören. „Ich meine zum Beispiel, daß manchmal selbst in dem ruhigsten und geordnetsten Leben ein Ereignis vorkommen kann, das es verändert … Hatte Ihr Mann seine Papiere bei sich? Den Personalausweis, die Fahrerlaubnis, den Paß …“ Schweigend langte sie in ihre Handtasche und legte einen Personalausweis und eine Fahrerlaubnis auf den Tisch. „Der Paß?“ fragte er mechanisch. „Das genügt nicht?“ „Er wird doch nicht ohne Papiere aus dem Hause gegangen sein.“ Sie stieß einen Seufzer aus. „Das ist er. In aller Seelenruhe. Er fährt sogar so Auto. Ohne Papiere. Er vergißt viel … zerstreut.“ Brejt lag auf der Zunge, daß er vielleicht in seiner Zerstreutheit irgendwo sich selber vergessen habe. „Der Wagen?“ „Ich hab’ ihn aus der Garage gefahren.“ „Schauen Sie mal im Wagen nach“, riet er ihr. „Und dann rufen Sie mich an.“ Er tippte mit dem Finger auf die Papiere. „Das schreibe ich mir ab und gebe es Ihnen sofort zurück. Wir werden nach Ihrem Gatten fragen, Frau … Frau …“ „Vebrová. Jana Vebrová.“
10 Das Bewußtsein einer richtigen Tat und die Entschlossenheit, mit der sie verwirklicht worden war, bereiteten 28
Doktor Hromádka nicht nur an jenem Abend Befriedigung. Es war auch noch am nächsten Morgen in ihm lebendig, als er mit langen und angesichts seiner Massigkeit und seines Körpergewichts erstaunlich frischen Schritten zu dem weißen Wagen ging, mit dem er gelegentlich zur Arbeit fuhr. Er blickte flüchtig auf die Stelle bei den Sträuchern, wo er den Mann gefunden hatte. Dann fuhr er zu einem Palais auf der Kleinseite, wo seine Dienststelle untergebracht war. Den abendlichen Vorfall schilderte er knapp seiner Sekretärin und machte sich an die Arbeit. Besser gesagt: Er nahm sich der Leitung der Tätigkeit seines Instituts an. Gegen zehn klingelte eines der zahlreichen Telefone, und die Sekretärin meldete: „Herr Doktor, hier ist ein Herr, der will mit Ihnen sprechen. Er heißt … Herr Doktor Exner.“ „Kenn’ ich nicht“, entgegnete Hromádka. „Was will er?“ „Das weiß ich bitte nicht … Es ist angeblich dringend.“ Hromádka überlegte kurz, wie alle Männer, deren Zeit kostbar ist. „Soll reinkommen.“ Und so gelangte Michal Exner in das Eckzimmer des Barockpalais, dessen Ausmaße und Format demjenigen entsprachen, der hier residierte. Die Wände waren leicht verblichen, voller staubiger Vierecke von Bildern, die einst dort gehangen hatten. Von der Decke hing ein gläserner, mindestens anderthalb Meter breiter Lüster, der dringend der Reinigung bedurft hätte. Das Ganze ergänzte ein modernes Mobiliar, und die Gemütlichkeit des ungastlichen Raumes rettete ein Perserteppich von der Größe eines halben Tennisplatzes. Hromádka stand auf und ging Exner entgegen. Michal war neugierig, ob zwischen dem Kopf dieses Riesen und dem Lüster noch ein Zwischenraum bleiben würde. Er blieb. An die dreißig Zentimeter. 29
„Herr Doktor Exner“, sagte Hromádka laut, „verehrter Herr, aber …“ „Kapitän Exner“, sagte Michal bescheiden. „Kriminalpolizei, Herr …“ „Mhm.“ Hromádka dachte wieder kurz nach. „Bitte sehr.“ Und er wies mit der Hand zu dem Tisch und den Sesseln. „Darf ich bitten. Kaffee, Tee?“ „Kaffee, wenn Sie gestatten.“ „Gewiß!“ Doktor Hromádka lächelte und bestellte bei der Sekretärin die Getränke. Dann ließ er sich in den Sessel neben Exner fallen. Michal Exner konnte nicht umhin, im stillen die Leistungsfähigkeit dieses Möbelstücks zu bewundern. „Worum geht’s, Herr Kapitän?“ Hromádka musterte Exner kurz. Er war offenbar zufrieden mit seinem beigefarbenen Anzug, den blitzenden Schuhen, auf denen goldene Schnallen schimmerten, und mit dem schneeweißen Hemd, auf dem eine rostrote Krawatte mit Nadel prangte. Michal Exner warf ein Bein übers andere, lehnte sich bequem zurück und schaute sich zufrieden um. Dann sah er Doktor Hromádka an und sagte mit einem netten Lächeln: „Offenbar um einen Mord, Herr Doktor.“ „Sieh da!“ „Laut den Informationen, die mir heute morgen meine Mitarbeiter besorgt haben, haben Sie gestern abend gegen zehn Uhr die Auffangstation angerufen, damit diese einen Betrunkenen abholten.“ „Stimmt.“ „Sie haben mit ihnen verabredet, daß Sie den Wagen an der Hauptstraße erwarten werden. Tatsächlich waren Sie auch dort und haben die beiden Fahrer des Krankenwagens tiefer in den Park geführt, wo ein etwa vierzigjähriger Mann lag. Stimmt das?“ „Genau.“ 30
„Der Fahrer und der Beifahrer luden den Mann in den Krankenwagen, und das unter Ihrer Assistenz, und fuhren weg.“ „Das stimmt auch, Herr Kapitän.“ In den Saal, den man jetzt Büro nannte, schlüpfte eine kleine Blondine und brachte die bestellten Getränke. Doktor Hromádka trank Tee aus einem Glas. Exner konnte nicht widerstehen, das Mädchen zu mustern, und zwar nicht nur, als sie eintrat, sondern auch, als sie sich zur Tür umdrehte und hinausging. Sie schloß die Tür und schaute ihn dabei kurz an. Er lächelte, und ihr blieb nichts übrig, als gleicherweise zu antworten. Doktor Hromádka brachte Exner energisch zur Sache zurück: „Zucker?“ „Danke. Einen halben Würfel.“ „Bitte sehr.“ „Kannten Sie den Mann?“ „Den Betrunkenen, meinen Sie?“ „Natürlich.“ „Ich kannte ihn nicht … Das heißt … irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich wohne dort schon zwölf Jahre, und in dieser Zeit merkt man sich dieses und jenes Gesicht.“ „Damit wollen Sie sagen, daß es jemand aus Ihrer näheren Umgebung war?“ „Das weiß ich nicht.“ „Sie haben geurteilt, daß er betrunken ist … Wonach?“ Doktor Hromádka hatte mit Betrunkenheit seine Erfahrungen, und seine Galle war nicht in Ordnung. „Er sah so aus … voll … War er es denn nicht?“ „Haben sie Alkohol gerochen?“ „Ich habe nicht geschnuppert, Herr Kapitän.“ Michal Exner lachte leicht auf. „Das ist sonderbar …“, sagte er und verstummte wieder. „Was ist sonderbar?“ fragte Doktor Hromádka irritiert. 31
„Es passiert nämlich nicht allzu oft, daß ein normaler Bürger einen Ermordeten findet … Sie, Herr Doktor, haben dahingehend gewissermaßen Glück …“ „Ich verstehe Sie nicht, verehrter Herr.“ „Mein Mitarbeiter, Leutnant Beránek, ist auf seine Art Systematiker. Er hat Notizen, die er sorgfältig aufhebt … Sie haben vor einiger Zeit eine Waffenübung als Korporal mitgemacht, wenn ich mich nicht irre. Sie haben einen Zug Soldaten beim scharfen Handgranatenwerfen befehligt. Und haben auch … einen Toten gefunden …“ „Ja. Aber …“ „Ein Zufall. Gewiß. Im Leben vieler Menschen geschehen bemerkenswerte Zufälle“, philosophierte Exner. „Verehrter Herr!“ Doktor Hromádka war um ein merkliches unsicherer. Es stand mit ihm offenbar schlimmer, als es scheinen mochte, aber er verstand sich gut zu beherrschen. Nur seine Hand, die das Glas zum Munde führte, zitterte deutlicher, und das Glas klirrte beim Zurückstellen auf die Untertasse stärker. „Das ist natürlich Unsinn.“ „Wie man’s nimmt“, sagte Michal Exner mit funkelnder Rücksichtslosigkeit. „Sie sagen, Sie seien spazierengegangen.“ „Allerdings.“ „Wie jeden Abend.“ „Gewiß.“ „Um die gleiche Zeit.“ „Ungefähr.“ „Könnten Sie mir Ihren gestrigen Spaziergang, und was Sie dabei getan haben, ausführlicher beschreiben?“ „Selbstverständlich“, sagte Doktor Hromádka mit einer gewissen Erleichterung. Er empfand wohl das Bedürfnis, sich auszusprechen, und schilderte mit offenbarer Lust den ganzen Vorfall. Weil er ihn schon vorher erzählt hatte, besaß sein Bericht jetzt Form, Schwung 32
und Genauigkeit. Als er mit den Worten schloß: „Und das ist alles, mein Herr“, fühlte er, daß seine Ruhe und sein Selbstbewußtsein wiedergekehrt waren. „Könnten Sie mir das aufmalen?“ fragte Exner nachdenklich. „Ich verstehe nicht …“ „Ich fand noch nicht die Zeit“, sagte Exner mit geheucheltem Schuldbewußtsein, „mir das an Ort und Stelle anzuschauen. Ich will anschließend hinfahren, und Ihre Skizze wird mir bestimmt hervorragende Dienste leisten.“ Doktor Hromádka zuckte die Achseln und holte sich ein Blatt Papier. Die Lageskizzen des Leutnants Beránek waren in der Regel sehr einfach. Aber das Werk des Doktor Hromádka bewies mit Sicherheit, daß seine grafischen Fähigkeiten wahrscheinlich noch früher als mit sechs Jahren eingefroren waren. „Wenn Sie vielleicht statt Sträuchern Kreise malten“, riet ihm Exner. „Die Bänke müssen Sie nicht zeichnen. Es genügt, wenn Sie dort, wo eine Bank steht, ein großes B hinschreiben. So. Ich danke Ihnen, Herr Doktor.“ Er steckte die Skizze in die Tasche und stand auf. Er verabschiedete sich und verließ mit einem leichtsinnigen Lächeln das Zimmer und das alte Palais. Doktor Hromádka stand hinter dem Vorhang und ähnelte, in ein dunkles Diplomatengrau gekleidet, einem monströsen Schatten. Er beobachtete den kleinen Platz vor dem Palais und verfolgte mit seinen Blicken interessiert den jungen, vielleicht schon zu gut gekleideten Mann, wie dieser aus dem Kofferraum eines historischen, aber musterhaft erhaltenen, schimmernden Mercedes-Kabrioletts einen hellen Mantel nahm, ihn anzog, sich einen Lederhut aufsetzte, wie ihn vielleicht Robin Hood getragen haben mag, hinter das Lenkrad schlüpfte und in einem eleganten Bogen den Platz verließ und Hromádkas Blickfeld entschwand. 33
Er hinterließ in der Seele des Doktor Hromádka eine unbestimmte Unsicherheit. Denn er hatte, wie er sich jetzt erst bewußt wurde, jenen jungen Mann gar nicht um dessen Dienstausweis gebeten.
11 Der Fluß verläßt die Stadt durch eine breite Flur und dann zwischen steilen Hängen, die der Anwesenheit von Flugzeugen, Eisenbahnzügen und Autos zum Trotz etwas von der Atmosphäre der romantischen Stiche vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts bewahrt haben. Der Reiz der Flußauen ist durch eine Fabrik, einige Lagerhäuser und eine Reinigungsstation ausgeschmückt. Der Nordwestwind gibt ihre üblen Gerüche an die Stadt zurück. Im Wasser des Flusses leben offenbar nur noch besonders widerstandsfähige Fische, denn ab und zu wird an den Ufern geangelt. Das muß allerdings kein Beweis für die Fische, sondern für einen unendlichen Glauben sein. Josef Berka war zehn und sein Glaube also noch fest. In aller Herrgottsfrühe jagte er seine Mutter Miroslava aus dem Bett sie mußte den Wagen nehmen, mit ihm zu dem trüben Wasser fahren und am Ufer entlanggehen und aufpassen, daß ihr Sohn nicht in den Fluß fiel. Frau Miroslava Berková, bildende Künstlerin, verbrachte fast jeden Vormittag im zoologischen Garten, wo sie Tiere zeichnete. Zu Hause, in dem Dienstmädchenzimmer, das sie sich als Atelier eingerichtet hatte, formte sie Tierchen aus Ton als Modelle für eine keramische Werkstatt. Die Affen, Flamingos, Elefanten, Wisente, Bisons, Löwen, Tiger und andere kehrten dann als Figürchen in den Souvenirkiosk im Zoo zurück. Weiter stromabwärts, an der bekannten und gewohn34
ten Stelle, saß bereits mit der Angelrute der zweiundzwanzigjährige Affenpfleger Jan Marek. Sie begegneten sich fast täglich, und Pepík hatte mit Jan Freundschaft geschlossen. Marek schien an diesem Morgen schmaler und blasser. Er grüßte Pepík und machte ihm freundschaftlich seinen Platz frei. Er knüpfte ein Gespräch mit Miroslava Berková an. Wie gewöhnlich und ehedem. Und genauso wie früher begleitete er gegen halb acht Mutter und Sohn zu ihrem Wagen. Miroslava Berková brachte Pepík zur Straßenbahnhaltestelle, von wo er die paar Stationen allein weiterfuhr in die Schule. Sie selber kehrte nach Troja zurück, in welchem Stadtteil bekanntlich der Prager Zoo liegt. Sie stieg hinauf aufs Bergplateau, weil sie die Absicht hatte, ihre Zeichnungen vom roten Känguruh fortzusetzen.
12 So manches konnte Karel Buš in seinem Leben nicht begreifen. Das war auch die Ursache seiner häufigen Unannehmlichkeiten im Verkehr mit Gesellschaft und Staat. Jetzt ging ihm nicht ein, wie und warum er in aller Herrgottsfrühe in diesen scheußlichen Betonschuppen auf die leeren Zementsäcke geraten war, noch dazu mit schrecklich brummendem Schädel. Das Rätsel zu lösen gelang ihm erst Schritt für Schritt und vielleicht nur dank dem Umstand, daß es in dieser Betonhalle kalt war. Karel Buš hatte Füße wie Eis, ihn fror am entblößten Rücken, weil sich Hemd und Sakko auf eine sonderbare Weise bis hoch zum Halse geschoben hatten. Er richtete sich auf und schüttelte sich. Der Schuppen war kein Traum, aber er blieb ein sinn35
loser, unvollendeter Bau, wie ihn Karel Buš – und er war Maurer – in seinem bisherigen Leben noch nie gesehen hatte. Aber gerade in dieser Tatsache lag der erste Schritt seiner Erkenntnis, denn er wurde sich bewußt, daß er diesen Bau gestern gesehen hatte, als er hier zur Arbeit antrat. Er lachte auf, denn auf einmal begriff er seine unbegrenzte Freiheit. Er war nämlich nicht mehr im Knast. Im Gegenteil. Er war wieder ein freier Mensch, und das hatte er gestern gefeiert. Die Entlassung und den Einstand mit der neuen Brigade. Offenbar hatten sie nicht gewußt, wo er wohnte, und so hatten sie ihn hier gebettet. Prima Jungs. Ein bißchen schwitzte er vor Angst, ob er nicht zufällig gestern wieder etwas angestellt hatte. Aber das konnte er nicht, denn er war hier erwacht. Im Elefantenhaus! Ein Witz! Sie bauen ein Elefantenhaus. Er ist völlig frei und ungebunden in einem Elefantenhaus erwacht. Er kann gehen, wohin er will. Aber sie haben ihn hier niedergelegt. Vielleicht hat er gebrüllt. Aber hier geht das zwischen dem verschiedenen Getier unter. Er empfand Glück und Freude über seine Freiheit. Das Glück wärmte ihn nicht, und so stolperte er hinaus. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Irgendwelche Tiere machten Spektakel. Es waren wohl Vögel, die da kreischten und krächzten. Er schüttelte sich wieder. Aus Erfahrung wußte er, daß man sich am besten durch ein Bad im kalten Wasser erwärmt. Gestern hatte er zufällig bemerkt, daß der Zaun des zoologischen Gartens in Richtung zum Fluß in einem jämmerlichen Zustand war. Er klopfte sich den Staub ab und machte sich daran, irgendwo ein Loch zu suchen. Es gab ihrer eine Unzahl. Er ging durch die betaute Wiese zum Fluß. Karel Buš war ein stämmiger, kräftiger Mann. Wie alle solche Männer trat er ein bißchen breitbeinig auf, die Arme vom Körper abhaltend und den Kopf nach vorn ge36
streckt. Ein paarmal spuckte er aus und suchte die Taschen nach einer Zigarette ab. Erfolgreich, und er fand auch Streichhölzer. Das Wasser schien jetzt am Morgen sauberer als tagsüber. Viel Aufmerksamkeit widmete er dem sowieso nicht. Er warf die halbgerauchte Zigarette weg, zog sich aus und hüpfte hinein. Er ächzte vor Kälte und Wohlbehagen. Eine Weile plantschte er herum, dann machte er einige Tempi und kehrte ans Ufer zurück. Flüchtig trocknete er sich mit dem Unterhemd ab und schaute sich um, wo er sich ein bißchen ausstrecken könnte. Die Sonne, auch wenn noch früh und fröstlig, schien ihm geradezu von linder Wärme zu brennen. Hinter einem Strauch am Zaun fand er einen geeigneten Platz und machte es sich dort bequem. Solche Stellen hatte er gern, die waren nach seinem Geschmack. Im Windstillen. Leider hielt sie sich niemals allzu lange. Jetzt aber machte er sich über dieses Problem keine Gedanken. Am Flußufer ging ein blonder junger Mann entlang, neben ihm eine Frau und ein Junge mit Angelrute. Sie konnten ihn nicht sehen. Er schaute der Frau nach. Selbst auf diese große Entfernung sah er, daß das ein steiler Zahn war. Eine schöne Frau mit allem, was dazu gehört, und in den besten Jahren, wenig über dreißig. Sie war ziemlich groß, aber überhaupt nicht mager. In einem Kleid, das genau abzeichnete, was abgezeichnet werden sollte. Karel Buš seufzte unwillkürlich und stützte sich auf die Ellbogen. So ein Leben erwartet ihn jetzt. Wonnevoll seufzte er noch einmal und schloß die Augen. Als er sie wieder aufschlug, war er sich nicht sicher, ob er geschlafen hatte. Zuerst schien es ihm, als wären nur ein paar Sekunden vergangen, aber nach der Sonne, die höher gestiegen war und fast unangenehm wärmte, erkannte er, daß er sich da mächtig geirrt hatte. Doch 37
vor allem erkannte er das daran, daß sich die Szene dort am Ufer, deren Zeuge er vor einer Weile unwillkürlich gewesen war, verändert hatte. Die schöne, rothaarige Frau mit dem Jungen war verschwunden. Der blonde junge Mann war zu seinen Angelruten zurückgekehrt. Und ihm näherte sich vom Parkplatz her ein großer, leicht gebeugter Mann mit Angelgerät. Er ging seltsam gebeugt und wirkte dadurch wie ein Bogen ohne Sehne. Es sah aus, als wollte er sich in der Nähe des blonden Jünglings niedersetzen. Und jetzt erst wurde sich Karel Buš bewußt, was ihn eigentlich geweckt hatte. Jemand war durch das Loch im Zaun geschlüpft, an den er sich mit dem Rücken lehnte. Und dieser Jemand tauchte nun aus den Sträuchern auf, die vereinzelt längs des Zaunes wuchsen. Es war ein zierliches blondes Mädchen in Arbeitshosen und barfuß in Tennisschuhen. Sie strebte schnurstracks zu dem leuchtenden strohblonden Schopf, der unbeweglich über der Angelrute hing. Der Lange blieb eine Weile bei seinem jüngeren, und was das Frühaufstehen betrifft, muntereren Angelkollegen stehen und setzte dann seinen Weg fort. Er bemerkte auch das Mädchen, denn er drehte ihr einen Augenblick den Kopf zu. Dann ging er weiter. Das Mädchen trat zu dem Jungen am Fluß, setzte sich zu ihm und schmiegte sich an seine Schulter. Damit ödete sie Karel Buš an. Er rekelte sich, stand auf und richtete den verkrümmten Körper. Nach der Sonne und überhaupt war es höchste Zeit, zum Mischer zu starten. Er seufzte.
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13 Er warf einen Blick auf den Kalender. Klar, klar, sagte sich Adolf Kroupa im stillen, heute Motol. Er zog sich bescheidener als am Vortag an und wählte den mäßig abgeschabten Spazierstock. Er fuhr mit der Straßenbahn, so daß es lange dauerte, bis er das Krematorium in Motol erreichte. Vor dem Tor zog er aus der Brusttasche eine Papiertüte und daraus ein Kränzlein künstlicher Blumen. Die Tüte faltete er zusammen und steckte sie zurück in die Tasche. Das Kränzlein legte er sich auf die Hand und trug es mit der erhabenen Geste eines Leichenbestatters. Er stützte sich auf den Stock und begann leicht auf dem rechten Fuß zu hinken. Mit greisenhaften, aber immer noch festen Schritten strebte er zum rechten Teil des Urnenhains, wo an einem kleinen Grabstein in Gedanken versunken eine ältere, grauhaarige Dame stand. Wie vor einer Woche und wie vor vierzehn Tagen. Wenn er gekonnt hätte, hätte er einen Luftsprung gemacht. Auf dem Grabstein vor der unauffälligen Dame war die Aufschrift: Staub bist du, und zu Staub sollst du werden … František Muhl Insp. der Staatsbahn i. R. Ohne die grauhaarige Dame zu beachten, trat Adolf Kroupa energisch an den Grabstein heran, legte vor ihm sein Kränzlein nieder, wie ein Soldat, der einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten niederlegt, trat zurück, bekreuzigte sich und neigte demütig das Haupt, sichtlich zum Gebet. Die Frau schaute ihn erstaunt an. Die Stille über dem Verstorbenen dauerte lange. Kroupa zog das Taschentuch und schneuzte sich mit 39
großer Rührung. „Soso“, flüsterte er unbestimmt. „Der Ärmste. So ein guter Mensch. Auch wir neigen uns schon dem Grabe zu …“ „Ja …“, sagte sie leise. „Aber verzeihen Sie, Herr …“ „František war ein Mensch mit einem goldenen Herzen …“ „Sie haben meinen Mann gekannt?“ Kroupa stutzte. „Verzeihen Sie … Ich habe nicht geahnt, Gnädigste … Natürlich … Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen: Adolf Krupek, Oberinspektor der Staatsbahn im Ruhestand. Ich war Vorsitzender des Verbandes der Eisenbahnbeamten mit abgeschlossener Mittelschulbildung, ich kannte František aus dem Dienst. Wie das bei Eisenbahnern so ist, nicht wahr … Ich habe gar nicht gewußt, daß der Ärmste gestorben ist. Ich habe vor einem Jahr meine Gattin beerdigt …“ Er zeigte irgendwohin ins Unbestimmte. „Dort ruht sie … Ich besuche den Friedhof und gehe in Gedanken über die Wege. Und so bin ich daraufgekommen, daß mein Freund František …“ Wieder schneuzte er sich. „Fast zur gleichen Zeit wie meine Frau …“ Die Rührung verwehrte ihm das Weitersprechen. Sie sprachen über das alte Leben und über Krankheiten. Adolf Kroupa beklagte sich über seinen verschleppten Rheumatismus. Sie über die Galle. Sie erinnerte an ihren Mann und er an dessen Verdienste. Den Friedhof verließen sie gemeinsam. „Ich begleite Sie, falls Sie erlauben. Ich weiß leider gar nicht, wo Sie jetzt wohnen …“ „Immer noch das gleiche. In Košíře.“ „Allein?“ „Wie denn sonst, Herr Krupek“, antwortete sie mit einem Seufzer. „Wir Alten sind einsam, da läßt sich nichts machen.“ Lange suchte er nach den zwei Kronen für die Straßenbahn. Er gab nicht zu, daß sie für sich bezahlte. 40
Sie wohnte in einem guterhaltenen Mietshaus. „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“ fragte sie. „Gnädigste, ich weiß nicht, ob ich Ihnen zur Last fallen darf …“ Im Hause war sogar ein Aufzug. Eine Einraumwohnung im obersten Stockwerk. „Aber hier haben Sie doch nicht …“, sagte Kroupa, dem es nicht eingehen wollte, daß ein Inspektor der Staatsbahn eine so kleine Wohnung sein eigen nennen könnte. „Im zweiten Stock. Selbstverständlich. Später mußten wir die Wohnung tauschen.“ Im Korridor zückte er eine altmodische Zwiebel. „So, aber wirklich nur zu einem Kaffee.“ Das Wohnzimmer gefiel ihm. Sauber. Eine hübsche Uhr. Gutes Porzellan, einiges Silber. Fotografien. Einige farbige. Eine junge Frau, ein Mann, ein Kind, ein Straßenkreuzer! „Das ist Veruška“, erklärte sie ihm. „Sie ist mit dem Mann in Amerika geblieben.“ „Und hat sie Sie nicht vergessen?“ „Ach wo! Sie lädt mich ein, schickt Pakete.“ Die Seele Adolf Kroupas erzitterte. Eine Stunde später verließ er das Haus. Er hatte die Einladung zum Mittagessen abgeschlagen, aber versprochen, übermorgen wiederzukommen. Nur Kaffee und Kuchen hatte er sich vergönnt. Im Aufzug schnallte er sich die Armbanduhr um, die er bis jetzt in der Tasche getragen hatte. Die Zwiebel, auf die er vorhin geschaut hatte, war ein altes Wrack und ging sowieso nicht. Hinter der Straßenecke nahm er den Stock unter den Arm. Er winkte ein Taxi herbei. Er hatte sich länger aufgehalten, als er ursprünglich vorhatte. Mit einem zweiten Frühstück hatte er nicht gerechnet, aber ablehnen konnte er es nicht, das wäre ein grober Fehler gewesen. „Wohin, Opa?“ fragte freundschaftlich der Taxifahrer. „Zum Zoo.“ 41
„Aber das wird nicht billig sein, Opa.“ „Hör mal, junger Mann“, sagte Adolf Kroupa. „Das ist wohl meine Sorge, meinst du nicht? Fahren wir!“ Er befahl dem Fahrer, gleich an den ersten Villen von Troja zu halten. „He, Sie haben gesagt, zum Zoo, Opa!“ „Ich muß ja auch ein bißchen zu Fuß gehen, nicht?“ sagte Adolf Kroupa, warf einen Blick auf den Taxameter und bezahlte. Als das Taxi weg war, band er sich einen Schlips um und überputzte sich die Schuhe. Er schritt aus. Den Stock trug er mit nachlässiger Eleganz. Božena Ciprová saß auf dem Stuhlrand wie ein bescheidenes Dorfweiblein im Kopftuch in dem Restaurant vor dem Eingang zum Zoo und schlürfte ein kleines Bier. Kroupa fiel ein, ob sie sich nicht einen Schnaps ins Bier hatte kippen lassen. Aber das hätte sie sich wohl doch nicht getraut. Das wäre zu auffällig für das bescheidene Weiblein, das sie spielte, und Kroupa nahm an, daß ihr doch noch ein bißchen Grips geblieben war. Sie gewahrte ihn und klopfte aufs Handgelenk. Er wußte, daß er sich verspätet hatte. Demütig nickte er – das sah aus wie das unwillkürliche Nicken eines alten Herrn, der bemerkenswerte Gedanken hat. Lange studierte er auf der Tafel den großen Lageplan des Zoos. Genau so lange, bis die Ciprová hineinging. Sie hatte hier offenbar schon alles ausbaldowert und lenkte ihre Schritte schnurstracks zu den Elefanten. Bis jetzt konnte er sich von dem Mißtrauen in bezug auf den Erfolg des ganzen Unternehmens nicht frei machen. Der Garten schien ihm zu menschenleer, seine Besucher zu arm. Denn die Tasche hat jeder Mensch voll, wenn er einkaufen geht, nicht aber, wenn er sich vorgenommen hat, Affen und Elefanten anzuglotzen. Nach kurzer Überlegung entschloß sich der alte Herr Adolf Kroupa, zuerst die Elefanten und die weiteren Dickhäuter aufzusuchen. 42
14 Der kleine Park am Rande der Siedlung war alles andere als unübersichtlich. Der Häuserblock, der Garten, der Kindergarten. Im Westen die Hauptstraße, wo die Straßenbahnen fuhren, auf der anderen Seite eine Straße, die hinter dem Transformatorenhäuschen auf die Hauptstraße einmündete. Es war ein regelmäßiges Dreieck, annähernd gleichseitig, jeder Schenkel siebzig bis achtzig Meter, die Grundlinie, wo die AWG-Häuser standen, etwa genausolang. Einige Fußwege, Sandkästen, traurige, verlassene Bäume, ein paar Sträucher, an den Häusern Blumenrabatten der fleißigen und schönheitsliebenden Wohnungsinhaber. Eine ungemütliche Landzunge am Rande der Stadt. Windig und offen der Peripherie zu, zum Güterbahnhof, zu Zäunen und Lagerschuppen. Die Sandkästen und Bänke leer, entweder deshalb, weil es noch zu früh war, oder auch, weil es hier so ungemütlich war und niemand herkam. An den Genossenschaftshäusern führte nur ein Gehweg vorbei, die Autos parkten hinter ihnen in den Straßen der Siedlung. Michal Exner bog von der Hauptstraße ab und hielt kurz hinter dem Transformatorenhäuschen. In den Sträuchern bei diesem unansehnlichen Gebäude hatte Doktor Hromádka seinen Betrunkenen gefunden. Die grafischen Fähigkeiten des Doktor Hromádka waren zwar kümmerlich, trotzdem mußte Michal Exner konstatieren, daß die kunstlose Zeichnung, die er auf dem Lenkrad seines Wagens ausbreitete, im Wesen die Situation erfaßte, sowohl in den Proportionen als auch in bestimmten Details. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete. Als es ihm langweilig wurde, stieg er aus dem Wagen und begann auf und ab zu gehen. Zuerst ein paar Schritte 43
hin und her auf dem Trottoir. Dann begab er sich auf eine Rundreise um den Park. In diesem Milieu und um diese Tageszeit sah er aus wie ein Playboy, der durch einen komischen Irrtum hier in Strašnice ein Häuschen sucht. Aus dem dickbäuchigen Tatra quollen vier Mann unter der Führung des Oberleutnants Vlček. „Da sind wir“, sagte Vlček und schaute sich um. „Hübsch ist es hier …“ Exner reichte ihm Hromádkas Plan. „Wenn du meinst …“ „Jej! Wer hat das gemalt?“ Vlček lachte. „Beránek?“ „Ein gewisser Doktor Hromádka.“ „Kenn’ ich nicht.“ „Das macht nichts. Er hat diesen Mann angeblich hier gefunden.“ Exner zeigte ins Gras, zu den Sträuchern, wo nur einige weggeworfene Papierchen und am Wegrand Hundedreck zu sehen waren. „Er hat das ganz anständig gemalt“, sagte Exner, „und er sieht nicht aus wie ein Blödian, so daß du annehmen kannst, daß das ziemlich genau ist.“ „Was bedeutet das – die Eins und die Zwei?“ „Die Eins ist die ursprüngliche Lage des Körpers, die Zwei die Stelle, wo Hromádka den Mann hingeschleppt hat.“ „Gut.“ Vlček sah sich um. „Wo ist er hingegangen?“ „Wer?“ „Der Mann.“ „Wohl nach Hause. Hromádka sagte, sein Gesicht käme ihm bekannt vor.“ „Da kann er nach Hause gegangen sein“, stimmte Vlček zu. „Dort ist eine Bushaltestelle und dort die Straßenbahn. Stimmt genau. Ja, Buble hat angerufen, er möchte mit dir sprechen …“ Vlček gab seinen Mitarbeitern den Plan und befahl ihnen, den Park gründlich abzusuchen. „Was ist dem Mann eigentlich passiert?“ Exner zuckte die Achseln. 44
15 „Komm, wir gehen spazieren“, schlug Arnošt Buble dem Kapitän vor, „es ist hübsch draußen, und ich brauche das.“ Er blinzelte in der Sonne und rückte sich die Brille mit dem Goldrand zurecht. „Oder willst du das sehen?“ „Ist das nötig?“ „Überhaupt nicht. Außerdem bekommst du es schriftlich.“ Sie machten sich auf die Wanderschaft durch die Straßen an Gärten, Mauern, Instituten und Krankenhäusern entlang, dann an dem einsamen Turm vorbei, der von der Sankt-Katharinen-Kirche übriggeblieben war, dort, wo noch stille Winkel und Stellen geblieben sind, wo man bis jetzt noch ohne Furcht die Straße überqueren oder mitten auf einem kleinen Platz stehenbleiben und sich was erzählen kann. „Also vorläufig und knapp“, sagte Buble. „Es ist ganz und gar unerklärlich.“ „Na, das doch vielleicht nicht.“ „Beinahe“, räumte Buble ein, „beinahe. Unerklärlich ist nicht die Todesursache. Die ist klar. Laienhaft könnte man es etwa so sagen, daß der Betreffende an Lähmung oder Betäubung der Muskeltätigkeit gestorben ist. Deshalb konnte er sich nicht bewegen, nicht sprechen, und wirkte auf den ersten Blick stockbesoffen. Zuletzt ist er dann erstickt, weil die die Atmung ermöglichenden Muskeln aufhörten zu arbeiten, und vielleicht ist auch etwas mit den Gehirnzentren passiert, aber das läßt sich weder bestätigen noch ausschließen.“ „Eine Krankheit?“ Buble zuckte die Achseln. „Schwerlich. Da müßte es sich um eine besondere Störung der Gehirnzentren handeln, und daß das so akut ausgebrochen wäre, läßt sich nicht annehmen. Kann allerdings auch sein, daß er schon vorher irgendwie krank war … Auf dem Gesäß 45
dieses Mannes“, fuhr Buble fort, „etwa hier“, und er zeigte direkt auf den Hintern, „auf der linken Hälfte wurde eine kleine Verletzung entdeckt. Der Einstich einer Injektionsnadel. Es gibt Präparate, die ähnliche Zustände hervorrufen, wie sie sich bei diesem Mann zeigten. Aber das Problem besteht darin, daß sie bei uns üblicherweise nicht vorhanden sind, daß sie hier nicht verkauft werden und ihre Zusammensetzung kaum bekannt ist.“ „Was sind das für Präparate?“ Arnošt Buble blinzelte verlegen. „Sie werden für die Patronen der Narkotisierungsgewehre beim Einfangen oder der Kontrolle des Wildes in den Reservationen verwendet.“ „Das sind mir ja Freuden“, erklärte Michal Exner begeistert. „Mit anderen Worten, deine ursprüngliche Meinung ist richtig, du behauptest jetzt, daß jemand diesen Herrn mit einer Narkotisierungsflinte in den Hintern geschossen hat.“ „Ja …“, sagte Arnošt Buble. „Mein Gott“, rief Exner verzweifelt, „wir sind doch nicht im Dschungel!“ „Nein, das sind wir nicht …“ „Dieser Park, Menschenskind, und alles ringsum! Da ist zwar Ödland, aber auch Stadt! In Mitteleuropa!“ Arnošt Buble zuckte die Achseln, als hegte auch er über diese Tatsache seine Zweifel. „Wo sollte jemand bei uns eine Narkotisierungsflinte hernehmen!“ „Weiß ich nicht … Vielleicht hat er sich eine gebaut …“ „Blödsinn! Wenn jemand jemanden beseitigen will und die technische Möglichkeit hat, eine Flinte zu basteln, dann macht er sich eine gewöhnliche Flinte. Weil das völlig egal ist. Und überhaupt: Es ist doch viel leichter, jemanden ganz einfach auf den Schädel zu hauen, als auf ihn zu schießen. Von dort“, und er zeigte in Rich46
tung zur neuen Wohnsiedlung, „kann man nicht zielen. Auf so eine Entfernung! Und im Dunkeln! Höchstens vom Transformatorenhäuschen aus, aber das ist wohl auch Blödsinn. Diese Flinte macht doch einen Knall, nicht? Und dann: Wo kann man sich bei uns die Patrone und dieses Präparat besorgen?“ „Das sind Argumente“, stimmte Arnošt Buble zu. „Aber mein lieber Kapitän, ob du es willst oder nicht – und du wirst sehen, daß die Chemie es bestätigen wird –, dieser Einstich bleibt Fakt und das Narkotikum auch.“ „Wir sind doch in Prag“, erklärte Michal Exner fast verzweifelt. „Dieser Hromádka hat ihn in Strašnice gefunden! Und du schwingst hier Reden von Narkotika und Narkotisierungsflinten! Wo sollte man so was hernehmen, es sei denn …“ Michal Exner hielt inne. „Au verflucht …“ „Was ist?“ „Nichts, nichts … He, Beránek!“
16 Eigentlich mußte er nicht zur Arbeit gehen. Karel Buš hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden seinen Arbeitsplatz gar nicht verlassen. Bis zehn Uhr mauerte er eine Querwand, und die zwei Biere vom Faß, die der Lehrjunge aus dem Restaurant holte, brachten ihn ein bißchen in Form. Dann war Frühstückspause. Aber er hatte keinen Hunger, ihm tat der Kopf weh, und er mußte sich ein bißchen auslüften. Außerdem lockte ihn der Gedanke an das Mädchen, das er am Morgen gesehen hatte. Er könnte ein bißchen durch den zoologischen Garten schlendern, vielleicht bekommt er sie irgendwo zu Gesicht, kann eventuell mit ihr ein Gespräch anknüpfen. 47
Von der Aufteilung des Gartens hatte er keine Vorstellung. Er ging an den niedrigen Einfriedungen für die Wasservögel und an einem Mann vorbei, der vor einer sonderbaren grauen Gans mit gelbem Schnabel hockte und mit ihr plauderte, und er hielt ihn für einen stillen Narren. Hinter dem Steg über einen alten Flußarm, der sowohl durch sein Aussehen als auch seinen Geruch mehr an eine Kloake erinnerte, warf er einen Blick auf die Tiger und schlug den Fußweg nach rechts ein. Vielleicht auch deshalb, weil dort niemand ging und er sich nicht unter Menschen sehen lassen wollte. Der Weg war steil, und nur selten verirrte sich jemand hierher. Er gelangte an einen grob behauenen Felsen, den eine Aufschrift als eine geologische Denkwürdigkeit bezeichnete. Buš las die Aufschrift, verstand sie nicht, und ihm fiel ein, ein Stein wie der andere, und dann noch, wie schön man von hier aus die da unten, die an den Raubtierkäfigen glotzten, mit Steinen bewerfen könnte. Oben war es schön. Ein leichter Wind kühlte angenehm. Die Bisons langweilten sich zweifellos und die großen Pferde mit den komischen großen Köpfen wohl auch. Auf so einem Pferd ließe sich prima reiten. Vier Pferde vor dem großen Karren, die Prärie und die Büffel und ein Gewehr. Karel Buš geriet beim Blick auf den eingetrockneten Schlamm der Ausläufe ein bißchen ins Träumen. Er schaute sich um, oben waren wenig Leute, das wunderte ihn nicht, wer würde auf so einen Hügel klettern, nur um sich ein paar Pferde und eine Herde Rindviecher anzusehen. Weil ein Bison schließlich auch nur ein Rindvieh ist. Und wer weiß, ob nicht auch das Kamel ein Rind ist. Er hatte bei den Kamelen einen Zettel gelesen, aber davon stand dort nichts. Und das Lama ist ein kleines langweiliges Kamel. Es ist hübsch, fiel Karel Buš ein, solches Viehzeug zu haben, aber es ist ganz und gar überflüssig. 48
Höchstens einen Affen, zum Spaß. Ein Esel? Warum haben sie hier einen Esel, der nicht wie ein Esel aussieht? Kiang-Esel. Man sah nur seinen Hintern, der Rest war hinterm Schuppen und noch recht weit. Der seltene Kiang-Esel. He, sagte er sich, auch ein Esel kann selten sein. Er schaute sich noch einmal um. Übersicht hatte man hier, aber nichts, was dem Mädchen glich, das er am Morgen gesehen hatte. Es war Blödsinn, daß er hier heraufgeklettert war. Er begriff, daß der Garten größer war, als er gedacht hatte, so durch Zufall kann er das Mädchen nicht finden. Oder sie gehört überhaupt nicht hierher. Sie hatte sich heimlich die Tiere angeschaut. Ja, sagte er sich, so früh am Morgen! Eher wollte sie hier wohl was klauen. Und wenn das der Fall wäre, dann ist das ein Pfundsmädchen. Eine Handtasche oder andere Tasche wird sie wohl bei sich gehabt haben. Aber dort fände nicht einmal die Gans Platz. Vielleicht hat sie einen Fasan geklaut. Da unten spaziert eine Menge Fasane herum. Karel Buš war oft genug mit Freunden auf Wanderungen gewesen, und nicht selten war es ihnen gelungen, so einen Vogel auf den Feldern zu erjagen und mit einem Stück Speck am Feuer zu braten. Er stutzte. Ein Stück weiter auf der Einfriedung saß eine Frau, die ihm bekannt vorkam. Ja klar – am Morgen hatte er sie am Fluß gesehen. Sie gehörte zu denen, an die er sich gewöhnlich nur schwer herantraute. Zu schön und für ihn evident unzugänglich. Karel Buš kannte seine Grenzen, obwohl er wußte, daß zuweilen auch dieser Typ mit sich reden läßt, sogar bei einem Mann, wie er einer ist. Sie saß auf dem Geländer der Einfriedung. Seitlings, wie wenn eine Frau nach alter Art reitet. Den Rock unwillkürlich hochgeschoben und so schön, daß ihn ein 49
Schauer überlief. Auf die Schenkel hatte sie einen Zeichenblock gelegt, in dem sie etwas zeichnete. Wohl das Känguruh. Sie war hinreißend schön. Er ging an ihr vorbei, als sähe er sie nicht. Dann schaute er sich unauffällig um. Sie sah sensationell aus. Und sie war ganz und gar mit ihrem Zeichnen beschäftigt. Die Menschen, dachte Karel Buš, treiben lauter Blödsinn. Aber vielleicht kann sie hübsch zeichnen, und er sollte sie fragen … Ihm fiel nichts ein, was er sie fragen könnte. Aber auf den schönen Anblick wollte er auch nicht verzichten. Er machte also kehrt und schlenderte zurück. Dort war jemand, dort gingen Leute. Ihm war klar, daß er nicht hier festkleben konnte, mitten auf dem Weg. Er schlüpfte zwischen die Sträucher und legte sich ins Gras. Prima. Und tat, als schliefe er. Warum sollte sich ein Arbeiter nicht ausruhen. Daß ihn jemand vom Wege aus sehen konnte, war mehr als unwahrscheinlich. Die Leute im Zoo interessieren mehr die Tiere. Er sah sie zwischen den Grashalmen hindurch besser als von jedem anderen Ort aus und kniff die Augen zusammen, damit es aussähe, als schliefe er, wenn sie zufällig in seine Richtung blickte. Das ist schön, dachte er, so ein Anblick nach so vielen Monaten Knast, und seufzte.
17 „Ich habe nachgefragt“, sagte Beránek und knabberte an dem Tatranka, das er im Laden an der Ecke gekauft hatte. „Hab’ in die Meldung geguckt. Wie es bis jetzt aussieht, wurde in den letzten vierundzwanzig Stunden eine einzige Person vermißt.“ 50
„Wer?“ fragte Exner. Beránek langte in die Tasche nach seinem berühmten schwarzen Notizbuch und blätterte darin: „Ein gewisser Milan Veber, achtunddreißig, von Beruf Architekt, beschäftigt beim Staatlichen Möbelhandel Prag, wohnhaft in Strašnice, Kdoulová 1915. So. Durch einen Blick auf den Stadtplan wirst du feststellen, daß die genannte Straße gleich hinter dem Häuserblock beginnt, wo der Zeuge Hromádka wohnt. Die Vermißtenmeldung hat Frau Jana Vebrová gemacht, seine Gattin. Und entgegengenommen hat sie ein Leutnant Brejt.“ Er klappte das Notizbuch zu. „Das ist alles, mein Kapitän. Wie geht’s, Arnošt?“ „Es geht“, räumte Doktor Buble ein. „War dieser Veber nicht zufällig beim Zirkus?“ Beránek wunderte sich. „Warum gerade beim Zirkus?“ „Das wissen wir nicht“, sagte Michal Exner. „Aber vielleicht dressiert seine Frau Elefanten.“ „Jungs“, erklärte Beránek und holte die zweite Waffel aus der Tasche, „ihr seid offenbar verrückt geworden. Wollt ihr abbeißen?“
18 Vlčeks Männer streiften durch den Park. Sie gingen gründlich vor, und das Ergebnis ihrer Tätigkeit breitete Vlček auf einer Bank am Sandspielkasten vor Exner aus. Er benutzte die Skizze von Doktor Hromádka, vervollständigte sie und machte so aus einem Kunstprodukt ein bedeutsames Dokument. „Wir haben eben doch was gefunden“, meinte er zufrieden. „Schau her.“ Es war ein bräunlicher Nylonmantel, in einer Hülle verpackt. 51
„Dieser Hromádka hat von keinem Mantel gesprochen.“ „Er muß ihn nicht gesehen haben. Man konnte ihn überhaupt nicht sehen, er steckte hier unter diesem Strauch.“ Vlček zeigte auf den Plan. „Tief unter den Zweigen.“ „Versteckt?“ „Das kann ich nicht behaupten. Er steckte eben dort. Konnte hingeraten sein, als der Mann auf der Erde lag. Er hielt ihn fest, fuchtelte mit den Armen, dann ließ er ihn los und schob ihn unwillkürlich unter die Zweige. Der Betreffende“, fuhr Vlček fort, „lag, wie wir feststellen konnten, auch unter diesem Strauch. Soweit entspricht die Aussage Hromádkas den Tatsachen. Wir haben keine Spuren gefunden, die davon zeugten, daß er hingeschleppt wurde. Er kam wohl von der Straßenbahn oder vom Autobus, und hier auf dem Wege ist ihm das passiert … Ich nehme an, er ging hier lang … Das ist der nächste Weg in die Siedlung …“ „In die Kdoulovástraße“, bemerkte Exner. „Kann sein. Die fängt dort an.“ „In die Nummer 1915.“ „Woher weißt du das?“ „Ein Herr aus diesem Haus ist gestern verschwunden. Von der Straßenbahn, dem Autobus oder einem Taxi. Das ist egal. Er kann von der Hauptstraße heimwärts oder von dort, der Hausnummer 1915, hierher zur Straßenbahn, zum Autobus oder einem Taxi gegangen sein.“ Exner nahm den Mantel, der immer noch in der Hülle verpackt war, in die Hand. „Habt ihr ihn euch angesehen?“ „Nein. Zeit genug im Labor.“ „Gut, nimm ihn mit. Und weiter?“ „Weiter nichts. Hier kommen viele Hunde her.“ Exner stand auf. „Ich schau’ mal in das Haus Nummer 1915. Und abends bei mir.“ „Werden wir alles zusammenfassen?“ „Vielleicht. Tschüs!“ 52
19 Im Sekretariat des Zoodirektors ist man so manches gewohnt. Viele Leute bitten, mit Herrn Rhinozeros oder Herrn Fischotter verbunden zu werden. In den Straßen von Košíře treibt sich ein Wildschwein herum, das sich aus dem Brdy-Wald hierher verirrt hat. Die örtlichen Organe rufen im Zoo an, denn viele glauben, daß man dort eine Gruppe professioneller Jäger zur Verfügung hat. Die Leute bringen Getier aller Art in den Zoo: zugelaufene Katzen und Hunde. Gefundene Schildkröten, für die sie um Schutz bitten, Ringelnattern, Eidechsen und verletzte Tauben; ferner verlangen sie, daß die Tauben, die sich auf dem Dachboden zu stark vermehrt haben, vom zoologischen Garten entweder ausgerottet oder in seine Sammlungen übernommen werden. Für kleinere Diebstähle in der Umgebung werden entlaufene Affen verantwortlich gemacht, und von der Direktion wird Schadenersatz gefordert. Der Zoo pflegt auch Kontakte mit Künstlern. Zur Erhöhung der Besucherzahl treten auf den für die Elefanten reservierten Plätzen populäre Sänger auf und singen ihre Lieder, während hinter ihrem Rücken der Rüssel baumelt und die Fachleute sich Gedanken über das Risiko machen, weil laut Statistik die meisten tödlichen Unfälle in zoologischen Gärten wütende Elefanten auf dem Gewissen haben. Diplomaten taufen die Tierchen, die die Staatsoberhäupter mit Vorliebe anderen Staatsoberhäuptern widmen und die dann diese Staatsoberhäupter der Obhut eines Zoos anvertrauen. Kinder kommen her und bitten um einen Hamster. Besitzer von kranken Hunden kommen und bitten um einen Arzt oder einen Rat. Andere bringen als Geschenk drei Vogelkäfige, eine Erbschaft von der verstorbenen Tante. Eine Besucherin tritt hinter das Geländer, um die 53
weiche und zarte Tatze eines schlafenden Tigers zu streicheln. Sie wird zur plastischen Chirurgie gebracht, und von der Direktion wird Schadenersatz, Schmerzensgeld und eine lebenslängliche Rente verlangt. Im guten Glauben und um seinem Sohn eine Freude zu bereiten, reicht der Familienvater einem Affen die Hand. Der Affe stiehlt ihm die Uhr, und in einigen Sekunden hat er sie geschickt demoliert. Der Vater verlangt von der Direktion Ersatz und die Bestrafung des Tieres, während das Kind am Tor flennt. Es ist nicht klar, warum. Vielleicht fürchtet es, der Affe könnte wirklich bestraft werden. Ein Mädchen will sich von einem kleinen Schimpansen streicheln lassen, und dabei wird ihm das Kopftuch einschließlich einiger Haare vom Kopf gerissen. Das Mädchen ist deprimiert, denn das Tuch war ein Geschenk vom Onkel aus Amerika. Sicher aber ist, daß die Fälle, von denen jetzt die Rede sein wird, auch für einen zoologischen Garten befremdlich waren. So kam gegen zehn Uhr eine aufgeregte Mutter mit zwei Kindern und meldete, daß ihr jemand das Portemonnaie gestohlen hätte. Im Sekretariat des Zoodirektors haben sie ihre Erfahrungen. Zuerst versuchten sie, die Frau zu beruhigen. Sie fragten sie, ob sie nicht das Portemonnaie den Bären oder dem Faultier zum Spielen gegeben hätte. Oder ob sie es nicht auf dem Pult eines Erfrischungskiosks liegengelassen hätte. Sie haben wirklich dahingehende Erfahrungen, und jene Mutter räumte eine gewisse Unachtsamkeit ein und entschloß sich, die drei Kioske abzufragen, wo sie ihre Kinder erfrischt hatte. Und dann, kurz vor dem Mittag, kam ein verheultes Mädchen von etwa siebzehn Jahren. Sie teilte mit, daß sie aus Kolín nach Prag gekommen sei, um hier einzukaufen. Das Geld habe sie in einem besonderen Umschlag gehabt. Und plötzlich habe sie gesehen, daß ihre 54
Handtasche offen sei, alles sei drin gewesen, nur der Umschlag mit dem Geld nicht. Eigentlich das Portemonnaie auch nicht, aber das habe sie auf der Erde gefunden. Darin habe sie nur Kleingeld gehabt. Das sei nicht verschwunden, aber der Umschlag ja. Wo das passiert sei? Sie habe sich gerade das Rhinozeros angeschaut. Das Mädchen schrie nicht herum, drohte nicht, rief niemanden zur Verantwortung. Sie war nur verzweifelt und traurig, denn sie wußte nicht, was sie tun sollte und wie sie wieder nach Hause käme. Der Sekretärin des Direktors tat sie leid. Aber sie hatte nur eine begrenzte Möglichkeit zu helfen. Eine gewöhnliche Möglichkeit als Bürgerin. Und diese schloß die Versicherung ein, daß sich das Geld bestimmt wiederfinden werde. Und weil der Fall ihr ernster erschien, begleitete sie das Mädchen zu zwei Polizisten, die auf dem Gelände vor dem Eingang zum Zoo einerseits auf die Verkehrsordnung achteten und andererseits den Besitzern regelwidrig geparkter Autos Geld abknöpften. Einer von ihnen blieb an Ort und Stelle. Der andere hörte sich das Mädchen an und wies ihm den Weg zum nächsten Polizeirevier. Dann ging noch einem jungen Mann aus der offenen Gesäßtasche die Brieftasche verloren. Weil es ein verantwortungsloser junger Mann war, der die irdischen Güter nicht allzusehr schätzte, sagte er sich, daß sie ihm, verdammt noch eins, irgendwo herausgefallen sein mußte, und er meldete nichts. Er schaute sich noch einmal bei den Affen und den Bären um. Dort lag sie nirgends. Zum Glück fand er in der Tasche eine Dreikronenmünze. So konnte er mit dem Autobus heimfahren.
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20 Das Haus, in dem die Vebers wohnten, war ein Hochhaus. Eine Schachtel aus Großplatten mit dreizehn Stockwerken für achtundneunzig Familien und einzelne Mieter, unter Brüdern so an die zweihundertfünfzig Menschen. Ihnen dienten zwei Schneckenfahrstühle historischer Konstruktion. Der Architekt Veber wohnte im dreizehnten Stock. Jana Vebrová ahnte, daß seine Abwesenheit etwas Sonderbares bedeutete. Bei seiner Ruhe und seinem Verantwortungsbewußtsein etwas Unbegreifliches. Sie rief in der Schule an, daß ihr nicht gut sei. Einzelheiten könne sie später erklären. Sie wußte nicht, was für Einzelheiten, aber andererseits war sie vernünftig. Sie wußte, daß für Panik noch Zeit genug war. Ein bißchen erschrak sie über die Klingel im Flur, sie dachte zuerst, es sei das Telefon. Sie war voller Sorge, wußte aber, daß Tragödien sich im Leben täglich abspielen. Michal Exner stellte sich vor. Sie bat ihn weiter und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Er schaute sich um, scheinbar gleichgültig und flüchtig. Die Einrichtung und Aufteilung der Wohnung war tadellos. Aber wie jedesmal, wenn ein besonders tüftliger Architekt ans Werk ging, war das Ergebnis der Vollkommenheit und Präzision, der Zweckmäßigkeit und des Zusammenspiels der Farben und der Plazierung der Möbel – Kälte. Frau Vebrová setzte sich Exner gegenüber und heftete ihre blauen Augen auf ihn. Ihr Ausdruck war dem Milieu der Wohnung sehr ähnlich. „Haben Sie eine Nachricht oder …“ „Eine Nachricht nicht“, sagte er. „Es handelt sich um 56
eine Formalität … Sie haben heute morgen auf dem zuständigen Polizeirevier gemeldet, daß ihr Gatte, Herr Milan Veber, gestern abend nicht nach Hause gekommen ist. Das kommt doch vor, nicht?“ „Bei ihm niemals.“ „Hätten Sie eine Fotografie von ihm aus der letzten Zeit?“ „Ich sehe nach.“ Sie ging zu einem Schränkchen am Fenster und kramte in der Schublade. „Sie haben eine sehr hübsch eingerichtete Wohnung“, bemerkte er. „Mein Mann. Das alles hat sich mein Mann ausgedacht. Für ihn ist der Beruf zugleich sein Steckenpferd. Er sagt, er muß in einem präzisen Milieu leben. Schauen Sie!“ Sie zeigte ihm Fotos. „Vielleicht das da …“ Sie reichte ihm ein Foto, wie sie für Reisepässe angefertigt werden. „Für Ihre Zwecke …“ „Ja“, sagte er, und ihm war augenblicklich alles klar. „Sie sind Chemikerin?“ fragte Michal Exner wie beiläufig. „Das kann man nicht sagen“, antwortete sie. „Ich unterrichte hauptsächlich Physik und Geographie. Chemie nur ein paar Stunden.“ „An einer Oberschule?“ „An einer Zehnklassenschule“, antwortete Jana Vebrová. „Aber ich weiß nicht, warum gerade das Sie interessiert.“ „Ist mir nur so eingefallen“, sagte er leichthin. Er stieß einen Seufzer aus. „Das ist eine komplizierte Sache, Frau Vebrová …“ Sie unterbrach ihn. „Ich weiß, womit Sie beginnen wollen. Wie der Kommissar, bei dem ich heute morgen war.“ „Er hat mit etwas angefangen?“ wunderte sich Exner. „Und womit, um Himmels willen?“ 57
„Trunkenheit, außereheliche Beziehungen. Nichts derlei existiert.“ „Ihr Mann ist also Abstinenzler?“ „Fast.“ „Wie verträgt er Alkohol?“ „Schlecht. Er weiß das, und niemals …“ „Hat er sein Maß überschritten“, ergänzte er. „Genau so.“ „Wissen Sie“, sagte er, und es schien nur deshalb, um etwas zu sagen, „es kann passiert sein, daß er aus Gründen, die wir zwei nicht kennen, sein Maß eben doch überschritten hat.“ Sie musterte streng sein stutzerhaftes Gewand in Beige und Braun. „Und was diese – wie Sie so hübsch gesagt haben – außerehelichen Beziehungen betrifft …“ „Unsinn“, sagte sie energisch. Er kratzte sich hinterm Ohr. „Verzeihen Sie, aber es gibt zwei Gründe, die mich zwingen, von einem Ihnen so unangenehmen Thema zu sprechen …“ „Bitte sehr, Genosse Major.“ „Kapitän“, korrigierte Exner sie bescheiden. „Also, Genosse Kapitän. Und Sie können von mir aus fünf Gründe haben. Aber interessehalber: Ich würde gern die Gründe hören, derentwegen Sie meinen, es sei unerläßlich, Tratsch über die Liebesbeziehungen der Leute zusammenzutragen, um eine Fahndung einleiten zu können.“ „Erstens, Frau Vebrová: Wenn jemand allein und aus eigenem Willen verschwindet, muß er ein Motiv haben …“ „Ich kenne kein Motiv, leider …“ „Zweitens“, fuhr Exner unerbittlich fort, „kommt es vor, daß jemand verschwunden wird, falls Sie mich verstehen.“ „Verschwunden wird?“ 58
„Beseitigt, wenn Sie so wollen. Dann ist es ebenfalls notwendig, ein Motiv zu suchen. Und Motive zu solchen Handlungen gibt es nicht so viele, Frau Vebrová. Sie lassen sich – wenn man sie verallgemeinert – an den fünf Fingern einer Hand abzählen.“ „Ich danke Ihnen für die kleine Schulung in Kriminalistik“, sagte sie, und es war offensichtlich, daß sie sich im Unterschied zu anderen Frauen nicht in Michal Exner verliebt hatte. „Ich wiederhole noch einmal, daß …“ „Ich möchte“, unterbrach sie Exner und hob bescheiden die Hand wie ein artiges Schulkind, „falls Sie erlauben, noch etwas hinzufügen …“ „Bitte sehr.“ „Sie sprachen davon, daß wir die Fahndung einleiten sollten …“ „Allerdings … Der Kommissar, mit dem ich heute morgen gesprochen habe, war nicht allzu bereitwillig. Und Sie, verzeihen Sie, scheinen mir zu weitschweifig.“ „Ich fürchte, ich werde noch weitschweifiger werden, Frau Vebrová.“ „Das begreife ich nicht. Vielleicht verdächtigen Sie mich wegen irgend etwas, mich oder meinen Mann? Ich kann Ihnen zum Beispiel seinen Paß zeigen … und …“ „Wir haben nämlich“, fuhr Exner fort, „die Fahndung nach Ihrem vermißten Gatten im wesentlichen beendet.“ Verständnislos blickte sie zu ihm auf. „Ja, beendet“, wiederholte er. „Und soeben“, fügte er traurig hinzu, „eröffnen wir die Fahndung …“ „Ja?“ stieß sie ungeduldig hervor. „Nach seinem Mörder, Frau Vebrová. Das ist Schicksal.“ Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus. Stöhnte leise auf. Man sah deutlich, wie ihre Knie zitterten. Ihre Lippen entfärbten sich, und die strengen Augen versagten ihr den Dienst. „Nein …“, sagte sie. „Leider Gottes … ja.“ 59
„Aber das muß ein Irrtum sein!“ schrie sie. „Das muß ein unsinniger Irrtum sein, hören Sie, niemand konnte einen Grund haben … Das kann nicht er sein … das …“ „Ich fürchte“, sagte Exner, „daß er es wirklich ist. Ich habe ihn auf dem Foto erkannt, das Sie mir gezeigt haben; und gefunden wurde er … unweit Ihres Hauses …“ „Jesus Christus, das ist doch Unsinn!“ Exner zuckte die Achseln. „Vielleicht ist es wirklich Unsinn, aber das Leben setzt sich nicht nur aus Dingen zusammen, die einen Sinn haben …“ Abermals musterte sie ihn von Kopf bis Fuß, bis zu den Spitzen der vorbildlich geputzten Schuhe. „Erlauben Sie, daß ich telefoniere?“ Das Telefon war im Flur. Er sah sie durch die Milchglasscheibe der Tür. Sie sprach halblaut, dennoch verstand er hie und da ein Wort. Sie überprüfte seine Identität. Er rächte sich dadurch, daß er sich, ohne sie um Erlaubnis zu bitten, eine Zigarette ansteckte. Sie kehrte ins Zimmer zurück und schien unkonzentriert und zerfahren. „Haben Sie mich gehört?“ „Teilweise“, gab er zu. „Man weiß von Ihnen, aber nichts von dem, was Sie mir gesagt haben.“ „Darüber dürfen Sie sich nicht wundern. Sie bekommen dort nicht jede Sekunde von mir Informationen.“ Sie setzte sich schräg in den Sessel, beugte sich vor, faltete die Hände im Schoß, schloß die Augen und forderte ihn auf: „Sagen Sie mir das noch einmal.“ „Gestern abend wurde dort auf der Wiese“ – er zeigte ins Ungewisse – „ein Mann gefunden, der nach der Überführung ins Krankenhaus starb. Er hatte keinerlei Papiere bei sich. Laut den Meldungen wurde in den letzten zwei Tagen einzig und allein Ihr Mann vermißt. Nach der Fotografie, die Sie mir gezeigt haben, ist offensichtlich, daß der aufgefundene Mann und Ihr Gatte einander ungewöhnlich ähnlich sind. Das ist alles.“ 60
„Aber Sie haben gesagt … er wurde umgebracht.“ „Ja.“ „Wie, um Himmels willen?“ „Das weiß ich nicht.“ Nervös lachte sie auf. Es war kein richtiges Lachen. „Unsinn … das ist doch … Und warum, um Gottes willen, wurde er …“ Nachdenklich rieb er sich die Nase. „Hören Sie, das …“, setzte sie erneut an. „Verzeihen Sie“, unterbrach er sie. „Hatte Ihr Gatte besondere Kennzeichen … verstehen Sie …“ „Natürlich. Eine große Narbe am rechten Knöchel, von einem Unfall aus der Kindheit.“ Er nickte. „Ja.“ „Ist es wirklich …“ „Leider …“ Sie stand auf. „Ich muß ihn sehen“, sagte sie. Jetzt bemühte sie sich nur noch, daß es streng klang. „Augenblicklich!“ Michal Exner blieb im Sessel sitzen. Er schüttelte den Kopf. „Vorläufig bleiben Sie bitte sitzen …“, sagte er sanft. Ihre Strenge und Entschlossenheit wichen. Aber von einem Zusammenbruch war sie noch weit entfernt. Entweder konnte sie sich meisterhaft beherrschen, oder es war noch nicht genügend Zeit vergangen. Sie nahm wieder im Sessel Platz. Wenn sie in diesem Augenblick jemanden haßte, dann offenbar Exner. „Ich wäre Ihnen dankbar“, sagte er, „wenn Sie mir sagen könnten, was … Sie gestern abend gemacht haben …“ „Wie gewöhnlich.“ Sie stutzte. „Ich oder wir?“ „Sie beide“, antwortete er friedlich. „Ich habe wirklich danach gefragt, was Sie und Ihr Mann gemacht haben.“ „Wir haben zu Abend gegessen.“ „Um wieviel Uhr?“ 61
„Etwa um halb sieben. Oder etwas früher.“ „Wann ist Ihr Mann von der Arbeit gekommen?“ „Zwischen fünf und sechs.“ „Er war beschäftigt als …“ „Als Architekt in einem Möbelgeschäft. Konkret: über der Möbelverkaufsstelle in der Śevillastraße. Insgesamt waren dort drei. Und …“ Er unterbrach sie. „Gestern kehrte er wie gewöhnlich heim?“ „Ja.“ „Beschwerte sich über nichts?“ „Nein. Nur … daß er noch zu einem Kunden müsse.“ „Wie oft ging er abends zu Kunden?“ „Einige Male pro Woche.“ „Wer war der gestrige Kunde?“ „Das weiß ich leider nicht … . Ich erinnere mich nur, daß er sagte, er müsse nach Holešovice fahren.“ „Hören Sie, Frau Vebrová“, sagte Michal Exner, „das ist zufällig sehr wichtig, zu wem er gestern abend gegangen oder gefahren ist.“ „Ja …“ Sie rieb sich nachdenklich die Hände, bis die trockene Haut knisterte. „Aber … das war bei ihm so üblich … Niemals sprach er davon … zu wem er ging … soweit das kein bekannter Schauspieler oder Sänger war oder so etwas … Dann und wann erwähnte er nur, in welches Stadtviertel er fuhr … Eher deshalb, damit ich wußte, wann ungefähr er zurückkehren würde … Er fuhr immer mit der Straßenbahn …“ „Aus dem Hause ging er … um wieviel Uhr?“ „Vor sieben. Nach dem Abendessen stellte ich das Fernsehen an … Er ging, noch bevor die Abendnachrichten anfingen.“ „Irgendwohin nach Holešovice …“, wiederholte Exner nachdenklich. „Und Sie?“ „Ich war zu Hause. Und bereitete die Sachen vor … Wir wollten noch in der Nacht auf die Datsche fahren. 62
Das machen wir immer so, daß wir spätabends auf die Datsche fahren. Da sind die Straßen leer.“ „Hat er Ihnen gesagt, wann er wiederkommen wird?“ „Nein. Das war ja auch überflüssig. Er kam gewöhnlich zwischen zehn und elf wieder.“ „Warum fuhr er nicht mit dem Wagen?“ „Ungern“, sagte sie mit einem Seufzer, offenbar wegen der überflüssigen blöden Frage, „fuhr er mit dem Wagen in der Stadt. Es ging auf elf, als ich in die Garage ging, um den Wagen zu holen.“ „Wann haben Sie …“ Er korrigierte sich. „Wann begann es Ihnen merkwürdig zu erscheinen, daß Ihr Mann nicht zurückkehrte?“ „Nach halb zwölf. Weil er … weil er doch wußte, daß wir wegfahren wollten, und er sich jedesmal bemühte, maximal früh heimzukehren.“ „Jedesmal?“ „Ja. Einige Male wurde er aufgehalten … aber da rief er immer an, damit ich Bescheid wußte.“ Exner fiel ein, daß ja auch nicht immer das Telefon funktionieren muß, aber das behielt er für sich. Die Frau Lehrerin war ruhig, die unartige Schülerschaft hatte an ihrem psychischen Zustand keine Spuren hinterlassen. Offensichtlich. „Also sind Sie erst am Morgen gegangen …“ „Noch in der Nacht habe ich Bekannte angerufen.“ „Wen?“ „Meine Schwester … Anna. Ihr Mann ist der Grafiker Václavík.“ „Wo wohnen sie?“ „In Holešovice. Arbeiterstraße drei. Mir fiel ein, daß mein Mann dort eingekehrt sein könnte … Und dann noch den Architekten Krule. Der wohnt in der Altstadt. Wir verkehren gelegentlich, er ist ein Kollege meines Mannes.“ „Und nichts?“ 63
„Nein.“ Michal Exner dachte nach oder täuschte einen solchen Sinneszustand nur vor, denn nach einer Weile fragte er: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen … eine sehr private Frage?“ sagte er fast schüchtern. „Können Sie“, antwortete sie ruhig. „Mein Mann hatte keine Geliebte. Dessen bin ich mir sicher. Ich weiß, wenn das eine Ehefrau erklärt … das kann töricht klingen, aber ich habe ihn sehr lange gekannt, und unsere Beziehungen … Kurz: Wir kannten einander genau.“ „Und was Sie betrifft?“ stieß er unverfroren hervor. „Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Es scheint mir allerdings unpassend …“ „Mein Beruf“, erklärte er leichthin. „Bei der Suche nach Motiven …“ „Ich habe kein Motiv, Herr“, sagte sie und stand auf, womit sie ihm deutlich zu verstehen gab, daß er aus dem Trauerhaus gehen sollte. „Keines. Ich hoffe, daß jetzt …“ „Ja. Das Gerichtsmedizinische Institut. Dort wird Sie ein gewisser Leutnant Beránek erwarten.“ Auf dem Flur, vor der Verabschiedung, drehte sich Exner zu Jana Vebrová um: „Kennen Sie einen Doktor Hromádka?“ „Nein.“ „Und Ihr Mann?“ „Möglich, daß er ihm die Wohnungseinrichtung entworfen hat.“ „Oder jemanden, der mit großen und gefährlichen Tieren zu tun hat?“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Ich meine jemanden vom Zirkus oder aus dem Zoo.“ Darauf gab sie keine Antwort. Er nickte verständnisvoll. Und wenn er gewußt hätte, daß nach seinem Weggang Jana Vebrová erneut telefonisch seine Identität überprüfte und daß sie auch im Gerichtsmedizinischen Institut anrief, wie es sich mit 64
diesem Kapitän Exner verhalte, hätte er sich nicht gewundert. Inzwischen hatte sich draußen das Wetter geändert. Der Wind trieb regensatte Wolken vor sich her. Exner zog das Klappdach über den Mercedes, setzte sich ans Lenkrad und dachte vielleicht wirklich eine Weile nach. Vielleicht darüber, daß Jana Vebrová letztlich und auf ihre Art eine besondere und nicht häßliche Frau war.
21 Leutnant Beránek sprach in dem Käfterchen des Portiers im Gerichtsmedizinischen Institut ins Telefon: „Sie wissen nicht, ob Sie Narkotisierungsgewehre haben? Dort ist doch die Direktion der Zirkusse und Lunaparks? Ja. Im Winterquartier. In Ober-Počernice. Herr Michal Bouda. Danke.“
22 Hinter der großen Schaufensterscheibe waren die Möbel aufeinandergestapelt wie in einem Lagerraum. Es war ein Möbelgeschäft, glich aber einem Möbellager. Exner spazierte zwischen den kunterbunt aufgestellten Sesseln und Schränken und Couches hindurch und wurde in keiner Weise von den zwei Mädchen in weißen Kitteln belästigt, die hier offenbar die Rolle von Verkäuferinnen spielten. Gewiß, sie beobachteten ihn, aber offensichtlicht nur als Objekt ihres privaten Interesses. Er blieb vor einem Aushang stehen, wo den Kunden mit Wort und Bild verdeutlicht wurde, welches Möbel65
stück aus den unendlich langen Anbaureihen nicht auf Lager sei und sein werde. Er mußte im stillen anerkennen, daß diese Möbel einen Architekten brauchten, um, in der Wohnung plaziert, nicht wie die Anhäufung von Kisten auf hölzernen oder metallenen Füßen auszusehen. In den ersten Stock führte eine Treppe mit durchgetretenem Gummibelag. Er folgte dem Zettel mit dem Pfeil darauf: Architekt – Beratung Oben waren offenbar mehrere Architekten, denn in dem geräumigen Zimmer, das zugleich Büro und, nach den weiteren hier aufgestapelten Couches, Sesseln und Schränken zu urteilen, auch Lagerraum war, standen an den großen Fenstern drei Reißbretter. Die Dame am Schreibtisch telefonierte. Ein weiteres Mädchen in weißem Kittel lehnte an ihrem Tisch und führte ein Gespräch mit einem jungen Mann in rotem Hemd. Falls dieser junge Mann ein Kunde war, dann mußte er ein sehr vertrauter und sehr guter Kunde sein. Dem Kapitän der Kripo widmete niemand von den dreien auch nur einen Blick. Zwei Reißbretter waren besetzt. Der Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln sah wirklich wie ein Architekt aus, auch dadurch, daß er an einer erloschenen Pfeife nuckelte. Ansonsten war er blond mit leichtem Glatzenansatz und hatte ein sommersprossiges Gesicht. Lang und gekrümmt wie ein Bogen ohne Sehne. Exner interessierte mehr die Frau, die seitlich zum Reißbrett saß, mit dem Rücken in den Raum, und auf dem Tischchen vor sich Farben zu einem hervorragenden Entwurf für eine Wohnungseinrichtung zusammenmischte. Das war ein Arbeitsplatz, jedweder Kontrolle seitens der Öffentlichkeit entzogen. Aber die Öffentlichkeit, die mo66
mentan anwesend war – ein junges Ehepaar und ein älterer Mann, die auf das aufgestapelte Mobiliar stierten –, hatte offenbar auch gar nicht die Absicht, jemanden zu kontrollieren. Exner sah sich das leere Reißbrett an. Nach der Atmosphäre, die hier herrschte, hätte sich offenbar niemand gewundert, wenn er sich an das Brett gestellt, einen zusammengerollten Bogen Papier hervorgeholt, ihn angeheftet und etwas zu zeichnen begonnen hätte. Die Frau am Tischchen vergaß die Wasserfarben, die sie mit sichtlichem Widerwillen auf das Papier vor sich auftrug, und schaute hinaus auf die Straße. Exner sah sie jetzt im Profil und stellte fest, daß es ein ungewöhnlich interessantes Profil war. Die junge Frau hatte sich irgendwo in Bulgarien braun brennen lassen, und jetzt, aus dem Fenster starrend, träumte sie offenbar davon. An der Hand trug sie mehrere Ringe und eine Unzahl von Armreifen und dazu eine Kette um den Hals, die fast bis in ihren Schoß baumelte. Er wollte sie nicht stören und stellte sich deshalb zu dem Architekten, über dessen Werk hinweg er ihr träumendes Profil studierte. Und roch den Gestank der kalten Pfeife. Dem Herrn war offenbar Spucke in die falsche Kehle geraten, er hustete. Und dann bemerkte er Exner, hörte auf, seine Arbeit zu betrachten, und glotzte ihn an. Kapitän Exner lächelte verlegen und bemühte sich, mit schmachtendem Blick anzudeuten, daß dieses Profil das Anschauen lohnte. „Wünschen Sie etwas?“ nuschelte der gebogene Mann, ohne sich zu bemühen, die Pfeife aus dem Munde zu nehmen. Vielleicht hielt er das Profil für einen Bestandteil des Arbeitsplatzes und hatte seine eigene Meinung darüber, wer es sich anschauen durfte und wer nicht. „Sie sind hier zu fünft?“ fragte Exner ganz abwegig. „Nein. Drei.“ Entweder war das ein argloser Geist, 67
oder die blöde Frage hatte ihn frappiert. „Suchen Sie den Kollegen Veber?“ „Nein, nein“, erwiderte Exner, mit den Gedanken offenbar schon wieder woanders, weil er erneut die schöne, träumende, sonnengebräunte Nase beobachtete. Wegen der langen Haare und des sinnlos schlottrigen Mantels konnte er nicht viel davon sehen. „Die Leiterin ist dort.“ Der Architekt zeigte mit der Pfeife auf die immer noch telefonierende Dame am Schreibtisch. „Danke“, antwortete Exner und blieb stehen, wo er stand. Das irritierte den glatzköpfigen Herrn. „Wollen Sie sich ein Interieur entwerfen lassen?“ „Überhaupt nicht“, sagte Exner. „Eine Kollegin von Ihnen?“ Seine Dreistigkeit kannte keine Grenzen. „Und was soll sein?“ fragte der Architekt hartnäckig. Vielleicht hätte er sich zu mehr aufgerafft, aber offenbar machte ihn Exners gebügeltes und vollkommenes Exterieur stutzig und deprimierte ihn, denn er fand daran – zu seiner noch größeren Beunruhigung – keine einzige Unzulänglichkeit, weder im Schnitt noch in der Farbabstimmung. „Nichts.“ Der Mann entschloß sich, den Besucher zu beleidigen, und drehte sich zu seinem Reißbrett und seinem Werk um. Er steckte die Pfeife zwischen die Zähne und wackelte mit ihr, bis sie in den Mundwinkel rutschte. Exner steckte die Hände in die Taschen und beugte sich zu ihm. „War gestern abend Herr Veber bei Ihnen?“ „Nein.“ „Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?“ „Gestern nachmittag. Sie können mir eine Nachricht für ihn dalassen.“ Offenbar war er an verrücktere Kunden gewöhnt. 68
„Und Sie waren gestern abend zu Hause?“ Endlich ging ihm wohl ein Licht auf – seine Leitung mußte unendlich lang sein –, denn er richtete sich langsam auf, schaute Exner aufmerksam an, nahm die Pfeife aus dem Mund und fragte: „Was geht Sie das an?“ „Ich suche jemanden, der mir sagen könnte, wo Herr Veber gestern abend gewesen ist.“ „Seine Frau.“ „Die weiß es nicht.“ Das schöne Profil hörte auf mit Kolorieren, weil es wohl etwas aufgeschnappt hatte. Es wandte sich zu ihnen und fing Exners Blick mit hellgrauen Augen auf, die sich in der Gesamtbräunung des Gesichts besonders gut ausnahmen. Exner würdigte das und lächelte ihm als Gruß zu. Das Profil hörte auf, ein Profil zu sein, und ließ eine Zahnreihe erstrahlen. Eine recht lange, große Reihe, was aber nicht häßlich war. Den Mann juckte wohl der Kopf, denn er begann sich ihn angestrengt zu reiben. Offenbar sah er das alles nicht gern. „Dann weiß ich auch nicht, wer Ihnen das sagen könnte. Hier ist er nicht, entschuldigt hat er sich nicht, eine Nachricht hat er auch nicht hinterlassen, nicht wahr, Eliška?“ fragte er die perlweißen Zähne und die grauen Augen, aber er wartete nicht ihre Zustimmung ab, sondern fuhr gleich fort: „So daß Sie am besten Montag wieder nachfragen.“ „Heute sollte er“, fuhr Exner eigensinnig fort, „auf die Datsche fahren …“ „Da hat er sich vielleicht ersatzweise frei genommen. Wohl in der Zentrale gemeldet. Ich bin nicht sein Sekretär. Und er ist nicht verpflichtet, uns etwas mitzuteilen.“ Eliška sagte nichts, schaute nur Exner an. Sie war um die Fünfundzwanzig, vielleicht älter. Es schien, daß sie mit dem pfeiferauchenden Mann übereinstimmte. „Besser: Er war nicht verpflichtet“, bemerkte Exner wie beiläufig. 69
Der Mann kaute, als wollte er die Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen befördern, aber er hatte sie in der Hand. Und er kaute noch einmal, als wollte er sie an den ursprünglichen Platz zurückbefördern. Eliška hob nur leicht die ungewöhnlich dunklen Wimpern, an denen sich ein gieriger Wagehals bestimmt ein Auge ausgestochen hätte. „Wie das, er war nicht …“ Ringsum gingen Leute, begafften die aufgestapelte Ware, und die drei waren für sie Luft. Die Leiterin telefonierte immer noch. Und das Mädchen in dem weißen Kittel führte immer noch ihr Gespräch mit dem Kunden im roten Hemd. „Er ist nämlich gestern abend verschwunden … Seine Frau hat das gemeldet …“ „Das heißt, daß Sie …“ „Ja.“ Kapitän Exner lächelte Eliška arglos zu. „Kriminalpolizei. Kapitän Exner, Herr Krule.“ Das Mädchen stand auf und kam ihm bereitwillig entgegen, um ihm die Hand zu geben: „Libšerová, Eliška.“
23 Einige Gaffer vor dem verglasten Schimpansenkäfig amüsierten sich köstlich. Das Schimpansenweibchen Filomena und der Schimpanse Karel jedoch auf keinen Fall. Filomena hatte nämlich Schnupfen, und der Tierpfleger Jan Marek versuchte, ihr Kamillenöl in die Nase zu träufeln. Filomena wehrte sich schicksalergeben, aber ungewöhnlich ausdauernd mit ihren kleinen Händen. An eine Rauferei oder an Beißen dachte sie offenbar überhaupt nicht. Sie wich nur mit einer gewissen stillen Verzweiflung aus und hielt Mareks Hand fest. Der Pfle70
ger war unendlich geduldig. Er konnte wohl nicht anders sein, aber den Zuschauern vor der Scheibe erschien er als Symbol der Zartheit und einer pingeligen Arbeit. Die blonden Haare fielen ihm in die Augen und hinderten ihn. Leise redete er der Äffin zu und schimpfte halblaut und freundlich mit ihr. Karel schaute aus seiner Ecke verzweifelt und ängstlich zu. Die Zuschauer amüsierten sich über seinen entsetzten Blick und das unruhige Schaukeln mit dem Körper. Adolf Kroupa amüsierte sich nicht so sehr. Er hatte sich vor einer Weile auf eine nahe Bank gesetzt, da er ein bißchen Schatten brauchte, denn der zoologische Garten war eine schlimmere Station als die ruhigen Friedhöfe. Und außerdem hatte es ihm geschienen, als sei das Unternehmen, an dem mitzuarbeiten er sich verpflichtet hatte, zu anspruchsvoll für seine Nerven. Das Terrain des Zoos war sehr gegliedert. Unwillkürlich seufzte er leise. Und das Kamillenöl wurde immer noch um Filomenas Schnäuzchen verschmiert, es war nicht möglich, es ihr in die Nase zu träufeln. Mit dem Schimpansenfräulein war keine leichte Arbeit. Die Frau, die am anderen Ende der Bank saß, seufzte ebenfalls. Zum Unterschied von Adolf Kroupa interessierte sie die Szene im Käfig ungemein. Sie beugte sich vor und hielt sich an der Lehne der Bank fest. Ihr Seufzer wiederum interessierte Kroupa. Er drehte sich halb um, um nicht den Kopf drehen zu müssen, und beschaute sich die Dame mit erfahrenem Auge. Gut gekleidet. Aber etwa vor zehn, fünfzehn Jahren. Dessenungeachtet bestens erhalten. Um die Fünfzig, grauhaarig, sehr sorgfältig hergerichtet, einschließlich der Hände. Energisch und scheu zugleich. Und dann schien es Kroupa, daß da noch etwas war, etwas Besonderes, er konnte es nicht ausdrücken, was es eigentlich war, aber es war in ihr und um sie; Kroupa war kein Phantast und unterlag 71
nicht seinen Gefühlen. Da wäre er in seiner Profession nicht weit gekommen. Und weil er bemerkte, daß die Frau mehr als den Affen den jungen Mann beobachtete, der sich mit ihm abmühte, sagte er halblaut, als fürchtete er, das Tier aufzuscheuchen: „Ein ungemein geduldiger Junge …“ Die Worte sprach er wie beiläufig aus, aber ihr Inhalt war das Ergebnis eines in Jahren trainierten Sinnes dafür, was, wann und wie man es einer Frau sagt. Zerstreut sah sie ihn an. Und lächelte. Fast dankbar. Endlich ging Jan Marek die Geduld aus. Zweimal patschte er Filomena auf den Hintern, so wie man ein Kleinkind schlägt, und sagte ein schärferes Wort. Dann geschahen einige Dinge auf einmal. Zuerst erstarrte Filomena. In diesem Augenblick hatte sie das Kamillenöl in der Nase. Zugleich sprang Karel auf und stürzte zu seiner Freundin. Er ging nicht ihren Peiniger an, den beachtete er überhaupt nicht, sondern umarmte Filomena und hätschelte sie an seiner Brust und drehte dem Pfleger den Rücken zu, um sie zu beschützen. Die Zuschauer hatten etwas zu sehen. Die Vorstellung war beendet. Sie gingen also weiter, zu anderen Käfigen, sich über das Aussehen und die Tätigkeit von ihnen ungemein verwandten Geschöpfen zu belustigen. Die Frau stand von der Bank auf und strebte zu einer Tür mit der Aufschrift „Eintritt verboten“. In ihrem Verhalten war auf einmal viel Tatkraft und Energie, was im deutlichen Widerspruch zu der Art stand, wie sie die Szene beobachtet hatte, die sich vor einer Weile im Käfig abgespielt hatte. Diese Veränderung in ihrem Verhalten hätte Adolf Kroupa vielleicht warnen können. Aber statt dessen stand er auf und folgte ihr langsam. Natürlich, sie hatte zwei Eheringe, also Witwe. Leise seufzte er ein zweites Mal. Die alte Sehnsucht, etwas zu riskieren, war stärker. 72
Er stellte sich unauffällig an die Tür mit der Aufschrift „Eintritt verboten“, die halb offengeblieben war, und täuschte vor, daß er sich unermeßlich für die Spiele der Grünen Meerkatzen interessierte. Die Frau blieb an der halboffenen Tür in dem für die Tierpfleger vorbehaltenen Raum stehen, von wo ein Gang zu den einzelnen Käfigen führte. Als sie Jan Marek erblickte, der von dort kam, sagte sie unumwunden: „Du bist ein Lügner!“ Die zwei Mädchen, die auf einem Tablett Gemüse zurechtmachten, waren Luft für sie. Jan Marek blinzelte wie ein Mensch, der aus einem tiefen Traum erwacht. „Warum, Mama?“ „Wo warst du in der Nacht?“ „Hier …“ „Du lügst!“ Er versuchte gar nicht, etwas einzuwenden. „Du lügst“, fuhr sie fort. „Ich war beim Herrn Direktor. Jetzt, vor einer Weile. Die ganze Nacht hast du dich draußen herumgetrieben. Du ziehst mit diesem Weibsstück herum, mit dieser …“ „Mama!“ Die Mädchen über dem Gemüse duckten sich, als gelte alles, was die Frau sagte, ihnen. Und sie sahen zu, so schnell wie möglich in dem Gang zu den Käfigen zu verschwinden. Jan Marek stand mit gesenktem Kopf da und richtete sich nur von Zeit zu Zeit mit der Hand die Haare. „Ich geh’ zu ihr und sag ihr …“ „Nein!“ Er wollte schreien, aber es fiel blaß aus. „Ich bin nicht bei ihr gewesen“, fügte er leise hinzu. „Niemals bin ich nachts bei ihr gewesen. Sie ist nicht … wie du sagst …“ „Du bist bei ihr gewesen! Gib es zu!“ „Nein … Mama … Ich …“ „Ich hab’ dem Herrn Direktor gesagt, daß ich wün73
sche, daß er jedesmal, wenn du Nachtdienst hast, bei uns anruft, weil auf dich absolut kein Verlaß ist. Wenn wenigstens Vater …“ „Ich bin über achtzehn …“, bemerkte Jan Marek, und vielleicht wollte er, daß das trotzig klang. Es gelang nicht. Er hatte wohl hauptsächlich Angst. „Ist sie hier?“ fragte die Mutter trocken. „Geh nicht zu ihr. Ich bin wirklich nicht bei ihr gewesen … Ich war … mit Manka … Die ganze Nacht … mit Manka Faltysová … Weißt du … wenn du willst …“ „Kann ich Manka fragen?“ „Aber Mama … das ist doch …“ Sie marschierte hinaus. Jan Marek starrte auf die geschlossene Tür, und erst nach einer Weile stellte er das Fläschchen mit dem Kamillenöl hin, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
24 Sie trat heraus und fing unwillkürlich den Blick von Adolf Kroupa auf. Seine Sympathie ihr gegenüber, wie dieser Blick, der geneigte Kopf und die gutmütigen Augen zeigten, war offensichtlich. Wegen der miserablen Akustik und des Kreischens der Affen hatte er nicht gehört, worum es hinter der halboffenen Tür gegangen war, aber er konnte sich allerlei zusammenreimen. „Schwierigkeiten …“, sagte er, und das war eine Frage und wieder auch keine. Eher der Ausdruck von Mitgefühl. Eine Kondolenz. „Der Junge liebt seine Arbeit“, sagte Kroupa väterlich, in völliges Dunkel schießend. „Das ja …“ Er begleitete sie aus dem Affenpavillon hinaus, wobei 74
er galant die Tür offenhielt, die man überhaupt nicht festzuhalten brauchte, weil sie mit einem Haken befestigt war, damit der Pavillon ständig gelüftet wurde. „Verzeihen Sie, Gnädigste“, sagte Kroupa und stellte sich als Doktor Roupa vor. „Arzt?“ Er überlegte eine halbe Sekunde. „Gewesen! Gewesen! Ein unpraktischer praktischer Arzt. Jetzt nur mehr Rentner.“ „Mein Mann praktiziert immer noch …“ Sie hielt inne. „Marková, Anna Marková … Und der Junge, der mit den Affen spielt, ist mein Sohn.“ Er begriff, daß sie den Gatten vortäuschte. Offenbar geschieden, schloß er bei einem neuen Blick auf ihre Hand. Dort waren zwei Eheringe. Wahrscheinlich hat er ihn ihr vor die Füße geworfen, als er das Weite suchte, dachte Kroupa zynisch. Und er sagte: „Ein hübscher und augenscheinlich intelligenter Junge.“ Sie schritten zu den Einfriedungen der Zebras, Bisons und Känguruhs, zu dem Gelände, wo die Herde von Przewalsky-Pferden herumgejagt wäre, wenn sie genügend Platz gehabt hätte. Kroupa war heiß, aber weil er fühlte, daß die Dame eine günstige Beziehung zu ihm gefunden hatte, begann er die Sache schließlich als Profession zu betrachten. Sie blieb für einen Augenblick an einer leeren Einfriedung stehen. Kroupa wußte nicht, warum. Sie blickten auf den Rücken einer Frau mit dunkelroten Haaren. Die Frau zeichnete ein Känguruh. „Ein schöner Beruf, nicht?“ sagte er arglos. „Der Beruf ja“, entgegnete sie hart. „Ansonsten ist das freilich …“ „Diese Dame?“ „Dame?“ Frau Marková hob die Augenbrauen. „Falls Ihnen, Herr Doktor, diese Frau hier als Dame erscheint, dann versichere ich Ihnen, daß Sie sich zutiefst irren.“ 75
Er schüttelte den Kopf, solcherart seine Verwunderung über die verdorbene Welt ausdrückend. „Der Junge“, sagte sie plötzlich mit einem Seufzer, „würde einen Vater brauchen …“ Und Kroupa begann die Komplikationen des Lebens dieser Frau zu begreifen.
25 Der Betrieb verhätschelte seine Architekten nicht. Wie Krule und das Fräulein Libšerová hatte auch Milan Veber einen angeschlagenen Anbauschrank mit vier Schubladen, ein Reißbrett und einen Stuhl. Außerdem einen Papierkorb. In dem Korb steckten einige saubere Pauspapierbogen. Aus dem Inhalt des Schränkchens machte sein Besitzer kein Geheimnis, übrigens ließen sich die Schubladen gar nicht verschließen. In gelinder Unordnung lagen und standen dort Papiere, Bleistifte, Tuschefläschchen und Wasserfarben. Die einzige Besonderheit war ein grüner Taschenkalender, auf den freien Blättern hinten ein unsystematisches, kleingeschriebenes Verzeichnis von Telefonnummern und im Diarium im vorderen Teil bei einigen Daten eine Adresse, zumeist mit Telefonnummer. „Offenbar Kunden“, bemerkte Exner. „Bestimmt Kunden“, bestätigte Krule. Die braungebrannte Eliška nickte mit den Wimpern. Exner steckte das Notizbuch in die Tasche. „Ich sollte diese Schubladen“, überlegte er dann laut, „wenigstens provisorisch versiegeln. Kann ich einen Klebestreifen haben?“ „Ich frage im Büro“, sagte Krule und trabte ab zu dem Schreibtisch mit der telefonierenden Dame. Exner zauberte für Eliška Libšerová sein unwiderstehliches, bescheidenes Lächeln aufs Gesicht. Dann schaute er ins Unbestimmte und sagte halblaut: „Deminka ist ein 76
stilles Café, es liegt nur ein paar Schritte von hier. Was, wenn wir uns dort in einer halben Stunde zum Mittagessen treffen?“ Er schaute gespannt, was darauf die grauen Augen in dem braunen Gesicht sagen würden. Obwohl stahlgrau, kühlten sie nicht. „Also gut“, sagte er und rieb sich zufrieden die Hände, „in einer halben Stunde.“ Krule eilte mit dem Klebestreifen herbei. Exner pappte in aller Form die Schubladen zu und kritzelte da und dort etwas drauf, was eine Unterschrift darstellen sollte. Der Architekt besah sich das mit Mißfallen. „Entschuldigen Sie“, nuschelte er schließlich, „das kommt mir nicht gerade wie ein amtliches Siegel vor.“ Er hüstelte und klapperte mit dem Pfeifenrohr an die Zähne. „Ich habe mir Ihren Ausweis gar nicht richtig angesehen.“ „Hier ist er“, sagte Exner und zeigte ihm bereitwillig seinen Dienstausweis. „Und das ist kein amtliches Siegel. Ich schicke einen Kollegen her, der wird alles gründlich durchsuchen. Das hier ist nur eine private, provisorische Sicherung.“ Er lächelte Krule zu, der inzwischen den Dienstausweis auswendig gelernt hatte. „Ich habe gehört, Sie wohnen in der Altstadt … Wirklich? Was, wenn ich abends mal bei Ihnen vorbeikomme? Hier haben wir nicht genug Ruhe und keine Konzentration.“ Er stellte fest, daß die Wimpern neben ihm fast verschwörerisch nickten.
26 Der Tiger brüllte auf, haschte mit der Tatze nach dem Herrn Kubíček und sprang. Auf den letzten silbernen Hocker. Als letzter Stein der Raubtierpyramide. 77
Es erklangen weder Tusch noch Beifall. Zwischen den kahlen Wänden der Rotunde in dem engen Raum zwischen dem Gitter und der Wand saß ein einziger Zuschauer – Leutnant Beránek, und ihm schien es nicht angebracht, Ovationen darzubringen. Herr Kubíček knallte mit der Peitsche, und die Raubtiere verschwanden nacheinander in dem Käfigtunnel. In dem weiträumigen Winterquartier des Zirkus hatte Beránek nur einen einzigen kompetenten Informator gefunden, und das sollte der Herr Kubíček sein. Er war früher von der Tournee zurückgekehrt, um eine Gruppe von Löwen und Tigern für die Wintertournee vorzubereiten. Ansonsten war alles leer, bis auf einige Pferde und ein krankes Kamel. Herr Kubíček trat aus dem Käfig, und Beránek lugte durch das offene Gittertürchen, ob nicht eines der Tiere zurückkehrte. Er stellte sich vor. „Von der Direktion wurde mir gesagt, daß Sie der einzige seien, der jetzt hier ist und mir eine Information geben kann.“ Der Dompteur nickte. Viele Worte machte er, so schien es, nicht. „Haben Sie ein Narkotisierungsgewehr?“ „Wo sollten wir so was hernehmen, Herr. Genosse! Das ist bei uns nicht in Gebrauch.“ „Und Patronen dafür?“ „Auch nicht.“ „Wie sieht so eine Patrone aus?“ „Wenn ich das wüßte!“ „Und Ihre Veterinäre?“ Herr Kubíček schüttelte den Kopf. Und machte eine verneinende Handbewegung.
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27 Deminka ist ein Café, das auf seine Art gemütlich vergammelt ist. Exner fand einen freien Platz am Fenster, ließ das Tischtuch wechseln und für zwei decken. Und auf den Tisch gestützt, den Finger an der Nase, so schaute er zu, wie in der leicht abfallenden Straße draußen die im Kreisverkehr fahrenden Autos vor der Ampel anhielten und bei Grün Qualmwolken ausspuckten. Ein trostloser Anblick. Er nahm das grüne Notizbuch von Milan Veber aus der Tasche, das er vor einer Weile entwendet hatte, und blätterte darin. Sicherlich hätte diese Tätigkeit der Seele Leutnant Beráneks viel Freude bereitet. Exner erkannte nur, daß Vebers Verbindungen nicht umfangreich waren. Kunden reichlich, aber niemals (oder fast niemals) wiederholte sich ein Name. Bei einem Datum, das etwa sechs Wochen zurücklag, stand jedoch eine ungewöhnlich interessante Notiz. Eine kurze und im Hinblick auf Vebers Beruf eigenartige Notiz. Das waren die drei Buchstaben: ZOO. Nichts weiter. Zwei Felder, darüber eine Adresse, auf der nächsten Seite eine andere, die eine in Všovice, die andere in Krč. ZOO. Nichts weiter. Er blätterte ein paar Seiten zurück. Nichts. Und weiter, bis zum heutigen Datum. Nichts. Nur einmal das Wörtchen ZOO … Exner kratzte sich am Ohr und dachte, daß das Notizbuch für Beránek gewiß sehr unterhaltsam sein würde. ZOO … „Der Herr Detektiv sind in Gedanken?“ Die am Meeresstrand gebräunte Haut von Eliška Libšerová schimmerte südlich dunkel unter dem weißen Hosenanzug. Das, was nur als Rundungen sichtbar war, und das, was Eliška der Bewunderung der Welt preisgab: Arme, Gesicht, Haare, die nackten Füße in weißen Sandalen, genügte, damit Exner zufrieden blinzelte. „Mein Gott“, sagte er selig, „sind Sie nicht Ihre Schwester?“ 79
Ihr tat es ungeheuer wohl, wie sie wirkte. Und dann machte sie es sich auf dem Platz bequem, wo für sie gedeckt war. Zufrieden seufzte sie und legte die langen Finger mit den roten Nägeln artig vor sich. Die langen Wimpern starrten jetzt noch kämpferischer. „Das macht man jetzt so, daß man zu einem Verhör zum Mittagessen einlädt?“ „Gelegentlich“, erklärte Michal Exner wie selbstverständlich. „Die von den Leitern der Gaststätte benötigten Quittungen werden Ende des Monats abgerechnet, in besonders dringenden und aufwendigen Fällen fortlaufend.“ „Prima“, sagte Eliška. „Was bestellen wir uns? Was ich will?“ „Da würden wir schlimm draufzahlen“, entgegnete Exner trübsinnig. „An einem Steak können Sie beim besten Willen nichts verderben.“ Er bestellte, beugte sich sehr vertraulich zu ihr über den Tisch und legte wie unbeabsichtigt seine Hände dicht an die ihren. „War dieser Veber genauso in Sie verliebt, wie es Krule ist?“ fragte er unverfroren. „Sie haben aber einen scharfen Blick.“ „Das Auge des Falken, die Kralle des Adlers, die List des Pumas und die Kraft des Elefanten.“ „Qualifiziert für die Menagerie“, sagte sie trocken. „Oder für …“ Er fiel ihr ins Wort: „Für den Zoo …“ „Mag sein. Veber war nicht in mich verliebt, Herr Kapitän.“ „Vielleicht heimlich, wie der Herr Krule. Ich bin mir fast sicher, daß der Herr Krule heimlich in Sie verliebt ist. Oder vielleicht nicht?“ „Vielleicht denkt er das.“ „Alter Junggeselle?“ „Junggeselle ja, aber alt … das würde er nicht gern hören.“ 80
„Er wohnt in der Altstadt, anständige Wohnung, offenbar einen Wagen, eine gute Partie.“ „Ich dachte, Sie wollten mit mir über Veber sprechen.“ „Er wurde ermordet“, sagte Michal Exner. „Und das ist eine traurige Sache. Sie hat das nicht berührt?“ „Wie eine Naturkatastrophe. Die hat auch kein Motiv. Ich bin seit einem Jahr im Betrieb, und wir haben kaum ein paar Worte gewechselt. Mit Krule hat er sich unterhalten. Schulfreunde. Mit mir nicht. Entweder war ich ihm das nicht wert, oder …“ „Oder er hat Sie wirklich heimlich geliebt.“ „Lassen wir das“, sagte sie, „das führt nirgends hin.“ „Haben Sie seine Frau gekannt?“ „Nein, ich habe sie noch nie gesehen. Aus den Gesprächen schloß ich, daß sie irgendwo Lehrerin ist.“ Das Essen wurde serviert, und Exner meditierte weiter. „Das ist ein bißchen seltsam – ein Jahr arbeiten Sie mit ihm, und Sie wissen nichts von ihm, meinen Sie nicht auch?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich hatte wirklich keine Sehnsucht, ihn näher kennenzulernen.“ „Hm“, meinte Michal Exner. „Das Fleisch ist angebrannt, kommt es Ihnen nicht auch so vor? Nein? Haben Sie etwas für den Zoo gemacht?“ „Für den Zoo?“ „Irgendein Interieur. Oder für jemanden privat, der dort wohnt. Offenbar wohnt dort jemand.“ „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Und sie hob die Wimpern und deckte die Augen auf. „Mein Gott, warum gerade im Zoo?“ „Ging Veber oft in den Zoo?“ „Das weiß ich doch nicht“, sagte sie verwundert. „Sie haben zu Tieren eine gewisse Beziehung, nicht?“ „Manchmal“, gab er zu. „Sie gehen nicht in den Zoo?“ „Was sollte ich dort, um Himmels willen?“ 81
„Schauen.“ „Auf die Tiere?“ „Zum Beispiel auf die Tiere.“ „Ich bin einmal dort gewesen, da war ich zehn. Da kam ich mit meinem Vater nach Prag …“ „Sie sind nicht aus Prag?“ „Nein, ich bin ein armes Mädchen, das sich hochgearbeitet hat. Aus einer kleinen Stadt …“ „Aus welcher?“ „Aus Oborná.“ „Dort ist es hübsch. Wo wohnen Sie? Hier in Prag meine ich.“ „Ich habe ein Zimmer in einem Frauenwohnheim gefunden.“ „In der Vinohradská?“ „Sie haben aber einen Überblick!“ Michal Exner dachte eine Weile nach. Und dann fragte er: „Müssen Sie nachmittags wieder in Ihr … Atelier?“ „Wie man’s nimmt. Nehmen wir an, es geht dort nicht so heiß zu, daß ich unbedingt dort sein müßte …“ „Was würden Sie zu einem kleinen Ausflug sagen? Mein Auto steht um die Ecke.“ „Und wohin, wenn ich fragen darf?“ „In den Zoo“, sprach Exner mit lieblichem Lächeln. Sie verschluckte sich und erblaßte sichtlich.
28 Sie benutzten wie gewöhnlich einen Nachschlüssel und drangen in Exners Junggesellenbude ein. Sie war leer. Sie kochten sich einen Kaffee, fanden in der Speisekammer vergessene Kekse ohne Geschmack und fläzten sich in die Sessel. Oberleutnant Vlček zog seine Pfeife hervor und be82
mühte sich, die ganze Wohnung zu verstänkern. „Was war mit dem Regenmantel?“ fragte er. „Um mich exakt auszudrücken“, sagte Arnošt Buble und putzte sorgfältig die goldgerahmte Brille, „so hat ihn dieser Herr als Laken verwendet. Irgendwo im Gras, das nicht sehr dicht war.“ „Nur für sich?“ „Nein. Die Dame hatte eine schöne tizianfarbene Haartönung.“ „Und es steht außer Zweifel, daß das ein Lotterlager war?“ „Gewiß“, erklärte Buble, setzte sich die Brille auf und rückte sie sorgfältig gerade. „Das ist erwiesen. Wollen wir hier auf Michal warten?“ „Warum nicht? Wenn wir den Kaffee getrunken haben, können wir ein bißchen schlummern.“ „Und wenn …“ „Wenn er nicht allein kommt? Das kann passieren“, sagte Vlček giftig, „bevor du noch zweimal zwinkerst. Wenigstens werden wir eine schöne Überraschung erleben.“
29 „Wohin also?“ fragte der Fahrer des Dienstwagens Leutnant Beránek, als sie auf die Hauptstraße Richtung Prag einbogen. „Irgendwohin auf ein Bier, das wäre das beste“, meinte Beránek. „Ich weiß nicht, ob sie im Zoo Bier ausschenken.“ „Wo?“ „Im Zoo.“ „Das ist doch Blödsinn, diese Entfernung! Was sucht ihr eigentlich, wenn du so den Viechern hinterher bist?“ 83
„Ein Narkotisierungsgewehr.“ „Das ist doch Quatsch, nicht?“ „Meine ich ja auch“, stimmte Beránek zu. „Aber das ist ja gerade das Rätsel.“ Der Fahrer nickte und fuhr über Vysočany, Libeň und über die Moldau zum Zoo. Sie kurvten lange auf dem Parkplatz herum, um einen Platz im Schatten unter den Bäumen zu finden. Das gelang ihnen nicht. Und als sie Anker warfen und aus dem Auto krabbelten, ganz verschwitzt und voller Sehnsucht nach dem bitteren Schaum, da kam auf dem Weg zwischen dem Zoo und dem ehemaligen Gut ein schwarzer polierter Wagen gefahren, ein Kabriolett, und die üppigen Haare der Blondine neben dem Fahrer flatterten im Winde. „Gott im Himmel!“ stöhnte Beránek. „Dieses Prag ist aber klein! Guck mal! Er hat uns nicht gesehen. Komm! Wir setzen uns zum Eingang. Da können wir ihn nicht verpassen.“ Sie legten einen Schritt zu, und gleich im ersten Restaurant vor dem zoologischen Garten blieben sie. Sie fanden sogar einen Platz an der Brüstung, um die Übersicht zu haben, wer erst kam und wen das Anschauen der Tiere bereits verdroß. Erfreut beobachteten sie, wie Kapitän Exner mit der braungebrannten Blondine im blendendweißen Hosenanzug dahinschritt, wie er mit ihr ein Gespräch führte und seine eleganten Gesten zur Geltung brachte. Sie brauchten sich weder zu ducken noch zu verstecken, denn Michal Exner war so beschäftigt, daß er offenbar selbst einen geigespielenden Gorilla unbeachtet passiert hätte.
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30 „Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagte Eliška Libšerová. Er zuckte die Achseln. Sie blieben stehen, weil sie dazu der ungewöhnliche Blick auf die Hänge zum Fluß hinunter zwang, auf das Tal der Moldau, die sich hier wieder zwischen steile Hänge einschnitt. Dann besuchten sie den Elefanten und das Nilpferd, erfreuten sich mit leichtem Grausen an der Löwentatze, die aus dem Gitter ragte, und spazierten auf Exners Vorschlag auf dem Aussichtsweg weiter, ungeachtet des schriftlichen Hinweises, daß sie auf diesem Wege kein Tier finden würden. Und dennoch waren welche hier: sie scheuchten ein Wildkaninchen auf und entdeckten unter einem Strauch einen Maulwurf, der dort im Laub scharrte. „Und dennoch versteh’ ich immer noch nicht, warum wir gerade hierher gefahren sind.“ „Hier ist es schön“, erklärte Exner. „Sehr schön. Bequem. Hie und da ein bißchen Gestank, aber das läßt sich aushalten. Restaurants und Erfrischungskioske. Gesellschaft und einsame Plätze. Rege Bautätigkeit“, und er zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Stelle, wo das Elefantenhaus gebaut wurde, „und die Schönheiten der Natur“, und er machte seine Begleiterin mit einer großen Geste auf die nächste Umgebung aufmerksam. „Die Bequemlichkeit der Bänke und des weichen Grases.“ „Ja“, stimmte sie zu und hob andächtig die Augen. „Und ein lindes Lüftchen bei der Hitze und das Flüstern der Blätter. Aber falls ich mich nicht irre, Herr Kapitän, geruhen Sie den Mord an meinem Kollegen aufzuklären. Falls Sie wirklich Kapitän sind …“ „Zweifellos.“ „Und Sie klären einen Mord auf?“ „Haben Sie einen anderen Eindruck?“ 85
Sie überging die Frage und sagte: „Und es handelt sich wirklich um einen Mord?“ „Leider.“ „Dann haben Sie aber eine sehr eigenartige Arbeitsweise.“ „Sie sind nicht der erste, der das denkt. Das ist Schicksal, Eliška“, erklärte er leichthin. „Und da wir schon einmal bei dem Thema sind: Ist es wirklich so unglaubhaft, daß Ihr Kollege ermordet wurde?“ „Ja“, sagte sie kurz. „Darf ich fragen, warum?“ Und er dachte: Wenn Sie erst wüßten, wie er umgebracht worden ist! „Wie ich schon einmal sagte: die Ursache – das Motiv. Dieser, mein Kollege, Herr Kapitän, hat nur für sein Auto gelebt, für seine Frau, für ein paar Kronen extra, fürs Schach mit Krule. Er ging dann und wann zum Schachspielen hin.“ „Vielleicht gerade wegen der paar Kronen extra.“ „Wieviel Kronen waren das, was meinen Sie?“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Sagen wir … zweitausend.“ „Das sind bei Ihnen ein paar Kronen extra?“ fragte er unverfroren. „Ich verdiene weniger. Erstens: Er war eingeführt und bekannt, zweitens vertrauen die Leute lieber einem Architekten als einer Architektin, wie ich im Verlaufe meines bisherigen Lebens erkennen mußte.“ „Das ist nicht so wenig …“, überlegte er laut. „Zweitausend …“ „Haben sie ihm was gestohlen?“ „Es waren mehrere?“ „Das müssen Sie doch wissen“, sagte sie ruhig. „Wenn sich einer zu einem Raubmord aufmacht …“ „Wie es aussieht, hat ihm niemand etwas gestohlen, gar nichts.“ Sie dachte nach. „Das ist eigentlich schlimmer, nicht?“ 86
„Ist es.“ Eine Weile schwieg sie, und es schien, daß sie der ungleiche Wettlauf eines Flußschleppers mit dem Eisenbahnzug interessierte. „Und was ist ihm eigentlich passiert?“ fragte sie leise. „Er wurde ermordet.“ „Aber so hab’ ich es nicht gemeint …“ „Ich weiß es nicht.“ Überrascht schaute sie ihn an. „Was?“ „Besser gesagt, ich weiß es nicht genau.“ „Scheint es Ihnen nicht auch, Herr Kapitän, daß Sie ziemlich vage sprechen?“ „Ja“, erklärte er zufrieden. Er hängte sich bei ihr ein (und sie wehrte sich nicht dagegen). „Wir schauen uns noch was an“, sagte er fast geheimnisvoll. „Was denn?“ „Die Bisons.“
31 Sie bog in den Weg ein, der zu den Hirschgehegen führte. Adolf Kroupa kam zu dem Schluß, daß er über Frau Marková bereits genug erfahren hatte. Von der heutigen Fußtour hatte er die Nase voll, und für die Zukunft gedachte er nicht, jemandem den Vater zu ersetzen. Selbstkritisch sah er ein, daß er auch nicht gerade der beste Erzieher wäre. Selbst wenn die Dame eine Villa hätte und darunter eine kleine Goldgrube. „Gnädigste“, sprach er würdevoll, „ich möchte Sie nicht weiter belästigen. Erlauben Sie mir bitte, mich zu verabschieden. Es war mir eine Ehre und …“ „Herr Doktor!“ Frau Marková packte ihn fest an der 87
Hand. „Ich bin in eine sehr komplizierte Situation geraten … So kompliziert, daß sie eher ein Mann lösen müßte …“ „Wirklich?“ „Sie begreifen sicher, worum es geht.“ „Gnädigste, das begreife ich nicht.“ „Ich hatte geglaubt, daß Sie …“ Sie stockte. „Ihr Gespräch mit Ihrem Sohn gehört haben? Nein!“ verwahrte er sich energisch. „Das nicht, bitte. Ich habe nur unklar etwas mitgehört … Aber ich weiß wirklich nicht, worum es geht.“ „Ja …“, sagte sie unsicher. „Es war nur so ein törichter Einfall einer ratlosen Frau …“ Vielleicht wollte sie, daß er neugierig wurde und sie um eine Erklärung bat. Aber weil sich Kroupa zu keiner Frage anschickte, fuhr sie fort: „Sie müssen verzeihen, Herr Doktor … Ich bin gerade heute ein bißchen erregt … Ich danke Ihnen daß Sie mich begleitet haben … Mich erwartet eine sehr unangenehme Aufgabe …“ Sie verstummte, um Kroupa abermals zu einer Frage zu bewegen. Aber er ließ sich nicht dazu bewegen. Er hatte Hunger und hätte sich zum Mittagessen einladen lassen. Mehr nicht. Sie seufzte auf. „Ich muß sie jetzt allein erfüllen. Wie immer …“ Er raffte sich auf, um sich eine mögliche hoffnungsvolle Zukunft nicht zu versperren. „Vielleicht werde ich, Madame, ein andermal Gelegenheit haben, Ihnen die hilfreiche Hand zu reichen. Übrigens, ich komme sehr oft hierher. Fast täglich. Dieser Garten ist der schönste Park der Stadt.“ „Kann sein. Nach außen hin, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Ich bin sehr oft bei meinem Sohn … dort …“ Schweigend verbeugte er sich und schritt gemessenen Schrittes von dannen. Sie schaute sich noch einige Male nach ihm um, aber Adolf Kroupa biß die Zähne zusammen. Er mußte sich 88
dringend ausruhen, um abends wieder in Kondition zu sein. Frau Marková richtete sich mit einer mechanischen Handbewegung die Haare. Schade, dachte sie, daß ich diesem Mann nicht früher begegnet bin. Es war taktlos von mir, um seine Hilfe zu bitten. Übrigens, mit der Faltysová wird sie sich allein Rat wissen.
32 Der rote Fiat hielt vor einem Mietshaus in Holešovice, und aus dem Wagen kollerte ein Glatzkopf. Er wischte sich angestrengt mit dem Taschenbuch den verschwitzten Schädel, sich auf alle mögliche Art den Nabel drückend, den ein flatterndes Sommerhemd umspannte, holte aus dem Wagen einen Koffer, der von dem ausländischen Produzenten als Aktentasche gemeint war. Er eilte ins Haus und stellte fest, daß der Aufzug wieder einmal nicht fuhr. Betrübnis erfaßte ihn, obwohl der Aufzug schon wer weiß wie lange nicht fuhr. Widerwillig begann er die Treppe hochzusteigen. Anfangs bemühte er sich um jugendliche Frische, aber bald verging ihm das. Im sechsten Stock schleppte er sich nur noch keuchend dahin. Er klingelte an der Tür, wo das handgemalte und elegant verzierte Namensschild prangte: MIROSLAV VÁCLAVÍK Grafiker Ihm öffnete Anna, die Schwester von Jana Vebrová. Und wie das zuweilen so ist, waren sich die Schwestern überhaupt nicht ähnlich. Anna Václavíková maß gut ein Meter 89
achtzig und überragte damit um Haupteslänge ihren Mann, der, obwohl er sich bemühte, den Gleichgültigen zu spielen, in die Wohnung nicht eintrat, sondern taumelte. „Schrecklich, daß der Aufzug nicht fährt, nicht?“ „Macht nichts“, prahlte er und hustete sich aus, „wenigstens werden wir nicht dick. – Martin?“ „In der Schule. Du mußt dir endlich merken, daß heute …“ „Ich weiß. Die Schule. Hab’ ein bißchen die Tage verwechselt.“ Er biß die Zähne zusammen, um beim Schuheausziehen nicht zu ächzen. „Was gibt’s zu Mittag?“ „Buchteln.“ „Prima.“ „Jana hat angerufen …“, sagte Anna Václavíková unsicher. „Prima. Er war auf der Auffangstation, ja?“ sagte er lachend. „Oder bei einem Frauenzimmer. Endlich! He, he!“ Er rieb sich die Hände, daß die Gelenke knackten. Seine Frau bekam eine rote Nase. Und rote Augen. „Mirek … Milan ist …“ „Gott, was denn?“ Er zwinkerte überrascht. „Ist was passiert mit ihm?“ „Er wurde … Es ist furchtbar, Mirek …“ Zögernd stand er auf, offenbar beunruhigt, daß die Buchteln mit Vanillesauce Verspätung haben würden. „Mädel, so wein doch nicht … Na sag schon!“ „Er wurde … ermordet …“ „Ach was!“ „Die Kriminalpolizei … untersucht es schon …“ „Du willst sagen, daß ihn ein Auto überfahren hat, nicht? Oder die Straßenbahn, nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist wirklich …“ „Milan? Unsinn! Ein Irrtum? Warum? Warum gerade er?“ Er faltete die Hände. „Hatte er viel Geld bei sich? Oder ein Zigeuner in der Kneipe?“ 90
„Im Park … In der Nähe der Wohnung … Gestern abend … etwa um zehn Uhr …“ „Und wie wurde er …“ „Das wollte die Kriminalpolizei Jana nicht sagen.“ Miroslav Václavík schneuzte sich. „Da steckt was anderes dahinter. Das ist sehr komisch. Sie wollten es nicht sagen … Na, ich hab’ Bekannte dort … Weine nicht. Ich frage nach. Ich weiß, ihm hilft das auch nicht mehr. Hm … Ich hab’ immer gedacht, daß er so ein kleiner Heimlichtuer ist. Hm …“ „Was meinst du damit, Mirek?“ Er zuckte die Achseln. „Daß jemand geirrt haben und statt sein Opfer Milan getroffen haben könnte, das ist doch sehr unwahrscheinlich, nicht?“ „Mirek?“ „Seien wir real und stehen wir mit beiden Füßen auf festem Boden. Du stimmst mir zu, daß das höchst unwahrscheinlich ist. Jemanden nur so umbringen. Wegen nichts und wieder nichts. Zufällig. Unwillkürlich. ‚Verzeihen Sie, daß ich Sie gepiekt habe, mein Herr.‘ Kaum zu glauben, aber mir scheint nicht, daß das ein Irrtum gewesen sein könnte.“ „Und was dann?“ Verzweifelt griff sie sich an die Schläfen. „Mir tut ja so der Kopf weh von diesem Grauenhaften … Milan … Immer war er ein netter Mensch und aufmerksamer Gatte …“ „Aufmerksamer als ich“, sagte er, als spräche er davon, daß das Kaffeewasser koche. „Das ewige Thema unserer Ehe. Ja, das war er. Nur hat sich unser lieber Schwager, wie ich vermute, offenbar in etwas verwickelt. So.“ Sie schlug die Hand vor den Mund. „Anders ist das nicht zu erklären“, versicherte Miroslav Václavík trocken seiner Gattin.
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33 „He!“ Der Fahrer Bohouš Vok tippte Beránek an. „Er kommt schon …“ Vom Bärenzwinger ging Michal Exner auf den Haupteingang zu, machte Faxen, und Eliška Libšerová hielt sie offenbar nicht für ein bloßes Herumgehampel. Beránek zwinkerte Bohouš zu und stemmte sich vom Tisch hoch. Exner strebte nicht zum Tor, sondern nach rechts, zu den Schildkröten. Er ging nicht allzuweit mit dem blonden Mädchen, nur ein paar Schritte, augenscheinlich überredete er sie dazu, sich mit ihm auf eine Bank zu setzen. Beránek bemühte sich, wie ein Mensch auszusehen, der sehr sorgfältig die Orientierungstafel studiert. Das Mädchen wurde offenbar durch Exners glatte Worte überzeugt, daß ein Weilchen im Schatten ihr frommen würde, denn der Kapitän trennte sich von ihr und trat an die Tafel heran. Beránek wich einen Schritt zurück und ließ ihn vorbei. Dann pfiff er leise die Melodie eines bekannten Schlagers, die etwa zu den Worten gesungen wird: Siebzehn Jahr, blondes Haar … Michal Exner erstarrte, überstand es aber. Er schwebte weiter, verlangsamte nur ein bißchen den Schritt. Als sie hinter der Ecke außer Sichtweite der Bank waren, blieb Exner stehen. Beránek trat zu ihm und sagte: „Da kann man leicht eine Lustreise machen, wenn andere bis zum Umfallen Verbrecher verfolgen.“ „Und dabei“, sprach Exner ins Leere, „ein Bier nach dem andern süffeln.“ „Du hast uns gesehen?“ wunderte sich Beránek. „Und Bohouš ist auch da?“ „Auch. Wir haben gesehen, wie konzentriert du der Spur des Verbrechens folgst, so haben wir uns gesagt, wir machen mal Pause. Sie ist hübsch.“ 92
„Die Pause?“ „Nein, die braungebrannte Odaliske“, dichtete Beránek. „Mein Gott, mein Kapitän, wo findest du im Verlauf des Arbeitstages solche Naturschönheiten?“ „Im Atelier des Herrn Veber.“ „Aber …“ Jetzt standen sie nicht mehr hintereinander, sondern betrachteten aufmerksam die Bilder der Tiere und lasen die Aufschrift, wonach das Fotografieren im Zoo nur mit Sondergenehmigung erlaubt war … „Und ich habe auch das Notizbuch.“ „Von Veber?“ „Gewiß.“ Exner langte in die Tasche und reichte es seinem Leutnant. „Ich habe dort eine Notiz gelesen: ZOO.“ „Was für eine Notiz?“ „Dort steht einfach: ZOO.“ „Wann hat er das geschrieben?“ „Bei einem Datum vor sechs Wochen.“ „Das ist alles?“ „In dieser Eile …“, verteidigte sich Exner. „Diese Eile kann ich mir vorstellen“, sagte Beránek, nahm das Notizbuch an sich und nickte ernst. „Wann fassen wir alles zusammen?“ „Abends bei mir.“ „In den Zirkussen ist nichts. Und wenn was ist, dann verheimlichen sie es.“ „Und hier?“ Exner zeigte auf die Tür zu seiner Linken, die in das Büro des Zoodirektors führte. „Ich habe schon einmal gesagt, daß wir dich nicht stören wollten … wo du doch so angestrengt den Spuren folgst …“ Er nickte in Richtung der Schildkröten. „Sie wird sich langweilen, die Ärmste.“ „Hier gibt es so viele interessante Tiere. Ihr könnt fahren.“ „Zu Befehl, mein Kapitän.“ 93
Leutnant Beránek blieb noch eine Weile stehen, nur so, und dann schritt er aus in Richtung zu den Schildkröten. Er schlenderte an der Bank vorbei und musterte verstohlen Eliška Libšerová. Zweimal ging er an ihr vorbei, dadurch beunruhigt, daß seine Erscheinung sie nicht fesselte. Endlich trat er an sie heran. „Verzeihen Sie“, sagte er, so galant er nur konnte, und versuchte sogar, sich leicht zu verbeugen, „warten Sie zufällig auf Kapitän Exner?“ Sie schaute zu ihm auf, als gehörte er ins Terrarium. „Darf ich das nicht?“ „Aber gewiß doch. Pardon. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Leutnant Beránek von der Kripo.“ Sie nickte. Es interessierte sie überhaupt nicht. „Hier ist mein Dienstausweis, bitte.“ Mit leicht gehobenen Brauen studierte sie ihn. Und kniff die Augen zusammen, wodurch sie Beránek die Wimpern entgegenstreckte wie einen Lanzenfächer einer Rotte abgesessener Kosaken. „Kapitän Exner“, plapperte Beránek drauflos, „hat mir den Befehl gegeben, ihn bei Ihnen zu entschuldigen. Er hat soeben unerwartete dienstliche Aufgaben erhalten. So daß er sich Ihnen leider nicht weiter widmen kann. Ich soll Sie mit dem Dienstwagen in Ihre Wohnung fahren.“ Begeistert war sie nicht. Sie stand auf und zuckte die Achseln. „Bitte“, sagte sie und schritt zum Ausgang. Beránek machte eine Bewegung, als wollte er ihr den Arm anbieten, ließ es aber bleiben. Sie stolzierte einen halben Schritt vor ihm mit wiegenden Hüften, und Bohouš Vok, der sein kleines Bier austrank, verschluckte sich, als er sie sah. Er stellte das Glas hin und schlug die Hände zusammen. Sie beachtete ihn nicht. „Wo haben Sie den Wagen?“ fragte sie Beránek schroff. „Unten auf dem Parkplatz, bitte.“ Beránek zeigte mit 94
der einen Hand hinunter, und mit der anderen deutete er Vok an, daß sie losfahren wollten. Bohouš Vok blickte traurig in sein Glas.
34 „Kriminalpolizei?“ Die Sekretärin des Zoodirektors lächelte Michal Exner fast erfreut zu. „Sie kommen wegen der Diebstähle, ja? Ich melde Sie gleich an, aber mehr wissen wird der Herr …“ „Diebstähle?“ wunderte sich Exner. „Hier ist etwas gestohlen worden?“ „Verzeihen Sie, daß … Ich dachte, Sie …“ „Und was ist gestohlen worden?“ „Hat man Ihnen nicht gesagt, worum es geht?“ „Nein“, sagte Michal Exner einfältig. „Mir hat man nichts gesagt.“ „Heute vormittag ist zwei Besuchern unverhofft das ganze Geld abhanden gekommen. Offenbar ein Taschendieb. Denn so ein Zusammentreffen von Zufällen hatten wir hier noch nie …“ „Aus den Hosentaschen oder aus Handtaschen?“ „Beides.“ Exner nickte ernst. „Und ein Narkotisierungsgewehr ist Ihnen nicht abhanden gekommen?“ Sie lachte. „Bestimmt nicht. Da müßten wir erst eines haben, Herr … Herr …“ „Exner. E wie Eva.“ „Danke. Ich melde Sie an.“ Und sie verschwand hinter der Tür, an der ein Zettel war: DIREKTOR und darunter ein weiterer, auf dem ein rotes Dreieck mit 95
dem Text war: VOM AUSSTERBEN BEDROHTE GATTUNG Die einzige in diesem Zoo vom Aussterben bedrohte Gattung, Direktor Dr. Zbyněk Velenínský, sah in den Kniebundhosen, dem karierten Hemd, den dicken Kniestrümpfen und den plumpen Tretern aus wie ein jugendlich wirkender Bergführer. Vor einigen Augenblicken war er allem Anschein nach vom Einfangen von Gemsen zurückgekehrt. „Was diese Diebstähle betrifft“, sagte er, offensichtlich den Kopf voll anderer Sorgen, „so bin ich nicht informiert, ich rufe mal den Herrn …“ „Sie meinen die heute vormittag …“ „Ja, es besteht der Verdacht, daß wir hier Taschendiebe haben, aber daß sie plötzlich so ausschwärmen …“ Er nahm den Telefonhörer ab. „Und ein Narkotisierungsgewehr ist Ihnen nicht abhanden gekommen?“ Doktor Velenínský sank die Hand. „Ein Narkotisierungsgewehr?“ „Ja, man kann doch mit einem Narkotisierungsgewehr auch einen Menschen treffen und töten.“ „Gewiß“, antwortete der Direktor unsicher, und seine Hand tastete wieder zum Telefon. Letztlich kommen ja auch in zoologische Gärten Narren und manisch Besessene. „Ich bin mir nicht ganz sicher …“ „Wessen? Ob Ihr Narkotisierungsgewehr an seinem Platz ist?“ „Aber nein … Wir haben überhaupt keins …“ „Erlauben Sie mir, mich zu setzen?“ fragte Michal Exner dreist, weil er sich nur ungern im Stehen unterhielt. „Natürlich. Ohne weiteres“, sagte der Direktor mit einer gewissen Erleichterung. Ein sitzender Narr ist eben doch ein bißchen weniger gefährlich als ein stehender. 96
Übrigens sah er bis jetzt nicht aggressiv aus. Und er war gut gekleidet. Aber warum könnte nicht auch ein geschniegelter und gebügelter Narr durch die Stadt bummeln? Exner setzte sich, und unwillkürlich fiel sein Blick zum Fenster hinaus. Er blickte direkt auf den Weg bei den Schildkröten, wo er den herumkaspernden Beránek gewahrte. „Sakra“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Dieser Schuft.“ „Natürlich“, sagte Zbyněk Velenínský entgegenkommend. „Ich bitte Sie, sich kurz zu fassen. Ich bin soeben aus der Tatra zurückgekehrt. Von einer internationalen Zoologenkonferenz, und ich war noch gar nicht zu Hause, obwohl ich nur ein Stockwerk höher wohne, so daß …“ „Ich werde mich kurz fassen“, versprach Michal Exner. Er warf ein Bein übers andere, lächelte und sah überhaupt nicht aus, als meinte er das ernst. „Sie glauben offenbar“, sagte er, „daß ich meschugge bin.“ „Ja“, antwortete der Direktor. „Die Situation ist folgende, Herr Doktor. Diebstähle bearbeite ich nicht. Ich bin eher gekommen, um Sie zu konsultieren. Eine fachliche Beratung, würde ich sagen.“ „Bitte sehr“, stimmte Zbyněk Velenínský widerwillig zu. „Gestern abend wurde in einem Prager Krankenhaus ein Mann eingeliefert, der kurz darauf starb. Die Todesursache war sonderbar. Für unsere Verhältnisse. Ich habe noch nicht die genaue Expertise zur Verfügung, aber aus den bisherigen Obduktionsergebnissen geht hervor, daß der Betroffene – ich weiß nicht genau, was für einen Terminus ich verwenden soll, vielleicht: daß er durch ein Mittel oder eine Chemikalie vergiftet wurde, die eine Lähmung der Muskeln bewirkt. Er starb praktisch durch Ersticken. Auf seinem linken Gesäß wurde eine kleine Wunde gefunden, die dem Einstich einer Injektionsnadel ähnelt. Was sagen Sie dazu?“ 97
„Das ist phantastisch, aber im Prinzip möglich. Nur, wer hat bei uns …“ „… ein solches Narkotisierungsmittel. Wennschon nicht ein Gewehr.“ „Ja, das ist bestimmt die Frage … Ein Gewehr haben wir freilich nicht …“ Der Direktor zögerte. „Aber Patronen ja. Die allerdings.“ „Was?“ Exner hob es vom Sessel hoch. „Im Safe? Wo?“ „Nein, im Safe nicht … auf der Veterinärabteilung im Schrank. Aber“, fügte er plötzlich schnell hinzu, „die chemische Zusammensetzung ist unter Fachleuten bekannt, so daß man ein Präparat mit ähnlicher Wirkung auch als Amateur herstellen kann.“ „Verstehe. Was, wenn wir uns diese Veterinärabteilung mal anschauten?“ Sie wollten das Büro verlassen, als die Sekretärin sie noch einmal anhielt. „Verzeihen Sie, Herr Exner, für Sie ist eine telefonische Nachricht da.“ Sie las von dem Zettel ab: „Der Dienstwagen ist in die Stadt gefahren und hat die Dame mitgenommen. – Ja, die Dame.“
35 Es war ein Mittelding zwischen Scheune und Militärbaracke im Gestrüpp unten am Zaun zum Fluß hin. Auf einem nur symbolisch umzäunten Gelände. Auf diesem Gelände standen außer dem Hauptgebäude noch einige Schuppen, ein Gehege und ein trauriger, einsamer Käfig, wo sich ein kleiner Bär langweilte. „Ein Staatsgeschenk“, erklärte Doktor Velenínský. „In Quarantäne.“ Aber das Bärchen verhielt sich normal, die Regeln des diplomatischen Protokolls beeinflußten es wohl nur oberflächlich. 98
„Keiner mehr da“, konstatierte Doktor Velenínský fast erfreut. Vielleicht hoffte er, damit Exner schneller loszuwerden. Sie gingen um das Gebäude herum, dessen Holzwände vom Alter geschwärzt waren, der weiße Lack von den Fenstern war ebenfalls abgeblättert. Der Putz auf dem gemauerten Fundament war schadhaft. „Das da“, sagte der Direktor und zeigte auf die Fenster, „ist die Ordination für die größeren Tiere, dort für die kleinen, das da könnte man Wartesaal nennen, dort das Labor … dort müßten diese Narkotisierungspatronen sein …“ Die einfachen Fenster gingen nach außen auf und wurden mit Haken gesichert. Von innen wurden sie mit einer Klinke nach oben und unten verschlossen. Exner tippte mit dem Finger auf den Fensterrahmen, der hin und her wackelte. „Im Winter möchte ich hier nicht laborieren.“ „Das neue Laboratorium und Veterinärgebäude wird in dem Objekt des Elefantenhauses sein, das gerade gebaut wird.“ In den Brennesseln am Zaun lag eine hölzerne Obsthorde, und Exner holte sie herbei. Er stellte sie unter das Fenster des Labors, stieg hinauf und inspizierte das Fenster aus der Nähe. Er hätte gewettet, daß der Direktor sein Tun für peinlich und kleinlich hielt. „Eine Leiter?“ fragte Velenínský giftig. „Nein. Aber ein Stückchen Draht.“ Er sprang hinunter und ging selbst zu dem auseinanderfallenden Zaungeflecht, um das Verlangte zu holen. In dreißig Sekunden war das Fenster offen. „Gut“, lobte Kapitän Exner sich selbst. „Sie erlauben?“ fragte er und stieg ins Gebäude. Doktor Velenínský folgte ihm bereitwillig und elastisch. Übrigens war er für solche Unternehmungen momentan geeignet gekleidet. „Der Raum ist nebenan.“ 99
„Hier?“ „Ja.“ Hier stank es nach Karbol, nach allerhand anderem, nur nicht lieblich. „Soweit ich weiß, haben sie das Zeug hier.“ Es war ein verglaster Schrank, wie er in jeder Arztpraxis steht. Nur sind diese dort sauberer und in der Regel weniger angeschlagen. Sie spähten durch die Scheibe auf die Fächer, wo verschiedene veterinärärztliche Instrumente lagen, Injektionsspritzen und -nadeln, Medikamente aller Art, unausgepackte und angebrochene; der Schrank war offenbar eine Art Handapotheke. „Oben ist es nicht“, sagte Doktor Velenínský „Es wird im Unterteil sein.“ Dieser war nicht verglast. Exner sah sich das Schloß an, bog zweimal den Draht um, den er noch in der Hand hielt, und sperrte den Schrank auf. „Gut“, lobte ihn diesmal der Direktor. „Das lernen Sie von Ihren Klienten?“ „In der Regel“, gab Exner zu und zeigte auf eine größere Schachtel mit englischer Aufschrift. „Das da, nicht?“ „Ja.“ Velenínský langte danach. „Moment“, hielt Exner ihn zurück. „Haben Sie es schon benutzt?“ „Einige Male.“ „Wie viele Male?“ „Weiß ich nicht … Die Veterinäre werden einen Vermerk darüber haben … Freilich … manchmal muß man zwei Patronen verwenden, manchmal funktioniert die Sprengladung nicht so, wie sie das sollte. Per Hand damit arbeiten ist recht gefährlich …“ „Wie ist das Prinzip der Patrone?“ „Eine Injektionsnadel mit Sprengladung. Beim Aufprall der Nadel – es braucht gar kein Aufprall zu sein, es genügt 100
eine nicht allzu starke Berührung – explodiert in der Patrone die Sprengladung … kein Sprengstoff, Gas selbstverständlich, das das Serum aus der Nadel drückt. In den afrikanischen Reservationen ist es schon zu einigen tödlichen Verletzungen gekommen. Die Entsicherung der Patrone ist ziemlich kompliziert. Die Jäger halten im Wagen die entsicherten Patronen bereit. Dann genügt eine unwillkürliche Berührung der Nadelspitze mit der Hand.“ „So daß diese Patronen zuverlässig arbeiten.“ „Gewiß. Übrigens ist das Prinzip, wie Sie verstanden haben werden, nicht allzu kompliziert. Nur ist die Manipulation ohne Narkotisierungsgewehr, direkt aus der Hand, nicht leicht, besonders wenn das Tier unruhig ist. Man muß einfach aufpassen, und manchmal klappt es beim besten Willen nicht, und das Serum geht daneben.“ „Wann haben Sie es zum letzten Mal gebraucht?“ „Soweit ich weiß, vor einem Monat. Wir mußten einen Eisbären behandeln.“ Exner hob mit dem Draht behutsam den Deckel der Schachtel ab. Die Patronen lagen darin geschichtet, aber nicht sehr sorgfältig. „Ist hier ein Telefon?“ „Gewiß. Dort.“ Er rief zu Hause an, und am Hörer meldete sich Oberleutnant Vlček. „Ich bin im Zoo …“, erklärte Exner. „Ei sieh da. Wir dachten, du hast ein Rendezvous.“ „Beránek auch da?“ „Ja“, sagte Vlček zufrieden. „Hör mal“, sagte Exner, als beträfen die giftigen Anspielungen nicht ihn, „hier wären Patronen für eine Narkotisierungsflinte.“ „Gehen wir ’ran?“ Exner überlegte eine Weile. „Nicht gleich. Ruf einen von den Jungs an, er soll herkommen und das versiegeln. Aber nur einen, kein Manöver. Der Pavillon, von wo ich anrufe, ist das Veterinärzentrum. Im Büro oder beim Pförtner werden sie ihm sagen, wo das ist.“ 101
„Gewiß, mein Kapitän.“ Exner legte den Hörer auf und sah sich fast zufrieden um. Er steckte sich eine Zigarette an. „Gehen wir?“ fragte Doktor Velenínský. „Bleiben wir einstweilen hier sitzen“, sprach Exner mit liebenswürdigem Lächeln, „und unterhalten uns ein bißchen.“ „Worüber, um Gottes willen?“ „Zum Beispiel über die Haltung des Straußvolgels Nandu.“
36 Bevor Adolf Kroupa an jenem Abend seine Wohnung verließ, schaute er als sorgfältiger Systematiker in das Diarium, um zu kontrollieren, ob er sich den heutigen Plan gut gemerkt hatte. Und er las sich auch durch, was man szenische Anmerkungen nennen könnte. Dort standen in Punkten zusammengefaßt einige prinzipielle Angaben, die er sich unerläßlich merken mußte, damit es nicht zu einer Verwechslung unter der Klientel käme. Sie war in der letzten Zeit gedeihlich angewachsen, und Kroupa hätte sie nicht gern wegen einer Schlamperei eingebüßt. Die Tätigkeit im Zoo war zwar an der frischen Luft, aber er war sich ihrer Ungefährlichkeit immer noch nicht sicher. Die Effektivität war freilich groß. Ein Risiko für ihn bestand nicht, solange die Ciprová zu schweigen verstand. Er wußte, daß er sich darauf nicht allzusehr verlassen konnte, besonders wenn die liebe Božena einen gezwitschert hatte. Er entschloß sich, sie jedesmal zu kontrollieren, ob sie nüchtern war. Ihn erwartete ein aufreibender Tag. Und er fühlte sich ein bißchen müde. Aber im Diarium war alles klar. Heu102
te: Ludmila Žitná, Vršovice, Witwe eines Gemischtwarenhändlers, später Bauhilfsarbeiter und Taxifahrer, zum Schluß Nachtwächter. Sein Mitschüler. Er hatte ihn regelmäßig zu einem Plauderstündchen in seinem Pförtnerhäuschen besucht. Er selber litt an Schlaflosigkeit. Bauingenieur. Firma in der Slowakei. Der Krieg – und bis zur Pensionierung Projektant. Der Wagen, in dem Kroupa nach Vršovice startete, gehörte allerdings nicht dieser Ludmila Žitná, sondern der Witwe eines Autotransporteurs. Bei ihm hatte Kroupa gelernt, bevor er mit dem Lastwagen angefangen hatte. Dann allerdings die Krise und Deutschland … Das war zwar schwierig für die Organisation und fürs Gedächtnis, aber Kroupa hatte jahrelange Erfahrungen aus der Jugend, da der Mensch mehr riskiert. Das gegenwärtige Problem bestand darin, daß Ludmila Žitná dringend seinen fachlichen Rat brauchte. Er war überzeugt, daß sie sich nur wegen dieses fachlichen Rates mit ihm angefreundet hatte, denn er hatte sich ihr in mangelnder Voraussicht als Bauingenieur vorgestellt. Heute sollte sich ein Käufer für ihr Wochenendhaus einstellen. Er wollte das Objekt besichtigen und einen Preis bieten. Kroupas Aufgabe war es, einen Ansturm von zu niedrigen Angeboten mit seinem fachlichen Gutachten zu stoppen, in dem er die Bauqualitäten der Bude hervorhob. Er hoffte nur, daß der Käufer kein Baufachmann sein würde.
37 „Kriminalpolizei?“ hauchte Frau Václavíková, und ihr zitterte das Kinn. „Wegen dem Schwager vielleicht …“ „Ja“, sagte Michal Exner, der versucht hatte, die sechs Stockwerke in einem Zug und im Laufschritt zu nehmen, 103
und der jetzt keuchte. „Nur ein paar Fragen … Falls Sie erlauben.“ „Wir haben eben zu Abend gegessen … mein Mann will gerade weggehen … Kommen Sie weiter“, lud sie ihn verwirrt ein. „Wir wissen wirklich nicht, womit wir …“ Der Grafiker und Illustrator Václavík spähte in den Flur. Den ganzen Nachmittag hatte er im Atelier geschuftet wie ein Zugochse, denn täglich ging es ihm darum, den Lebensstandard zu erhalten. Heute auch um den freien Abend, denn er mußte (dreimal in der Woche) ausbrechen, wie er das nannte, hinaus unter die Leute, um Kontakte zu pflegen, denn Kontakte seien bei seinem Gewerbe das wichtigste. Interpretation und Motiv waren überzeugend, die Wirklichkeit war allerdings die, daß Václavík seinen privaten, früher mehr, heute schon weniger sexuellen Interessen nachging. „Worum geht’s?“ „Hier ist ein Herr von der Kriminalpolizei“, sagte seine Frau. Unauffällig warf er einen Blick auf die Uhr im Zimmer. Er war knapp dran mit der Zeit, wie ein Leibriemen an einem Schmerbauch. Schnell schätzte er ab, daß er nicht ausweichen konnte, und wählte die beste Methode: rasch und glatt. Er stellte sich vor, sagte sich im stillen, daß dieser Bursche nicht wie ein Polizist aussah, und drängte Exner ins Atelier. „Selbstverständlich. Einen Kaffee? Ja? Anička, mach uns zwei Kaffee.“ „Die gnädige Frau“, bemerkte Exner hämisch, „trinkt keinen Kaffee?“ „Meine Frau nimmt sich später einen. Und ich muß in die Stadt, habe eine Verabredung, aber das wird“, so versicherte er Exner, „auf unsere Unterredung keinen Einfluß haben, es handelt sich nicht um Zeitnot.“ „Bestimmt nicht“, versicherte ihm Exner und machte sich in dem angebotenen Sessel breit. Václavík stieß eine Weile sich und die Sachen ringsum an, bis er sich end104
lich in einen umfangreichen Ohrensessel wälzte. Er breitete die Hände mit den Wurstfingern aus. „Also bitte?“ „Hat Frau Vebrová Sie gestern angerufen?“ „Ja. Um elf oder etwas später, meine Frau wird sich wohl an die genaue Zeit erinnern. Sie fragte, ob nicht ihr Mann bei uns sei oder ob er nicht zufällig bei uns gewesen sei … Danke, Anička, für den Kaffee, setz dich … Martin ist …“ „Er lernt.“ „Ja. Wir haben einen Sohn. Dreizehn! In der Pubertät!“ Václavík hob die Augen zur Decke und ergriff blindlings die Tasse mit dem Kaffee. „Wo haben wir aufgehört? Ach ja, Anička: Um wieviel Uhr rief Jana gestern an? Um elf? Oder später?“ „Etwa um elf, wir haben noch nicht geschlafen.“ „Ich arbeite lange in die Nacht hinein, manchmal“, sagte Václavík „Was sie am Telefon gesagt hat? Na, ob er nicht hier gewesen ist. Wir sagten ihr, nein, er kommt doch fast nie so spät zu uns auf Besuch. Da fahren eher wir zu ihm auf die Datsche. Hier bei uns war er am Abend schon jahrelang nicht. Am Nachmittag kommt er manchmal vorbei. Wenn er etwas braucht. Und dann fragte sie noch, ob wir nicht wüßten, wo er sein könnte, und wir sagten, das wüßten wir nicht; das war eine sonderbare Frage. Sie äußerte ihr Befremden, weil er noch nicht wiedergekommen sei, sie wollten nämlich noch am selben Abend wegfahren. Wir konnten ihr nichts sagen. Ein bißchen tröstete ich sie, daß es doch jedem mal passiert, daß er sich verweilt, und privat dachte ich, daß Milan sich bei einem Kunden ein bißchen angetütert hatte …“ „Oder einer Kundin?“ unterbrach ihn Exner. „Nein!“ Miroslav Václavík schrie es fast. „Das nicht.“ Exner schaute fragend Frau Václavíková an. Sie schüttelte den Kopf. „Er war wirklich nicht so einer.“ 105
Václavík schlürfte den Kaffee und neigte den Kopf seitwärts. „Und das ist alles, was wir wissen.“ „Und was halten Sie von der ganzen Sache?“ „Tja …“ Václavík räusperte sich. „Wir haben mit Jana gesprochen … selbstverständlich. Es ist für sie ein Schock, nicht wahr … Wissen Sie, ich habe das heute meiner Frau als eine Naturkatastrophe charakterisiert. Wie wenn jemanden ein Auto überfährt. Ein Zufall. Ein Irrtum. Ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände …“ „Und was haben Sie damit gemeint?“ Exners Lächeln war von hartnäckiger Freundlichkeit. „Daß das ein Irrtum gewesen sein muß. Ich kenne ihn doch schon fünfzehn Jahre! Jana hat uns natürlich nicht gesagt …“ Er verstummte und tat, als zögerte er. „Was hat sie Ihnen nicht gesagt?“ „Wie er … verstehen Sie, wie man ihn …“ „Ermordet hat?“ „Ja. Ihnen fällt es leichter, solche Worte auszusprechen.“ „Vielleicht … Ja, wir haben ihr das noch nicht gesagt, weil wir uns heute morgen selber noch nicht sicher waren …“ „Und jetzt?“ fragte Václavík leichthin, aber vor Neugier hob er sich im Sessel an. „Es ist so sonderbar“, sprach Exner wie der weise Nathan, „daß ich mich scheue, Ihnen das mitzuteilen …“ „Ich bitte Sie!“ rief Václavík. „Was kann denn so sonderbar sein! Die Mittel sind doch begrenzt.“ „Ja“, räumte Exner ein, „sie sind begrenzt …“ „So daß Sie Ihre Gründe haben …“ „… darüber noch zu schweigen.“ „Bitte sehr. Weitere Fragen?“ „Sie haben aber wirklich wenig Zeit …“ „Dieser Bindfaden, Herr, an dem ich die Zeit angebunden habe, summt von früh bis abends wie eine Saite.“ 106
„Sie sehen also wirklich“, fuhr Exner fort, „im Leben Ihres Schwagers keinen Grund, warum er so umkommen mußte, und in seiner Umgebung, soweit Sie sie kennen, finden Sie nichts, was am Ende zu seiner Ermordung führen konnte?“ „Nichts“, erklärte Václavík. „Wirklich nicht“, sagte seine Frau. „Für uns, Herr Kapitän, ist das völlig unbegreiflich.“ Václavík zuckte die Achseln und dachte nach. „Wenn wir wenigstens die Art und Weise kennen würden, wie er … wie er umgebracht wurde … dann vielleicht mit dem Wissen um diese Tatsache …“ „Aber Meister!“ sprach Exner schmeichlerisch. „Das ist doch … na!“ Václavík winkte ab. „Schon gut! Ich nehme es zurück.“ Exner lächelte und schlug ihm vor, sie könnten gemeinsam gehen. Auf der Treppe sagte er halblaut: „Ich wollte nicht vor Ihrer Gattin … Jana Vebrová ist schließlich ihre Schwester.“ Václavík schüttelte den Kopf. „Ach wo. Unter uns: Veber ist wohl niemals ein richtiger Kerl gewesen, mit Sinn für Spaß, mal einen draufmachen, ach wo. Und Jana ist einfach eine Paukerin. Und Sie würden nicht glauben, wie sie diesen Geist der Schule in den Haushalt getragen hat. Er war kein großes Licht. Vielleicht kam ihm das gerade entgegen. Weiß der Teufel. Niemals hat er sich beklagt, und niemals hat er das gelobt. Ich würde verblöden, das schwöre ich, Herr Kapitän, wenn ich so ein liniertes Leben führen müßte. Am Morgen zur Arbeit, von der Arbeit zum Abendessen, dann schwuppdiwupp zu einem Geschäft und schwuppdiwupp nach Hause, und auf der Datsche die Weglein harken und Rosen an Pflöcke binden.“ „Ich meine“, bemerkte Exner, „ein Motiv von ihrer Seite.“ 107
Václavík dachte merkwürdigerweise nach. „Schwer zu sagen. Man kann in fremde Familien schwer hineingucken, nicht wahr? Auch wenn man sie scheinbar wie auf der flachen Hand hat. Schauen Sie, die beiden lebten nicht sehr leidenschaftlich zusammen, falls Sie verstehen, was ich meine …“ „Nein.“ „Sie stritten sich nicht leidenschaftlich, und sie liebten sich nicht leidenschaftlich. So ist mir das immer erschienen. Milan hat, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, zum letzten Mal so vor drei, vier Jahren einen draufgemacht. Da war seine Frau zur Kur in einem Bad. Etwas mit der Schilddrüse. Wir trafen uns am Nachmittag, eine Truppe von Kunstgewerblern, die gerade ein gemeinsames Geschäft abgeliefert und das Honorar kassiert hatten, wir munterten uns ein bißchen auf, und auf einmal, gegen Abend, wußten wir nicht, wohin. Die Kneipen sind abends, wie Sie wissen, die widerlichste Einrichtung auf der Welt. Wir waren etwa sieben, Männlein und Weiblein, und wir brauchten ein neutrales Milieu. So erinnerten wir uns an ihn. Wir also hin zu ihm in die Wohnung, dort stärkten wir uns, und am späten Abend mit Hurra auf die Straße. Er machte damals mit, und ich möchte schwören, daß es ihm gefallen hat …“ Sie traten vors Haus. Der Nachmittagsverkehr hatte sich gelegt. Die Luft war immer noch voller Staub und Gestank. Die verrußte Schwüle löste sich langsam auf. Der Himmel über der schmutzigen Stadt war erstaunlich klar. Václavík zeigte auf seinen Wagen. „Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie wollen.“ „Ich habe meinen Wagen dort.“ „Ach so. Ein Mercedes? Das ist ein anderes Vehikel als dieser Trittroller. Mir ist noch was eingefallen, zu Jana …“ „Und was?“ 108
„Mir ist eingefallen, daß gerade solche Seelen wie sie – weiß Gott, meine Frau ist ihr da zum Glück überhaupt nicht ähnlich – eigentlich ihre Rätsel haben können, nicht?“ Er streckte die wurstfingrige Hand aus. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und angenehme Unterhaltung. Ich sehe, Sie stehen vor einem Rätsel. Weil Sie ein Profi sind, meine ich, daß Sie darüber eigentlich Freude empfinden können. Sollten Sie etwas brauchen: bis zehn in der Goldenen Kanne, dann weiß Gott, wo.“
38 Nicht lange vor der Sperrstunde löste sich Karel Buš von dem Stuhl vor dem Kiosk gegenüber dem Vogelpavillon. Nach der gestrigen Nacht und dem unruhigen Morgen hatte ihn die Schläfrigkeit übermannt. Er hatte natürlich Lust, irgendwohin aufzubrechen, aber er kannte keinen, der ihm Gesellschaft geleistet hätte. Würde er sich bemühen, dann fände er an den bekannten Stellen ganz bestimmt einige Kumpel, oder er würde sich im Hinblick auf seinen geselligen Charakter ganz neue Kumpel besorgen, aber er hatte nichts in der Tasche, womit er die neuen Freundschaften entwickeln und festigen konnte. Er schlenderte also zu dem im Bau befindlichen Elefantenhaus, wo er sich daranmachte, sein bescheidenes Lager aufzuschlagen, denn er hatte selbstverständlich noch nicht die Zeit gefunden, sich ein günstigeres Dach über dem Kopf zu besorgen. Seine Wohnadresse hatte er beim Arbeitsantritt bis zum I-Punkt ausgefüllt. Er hatte sie sogar im Personalausweis. Aber die ältere Dame, bei der er seine Knochen zur Ruhe gelegt hatte, hatte sich während der Zeit, da er im Knast war, einen Eisenbahner zugelegt, Witwer, sie war zu ihm gezogen, und Buš 109
hatte sie zwar besucht und ein kurzes Erinnerungsgespräch mit ihr geführt, aber er war zu dem Schluß gelangt, daß sie ihm nicht offenheraus und unumwunden sagen mußte, daß es vorbei war, und zwar für immer. Das hatte er von allein begriffen, auf den ersten Blick. Er hoffte, in ein paar Wochen seine männliche Gestalt bestimmt irgendwo zur Ruhe legen zu können; aus eigener guter Erfahrung wußte er, daß Liebe und Tröstbereitschaft der Frauen grenzenlos sind. Wohlgefällig lächelte er über sich selber und erinnerte sich an die schöne Frau, die das Känguruh gemalt hatte. Bei ihr war die Unzugänglichkeit grenzenlos. Aber niemand konnte ihm verbieten, daß er seine Vorstellungen hatte. Seine Wunschträume. Sie fesselten ihn so sehr, daß er sich entschloß, sie durch einen Spaziergang zu den Stellen, wo er sie am Morgen gesehen hatte, aufzufrischen. Und außerdem sagte er sich in der Tiefe seiner Seele, daß er ja auch einer ganz anderen begegnen könnte; die Zufälle und das Glück sind unerschöpflich. So eine, die die rothaarige Schönheit vertreten könnte. Er kroch durch das Loch im Zaun und spazierte am Ufer entlang. Der Strom seiner Erwägungen war ungebändigt, vielleicht hätte ihn selbst ein Dichter beneidet. Darin war alles, einschließlich einer Wohnung mit Kamin und rosa gekacheltem Badezimmer, eines Wagens (gelber Sportwagen, Herrgott, das würde nur so zischen) und des bezaubernden Hauchs von Kognak. Im Verlauf des Gehens und Träumens kam es in seinem Organismus zu einer Verwandlung der letzten vier Biere in eine ganz andere Flüssigkeit, und die Kühle des Flusses löste ein einfaches Bedürfnis aus. Von diesen Gedanken befallen, säumte Karel Buš nicht. Er war zwar in Sichtweite von verschiedenen Stellen, vor allem dem Parkplatz, aber solche Kleinigkeiten 110
hatten ihn nie gestört. Er stellte sich nur zu einem Sandhaufen, der schon längst mit Gras bewachsen war, und schaute sich zufrieden um. Plötzlich schärfte er den Blick. Und halblaut erklärte er mit dem Ausdruck aufrichtiger Verwunderung: „Himmel, Arsch und Zwirn …“ Denn auf dem Fußweg, auf dem er vor einer Weile an diesen Ort gelangt war, schritt sie. Rothaarig, groß und strahlend. Sie mußte ihm nachgegangen sein! „Sakra …“ Sie strebte zum Parkplatz. Und sie sah nicht aus, als wolle sie sich durch einen Spaziergang erfrischen. Eher hatte sie es verdammt eilig. Auf dem holprigen Weg und mit den hohen Absätzen sah sie jedoch immer noch aus, als wäre dieses Tempo ihr völlig gewohnt und höchst natürlich. Bevor Buš über die Wiese zum Parkplatz eilen konnte, hatte sie bei dem Opa, der dort aufpaßte, bezahlt (wohl gut, das Biest!, denn er verbeugte sich wie ein Lakai, fast leckte er die Stoßdämpfer des Autos ab), knallte die Wagentür des Fiat zu, und weg war sie. Im Karacho. Daß es an der Ecke nur so pfiff. Karel Buš machte mit dem Körper eine unmerkliche Bewegung, als wollte er ihr hinterherlaufen. Statt dessen tippte er sich mit dem Finger an die Schläfe und grüßte damit den Opa auf dem Parkplatz. „Ein tolles Weib, was?“ „Ja, ja“, sagte der Opa. „Als ich noch jung war …“ Buš sagte: „Na ja“ und trollte sich. Hinter dem Parkplatz verlangsamte er wieder den Schritt. Aber fürs Träumen war er nicht mehr. Die Realität des Lebens hatte es ihm ausradiert. Was nicht nur Leuten wie einem Karel Buš widerfahren soll. Er hatte nun eher seine Lagerstatt im Sinn und wie schön er dort pennen würde. „Esel, Esel“, beschimpfte er sich selber. 111
39 Die untergehende Sonne verlieh der Altstadt Schimmer und Glanz. Ganz unglaublich, was die schwachen orangefarbenen Strahlen anzurichten vermochten. Sie weckten den verblichenen Putz auf, entzündeten die Fenster, gaben den Metallteilen auf Dächern, Türmen und Simsen nie dagewesenen Glanz. Sie schufen eine Atmosphäre, in der es einem scheinen konnte, daß die tausendjährige Vergangenheit der Rotunde, die hundertjährige Vergangenheit der Dome, Statuen, des Pflasters und der Ecksteine sich durchdrangen und vereinigten mit der Gegenwart der Autos, der klickenden Fotoapparate und der hastvollen Jagd des Menschen einer unbekannten Beute hinterher. Es war einfach die kostbare Stunde der abendlichen Behaglichkeit von Zeit, Raum, Licht und Wetter. Exner empfand das so, als er mit seinem Mercedes von Klarov auf die Mánes-Brücke fuhr. Er ließ den Wagen bei der Philosophischen Fakultät stehen und begab sich zu Fuß durch die Straßen um das Klementinum in der allgemeinen Richtung zur Straße Na Zábradlí, Am Geländer. Dort irgendwo wohnte der Architekt Krule. Ihm fiel ein, daß es schön wäre, ein Mönch zu sein. Nicht ein Franziskaner oder von einem Bettelorden. Sondern ein munterer Benediktiner oder Prämonstratenser. Von der Terrasse des Strahov-Klosters herunterblicken auf die Stadt und schöne Gespräche führen. Und über die Klostermauer zu den Freuden des weltlichen Lebens fliehen. Zu denen, von denen der Architekt Krule wohl nicht allzu viele hatte. Zu schließen nach dem unansehnlichen Haus aus der Zeit des Jahrhundertanfangs, der stinkenden Toreinfahrt und der steinernen Treppe, die so ausgetreten war, daß man ungefährdet mit einem Schlitten über sie fahren konnte. 112
Obendrein wohnte der unverheiratete Herr in einer geteilten Wohnung. Krule: zweimal klingeln. Exner tat es. „Ich habe erwartet, daß Sie kommen“, sagte er kalt zu Exner statt eines Grußes. „Soll ich mitkommen, oder …“ Und weil Exner verstockt schwieg, fügte er mürrisch hinzu: „Darf ich Sie weiterbitten?“ „Vielleicht das zweite, wenn es Sie nicht stört.“ Krule trat einen Schritt zurück. „Nach links.“ Daß er sich in Eliška Libšerová verliebt haben konnte, war ganz begreiflich, das Geheimnis steckte in dem Sinn und Schluß, den dieser lederne Patron mit den schütteren Haaren erhoffte. „Vorsicht, Stufe.“ Die Warnung kam offenbar absichtlich so spät, daß Exner durch die offene Tür ins Zimmer flog und nur unter Anspannung aller Kräfte, das Gleichgewicht durch Fuchteln mit den Armen erhaltend, am offenen Fenster zum Stehen kam. „Danke“, sagte er freundlich. „Hätten Sie mich nicht aufmerksam gemacht, dann hätte ich mir die Nase breitgequetscht.“ „Wollen Sie sich setzen?“ „Darf ich?“ Krule zuckte die Achseln. Gewiß entwarf er wunderschöne moderne Interieurs und schuf aus den Kisten der Anbaumöbel witzige, funkelnde Wohnungen voller moderner Zivilisation. In seiner Privatwohnung jedoch gab er echten Perserteppichen und echtem Empire den Vorzug. Exner wählte einen wunderschönen Sessel am Fenster neben einem Serviertischchen, auf dem ein Aschenbecher mit Zigaretten, Pfeifen und Tabak einlud. Zweifellos der ganz private Sessel des Architekten Krule. Er fläzte sich in ihm, als gönnte er hier seinen Glie113
dern täglich Ruhe. „Ein schöner Raum, schade, daß die Aussicht nicht die beste ist.“ Krule zuckte mit den Lippen. Exners Schlag schien gesessen zu haben. Es genügten wirklich ein paar Meter, damit sich vor dem Besucher das Panorama des Hradschins ausbreitete. Ein paar Meter noch in dieser Wohnung. Die paar Meter, die der Architekt Krule niemals errungen hatte, und die Hoffnung, daß ihm dies jemals gelingen werde, war mehr als gering. Er blieb am Sekretär stehen. Lehnte sich nicht einmal an ihn an. „Also bitte.“ Exner mußte im stillen zu dem Schluß kommen, daß Krule eben doch ein treuherziger Charakter war, denn von Anfang an hatte er alles mögliche getan, um die Bedingungen für sich selber zu verschlechtern. Oder er war ein Asket und litt aus Passion. „Die Dinge liegen so, Herr Architekt“, begann Exner seinen Vortrag, „daß die Fahndung nach einem unbekannten Täter eine komplizierte und oft anstrengende und in der Regel langwierige Arbeit oder – wenn Sie so wollen – Tätigkeit ist. Besonders dann – und das ist hier der Fall –, wenn die Tatmotive unklar sind. Ich gebe zu, daß ich mir vorläufig ein sehr bescheidenes Ziel gesetzt habe: nach dem Motiv zu forschen.“ „Begreife ich. Wenn der Täter bekannt ist, entfällt diese Tätigkeit.“ „Er ist leider unbekannt“, sagte Exner ein bißchen dümmlich. „Und so wende ich mich an Sie, genauso wie an alle anderen, die den Betroffenen gekannt haben oder mit ihm in Kontakt gekommen sind, um Hilfe.“ „Ich weiß nichts.“ „Ich fürchte, da irren Sie“, sprach Exner bescheiden. „Mir geht es nämlich nicht darum, daß Sie mir sagen, warum Milan Veber ermordet wurde, sondern daß Sie mir durch Ihr Erzählen und Ihre eigene Ansicht helfen, zu einer annehmbaren und sachlichen und möglichen 114
Annahme zu gelangen, denn, Herr Architekt, zwischen Himmel und Erde geschehen viele unglaubhafte Dinge, von denen einige unstrittig wie unglaubhaft aussehen, während andere von einem Schleier der Alltäglichkeit verdeckt sind.“ „Sie können aber schön schwätzen“, sagte Krule hart. „Und Sie wiederum sind die Liebenswürdigkeit selber“, erklärte Exner herzlich. Und er fügte hinzu, was ihm soeben hellseherisch einfiel: „Warum sind Sie nicht auch ins Deminka zum Mittagessen gekommen? Wir wären froh gewesen, hätten wir dort einen Bekannten getroffen. Nachmittags unternahmen wir einen kleinen Ausflug. Interessiert es Sie, wo wir gewesen sind und was wir dort gemacht haben?“ „Überhaupt nicht.“ „Ich beneide Sie, Herr Architekt. Ich bin sozusagen ein neugieriger Beamter. Und ich bitte Sie, dafür Verständnis zuhaben.“ „Neugierig in allen Richtungen, dessen bin ich mir absolut sicher“, erklärte Krule giftig. „Natürlich. In allen Richtungen. So daß wir nach den einleitenden Höflichkeitsfloskeln zur Sache kommen können. Soweit ich aus anderen Quellen erfahren habe, sind Sie ein Schulfreund von Milan Veber.“ „Ja.“ „In welchem Sinne Schulfreund? Von welcher Schule?“ „Von der Oberschule. Wir haben zusammen das Abitur gemacht.“ „Und dann?“ „Ich habe im Direktstudium studiert und er im Fernstudium.“ „Sicher wissen Sie, warum er diese Art des Studiums gewählt hat?“ „Selbstverständlich. Er hatte keine Eltern mehr und war ohne Geld.“ 115
„Sie sind aus Prag?“ „Nein, aus dem Böhmerwald. Er aus Pilsen. Falls Sie Interesse für seine und meine Großmutter haben, so kann ich Ihnen versichern, daß die sich nicht gekannt haben.“ „Und wie ist es“, fragte Exner würdevoll weiter, „in den zoologischen Garten sind Sie gegangen?“ „Schon als kleines Kind …“ „Moment“, stoppte ihn Exner. „Diese Frage habe ich zufällig ernst gemeint. Hören Sie, Krule, auch wenn Ihnen das vielleicht komisch vorkommt – überlegen Sie gut, bevor Sie darauf antworten.“ „Auf welche Frage? Die Großmütter?“ „Nein. Den zoologischen Garten“, sagte Exner hart.
40 Bis in die Abendstunden mußte Jana Vebrová so viele Dinge erledigen, daß sie nicht viel Zeit fand nachzudenken. Daß sich die Welt, für sie immer ohne Rätsel und Hinterhalt, durchsichtig klar, auf einmal in ein düsteres Geheimnis verwandelt hatte, in dem völlig unerklärliche Dinge geschahen, das lag auf ihr wie eine drückende Last. Bis jetzt hatte sie noch nicht begonnen, sich zu fürchten, und sie ahnte auch nicht, daß das später kommen und daß es einen Monat dauern würde, bis sich diese Angst, Folge des Schocks und der Depression, wieder auflöste. Gegen Abend war sie allein. Und je mehr die Dämmerung nahte, desto umfassender wurde die Einsamkeit, bis sie bei Sonnenuntergang uferlos war. Sie rief die Schwester an und erwartete, zum Abendessen eingeladen zu werden. Dies geschah nicht. Sie hielt das für eine Erniedrigung. Zu den meisten 116
Menschen hatte sie eine neutrale Beziehung, aber ihren Schwager Miroslav Václavík konnte sie nicht leiden. Wegen seiner Zungenfertigkeit, wegen seines Übersehens jedweder Institutionen und Ordnungen und schließlich, was sie niemals offen zugegeben hätte, wegen der Menge Geld, die er verdiente und, wie Jana Vebrová überzeugt war, leicht verdiente. Sie hatte kein Kind, keinen Hund, keinen Kanarienvogel. Sie hatte nur Milan Veber gehabt. Sie ging ein bißchen spazieren, und das war ein Fehler. Das Auto stand unweit des Hauses, und in ihm lagen immer noch die für die Datsche bereitgelegten Sachen. Die Siedlung hatte sich vor dem Abend entvölkert. Sie wurde sich bewußt, daß es hier irgendwo zu diesem unbegreiflichen und quälenden Ereignis gekommen war. Rasch kehrte sie ins Haus zurück. Griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des Architekten Krule.
41 Der Lüster aus Kristallglas hing über dem Tisch genauso unbeweglich wie die Stille. Nur die Bestecke klirrten an die Teller. „Ich möchte noch …“, quengelte Josef Berka junior, als sie zu Ende gegessen hatten. „Fernsehen?“ fragte der Vater schroff. „Nein. Jetzt gehst du noch eine Stunde lernen und dann ins Bett. Und räum den Tisch ab.“ Der elfjährige Junge erhob sich, um den Befehl auszuführen. Keinen Mucks wagte er zum Protest hervorzubringen, denn er wußte, daß sein Vater ein unnachgiebiger und strenger Herr war. Außerdem ahnte er, daß hier noch etwas zwischen den Eltern abgemacht würde. Er 117
verschwand, so schnell er nur konnte, aber Josef Berka senior, ein stattlicher Sportsmann mit umfangreicher Glatze, würdigte das nicht einmal. Miroslava Berková saß ruhig da wie eine erste Hofdame, unschwer ließ sich jedoch erraten, was sie im stillen dachte. Gerade dieser Fakt machte den Ingenieur Josef Berka am meisten nervös und steigerte seine Eifersucht. „Und das soll ich dir glauben, daß du heute abend im Atelier der Hůlková warst?“ „Kannst sie ja fragen. Sie brauchte einen Rat, hat einen neuen Ofen.“ Eine riskante, aber bewährte Methode zur Abwehr eines Angriffs. Nur selten spielt ein eifersüchtiger Mann den Detektiv und überprüft die Wahrhaftigkeit der Worte seiner Frau. Übrigens, dachte sich Berka, ist die Hůlková ein ausgebufftes Weibsstück und macht jede Gemeinheit mit. „War heute früh wieder der blonde Kerl am Fluß?“ Erstaunt hob sie die Brauen. „Heute? Am Fluß? Aha … du meinst diesen Jungen … Spionierst du mir nach?“ „Ich spioniere dir nicht nach, aber dieser Blödel …“ „Eifersüchtig sein“, sagte sie lächelnd, „auf einen richtigen Mann, Josef, das würde ich bestimmt verstehen, das wäre mir vielleicht sogar angenehm. Aber auf ein Kind eifersüchtig sein!“ „Ein Kind?“ „Er ist doch erst achtzehn, neunzehn …“ „Und du kennst keine Frauen, die gerade diese Junghasen …“ „Und du meinst wirklich, ich wäre eine solche Frau?“ Er lenkte ab. „Pepík war allein … und das ist nicht gut.“ „Das wird ihm nur nützen, wenn er zuweilen allein ist. Ich wollte ihn nicht mitnehmen. Du weißt, bei der Hůlková treffen sich oft nicht gerade die geeigneten Leute. Sie hätte zufällig jemanden dahaben können.“ Er räumte ein, daß das zutreffe. Und er entschloß 118
sich, nun doch den Fernseher einzuschalten und Pepík herüberzuholen, damit er wenigstens das Ende des Fußballspiels sah.
42 „Sie fragen geistvoll“, sagte der Architekt Krule. „Etwas Ähnliches haben Sie bereits vorhin angedeutet“, erwiderte Michal Exner trocken. „Wollen wir uns doch darauf einigen, daß Sie sich keine Gedanken über den Sinn meiner Fragen machen, sondern Sie einfach beantworten. Wie ist das also mit dem zoologischen Garten, Herr Krule?“ „Lächerlich. Soweit ich weiß, ist Veber niemals im Zoo gewesen. Vielleicht als Kind, und daran hat er sich nicht einmal mehr erinnert.“ „Und Sie?“ „Zum letzten Mal, als ich zehn war. Zufrieden?“ „Hatte Veber private Geheimnisse?“ „Ich weiß nicht, wie ich den Terminus privates Geheimnis verstehen soll.“ „Eine Geliebte, dunkle Geschäfte.“ „Weder das eine noch das andere.“ „Sind Sie sich dessen so sicher?“ „Absolut. Er war mitteilsam, und wir sprachen eigentlich über alles. Auch über sehr vertrauliche Dinge.“ Exner stützte die Ellbogen auf die Lehnen des Empiresessels, faltete die Hände und legte sein Kinn darauf. „Gut. Und wenn Sie zum Beispiel in seinem Kalender die Notiz ZOO fänden, was würden Sie dazu sagen?“ „Nichts. Oder höchstens, daß einer seiner Kunden im zoologischen Garten angestellt ist.“ Er löste sich vom Sekretär, an den er sich die ganze Zeit gehalten hatte wie angenäht, und ging auf den Korridor, wo das Telefon 119
klingelte. Obwohl er die Tür offenließ, war nicht zu verstehen, mit wem er sprach oder was er sagte. Exner interessierte das auch nicht. Er schaute durch das offene Fenster hinauf zum ergrauenden Himmel. Als Krule zurückkehrte, nahm er wieder seinen Platz am Sekretär ein. Entweder hatte er dort im Fußboden eine Grube, oder es war ein weiteres Rätsel. Übrigens hatte Exner keine Lust, sich darüber Gedanken zu machen. „Frau Vebrová hat angerufen“, sagte Krule unaufgefordert. „Sie kommt in einer Stunde her, so daß …“ „Ich verlasse Sie so bald wie möglich. Ich möchte Sie nicht stören.“ „Es gibt nichts, wobei Sie uns stören könnten“, sagte Krule schroff. Michal Exner dachte, es wäre für ihn gewiß einfacher, wenn das Gegenteil der Fall wäre, aber über diese Sache schwieg er lieber. „Wir haben aufgehört bei der Notiz im Kalender.“ „Meine Ansicht haben Sie gehört.“ „Gut.“ Exner lächelte. „Das Notizbuch Ihres Kollegen habe ich mir nur sehr flüchtig angeschaut. Aber dennoch habe ich bemerkt – ich versichere Ihnen, daß diese Feststellung keineswegs schwierig war –, daß er bei jedem Namen eines Kunden die Adresse und eventuell die Telefonnummer hinzugeschrieben hat. Oder nur die Telefonnummer. Soweit ich bisher feststellen konnte, hatte er für gestern keinen Kunden notiert. Aber ich weiß nicht, ob er sich jeden notiert hat … Und ungefähr vor sechs Wochen die nichtssagende Bemerkung ZOO.“ „Der Mensch“, sagte Krule sachlich, „sitzt manchmal nur so da und überlegt und kritzelt dabei mechanisch selbst Unsinn aufs Papier.“ „Gewiß, Herr Architekt. Aber wenn Sie so eine Bemerkung im Notizbuch fänden und wüßten, daß der Betreffende mit einer Patrone aus einem Narkotisie120
rungsgewehr umgebracht wurde, und wenn Sie dann den Zoo besuchten und dort feststellten, daß sich diese Patronen zwar nicht direkt auf dem Hauptweg befinden, aber genauso leicht erreichbar sind wie zum Beispiel Ihre Bleistifte in der Schublade des Arbeitstisches, dann würden Sie bestimmt gewisse Zweifel an einer gedankenlosen, mechanischen Notiz zu hegen beginnen.“ Krule lachte auf. „Großartig. In diesem phantastischen Falle bestimmt.“ „Aber, Herr Krule“, sagte Michal Exner ernst, „das ist doch gerade mein oder – wenn Sie wollen – unser Fall.“
43 Er kam mit nicht allzu großer Verspätung. Ganz außer Atem. Und zwinkerte unsicher. Die Stirn hatte Jan Marek naß von Schweiß, weil er von der Straßenbahn bis hierher gerannt war. „Ich hatte gehofft“, sagte die Mutter streng, „daß du wenigstens heute rechtzeitig kommst.“ „Ja, Mutti, aber ich mußte doch noch …“ „Ich weiß. Dein Affe hat Schnupfen. Als ob das Mädchen, das mit dir arbeitet, das nicht auch machen könnte.“ „Aber sie ist gerade heute …“ „Geh, wasch dich. Manka und ich warten auf dich schon mehr als eine halbe Stunde.“ „Manka?“ „Allerdings“, sagte die Mutter und hob unwillkürlich den Kopf und richtete sich mit der Hand die Haare, denn das war ihr großer Sieg. „Ich habe sie zum Abendessen eingeladen. Geh, wasch dich.“ Er gehorchte fast demütig. Eva Marková war sich des Erfolges sicher. Aber gäbe es diese Frau nicht, dann 121
brauchte sie das Mädchen nicht zum Abendessen einzuladen. „Ich hatte gedacht“, hatte sie zu Marie Faltysová gesagt, „daß Janík nicht mehr mit Ihnen geht und nicht gehen will …“ Und damit hatte sie gleich angefangen. „Er will, Frau Marková. Das haben wir besprochen.“ „Ich dachte, er ist ganz verrückt … nach dieser …“ „Das ist nicht wahr“, entgegnete Marie Faltysová, „Ich möchte Honza heiraten“, fügte sie einfach hinzu. „Seien Sie mir nicht böse, aber bald.“ Aus irgendwelchen schwer erklärlichen Gründen schien es Eva Marková, daß diese Lösung zweckmäßig und dringlich war und zur rechten Zeit kam. „Aber“, sagte sie, „er ist erst einundzwanzig …“ „Und ich siebzehn. Mein Vater wird bestimmt damit einverstanden sein … Wenn …“ „Wenn?“ „Wenn wir wo wohnen können … Sie wissen, wie viele wir zu Hause sind …“ „Wohnen“, hatte Frau Marková entschieden gesagt, „wohnen werdet ihr hier, Maruška. Selbstverständlich hier.“
44 Es dämmerte, hier waren noch Gaslaternen auf den Straßen, und ihr Licht hatte noch nicht den letzten Widerschein der Sonne vom blauenden Himmel verdrängt. Krule hatte kein Licht gemacht, so daß sie ein Dämmerstündchen hielten. Es war sehr lange still, der Architekt hatte Stoff zum Nachdenken. Oder er war nur so verblüfft, oder es interessierte ihn einfach nicht, oder er wartete, bis Exner endlich abhauen würde. „Sie sagen nichts darauf?“ 122
„Ich habe wohl“, sagte Krule langsam, „eine Phantasie von anderem Typus als Sie.“ „Wie war das Verhältnis Vebers zu Frauen?“ „Soweit ich weiß, interessierte er sich für eine einzige, und das war seine Gattin.“ Michal Exner seufzte traurig. „Da spielt überhaupt nichts zusammen, Herr Architekt. Ihr Freund wird auf sonderbare Weise umgebracht. Ich fahnde redlich den ganzen Tag – bitte sehr, ich weiß, über meine Arbeitsmethode können wir unterschiedliche Auffassungen haben, aber das ist eine rein subjektive Frage –, und ich erfahre lediglich, daß er der langweiligste Patron auf der Welt war, der wie ein Chronometer gelebt hat. Ist das nicht eher Ihre Vorstellung über ihn?“ „Dazu habe ich keinen Grund.“ „Wirklich nicht?“ „Ihrer Meinung nach“, sagte Krule scharf, „ist jeder, der normal und ordentlich lebt, offenbar höchst verdächtig. Scheint es Ihnen nicht auch, daß Sie an einer Art Berufskrankheit leiden?“ „Das gebe ich zu. Und Frau Jana Vebrová?“ „Sammeln Sie Tratsch?“ „Warum nicht? Manchmal hört man sich doch gern einen schönen Tratsch an.“ „Aber nicht von mir. Und über Jana Vebrová schon gar nicht. Ich verkehre nicht allzuoft mit ihr. Übrigens bin ich überzeugt, daß ein solcher Tratsch, für den Sie sich interessieren, einfach nicht existiert.“ Exner seufzte. „Schade. Ich hoffe, wir sehen uns noch. Ich glaube, Sie werden jetzt froh sein, wenn ich Sie verlasse.“ „Sie haben einen scharfen Blick, Herr Exner.“
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45 Die Pförtnerin im Frauenwohnheim in der Vinohradskástraße saß in ihrem Käfterchen wie eine muntere Eule. Sie strickte nicht und las nicht, und sie blätterte nicht in Zeitschriften. Sie schaute einfach über ihre schwarzgerahmte Brille, und unter diesem Blick hätte eine ganze Horde von Kreuzfahrern auf die Knie fallen müssen, daß es nur so schepperte. Um sie einzuschätzen, brauchte er kein Hellseher zu sein. Er setzte einen leicht gelangweilten Ausdruck auf und lockerte die Gesichtsmuskeln, damit offensichtlich war, wie sehr ihn sein Dienst ermüdet hatte. „Kriminalpolizei“, sagte er trocken, ohne Gruß, und zeigte den Ausweis. Sie schaute sich das Foto an und überprüfte sodann sein Gesicht. Weise schwieg sie. „Wohnt hier ein Fräulein Libšerová?“ „Ja.“ „Hat sie ein Einzelzimmer?“ „Ja.“ „Welcher Stock und welche Nummer?“ „Dritter Stock, Nummer hundertfünfzehn.“ „Ist sie zu Hause?“ Sie schaute auf die Tafel mit den Schlüsselhaken. „Ja. Ist was passiert?“ „Wenn nichts passiert wäre, würde ich Sie nicht belästigen. Der Aufzug fährt?“ „Ja … Ihr Name?“ Er zeigte ihr abermals den Ausweis. „Kapitän Exner.“ Sie nickte. In ihrem Kopf arbeitete es wohl mächtig. Nach seinem Äußeren schätzte sie, daß er für die Arbeitsscheuen zuständig war. „Dritter Stock“, wiederholte sie, Exner schien es, als hörte er aus ihrer Stimme eine gewisse Befriedigung heraus. „Einhundertfünfzehn. Falls Sie wünschen, kann ich Sie begleiten.“ 124
„Danke, nicht nötig. Hat sie im Zimmer Telefon?“ „Ja. Soll ich …?“ „Das eben nicht. Nicht telefonieren!“ warnte er sie und segelte ab zum Aufzug.
46 „Mann …“, flüsterte sie hinter der geschlossenen Tür. „Was wollen Sie denn hier?“ „Dienstlich“, sagte er knapp. „Darf ich ’rein?“ fragte er und wartete nicht auf die Antwort. Er drückte einfach ein bißchen stärker gegen die Tür. „Wenn mich jemand auf dem Flur sähe, wäre das peinlich.“ „Aber ich bin nicht angezogen.“ Er stellte fest, daß sie log. Sie hatte ein Nachthemd an, daß ihr mindestens zwanzig Zentimeter übers Knie reichte. Es war ein sommerliches und sehr dünnes Hemd. Obwohl nur das Nachttischlämpchen brannte, war alles hervorragend zu sehen. Er setzte sich in den einzigen Sessel zwischen Bett und Waschbecken. „Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen“, erklärte er, „daß Sie das Opfer einer Verschwörung geworden sind.“ Mit dem Anziehen des Morgenrocks beeilte sie sich nicht. „Aber“, wunderte sie sich. Und sie versuchte, die Haare ein bißchen in Ordnung zu bringen. Nicht aus Notwendigkeit, sondern nur so, aus einem weiblichen Antrieb heraus. „Die zwei Männer, die Sie hierherbrachten, sind Gangster.“ „Wirklich? Einer von ihnen hat mir seinen Dienstausweis gezeigt.“ „Das ist ja gerade die Katastrophe“, sagte Exner. „Es sind meine Feinde, und sie sind mir hinterher. Einer der 125
Bestandteile ihres Planes war es, Sie zu entführen, und das ist ihnen leider gelungen.“ Sie stellte sich vor ihn und legte die Hände auf die Brust. „Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Kapitän?“ „Haben Sie einen Tauchsieder?“ „Ja.“ „Und Kaffee?“ „Gewiß, aber …“ „Dann möchte ich zuerst einen Kaffee.“ Beim Kaffeekochen kontrollierte sie, ob der Vorhang am Fenster richtig zugezogen war. Der Duft aus den zwei Tassen reichte aus, um das kleine Zimmer zu füllen. Die Einrichtung war mehr als bescheiden. Eine Couch, die jetzt in ein Bett verwandelt war, Schrank, Nachtkästchen, Sessel, Stuhl, Tisch, in der Ecke das Waschbecken, warmes und kaltes Wasser. An der Tür ein Kleiderrechen. Auf dem Fußboden ein schäbiger Teppich. Auf dem Schrank ein Koffer. Das Zimmer war sehr bescheiden aufgebessert. Ein Lüster, der jetzt nicht brannte, Tischtuch, ein Kissen auf dem Sessel, ein paar Reproduktionen an den Wänden und der Duft nach Chanel. Er betrachtete die schlanken Fesseln, die sich unübersehbar in seinem Gesichtsfeld bewegten. Die Lampe stellte sie aufs Fenster, und aus dem Nachtkästchen machte sie durch das Auflegen zweier Servietten ein Tischchen, auf dem man den Kaffee reicht. Im Schrank stöberte sie ein paar Kekse auf und schüttete sie auf einen Teller. „Ich bin nie auf Gäste vorbereitet“, sagte sie. „Übrigens haben Gäste hier nur ganz begrenzt Zutritt, besonders nachts. Hier ist der Kaffee. Und was weiter?“ „Wie meinen Sie das?“ „Sie sagten: zuerst einen Kaffee …“ „Ach so!“ Er kratzte sich hinterm Ohr. „Ich war bei Ihrem Kollegen Krule.“ 126
Sie sagte nichts. „Er hat uns ins Deminka begleitet …“ „Nein!“ „Als Spion!“ „Was?“ Sie lachte auf. „Wirklich? Und hat er es zugegeben?“ „Ja und nein. Aber geleugnet hat er es nicht. Er hatte eine Wut, daß es nur so rauchte. Ist er ein netter Kollege?“ „Nein. Ist das wichtig?“ „Nein. Aber ihm sind zweifellos Sie wichtig. Das ist doch hübsch von ihm.“ „Gewiß. Und da sind Sie wirklich zu so später Stunde zu mir gekommen, um mir zu erzählen, wie Sie mit meinem Kollegen geplaudert haben?“ „War Veber in Sie verliebt?“ Sie lachte herzlich. „Das ist nicht zum Lachen!“ „Sie haben ihn eben nicht gekannt.“ „Sie mußten davon keine Ahnung haben. Sie kennen das doch: stille, innige Bewunderung …“ „Das kann sein, und weiter?“ „Nichts … Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß die zwei Gangster, die Sie nachmittags entführt haben, das wirklich nur aus eigenem Antrieb getan haben, um sich an mir zu rächen. Meiner Seel“, sagte er demütig, „ich schwöre es!“ „Das ist doch nicht wichtig!“ „Mein Schwur?“ „Nein. Der Fakt, daß sie mich nach Hause gebracht haben. Schließlich war das nett von ihnen.“ „Aber …“ „Sie hätten mich von der Brücke in den Fluß werfen, mich berauben oder vergewaltigen können. Aber nein, sie benahmen sich wie wahrhafte Gentlemen.“ „Das wundert mich.“ Exner schüttelte den Kopf. „Und zum Abschied haben sie Ihnen die Hand geküßt.“ 127
„Nicht beide. Aber dieser Herr … Beránek … Der ja.“ Exner stöhnte. „Die Bestie!“ „Spielen Sie kein Theater!“ sagte sie streng. „Ich? Theater?“ „Sie! Gestehen Sie, Herr Exner. Gestehen Sie!“ „Was, um Himmels willen?“ Sie beugte sich zu ihm und sagte halblaut: „Sie sind nicht von der Kripo. Sie sind kein Polizist. Die zwei, die mich hergebracht haben, die ja. Sie wollten mich vor Ihnen schützen. Herr Beránek hat etwas in diesem Sinne angedeutet. Sie sind ein Betrüger, stimmt’s?“ Er nahm ihre Hand in die seine und blickte ihr ernst, tief und aufrichtig in die grauen Augen. „Das bin ich“, erklärte er demütig.
47 Gegen drei Uhr morgens stand Michal Exner vor dem Pförtnerstübchen des Frauenwohnheims. Die Frau darin schlief offenbar. Er klopfte an die Scheibe. Sie zuckte zusammen und beugte sich vor zum Fensterchen. „Erinnern Sie sich noch an mich?“ fragte er zur Sicherheit. „Ja, Herr Kapitän.“ „Das Fräulein Libšerová habe ich verhört“, sagte er würdevoll. „Ihre Aussage hat uns sehr geholfen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie über die ganze Angelegenheit schwiegen. Ich könnte nicht für die Komplikationen geradestehen, die sonst vielleicht auch für Sie entstehen könnten.“ Sie richtete sich auf wie ein Soldat im Felde. „Verstehe, Genosse Kapitän.“ 128
48 Der schwarze Mercedes schob sich durch die Straßen der Stadt, und Exner, der ihn steuerte, schien es, daß sein Wagen beträchtlich schwankte. Zufrieden schwankte. Der Kapitän hatte Hunger und überlegte, wo noch geöffnet sein könnte. Schließlich fuhr er zum Jungmannplatz und parkte dort. Die Bar Zur Beere schloß soeben, der Ober kassierte die Tische ab. Exner kroch auf den Hocker an der Bar. Die Bardame musterte ihn und sagte kurz und bündig: „Wir schließen.“ „Ich habe Hunger“, jammerte er, „schrecklichen Hunger.“ Sie musterte ihn noch einmal und zuckte dann die Achseln. „Der Koch hat schon eingepackt.“ „Ich habe wahnsinnigen Hunger“, wiederholte er demütig. Sie zuckte noch einmal die Achseln. Um diese Stunde war sie offenbar zu keiner anderen Geste mehr fähig. Dann ging sie in die Tür hinter der Bar und steckte nach einer Weile den Kopf heraus. „Tatar mit Brot.“ „Zwei.“ Er bekam sein Tatar mit zwei Eiern und ziemlich trockenen Brotscheiben. Er rümpfte nicht einmal verächtlich die Nase, denn seine Not war zu groß. Niemand nahm von ihm Notiz. Der Ober und die Kellner begleiteten teils die restlichen Gäste hinaus, teils trugen sie sie hinaus. Er spülte das Mahl mit Mineralwasser nach und trat auf die Straße. Der Tag graute bereits, und die ersten Vögel sangen, was in diesem Teil der Stadt ganz und gar pervers schien; die Morgenvögel der Gattung Mensch eilten zu ihrer Arbeit. Ein paar verbliebene Nachtvögel schlichen an den Hauswänden und Ecken entlang. 129
Er startete seinen Wagen und fuhr nach Hause. In der Straße, wo er wohnte, erkannte er den Tatra von Bohouš Vok. Unglücklich seufzte er auf, weil er ahnte, daß so manches nicht in Ordnung sein würde. Er schloß das Tor der Durchfahrt auf, fuhr in die Garage und dann mit dem Aufzug in das oberste Stockwerk. Das Morgengrauen drang durch die Glastür in den Korridor. Ein Stockwerk tiefer schrie wütend der Kuckuck in der Kuckucksuhr fünfmal. Der Kapitän warf einen Blick in die Küche. Er schüttelte ratlos den Kopf. Das Abwaschbecken und der Küchentisch quollen von ungewaschenem Geschirr über. Kasserollen, Töpfe, Tassen, Untertassen, wohl auch sein Geschirr. Aus dem Abfallkorb lugten die Hälse leerer Bierflaschen. Er öffnete die Zimmertür. Beránek und Vok schliefen gemeinsam auf seiner schönen breiten Couch. In Hosen, selbstverständlich; ein Glück, daß sie sich wenigstens die Schuhe ausgezogen hatten. Vlček hatte sich eine Luftmatratze aufgeblasen und sie mit dem schönen blauen Schlafsack aus Silon bedeckt. Er schnaufte und schnarchte. „Gott straft mich“, flüsterte Michal Exner. Dann trat er ans Fenster, zog am Rollo und ließ es mit Getöse hochschnellen. „Gendarmen!“ brüllte er. „Auf!“ Es geschah etwas Sonderbares. Nämlich: Niemand stand auf. Nur der Fahrer des Dienstwagens Bohouš Vok richtete sich schlapp zum Sitzen auf, schnappte mit offenem Munde nach Luft und murmelte im Schlaf: „Hähnchen nicht. Eher Pute. Und hauptsächlich ein Bier … He … Michal … Die Biene nicht … Ich kann doch nicht– dauernd Weiber fahren …“ Er gähnte und legte sich wieder hin. Vlček schnaufte, blinzelte und stützte sich auf die Ellbogen. „Servus, mein Kapitän“, sagte er müde. „Ist es schon Morgen? Herrgott, das Rollo macht einen Krach. 130
Hast du eine angenehme Nacht bei den Bisons verbracht? Was machen die Känguruhs?“ „Sie hopsen“, sagte Exner trocken. Beránek rollte seinen Bauch herum und setzte die Füße von der Couch auf den Boden. „Ist das ein Krawall am frühen Morgen“, sagte er undeutlich. „Ich hab so’n komischen Geschmack im Munde … Hör mal, Kamerad“, sagte er mit der Stimme eines völlig erschöpften Menschen. „Du bist irgendwie putzmunter, und das kommt mir um diese Stunde sehr verdächtig vor … Wo warst du?“ „In der Vinohradská.“ „Im Frauenwohnheim?“ „Genau.“ „Herr im Himmel!“ Beránek nahm seinen schweren Kopf in die Hände. „Dort darf man doch nicht ’rein!“ „Stimmt“, bestätigte Exner trocken. „Ich war aber dienstlich dort. Und ihr … seid froh, ihr zwei, daß ich von der Entführung schweige. Ich hoffe, es ist das letzte Mal, daß eure Gangsterbande in Aktion war.“ „Vielleicht“, sagte Beránek, „das letzte Mal. Wenn sich keine neue Gelegenheit bieten wird …“ „Was werden wir machen“, fragte Vlček verdrossen, „so früh am Morgen?“ „Kaffee kochen.“ „Wir haben schon alles weggetrunken“, konstatierte Beránek traurig. „Es heißt sowieso, du trinkst zuviel Kaffee.“ „Dann putzt euch die Zähne“, sagte Exner väterlich, „und darin fassen wir alles zusammen.“ „Ohne Frühstück?“ fragte Beránek. „Ja.“ „Du hast irgendwo gegessen!“ „Gewiß, lieber Leutnant. Und gut.“ „Jesus Maria“, stöhnte Beránek. „Und dann fahrt ihr in den Zoo.“ 131
„Nur wir?“ interessierte sich Vlácek. „Gewiß.“ „Und du wirst … wo …?“ „Hier“, sagte Exner mit wonnig böswilligem Lächeln. „Hier auf dieser Couch werde ich schlafen. Und gegen Mittag bin ich bei euch.“
49 „Die Mutti“, sagte Ingenieur Berka, „weiß sicher am besten, warum sie deine Morgenspaziergänge einschränken will.“ Er schätzte im stillen ein, daß die gestrige Aussprache einen wohltuenden Einfluß auf seine Frau gehabt hatte. Leichten Herzens stieg er in den Autobus, um zu seiner Arbeit in einem pharmazeutischen Betrieb zu fahren. Er war stellvertretender Chef des Versuchslabors. Im Labor war zu Beginn der Arbeitszeit zuviel Betrieb, als daß er in Ruhe sein privates Leben überdenken konnte. „Uns geht es schön von der Hand“, lobte er sich selber beim Chef. „Ich spring mal schnell auf einen Kaffee.“ Die nett anzusehende Kantine lag neben dem Pförtnerhaus gleich am Betriebsspeisesaal. Berka kaufte sich seinen Kaffee und zog sich damit zu einem Tischchen am Fenster zurück. Hier durfte man rauchen, und deshalb steckte er sich eine an. Er knabberte Schokoladenkekse und vergnügte sich mit der Beobachtung des Hofes, wo eigentlich gar nichts zu beobachten war. Nur ein Mädchen, das sich vor einer Weile zwanzig Deka Salami und zwei Semmeln gekauft hatte. In der Hälfte des Hofes wartete ein Mann auf sie, offenbar ein Kollege – Berka kannte weder sie noch ihn, sie waren zu jung, sie vielleicht Arbeiterin, er Laborant –, 132
und sie beugten sich zueinander, das war die Andeutung einer vertraulichen Berührung. Sie begannen gemeinsam das gekaufte Frühstück zu konsumieren. Die beobachtete Szene war einfach, natürlich und ohne jeden Hintersinn. Sie genügte aber, um die düsteren Gedanken des Ingenieurs Berka erneut zu wecken. Es begann mit einem bedrückenden Gefühl über dieses morgendliche Einvernehmen, das in seinem Leben nicht üblich war. Der Strom der Überlegungen floß am Ende unaufhaltsam dahin, getrieben von Vorstellungen, bei denen sich Berka die Kehle zuschnürte und das Blut schäumte. Seine Frau hatte gestern jeden Verdacht von sich gewiesen. Um ihm zu beweisen, daß sie ihre Worte ernst meinte, hatte sie am Morgen auf ihren üblichen Spaziergang, bei dem sie sich mit diesem Kerl zu treffen pflegte, verzichtet. Aber was, wenn das alles nur ein niederträchtiges Spiel ist? Um ihn zu beschwichtigen und sich selber Ruhe und Sicherheit zu gewährleisten. In den Zoo wird sie ja doch fahren, und Berka wurde sich mit dem Haß des Eifersüchtigen bewußt, daß die Tageszeit hier eigentlich keine Rolle spielte und auch nicht spielen konnte, da es gerade im Verlauf der endlosen Stunden, die seine Frau im Zoo verbrachte, auch viele endlose unkontrollierbare Stunden gab, die sonstwo genossen werden konnten. Aus dem Verdacht erwuchs Gewißheit. Daraus eine noch größere Welle von Eifersucht, eine unendlich hohe Welle. Josef Berka mußte sich durch eine Tat beruhigen. Er kehrte ins Labor zurück, wo er mitteilte, er müsse in die Schule. Eine Unannehmlichkeit mit dem Sohn Pepík, am Morgen habe er es völlig vergessen. Er rannte aus der Fabrik und hielt ein Taxi an. Schob seine Gestalt von fast zwei Metern auf den Rücksitz. „Zum Zoo“, befahl er. „Was?“ fragte der Taxifahrer. „Wohin?“ 133
„Zum zoologischen Garten, aber schnell.“ „Aber ja doch“, sagte der Mann am Lenkrad ruhig. „Da sind Ihnen wohl die Affen scheu geworden, was?“
50 Das Mädchen oder der Junge, das ließ sich schwer unterscheiden bei diesem Alter um drei, drängte sich wütend zur Tür des Autobusses, der an der Endstation am zoologischen Garten angehalten hatte. Ganz bestimmt wäre das Kind herausgefallen und hätte sich zumindest die Nase am Geländer aufgeschlagen, wenn es nicht der freundliche ältere Herr aufgefangen hätte. Er übergab das ausgelassene Kind der Mutter und wies mit bescheidenem Lächeln deren Dank zurück. Leicht neigte er vor der jungen Frau seinen schönen, weißhaarigen Kopf und schritt zum Eingang, sich leicht auf seinen zusammengerollten Regenschirm stützend. Adolf Kroupa war an diesem Morgen in hervorragender Form und fand nichts, was ihm die Laune verderben könnte. Er hatte sich ausgeruht, bestens ausgeschlafen, und die schon reichlich verbrauchten Gelenke signalisierten anständiges und dauerhaftes Wetter. Er war sogar innerlich geneigt, ein paar freundliche Worte an Božena Ciprová zu richten, bereit, die Tatsache zu vergessen, daß diese Frau ansonsten ganz unmöglich war. Die allgemeine Zuneigung zur Welt und damit auch zur Ciprová verging ihm in dem Augenblick, da er sie auf einer Bank in der Nähe des Eingangs erblickte. Ziemlich ramponiert und zerknittert, weil sie wohl erst gegen Morgen irgendwo unter einer Straßenlaterne eingeschlafen war; vielsagend mit den Äuglein zwinkernd, in denen noch die Flämmchen des Alkohols schimmerten. 134
Er setzte augenblicks den kalten Ausdruck von Ernst und Geistesabwesenheit auf, wobei er so mit dem Kopf nickte, daß das sowohl ein Gruß als auch das unwillkürliche Neigen des alten, schönen Kopfes sein konnte. Und er hatte die Vorahnung, daß diese Zusammenarbeit, die bis jetzt erfolgreich geschienen hatte, nicht lange dauern könne. Als walkte ihm die bloße Anwesenheit dieser Frau die Bügelfalten an der Hose aus. Er begab sich zu den Raubkatzen; später sollten sie, nach dem gestern verabredeten Plan, zu den Känguruhs und Zebras weitergehen. Denn bei dem Elefanten und dem Nashorn, so meinte er, würde es diesmal vielleicht gefährlich sein.
51 Die ganze Fahrt sprachen sie kein Wort, aber zwischen ihnen war nichts Gutes, denn wenn er sich an der Lehne festhielt, hatte sie ihre Hand entweder auf der seinen oder dicht daneben; doch er tat nichts, was angedeutet hätte, daß ihm das angenehm war. Es war noch nicht die Zeit, da die Besucher anfangen in den Zoo zu fahren, so daß der Autobus halbleer war. Sie schauten durch die Scheibe auf die hundertmal gesehene Straße, die Villen und den Fluß und dachten an sonstwas. Beim Aussteigen reichte er ihr die Hand. Marie Faltysová lächelte. „Ich bin froh“, sagte sie, als sie Hand in Hand zum Zoo-Eingang schritten, „daß wir wieder einmal beisammen waren.“ Er drückte sie ein bißchen an sich. „Nächstes Mal …“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber da vernahmen sie heranfahrende Autos. Bis hierher zum Eingang durften keine Autos fahren, aber es waren 135
zwei schwarze Tatras. Offenbar eine Delegation. Sie machten ihnen den Weg frei. Als die Autos anhielten, quollen ein ganzes Dutzend junger Burschen heraus, die nicht nach einer Delegation aussahen. Es war die Gruppe von Vlčeks Mannen, von ihm persönlich geleitet. Im Schlepp folgte ihnen mit einem gewissen Abstand Leutnant Beránek. Bohouš Vok nickte dem zweiten Fahrer zu, sie setzten zurück und fuhren schaukelnd zum Parkplatz, gefolgt von dem strengen Auge des Polizeiangehörigen, der an diesem Ort ständig den Verkehr beaufsichtigte. Die Jungen drangen ins Direktionsgebäude ein, in ihrer Energie und Frische Löwen ähnelnd, die einen entsprungenen Tiger einfangen wollen.
52 Miroslava Berková verrichtete an diesem Morgen die üblichen Arbeiten einer Hausfrau. Sie wusch das Geschirr und machte den Sohn für die Schule fertig. Vom Angeln wurde nicht gesprochen. Der Schüler Berka war offensichtlich verstockt und beleidigt, er lehnte es ab, den Gegenstand des Zwistes zu entwickeln. Dann machte sie sich fertig, holte aus der Kammer einen Korb sauberer Wäsche, sprengte diese ein, legte sie zusammen und verließ mit dem Korb unterm Arm die Wohnung. Auf dem Korb balancierten der Skizzenblock und die Aktentasche. Sie schloß den Wagen auf, verstaute die Wäsche auf dem Rücksitz, fuhr auf die Hauptstraße des Stadtviertels, wo sich die Wäschemangel und Bügelei befanden. Einen Block weiter suchte sie die Reinigung auf, wo sie einen Armvoll Kleider und Pullover für die ganze Familie abholte. 136
Dann startete sie und fuhr zum zoologischen Garten. Es herrschte wirklich schönes Wetter an diesem Tage; frisch und ein hoher Himmel und so viel gutes Licht, daß es selbst den Dreck auf der Straße und den abblätternden Putz angenehm zu beleuchten vermochte; und die kostbaren Dinge, ob nun Bäume oder Gebäude, glänzten geradezu. Und Frau Berková am Steuer des Wagens machte die Stadt noch schöner. Auf dem Parkplatz am Zoo wollte sie auf der üblichen Stelle im Schatten parken. Aber heute war sie besetzt. Sie fuhr bis dahin zurück, wo ihrer Schätzung nach in zwei Stunden der Schatten eines Baumes sein mußte. Entweder war sie so ein Charakter, oder sie hatte den Kopf voller Gedanken, daß sie der Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit widmete. Sie suchte sich einfach ihren Weg und war weder neugierig auf die Herren, die offensichtlich neugierig auf sie waren, noch auf die Schönheit der Kastanienbäume und das neulackierte Geländer am Eingang. Der Einlaßpförtner, der die Karten abriß, kannte sie und grüßte, sie antwortete ihm kaum mit einem Kopfnicken, sondern lenkte ihre Schritte geradewegs zu den Gehegen, keine Spaziergänge, kein Verweilen, weder bei dem bettelnden Bären noch bei der bis zur Verblödung im Bassin kreisenden Robbe, noch bei den mit Lust die Späße des neuen Tages erwartenden Affen. Sie hatte offenbar den Kopf voll mit ihren Känguruhs.
53 Der bekannte Grafiker Miroslav Václavík war sehr unzufrieden. Am Morgen hatte seine Frau Anna sehr lange mit ihrer frisch verwitweten Schwester gesprochen. Von 137
den Einzelheiten des Gesprächs hatte er keine Ahnung, weil er noch geschlafen hatte. Er war nämlich wie üblich recht spät heimgekehrt. Allerdings war das Ergebnis des Gesprächs für ihn sehr unangenehm. Das Wesen der Angelegenheit bestand darin, daß er das einzige männliche Mitglied der Trauerfamilie war, und aus dieser Tatsache ging eine unliebsame Schlußfolgerung hervor – daß er sich um die letzten Dinge des verstorbenen Milan Veber zu kümmern hatte. Das war eine klare Pflicht, berechtigt obendrein, und Václavík konnte sich, auch wenn er das furchtbar gern getan hätte, auf nichts herausreden. So daß er, statt wie jeden Vormittag seinen Angelegenheiten nachzugehen, gezwungen war, zu seiner Schwägerin zu starten. Er parkte auf der um die Siedlung führenden Umgehungsstraße und begab sich auf dem asphaltierten Fußweg zwischen dem schütteren Gras und den ärmlich traurigen Sträuchern, von denen man nicht wußte, ob sie überhaupt jemals wachsen würden, zur Wohnung der Vebers. Den Mann, der in einer Entfernung von zehn, fünfzehn Metern auf einem Parallelweg in der Gegenrichtung schritt, konnte man nicht übersehen. Doktor Hromádka begab sich etwas später zu seiner Arbeit, wie sich das ein höherer Beamter erlauben kann … „Herr Doktor!“ rief Václavík. „So ein glücklicher Zufall! Guten Tag!“ Und er eilte mit ausgestreckter Hand über den Unkrautbewuchs, der hierzulande in den Parks den Rasen vertritt, zu Hromádka. Das Institut, in dem Doktor Hromádka eine leitende Stellung innehatte, gehörte zu den sehr guten Kunden von Václavík, und es war unerläßlich, solche Kunden zu beachten und zu schätzen. Schließlich sind die freischaffenden Künstler die letzten Gewerbetreibenden, und es bleibt ihnen nichts übrig, als so zu handeln. „Aber Meister!“ rief Doktor Hromádka herzlich. „Was führt denn Sie in diese Gegend?“ 138
„Eine ärgerliche Sache, Herr Doktor. Ich muß zu meiner Schwägerin. Der Schwager ist gestorben … Familienangelegenheiten, Sie verstehen. Nicht, daß ich ihn geliebt hätte, er war ein langweiliger Patron, aber im großen und ganzen konnte man mit ihm gut auskommen.“ Er lachte. „Sie werden ihn bestimmt kennen. Er wohnte hier um die Ecke, Veber, Milan Veber.“ „Nein … ich wüßte nicht …“, begann Hromádka ziemlich unsicher. Václavík dachte einen Augenblick nach. „Aber ja doch!“ rief er erfreut. „Ich möchte wetten, daß Sie ihn gekannt haben!“ „Ich kann mich nicht erinnern, woher ich ihn … Wirklich, Meister …“ „Na klar! Vor zweieinhalb Jahren. Wir waren, glaube ich, sechs und hatten das Honorar für eine internationale Ausstellung bekommen.“ „Ja, richtig. Die Erwachsenenbildung in der Geschichte des tschechischen Volkes.“ „Ja … gewiß. Das war ich, dann Klabouch, Frau Berková, die machte solches Kroppzeug aus Gips, dann der Janoušek … na, den hatten Sie dort mehr zur Repräsentation.“ Und er zählte weiter an den Fingern ab: „Die Horová und Erbert.“ „Ja, aber …“ Obwohl ein frischer Morgenwind blies, schien es, daß Hromádka in der Weste und dem zugeknöpften Sakko recht heiß war. „Wir feierten das. Fingen bei Ihnen im Büro an … Dann um die Ecke in der Weinstube. Dann wußten wir nicht, wohin, und ich rief den Schwager an. So zogen wir zu ihm in die Wohnung. Sie haben noch gescherzt, daß gleich um die Ecke Ihre Frau wohnt, und wenn die Sie sähe … Und dann gingen wir wieder in die Stadt …“ Václavík lachte auf. „Und am Tage drauf kriegten Sie einen Gallenanfall. Na ja, Sie haben Veber bestimmt gekannt. Der arme Kerl. Wissen Sie, was ihm passiert ist?“ 139
„Nein.“ „Es ist unglaublich in dieser Langweile des Alltags, aber man hat ihn ermordet, meiner Seel, ermordet.“ Hromádka schwitzte so, daß er sich die Stirn mit dem Taschentuch abwischen mußte. „Furchtbar“, hauchte er. „Hier in der Nähe, stellen Sie sich das vor! Haben Sie nicht davon gehört?“ „Na … meine Frau hat etwas gesagt … Das ist ja wirklich furchtbar …“ Doktor Hromádka wechselte die Farbe. „Also, Ihr Schwager … Ja …“ „Bei mir war einer von der Kripo“, vertraute sich Václavík an, „aber die sind auch ganz perplex. So kam es mir wenigstens vor. Tatsache.“ Hromádka schüttelte den Kopf, und das konnte sonstwas bedeuten. „Das ist wirklich …“, sagte er teilnahmsvoll und verlor seine lärmende Biederkeit, „eine Katastrophe, Meister …“
54 Die Jungs von der Polizei machten sich an die gründliche Durchsuchung des veterinärärztlichen Behandlungsraums. Einer ging aufmerksam zwischen den Schuppen und Käfigen und den Sträuchern des eingezäunten Geländes hin und her, das man allgemein Quarantäne nannte. Zwei Veterinäre und der Direktor des Zoos blickten eine Weile mit mäßig entsetzten Augen auf das Werk da drin und gingen dann lieber vor die Baracke. Dort stand Oberleutnant Vlček, die Hände auf dem Rücken, und vergnügte sich daran, wie Beránek versuchte, bei dem einsamen Bärchen im Käfig Interesse für seine Person zu gewinnen. 140
Vlček versuchte sich die Pfeife anzuzünden und blickte neidisch auf die des Direktors, ein ausgeklügeltes Instrument ausländischer Erzeugung. Doktor Velenínský hatte an diesem Tag eine andere, genauso prunklose Verkleidung angelegt: Jeans, kariertes Hemd in schottischen Farben und eine Mütze aus dem gleichen Material. „Werden Sie uns Fragen stellen?“ fragte der ältere Veterinär den Oberleutnant. „Mm …“, murmelte dieser mit der Pfeife im Munde. „Für das Fragenstellen ist mehr der Kapitän Exner da. Wir“, und er zeigte mit dem Kopf auf Beránek, „mehr für die Fakten. Wenn es eine Kladde gäbe … eine ganz gewöhnliche Kladde, wo schlicht und knapp angeführt ist, daß die betreffenden Narkotisierungsspritzen oder Patronen dann und dann angewendet wurden und daß so und so viele verbraucht wurden …“ „Leider, ein solches Buch … Wir haben doch diese Eventualität nicht vermutet …“ „Und außerdem“, fiel seinem Kollegen der jüngere Veterinär ins Wort, „existiert bei uns zur Zeit keinerlei Vorschrift, amtliche Anordnung, Bekanntmachung oder dergleichen, wo amtlich festgelegt wird, wie mit diesem Material umzugehen und wie es deponiert werden soll.“ „Die Narkotisierungspatronen“, ergänzte der Direktor, „sind eigentlich gar nicht im Verzeichnis der Medikamente aufgeführt. Es handelte sich um ein Geschenk des Londoner Zoos. So eine Sache ist verhältnismäßig teuer, und unser Zoo ist zu arm, besonders an Devisen, so daß der Ankauf zur gegenwärtigen Zeit nicht tragbar wäre. Es ist ein hervorragendes Hilfsmittel, aber die Ansicht derer, die uns die Finanzmittel zuteilen, ist sehr einseitig: Jahrelang seid ihr ohne das Zeug ausgekommen, also braucht ihr es auch jetzt nicht.“ Vlček nickte zum Zeichen, daß. er alles verstanden hatte. „So daß Sie eigentlich gar nicht wissen, ob welche verlorengegangen sind.“ 141
Der Direktor schob die Mütze in den Nacken. Der jüngere Veterinär sagte: „Wenn es mehr als eine wäre, müßte ich das erkennen.“ „Nach dem Augenschein?“ fragte Beránek vom Bärenkäfig her. „Ja.“ „Das sind Freuden“, erklärte Beránek mit den geflügelten Worten des Kapitäns Exner. „Erlauben Sie, Herr Direktor, daß ich ein bißchen durch den Zoo spaziere?“ „Natürlich.“ „Irgendwo abseits werde ich mir eine Bank suchen und dort in aller Ruhe arbeiten“, meinte der Leutnant und schlenderte, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Käfigen mit den Hühnervögeln von dannen. Dann drehte er sich noch einmal um und rief: „Weißt du, was mir eingefallen ist?“ „Weiß ich“, sagte Vlček. „Jemand sollte hier auch ein paar Erdproben nehmen.“
55 „Ich weiß“, sagte Václavík zu seiner Schwägerin mit aufrichtigem Mitgefühl. „Retten läßt sich nichts mehr und rückgängig machen auch nicht. Aber Jana, unter uns und Hand aufs Herz, weißt du wirklich nicht, was dahinterstecken könnte? Mein Gott, man kann doch nicht wegen nichts und wieder nichts …“ Sie schüttelte den Kopf. Ihren Schwager hielt sie im Hinblick auf seine Profession und seinen Lebenswandel für einigermaßen unnormal, aber sie war bereit, sich ihm mit vielen Dingen anzuvertrauen, die sie vor anderen verheimlicht hätte. Vielleicht gerade deshalb, weil er in ihrem Leben die Rolle eines kleinen Hofnarren spielte. Sie sagte ihm das, und er lachte. „Das ist schön“, sag142
te er anerkennend, „aber die ganze Sache ist sonderbar. Du kannst doch nicht die Hand aufs Herz legen und schwören, daß er an den Abenden, da er seinen Geschäften nachging, wirklich nur seinen Geschäften nachgegangen ist und daß er sich nicht in andere, krumme, aber vielleicht einträglichere Geschäfte eingelassen hat.“ „Das hätte ich doch irgendwie merken müssen, oder?“ Ins Zimmer kam die Sonne herein. Jana Vebrová trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu. „Mir brennen die Augen“, erklärte sie. „Vom Weinen?“ fragte er mitleidlos. „Weil ich glaube“, sagte Frau Vebrová ruhig, „daß dich die ganze Angelegenheit nicht berührt hat, kann ich mir nicht recht erklären, warum du eigentlich gekommen bist.“ „Die Pflichten“, antwortete Václavík. „Es ist eine Familienangelegenheit, und Anna meint …“ „… daß ich Hilfe brauche bei der Erledigung der letzten Dinge eines Menschen.“ „Genau so.“ „Zum Unterschied von dir war Milan kein Zyniker.“ Václavík stieß einen Seufzer aus. „Es ist überflüssig, davon zu sprechen, was er war oder nicht war. Jetzt ist es dazu wirklich zu spät. Über die Toten nur Gutes. Übrigens“, fügte er hinzu, „könnte ich ohnehin nichts Schlechtes über ihn sagen.“ „Für die Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeit danke ich. Das schlimmste war die Nacht. Die erste Nacht. Die Besuche dieser … wie nennt man sie gleich …“ „Untersuchungsbeamten.“ „Ja, also die haben mich ein bißchen vergessen lassen. Der vorbildlich gekleidete Herr hat sich allerdings nicht vorbildlich verhalten.“ „Wundere dich nicht. Er untersucht einen Mord.“ „Und war es ein Mord? Unsinn!“ „Er behauptet es“, sagte Václavík bekümmert. „Ich 143
denke, die haben da ihre Erfahrungen. Zumindest um zu erkennen, ob es ein Mord war oder nicht. Übrigens bin ich überzeugt, daß Kapitän Exner diesen Playboy nur spielt.“ „Du kennst ihn?“ „Ich habe einmal mit ihm gesprochen und ihm offen gesagt, daß das alles ein Irrtum sein muß. Ich bin mir dessen fast sicher. Du nicht?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Jana Vebrová trocken. „Ich habe noch nicht einmal richtig aufgenommen, daß Milan aufgehört hat zu existieren. Das muß ein entsetzlicher Zufall gewesen sein. Ein furchtbarer und quälender Irrtum, wie du sagst.“
56 In dem oberen Restaurant neben den Bisons und oberhalb der Hirsche nahm der ehrenwerte Herr Adolf Kroupa Platz, ließ sich ein Paar Würstchen und ein Bier bringen und speiste mit erlesenen Manieren. Božena Ciprová schlich an ihm vorbei und zischte: „Zu den Giraffen.“ Er schüttelte den Kopf. „Unten ist ein Zettel, daß sie eine neue Herde gebracht haben. Jeder drängt sich da hin.“ Und sie verschwand. Kroupa schaute sich würdevoll um. Ihm schien, daß keiner der Besucher dieses Restaurants das kurze Gespräch mitbekommen hatte. Ihm kam auch niemand verdächtig vor. Unweit, vorn an der Brüstung, wo man die Aussicht auf ein Stück Natur zum Fluß hin hatte, saß ein dicklicher Mann. Daß er sich für den schönen Ausblick nicht interessierte, tat er unverhohlen kund, indem er gerade 144
dieser Aussicht den Rücken zuwandte. Er blätterte in einem kleinen Notizbuch und machte sich von Zeit zu Zeit eine Anmerkung in ein umfangreiches schwarzes Notizbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er trank Bier und kaute gedankenlos eine Semmel. Adolf Kroupa starrte ihn an – dabei konnte es scheinen, daß er nur so in den Wald hinter dem Restaurant schaute – und dachte angestrengt nach, wo er ihm begegnet war und warum er in der Tiefe seiner Seele ahnte, daß das keine angenehme Begegnung gewesen war. Leutnant Beránek hob den Kopf von seinem Notizbuch und erstarrte für eine Weile. Sein Blick blieb auf den grauen Schläfen Adolf Kroupas haften. Dann lächelte er verdächtig freundlich und nickte zum Gruß. Adolf Kroupa erwiderte ihn reserviert. Und auf einmal begriff er, um wen es sich handelte, und ihm wurde der Rücken feucht. Es wäre unwürdig, zu verschwinden, fiel ihm augenblicks ein. Und außerdem höchst verdächtig. Er aß seine Würstchen auf und trank sein Bier aus. Den Burschen an der Brüstung schaute er nicht mehr an, blinzelte nur gelegentlich in seine Richtung. Er konnte feststellen, daß sich der Spitzel nicht sonderlich für ihn interessierte, sondern nur weiter über seinem Notizbuch grübelte. Allerdings wußte Kroupa aus den langjährigen Erfahrungen seines bewegten Lebens, daß man Spitzeln nicht trauen darf, und er bekam eine Wut auf Božena Ciprová, weil sie ihn in diese gefährliche Tätigkeit hineingezogen hatte. Der Kerl ist vielleicht durch Zufall hier. Oder es ist kein Zufall, und dann ist es schlimm. Das hier muß man überhaupt aufgeben, denn dieses Weib hat in seiner Gier gleich am ersten Tag alles übertrieben. Adolf Kroupa seufzte über seine unglückliche Jugend, die ihn einst in die Gesellschaft solcher Weiber geführt hatte und obendrein so blöd, daß er sich ihnen auch jetzt verpflichtet 145
fühlen mußte, da er die glänzende Position eines unabhängigen Rentners erreicht hatte. Ohne Eile zahlte er, und als der Kellner davonwatschelte, griff er nach dem Regenschirm und erhob sich. Beránek schaute ihn abermals an und lächelte wieder. Dann stand er auf und trat zu ihm. „Wenn mich mein Auge nicht täuscht“, sagte er freundschaftlich, „der Herr Kroupa. Adolf Kroupa.“ „Ja …“ Kroupa richtete sich zu einer leicht vorgeneigten Grundstellung auf. „Adolf Kroupa ist mein Name. Ich kann mich allerdings momentan nicht erinnern …“ „Woher wir uns kennen?“ „Ja, bitte.“ Beránek neigte sich zu ihm und sagte halblaut: „Von der Kripo, Herr Kroupa. Haben Sie eine Neuerwerbung hier?“ „Erlauben Sie? Bitte, das …“ Kroupa stellte sich nicht beleidigt, sondern nur peinlich berührt und verständnislos. „Nichts für ungut“, beruhigte ihn Beránek. „Auch in Ihrem Alter wäre Heiratsschwindel aussichtsreich. Es freut mich, daß Sie so fabelhaft aussehen.“ „Das habe ich schon längst aufgegeben, Herr … Herr …“ „Beránek.“ „Bitte, Herr Beránek, schon längst.“ „Und etwas anderes?“ „Was bitte?“ „Na, ich hab’ was läuten hören … von Diebstählen …“ „Verzeihen Sie, aber das habe ich niemals getan. Mein Gott“, und Kroupas Muskeln verhärteten sich, „das kann ich doch gar nicht. Meiner Lebtage habe ich das nicht getan. Niemals, Herr Beránek. Ich werde doch auf die alten Tage …“ „Ohne Beleidigung, ich hab’ es nur gut gemeint …“ „Ich bin ja nicht beleidigt, bitte. Ich will Sie nur überzeugen, daß ein alter, erfahrener Mann wie ich …“ 146
„Alles in Ordnung, Herr Kroupa“, sagte Beránek herzlich, „mir will es nur nicht in den Kopf, wo Sie, ein alter Betrüger, die Liebe zu den Tieren herhaben.“ Kroupa lächelte bescheiden. „Das hat bitte überhaupt nichts zu bedeuten … Diese Liebe, meine ich … Ich habe meine Rente, Herr Leutnant, eine Menge freie Zeit, und hier ist es sehr hübsch …“ „Verstehe“, sagte Beránek. „Dennoch will es mir nicht in den Kopf, Herr Kroupa, daß ich ausgerechnet Sie, einen solchen guten alten Bekannten, im Bereich von Taschendieben treffe … und …“ Beránek lächelte. „Und?“ Kroupa neigte klug und intelligent den Kopf vor. „Und eines Mordes“, sagte Beránek trocken.
57 „Um Himmels willen, das doch wohl nicht!“ stieß Adolf Kroupa hervor. „Es ist nun mal so“, bestätigte Beránek. „Wie oft kommen Sie hierher?“ „Sie denken doch nicht vielleicht … Um Himmels willen!“ „Ich denke überhaupt wenig, Herr Kroupa. Das überlasse ich Berufeneren. Mich interessiert nur, wie oft Sie hier erscheinen.“ „Ich bin hier … vielleicht … vielleicht zum zweiten oder dritten Mal. Wenn günstiges Wetter ist. In der letzten Zeit plagt mich das Rheuma, Herr Leutnant.“ „Und Sie interessieren sich nur für die Tiere.“ „Und für das schöne Milieu des Gartens.“ „Lassen wir die Dichtung. Haben Sie immer noch die gleiche Adresse?“ „Natürlich. Ein alter Mensch wechselt nicht gern das Milieu …“ 147
„Und die Gewohnheiten“, ergänzte Beránek. „Dann weiterhin gute Gesundheit, Herr Kroupa“, sagte er herzlich und kehrte zu seinen Notizbüchern zurück. Es dauerte eine Weile, bis Adolf Kroupa die Beine bewegen konnte. Aber er hielt sich und verließ das Restaurant langsam und gemessen. Er drehte sich sogar noch einmal um, um mit einer leichten Verbeugung zu grüßen. Aber Beránek stierte nur in die Notizbücher. Auch auf dem zu den Kamelen, Zebras und Känguruhs führenden Weg legte Adolf Kroupa keinen Schritt zu. Das wäre in jedem Fall verdächtig gewesen, weil von diesen Kerlen hier mehrere sein konnten. Und außerdem mußte er sich die Dinge durch den Kopf gehen lassen. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die malende Frau in dem leeren Gehege neben den Känguruhs. Er hatte andere Sorgen, niemals konnte diese Frau in das Gebiet seiner Interessen blicken. Und ihm kam der Gedanke, daß der lange Lulatsch, der so eilig und mit erzürntem Gesicht an ihm vorbeischwebte, zu dem Spitzel dort oben gehörte. Er sah aus wie ein Intelligenzler, ihm hätte Kroupa nicht in die Hände fallen wollen. Als er diesen Fakt bedachte und Beráneks dienstliche Stellung und das Aussehen des Burschen einschätzte, der im Tempo eines Rennpferdes an ihm vorbeigerannt war, kam er zu dem Schluß, daß die wohl wirklich nicht nur wegen läppischer Taschendiebstähle hier waren. Der Gedanke fesselte ihn, er blieb für eine Weile stehen und starrte auf das Kamel. Solange die Ciprová das Maul hält, kann ihm doch eigentlich nichts passieren. Und Božena wird das Maul halten, wenn sie nicht im Tran ist. Und wenn sie sie schnappen, wird sie zu keinem Tröpfchen Alkohol kommen. 148
Dieser Gedankengang munterte Adolf Kroupa auf. Er setzte also seinen Weg fort. Hinter sich vernahm er Lärm und einen Schrei. Am liebsten wäre er auf einen Nebenweg abgebogen. Er bemerkte, daß an der Stelle, woher der Schrei erklungen war, die Leute zusammenliefen. Jetzt konnte er nicht mehr in der gleichen Richtung weitergehen. Das wäre aufgefallen. Er machte also kehrt und folgte den übrigen Zoobesuchern. Und so wurde Adolf Kroupa durch die Umstände gezwungen, seinem weiteren, noch verwickelteren Schicksal entgegenzugehen.
58 „Frau Architektin“, rief die Leiterin der Möbelverkaufsstelle durch den ganzen Laden und wedelte mit dem Telefonhörer, „für Sie, ein Herr Exner!“ „Ich eile!“ Und wie sie da so eilte, schaute ihr über das Reißbrett der Herr Architekt Krule nach. Er hatte auch früher so geschaut und war immer sehr zufrieden gewesen mit der Mode, die dem weißen Arbeitskittel eine geringfügige Länge erlaubte. Jetzt aber schien ihm der Galopp der langen und weitgehend entblößten Beine schamlos. „Ja, Michal …“, sagte sie, ins Ungewisse blickend. Dann sagte sie nur noch wenig. Aber offenbar amüsierte sie sich bestens. Einige Male lachte sie, als erzählte er ihr die neuesten Witze. Und sie versprach, zum Abendessen zu kommen. Krule sah nicht aus, als freute ihn das. Sie kehrte an ihr Reißbrett zurück, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete eine Weile den Bogen Papier, auf dem reineweg nichts war. Krule regte das auf. Zuerst räusperte er sich eine Wei149
le. Aber das störte sie nicht. Schließlich sagte er: „Er war gestern abend bei mir …“ Sie zuckte zusammen. „Wer?“ „Der elegante Pinkel, der gestern hier herumgelungert ist“, sagte Krule grob. „Er benahm sich, als wäre er zu Hause; es fehlte nur noch, daß er die Füße auf den Tisch gelegt hätte.“ „Wirklich?“ wunderte sie sich. „Ja“, stimmte sie dann zu, „ein bißchen aufdringlich ist er“, und sie lächelte irgendwie matt und träumerisch. „Stellen Sie sich vor, zu mir ist er abends auch noch gekommen.“ „Ich dachte, er hätte Sie nur am Nachmittag verhört.“ Sie seufzte auf. „Ja. Und stellen Sie sich vor, auch abends. Eigentlich in der Nacht! Er war so frech, daß er bis in mein Zimmer im Frauenwohnheim vordrang.“ „Dieser Mensch wäre offenbar fähig, in Schuhen in ein fremdes Bett zu kriechen.“ „Gewiß“, räumte sie ein. „In Schuhen vielleicht nicht. Was meinen Sie – wissen die was?“ „Worüber?“ fragte Krule grantig. „Wie das mit Veber passiert ist. Das kann doch …“ „Ich hatte gedacht“, sagte Krule zugeknöpft, „daß er Ihnen das gestern abend erzählt hat.“ „Nein. Wir haben nur …“ Sie hielt inne. Und statt zu sagen: über ganz andere Dinge gesprochen, sprach sie weise: „… über unsere Arbeit hier gesprochen … . mit wem er verkehrt hat … Ich glaube, ich konnte ihm keine besonderen Informationen geben.“ „Ich glaube, das war auch nicht der Grund für sein Kommen.“ „Aber ja doch. Er war sehr neugierig“, erklärte Eliška Libšerová. Und dann fügte sie hinzu, wohl um abzulenken: „Mir ist eingefallen, Herr Kollege, daß er vielleicht ein Doppelleben geführt hat. Hier unter uns der Kollege, der das gleiche tut wie wir, und abends, allein, hat er sich in eine besondere Geschichte verwickelt …“ 150
„Unsinn“, stieß Krule hervor, daß ihm fast die Pfeife aus dem Munde fiel. „Ich hoffe, er hat Sie aufmerksam angehört, als Sie ihm diese Ihre Theorien vorgetragen haben.“ „Ich hab’ sie ihm nicht vorgetragen“, sagte Eliška Libšerová aufrichtig. „Übrigens hat er nach keiner Theorie gefragt. Aber sagen Sie selbst: Könnte das nicht so sein?“ „Nein“, entschied Krule. „Ich habe Milan seit Jahren gekannt. Ich war sein vertrauter Freund. Unsinn.“ „Aber Sie können doch nicht wissen, was er Tag für Tag gemacht hat, Minute für Minute.“ „Das kann ich nicht. Aber ich wage zu behaupten, daß er nichts Ehrenrühriges …“ „Vielleicht war es nicht ehrenrührig. Es hat nur ein schlimmes Ende genommen.“ Krule schien unschlüssig. „Vielleicht ist er auf etwas gestoßen. Oder hat jemanden entlarvt“, träumte Eliška. „Bedenken Sie doch, mit wieviel Menschen wir zusammenkommen – wieviel Familien und Haushalte wir besuchen, mit wieviel verschiedenen Menschen wir oft zu tun haben, und wie wir, wenn wir nur ein bißchen wollten, auch andere Dinge wahrnehmen könnten, als es die Aufstellung von Kästen und Couches und Sesseln ist. Und er war vielleicht so einer, hat mehr bemerkt als wir und vielleicht was gesehen und beobachtet. Er war neugierig. Es ließ ihm keine Ruhe. Er stieß auf eine Spur, verstehen Sie, und hat sie verfolgt. Kommt Ihnen das nicht möglich vor?“ Krule zögerte und stopfte sich die Pfeife. „Na ja …“, räumte er nachdenklich ein. „Haben Sie ihm das gesagt?“ „Was und wem?“ „Diese Ihre Theorie diesem feinen Pinkel von einem Kapitän.“ „Er hat nach keiner Theorie gefragt“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Vielleicht sollten Sie …“ „Dazu war keine Gelegenheit. Eigentlich hat er mich 151
nicht sehr zu Worte kommen lassen … Er hielt sich mehr an seine eigenen … Absichten.“ „Ja“, sagte Krule. „Das ist seine Arbeit und sein Beruf. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er ihn nicht gerade erfolgreich ausübt. In keinem Fall mit Konzentration.“ „Da stimme ich Ihnen zu“, sagte Eliška Libšerová ernst. „Jedenfalls zerstreut er sich in seiner Arbeit durch ganz nebensächliche Interessen.“
59 Viele Menschen meinen, daß unsere Werktätigen im Bauwesen den größten Teil ihrer Zeit an verschiedenen anderen Orten verbringen, als es die Baustellen sind, und daß sie sich dort einer systematischen Erfrischung widmen. Dessenungeachtet ist diese Ansicht zu oberflächlich. Die Baustellen wachsen unaufhörlich. Auch Karel Buš hatte an diesem Tage fast systematisch von der Zeit kurz vor acht bis halb zehn gearbeitet, als der Meister eine Pause anordnete. Buš kippte den Beton aus der Schubkarre und wusch sich unter dem Schlauch Hände und Gummistiefel. Seine Arbeitskollegen schwirrten ab ins Restaurant am Haupteingang. Aber Karel Buš hatte andere Ziele. Er hatte seine Träume. Über diese unterhielt er sich mit niemandem, und wenn jemand die Rede auf dieses Thema brachte, dann verwies ihn Karel Buš in die Schranken. Nur Künstler enthüllen schamlos, was sie erträumen. Sie gehen damit sogar auf den Markt, um es zu verkaufen und ihr Wohlleben zu bestreiten. Karel Buš hatte ein paar Bücher gelesen, wo manchmal mehr, ein anderes Mal weniger das veröffentlicht wurde, was der Kern auch seiner Träume war. 152
Er ging nicht ins Restaurant wie die anderen, sondern blieb am Pavillon der Wasservögel stehen, um sich eine Grillwurst mit Brot und eine widerlich süße Limonade zu kaufen, weil der Opa kein Bier führte. Eigentlich ein Glück. Wo hätte er es gekühlt? Das wäre dann die reinste Pisse, urteilte Karel Buš. Und er stieg am Raubtierpavillon vorbei empor auf einem nicht benutzten Weg, hinauf zu den Bisons, den Zebras und vor allem den Känguruhs. Er war in besserer Form als am Vortag. Seine Behausung war feucht und nicht gerade warm, aber wenigstens hatte er sich heute ordentlich ausgeschlafen. Die Aufschrift auf dem Felsen las er sich abermals durch, und abermals zuckte er darüber die Achseln. Auf dem oberen Weg schnaufte er zufrieden, wischte sich einen Schweißtropfen von der Nase, sagte zu dem Bison, der durch das Gitter glotzte, im stillen ‚Grüß dich, Ochse‘ und schlenderte dann zu den Känguruhs. Die Frau stand auf der gleichen Stelle wie am Tag vorher. Und sie sah genauso aus. Der Blick auf einen im Sommer nicht allzu bekleideten Frauenkörper, das war nach der mehrmonatigen Präsenz in einer Erziehungseinrichtung ein ungemein starkes Erlebnis. „Gott im Himmel“, flüsterte er halblaut. Er ging vorbei, als wäre weiter nichts. Um unten auf dem Wege, wenn die Luft rein ist, unauffällig umzukehren und den gleichen Platz wie gestern einzunehmen. Und sie anzustarren.
60 Ausgeschlafen, blitzend und frisch stellte sich Michal Exner zwischen zehn und elf Uhr in der Direktion des zoologischen Gartens ein. „Ach Gottchen“, sagte das Mädchen im Sekretariat lä153
chelnd und verdrehte die wasserhellen Augen, „der Herr Direktor und die Frau Sekretärin sind momentan nicht da …“ „Und wo könnte ich sie finden, Fräulein?“ fragte er liebenswürdig. „Er wiegt Hühnergänse ab.“ „Wirklich?“ sagte er, als handelte es sich um eine ganz gewöhnlichen Sache. „Hühnergänse. Und wo, Fräulein?“ „Am Vogelpavillon. Dort ist so ein Gehege, wissen Sie … Gleich am Rande des toten Flußarms … Jetzt ist der Weg zwar gesperrt, seit dort das Elefantenhaus gebaut wird …“ „Ich werde versuchen, es zu finden.“ „Verzeihen Sie, aber …“, das Mädchen klapperte mit den Lidern, die sich einen üppigeren Wimpernbewuchs verdient hätten, „der Genosse Direktor hat nämlich … heute sehr viel Arbeit … Und am Morgen hat man ihn sehr aufgehalten.“ „Aber“, wunderte sich Exner. „Und warum das?“ „Die Kripo ist gekommen. Gestern hatten wir hier Taschendiebstähle, aber das war wegen was ganz anderem. Wir wissen gar nicht, warum.“ Sie stieß einen Seufzer aus, zuckte die Achseln und lächelte. Als wollte sie hinzufügen: Hier ist ein Durcheinander, Herr. „Ich trabe ihnen hinterher“, sagte Exner und schickte sich zum Gehen an. Das erschreckte sie, offenbar hatte sie den Auftrag, ihren Vorgesetzten auf das allergründlichste zu beschützen. „Verzeihen Sie, aber in welcher Angelegenheit …“ „Ich möchte gern“, verriet ihr Exner geheimnistuerisch, „Futtermeister der Raubvögel werden.“ Die Zeit, die er am Tag vorher mit Eliška Libšerová im Zoo verbracht hatte, erwies sich als zweckmäßig und keineswegs vergeudet, denn er wußte genau, wo er den Vogelpavillon finden konnte, und hatte sogar einen vagen Begriff davon, welche Einfriedung die Hühnergänse beherbergte. 154
Den Direktor traf er dabei an, wie er gerade zwei größere Gänse in die Ecke des Auslaufs trieb, wo eine hölzerne Bude stand. Die ganze Angelegenheit sah dörflich einfach und rührend aus. Der Mann in Jeans, im karierten Hemd und der Mütze aus dem gleichen Stoff jagte zwei Gänse vor sich her und sprach zu ihnen. Mit seinen Worten forderte er sie zur Ruhe und der gewünschten Richtung auf. Obwohl Exner im Zweifel war, ob die zwei grauen Gänse mit den gelben Schnäbeln, ein Neuzuwachs der Schar der Hühnergänse, die Worte ihres Direktors verstanden, ließen sie sich in die Bude treiben. Exner blieb an der Hecke stehen und beobachtete das Schauspiel. Die Frau Sekretärin hatte einen Block in der Hand und vor sich auf der Bude eine kleine Küchenwaage. Der Direktor steckte eine Gans in einen Leinenbeutel, so daß dieser Beutel einem Rugbyball glich, die Gans hatte vor Schreck offenbar der Schlag gerührt. Dann versuchte er, sie abzuwiegen. Das war deshalb schwierig, weil die Gans nur ein bißchen der Schlag gerührt hatte. Ein paar Schritte von der Bude entfernt stand ein gut zehn Meter hoher Birnbaum. Auf einer fast senkrecht stehenden Leiter pflückte ein alter Mann mit dem Naturell eines Fallschirmjägers Birnen. Die Sekretärin stand mit dem Block da, bereit, die Maße und Gewichte einzutragen, wie sie der Direktor diktierte, der freundlich mit den entsetzten Gänsen plauderte. Die Szene war von der Sonne beschienen, von einem malerischen Krawall untermalt und strahlte geradezu die Behaglichkeit von Wissenschaft und Arbeit in der Natur aus. Der in der Gesäßtasche der Jeans des Direktors steckende Transistor röchelte und krächzte etwas. Angestrengt und dringlich. So alarmierend und in einem solchen Rhythmus, als galoppierten durch das Pförtnerhaus fünf Züge der freiwilligen Feuerwehr. Exner verstand nicht, worum es bei diesem Gekrächze ging. Aber Doktor Velenínský schüttete die Gans aus dem 155
Beutel und zog eilends den Minisender aus der Tasche. „Velenínský“, sagte er ins Mikrofon und lauschte. Klopfte die Pfeife aus und steckte sie in die Tasche. Dann setzte er sich in Trab. Die Sekretärin mit dem Block ihm nach. Exner trat an ihn heran. „Verzeihen Sie. Später!“ rief Velenínský und legte einen Schritt zu. Die Sekretärin fragte: „Was ist passiert?“ „Der Kiang!“
61 Alle Leute, die ihm entgegen nach oben hasteten, stießen gegen ihn. Karel Buš schwankte. Der Magen hob sich ihm, die Knie waren weich, und er hatte einen wahnsinnigen Appetit, etwas zu trinken. Jedesmal, wenn er Eindrücke, Erlebnisse, Gefühle und alle möglichen anderen seelischen Lappalien in sich ordnen mußte, hatte er die ununterdrückbare Sehnsucht, furchtbar schnell etwas zu trinken. Er stürmte ins Restaurant und fiel auf einen Stuhl ganz nahe an der Theke. „Einen Rum!“ „Du bist recht blaß“, sagte der Ober. „Ist dir übel oder was?“ „Mir ist übel“, gab Karel Buš zu. „Wahnsinnig übel. Der Magen oder so. Wenn du mir nicht sofort einen Rum bringst, dann kannst du gleich Eimer und Scheuerlappen holen …“ „Was ist denn los so plötzlich?“ Karel Buš winkte ab. „Pastete. Die blöde Pastete. Pfui Teufel.“
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62 Es wäre richtig und völlig normal gewesen, wenn sich der arme Rentner Adolf Kroupa dem Kreis der Gaffer hinzugesellt hätte. Das erste, was ihm einfiel: Sie haben die Ciprová geschnappt. Aber sogleich sagte er sich, daß das Unsinn war. Ihm kam ja schließlich der Bursche entgegen, ein Maurer oder so was, den er am Tage vorher hinter einem Strauch hocken und gierig auf die schöne Frau hatte glotzen sehen, die die Tiere malte. Der Maurer hatte jetzt Augen so groß wie Zwiebeln. Menschenaufläufe liebte Adolf Kroupa nicht. Božena Ciprová hingegen sehr. Wenn etwas passiert ist, wird auch sie dort sein. Er schritt ein bißchen weniger gravitätisch einher als sonst. Im nächsten Augenblick sah er, was mit der Malerin in dem leeren Tiergehege geschehen war. Er erblaßte und blieb stehen. Das mußte er nicht aus der Nähe sehen. Die Leute stießen ihn an und drängten sich wie irrsinnig zum Unglücksort. Adolf Kroupa jedoch machte kehrt und stieg langsam hinab zum Affenpavillon. Den Stock brauchte er jetzt wirklich. Er verließ den zoologischen Garten und setzte sich gleich vor dem Eingang auf eine Bank. In der Ferne heulte die Sirene des nahenden Krankenwagens auf. Kroupa faltete die Hände auf dem Stockgriff und bemühte sich, über die Einzelheiten des Rendezvous nachzudenken, das er für den Nachmittag und Abend eingeplant hatte. Der Krankenwagen näherte sich unaufhaltsam, und seine Hupe tönte fast hinter Kroupas Rücken. Der beigefarbene, blaublinkende Wagen fuhr direkt zwischen die Leute am Zoo-Eingang und bahnte sich rücksichtslos seinen Weg, schon hupte er nicht mehr, er 157
kletterte stumm auf dem für Fußgänger bestimmten Weg hinauf zu den Tiergehegen dort oben. Adolf Kroupa nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. Er war auf einmal schrecklich froh, daß er sich beruhigt hatte. Aber hier schien es ihm nicht sicher genug. Unweit standen nämlich die schwarzen Riesenkäfer der Tatras, und Kroupa vermutete mit absoluter Gewißheit, daß in ihnen nicht eine Delegation des Königreichs UbuUbu gekommen war, um die daheim bereits ausgestorbene Tierwelt zu besichtigen.
63 Ein fast unmittelbarer und ungewollter Zeuge wurde Leutnant Beránek. Das Ereignis spielte sich unverhofft ab, es überraschte ihn völlig. Er schritt ruhig und ganz zufällig, mehr von dem bequemen Weg als von einer Absicht geleitet, Adolf Kroupa hinterher. Aber er bemühte sich in keiner Weise, den alten Herrn einzuholen. Er hatte auch gar nicht die Absicht, ihn zu verfolgen. Er wählte einfach die gleiche Richtung, und während er sich die Kamele und Bisons und Przewalsky-Pferde ansah, überlegte er, was wohl diesen Heiratsschwindler zur Tierliebe verführt hatte. Nicht zum eigenen Hund, zur eigenen Katze. Bevor er noch zu Ende denken konnte, daß das eigentlich eher rührend als beachtenswert sein konnte, eher sentimental als verdächtig, vernahm er einen Schrei. Den verzweifelten Schrei einer Frau. Ein Schrei, der zu entsetzt war, als daß er nur hysterisches Erschrecken ausdrücken konnte. Beránek legte einen Schritt zu und zwang schließlich sein Bäuchlein zu einem gelinden Trab. Der Weg senkte sich, so daß Beráneks Tempo bedeutend wurde. Er sah, 158
wie ein Bursche aus dem Gehege der Wildpferde auf den Fußweg sprang und zu dem Gehege darunter rannte, wo die Leute zusammenzulaufen begannen. Hinter ihren Köpfen schwang sich in Abständen der Rücken und Kopf eines Pferdes empor. Die Leute fuchtelten mit den Armen, und einige schrien. Der Junge, der vor Beránek her rannte, war offenbar ein Tierpfleger und hatte die Übersicht. Aus einem provisorischen Geländer am Weg riß er eine wenigstens drei Meter lange Stange heraus. Er hielt sie über dem Kopf und drängte sich zwischen den Leuten hindurch. Er brüllte einen Mann an: „Weg von hier, Mann!“ und hieb mit der Stange auf etwas ein. Da sah Beránek bereits, daß er auf dieses Pferd einhieb. Das Pferd war allerdings nicht der Angesprochene. Das war offenbar der lange Lulatsch, der schon halb im Gehege war. Er wich nicht zurück, sondern zwängte sich mit Ausdauer weiter durch das Gitter. „Das ist meine Frau!“ schrie er. Der Junge mit der Stange beachtete ihn nicht. Das pferdeähnliche Tier hatte sich vom ersten Schlag erholt und schickte sich zum Angriff an. Aber in diesem Augenblick bekam es einen weiteren Schlag, daß die Stange nur so knackte. Das Tier schrie gellend auf. Der junge Mann hatte Mut und war unerbittlich. Über sein Tun wäre der Tierschutzverein wahnsinnig geworden, denn dieser Bursche hieb tatsächlich brutal auf das Tier ein. Und er drängte das komische Pferd mit dem beigefarbenen Fell in die Tür des hölzernen Stalles. Aber ihn hätte augenblicks jeder begriffen, der an der Einfriedung aus Stahlröhren die rothaarige Gestalt hätte liegen sehen, die noch vor einigen Sekunden eine Frau gewesen war. Sie war zerstampft. 159
Der Skizzenblock auf dem Gras in der Nähe wedelte mit den Blättern im Winde. Der Lange, der vor einer Weile dem jungen Mann nachgestiegen war, der das wutschnaubende pferdeähnliche Tier aus dem Gehege drängte, blieb zwischen den Rohren der Einfriedung hängen. Er war ohnmächtig geworden. Beránek wunderte sich nicht über ihn, obwohl er schon manches im Leben gesehen hatte. Die Neugierigen wandten sich ab. Und machten weiteren Neugierigen Platz, die nachdrängten. Der Pfleger schloß das Pferd, oder was es auch war, im Stall ein. Er kehrte in das Gehege zurück und warf die Stange weg. Langsam ging er zu der toten Frau. Er schaute sich nach den Leuten um, als wollte er sagen: Mein Gott, haut doch alle ab! Er sah sich noch einmal um, als suchte er etwas. Aber wo hätte er hier eine Decke oder ein Laken gefunden. Er zog sein kariertes Hemd aus und zerriß es. Und er defekte auf der Frau zu, was sich zudecken ließ. Den ohnmächtigen großen Mann zog man aus dem Geländer heraus, und jemand begann ihn zum Leben zu erwecken. Beránek schaute sich die Tafel an. Aber die war leer. Offenbar war auch dieses Gehege leer gewesen, und deshalb hatte es die Frau betreten, um sich besser die Känguruhs anschauen zu können. Einige Zeichnungen hatte er in dem Skizzenblock gesehen. Er ging zu dem Gehege daneben, und dort hing eine Informationstafel. Mit dem Bild jenes Tieres. Und dort stand: VOM AUSSTERBEN BEDROHTE ART World Wildlife Fund KIANG – EQUUS KIANG Der größte wildlebende Unpaarhufer, auf einem begrenzten Gebirgsterritorium in Mittelasien bis in eine 160
Höhe von 6000 m heimisch. Charakteristisch durch den großen, schweren Kopf. Im Sommer ist sein Fell kurz, im Winter dicht und lang. Die Brunstzeit verläuft im Sommer, die Tragzeit beträgt 11 bis 12 Monate. Die Stute wirft nur ein Junges. In Gefangenschaft sehr selten. Gegenwärtig wird diese Art außer im hiesigen Zoo im Zoologischen Garten von Riga gehalten. Aufgenommen in die Liste der UICN, der bedrohten und aussterbenden Tiere.
64 Die Männer hatten ihre Arbeit beendet, und Vlček schickte sie nach Hause. Mit ihnen eine Narkotisierungspatrone, deren Erhalt er den Veterinären quittiert hatte. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie Ihnen wiedergeben“, sagte er trocken. „Ich möchte eher meinen, nein.“ Er sah sich in der trostlosen Tierordination um, noch trostloser, als Ordinationen für Menschen aussehen. Der Gestank nach Lysol, Äther und Dutzenden anderen schlechten Gerüchen wurde in der Mittagshitze unangenehm. Er schaute von einem Veterinär zum andern und zuckte die Achseln. „Wollen wir nicht hinausgehen?“ Die Herren nickten und folgten ihm. Der kleine Bär im Käfig stand auf den Hinterbeinen. Aber die drei waren nicht geneigt, mit ihm zu spielen. Der ältere der Veterinäre rieb sich unaufhörlich die Glatze. Der jüngere, mit Kinnbart, paffte nervös eine Zigarette nach der andern. „Tja“, sagte Vlček fast zufrieden. „Sie haben im Verzeichnis der Medikamente, Narkotika und so weiter eine große Unordnung, meine Herren.“ „Ziemlich“, gab der glatzköpfige Doktor Kalouš zu. 161
„Aber ich arbeite hier bereits zweieinhalb Jahrzehnte, Herr, und niemals gab’s da ein Problem. Schließlich ist die Baracke doch verschlossen.“ „Zum Spaß“, warf Vlček ein. „Zugegeben, unvollkommen. Aber wer sollte, ich bitte Sie …“ „Sie wollen sagen, Herr Doktor, wer sollte hier eine Narkotisierungspatrone entwenden.“ „Genau.“ „Jedermann. Der Mörder zum Beispiel.“ „Aber die Schlüssel …“ „Stehen einerseits frei zur Verfügung im Schrank in der Direktion, andererseits in Ihrer Tasche, und schließlich kann man durchs Fenster einsteigen. Irgendwelche Möbel haben Sie in der letzten Zeit nicht gekauft?“ „Möbel?“ staunte der mit dem Bart. „Mein Gott, wozu denn?“ Vlček blickte fragend Doktor Kalouš an. Dieser schüttelte fast verzweifelt den Kopf. „Und einen Innenarchitekten haben Sie auch nicht gebraucht?“ Sie glotzten ihn nur an. „Bestimmt nicht?“ Sie schauten einander an und zuckten die Achseln. Als wollten sie sagen: Das ist doch nicht möglich … „Mit so einer Narkotisierungspatrone wurde nämlich ein Innenarchitekt ermordet …“ „Das ist doch Blödsinn, oder?“ stieß der Veterinär mit dem Kinnbart unwillkürlich hervor. Vlček nickte weise. „Es sieht so aus.“
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65 Exner schlenderte am halbaufgebauten Elefantenhaus vorbei zum Direktionsgebäude. Obwohl er mit Doktor Velenínský ein paar ernste Worte hatte sprechen wollen, stand er davon ab, als er sah, wie das seltsame Wörtchen „Kiang“ den Direktor von seinen Gänsen weg- und den steilen Hang hinaufgetrieben hatte. Er suchte und fand eine geeignete Bank am Restaurant. Hier liefen alle Wege zusammen, hier hatte er Überblick und konnte bequem auf seine Offiziere warten. Der unweit in den Zweigen einer alten Kastanie angebrachte Lautsprecher knackte und sagte dann: „Wir rufen den Veterinär. Ein Veterinär sofort ins Gehege zum Kiang. Ein Veterinär zum Kiang!“ Nach einer Weile erblickte Exner Leutnant Vlček. Dieser hielt sich wie stets gerade wie ein Lineal. „Hast du gehört“, sagte er zu Exner, „da ist was mit einem Esel passiert.“ Von der Straße drang das Hupen des Krankenwagens herein. „Eher wohl“, bemerkte Exner, „etwas beim Esel.“ Der Krankenwagen fuhr unweit vorbei und weiter hoch zu den Gehegen. „Fassen wir alles zusammen?“ fragte Vlček. „Wir warten auf Beránek und den Direktor. Wie schaut’s aus?“ „Hervorragend“, erklärte Vlček ironisch. „Die zwei Herren Tierärzte wissen nicht, ob ihre eigenen Köpfe die gleichen sind, mit denen sie geboren wurden.“ „Schicksal“, sagte Exner bekümmert und blickte auf die Uhr. „Ich möchte wetten, daß Beránek den Kiang behandelt.“
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66 Leutnant Beránek, der gewöhnlich mit riesigem Appetit jede beliebige Speise verdrückte, pickte diesmal nur von seinem Schnitzel und dem Kartoffelsalat. Michal Exner beschimpfte sich im stillen, weil er hätte voraussehen können, daß sie ihm in diesem Selbstbedienungsrestaurant statt der bestellten Roulade einen halbgaren Gulasch vorsetzen würden. Vlček aß sein Paar Wiener auf und steckte sich eine Zigarette an. „Na ja“, sagte er, „das Bier geht so halbwegs.“ Exner schlürfte das warme Juice und grinste. „Was ist?“ interessierte sich Vlček. „Kommt dir was nicht geheuer vor?“ „Nichts kommt mir hier geheuer vor“, erklärte düster Michal Exner. „Pech“, sagte Beránek und schob mit Abscheu den Teller weg, „absolutes Pech. Ich wünsche euch nicht, diese Frau gesehen zu haben.“ „Ein unglücklicher Zufall?“ „Zweifellos“, sagte Beránek. „Der Kiang hat die trennende Tür im Stall niedergerissen. Der Junge mit der Stange war ein Mordskerl. Ich denke, wir sollten hier Schluß machen. Die Jungs nichts, Vlček nichts, ich nichts – bis auf den Umstand, daß ich dem alten Adolf Kroupa begegnet bin. Unser Kapitän auch nichts.“ „Das ist eine Tatsache“, stimmte Vlček zu. „Wir sollten eine andere Richtung anfahren, nicht?“ Michal Exner schüttelte den Kopf. „Nein. Wir warten auf den Direktor. Wer ist dieser Kroupa?“ „Ein alter Heiratsschwindler“, belehrte ihn Beránek. „Eigentlich – schon ein überalterter Heiratsschwindler. Ein Heiratsschwindler in Rente. In seinen besten Jahren war er berühmt.“ „Worüber habt ihr gesprochen?“ „Nur so, gesellschaftliche Höflichkeitsfloskeln.“ 164
„Was macht er hier?“ „Er liebt die Tiere, sagt er. Alles auf der Welt ist möglich.“ „Da hat jemand was von Diebstählen gesagt. Ein Taschendieb oder so was. Erinnerst du dich?“ „Gewiß. Aber in diesem Fall können wir Kroupa ausschließen. Er hat sein Leben lang nichts gestohlen. Hat nur Geschenke angenommen. Und für einen Berufswechsel ist er schon zu alt.“ „Ich schau’ ihn mir mal an“, sagte Exner. „Denn ob ihr es nun wollt oder nicht – diese drei Buchstaben …“ „Welche?“ fragte Beránek. „Ein Z und zwei O, die Veber in seinem Notizbuch hatte, die wird niemand wegradieren.“ „Und was, wenn sie ein anderer hineingeschrieben hat?“ „Dann ist es doppelt so schlimm.“
67 „Sie werden sicherlich begreifen“, sagte Doktor Velenínský, „daß Sie sich nicht gerade den glücklichsten Tag ausgesucht haben.“ Michal Exner lächelte. „Wir haben ihn uns nicht ausgesucht, Herr Doktor. Und es wäre gewiß sehr bemerkenswert, zu wissen, wer sich ihn eigentlich ausgesucht hat. Ob der unglückliche Herr Veber oder der Kiang oder dieser Jemand … der sich bei Ihnen die Narkotisierungspatrone ausgeborgt und mit ihr den Architekten Veber in den Hintern gestochen hat.“ Velenínský zog die Stirn kraus. „Den Diebstahl einer Patrone kann man … natürlich nicht … Herr Kapitän …“ „Gewiß nicht“, stimmte Exner liebenswürdig zu, „bei Ihrer Art der Listenführung.“ 165
„Einen Narkotisierungsstoff kann man sich auch herstellen. Als Amateur.“ „Leicht?“ „Ich bin kein Chemiker.“ „Ich auch nicht“, gab Exner zu. „Sie wollen damit offenbar sagen, daß wir Sie unnütz belästigen.“ „Genau“, erklärte Doktor Velenínský unverfroren. „Ich hab’ für heute gerade genug.“ „Sie meinen jenen Unglücksfall mit dem Esel …“ Exner zuckte die Achseln. „Zufälle bearbeite ich nur zufällig …“ „Räumen wir ein“, sagte Doktor Velenínský energisch, „ich bin verantwortlich für den Betrieb und Zustand des Magazins auf der Veterinärabteilung. Räumen wir ein, sie haben dort in der Listenführung ein gewisses Durcheinander …“ „Das zumindest“, bejahte Exner. „Aber das beweist nichts, Herr Exner. Gar nichts. Die Narkotisierungspatrone …“ „Oder Patronen“, fiel ihm Exner ins Wort. „Es kann sich nämlich um mehrere Patronen handeln.“ „Die Narkotisierungspatronen“, fuhr Doktor Velenínský fort, „kann sonst jemand gestohlen haben. Wie Sie bestimmt bemerkt haben, ist der Zaun unseres Gartens bei weitem nicht in einem intakten Zustand, und das Gebäude, in dem die Veterinäre arbeiten, ist gleichfalls sehr unvollkommen. Geben wir aufrichtig zu, daß das eine abrißreife Bruchbude ist, die jeden Tag einstürzen kann. Jedermann kommt da hinein. Es erhebt sich dann die Frage, warum so ein Material, wie es zum Beispiel Narkotisierungspatronen sind, nicht woanders und sicherer aufbewahrt wird. Darauf ist die Antwort sehr leicht: Es ist einfach noch niemals etwas verlorengegangen.“ „Oder es hat noch niemals jemand etwas vermißt.“ „Das ist auch eine Möglichkeit. Und gleichfalls eine wahrscheinliche.“ 166
„Bei Gelegenheit“, warf Michal Exner gleichgültig hin, „werden wir mit Ihnen und den Veterinären ein Protokoll abfassen. Und Ihre private Meinung?“ fügte er wie ohne besonderes Interesse hinzu. Velenínský lachte auf. „Der Einfall ist nicht schlecht …“ „Welcher?“ „Einen Menschen auf diese Art umzubringen. Aber, Herr Exner, in einer Siedlung am Rande Prags … Das ist zumindest … kurios.“ „Dann möchte ich Ihnen, Herr Doktor“, sagte Michal Exner, „herzlich danken.“
68 Kroupa war verschwunden, und die Ciprová überlegte nicht lange, warum und wohin. In der ausbrechenden Verwirrung hatte sie die Ruhe bewahrt, gestützt von Selbstbewußtsein und gegen die menschliche Sentimentalität mit dem Wissen gewappnet, daß sie leben und überleben mußte, auch wenn die anderen beispielsweise unter Pferdehufen sterben, denn das ist Schicksal. Die Leute waren von dem Unglück erschüttert. Binnen kurzem hatte sie drei Brieftaschen. Sie zog sich auf eine einsame Bank zurück, nichts Verdächtiges ringsum; wem wäre es eingefallen, daß das in seiner Handtasche kramende alte Weiblein Geld zusammenkratzte. Die leeren Brieftaschen schob sie dann unauffällig ins Gras unter der Bank. Reingewinn: zwölfhundert. Durch den Erfolg ermuntert und durch die Mittagshitze aufgemutzt, entschloß sie sich, nicht zu säumen. Munter trippelte sie zu den Affen. Sofort interessierte sie dort eine sehr gute, fast über167
mäßig gut gekleidete Mutti, die sich mit einem außerordentlich lebhaften Kind abmühte. Es beschäftigte die Mutti so, daß diese nicht beobachten konnte, was mit der großen, fast bis am Ellbogen hängenden Tasche geschah. Und daß die Tasche sich öffnete. Es genügte eine kurze Berührung des Verschlusses, was die Ciprová einwandfrei beherrschte. Ganz deutlich sah man darin ein schönes Portemonnaie aus weißem, goldverziertem Leder. Božena Ciprová schnalzte leise, und ihre Hand fuhr nach der Beute. In diesem Augenblick packte jemand ihre Hand und sagte streng: „Mutter, daß Sie sich nicht schämen …“ Božena Ciprová riß sich gewandt los und kreischte: „Gemeiner Kerl Sie, was wollen Sie mir da anhängen!“ Und sie wollte verschwinden. Aber ein Junge mit seinem Mädchen standen ihr im Wege. Sie hielt nach Kroupa Ausschau. Aber der war selbstverständlich nicht da. Im wichtigsten Moment, da sie ihn notwendig gebraucht hätte. „So eine Scheiße“, erklärte sie mit wunderbarer Aufrichtigkeit.
69 Das Wissen um einen besonderen Vorfall verbreitet sich schnell. Die Nachricht von einem Unglück blitzschnell. Oben auf dem Plateau hatten sich fast alle Angestellten des Zoos versammelt, einschließlich der Pfleger der Fasane und Wasservögel, der kleinen Säugetiere und Affen, und auch der Herr Brůha von den Raubtieren. Marie Faltysová war ebenfalls herbeigeeilt und hatte hier Jan Marek getroffen. 168
Am Unglücksort waren aber bereits genug von denen, die sich der Dinge fachmännisch und rasch annahmen. Es war besser, sich da nicht einzumischen und nicht im Wege zu stehen. Den Esel vertrieben und in seinem Gehege gesichert hatte der Pfleger der Herde von Przewalsky-Pferden. Herbeigelaufen kamen der Direktor und die Veterinäre, unter dem Publikum fand sich auch ein Arzt. Völlig überflüssig, da war keinem mehr zu helfen. Auch der Krankenwagen war umsonst gekommen. Krankenwagen nehmen keine Toten mit. Leicht in den Knien zitternd, schaute Marie in das Gehege und auf die Menschen. Und auf einmal hatte sie das Gefühl, daß alles nicht wahr war. Es tauchte ein Detail auf, das sogleich verschwand und das sie sich nicht zurückrufen konnte. Es bedeutete allerdings in ihrem Bewußtsein eine Verschiebung des Traumes in die Wirklichkeit. Auf ähnliche Ereignisse, wie sie soeben geschehen waren, reagieren die Menschen verschieden: einige mit grausamer, entsetzter oder hartnäckiger Neugier, andere mit Grausen oder Mitleid, viele tatkräftig und mit der starken Sehnsucht, etwas für die Rettung zu tun. Und viele gibt es, die angesichts einer Katastrophe völlig erstarren. Was auch Jan Marek widerfuhr. Er schloß die Augen und erbleichte. Seine Hände zitterten, und es war augenscheinlich, wie sich sein Brustkorb zusammenschnürte und er keine Kraft zum Einatmen fand. Sie packte seine von kaltem Schweiß feuchte Hand. „Schau mal“, sagte sie, „dort die alte Frau!“ Er sah nichts, nickte aber. Obwohl deutlich zu sehen war, daß die Frau jemandem aus der Gesäßtasche die Brieftasche herauszog. Zuerst kam Marie der Gedanke, daß das ein schrecklicher Irrtum war, daß dieses alte Weiblein doch nicht stehlen konnte. Aber nach einer Weile sah sie sie das gleiche tun. 169
Sie hielt sich an Marek fest und spürte, wie seine Hände zitterten. Sie schaute ihn an. Aus den Augen rannen ihm Tränen, und seine Lippen färbten sich violett. Sie fürchtete, es könne etwas Unvorhergesehenes und gerade für ihn Furchtbares geschehen. Die Frau, die da Brieftaschen stahl, erschien Marie plötzlich als eine glückliche Schicksalsfügung. „Schau doch mal! Schau nur! Sie ist geschickter als ein Affe!“ „Was?“ „Komm, wir folgen ihr!“ Sie zog ihn weg von dem unglückseligen Gehege. „Komm, schneller! Sonst entwischt sie uns noch!“ Sie war fieberhaft aktiv. Dieser Aktivität mußte er sich fügen. Das alte Weiblein dachte nicht an Flucht. Es steckte etwas unter eine Bank am Wege. Dann kam sie ihnen entgegen. Marie Faltysová zerrte Marek auf einen Nebenweg. „Wir müssen sie schnappen. Sie wird vielleicht noch nicht nach Hause gehen.“ „Ich …“ „Oben“, entschloß sie sich rasch, „ist Herr Brůha. Ich hol’ ihn schnell. Schleich du ihr inzwischen nach … und wenn sie abhauen will, dann pfeifst du ganz laut.“ Bevor die alte Frau seinem Blickfeld entschwand, erschien Herr Brůha. Informiert und begierig einzugreifen. „Sieh mal an“, sagte er, als sie sie ihm zeigte. „Diese Natter, die schauen wir uns mal an. He, Kinder! Ich pack’ sie an der Hand, und ihr stellt euch hinter mich, damit ihr alles seht und bezeugen könnt, so’ne Weiber sind Luder; oder wenn sie stiftengehen will. Sie sieht aus wie siebzig, aber kann sein, sie spielt das nur. Also, wie ich gesagt habe, haltet euch hinter mir bereit.“ Herrn Brůhas Augen leuchteten, und sein geübter Blick beim Umgang mit Raubtieren kam ihm zupaß. Dann war es ihnen allen irgendwie peinlich. Die Ciprová war wirklich ein altes Weib, keine verkleidete 170
Bandenchefin. Sie war sogar ein altersschwaches und schmutziges Weiblein. Marek und Brůha führten sie zwischen sich, und Marie folgte ihnen. Und sie konnten sich des Gefühls nicht erwehren, daß es sich um einen komischen Irrtum handelte. Die Ciprová hatte sich beruhigt. „So’ne hübschen jungen Leute … ein altes Weib … Na, so versteht doch, Jungs, ich wollte mir nur die Rente ein bißchen aufbessern … Na ja …“ Und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Jan Marek hätte vielleicht nicht widerstanden. Herr Brůha ja. Er schritt energisch aus, die Ciprová am Ärmel führend, geradenwegs ins Sekretariat des Direktors. „Ist er drin?“ fragte er und wies mit dem Kopf auf die Tür. „Ja, aber … Was ist los, Herr Brůha?“ „Wer ist bei ihm?“ „Dieser … na, Sie wissen doch, der heute früh hier war.“ „Von der Kripo?“ „Ja, so daß ich nicht weiß … Ist dieser Frau nicht gut?“ „Das steht fest, daß ihr nicht gut ist“, erklärte Brůha zufrieden. „Eine Diebin, Frau Švachová. Taschendiebin. Gehen wir!“, sagte er energisch und drang nach kurzem Anklopfen beim Direktor ein. Marie und Honza ihm nach. Michal Exner verabschiedete sich soeben. Die Ciprová war diesem Bullen noch nie begegnet und war sich fast sicher, daß es sich um einen Irrtum handelte. Dieser strahlend angezogene und herausgeputzte Bursche kann nicht zu ihren Feinden gehören. Das ist ein Betrüger, fiel ihr sogleich ein. Bescheiden lächelte sie und rieb sich die greisinnenhaft verweinten Augen. Das hatte ihr in der letzten Zeit bei vielen Verwicklungen des Lebens sehr geholfen. Die Rührung der Umgebung hatte sich regelmäßig eingestellt. 171
„Pardon“, sagte Brůha, „wir haben einen Dieb gefangen. Wir alle können es bezeugen.“ Doktor Velenínský lachte verlegen auf, denn Božena Ciprová hatte während Brůhas Worten die erschöpfte und kranke Rentnerin gespielt. Exner übernahm die unter der Bank gefundenen Portemonnaies und streckte den Arm aus, um die Handtasche der Ciprová an sich zu nehmen. „Eine arme Rentnerin wollt ihr so … Und Sie sind gar keiner von der Polizei“, erklärte sie. „Ich wüßte nicht, warum ich …“ „Kennen Sie den Herrn Kroupa?“ „Kenn’ ich nicht.“ „Das wundert mich nicht“, erklärte Exner und entriß ihr die Tasche. Sie kreischte auf. „Halt’s Maul!“ brüllte der elegante junge Mann Michal Exner, so daß Direktor Velenínský unwillkürlich hinter den Tisch sprang. „Sonst knall’ ich dir eine!“ Sie verstummte und machte den Mund auf. Ihre Zahnprothesen klapperten. Exner warf die Portemonnaies in ihre Handtasche und sagte liebenswürdig zu Doktor Velenínský: „Wenn Sie so freundlich wären … und mir auf einem Blatt Papier die Namen dieser zwei Herren und des Fräuleins notierten … und ihre Adressen …“ Er bekam das Papier und lächelte Jan Marek zu. „Sie habe ich, glaube ich, schon gesehen …“ Jan Marek lief puterrot an. „Ich hab’ mir das hier gestern angeschaut … Sie haben sich bemüht, dem Schimpansen Kamille in die Nase zu träufeln … Eine Geduldsprobe. Und Freundlichkeitsübung.“ Eine Weile überlegte er, bevor er die Ciprová am Handgelenk packte. Aber er gelangte zu dem Schluß, daß das besser sei, als wenn er ihr hinterhertraben und in einer herzzerreißenden Szene mitwirken müßte, bei 172
der ein junger Mann in voller Kraft eine sterbenskranke Greisin verfolgt. „Dann auf Wiedersehen“, sagte er und schritt aus. Er beugte sich zur Ciprová und fügte halblaut hinzu: „Und keine Blödeleien oder Krawalle!“
70 Sie ging wie ein Mäuschen, denn diesen Ton verstand sie. Als sie vor dem Tor des Zoos anlangten, erklärte sie: „Ich hab’ nichts gestohlen, meiner Seel, so wahr ein Gott über mir ist. Aber etwas sage ich Ihnen. Sie sehen sympathisch aus. Das ist ein Komplott gegen mich, das wollen die mir anhängen. Um mich loszuwerden. Die haben hier eine große Sauwirtschaft, und ich weiß alles, so daß …“ „Was für eine Sauwirtschaft?“ „Die klauen.“ „Aber, aber. Und was?“ „Das Fleisch für die Viecher. Und das Heu. Und der Junge, der klaut Hamster und verkauft sie. Und das Mädel …“ „Und wie wär’s mit einer Narkotisierungspatrone?“ „Die auch.“ „Und wer?“ „Der Direktor. Der Direktor selber. Insgeheim sticht er sich das ’rein, sich und der Sekretärin. Das sind Narkomanen. Hab’ ich selber gesehen.“ „Wo?“ „Dort unten in den Sträuchern, Tatsache!“ „Prima“, sagte Exner trocken. Nach einer Weile sagte die Ciprová: „Ich hab’s doch gleich gewußt, daß Sie kein gewöhnlicher Geheimer sind. Sicherlich haben Sie schon eine Meldung von den Drogen.“ 173
„Sicherlich“, stimmte er zu. „Für die Information, was ich Ihnen gegeben habe, dafür würden sie woanders mit Gold bezahlen.“ „Bestimmt.“ „Sie sollten das überprüfen. Ich, würde hier warten.“ „Später, liebe Frau.“ Er lenkte seine Schritte zu den Kollegen, die hier den Straßenverkehr überwachten und Strafgelder einkassierten als ständige Quelle der Staatseinnahmen von diesen Orten. Hier langweilten sie sich meistens nicht. Über Exner wußten sie schon von Vlčeks Leuten Bescheid. Einer von ihnen kam ihm entgegen. „Etwas für uns, Genosse Kapitän?“ „Die Frau hier wurde als Taschendiebin geschnappt“, sagte Exner und übergab dem Polizeiangehörigen die Tasche der Ciprová. „Darin sind die Adressen der Zeugen und die entwendeten Gegenstände. Halten Sie sie fest. Und gut aufpassen auf sie. Sie fahndet privat nach Narkomanen.“ Heldenhaft ertrug er den Blick, den sie auf ihn schleuderte. Er schaute ihnen nach, wie sie abgingen, aber man sah ihm an, daß er an etwas anderes dachte. Er zog das Taschentuch heraus und wischte sich sorgfältig die Hand ab, mit der er die Ciprová festgehalten hatte.
71 Zu Hause brachte sich Adolf Kroupa in Ordnung, ruhte sich aus und machte sich dann auf nach Olšany. Er trat aus dem Haus und ahnte nicht, daß er kein einsamer alter Herr mehr war. Und als er auf dem Friedhof anlangte, erfuhr von seinem Aufenthaltsort unverzüglich Beránek, der Exner unter der Dusche weg ans Telefon holte. „Kroupa“, sagte er, „ist in Olšany. Auf dem Friedhof.“ 174
„Schon?“ wunderte sich Exner. „Das ging aber schnell, der Ärmste.“ „Lebend. Einer von uns steht am Tor. Er paßt auf, falls du mit Kroupa ein paar Worte wechseln willst.“ „Will ich.“ Den Polizeiangehörigen, der am Tor stand, schickte er nach Hause. Und die Hände fromm unterm Bauch gefaltet, näherte er sich langsam Kroupa. Mit gerührt gesenktem Kopf stellte er sich neben ihn. Eine Weile standen sie so da, und jeder dachte über seine Schwierigkeiten nach. Exner hüstelte leise, und Kroupa zuckte ein bißchen zusammen. Er wollte sich unauffällig entfernen. Aber kaum bewegte er den Fuß, sagte Exner gedämpft und fast andächtig: „Pardon … Herr Adolf Kroupa?“ „Bitte sehr“, sprach Kroupa und neigte würdevoll das Haupt. „Verzeihen Sie … ich kenne Sie allerdings …“ „Exner ist mein Name“, stellte sich Michal herzlich vor und schüttelte Kroupa die Rechte wie bei einer Kondolenz. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ „Ganz meinerseits.“ Kroupa gelangte nur sehr langsam in die Rolle. „Ich weiß allerdings nicht, wann ich die Ehre hatte …“ „Mich kennenzulernen?“ „Ja, Herr … Herr …“ „Exner.“ „Bitte …“ „Wir hatten noch nicht die Ehre, einander zu begegnen“, setzte Exner die liebenswürdige Friedhofsekstase fort. „Allerdings hat mir mein Freund Beránek angedeutet …“ „Beránek …“ Kroupa fuhr durchs ganze Rückgrat die Ahnung einer Katastrophe. „Ich weiß nicht, ob … ob ich mich erinnere …“ „Beránek … Sie haben heute gegen Mittag zusammen im zoologischen Garten konferiert.“ 175
„Ja, ich erinnere mich. Allerdings …“ „Ich bin Kapitän Exner … von der Kripo, wissen Sie …“ „Freut mich, Sie kennenzulernen, aber …“ „Wissen Sie was, Herr Kroupa“, erklärte Exner herzlich und hängte sich vertraulich bei dem alten Herrn ein, „ich sehe dort eine passende Bank in der Kühle unter zwei Bäumen. Wir setzen uns und plaudern ein bißchen. Was meinen Sie dazu?“ „Es wird mir eine Freude sein, Herr Kapitän“, antwortete Kroupa. „Wir haben also, Herr Kroupa“, sagte Michal Exner freundlich, „eine gewisse Božena Ciprová verhaftet.“ „Die Ärmste“, meinte Kroupa, in rührender Anteilnahme nickend. „Und wo?“ „Im zoologischen Garten.“ „So ein Zufall, Herr Kapitän.“ Kroupa schüttelte den Kopf, faltete die Hände auf dem Griff des Regenschirms und legte das Kinn darauf. „Wer hätte das gedacht … Ich hab’ sie schon eine Ewigkeit nicht gesehen.“ „Ich heute zum ersten Mal“, gestand Exner, „aber Freude daran hatte ich nicht.“ „Das wundert mich gar nicht, Genosse.“ „Ich glaube, sie trinkt gern ein Tröpfchen“, meinte Exner. „Eine notorische Trinkerin“, bestätigte Kroupa. „Immer hatte sie dazu eine Neigung.“ „Sie haben zusammen gelebt, nicht?“ „Mein Gott, Herr Kapitän, das ist fast vierzig Jahre her, daß wir nicht mehr zusammen leben. Ich war ihr erster Mann und sie meine erste Frau. Und nach einem Jahr ging es auseinander. Damit trennten sich unsere Wege. Falls Sie es wissen wollen – Sie beschäftigte sich dann mit Prostitution.“ „Hab’ ich gehört“, sagte Exner mit einem Nicken. „Und Sie mit Heiratsschwindel.“ Kroupa seufzte. „Die Unbesonnenheiten der Jugend.“ 176
„So, Herr Kroupa“, sagte Michal Exner zufrieden, „wir haben miteinander gescherzt, jetzt wollen wir zur Sache kommen.“ „Ich verstehe Sie nicht, Genosse Kapitän.“ „Ich möchte gern, Herr Kroupa, daß Sie sich bewußt sind, daß ich weder für Betrug noch Taschendiebstahl zuständig bin.“ „Und Ihr Gebiet, wenn ich fragen darf?“ „Das dürfen Sie. Mord.“ „Ja“, sagte Adolf Kroupa bedächtig, „das ist ernst.“ „Ist es. Sie stimmen sicher mit mir überein, daß dieser Bereich nicht gerade von Humor übersprudelt.“ „Das nicht“, stimmte Kroupa zu. „Sie untersuchen offenbar gerade jetzt einen bestimmten Mord.“ „Offenbar.“ „Und Sie glauben, ich könnte Ihnen dabei irgendwie helfen.“ „Das glaube ich.“ „Gern, Genosse Kapitän“, erklärte Kroupa ernst. „Sehr gern.“ „Darf ich Ihnen meine Theorie skizzieren?“ „Wenn Sie ein solches Vertrauen zu mir haben, werde ich mich geehrt fühlen.“ „Dann hören Sie gut zu, Herr Kroupa“, begann Michal Exner zufrieden und heiter. „Sie haben sich mit Ihrer ehemaligen Frau Božena Ciprová zusammengetan … Nein, lassen Sie mich in Ruhe ausreden … Sie haben sich mit ihr in dem Sinne zusammengetan, daß sie stiehlt und Sie mit Ihrer silberhaarigen Würde Schmiere stehen. Im zoologischen Garten, wo sich die Leute die Tiere ansehen. Weil ich aber, wie ich bereits sagte, für Diebstahl und Betrug nicht zuständig bin, lasse ich diese Theorie unabgeschlossen- und werde nicht in ihre Richtung fahnden. Ich hoffe, Sie nehmen das mit Dank entgegen. Ich setze allerdings voraus, daß mein guter Wille durch Ihren guten Willen aufgewogen wird, klar?“ 177
„Fein“, sagte Kroupa. „Sie meinen also, daß diese Frau dort gewesen ist …“ „Fragen stelle vorläufig ich, Herr Kroupa, und Ihre Vermutungen erst am Ende.“ „Gut“, sagte Kroupa und schaute sich auf dem Friedhof um, und seine Aufmerksamkeit erwachte, denn die Dame, die er erwartete, kam soeben. „Ist was?“ interessierte sich Exner. „Ach, nur eine Bekannte … Also, was möchten Sie wissen, Genosse Kapitän?“ fragte Adolf Kroupa im Ton des Älteren und Erfahreneren, der zur Jugend spricht und bereit ist, ihr mit Rat und Tat beizustehen. „Wie viele Male waren Sie im zoologischen Garten?“ „Dreimal. Heute, gestern und vorgestern.“ „Ich schätze, Ihr Interesse galt mehr den Menschen als dem Getier. Haben Sie etwas Besonderes, Ungewöhnliches bemerkt?“ „Sie werden sich wundern“, sprach Kroupa ernst, „das habe ich.“ „Hm …“, murmelte Exner mißtrauisch. „Sie wissen bestimmt, daß ich alles überprüfen kann.“ „Klar. Daran zweifle ich nicht. Ich weiß aber nicht, um was für einen Mord es sich handelt … Vielleicht diese Frau … im Tiergehege …“ „Ein unglücklicher Zufall. Aber nehmen wir’s an.“ „Ich möchte nur etwas zu dieser Frau bemerken … Sie war schön … Fast zu schön … Schauen Sie, ich bin gestern vorbeigegangen, als sie an dem Gehege saß und malte. So gegen elf. Und in einem Strauch ganz nahebei hockte ein Bursche und sah sie sich sehr aufmerksam an. Gierig, verstehen Sie.“ „Und weiter?“ „Und heute hab’ ich den Burschen wiedergesehen. Zweimal. Ich bin zum Gehege gekommen, kurz nachdem es passiert war. Aber solche Sachen kann ich nicht ansehen. Mir wurde übel. Und als ich wieder hinunterging, 178
da kam mir dieser Kerl entgegen, den ich im Gebüsch gesehen hatte. Er hatte richtige Stielaugen. Sauste nach oben. Und als ich etwa fünfzig Schritte weitergegangen war, da riß er mich beinahe um, so rannte er herunter. Und verschwand aus meinem Blickfeld.“ „Wie sah er aus?“ „Wie ein Maurer. Bestimmt war das ein Maurer. Falls Sie es bemerkt haben – dort wird so ein ulkiges, zapfenförmiges Gebäude gebaut, und da habe ich einige Maurer gesehen.“ „Moment“, stoppte ihn Exner. „Wie sieht also ein Maurer aus?“ „Er hat zerknautschte Maurerlumpen an und Pantinen an den Füßen. Der hatte eine bespritzte Baskenmütze auf und Hände wie Schaufeln. Sah überhaupt aus wie ein Ringkämpfer, der aus dem Ring mal schnell auf den Bau gegangen ist.“ „Alter?“ „Ein junger Bursche. Um die Zwanzig. Aber ein Brocken, um einen halben, einen ganzen Kopf größer als ich.“ „Sie sagen“, wiederholte Exner, „Sie haben einen jungen Maurer im Gebüsch am Weg sitzen und aus dem Versteck die Frau beobachten gesehen, wie sie malte. Gestern. Und heute, so wie Sie gesagt haben.“ „Genau so.“ „Und weiter?“ „Nichts. Das ist alles. Eine Kleinigkeit vielleicht noch …“ „Aber?“ „Mehr privaten Charakters …“ „Offenbar haben Sie die Bekanntschaft einer bemerkenswerten Dame gemacht.“ „Da ist was dran“, gab Kroupa zu. „Eine gewisse Frau Marková. Zufällig. Ich habe ihren Sohn beobachtet, der die Affen pflegt. Ein geduldiger Junge. Sie schaute ihm mit großer Mutterliebe zu, und das bewog mich zu ei179
ner freundlichen Bemerkung über den Jungen. Diese Frau ist nicht Witwe“, fuhr Adolf Kroupa mit einem gewissen Bedauern fort, „sie ist nur geschieden. Aber offenbar hat sie das Gefühl, daß sie der Erziehung des Jungen nicht gewachsen ist. Sie deutete mir gewisse Probleme an …“ „Welche?“ „Sie deutete es leider nur an, verehrter Genosse. Ich habe soviel verstanden, daß es um eine Frau geht, die dem Jungen den Kopf verdreht hat. Ich habe sie ein Stück Wegs von dem Affenhaus weg begleitet. Offenbar wollte sie zu der Frau oder dem Mädchen.“ „Und weiter?“ Kroupa wurde unruhig. „Aber das ist nur eine Vermutung, nicht wahr …“ „Und diese Vermutung?“ „Wir gingen am Gehege der Känguruhs vorbei, wo, genauso wie heute, diese schöne Frau saß.“ Adolf Kroupa räusperte sich. „Hören Sie, aber ich bitte Sie, das nicht ins Protokoll zu nehmen … Auf diese Malerin war die Frau Marková nicht gut zu sprechen.“ „Ihr Eindruck?“ fragte Exner trocken. „Mein Eindruck“, bestätigte Adolf Kroupa. „Nichts als ein Eindruck, Herr Kapitän.“ „Das ist schwach“, sagte Exner aufrichtig. „Sehr schwach, Herr Kroupa.“ „Ja“, stimmte der alte Heiratsschwindler zu. „Ich habe es nur erwähnt, um nichts zu verschweigen und der Gerechtigkeit zu helfen. Frau Marková ging zu einem Mädchen, um etwas zu verhandeln. Vielleicht wollte sie mich ursprünglich dabei haben, als Mann, verstehen Sie, aber dann überlegte sie es sich. Ich hatte dafür Verständnis und dachte nicht daran, mich aufzudrängen“, fügte Kroupa hinzu. „Wo ist im Zoo die Veterinärabteilung?“ „Damit kann ich nicht dienen“, sagte Kroupa, ohne 180
mit der Wimper zu zucken. Er war an mancherlei Fragen gewöhnt. „Wo finde ich Sie?“ „Ich bin morgens stets zu Hause, Genosse Kapitän“, sagte Adolf Kroupa gewichtig, stand auf, verabschiedete sich in aller Form und begab sich leicht hinkend zu der Dame, die er als seine Bekannte bezeichnet hatte. Sie stand demütig an einem Grab. Er gesellte sich ihr mit ernster Verbeugung hinzu. Aber der Regenschirm, den er hinterm Rücken hielt, hüpfte fröhlich. Kapitän Michal Exner hatte auf einmal größte Lust, den würdevollen Herrn in den Hintern zu treten.
72 „Hören Sie“, sagte Direktor Velenínský zu seiner Sekretärin kurz vor Arbeitsschluß, „kommen Sie bitte zu mir, auf ein paar Worte.“ „Bitte, Herr Direktor.“ „Setzen Sie sich.“ „Soll ich was schreiben?“ „Nein. Ich muß mich mit Ihnen beraten.“ Velenínský setzte sich an den Schreibtisch und behielt sein ernstes Gesicht bei. Es waren früher auch andere, nicht weniger tragische Zwischenfälle geschehen, aber zumeist hatte er sich dadurch über sie hinwegzuheben vermocht, daß er sich mit dem Schicksal abfand, wie das aus seinem Beruf eines Zoologen und seiner wissenschaftlichen Orientierung auf die Psychologie der Tiere hervorging. Er hatte in einer Art Fatalismus schon vorausgesetzt, daß der Gorillapfleger eines Tages von einem der Tiere geschlagen oder gebissen würde, im besten Fall, wenn es nicht zu etwas Schlimmeren käme. Und 181
das einfach deshalb, weil er zufällig etwas tut, was das Tier zu einer solchen Tat zwingt. Wie das geschieht, bleibt oft ein Rätsel. Aber einmal gerät eben der Elefant in Wut und stampft den Pfleger zusammen, und einmal beißt eben der Schimpanse unverhofft, und einmal begeht eben mit großer Wahrscheinlichkeit der Schlangenpfleger einen Fehler, sei es aus Müdigkeit oder aus Zerstreutheit, was nach Jahren der Arbeit, in denen nichts passiert und alles ungefährdet abläuft, passieren kann. Und dann kommt es zu einem Unglück. Direktor Velenínský hatte immer kühles Blut bewahrt, ob er nun nachts durch den ganzen Zoo einen entlaufenen Elefanten verfolgte oder den Puma aus den Kiefern am Bisonauslauf lockte. An diesem Tage aber war er ganz ohne Humor. „Mir gefällt das nicht“, sagte er mehr für sich. „Wem würde das gefallen“, stimmte Frau Švachová zu und steckte sich eine Zigarette an. „Die Diebin, die Kripo, der Kiang. Die arme Frau Berková. So eine schöne Frau. Und Sie haben sie gesehen, nicht wahr?“ „Sie konnte nicht anders aussehen“, sagte Velenínský bekümmert. „Sie wollte wohl noch weglaufen, fiel hin, oder das Tier riß sie zu Boden. Und es gelang ihm, sie direkt auf den Kopf zu treten.“ „Warum ist sie da bloß hineingegangen …“ „Sie hatte keinen Grund, nicht hineinzugehen. Das Gehege ist seit einem Jahr leer. Auf die Känguruhs bietet sich von dort der beste Blick.“ „Was will Ihnen also nicht gefallen?“ „Das ist die richtige Frage“, sagte Velenínský nachdenklich und spielte lange mit der Pfeife, bevor er sie anzündete. „Der Kiang … Der Kiang will mir nicht gefallen. Und alles zusammen, verstehen Sie. Hajek verjagte das Biest mit einer Stange und drosch auf es ein. Die Stange hatte er aus dem Geländer herausgerissen. Er 182
jagte den Esel in den Stall, wo das Verbindungstürchen offen war. Schauen Sie“, fuhr Velenínský fort und begann auf einem Stück Papier zu zeichnen. „Der Stall. Ein Holzhäuschen. Primitiv geteilt in drei Teile. Die Lamas, der Kiang, dieser Teil leer, denn er gehört zu dem leeren Gehege. Hier … Frau Berková. Der Weg zwischen den Gehegen zu der Tür des Stalles. Durch das Gehege der Lamas, denn die sind zahm. Wie die Lämmer. Hajek hatte heute Fütterungsdienst. Statt Vobořík, der Urlaub hat. Den Lamas warf er das Heu in die Krippen unter dem Dach am Stall. Und dem Kiang in die Krippe im Stall, denn wenn er ihm hätte das Heu draußen geben wollen, hätte er um das Lamagehege herum und zwischen dem Gehege der Lamas und dem des Kiang hindurch zu der anderen Stalltür gehen müssen. Und dazu hatte er keine Lust, verständlich. Das Türchen zu dem leeren Gehege war wie immer verschlossen. Das heißt … Hajek behauptet, daß es das war. Nehmen wir an, es stimmt. Es konnte geschlossen, aber nicht zugehakt sein. Kein Tier kann einen Haken heben.“ „Hat nicht jemand vorher vergessen, den Haken zu schließen?“ „Möglich. Aber: Das Türchen in das leere Gehege geht in Richtung vom Gehege zum Stall auf. Und auch wenn der Haken nicht zu war, kann der Kiang das Türchen nicht aufmachen und hindurchgehen. Das ist die eine Sache.“ Doktor Velenínský legte den Bleistift weg und zerknüllte das Papier mit seiner Lageskizze. Er warf es in den Papierkorb. „Und die zweite?“ Doktor Velenínský langte hinter sich. Er hatte hinter dem Stuhl einen Stahldraht, mehr eine Rute, zwei Meter lang. „Das habe ich im Gras unter einem Strauch gleich am Stall gefunden. Auf dem Fußpfad zwischen den Gehegen.“ Er hob das eine Ende auf den Tisch. „Eine ganz schöne Spitze. Sehen Sie, was darauf ist? Eingetrockne183
tes Blut. Ich möchte wetten, daß es das Blut des Kiang ist.“ Er ließ den Draht zu Boden fallen. „Das ist die zweite Sache.“ „Und Sie meinen, daß jemand …“ „Fahren Sie nur fort, Frau Švachová.“ „… daß jemand das Türchen in das leere Gehege aufgemacht und den Esel gereizt hat, damit er …“ „Nehmen wir es an“, sagte Velenínský bekümmert. „Aber das ist doch wohl kaum möglich!“ wandte die Sekretärin ein und runzelte die Stirn in angestrengtem Nachdenken. „Technisch, verstehen Sie. Ich erinnere mich sehr gut, wie das im Stall aussieht …“ „Technisch ist es möglich“, sagte der Direktor knapp. „Ich gehe auf dem Weg zwischen den Gehegen hinein. Das kann ich unauffällig tun, das ist von einem Nebenweg aus, dort sind Sträucher, der Pfad läuft parallel mit dem unteren und oberen Weg; wenn mich zufällig jemand von unten sieht, wird er denken, ich gehe auf dem oberen, und umgekehrt. Aber dort bewegen sich nicht viele Menschen. Außerdem stehen da ein paar Kiefern und Birken und Sträucher. Ich gehe also in den Stall. Mache das Türchen zu dem leeren Gehege auf. Locke den Esel zu mir. Wenn er in den Stall kommt, mache ich das Türchen zu dem Gehege zu, aus dem er gekommen ist. Den Draht habe ich vorbereitet. Und ich steche den Esel tüchtig. Er rennt in das offene Gehege und …“ „Aber das ist unmöglich, Herr Doktor!“ „Wieso?“ wunderte sich Velenínský. „Morgen früh kann ich es Ihnen vorführen.“ „Aber das muß doch jemand gewesen sein, der den Stall kennt und den Esel und überhaupt …“ Und sie fügte entsetzt hinzu: „Das muß einer aus dem Zoo gewesen sein … einer von unseren Angestellten … einer von uns! Das müßte ein Mörder gewesen sein!“ 184
Der Direktor des Zoologischen Gartens seufzte: „Das ist ja gerade die dritte Sache, Frau Švachová, wegen der ich Sie eigentlich für ein paar Worte hereingebeten habe.“
73 Niemals werden so miserabel Informationen eingeholt wie nach siebzehn Uhr. Wenn die Leute nicht mehr arbeiten, aber auch noch nicht zu Hause sind. Ein Glück, daß wenigstens der Zoodirektor an seinem Arbeitsplatz wohnte. Als Exner ihn anrief, war er gerade in der Wanne. Mit dem Handtuch um die Hüften sauste er durch die Wohnung in sein privates Arbeitszimmer ans Telefon. „Ja, hier ist Velenínský.“ „Ein bißchen müde, was?“ sagte Michal Exner. „Herr Doktor, ich müßte wissen, welche Firma das Elefantenhaus baut.“ „Was? Das Elefantenhaus?“ „Ja. Dieses Gebäude für Elefanten und Nashörner und so …“ „Ach so … Offiziell heißt es Pavillon für Dickhäuter … Ingenieurhochbau, Betrieb Nummer sechs“, antwortete Velenínský und nannte die Adresse. „Wo der Bauleiter wohnt, wissen Sie nicht zufällig? Oder der Meister?“ „Nein, leider nicht.“ „Und auf dem Bau ist jetzt niemand mehr?“ „Was fällt Ihnen ein! Um drei fällt die Klappe. Maurer! Darf ich wissen, Herr Kapitän Exner, warum Sie gerade unser Elefantenhaus interessiert?“ „Verehrter Herr Doktor, das weiß ich selber nicht ganz sicher. Apropos … was diese unglückliche Frau betrifft … wie hieß sie doch gleich?“ 185
„Berková …“ „Ja … Frau Berková … Haben Sie sie gut gekannt?“ „Nur flüchtig. Wir sind einander begegnet, haben dann und wann ein Wort miteinander gewechselt …“ „Berková, sagen Sie … Glauben Sie, es war wirklich ein unglücklicher Zufall?“ „Ich glaube, ja. Offenbar doch …“, sagte Doktor Velenínský. „Kennen Sie eine Frau Marková?“ „Nein.“ „Ihr Sohn arbeitet bei den Affen.“ „Ach so“, erinnerte sich Velenínský. „Natürlich. Gewiß. Eine überaus besorgte Mutter. Der Junge ist brav, aber infantil. Eine vereinsamte Frau und der einzige Sohn. Manchmal ist das kompliziert. Aber ich begreife nicht …“ „Ich begreife oft auch nicht, Herr Doktor“, erwiderte Exner. „Das ist Schicksal. Waren das Verwandte?“ „Wer?“ „Frau Marková und Frau Berková.“ „Überhaupt nicht. Oder vielleicht doch?“ „Mein Gott“, sagte Michal Exner geduldig, „danach wollte ich doch gerade Sie fragen. Also: Ihrer Meinung nach kannten sie sich nicht.“ „Das weiß ich nicht.“ „Wissen Sie, was das Sonderbare ist an dieser Angelegenheit“, grübelte Exner laut und irgendwie abseits vom Hauptthema des Gesprächs, „daß dort auf einmal unversehens ihr Mann aufgetaucht ist.“ „Wessen Mann?“ „Der Herr Berka.“ „Sonderbar …“ Der Direktor murmelte etwas Unverständliches. „Vielleicht … Aber mir kommt es vor, daß er des öfteren herkam. Das ist doch natürlich, nicht?“ Kapitän Exner blieb nichts übrig, als zuzustimmen. 186
74 Eliška Libšerová sollte kurz nach vier Uhr das Atelier verlassen. Aber sie wartete bis fünf, weil sie immer noch hoffte, daß etwas geschehen würde. Exner stellte sich jedoch nicht ein, es geschah also nichts. Das Besondere war, daß der Architekt Krule vielleicht auch auf ein Ereignis wartete, denn er schickte sich gleichfalls nicht zum Gehen an. Er begann erst einzupacken, als Eliška endlich ging. Er eilte die Treppe hinab und trat so eine halbe Minute vor ihr aus dem Hause. Als er sah, wohin sie ihre Schritte lenkte, schlug er die gleiche Richtung ein und hängte sich an sie. „Sieh an“, sagte er, „wir haben den gleichen Weg.“ Sie wurde sich bewußt, daß ihr gemeinsamer Weg höchstens zehn Minuten dauern konnte, deshalb nahm sie sein Märchen von dem gemeinsamen Weg wohlwollend hin. „Sorgen, Kollegin?“ fragte Krule. „Überhaupt nicht …“ „Natürlich … Nämlich … Ich nehme an, Sie haben begriffen, daß meine Beziehung zu Ihnen, um es so auszudrücken, nur an der Oberfläche kollegial ist. Für die Öffentlichkeit. In Wirklichkeit, Fräulein Kollegin, obwohl das vielleicht peinlich klingt, in diesem Augenblick und in einer solchen Situation“ – darin hatte er recht, denn sie stolperten gerade über Bohlen auf dem aufgebuddelten Gehsteig – „davon zu sprechen, aber die unglückliche Verkettung von Umständen, der Vorfall, mit dem wir zufällig in Berührung gekommen sind – ich meine damit den unglückseligen Tod des Kollegen Veber –, und das sonderbare Benehmen des Menschen, der die Sache untersucht, zwingen mich, vielleicht vorzeitig und in dieser Form meine Gefühle auszudrücken …“ „Und warum?“ wunderte sie sich. „Ist das notwendig? Ich zwinge Sie nicht dazu, Herr Kollege.“ 187
„Es ist unerläßlich“, sagte Krule ernst. „Wirklich?“ Sie wußte nicht genau, ob sie sich darüber lustig machen sollte oder ob es nur peinlich war. „Es ist nämlich … ich hätte nämlich gern die Garantie Ihrer absoluten Verschwiegenheit.“ „Was diese Gefühle betrifft?“ „Nein, natürlich nicht … so habe ich das nicht gemeint, Kollegin. Schauen Sie, Eliška“, fuhr er in einem vertraulicheren Ton fort, „die Angelegenheit ist wirklich ungemein ernst …“ „Sie spannen mich ja furchtbar auf die Folter, Herr Kollege.“ „Sehr ungern. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie über diese Sache schweigen werden, ich meine vor diesem … diesem …“ „Vor Michal? Aber gewiß, er muß doch nicht alles auf der Welt wissen.“ Er war offenbar sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, schluckte aber dennoch zweimal, daß sein Adamsapfel hüpfte. Das war bei ihm offenbar Ausdruck einer tiefen Sinnesbewegung. „Ich werde schweigen wie ein Grab“, spornte sie ihn an. „Kennen Sie den Mörder?“ Krule schüttelte sich. „Nein, natürlich nicht. Nichts in diesem Zusammenhang.“ „In welchem dann?“ „Das ist nämlich so … Der Kollege Veber hatte eine gewisse geheime Privatangelegenheit …“ „Eine Frau?“ fragte sie schlicht und direkt. „So offen möchte ich das nicht formulieren. Ich weiß nur, daß er eine geheime Angelegenheit hatte. Aber die Sache ist jetzt komplizierter, als es einem je scheinen konnte. Vielleicht sind Dinge ins Spiel gekommen, von denen wir nur schwerlich eine Ahnung haben können. Die Gewißheit meiner Vermutung bestätigt mir der Abschluß der Beobachtungen, die ich im 188
Verlauf der Untersuchung des ganzen Falles getätigt habe.“ „Was raten Sie mir?“ fragte sie trocken. „Weg davon. Schweigen. Die Sache scheint mir wirklich ernst.“
75 Es gab Augenblicke, da kam sich Michal Exner vor wie ein verirrter Wanderer, wie der Ewige Jude. Er schlug sich durch das hoffnungslos übervölkerte und mit Wagen verstopfte Stadtzentrum, mehr mit Haltepausen und langsamem Vorrücken als sonst, hindurch zur Direktion des Baubetriebes, dessen Namen ihm Velenínský mitgeteilt hatte. Vom ganzen Betrieb war um diese Stunde, wie Exner übrigens vermutet hatte, nur ein bereitwilliger, aber völlig unwissender Pförtner übriggeblieben. „Na ja“, meinte dieser Pförtner, „das Elefantenhaus im Zoo. Ja. Das ist so eine geringfügige Aktion. Wir bauen hier Stadions, Herr. Ja. Vielleicht der Genosse Produktionsleiter. Ja. Der könnte was wissen. Aber der ist außerhalb von Prag. Und dann hätten wir drei Hapevaus.“ „Was?“ „Hapevaus. Hauptproduktionsverwaltungen. Eine davon wird das machen, ja. Aber ich weiß nicht, welche. Vom Absatz ist auch keiner da, aber dort wissen sie sowieso nichts … Richtig! Vielleicht der Herr Baumeister Fadrhons.“ „Wer ist das?“ „Der ist schon in Rente. Er geht dem Produktionsleiter zur Hand. Alter Unternehmer, Baumeister. Ja. Der weiß, wo und was. Wohnt in Braník. Ja. Mit der Adresse kann ich Ihnen dienen.“ 189
Die Stadt hatte sich noch nicht geleert, er schlängelte sich mit vielen Haltepausen hindurch am Moldauufer entlang ans andere Ende. Er fand diesen Fadrhons und begriff, daß der Pförtner eigentlich alles gewußt hatte, denn dieser grauhaarige Herr hatte einen Überblick. Exner teilte ihm mit, daß er einen jungen Maurer suche, und versuchte diesen zu beschreiben, wobei er in einigermaßen anderer Form die Aussage von Adolf Kroupa benutzte. Sie standen an der Gartenpforte der kleinen Villa. „Kommen Sie wenigstens hintern Zaun“, lud Fadrhons ihn ein. „Dort ist eine Bank.“ Er hatte gerade den Garten mit einem Schlauch gesprengt. Ging hin und drehte den Hahn ab. Dann setzte er sich zu Exner. „Solche haben wir bei uns“, sagte er. „Aber es muß nicht ein Maurer gewesen sein.“ „Es scheint, es war einer“, sagte Exner unsicher. Ihm kam der Gedanke, ob Kroupa, aus welchen Gründen auch immer, nicht vielleicht gescherzt hatte. „Dieser Pavillon für Dickhäuter“, überlegte Fadrhons laut, „ist für uns eine unangenehme und anspruchsvolle Aktion. Kein Typenbau, verstehen Sie. Damit gibt es immer Probleme. Und die Projektanten haben sich unglaubliche Sachen ausgedacht. Wir haben Mejstřík hingeschickt, Meister Mejstřík. Ein alter Mann, aber Handwerker, wissen Sie. Er hat vor dem Krieg als Polier bei mir gearbeitet. Und was die Leute betrifft, so haben wir ihm freie Hand gegeben. Gewöhnlich macht man das nicht, aber in diesem Fall … Selbstverständlich, morgen in der Personalabteilung …“ „Ich fürchte, ich habe nicht Zeit bis morgen …“ „Ist es wirklich so ernst?“ „Es reicht.“ „Ich weiß, aber … Ich kann für Sie nur das tun, daß ich Sie zu Mejstřík schicke.“ 190
„Wo wohnt er?“ „Soweit ich weiß, in Jinonice, falls er nicht umgezogen ist.“ Michal Exner seufzte leise.
76 In Jinonice war er in nicht ganz einer Stunde, nach einer weiteren halben Stunde fand er das Haus des Meisters Mejstřík, ein Häuschen, das er sich offenbar schon vor Jahren mit eigenen Händen und nach eigenen Plänen gebaut hatte, nach geradlinig einfachen und bescheidenen Plänen, so wie man dieses und jenes Material vom Abbruch besorgen konnte, was dem Gebäude das Aussehen des Verstecks eines verrückt gewordenen Historikers der Stilrichtungen der letzten hundert Jahre verliehen hatte. Der Maurer Mejstřík war augenscheinlich ein Mann, der die Hände nicht ruhen lassen konnte. Er zerlegte gerade auf dem Gehsteig vor dem Hause ein älteres Auto und machte eine Generaldurchsicht. Außer anderem bewies er damit, daß die Hände eines Handwerkers ganz allgemein golden sind. Er wischte sie sich an einem Knäuel Werg ab und zündete sich eine Zigarette an. „Und Was hat er angestellt?“ fragte er. „Wer?“ „Na, der Buš“, erklärte Mejstřík direkt. „Wie Sie ihn mir hier schildern, kann das kein anderer gewesen sein. Herrgott, der Kerl gibt aber auch keine Ruh’.“ „Ich verstehe Sie überhaupt nicht, Herr Meister“, gestand Kapitän Exner. „Sie sagen also Buš.“ „Ja. Einen anderen jungen Brocken haben wir in der Brigade nicht!“ 191
„Und was ist das für einer, dieser Buš?“ „Na … er ist vor einer Woche aus dem Knast gekommen.“ „Ach ja?“ wunderte sich Exner. „Und warum?“ „Irgendeine Gewalttat. Hat einfach jemandem im Suff eins übers Maul gegeben. Das wäre bei einem anderen Menschen nicht so schlimm, aber wenn Buš jemandem eins übers Maul gibt, dann können Sie sicher sein, daß daraus eine schwere Körperverletzung wird. Ja, und angeblich hat er den Betreffenden auch noch getreten. Ich meine, er ist ein ganz guter Junge. Darf halt nichts trinken, und man darf ihn nicht in Wut bringen.“ „Und wie arbeitet er?“ „Bis jetzt geht’s. Was hat er angestellt?“ „Bis jetzt nichts“, sagte Exner vorsichtig. „Ich brauche ihn eher als Zeugen … ich untersuche nämlich das Unglück, wo da oben dieser Wildesel …“ „Ach ja, der die schöne Frau zerstampft hat. War er dabei?“ „Jemand hat ihn dort gesehen. Hat ihn beschrieben.“ „Ja, das kann Buš gewesen sein. Wir hatten grade Pause. Und das steht fest?“ fragte Mejstřík ungläubig. „Fest wie Beton“, versicherte ihm Exner. „Wie ist er zu Ihnen gekommen?“ „Ich hab’ in der Brigade einen gewissen Doušek, und der kennt ihn aus dem Knast und hat ihn mir empfohlen. Dieser Doušek ist sehr geschickt. Hat wegen einer Betrügerei gesessen. Da hab’ ich den Jungen halt genommen.“ „Und wo könnte ich ihn jetzt finden?“ „Das weiß ich leider nicht“, sagte Mejstřík unsicher. „Wo wohnt er?“ Mejstřík zögerte. „Das weiß ich auch nicht.“ „Und Doušek?“ „Das werden sie vielleicht in der Personalabteilung wissen, im Betrieb, nicht wahr …“ 192
„Herr Meister“, sagte Michal Exner, „mir geht es wirklich nur um eine Zeugenaussage. Und ich muß das heute noch erledigen.“ Mejstřík tat einen tiefen Zug an der Zigarette, musterte Exner gründlich von den Schuhen bis zu den Haaren und zurück. „Ja … ich werd’s also nicht komplizieren … Dieser Buš wohnt nämlich noch nirgends. Ja, nirgends. Wo sollte er so schnell eine Bleibe herkriegen, ausgerechnet in Prag. So übernachtet er vorläufig auf dem Bau. Still und ruhig, noch hat’s keine einzige Beschwerde gegeben …“
77 Im Laboratorium im Souterrain brannten noch alle Lampen. Aber überall war es schon aufgeräumt und leer. An einem einzigen Schreibtisch saß, geschniegelt und gebügelt wie immer, Arnošt Buble und ordnete seine Notizen, mit kleiner Schrift auf kleine Kärtchen geschrieben. Er gebärdete sich ungewöhnlich zufrieden, wie ein Mensch, der erfolgreich das ihm anvertraute Werk abgeschlossen hat. Vlček schaute ins Labor. Er machte es sich auf dem Stuhl neben dem Tisch bequem, holte seine Pfeife hervor und stocherte darin mit einem Streichholz herum. „Es ist fast sicher“, sagte Buble. „Fast?“ „Wir kennen die Zusammensetzung des Stoffes in einer Narkotisierungspatrone. Wenigstens in den Hauptumrissen. Eine eingehendere Analyse wäre zu kompliziert und teuer. Wir kennen die Wirkungen und die Ursache für Vebers Tod. Das würde alles stimmen. In seinem Blut haben wir die in der Narkotisierungspatrone 193
enthaltenen Stoffe gefunden. Das ist zu neunzig Prozent sicher. Zu achtzig Prozent.“ „Prima“, sagte Vlček zufrieden und stopfte sich die Pfeife. Er zündete sie an und bildete um sich eine Wolke nicht sonderlich duftenden Rauchs. Er hatte offenbar nicht die Möglichkeit, sich einen besseren Tabak zu verschaffen, denn er dachte, es sei egal, womit er sich und alles ringsum verstänkerte. Leise lachte er auf. „Ich hatte einen ganz blöden Gedanken“, sagte er. „Auf seinem Mantel war Erde. Außer anderem selbstverständlich. Ich hab’ zwei Mann in den Zoo geschickt, sie sollen mir ein paar Bodenproben bringen. Es hat geklappt.“ „Die Erde ist dort die gleiche wie im Umkreis von einigen Kilometern.“ „Das doch wohl nicht.“ „Aber gewiß doch“, sagte Buble lächelnd. „Aber mit dreißig Prozent kannst du rechnen. Wo ist unser Kapitän?“ „Das weiß Gott“, meinte Vlček seufzend.
78 Kapitän Exner fuhr durch die gewundenen Straßen hinunter ins Stadtzentrum. Dort oben konnte man noch atmen, aber hier quetschte sich die Luft zwischen Häuser und Hänge, gefüllt mit Staub und Gestank, erstickte sich selber und alle, die sie atmen sollten. Exner sehnte sich nach der kühlen Nacht. Der bauchige Mercedes hielt am Rande des Gehsteigs neben einer Telefonzelle an. Er warf eine Münze ein und wählte die Nummer. „Beránek?“ fragte er. „Derselbe, mein Kapitän. Fassen wir’s zusammen?“ „Was?“ wunderte sich Exner geistesabwesend. „Ach so … Vielleicht heute. Hör mal, mir ist was eingefallen …“ 194
„Gott im Himmel!“ sagte Beránek trocken. „Das doch wohl nicht!“ „Ja. Heute mittag, ganz zufällig, hat ein Tier dort oben eine Frau totgetreten.“ „Der Kiang.“ „Was?“ „Das Tier heißt Kiang.“ „Und was ist das für ein Tier?“ „Ein Kiang.“ Exner seufzte. „So begreif doch, ist das ein Pferd oder ein Bison oder ein Hirsch oder ein Kamel oder was?“ „Ein Esel“, antwortete Beránek trocken. „Ich hab’ mir den Zettel am Gehege“, fügte er als Entschuldigung hinzu, „nur sehr flüchtig durchgelesen.“ „Ein Fehler. Eigentlich kommt es darauf auch gar nicht an. Hör mal: Ist es sicher, daß das ein Zufall war?“ „Um Himmels willen“, entsetzte sich Beránek, „woher soll ich das denn wissen?“ „Das weiß ich nicht“, gab Michal Exner zu. „Sie war bildende Künstlerin, Malerin oder Bildhauerin, und ihr Mann, der ist doch irgendwo beschäftigt, nicht?“ „Herr Kapitän“, sagte Beránek feierlich, „das habe ich bisher noch nicht ermittelt.“ „Ist er nicht im Zoo beschäftigt?“ „Vielleicht. Kann sein. Wer weiß. Aber warum?“ Beránek verstand offenbar überhaupt nichts. „Deine Sorgen möcht’ ich haben, bei Gott!“ „Aber nicht doch“, sagte Exner ohne jeden Humor, „mir kam es nur komisch vor, daß er sofort, unverzüglich, wie jemand, glaube ich, gesagt hat, am Unglücksort war.“ „Na schön“, erklärte Beránek. „Er war eben an diesem Morgen dort. Na und?“ „Dir kommt das nicht komisch vor?“ „Nein. Warum? Der Ehemann … Ja, Moment … verdammt …“ 195
„Aha“, sagte Exner, „kapiert?“ „Kapiert. Aber wir haben genug eigene Sorgen, nicht?“ „Die sind so, daß diese eine geringfügige Sorge überhaupt keinen Einfluß auf irgendwas haben kann. Ich fahre jetzt langsam in die Stadt. Komme bei dir vorbei. Inzwischen stell du fest, wie diese Frau geheißen und wo sie gewohnt hat und ob sie dort mit ihrem Mann gewohnt hat …“ „Lauter Kleinigkeiten.“ „Genau. Ich meine aber, das solltest du nicht bei Direktor Velenínský erfragen.“ „Übertreibst du nicht?“ „Offenbar“, stimmte Exner zu. „Aber wenn du überlegst, daß dieser Mann fast augenblicklich am Unfallort war, dann muß dir das auch unter der Voraussetzung komisch vorkommen, daß er im Zoo arbeitet.“ „Sie hatten dort ein Rendezvous.“ „Und das glaubst du?“ „Sehr nicht. Nur“, fügte Beránek hinzu, „um es dir zu gestehen, so neugierig bin ich wieder auch nicht.“ „Und das ist ja gerade mein größtes Unglück“, sagte Michal Exner mit einem Seufzer.
79 Er fand Oberleutnant Vlček und Doktor Buble in stiller Meditation. Das Labor stank nach den Verbrennungsstoffen aus Vlčeks Pfeife. „Servus“, grüßte Michal Exner burschikos. „Fassen wir’s zusammen?“ „Wir haben damit“, sagte Buble, „nicht mehr gerechnet. Vlček meint …“ „Daß es nichts zusammenzufassen gibt?“ fragte Exner. 196
„Tja …“ Vlček stand auf, trat an den Abfallkorb, hockte sich davor und klopfte die Asche aus der Pfeife in den Korb. „Etwas Konkretes wäre schon da. Soll ich anfangen?“ „Gewiß.“ „Wo ist Beránek?“ „Kommt gleich. Kannst ohne ihn anfangen.“ „Wenn wir einstweilen die Fragen und Probleme um die Innenarchitektinnen außer acht lassen …“, begann Vlček giftig und ziemlich außerhalb des Kerns der Dinge. „Das können wir“, sagte Exner knapp. „Alles hat seine Zeit und seinen Ort.“ „Zu Befehl, mein Kapitän“, sagte Vlček, schnupperte an der Pfeife und steckte sie angeekelt in die Tasche. „Hast du nicht eine Zigarette? Aber eine gute …“ Er bekam sie. Sie schmeckte ihm, denn er schaute lange dem Rauchwölkchen nach, das er aus ihr bildete. „In den späten Abendstunden meldete ein gewisser Doktor Hromádka dem Rettungsamt, daß er im Park unweit seiner Wohnung einen betrunkenen Mann entdeckt habe, der bewegungsunfähig sei. Das Rettungsamt beförderte den Betreffenden zur Auffangstation. Vielleicht ist es der Erwähnung wert, daß Doktor Hromádka auf den Krankenwagen wartete, daß er den Betreffenden nicht dort liegenließ, wo er ihn gefunden hatte, sondern ihn aus dem Gras zur Treppe des dortigen Transformatorenhäuschens schleppte. Er erklärte, den Betreffenden nicht zu kennen, aber ein bißchen bekannt sei er ihm doch vorgekommen. Laut der vorläufigen Aussage hat Hromádka nichts Verdächtiges bemerkt. Einverstanden?“ „Einverstanden“, sagte Exner. „Von diesem ersten Teil bleiben nur zwei Dinge interessant: Doktor Hromádka kennen wir. Es ist schon das zweite Mal, daß er durch einen sonderbaren Zufall zu einem sonderbaren Vorfall hinzugekommen ist. Damals, wenn ihr euch er197
innert, auf dem Gelände eines Panzerschießplatzes. Und jetzt das da. Dieser unser Doktor Hromádka sieht fast peinlich unschuldig aus.“ „Und die dritte Kleinigkeit“, ergänzte ihn Vlček, „daß er den Mann zum Transformatorenhäuschen schleppte, wo er ihn doch hätte ruhig im Gras liegenlassen können.“ „Aber das können wir“, meinte Exner, „seinem Bemühen zurechnen, irgendwie, aber eben doch, wenn auch verwirrt, zu helfen.“ „Vielleicht“, stimmte Vlček zu. „Darf ich fortfahren?“ „Gewiß.“ „Auf der Auffangstation erkannte der diensthabende Arzt, daß es sich nicht um eine Alkoholvergiftung handelte. Weil er sich nicht sicher war, rief er aus der nahen Klinik einen Kollegen zur Konsultation hinzu. Sein Kollege, ein junger Internist, bestätigte den Verdacht, daß es sich nicht um Alkohol handelte. Sie riefen ein ganzes Konsortium zusammen, brachten den Mann in die Klinik, und dort starb er ihnen sozusagen unter den Händen.“ Er wandte sich Arnošt Buble zu. „Todesursache?“ Arnošt rückte die Brille zurecht und strich sich die Haare glatt. „Tja …“ Er breitete vor sich seine Kärtchen aus. „Willst du es detailliert, Michal, oder nur so in Umrissen?“ „Wie du meinst. Wenn es detailliert wichtig ist …“ „Ist es nicht“, sagte Buble. „Magen, Darm, Blut, Gewebe und so weiter, ein ganzer Haufen, lauter Wissenschaft. Schlußfolgerung: Im Körper des Betroffenen wurden Stoffe gefunden, die eine Lähmung der Muskeln bewirken. Der Tod trat durch Ersticken ein, weil die Muskeln zu arbeiten aufhörten, die den Brustkorb dehnen und zusammenziehen und die Atmung ermöglichen. Stoffe von gleicher Zusammensetzung verwendet man für die sogenannten Narkotisierungspatronen, mit de198
nen wilde Tiere zur Zoohaltung gejagt werden, freilich nicht bei uns. Und die auch in den Zoos verwendet werden. Zur Teilnarkose der Tiere, die man veterinärärztlich behandeln muß und bei denen die Gefahr besteht, daß anders eine Behandlung unmöglich wäre. Aber dich wird wohl am meisten interessieren …“ „Richtig: ob der Stoff aus den Narkotisierungspatronen, die sie hier im Zoo haben, eurem Obduktionsbefund und der chemischen Analyse des Narkotikums entspricht.“ Buble schichtete die Kärtchen aufeinander. „Das tut er … Das läßt sich mit achtzig- bis neunzigprozentiger Sicherheit behaupten.“ „Die zwanzig Prozent sind deine persönliche Reserve?“ „Genau.“ „So daß wir es für völlig sicher halten können.“ „Das könnt ihr“, sagte Buble. „Kann man einen solchen Stoff bei uns normalerweise herstellen?“ „Herstellen ja, aber nicht normalerweise und einfach. Doch im wesentlichen geht es. Hier entsteht dann allerdings ein Problem – die Applikation, um mich so auszudrücken. Das muß injiziert werden, verstehst du, Spritze, Nadel, in den Muskel. Das dauert eine Weile. Und es ist unwahrscheinlich, daß sich jemand wegen nichts und wieder nichts eine Injektion in den Hintern spritzen läßt.“ „Beim Arzt, wenn es sich um Penizillin handelt.“ „Aber nicht auf der Straße. Oder meinst du, jemand ließe sich Penizillin auf einer Bank im Park in die besagte Stelle spritzen? Das Zeug wirkt nämlich fast augenblicklich.“ „Ausgezeichnet. Und deine Schlußfolgerung?“ „Die geeignetste Methode eines schnellen Einspritzens des Stoffes in den Körper ist die Narkotisierungs199
patrone. Wie du dich bestimmt hast belehren lassen, genügt es, die Patrone zu entsichern und zuzustechen. Durch den Anprall löst sich in der Patrone der Verschluß, man könnte sagen, so eine Siphonpatrone, und das komprimierte Gas stößt den Narkotisierungsstoff durch die Nadel in den Muskel. Anders kann ich mir das bis jetzt nicht erklären.“ Exner wandte sich an Vlček. „Also weiter.“ „Es wurde festgestellt“, fuhr Vlček fort, als diktierte er ins Protokoll, „daß der Betroffene Milan Veber heißt, Innenarchitekt. Laut Mitteilung seiner Frau war er gegen sieben Uhr abends aus dem Hause gegangen, mit dem Bescheid, daß er gegen zehn wieder da sei. Angeblich wollte er einen Kunden besuchen, um ihm eine Wohnungseinrichtung zu entwerfen. Der Ort, wo Veber sich am Abend befunden hatte, wurde nicht ermittelt. Seine Frau meldete den Vorfall der Polizei erst am nächsten Morgen, obwohl sie ihren Mann mit Sicherheit schon abends erwartete, denn sie hatten vereinbart, nach seiner Rückkunft gemeinsam auf die Datsche zu fahren. Deshalb hatte die Vebrová im Lauf des Abends alles im Wagen verstaut, was sie mitnehmen mußten. Veber gebrauchte für seine Wege zu den Kunden den Wagen nie. Oder nur in Ausnahmefällen. Problem: Warum ist die Frau erst am Morgen zur Polizei gegangen?“ „Sie ist keine Panikmacherin“, meinte Exner. „Hast du mit ihr gesprochen?“ „Nein. Ich habe sie in der Prosektur gesehen.“ Exner dachte nach. „Vielleicht wollte sie wirklich nur keine Panik machen. Und was, wenn nicht?“ „Falls ihr erlaubt, Herren Offiziere“, mischte sich Buble ein, „so spielt das sowieso keine Rolle. War sie am Abend zu Hause?“ „Offenbar. Sie machte die Sachen für die Datsche fertig. Bestimmt hat jemand sie gesehen.“ „War sie nachts zu Hause? Allein?“ 200
„Sie hat telefoniert, aber das konnte sie von überall.“ „Das ist ein Problem“, bestätigte Michal Exner. „Darauf werden wir also vorläufig nicht antworten, meine Herren. Weiter.“ „Im Park, an der Stelle, wo Veber gefunden wurde, war der Rasen niedergedrückt, offenbar weil sich der Betroffene mehrmals umdrehte, ferner die Spuren des Mannes, der ihn zum Transformatorenhäuschen schleppte, also dieser Hromádka. Ferner unter einem Strauch unweit davon ein nachlässig zusammengerollter Nylonmantel in einem geschlossenen Beutel aus dem gleichen Material. Bei der weiteren Suche wurde nichts gefunden, ‚was irgendwie mit dem Fall zusammenhängen konnte. Den Mantel haben wir zur Expertise übergeben …“, und wieder wandte er sich Doktor Buble zu. Arnošt Buble zog ein Kärtchen aus dem Stapel und berichtete: „Er war beschmiert mit Erde, Puder, gefunden wurden zwei Haare, dunkles Tizianrot, ursprüngliche Farbe kastanienbraun, und ein graues Haar. Ferner Spuren … hm … von Liebe, Herr Kollege. Weil wir nichts versäumten, haben wir festgestellt, daß sich auf diesem Mantel wahrscheinlich Milan Veber mit einer Frau mit tizianrotem Haar geliebt hat. Des weiteren“, fuhr Buble fort, „habe ich den Vorschlag des hier anwesenden Oberleutnants Vlček in Erwägung gezogen und die Erdproben aus dem Zoo, die mir in der Masse von einigen Kilogramm geliefert wurden, mit der Erde auf dem Mantel verglichen. Sie sind identisch. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß die geologische Zusammensetzung des Gebiets um den Zoo im Umkreis von einigen Kilometern gleich ist, und betone die Möglichkeit, daß der Mantel woanders, bei einer anderen Gelegenheit, Gott weiß wann, beschmutzt worden sein kann …“ „Und die Spuren der Liebe?“ interessierte sich Exner. „Die waren frisch“, antwortete Buble. „So daß du nicht ausschließen kannst …“ 201
„Ich kann eher mit Sicherheit voraussetzen, daß sie an dem kritischen Abend auf dem Mantel entstanden sind.“ „Und damit haben wir’s“, sprach Vlček zufrieden. „Jetzt nur noch die rothaarige Frau finden, die ihm die Injektion verpaßt hat.“ „Da wirst du“, sagte Michal Exner, „mein Offizier, ganz danebenschießen. Denn die Dame kenne ich.“ „Aber …“ „Offenbar kenne ich sie …“ „Das klingt schon schwächer.“ „Dafür ist es sicher, daß die, von der ich spreche, leider auch nicht mehr lebt.“ „Willst du vielleicht sagen …“ „Ja“, sagte Michal Exner betrübt, „diese Frau, die heute morgen der Kiang zerstampft hat, hatte sehr schönes, dunkeltizianrotes Haar.“
80 Vlček zog vor Erregung die Pfeife aus der Tasche und kratzte sich mit dem Röhrchen am Kopf. „Das würde bedeuten …“ „Na?“ ermunterte ihn Exner. Aber Vlček zuckte nur die Schultern. „Eben“, stimmte ihm Exner zu. „Das würde genau das bedeuten. Ich könnte einen Kaffee vertragen, Jungs.“ Und sie kochten und tranken Kaffee und rauchten und verharrten in Schweigen. Bis zu dem Augenblick, da Beránek im Labor erschien. „Mein Gott“, sagte er, „hier ist es aber still.“ Sie berichteten ihm kurz, warum. „Aber“, sagte er ohne die geringste Erregung. „Hier hast du, Michal, auf einem Blatt Papier die Adresse die202
ses Berka. Und wir, Arnošt, sollten auf die Prosektur gehen, ein paar Haare dieser Dame holen, damit es hundertprozentig sicher ist. Mir kommt das so vor …“, erklärte er fast fröhlich. „Wie?“ fiel ihm Michal Exner ins Wort. „Schön kompliziert“, meinte Beránek zufrieden. „Das ist Schicksal“, sagte Michal Exner seufzend. „Wenn wir hier fertig sind, besorg mir die Adresse einer Frau Marková. Ich weiß nicht, was sie macht. Ich weiß nur, daß ihr Sohn im Zoo beschäftigt ist. Aber dort frag nicht nach ihr.“ „Was ist mit ihr?“ interessierte sich Vlček. „Ich habe mit Adolf Kroupa geplaudert. Er hat diese Frau bei den Affen kennengelernt.“ „Und weiter?“ „Kroupa hatte einen bestimmten Eindruck.“ „Ein Heiratsschwindler“, sagte Vlček, „ist immer der phantastischste Lügner.“ „Kann sein“, räumte Exner ein. „Aber ich meine, daß auch ein Kroupa einen scharfen Blick haben kann.“ „Warum sollte er ihn gerade dir zuliebe haben?“ „Niemandem zuliebe. Und ich hab’ ihm auch was versprochen.“ „Genosse Kapitän“, sprach Vlček salbungsvoll, „einmal wird man dich einsperren.“ „Ich freu’ mich schon jetzt darauf“, erklärte Michal Exner leichthin, „daß du mich besuchen wirst. Wo ist das Papierchen mit der Adresse? Danke. Dann also tschüs.“ „Moment“, hielt ihn Vlček an. „Und deine Schlußfolgerung?“ Exner zuckte die Schultern. „Auch hat sich dort ein gewalttätiger Maurer herumgetrieben, den sie vor einer Woche aus dem Knast entlassen haben. Ich werde ein paar Worte mit ihm wechseln. Das wäre interessant, wenn dieser Veber und die Berková … Hör mal, war es bestimmt Vebers Mantel?“ 203
„Seine Frau hat es bestätigt.“ „Das könnte mit Sicherheit nur ein guter Spürhund bestätigen“, wandte Michal Exner ein, „und der könnte es uns nicht ins Protokoll sagen.“ „Und was ist mit diesem Kiang?“ fragte Beránek. „War es ein Zufall oder nicht?“ „Kommt es dir wie Absicht vor?“ interessierte sich Vlček. „Ein Pferd kann doch nicht …“ „Ein Kiang“, korrigierte ihn Beránek. „Gut, also ein Kiang kann doch keinen Befehl ausführen. Und darin liegt, meine ich, das Problem. Was meinst du, Michal?“ „Das wissen nur der liebe Gott und der heilige Wenzel.“
81 „Grüß dich“, sagte der bebartete Veterinär, als er das private Arbeitszimmer von Doktor Velenínský betrat, das über seinem dienstlichen Arbeitszimmer lag. Er grinste so unfroh, daß er mit seinem dichtbewachsenen Gesicht an einen Orang-Utan erinnerte. Der Direktor schaute aus dem Fenster zwischen den Zweigen der Kastanien hindurch in Richtung der windschiefen Bude, die bisher als Elefantenstall diente, lebensgefährlich für den einzigen hier gehaltenen Elefanten. Er wies mit einem Nicken auf einen Sessel. „Etwas mit dem Ameisenigel?“ „Der Ameisenigel mit seinen Jungen ist in Ordnung“, sagte der Veterinär und rieb sich den Bart, daß es knisterte. „Da wäre ein anderes Problem.“ Durch das offene Fenster hörte man, wie ein ZooAngestellter das eiserne Gitter im Tor schloß und wie unten im Restaurant die Tische aufeinandergestellt wurden. 204
Doktor Velenínský ließ vom Beobachten der Kastanien ab und wandte seine müden Augen dem Veterinär zu. „Du hast nicht gerade die beste Farbe“, bemerkte er. „Hast du was Unrechtes gegessen?“ „Nein. Was Unrechtes hab’ ich nicht gegessen. Und daß ich nur grün im Gesicht bin, ist noch ein Wunder. Ich kam vom Ameisenigel und sagte mir, schaust mal nach unserer Bude … Nur so … Ist mir einfach eingefallen. Ein kleiner Schock von den Burschen, die dort am Vormittag gehaust haben.“ „Gehaust haben?“ „Na ja … ich weiß nicht, wie die das nennen. Spurensuche oder so …“ „Aha“, sagte Velenínský. „Und weiter?“ „Ich werde dich nicht auf die Folter spannen“, sagte der Veterinär ohne Humor und fast verzweifelt. „Eine weitere Narkotisierungspatrone ist futsch.“ „Blödsinn. Du bist mit den Nerven ’runter.“ „Das auch“, sagte der bärtige Veterinär, und das war offensichtlich, so wie er angestrengt den Bart zerzauste und wieder glättete. „Aber nicht so sehr, daß ich nicht bis fünf zählen könnte. Zu Mittag, als ich den Schrank verschloß, waren dort noch sechs, am Morgen sieben, eine haben wir der Kripo geborgt. Die Quittung hab’ ich in der Tasche, aber eine weitere Patrone ist futsch.“ „Wer hat zugeschlossen?“ „Ich. Da begann das Theater mit dem Kiang, und wir eilten hin. Zugeschlossen hab’ ich. Daran erinnere ich mich ganz genau. Die Patrone ist nachmittags verschwunden.“ „Am hellichten Tage.“ „Am hellichten Tage, aber hier spielt das Licht keine Rolle. Ich brauche keinen dressierten Hund und keine Gruppe von Fachleuten, um zu erkennen, daß jemand von draußen das Fenster aufgemacht und mit einem kleinen Sperrhaken den Schrank geöffnet hat. Mit einem 205
Schlüssel wohl nicht, denn er hat ihn nachher offengelassen. Ich brauche kein Extragehirn, um nicht von selber daraufzukommen, daß das Fenster auf den Zaun zugeht, zu den Sträuchern, durch die niemand richtig gucken kann, so daß es völlig Wurscht ist, ob die Dinge am hellichten Tage oder in der Nacht geschehen.“ „Dinge gibt’s! Gestohlen wird.“ „Ja, gestohlen wird.“ „Und gemordet.“ „Das würde ich nicht auf Anhieb glauben“, zweifelte der Veterinär. Doktor Velenínský wiegte den Kopf und machte den Eindruck eines Menschen, der sich kühl für zwei Möglichkeiten entschlossen hat. Entweder aus dem Fenster zu springen, eine Weile auf einem Kastanienast zu schaukeln und zu versuchen, die menschliche Gesellschaft zu vergessen, oder es vom Standpunkt des Intellektuellen und Wissenschaftlers aufzufassen, dem die Aggressivität nur eine Bekundung des biologischen Wesen des Menschen ist. Er entschloß sich für das zweite und erklärte: „Das ist eine fertige Sache, und wir können uns umgehend erschießen.“ Die Hände des Veterinärs rotierten geradezu in seinem Bart. „Die sind der Meinung“, fuhr Velenínský fort, „daß noch vorher eine verschwunden ist. Die, mit der ein unbekannter Mann umgebracht wurde.“ „Vorher“, erklärte der Veterinär mit augenscheinlicher Hoffnungslosigkeit, „können auch drei verschwunden sein. Das ist eine Sauwirtschaft …“, fügte er allgemein und selbstkritisch hinzu. Doktor Velenínský dachte eine Weile nach und sagte dann langsam: „Ich nehme an, daß vorher eine verschwunden ist. Jemand hat sie sich genommen, um diesen Unbekannten zu beseitigen. Mit diesem erfolgrei206
chen Versuch hat er die Nützlichkeit der Waffe erprobt. Deshalb hat er heute eine weitere genommen. Er gedenkt den Erfolg zu wiederholen …“ „Um Himmels willen“, stöhnte der Veterinär. „Wir müssen doch völlig verblödet sein. Wir quatschen wie Sherlock Holmes.“ „Die Situation“, sagte Velenínský. „Das ist einfach der Einfluß der Situation.“ „Du mußt diese Patronen in die Kanzlei nehmen.“ „Beruhige dich. Damit ist auch nichts mehr zu ändern. Aber beeilt hat er sich, Donnerwetter.“ „Wer?“ „Na, der Mörder, Mensch!“ Doktor Velenínský war so nervös, daß er fast schrie. Der bärtige Veterinär zuckte zusammen. „Das doch … das doch wohl nicht …“, murmelte er. „Ich mache mir keine Illusionen“, erklärte Velenínský. „Bei den Menschen existiert die Aggressivität genauso wie bei den Tieren. Und sie kann sich entladen, und sie entlädt sich auch von Zeit zu Zeit – auch durch einen Mord. Warum sollten wir daran zweifeln, daß jemand aus unserem Kreis …“ „Aus unserem Kreis?“ entsetzte sich der Veterinär. „Ja, aus dem Kreis der Menschen im Zoo und um ihn, warum also sollten wir daran zweifeln, daß jemand aus diesem Kreis ein Mörder ist?“ „Na ja“, stimmte der Veterinär mit mäßiger Überzeugung zu. „Aber wer?“ „Du, ich, jeder beliebige.“ „Ist das möglich?“ „Warum nicht? Schau mal, ich meine … oder besser: ich bin überzeugt, daß das Unglück mit dem Kiang nicht zufällig geschah. Und ich sage dir, warum.“ Der Veterinär hörte sich die Erklärung des Direktors an und hatte ihr nichts hinzuzufügen. Er blieb niedergeschlagen sitzen. 207
„Was würdest du an meiner Stelle tun?“ fragte am Ende Velenínský. „Ich würde die Sache der Polizei melden.“ „Gleich?“ „Am besten …“ Der Veterinär stotterte vor Erregung. „Was, wenn in der Nacht wieder was passiert!“ „Also melden?“ „Sofort“, erklärte der Veterinär. Während den Veterinär die Situation und die Mutmaßungen so an den Stuhl festbanden, daß es überhaupt nicht sicher war, ob er jemals wieder aufstehen würde, empfand Doktor Velenínský gerade jetzt das dringende Bedürfnis, ein bißchen herumzuwandern. Er stand jäh auf und eilte durchs Zimmer, von einer Ecke in die andere.
82 Jeder hat sein System zur Reproduktion der Arbeitskraft. Von zwei Bier über die Sauna bis zu einem Spaziergang mit dem Hund. Doktor Hromádka hatte gleichfalls sein System. Von der Straßenbahn bis zur Tür des Hauses, in dem er wohnte, schritt er ungewöhnlich rasch. Nicht vielleicht im Trab, denn das hätte den Eindruck der Würde beeinträchtigt, die er um sich verbreitete. Er trat ins Haus und stieg mit dem leichten Schritt eines Jünglings – angesichts seiner Massigkeit und seines Gewichts eigentlich eine Leistung – frisch in den zweiten Stock hinauf. Er begrüßte seine Familie, begab sich ins Bad und tauchte ein in die Wanne voll heißen Wassers, wo er fast zwei Stunden blieb. Zumeist widmete er diese Zeit der Regeneration seines Körpers und Geistes durch Erwägungen über die Tätigkeit des Instituts, das er leitete. Von Zeit zu Zeit störte ihn seine Frau: 208
„Anruf für dich. Herr Klonček.“ „Ich bin in der Wanne.“ „Anruf für dich. Genosse Mázda.“ „Ich bin in der Wanne.“ Er stand nur in dem Falle auf und wickelte sich ins Badetuch, wenn der Minister persönlich anrief. Dann eilte er, spritzend und nasse Tapsen auf Parkett und Teppich hinterlassend, einem beleibten römischen Senator ähnlich, in sein Arbeitszimmer. „Herr Václavík ruft an.“ „Ich bin in der Wanne“, sagte Doktor Hromádka, und plötzlich stutzte er, tastete nach der Brille. „Moment! Václavík? Ich komme.“ „Hier bin ich“, sagte er ins Telefon. „Verzeihen Sie, ich war gerade in der Wanne. Ist etwas passiert?“ „Überhaupt nicht“, entgegnete Václavík, wie es Doktor Hromádka schien, unangemessen fröhlich. „Überhaupt nichts ist passiert. Ich rufe nur an, ob sie noch einmal bei Ihnen waren?“ „Nein – das heißt, wer? Sie hatten doch wohl keinen Grund … Ich weiß eigentlich nichts.“ „Wer weiß …“, erklärte Václavík vieldeutig, leichtfertig und verantwortungslos. „Wer weiß“, wiederholte er. „Bei denen weiß man nie. Ich hab’ den Tag über ein bißchen nachgedacht … Vielleicht wäre es besser, ihnen nichts zu sagen.“ „Ich habe nichts …“ „Gewiß, Herr Doktor, Sie nichts.“ „Ich hatte keinen Grund, Meister. Nicht wahr, ich hatte einfach keinen Grund.“ „Richtig. Dann also gute Nacht, Herr Doktor.“ „Gleichfalls, Meister“, sagte Hromádka und legte den Hörer auf. Er machte ein bekümmertes Gesicht. Und schaute betrübt auf den feuchten Teppich unter sich. 209
83 Das Trauerhaus sah aus wie jedes andere Mietshaus in diesem Viertel. Exners Mercedes war von der untergehenden Sonne gerötet und wirkte leicht unheilverkündend. An der mit zwei Namen bezeichneten Tür klingelte Michal Exner. Ihm öffnete ein langer Lulatsch im Rollkragenpullover. Mit einem banal stumpfen Blick. „Sie wünschen?“ fragte er trocken. „Ingenieur Berka?“ „Was wünschen Sie?“ „Ich bin Kapitän Exner“, sagte Michal deutlich. „Falls Sie Ingenieur Berka sind, muß ich mit Ihnen sprechen.“ „Kapitän? Sie haben meine Frau gekannt?“ „Vom Sehen“, entgegnete Exner. „Ich bin von der Kriminalpolizei, und hier ist mein Ausweis.“ „Zeigen Sie.“ „Bitte sehr.“ Michal Exner trat in die Wohnung und schloß hinter sich die Tür. „Ich möchte Sie nach einigen Umständen befragen …“ „Sie haben sie wirklich gekannt?“ Es schien, daß der lange Berka noch um einige Zentimeter wuchs. „Ich habe sie einmal gesehen … vorgestern … Ich war zufällig im Zoo. Ein Zufall …“ „Glauben Sie an Zufälle?“ „Natürlich. Sie nicht?“ fragte Exner zurück. „Wenn nicht, dann wird es um so interessanter sein, wenn wir uns unterhalten.“
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84 „Du läufst schön“, bemerkte der Veterinär. „Jeder Bär im Käfig würde dich um deinen Stil beneiden.“ „Danke“, sagte Velenínský schroff, aber sein Marschtempo verlangsamte er nicht. Als Zoologe war er überzeugt, daß es überflüssig war, sich in bestimmten Situationen zivilisatorische Schranken aufzuerlegen. „Wer weiß es?“ „Was?“ „Daß eine weitere Patrone verschwunden ist.“ „Eine weitere? Wir wollen doch annehmen, daß vorher keine verschwunden ist.“ „Nehmen wir lieber an, daß mehr als eine verschwunden ist. Das ist sicherer und dürfte der Wahrheit näher kommen.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete Velenínský. „Ich denke es nur.“ Er trat an den Bücherschrank und holte aus dem unteren, nicht verglasten Teil dieses Möbelstücks eine flache Flasche und zwei Gläser hervor. „Die Dinge entwickeln sich so tückisch, daß für uns zwei …“ Er hielt inne. „Moment: Wer weiß von dieser letzten Patrone?“ „Zuerst ich und dann du.“ „Niemand sonst?“ „Nein.“ „Die Dinge“, wiederholte Velenínský, „entwickeln sich so tückisch … Ich opfere diesen Martell. Und die Polizei werde ich nicht anrufen. Es besteht kein Grund für mich, zu meinen, daß das Unglück mit dem Kiang und die verschwundene Narkotisierungspatrone zusammenhängen. Ich bin Zoologe und nicht Fachmann für Morde. Vorläufig wollen wir uns das mal aus dem Kopf schlagen. Bei den Patronen werde heute nacht ich schlafen und …“ „Du bist ein Abenteurer. Er murkst dich ab.“ 211
„Wer?“ „Der …“ Velenínský trat an den Schrank und öffnete ihn. In der Ecke stand eine ältere, aber hübsch aussehende Jagdflinte. „Soll er’s nur probieren. Wenn sie kommen, werde ich es ihnen sagen. Wenn nicht, werden wir das einstweilen für Zufälle halten.“ „Und wenn etwas passiert?“ wiederholte der Veterinär eindringlich. „Dieser Jemand hat doch die Patrone nicht nur deshalb geklaut, um sie sich andächtig anschauen zu können.“ „Das ist möglich; aber auch wenn wir es jetzt gleich melden: Wissen wir oder die Polizei, wer der Mörder ist und wer das Opfer sein soll? Das wissen wir nicht.“ Er hob das Glas: „Dann also prost!“
85 „Ob nun die ganze Angelegenheit verdächtig ist oder nicht“ sagte Exner, „und wenn sie verdächtig ist, dann ist das meine Sorge, Herr Ingenieur, ob also ja oder nein: Ich bin überzeugt, daß jedem Ihre augenblickliche Anwesenheit am Unglücksort im Kopf herumgehen müßte, wo es obendrein zu dem Unglück um eine Zeit gekommen ist, die Sie – sagen wir – durch fruchtbringende Arbeit in Ihrem pharmazeutischen Betrieb hätten verbringen müssen.“ Im Verlauf des Gesprächs waren sie aus dem Korridor ins Zimmer gelangt, das zwar auf einen Kenner der gegenwärtigen Tendenzen der Innenarchitektur stark wirken mußte, ob nun durch die Abstimmung der Farben der Tapeten und Bezugsstoffe, Vorhänge und Gardinen oder die Wahl der Möbel und ihre Plazierung, aber gerade deshalb war es darin recht kalt. 212
Berka fläzte sich auf die mit einem imitierten Schaffell bedeckte Couch. Exner zwängte sich in ein Sesselchen auf einem Drehfuß. Er hatte Appetit auf einen Kaffee, aber er versagte sich ihn, hier hätte er sowieso keinen bekommen. „Ich habe keine Erklärung dafür“, meinte Berka trocken. „Das heißt“, fiel ihm Exner ins Wort, „Sie wissen wirklich und wahrhaftig nicht, warum Sie sich plötzlich im zoologischen Garten befunden haben?“ „Ich sehnte mich danach, meine Frau zu sehen.“ „Wann haben Sie geheiratet?“ fragte Exner. „Vor zwölf Jahren.“ „Viele Frauen würden Ihre Frau beneiden.“ „Wieso?“ wunderte sich Berka. „Sie würden sie um ihren aufmerksamen und liebenden Gatten beneiden. Nach zehn, zwölf Jahren …“ „Ich bin öfter zu ihr gefahren.“ „Haben Sie Zeugen? Hat sie jemand während der Arbeitszeit in den Zoo gehen sehen?“ „Begreiflicherweise nicht.“ „Sie haben also Ihre Gefühle versteckt.“ „Was für Gefühle, um Himmels willen?“ „Ihrer Frau gegenüber. Oder sind Sie nicht aus Sehnsucht, sie zu sehen, zu ihr gegangen, sondern …“ „Hören Sie mal!“ „Sie brauchen nicht zu antworten. Aber es bleiben zwei Möglichkeiten; die erste: Es ist kein Zufall, daß Sie im Gehege bei diesem Esel aufgetaucht sind. Das müssen Sie mir erklären. Nicht gleich. Vielleicht in einer Woche, in vierzehn Tagen. Und da werde ich bereits von anderer Seite Informationen haben, so daß ich Ihre Aussage lediglich kontrollieren werde. Und die zweite: Es handelt sich wirklich um einen Zufall, einen unglaubhaften Zufall oder eine Banalität. In diesem Fall muß ich von Ihnen denken, daß bei Ihnen eine Schraube locker 213
ist, denn aus Banalitäten ein unaussprechliches Geheimnis zu machen ist, wie Sie mir sicher zustimmen werden, Unsinn“, erklärte Michal Exner direkt. „Also überlegen Sie sich alles in Ruhe, ich komme wieder. Bis jetzt kann es eine freundschaftliche Unterhaltung gewesen sein, später vielleicht ein Verhör.“ Und Exner stand auf, denn er kam zu dem Schluß, daß seine Ansprache umfangreich genug war. „Moment“, hielt ihn Berka an. Kapitän Exner gehorchte. Weder zögernd noch erfreut. Aber Berka schwieg. Er drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. „Tja“, drückte sich Exner unbestimmt aus und blickte durchs Fenster auf die langweilige Fassade des Hauses gegenüber. „Genügt es“, fragte Berka langsam, „genügt es … wenn ich Ihnen sage, daß es eine Banalität war?“ „Ich weiß nicht“, sagte Exner und beobachtete unverwandt die Reihe nichtssagender Fenster des Hauses gegenüber, „warum man aus Banalitäten ein Gewese machen sollte wie aus einem Staatsgeheimnis …“ „Ich habe das Gefühl“, meinte Berka mit offensichtlichem Widerwillen, „daß Sie zumindest … taktlos sind. Ja, taktlos. Begreifen Sie doch bitte, in welcher Situation ich mich befinde.“ „Taktlos bin ich gelegentlich“, stimmte Exner zu. „Je nach den Umständen und je nachdem, mit wem ich spreche.“ „Erlauben Sie!“ „Die Menschen“, sagte Exner hart, „verhalten sich bei dem Verlust ihrer Nächsten unterschiedlich. Ich versichere Ihnen, daß ich gerade damit gewisse Erfahrungen habe. Ein so hervorragender Schauspieler sind Sie nicht. Im Gegenteil. Sie sind überhaupt kein Schauspieler.“ „Wie meinen Sie das, Herr?“ „Sie verhalten sich im wesentlichen natürlich. Und 214
wenn Sie denken, Ihr Verhalten sei die Widerspiegelung eines tiefen Kummers in Ihrem Herzen, dann denken sie falsch. Kummer ist in Ihnen sehr wenig.“ Ingenieur Berka sprang auf. Auf dem bleichen Gesicht hatte er rote Flecke. „Wenn jemand, Herr“, brüllte er, „seine Frau geliebt hat, dann bin ich das gewesen! Aber sie …“ Er stockte. „Was hat sie?“ fragte Exner mit gelinder und ruhiger Verwunderung. „Sie hat Sie nicht geliebt?“ fuhr er fort und stellte die dritte Frage: „Sie war Ihnen sogar untreu?“ Berka sank wieder auf die Imitation des Schaffells. Er nickte. „Mit wem?“ Der Ingenieur zuckte die Schultern. „Beweise?“ Berka zuckte wieder die Schultern. „Und da sind wir wieder, wo wir waren“, erklärte Exner betrübt. „Sie waren einfach eifersüchtig und hatten keinen Grund.“ „Unsinn!“ „Es gab also einen Grund zur Eifersucht.“ „Reiten Sie doch nicht …“ „Ich hab’ Ihnen schon einmal gesagt“, unterbrach ihn Exner geduldig, „warum ich immer auf dem gleichen herumreiten muß. Hat sie Milan Veber gekannt?“ „Nie im Leben hab’ ich diesen Namen gehört. Ich weiß es nicht.“ „Sie hat ihn nicht gekannt, in Ordnung. War er aus dem zoologischen Garten?“ „Wer?“ „Der Herr, der Ihre Frau …“ „Ein Junge. Blond. Ein Würstchen. Ein Narr.“ „Bißchen viel für einen einzigen Menschen“, meinte Exner. „Haben Sie sie ertappt?“ „Nein, das wäre doch …“ „Anders ausgegangen?“ „Was hätte anders ausgehen sollen?“ 215
„Ich weiß nicht“, sagte Exner unschuldig. „Was weiß ich, Herr Ingenieur! Bis jetzt folgende Kleinigkeiten: Sie waren eifersüchtig auf Ihre Frau, weil Sie sie eines Liebesverhältnisses mit einem Beschäftigten des zoologischen Gartens, dessen Name Ihnen nicht bekannt ist, verdächtigten. Weiter: Aus unbekannten Gründen haben Sie heute Ihren Arbeitsplatz verlassen, um sich entweder mit Ihrer Frau zu treffen oder ihren Liebhaber zu bestrafen oder …“ „Ich bitte Sie, schweigen Sie endlich!“ „Das möchte ich furchtbar gern“, sprach Exner, „aber solange Sie mir nicht erklären …“ „Nein.“ „Aber beschrieben haben Sie ihn. Ziemlich knapp, aber eben doch beschrieben. Nach Ihrer Beschreibung könnte man ihn sogar finden. Bis auf die psychiatrische Diagnose.“ „Was für eine Diagnose?“ „Ein Narr“, sagte Michal Exner knapp. „Also: Haben Sie ihn getroffen?“ „Nein. Aber … mein Sohn hat mir von ihm erzählt.“ „Von sich aus?“ „Ja.“ „Welchen Grund hatte Ihr Sohn dafür?“ „Er hat von Fischen erzählt und …“ „Von was für Fischen?“ „Das ist nämlich … Regelmäßig, fast jeden Morgen, fuhr meine Frau mit dem Jungen zum Fluß … dort beim Zoo. Der Junge angelt gern. Dann brachte sie ihn in die Schule und kehrte in den Zoo zurück, um dort zu arbeiten. Pepík hat mir von den Fischen erzählt und dabei gesagt, daß bei ihnen immer ein gewisser Honza ist. Und hat ihn mir geschildert.“ „Hm … Honza.“ „Das kam mir sonderbar vor.“ „Das erklärt nicht Ihr unbegreifliches Ausreißen vom Arbeitsplatz.“ 216
„Sie haben dort gefragt?“ Exner antwortete nicht, machte gar keine Anstalten dazu. Er wiederholte nur, was er vorher gesagt hatte. „Gestern abend haben wir uns ein bißchen gestritten … Und ich konnte das heute bei der Arbeit wirklich nicht mehr aushalten. Meine Frau hatte mir angedeutet, daß zwischen ihr … und diesem Jungen vielleicht wirklich etwas ist oder war … Ich begreife, das war völlig kopflos, aber in diesen Dingen … in diesen Dingen kann ich mich sehr schwer beherrschen.“ „Und was wollten Sie im Zoo tun?“ „Ihn sehen. Und einfach … ich weiß selber nicht, aber ich mußte einfach hingehen.“ „Also Eifersucht.“ „Ja, wenn Sie meinen. Wirklich …“ Berka zündete sich eine weitere Zigarette an. „Sie rauchen nicht?“ fragte er. „Aber ja doch“, antwortete Exner und holte zum ersten Mal während des Gesprächs seine Zigarettenschachtel hervor. Er steckte sich eine an. „Fahren Sie fort.“ „Ich weiß nicht, wo.“ „Sie sind ohne besondere Absicht von der Arbeit weggegangen, sind im Zoo angelangt und sahen dort …“ „Ja …“ Berka rieb sich die Augen. „Ich sah sie nicht mehr lebend … Dort waren natürlich Zeugen. Und …“ „Und was ist mit dem Jungen?“ „Ich weiß nicht, ob er dort war. Verstehen Sie, ich hab’ ihn doch nie gesehen.“ „Wann sind Sie vorher zum letzten Mal im Zoo gewesen?“ „Etwa vor fünf Jahren.“ „Sie interessierten sich nicht für die Arbeit Ihrer Frau?“ „Warum nicht? Aber es gab bis jetzt keinen Grund …“ „Was heißt – bis jetzt?“ unterbrach ihn Exner. „Aber verstehen Sie doch … die Eifersucht …“ „Es gab also keinen Grund, auf jemanden aus dem Zoo eifersüchtig zu sein.“ 217
„Ja, so war es. Und schließlich interessieren mich Tiere nicht.“ „Kennen Sie Veber?“ „Das haben Sie schon einmal gefragt. Ich kenne ihn nicht. Oder heißt er so … dieser Junge?“ „Kein Junge … Das ist ein Herr in den besten Jahren … Innenarchitekt.“ „Kenn’ ich nicht.“ „Glauben Sie, daß Ihre Frau ihn kennen konnte?“ „Wie hängt das zusammen. ‚.?“ „Überhaupt nicht. Meinen Sie, sie kann ihn gekannt haben?“ „Sie kannte Architekten und Künstler. Von der Schule und vom Verband. Sie hat mit vielen auf verschiedenen Ausstellungen zusammengearbeitet …“ „Václavík?“ „Der Grafiker?“ Exner nickte. „Ja, den hat sie gekannt. Auch ich. Er kam manchmal ins Atelier. Klein, rundlich, gesprächig, fast zu gesprächig.“ „Auf ihn waren Sie nicht eifersüchtig?“ Ingenieur Berka lachte auf. „Haben Sie meine Frau gesehen? Nun, der Herr Václavík ist nicht der Typ, der ihr gefallen würde … oder der zu ihr gepaßt hätte …“ „Sie haben also ihren Geschmack gekannt.“ „Natürlich. Der kleine, rundliche Václavík, dieser Quasselkopf …“ Er hielt inne. „Hm. Václavík“, sagte Exner. „Sie haben das Gefühl …“ „Meine Gefühle, Herr Ingenieur“, sagte Michal Exner, „sind so mannigfaltig und bunt, daß ich mich darin selber nicht auskenne. Und dort oben, an den Tiergehegen, haben Sie nichts Verdächtiges bemerkt?“ „Nein“, antwortete Berka kühl. „Übrigens war ich viel zu erregt.“ 218
86 „Mein Gott“, sagte erfreut Michal Exner und öffnete mit einem Fußtritt halb die Tür der Telefonzelle, wo es zum Ersticken war. „Ist das ein Glück. Liebe Eliška …“ „Ich habe geglaubt, Herr Kapitän“, sagte Eliška Libšerová kühl, „daß Sie mich von der Arbeit heimbegleiten würden. Jetzt muß ich mich ausruhen, schlafen gehen, um morgen früh leistungsfähig zu sein, und vor allem muß ich zu Abend essen.“ „Das ist es ja gerade“, jubelte er, „ich brauche genau das gleiche. Ich fahre …“ – er schaute auf die Uhr – „in bloßen zehn Minuten die Vinohradská hinunter. Weil dort überhaupt nirgends und niemals eine Parkmöglichkeit besteht, wäre ich sehr froh …“ „In zwanzig Minuten“, sagte Eliška Libšerová und legte auf.
87 Es gibt Orte, wo es noch heute möglich ist, in einem nicht verräucherten Milieu zu sitzen, an einem sauberen Tischtuch, wo man ein gutes Essen genießen und gute Stunden fast einsam verleben kann. Der Mercedes fuhr hinaus aus der Stadt und strebte auf der Fernstraße nach Süden. Gegen Abend hatte es sich abgekühlt, und der Wind begann in den Nacken zu blasen. Exner setzte sich einen Hut aus Sämischleder von einem seltsamen Schnitt auf, wie ihn vielleicht Robin Hood getragen hatte. Eliška Libšerová hielt sich mit der einen Hand die Haare fest und klammerte sich mit der anderen krampfhaft an die Tür. Die Reifen zischten. Die Geschwindigkeit war sicherlich dem Zustand der Fahrbahn angemessen, aber Eliška 219
schien es, daß sie dem alten Vehikel nicht angemessen war. „Fahren wir nicht zu schnell?“ „Ein bißchen“, gab er zu. „Etwas Neues?“ „Nein.“ „Was macht der Herr Architekt?“ „Krule?“ „Derselbe.“ „Heute hat er mich bis fast vors Haus begleitet.“ „Ist das sehr ungewöhnlich?“ „Ja. Das hat er zum ersten Mal getan. Er hat sich selbst überwunden. War ungewöhnlich nett und freundlich. Hat mir eine Menge Dinge erzählt“, fügte sie gleichgültig hinzu. „Hat er von der Schönheit des Zusammenlebens oder von etwas Konkretem gesprochen?“ „Er hat nicht konkret gesprochen und von dem ersten schon überhaupt nicht.“ „Sieh an“, wunderte sich Exner. „Wovon war dann eigentlich die Rede?“ „Weiß ich gar nicht“, sagte Eliška unsicher. „Aber Eliška“, sprach Michal Exner, „fang du nicht auch noch an. Es reicht, wenn …“ „Herr Kapitän“, entgegnete Eliška, „ich habe versprochen zu schweigen. Habe sogar geschworen.“ „Bei was haben Sie geschworen? Man schwört doch immer bei etwas: beim Barte des Propheten, bei den verschiedenen Heiligen, bei einem Alibi …“ „Ich hab’ einfach mein Wort gegeben. Obwohl …“ „Obwohl?“ „Mein Wort gilt, Herr Kapitän!“ „Wenn man mich so nennt“, bemerkte Michal Exner, „habe ich das Gefühl, ich sollte eine Mütze mit einem Anker drauf und Streifen an den Ärmeln haben.“ „Krule ist … ein Sonderling …“ „Schon gut, schon gut.“ Der Mercedes schwang sich über eine Brücke, ließ die 220
Stadt Zbraslav und das dortige Schloß seitwärts liegen und raste mit einer für sein Alter ungewöhnlichen Lust einen langgezogenen Hügel hinauf. Der Mercedes schien ein Pferd zu sein, das sein Ziel kennt und ihm aus dem Gedächtnis entgegentrabt. „Kurz und gut“, sagte auf einmal Eliška Libšerová, bei der sich der Überzug des Intellekts verzweifelt bemühte, die schlichte weibliche Mitteilsamkeit zuzudecken, „kurz und gut, Krule hat angedeutet, daß er etwas weiß.“ „Und das ist alles?“ wunderte sich Exner. „Alles. Soll ich schwören?“ „Gewiß.“ „Ehrenwort, Michal. Das ist alles. Er hat zwar wahnsinnig geheimnisvoll getan, aber eigentlich hat er überhaupt nichts gesagt. Nur, daß er etwas weiß und daß … so’ne intimen Dinge … oder privaten Dinge, ich weiß nicht mehr, wie er es formuliert hat.“ „Ein taktvoller Mensch“, sagte Michal Exner anerkennend. „Meinst du, daß das Reden über ihn unsere Laune und unseren Appetit verbessern könnte?“ „Ich meine überhaupt nichts.“ „Ich auch nicht.“
88 Das ältere Haus, das einst zu den besseren in diesem Viertel am Stadtrand gehört hatte, war noch offen. Unten an der Haustür befand sich ein Verzeichnis der Mieter. Unter jedem Namensschild der Klingelknopf. Dieser ganze Kram funktionierte wohl schon jahrelang nicht. Exners Taschendynamo surrte. Dr. med. Marek sollte im zweiten Stock wohnen, allein. Das Treppenlicht brannte nicht. Im zweiten Stock stellte er fest, daß Doktor Marek 221
schon lange keine so große Wohnung hatte, wie fälschlicherweise das Namensschild im Erdgeschoß ankündigte. Ein Teil des Raumes über der Treppe war durch eine Trennwand abgeteilt. Aus der ehemaligen Praxis, dem Wartezimmer und vielleicht noch einem weiteren Zimmer war eine weitere Wohnung entstanden. Aber rechts war immer noch die Tür mit einem Namensschild aus Messing. Die Frau hatte ein langes Nachthemd an und darüber einen kürzeren Morgenrock, der noch vor fünfzehn Jahren als luxuriös gegolten hätte. Sie sah nicht verschlafen aus, die Frisur war immer noch in Ordnung. Auf beiden Seiten des Nasenrückens in der Höhe der Augen rötliche Flecke von der Brille. „Verzeihen Sie“, sagte Exner, „ich suche Herrn Marek.“ „Doktor Marek wohnt nicht mehr hier, Herr …“ Er tat, als begriffe er nicht, und stellte sich nicht vor. „Jan Marek.“ „Mein Sohn schläft schon.“ Sie stand in der Tür wie ein Fels. Daran war nichts Sonderbares, die Nacht hatte begonnen. Exner setzte ein Lächeln auf. Sie zuckte mit keiner Wimper. „Honza schläft schon“, wiederholte sie, „Herr … Herr …“ „Das ist eigentlich gut“, sagte Exner und behielt sein Lächeln bei. „Ich heiße Exner. Frau Marková, wenn ich mich nicht irre …“ Man konnte nicht einmal sagen, daß sie nickte. „Ich bin eigentlich zu Ihnen gekommen“, fuhr er fort. „Ich bin nämlich von der Kriminalpolizei …“, und er zeigte die Marke. Unwillkürlich glitt ihr Blick durch das dunkle Treppenhaus. Auch wenn dort jemand gewesen wäre und diesen für Eva Marková skandalösen Satz gehört hätte, konnte er nicht gesehen werden. Sie trat einen Schritt zurück und ließ Exner in den Korridor treten. „Bitte“, sagte sie halblaut und zeigte auf die offene Zimmertür. 222
Er trat ein und hatte den Eindruck, daß jemand einiges Mobiliar ausgeräumt hatte. Am Fenster stand eine große Lampe im Stil der dreißiger Jahre, unter ihr ein Sessel und ein Tischchen; auf dem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch, Aschenbecher, Zigaretten und ein halbvolles Glas Rotwein. Der Raum lag im Halbdunkel. Sie bot ihm einen Stuhl am Eßtisch an, schloß die Tür und setzte sich ihm gegenüber. „Bitte“, sagte sie ruhig. „Ihr Gatte …“ „Ich bin schon seit fünfzehn Jahren geschieden, mein Mann lebt nicht bei mir. Ist etwas mit ihm? Soweit ich weiß, wohnte er zuletzt …“ „Es geht nicht um Ihren Mann … Ich bin wegen dieses Vorfalls im Zoo gekommen. Es geht um das Unglück, das die Malerin Berková ereilt hat. Ich habe erfahren, daß Sie Augenzeuge dieses Ereignisses waren …“ „Augenzeuge nicht“, sagte Eva Marková. „Ich kam mit dem Herrn Doktor …“ „Kroupa?“ „Nein … aber einen ähnlichen Namen hatte er, es klang wie Roupa oder Loupa … ich kann mich jetzt nicht erinnern. Ich bin erst nach diesem Ereignis gekommen, so daß Sie offenbar jemand falsch informiert hat.“ „Offensichtlich“, gab Exner zu. Für eine Weile schwieg er, aber es sah nicht aus, als dächte er angestrengt nach. „Diesen Herrn Doktor Kroupa kennen Sie schon lange?“ „Nein. Übrigens“, sagte sie kühl, „wenn ich mich nicht irre, dann brauche ich Ihnen auf solche Fragen nicht zu antworten. Ich wiederhole noch einmal, daß ich nur zufällig an den Unglücksort kam, als alles schon vorbei war. Ich habe erst von den Zuschauern erfahren, daß ein Esel durch einen unglücklichen Zufall eine Malerin totgetrampelt hat.“ „Haben Sie sie gekannt?“ 223
„Nein.“ „Und den Herrn Roupa …“ „Soll ich noch einmal wiederholen …“ „Aber nein“, wehrte Michal Exner mit einem netten Lächeln ab. „Mein Gedächtnis ist nicht so schwach, Frau Marková. Schauen Sie, damit wir uns verstehen: Der Herr Doktor Roupa oder Poupa, oder wie sonst er sich Ihnen vorgestellt hat, ist nämlich niemand anders als der bekannte Heiratsschwindler Adolf Kroupa. Ich habe ihn verhört und bin nur gekommen, um mir von Ihnen seine Aussage bestätigen zu lassen. Ein bißchen spät am Abend, ich entschuldige mich dafür, aber das ist eben Schicksal. Soweit wir wissen, hat Adolf Kroupa seine Profession an den Nagel gehängt. Aber solche Leute kehren von Zeit zu Zeit zu ihrem ehemaligen Gewerbe zurück. Es geht also im wesentlichen um zwei Dinge. Um den Vorfall im Tiergehege und dann darum, ob Herr Kroupa Sie irgendwie belästigt oder etwas von Ihnen verlangt hat, ob er mit Ihnen eine weitere Begegnung vereinbart und Sie um ein kleineres Darlehen gebeten hat und dergleichen.“ „Nein. Nichts dergleichen.“ Michal Exner nickte ernst. „Gehen Sie oft in den Zoo?“ fragte er unvermittelt. „Natürlich.“ „Warum sind Sie heute morgen hingegangen? Nach Ihrem Sohn schauen?“ „Natürlich.“ „Ich kenne den Jungen“, sagte Exner herzlich. „Ein hübscher Bursche. Ich nehme an, daß gerade er es war, der mit einem Mädchen zusammen geholfen hat, heute eine Taschendiebin zu schnappen.“ „Ja, das ist seine Verlobte.“ „Und wissen Sie nicht, ob die beiden zufällig bei dem Unglück zugegen waren?“ „Mein Sohn bestimmt nicht, denn bevor ich zu mei224
ner künftigen Schwiegertochter ging, zu der Zeit also, da das Unglück geschah, habe ich mit ihm gesprochen. Das hat Ihnen vielleicht dieser Kroupa auch gesagt.“ „Ihr Sohn ist nicht daheim?“ „Er schläft.“ „Und können Sie mir die Adresse seiner Verlobten mitteilen?“ „Sie ist auch bei uns. Beide schlafen.“ Michal Exner hob die Brauen. Das konnte sonstwas bedeuten. „Dann wecken Sie sie bitte“, sagte er trocken und knapp. „Ist das nicht überflüssig?“ „Wenn es das wäre, säße ich nicht bei Ihnen.“ – „Das habe ich mir nicht träumen lassen“, erklärte Michal Exner dann aufgeräumt, während er die beiden verschlafenen jungen Leute ansah, „daß wir uns nach ein paar Stunden wiedersehen werden.“ Er schüttelte beiden herzlich die Hand. „Noch einmal meinen Dank für die Ergreifung der Diebin. Aber nicht deshalb bin ich gekommen …“ Er verstummte und beobachtete sie eine Weile. „Diese Sache ist erledigt …“, bemerkte er und machte keine Anstalten, das Gespräch fortzusetzen, als bereitete es ihm Vergnügen, die zwei schlaftrunkenen jungen Leute zu beobachten. „Ich …“ Jan Marek wollte etwas sagen, aber Marie Faltysová unterbrach ihn und fragte Exner: „Und warum sind Sie …“ „Gekommen?“ Er zuckte die Schultern. „Ich habe den Eindruck, daß der Tod von Frau Berková kein Zufall war.“ „Das ist ausgeschlossen“, sagte Marie Faltysová, „ich habe sowohl bei den Känguruhs als auch beim Kiang gearbeitet, ich kenne den Stall, und es ist durchaus möglich, daß der Haken aufgegangen ist …“ „Könnten Sie mir erklären, wie?“ 225
„Ganz einfach. Der Kiang ist mit dem Kopf dagegengestoßen. Er ist aggressiv.“ „Wissen Sie nicht, wer Frau Berková das Betreten des leeren Geheges erlaubt hat?“ Sie zuckte die Schultern … „Vielleicht der Herr Direktor.“ Exner schaute Marek fragend an. „Ja, vielleicht …“ „Haben Sie Frau Berková gekannt?“ „Jeder im Zoo hat sie gekannt“, sagte Marie. „Ich habe nicht Sie gefragt“, belehrte sie Michal Exner, „sondern Herrn Marek.“ „Ja, ich hab’ sie gekannt“, sagte Jan Marek. „Nur so … sie ging nämlich immer morgens mit ihrem Jungen zum Fluß. Er angelt sehr gern. Und ich gehe manchmal auch hin … So haben wir zusammen geangelt …“ „Genügt das nicht?“ unterbrach Frau Marková den Kapitän. „Sie sehen doch, wie müde sie sind. Und was sie heute erlebt haben …“ „Begreife ich alles“, stimmte Michal Exner zu. „Nur ein paar Kleinigkeiten.“ Er wandte sich an das Mädchen: „Wo waren Sie, als das Unglück geschah?“ „Bei den Hirschen. Ich hörte Geschrei und sah die Leute zu den Känguruhs laufen. Da rannte ich auch hin.“ „Allein?“ fragte Exner und sah Jan Marek an. „Allein. Honza war nicht mit mir bei den Hirschen.“ Jan Marek nickte. „Und wo sind Sie gewesen?“ „Bei den Affen.“ „Wie haben Sie erfahren … von dem Unfall dort oben?“ Jan Marek erbleichte. Er legte die Hände vor den Mund, deutlich unterdrückte er ein Gähnen. „Ich bin zuerst nur so ’rausgegangen …“ „Nur so?“ „Nachschauen, mit wem die Mutti geht, denn ich hat226
te gesehen, daß sie vom Pavillon ein Herr begleitete, den ich nicht kannte …“ „Dieser Herr hat mir gesagt, daß Sie kurz vorher lange mit Ihrer Mutter gesprochen haben.“ „Ja.“ „Darf ich wissen, worüber?“ „Wir haben“, sagte Eva Marková, „das heutige Abendessen besprochen.“ Jan Marek nickte. „Da waren Sie so neugierig auf diesen Herrn?“ „Nein.“ Marek schüttelte den Kopf. „Ich wollte zu den Hirschen gehen, zu Marie …“ „Um früher dort zu sein als die Mutti, stimmt’s?“ „Ja.“ „Haben Sie mit Marie früher als Ihre Mutter gesprochen?“ „Nein. Marie war nicht mehr da. Dann erst hab’ ich gemerkt, daß die Leute hochlaufen zu den Gehegen, da bin ich auch gegangen … jemand hat etwas gerufen …“ Jan Marek hielt inne. Er schluckte. „Was hat jemand gerufen?“ „Daß der Kiang die Frau … die Frau Berková totgetrampelt hat. Und dort hab’ ich Marie getroffen, und ich wollte nichts sehen … nichts anschauen … Wir standen hinten und erblickten die Diebin …“ Exner nickte. „Geht wieder schlafen“, sagte er. „Übrigens: Hat man mit euch ein Protokoll geschrieben?“ „Ja“, sagte Marie Faltysová. „Zu uns kam ein … ein …“ „Polizeiangehöriger“, half ihr Exner aus. „Ja. Und er hat alles aufgeschrieben. Das soll eine bekannte Taschendiebin sein.“ „Ist sie“, stimmte Michal Exner zu. „Und trinken tut sie auch. Und …“, wandte er sich mit einem liebenswürdigen Lächeln an Eva Marková, „obwohl Sie es nicht glauben werden, Gnädigste, aber sie ist immer noch die gesetzmäßige Frau dieses Herrn Doktor, mit dem Sie 227
heute ein so angenehmes Gespräch geführt haben. Aber sie leben schon gut vierzig Jahre nicht mehr zusammen.“
89 Gegen zwölf Uhr nachts fuhr Michal Exner den Wenzelsplatz hinunter und bog auf den Graben ein. Ihm fehlte in diesem Augenblick nichts, eher hatte er zuviel gute Laune. Mäßig falsch pfiff er sich eins und ließ den Wagen langsam über den Asphalt schaukeln, an der Moldau entlang und dann weiter nach Holešovice und weiter nach Troja zum Zoo, wo er diszipliniert bis zum Fluß auf den Parkplatz fuhr. Auch wenn das in der Nacht offenbar keinen Sinn hatte. Hier war es nicht nur ruhig, sondern öde und leer. Die Wasserfläche des Flusses, mehr geahnt als gesehen, glitt nach Westen. Aus dem zoologischen Garten erschallte dann und wann ein Laut. Er verstand die Vögel nicht, die entweder laut träumten oder abgehackte Dialoge führten oder sich gegenseitig knappe Informationen gaben. Die Nacht war wolkenlos, klar und verhältnismäßig kühl. Der Ort sah verlassen aus und, weil ohne das Licht der bläulichen Neonlampen, altertümlich und altmodisch gespenstisch. Die Sterne, der Mond und das Dunkel drängten die Zivilisation zum Rückzug. Und zur Jagd traten uralte Gespenster heraus. Hier um den dunklen Fluß, im Gras an den Ufern, auf den betauten und nebelverhüllten Wiesen und um die Bäume, in den Bäumen und in ihren Kronen war gewiß eine ganze Menge davon. Exner holte aus dem Kofferraum einen sorgsam zu228
sammengelegten Mantel. Er versteckte darunter seinen hellen Anzug. Die Gespenster hatten ihn offenbar in ihren Kreis aufgenommen, denn sie widmeten ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Sie waren überzeugt, daß sie es mit einem Gefährten ihrer Wanderungen und Reigen zu tun hatten. Er begab sich an dem zerfallenden ehemaligen Gut entlang zu dem Zaun, der den zoologischen Garten umgrenzte. Zum Fluß. Hier, am Anfang, war der Zaun schlecht zu erkennen, weil ihn von beiden Seiten hochgewachsene Sträucher verdeckten. Weiter weg, auf dem Hang im Zoo, schienen längs der Wege einige Lampen. Nach einigen Dutzend Schritten waren sie bereits nicht mehr zu sehen. Exner stellte fest, daß am Zaun entlang ein kaum sichtbarer Trampelpfad führte. Die Aussicht in den Zoo verdeckte ein unförmiger, dunkler Block. Das Elefantenhaus. Unweit kreischten die Wasservögel, und weil es exotische Wasservögel waren, war auch ihr Geschrei so, und es hallte zu weit; unangenehm in die Tiefe der Seele. Offenbar waren die Gespenster beunruhigt. Unter bestimmten Umständen glaubte auch Michal Exner an Gespenster. Er ertappte sich sogar dabei, daß er dann und wann mit ihnen ein Gespräch zu führen versuchte. Leider ein einseitiges und von seinem Gesichtspunkt aus uneffektives. Aber jetzt suchte er vor allem ein Loch im Zaun. Löcher waren in Massen vorhanden, und sie waren deutlich zu sehen. Aber er hoffte einen so großen Durchbruch im Zaun zu finden, daß er bequem in das Areal einsteigen konnte, ohne Schaden an seiner Kleidung zu nehmen. Er fand ihn am Rande des Restes eines toten Flußarmes. Hier wäre selbst ein flüchtender Bison ohne Schaden hindurchgekommen. Exner fiel ein, daß vielleicht die Zoodirektion einigen gutgezähmten Tieren für die 229
Nacht Freiheit und Auslauf gewährte und daß diese Tiere hier an die Moldau zur Tränke gingen. In Mondnächten. Gleich hinter dem Loch war ein Strauch, so daß es gegen die Sicht aus dem Zoo geschützt war. Überhaupt waren hier mehrere Sträucher, ein Pfad führte im Zickzack zwischen ihnen hindurch. Es gab viele undeutliche Gruben und Winkel, Bewegungen im Gras und auf der Wasserfläche eines Kanals. Deutlich sichtbar und völlig fest waren zwei Schatten, fast tiefschwarz; der eine, der kleinere, ähnelte jetzt einem unwirklich riesigen Baumstumpf, er war am Tage ein Vogelpavillon. Hier in der Nähe lag das kleine Gehege mit der hölzernen Bude, die den Hühnergänsen als Behausung diente. Der zweite Schatten, riesengroß wie das Werk des Regisseurs eines überirdischen Horrors, war das architektonisch avantgardistisch konzipierte Elefantenhaus. Er zwängte sich aus dem Gestrüpp auf die Brücke über den Graben, blickte unwillkürlich auf den Raubtierpavillon. An diesem Abend war vielleicht keines ausgebrochen. Er mußte um einen Teil des Grabens herumgehen, so daß er zum Elefantenhaus ein bißchen von oben kam, dessen Masse jetzt scheinbar kleiner und freundlicher war. Er holte aus der Manteltasche seinen Taschendynamo. Kein Scheinwerfer, ähnlich einem schweren Knüppel, aber dennoch eine bemerkenswerte Einrichtung, die an ein poliertes Pflöckchen erinnerte, das durch ständiges kräftiges Niederdrücken eines Hebels aufleuchtete. Es war ein Übungsinstrument zur Kräftigung der Handmuskulatur und gab ein lautes Summen von sich wie ein Schwarm Maikäfer. Der einzige Vorteil des Geräts bestand darin, daß die Sorge um die Batterie wegfiel. Er drückte mit der Hand den Hebel nieder, das Instrument 230
surrte und leuchtete gelblich auf. Er ließ es vorläufig in Ruhe und stieg an Mauertrögen und -kübeln hoch auf einen breiten und bequemen Umgang, den von der Innenseite ein in die Tiefe eingelassener Hof voller Baugerümpel umgab. Der Hof war offenbar der künftige Auslauf für die Dickhäuter, der Umgang wohl für ihre Bewunderer von der Gattung Homo sapiens bestimmt. Der Umgang war leidlich aufgeräumt. Am Ende war eine Treppe. Exner stieg hinauf und stellte fest, daß sie auf einen weiteren Umgang mündete, der in die Richtung zum Fluß führte und mit einer Mauer endete. Die hinunterführenden Stufen erwiesen sich als hoffnungsvoller. Die breiteren endeten in einem riesigen Raum aus Beton. Die schmaleren tiefer in einem dunklen Gang voller Gerümpel. Er begann seine Lichtmaschine zu quetschen. Dort waren Schalbretter ausgelegt. Er folgte ihnen. Und auf einmal hörte er etwas und ließ den Dynamo erlöschen. Das Geräusch war deutlich. Und es entbehrte jeden Geheimnisses. Jemand schnarchte in der Nähe. Michal Exner lächelte zufrieden. In dem Gang breitete sich völliges Dunkel aus, wie im Innern des sprichwörtlichen Sackes. Nur hoch oben, aber sehr hoch oben, war so etwas wie mehrere Fenster, denn dort war eine Reihe von Rechtecken eines etwas helleren Dunkels. Exner begann langsam die Finger zu üben, und der Dynamo in seiner Hand schnurrte leise los. Er gab einen schwachen gelblichen Schein von sich. In diesem Schein waren die Bohlen undeutlich zu sehen, aber zu sehen waren sie. Exner balancierte über sie und bemühte sich, leise aufzutreten. Aber in diesem betonierten Raum klang es, als begänne eine Brigade von Elefanten die Bohlen für die Bandsäge aufzuschichten. 231
Michal Exner stolperte und fiel nach vorn. Er erblickte in der Richtung, in der er sich langlegte, einen Kerl – wie ein Berg, die Hände auf der Wattejacke gefaltet, und die Hände waren mindestens fünfmal so groß wie seine. Es war dunkel, und ihm wehte Bierdunst entgegen. Zum Glück gelang es ihm, sich nicht direkt auf die Wattejacke zu setzen, sondern auf irgendwelche Säcke daneben. Der Mund, aus dem der Bierdunst wehte, schmatzte. „He du“, sagte Exner vorsichtig, „bist du der Buš?“ Die Stille schwieg. „He du Brummer“, sagte Exner vertraulich, denn er befürchtete, die zwei Hände könnten ihn finden, und wenn sie ihn fänden, war es nicht sicher, was zu tun sie sich entscheiden würden, und falls ihnen eine Gewalttat beliebte, dann könnte ihnen das offenbar niemand verwehren, der Judokurs, den Kapitän Exner erfolgreich vor einigen Jahren absolviert hatte, schon gar nicht. „Meld dich doch, du Brummer … Bist du der Buš? Karel Buš?“ „Äh …“, brummte der Bursche, und der Bierdunst wehte stärker, „was bist du für einer?“ „Ich heiße Exner.“ „Kenn’ ich nicht.“ „Kannst du auch nicht“, erklärte Exner. „Man schickt mich zu dir …“ „Du bist draußen, ja?“ „Ja.“ „Ich steig’ in nichts ein, Kumpel“, sagte Buš. „Ich hab’ nämlich nicht nur diese Hände, sondern auch ein Gehirn, verstehste. Für gutes Verhalten hat man mir ein Jahr geschenkt. Jetzt bin ich heilig, klar?“ „Klar“, stimmte Exner zu. „Kennst du einen gewissen Kroupa?“ „Im Leben noch nie gehört.“ „Heiratsschwindler. Ehemaliger.“ 232
„Was soll sein mit ihm?“ „Er treibt sich hier ’rum, heißt es.“ „Da kann ich dir nicht dienen. Mit einem Heiratsschwindler nicht. Aber wenn ich mich nicht irre, treibt sich hier ein blöder, aber völlig blöder Taschendieb ’rum.“ „Völlig blöd?“ „Völlig“, bestätigte Karel Buš und richtete sich zum Sitzen auf. „Die werden ihn im Handumdrehen schnappen, denn er treibt es toll wie’n ausgehungerter Karpfen, wenn er Knödel riecht.“ „Angelst du?“ „Spinnst du?“ verwahrte sich Buš. „Weil du so verständig davon sprichst.“ „Ach, du Trollo“, sagte Buš freundschaftlich. „Das sagt man so. He, haste nich ’ne Lulle?“ „Das könnte sein. Kann’s hier nicht Feuer fangen?“ „Hier kann nichts brennen“, erklärte Buš mit absoluter Sicherheit und tastete nach der Zigarette in Exners Hand. Er holte Streichhölzer hervor und gab beiden Feuer. „Kumpel, haste ’ne Taschenlampe da?“ „Hab’ ich, aber eine blöde.“ „Leuchtet sie nich?“ „Doch, aber schwach.“ „Kannst du nich mal ein bißchen auf dich leuchten, damit ich weiß, was für ’ne Gesellschaft ich habe? Warst du in Bory?“ „Ja“, sagte Exner dreist. „Und in Pankrác auch.“ Und er hielt den Dynamo vor sich und pumpte, damit das Lämpchen aufleuchtete. „Genügt das?“ „Ja“, sagte Buš ziemlich verdutzt. „Du bist auch so’n Heiratsschwindler, was? Kumpel, für solche Späßchen kriegst du mich nich. Ich seh’ ein Weib, klar und hops! Aber so’n Gequatsche, Geld ’rausschmeißen, Süßholzraspeln und Bars … nee. Da geb’ ich lieber ’nem Mädchen ’n Fünfer, bloß um nich lange quatschen zu müs233
sen. Ja. So daß du offenbar an der falschen Adresse bist.“ Er hielt inne. „Und wegen was, Kumpel“, fragte er argwöhnisch, „haben sie dich eigentlich …“ Exner ließ ihn nicht ausreden. „Hier hat sich immer so eine hübsche rothaarige Frau herumgetrieben. Sie malt und macht solche Kinkerlitzchen aus Ton. Eine schöne Frau.“ „Du suchst sie, ja?“ „Sie hat hier Tiere gemalt“, fuhr Exner fort. „Mir ist der Gedanke gekommen, ob sie nicht das Geschäft gewechselt hat.“ „Hör mal, du bist ausgebüxt. Hast ’ne Mücke gemacht. Und mich willst du mit eintunken. Dann sag’ ich dir, Kumpel, daß dein Besuch mir äußerst verdächtig vorkommt.“ „Jesusmaria, warum?“ rief Exner. „Brüll hier nich ’rum.“ Buš ertastete mit sicherer Zielstrebigkeit Exners Mantel direkt unterm Hals. „Das ist vorläufig meine private Bleibe, und davon wissen nur ganz wenige Leute. Und auf einmal erscheint so ein Bürschlein und schwingt komische Reden. Sehr komische Reden!“ „Zugegeben, Kumpel“, stimmte Exner zu. „Schau mal, du hast offenbar deine Informationen und ich meine. So ist mir zum Beispiel bekannt, daß du heute vormittag, genauer gesagt gegen Mittag, hinter einem Strauch gesessen hast und auf die besagte schöne Frau geguckt hast, wie sie malt, und daß gerade in diesem Moment wie auf Bestellung ein Pferd angelaufen kam …“ „Jetzt aber Vorsicht“, zischte Buš. „Vorsicht, mein Junge. Wenn du mich in was eintunken willst, dann schwör’ ich dir, daß du diesen Bau nich mehr verlassen wirst, und dort hab’ ich zwei Sack Zement und einen Haufen feinen Sand, und bis zum Morgen bist du eingemauert in dem Bassin für das Nashorn, das flutscht nur so.“ 234
„Ich möchte nicht“, sagte Exner aufrichtig, „ein Bestandteil dieses Schwimmbads werden. Aber du mußt anerkennen, daß meine Informationen stimmen.“ „Um was geht’s?“ „Um eine Kleinigkeit“, sagte Exner. „Mich würde sehr interessieren, wie sich das dort oben in dem Gehege eigentlich abgespielt hat.“ „Du hast sonderbare Interessen, Kumpel“, urteilte Buš. „Daß sich mir alles im Kopfe dreht. Und wenn du mir nich sagen willst, was du wirklich im Schilde führst, verabschiede dich lieber mit einem schmerzlosen Abgang.“ Exner beruhigte es, daß Karel Buš seine Bedingungen gemildert hatte. „Im großen und ganzen nichts“, sagte er trocken. „Mir kommt es nur nicht so vor, als wäre das ein Zufall gewesen.“ „Und was dann?“ „Dir ist es als ein Zufall vorgekommen?“ „Guck mal, wenn so’n Pferdevieh losrast wie ’ne Kugel aus’m Gewehr, aber das war kein Pferd, sondern ein Jank oder was, aber es sieht aus wie’n Pferd, also wenn so’n Pferd aus’m Stall rast wie losgeschossen, dann mußt du doch wenigstens das schwache Gefühl haben, daß es wirklich losgeschossen worden ist.“ „Sie war schön, was?“ „Das war sie“, sagte Buš ernst. „Ich mußte mich reineweg besaufen, um mich davon zu erholen. So’ne schönen Weiber gibt’s wenige.“ „Das meine ich auch“, sagte Exner herzlich. Die Umklammerung unter seinem Hals gab nach, Buš hielt ihn offenbar nicht für einen ebenbürtigen Gegner, sondern für jemanden, den er mit dem kleinen Finger erledigen konnte. „Zigarette?“ „Ja. Aber ich erinnere dich noch einmal, daß ich verdammt neugierig bin.“ „Dann sind wir beide gleich dran“, freute sich Exner. 235
„Ich auch. Auf was bist du jetzt am meisten neugierig?“ fragte er und gab sich und Buš Feuer. „Was du für einer bist!“ „Ganz einfach“, entgegnete Exner liebenswürdig. „Ich bin von der Kripo.“ „Du willst sagen“, Buš kicherte, „daß dir die Kripo hinterher ist.“ „Das will ich nicht. Ich bin Kapitän Exner.“ „Und da wirst du hier“, brummte Buš freundschaftlich, „mit. mir auf Zementsäcken hocken und Kraut und Rüben durcheinanderschwatzen, was?“ „Ich könnte dir den Ausweis zeigen.“ „Das könntest du, du Blödel“, meinte Buš freundlich. „Das könntest du wirklich …“ Und Michal Exner zeigte ihn. Er gab ihn Buš in die Hand und entzündete sein Licht, daß die Bohlen auf dem Haufen hinter ihm als Resonanz summten. Buš las langsam. Als er fertig war, richtete Exner den Strahl der Lampe auf sein Gesicht. „Genügt es, oder willst du das Licht noch aus einem anderen Winkel? Oder lieber einen Fingerabdruck der rechten Hand?“ Buš klappte die Legitimation zusammen und reichte sie dem Kapitän zurück. Lange schwieg er, denn er war offenbar tief bewegt. „Das haut einen doch um, was das für’n Bulle ist …“, sagte er für sich. „He, zeig mir das Ding noch mal.“ Exner tat es. Und Buš klappte wieder den Ausweis zu und gab ihn zurück. Er rappelte sich von seinem Lager hoch. „Wohin?“ interessierte sich Exner. „Gehen wir, Genosse Kapitän.“ „Wohin?“ „Zur Vernehmung.“ „Und warum?“ wunderte sich Exner. „Ich gestehe“, erklärte Buš, „Genosse Kapitän, daß ich Augenzeuge des Unglücks war, was heute mittag dieser 236
Frau passiert ist. Ich gestehe, daß ich auf sie aus einem Versteck geschmult habe. Und das ist alles. Und das muß doch aufgeschrieben werden, nich?“ „Aber das ist zuwenig“, sagte Exner verdrossen. „Dieses Geständnis ist so geringfügig, daß es der Rede nicht wert ist.“ „Sakra.“ Buš schüttelte den Kopf. „Du bist wohl doch nur ’n Heiratsschwindler, der sich als Bulle ausgibt.“ „Bin ich nicht“, erklärte Exner. „Ich bin wirklich ein Bulle. Hör zu, wir reden mal ganz offen miteinander, ja?“ „Und wie soll ich mit dir offen reden … Pardon, wie soll ich mit Ihnen, Genosse Kapitän, offen reden?“ „Wir spielen so ein Spiel. Ich sage dir, was ich weiß, und du sagst mir, was du weißt. Und beide werden wir die Wahrheit sagen.“ „Und was hab’ ich davon?“ „Weißt du, was ein Mord ist?“ „Ja.“ „Also hier geht es um einen Mord, Kumpel“, sagte Exner freundschaftlich. Karel Buš stieß einen leisen Pfiff aus. Vielleicht war der Mond aufgegangen, und die Nacht war heller geworden. Denn sie sahen jetzt einander ganz gut: Buš saß halb, sich an die nackte Mauer lehnend, Exner hockte auf irgendwelchen Balken, fast als säße er in der Kniebeuge. „Das war ein Mord …“, sagte Buš, als wunderte er sich. Vielleicht dachte er nach, denn nach einer Weile fügte er hinzu: „Bis auf das Pferd … sah das nich so aus … Das Tier führte sich auf wie’n durchgehender Gaul. Ich hab’ zwar ’n durchgehenden Gaul nur einmal im Leben gesehen … aber das werd’ ich nich vergessen. So’n Remidemi läßt sich vielleicht nie vergessen … Aber sie war allein dort. Ist von allein ’reingeklettert … Sie war nich angebunden … Hätte fliehen können …“ 237
„Und warum ist sie nicht geflohen?“ „Tja, warum“, meinte Buš ergeben, „sie hat eigentlich das Vieh nich gesehen. Sie saß mit dem Rücken zu der Bude und zeichnete Känguruhs. Ich brüllte, Tatsache, als ich sah, wie das Biest auf sie zuraste … Aber …“ Und Buš verstummte. „Aber?“ „Das war ja gerade der Blödsinn von mir. Wie ich mir das anguckte und überlegte … Ich mußte mich einfach besaufen, Genosse Kapitän“, sagte Buš niedergeschlagen. „Denn begreifen Sie doch: Wenn ich nich gebrüllt hätte, dann wäre sie vielleicht weggelaufen.“ „Das versteh’ ich nicht“, sagte Exner fast stimmlos, denn er wollte den Strom von Erinnerungen und Worten nicht stören, wie er bei Karel Buš offenbar selten war. „Ich saß nämlich … auf der entgegengesetzten Seite … Sie guckte zuerst zu mir … Und dann …“ „Sah sie Sie?“ „Das weiß ich nich. Sie … sie wollte weglaufen, aber … aber sie schaffte es nich mehr. Ich sah das nur eine Weile … Ich mußte weg, weil …“ „Weil?“ „Sie war wirklich ’ne sehr schöne Frau … Sakra … Wer hat ihr das getan?“ „Das möchte ich auch gerne wissen“, sagte Michal Exner aufrichtig. „Warum saßen Sie im Gebüsch versteckt?“ „Ich war ihr vorgestern begegnet“, gestand Buš. „Und ich hatte Gefühle, denen ich nich widerstehen konnte. Und so schlich ich ihr nach. Ja. Und ich kriegte ’raus, daß sie die Känguruhs malte. Und suchte mir dort ein Plätzchen im Gebüsch. Schon gestern.“ „Hat sie mit jemandem gesprochen?“ „Dort oben? Nein. Solange ich dort war, hat sich dort niemand gezeigt; aber, verehrter Genosse, ich bin dort nur ein paar Minuten gewesen.“ 238
Exner mußte dieses Argument anerkennen. „Und mit wem haben Sie sie noch gesehen?“ „Mit einem Jungen.“ „Einem Jungen?“ „Ja, das kann ihr Sohn gewesen sein. Früh beim Angeln. Ich sielte mich dort hinterm Zaun ’rum, sie bummelten früh am Fluß lang.“ „Nur die zwei allein?“ „Ja, wenn ich den Blonden nicht mitzähle.“ „Zählen Sie ihn mit.“ „Dann zähle, ich ihn mit. Rein zufällig sonnte ich mich dort am Morgen …“ „Sonnte …?“ „Na ja … ich mußte ’n bißchen Morgenluft schnuppern. Ihnen passiert das nicht?“ „Doch“, gab Exner zu. „Na bitte. Der Junge ist offenbar hier aus’m Zoo und hat sich ihnen irgendwie angeschlossen. Er hat hier, glaube ich, ein Mädchen.“ „Warum glauben Sie das?“ „Ich bin nämlich eingeschlafen.“ „Aber!“ „Ehrenwort, Tatsache. Mein Gott, ich hab’ keinen Grund zu lügen, Genosse Kapitän. Plötzlich stieß an den Zaun so’n blondes Mädel …“ „Wie war sie?“ „Blond. Die habe ich übrigens auch oben bei dem Dingsda gesehen. Na ja, und sie ging zum Fluß. Die Rothaarige mit dem Jungen war schon weg. Bloß der Blonde war dageblieben. Die gehen wahrscheinlich zusammen, denn sie machte sich mächtig ’ran an ihn.“ „Wie machte sie sich ’ran?“ „Na ja, sie setzte sich zu ihm und hängte sich an ihn wie ein Blutegel. Auf mehr war ich nich neugierig.“ „Und das ist alles?“ „Bestimmt.“ 239
„Also noch mal: sie stieß gegen den Zaun …“ „Das heißt, das hab’ ich mir dazugedacht. Denn dran stoßen hab’ ich sie nich gesehen. Ich erwachte unversehens. Dann ging mir ein, daß nich so unversehens, daß das Mädchen gegen den Zaun gestoßen sein muß, denn sie kam grade aus den Sträuchern. Und als ich die Augen aufmachte, da sah ich nur einen langen Angler, krumm wie’n Flitzbogen …“ „Was? Hören Sie, Herr Buš, Sie fangen an, vom Thema abzukommen.“ „Wieso?“ „Einen Angler wie ein Flitzbogen. Bis jetzt haben Sie nur von dem blonden Jungen gesprochen.“ „Mein Gott“, wunderte sich Karel Buš, „muß ich denn von jedem Blödsinn reden … das heißt, Pardon, Genosse Kapitän … In diesem Fall wohl ja, nich wahr? Also, als ich die Augen aufschlug, da seh’ ich zuerst einen ulkigen großen Angler, wie er am Ufer langschwebte …“ „Wodurch war er ulkig?“ unterbrach ihn Exner. „Er hielt sich wie ein Flitzbogen ohne Sehne. Und ging immer weiter. Für einen kleinen Moment blieb er bei dem Blonden stehen, guckte nach dem Mädchen, das etwa in der Mitte der Wiese war, und schwebte davon. Weiter hab’ ich ihn nich beobachtet. Denn ich stand auf“, beendete Karel Buš seine Erklärung, „um den Arbeitsbeginn nich zu versäumen.“ „Und weiter?“ „Was sollte weiter sein, Genosse Kapitän? Ich streckte mich und ging. Alles, nich wahr? Ich gebe zu, daß ich es mir nich mehr mit anschauen konnte, wie sich das Mädel an den Jungen ’ranschmiß.“ „Warum denn?“ wunderte sich Exner. „Oben auf die Frau …“ „Ich weiß“, sagte Buš fast zerknirscht. „Aber ich hab’ in dem Moment diesen Blödian beneidet. Ich bin erst paar Tage ’raus, Genosse Kapitän, das müssen Sie be240
greifen. Und ’ne Frau hab’ ich bislang erst gesehen. Ich schwöre Ihnen, ich hab’ in der Zeit, in den paar Tagen, keine Weiberfinger angerührt, ganz zu schweigen von was anderem. Hören Sie, wenn ich Sie mir so ansehe, dann wäre sie, ich meine die Rothaarige, eher was für Sie gewesen.“ „Der Ehemann dieser Frau, die im Gehege umgekommen ist, glaubt, daß sie ihm mit einem Blonden untreu war“, gab Exner eine vertrauliche Information weiter. „Wenn er glaubt, mit dem, dann ist er ein Ochse“, sagte Buš direkt. „Würden Sie ihn wiedererkennen? Den Jungen, meine ich?“ „Na klar. Genauso wie das Mädel, das ihm dauernd nachsteigt. Die hab’ ich einige Male gesehen. Zuletzt, als ich in dem Strauch hockte.“ „Wo war sie da?“ „Sie lief schnell auf dem Weg lang.“ „Auf welchem Weg?“ „Dort sind viele.“ „Ich möchte Sie bitten, Herr Buš, freundlicherweise das Maul zu halten über alles. Im eigenen Interesse. Und am Morgen möglichst klar im Kopf zu sein. Ein gewisser Leutnant Beránek wird zu Ihnen kommen und alles aufschreiben.“ „Morgens trinke ich nie“, verwahrte sich Buš beleidigt. Michal Exner stand auf. „Gute Nacht.“
90 Die Nacht war uralt und scheinbar uferlos, der tote Flußarm dunkel, mit Glitzerpünktchen auf den flachen, langgezogenen Wellen. 241
Eine Weile beobachtete er sie, bevor er über die Holzbrücke ging und dem Gedächtnis nach ins Dunkel zwischen die Sträucher strebte. Einige Male verirrte er sich, aber am Ende geriet er auf eine freie Wiese am Fluß. Er ging bis zum Wasser. Es klatschte an die Steine der Uferbefestigung. Ein zivilisationsgebändigter schmutziger und stinkender Flußlauf. Übrigens trieb der Westwind noch weitere unangenehme Düfte von der nur ein paar hundert Meter stromabwärts gelegenen Reinigungsstation her. Er wandte dem sanften Wind den Rücken, ging dicht am Fluß entlang, dann und wann über einen hervorstehenden Stein der Befestigung stolpernd. Er war schon fast an dem verfallenen Gut, als er stehenblieb, eine Weile überlegte und ein paar Dutzend Meter zurückkehrte. Er stelzte über die Wiese geradenwegs zu den Sträuchern, in denen sich an diesen Stellen der Zaun versteckte. Dort irgendwo hinter dem Zaun stand die Holzbaracke der Veterinäre. Man sah ihr dunkles, fast flaches Dach. Er drängte sich durch die Zweige und trat auf Laub und Ästchen, dabei einen Lärm machend wie zweitausend Igel. Hinter dem Zaun war kein Gebüsch. Aber hinter das verrostete Drahtgeflecht zu gelangen war fast genauso leicht wie am Flußarm. Es genügte, eines der Löcher auseinander zuziehen. Die Fenster der Baracke schimmerten. Der einsame Bär in seinem Käfig schien nicht mehr dazusein. Offenbar hatten sie ihn, weil er traurig war und sich langweilte, für die Nacht auf einen Spaziergang herausgelassen. Von einem Bären war zweifellos nicht die Leistung eines Wachhundes zu erwarten. Exner ging über den freien Raum, um sich den Bären anzuschauen. Der war vielleicht wirklich dort, aber Exner fand nicht die Zeit, sich dessen bewußt zu werden, und zwar aus einem sehr ein242
fachen Grunde. Hinter ihm erschallte nämlich plötzlich der energische Befehl: „Und die Hände hoch!“ „Sakra“, sagte Exner und gehorchte. „Was bist du für einer?“ ertönte die Stimme streng. „Womit zielst du auf mich?“ fragte Kapitän Exner. „Mit einer Jagdflinte. Und sie ist, bei Gott, geladen. Und ich würde nicht zum ersten Mal draus schießen.“ „Auf einen Menschen?“ „Laß die Philosophie“, sprach die Stimme nach einem gewissen Zögern. „Und kehrt euch!“ Kapitän Exner machte gehorsam kehrt.
91 „Mein Gott!“ rief Doktor Velenínský. „Um Himmels willen!“ Und er lachte herzlich auf. „Darf ich“, fragte Michal Exner liebenswürdig, „jetzt die Hände wieder ’runternehmen?“ „Gewiß“, stimmte Velenínský zu. „Ist Ihnen das noch nie passiert?“ „Ist es“, sagte Exner ruhig. „Ich habe schon einen Feind in den wissenschaftlichen Kreisen. Übrigens: Ich wußte nicht, daß es Pflicht des Direktors eines zoologischen Gartens ist, nachts auf Streife zu gehen und das ihm anvertraute Getier zu bewachen.“ Doktor Velenínský betrachtete das Gewehr und sagte mit leichter Trauer in der Stimme: „Ich bin sowieso nicht dazu gekommen, sie zu laden.“ „Herr Doktor“, sagte Michal Exner mit leisem Vorwurf, „Sie sind doch nicht um Gottes willen verrückt geworden?“ „Ich fürchte, nein“, antwortete der Direktor des zoologischen Gartens düster. „Ich weiß nicht, was Sie hier gesucht haben … Ich fürchte, diese Ihre Art der Fahn243
dung ist nicht gerade legal und im Rahmen der üblichen Normen … Das ändert freilich nichts an der Tatsache, der genug peinlichen Tatsache, daß eine weitere Narkotisierungspatrone abhanden gekommen ist.“ Michal Exner kratzte sich unwillkürlich hinterm Ohr. „Das sind Freuden“, erklärte er aufrichtig.
92 Sie begaben sich vernünftigerweise hinweg von dem freundlichen Ort an der Baracke der Veterinäre, in die Kanzlei des Direktors. Exner legte den Mantel ab und machte es sich in einem Sessel bequem, als hätte er hier seit eh und je gesessen, über die Probleme der Aufzucht von Wildtieren in der Gefangenschaft verhandelnd. Velenínský hatte sich für die Nachtwache wieder in die Tracht eines Goralen gekleidet. Er sah aus wie ein Jäger, der sich anschickt, zur Gemsenjagd aufzubrechen. Er knöpfte das karierte Hemd auf und krempelte sich die Ärmel hoch. Die Büchse lehnte er in den Winkel an die Wand. „Da war abends nichts zu machen, und da ist auch jetzt nichts zu machen“, erklärte er. „Können Sie denn wissen, für wen diese zweite Patrone bestimmt ist?“ „Das kann ich nicht“, antwortete Exner. „Sie sind offenbar ein Romantiker und Abenteurer.“ „Wenn ich das nicht wäre“, entgegnete Velenínský, „dann könnte ich nicht Direktor eines zoologischen Gartens sein. Dazu muß der Mensch ein bißchen ein Irrer und ein bißchen ein Narr sein.“ „Hören Sie, diese Frau Berková …“, begann Exner. „Was ist mit ihr?“ Velenínskýs Aufmerksamkeit erwachte. „Was soll sein“, sagte Exner gleichgültig, „ich habe mit einem Augenzeugen dieses Ereignisses gesprochen.“ 244
„Ich auch.“ „Mir hat dieser Augenzeuge eine interessante Sache erzählt …“ „Und was für eine?“ „Daß das Tier aufgescheucht war … es sah aus wie ein durchgehendes Pferd.“ Velenínský legte die Ellbogen auf den Schreibtisch und beobachtete eine irgendwie verblödete Fliege, die auf der glänzenden Schreibtischplatte herumkroch. „Ein durchgehendes Pferd …“, wiederholte er nachdenklich. „Genau so.“ „Hm … Nehmen wir an … es war scheu gemacht …“ „Diese Frage möchte eher ich Ihnen stellen“, entgegnete Exner. „Es handelt sich nicht um eine Frage“, sagte Doktor Velenínský. Er widmete sich der Zubereitung eines Kaffees, stellte die Tassen auf das Konferenztischchen und setzte sich in den zweiten Sessel. „Es handelt sich nicht um eine Frage“, wiederholte er. „Sondern …?“ „Es war aufgescheucht.“ „Und wie?“ Velenínský erläuterte seine Theorie. Er führte auch den Stahldraht vor. Er sprach davon, daß der Kiang ein Hengst sei, der eben seine Brunstzeit habe, und fügte hinzu: „Das ist übrigens das gefährlichste Tier, das wir hier halten. Dann die Hirsche und der Elefant. Der Tiger ist dem Kiang gegenüber ein Unschuldslamm. Ein friedliches Kätzchen.“ „Sprechen wir von Frau Berková“, schlug Exner vor. Ein Gesicht kann unbewegt bleiben. Aber eine scheinbar unwillkürliche Bewegung der Augen, ihre Weitung oder Verengung, eine Veränderung des Glanzes, Zerstreutheit oder Erstarrung verraten viel über Gemütsbewegungen. Die Augen von Doktor Velenínský entzün245
deten sich nach Exners Frage in einer Art düsterem Glanz. „Ein tragisches Ereignis.“ „Sprechen wir von ihr vor dem tragischen Ereignis.“ „Sie kam schon einige Jahre zu uns, in der letzten Zeit häufiger, täglich. Hauptsächlich deshalb, weil die Tiere zu ihrer Haupteinnahmequelle geworden waren. Sie machte sie witzig und verkaufte sie in Massen. Schauen Sie, wir kümmerten uns nicht allzusehr um ihre Arbeit und sie sich nicht um die unsere. Wenn sie etwas brauchte, bat sie selbstverständlich einen der Pfleger oder uns darum …“ „Wie war sie in das Gehege gelangt?“ „Das Gehege war leer.“ „Hat ihr jemand erlaubt, sich dort aufzuhalten?“ „Aber das war doch überflüssig. Es war wirklich leer. Schon zwei Jahre. Es ist zur Rekonstruktion bereit, wir warten nur auf den Stahlzaun.“ „Mit wem hatte sie hier engeren Kontakt? Dienstlich oder privat.“ „Das weiß ich nicht. Ich hatte immer den Eindruck, daß sie nicht zu denen gehört, die leicht Kontakt mit jemandem anknüpfen.“ „Ihr Mann ist sehr eifersüchtig.“ „Sie muß vielen Männern gefallen haben“, sagte Velenínský unbestimmt. „Das werden Sie gewiß begreifen.“ Exner zuckte die Achseln. „Er hat einen ganz unbestimmten Verdacht ausgesprochen.“ „Wirklich?“ „Gegen einen Angestellten des Zoos.“ „Passieren kann so manches“, meinte Velenínský verantwortungslos. „Wir haben mehr als hundertfünfzig Beschäftigte, nicht mitgerechnet die Beschäftigten der Restaurants, Souvenirkioske und die Eisverkäufer.“ „Ein schlanker Blonder, fast noch ein Junge. Er angelt gern. Sehr jung, schlank, blond, Angler.“ Exner lächelte. Velenínský dachte eine Weile nach. „Das könnte Hon246
za sein. Honza Marek. Er ist Pfleger bei den Menschenaffen. Ja … nach der allgemeinen Beschreibung … Aber ansonsten kommt er nicht in Betracht.“ „Warum?“ „Honza Marek ist dem Alter nach kein Kind mehr. Ich schätze ihn auf zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Aber sonst … Schauen Sie, er ist ein sehr braver Junge, ein gewissenhafter Tierpfleger, aber er ist nicht ganz normal entwickelt, ich meine hier …“ Er tippte sich an die Stirn. „Nicht ein Irrer. Gottbewahre! Aber ein Kindskopf. Ein völliger Kindskopf. Verspielt. Deshalb vor allem hat er auch als Pfleger Erfolge. Er würde es in keinem anderen Beruf aushalten. Infantil. Hat die Grundschule absolviert und dann bei keinem Handwerk ausgehalten. Affen, Fische, kleine Bären, so’ne Jungenfreuden. Die zwei in Verbindung zu bringen ist absurd. Herr Berka hat offenbar sehr übertrieben.“ „Dieser Junge wurde mit Frau Berková am Fluß gesehen.“ „Beim Angeln?“ „Angeblich.“ „Überhaupt nicht angeblich“, erklärte Velenínský. „Bestimmt beim Angeln. Ich kann mir manches vorstellen, aber Honza als Liebhaber von Frau Berková – nein.“ „Wenn Ihr Honza Marek identisch ist mit dem Jungen, der angeln gegangen ist, dann hat er hier ein Mädchen.“ „Davon weiß ich nichts“, sagte Doktor Velenínský. „Meine Sorgen im Zoo sind von anderer Zielrichtung.“ „Gut“, räumte Exner ein. „Sprechen wir also vom Tode der Frau Berková. Das Motiv?“ „Das ist ein Rätsel, Ihnen wie auf den Leib zugeschnitten.“ „Wer?“ „Das gleiche.“ „Aber einer der im Zoo Beschäftigten.“ 247
„Peinlich, aber möglich.“ „Es muß jemand gewesen sein, der die Konstruktion des Stalles und den Weg dahin kennt. Diesen Pfad, von dem Sie gesprochen haben.“ „Ja.“ „Jemand, der weiß, was der Kiang fertigbringt.“ „Offenbar.“ Michal Exner dankte für den Kaffee und stand auf. „Übrigens – es ist schon ganz sicher, daß ein gewisser Herr Veber mit einer Narkotisierungspatrone ermordet wurde.“ „Ich bin darüber ganz weg“, erklärte Velenínský. „Kommen Sie, ich mache Ihnen das Tor auf, damit Sie nicht wieder durch den Zaun müssen. Wer hat das bloß getan, Menschenskind!“ schrie er plötzlich. „Das weiß nur der liebe Gott“, sagte Michal Exner mit einem ehrlichen Seufzer. „Und vielleicht der heilige Wenzel.“
93 „Ich bin schon in der sechsten Telefonzelle“, sagt Michal Exner erschöpft. „Und ich kann gar nicht glauben, daß du es bist.“ „Ich bin es“, antwortete würdevoll Oberleutnant Vlček. „Und ich dachte, du führst deine Untersuchungen im Frauenwohnheim durch“, fügte er liebenswürdig hinzu. „Ich fahre in Holešovice von einem Telefonhäuschen zum anderen. Jetzt bin ich auf der Letná.“ „Sie ist umgezogen?“ „Wer?“ „Ich weiß nicht“, sagte Vlček unschuldig. „Gott, wie kann ich denn solche Sachen wissen …“ 248
„Das kannst du nicht“, tröstete ihn Exner. „Hör mal, was würdest du dazu sagen, wenn du so im Morgengrauen deine Jungs nähmst und noch einmal den Zoo besuchtest.“ „Und was sollen wir dort tun?“ „Die Tiere betrachten und daraus was lernen. Und ihr solltet alle dasein … das wäre gut, wenn ich eintreffe. Damit jeder hineinkommt, aber vorläufig keiner heraus. Auch nicht durch den Zaun oder über den Zaun.“ „Ein Regiment hab’ ich nicht zur Verfügung, mein Kapitän.“ „Tu, was du kannst. Aber keine Militärparade. Ich stelle mir das etwa so vor, daß einige Herren ihren Morgenspaziergang absolvieren. Und warte auf mich …“ „Beim Direktor?“ „Nein … Erwartet mich und Beránek bei dem Herrn Buš.“ „Wer ist das?“ „Ein Maurer. Arbeitet am Elefantenhaus.“ „Wer?“ „Ein Maurer! Arbeitet am Elefantenhaus.“ „Sollen wir ihn festnehmen?“ „Nein!“ entsetzte sich Exner. „Das ist ein Freund von mir. Nur, daß er nicht zufällig auf ein Bier geht.“ „Verstehe. Uns herzlich unterhalten.“ „Ja. Und inzwischen einen Skat dreschen.“ „Fein. Noch was Interessantes?“ „Eine Kleinigkeit“, sagte Michal Exner leichthin. „Was denn?“ „Eine weitere Narkotisierungspatrone ist verschwunden.“ „Prost Mahlzeit“, stöhnte Vlček. „Das ist ja eine Katastrophe!“ „Das ist Schicksal“, sprach Michal Exner betrübt und hängte ein. 249
94 In der ganzen Straße war nur ein einziges Fenster im obersten Stock eines weißen Hauses hell. Wenigstens schien es jetzt, in der Nacht, daß das Haus weiß und neu war. Exner stand auf dem Gehsteig gegenüber und sammelte offenbar nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine übliche Frische. Dann ging er zum Eingang des weißen Hauses, schnurrte mit seiner Lichtmaschine auf die Namenschildchen und klingelte kurz. Das erleuchtete Fenster ging auf, und über die Fensterbrüstung guckte ein Männerkopf herunter. „Ja?“ meldete er sich mit der Stimme von Miroslav Václavík. „Was gibt’s?“ „Nur ein paar Worte …“, rief leise Exner. Dennoch hatte er den Eindruck, daß er damit die ganze Straße weckte. „Eine vortreffliche Tageszeit!“ „Wie geschaffen …“ „Ich werfe Ihnen die Schlüssel ’runter, in einer Tüte. Moment!“ Nach einer Weile fiel auf den Gehsteig eine mit Papierknäueln ausgestopfte Tüte. Václavík erwartete Exner am Aufzug. Er hatte einen seidenen Schlafrock an, darunter offenbar nichts, an den pummligen Füßen vietnamesische Sandalen. „Das sind aber Gäste“, sprach er erstaunlicherweise recht freundlich. „Sie arbeiten fleißig … Das einzige Fenster in der ganzen Straße …“ „Na ja …“, gestand Václavík, „daß ich jetzt gerade arbeiten würde, läßt sich nicht sagen. Ich bin erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen, habe geduscht, und weil ich niemals gleich einschlafen kann, lese ich noch ein bißchen. Sie wissen ja, wir freiberuflichen Künstler schieben eine ruhige Kugel. Bitte in mein Arbeitszimmer, hier durch die Küche.“ 250
Sein in einem der Zimmer eingerichtetes Atelier war fast zu karg funktionell. Tisch, Stuhl, Sessel, hartes Arbeitslicht, ein Schrank für die Bogen Papier und die Rollen von Pauspapier. An der Wand Plakate mit verschiedener Thematik. Von der Aufforderung zum Milchtrinken über ein Filmplakat bis zur Ermahnung, mit Strom zu sparen. Offenbar Werke von Miroslav Václavík. „Kaffee?“ fragte er. „Nein, danke.“ „Juice?“ „Bitte sehr.“ Václavík ging in die Küche und brachte nach einer Weile zwei Gläser eines goldenen Getränks, in dem Eiswürfel klirrten. „So“, sagte er. „Fallen Sie nur ruhig in den Sessel. Ich bleibe am Tisch.“ „Ich glaube nicht“, bemerkte Exner, „daß Sie über meinen Besuch sonderlich überrascht sind.“ „Das ist wahr. Letzten Endes untersuchen Sie einen Mord, und so darf man annehmen, daß Sie Tag und Nacht arbeiten.“ Michal Exner lächelte. „Zwei Morde, Herr Václavík.“ Václavík neigte neugierig den Kopf. „Aber …“ „Und vielleicht sind es bald drei …“ „Gut, mein Schwager, das ist der erste.“ Václavík zählte an den Fingern ab. „Und der zweite?“ „Miroslava Berková.“ „Die Bildhauerin und Keramikerin?“ „Dieselbe.“ Václavík stieß einen leisen Pfiff aus. „Na, das ist eine Überraschung. Und der dritte?“ „Das weiß ich bis jetzt noch nicht, Herr Václavík.“ „So daß Sie gekommen sind“, sagte der Hausherr, als wäre die Rede von einer verlorenen Fünfkronenmünze, „mich zu fragen. Woher sollte ich das wissen? Und warum die arme Berková? Ihr eifersüchtiger Mann?“ „Sie kennen ihn?“ 251
„Vom Sehen.“ „Aber Sie wissen, daß er eifersüchtig ist?“ „Das weiß jeder. Also der eifersüchtige Mann …“ „Wohl nicht …“ „Also eine quälende Ungewißheit …“ „So irgendwie.“ „Darf ich wissen, wie …?“ „Warum nicht. Totgestampft von dem Esel Kiang. In einem Gehege im Zoo.“ Václavík schüttelte den Kopf und trank achtsam von seinem Kaffee. „Ein Zufall, was?“ „Schwerlich.“ „Aber …“, wunderte sich Václavík kühl. „Übrigens, was die Todesursache bei meinem Schwager betrifft, war das wirklich dieser … diese …“ „Narkotisierungspatrone. Benützt zur Jagd und bei der tierärztlichen Behandlung von Großtieren. Eine Dosis für einen Elefanten oder ein Nashorn oder ein Nilpferd. Was Sie wollen.“ „Wie zwischen den Bungalows inmitten eines Naturschutzgebiets im Herzen der Republik Kenia.“ „Genau.“ „Ich bin natürlich kein Fachmann“, sagte Václavík, „weder für wilde Tiere noch für die Jagd auf sie oder ihre Haltung.“ „Damit wollen Sie mich offenbar fragen, was ich bei Ihnen zu suchen habe.“ „Genau.“ „Als ich das letzte Mal mit Ihnen sprach, haben Sie in einem Augenblick eine ganze Masse Namen über mich geschüttet. Da habe ich überhaupt noch nicht gewußt, daß eine gewisse Berková existiert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich gerade diesen Namen aus Ihrem Munde gehört habe. Und weil ich in der Angelegenheit Ihres Schwagers bei Ihnen war, ist es möglich, daß er in diesem Zusammenhang auftauchte.“ 252
„Na …“, sagte Václavík und tat, als dächte er nach, „haben Sie aber ein Gedächtnis! Noch ein Juice?“ „Wenn Sie so freundlich wären …“ „Zigarette?“ fragte Václavík. „Danke“, sagte Exner herzlich und fügte hinzu: „Sie brauchen das vielleicht nicht so zu dramatisieren.“ „Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen. Es handelte sich um einen reinen Zufall. Kurz und gut: Wir waren einige bildende Künstler. Arbeiteten an der Vorbereitung und Installierung einer der Ausstellungen, die das Institut veranstaltet, wo Doktor Hromádka arbeitet. Wie es der Brauch ist, kamen wir zu einer kleinen Feier in Hromádkas Büro zusammen.“ „Wer?“ „Ich, die Berková, Klabouch, Janoušek, die Horová, Erbert. Der Abend kam, und mir fiel ein, daß Veber allein zu Hause ist, weil seine Frau zur Kur war. Ich rief ihn an, wir packten Getränke ein und fuhren gemeinsam zu Veber. Dort saßen wir ein paar Stunden und fuhren dann zum Abendessen in die Stadt. In den Kelch. Daran erinnere ich mich noch. Dann weiß ich nur noch, daß wir bis zum Morgen durch die Stadt bummelten. Das ist ungefähr alles.“ „Daraus“, sagte Michal Exner, „kann ich dreierlei Lehren entnehmen: erstens – Veber kannte die Berková; zweitens – Hromádka kannte Veber, und diese Tatsache hat er aus unbekannten Gründen verheimlicht; drittens – Hromádka, der Veber kannte, kannte auch die Berková. Die Berková hatte eine Beziehung zum zoologischen Garten. Veber auch irgendwie, dafür gibt es Beweise. Ich werde mit dem Herrn Doktor Hromádka sprechen müssen.“ „Ich fürchte, Sie jagen ihm einen großen Schreck ein.“ „Dann hat er Pech“, gab Exner zu. „Schon einmal hat er eine Leiche gefunden. Es gibt Leute, die stolpern über Vorfälle, sie wissen gar nicht, wie. Hören Sie: Veber lebt 253
nicht mehr, die Berková auch nicht. So daß Sie ohne Hemmungen sprechen können: Wie war ihre gemeinsame Beziehung?“ „Keine“, erklärte Václavík. „Überhaupt keine.“ „Aber nein!“ „Aber ja“, sagte Václavík ruhig. „Arbeitsmäßig überhaupt nicht. Und privat? Das müßte ich doch wissen.“ „Müßten Sie das?“ „Bestimmt. Veber war nicht fähig, seine Frau zu betrügen. Nicht, daß er sich nicht danach gesehnt hätte. Das genug, das kann ich Ihnen versichern. Aber er hatte den Mut nicht dazu. Übrigens hätte Jana das augenblicklich erkannt. Augenblicklich. Ihr geübtes Paukerauge schaffte es ja auch, mich zu durchschauen. Daß zwischen Veber und der Berková irgendeine Beziehung entstanden sein sollte, davon weiß ich nichts, und ich glaube es nicht. Übrigens zweifle ich, daß Mirka …“ „Wer?“ „Mirka. Die Berková. Wir nannten sie mit dem Vornamen, begreiflich. Mirka hätte bestimmt keinen Gefallen an ihm gefunden. Veber … Sie haben ihn nicht gekannt … ein Beamtentyp. Folgsamer Architekt. Und die Berková, das war ein Klasseweib!“ „Und Doktor Hromádka?“ „Der eher, Hromádka hat wenigstens ein Exterieur. Der konnte Mirka eher imponieren. Aber unser lieber Doktor Hromádka ist – wenigstens glaube ich das – zu beschäftigt mit der Arbeit in seinem Institut und der Rekonvaleszenz nach dieser anstrengenden Arbeit, und er hat es mit der Galle, so daß es mir nicht real erscheint …“ „Stille Wasser …“, bemerkte Exner. „Bitte sehr. Sie schaffen eine Beziehung Hromádka – Berková. Und weiter? Sie meinen tatsächlich, daß irgendwelche privaten oder sogar Liebesbeziehungen beim Unglück meines Schwagers eine Rolle spielen könnten? Ich habe ihn gekannt, Herr, ich habe Mirka gekannt, ich 254
kenne Hromádka. Diese Richtung ist fragwürdig. Und wenn sie wohin führt, dann in einen Urwald von Blödsinn.“ Exner zuckte die Achseln. „Für mich sind manchmal Urwälder von Blödsinn immer noch besser als leere Hände.“ Er stand auf. „Werden Sie am Vormittag zu Hause sein?“ „Ich werde mich bemühen.“ „Seien Sie es“, forderte ihn Exner auf. „Kann sein, ich rufe Sie an.“ „Ist das ein Befehl oder …“ „Ein aufrichtiger Wunsch“, sprach Exner herzlich. „Auf Wiedersehen, Herr Václavík.“
95 Er ging durch den bekannten zerstampften Park am Rande der Siedlung. Hier war es unendlich einsam. Aber nichts, was auf ein Geheimnis oder eine Gefahr hingewiesen hätte. Die Schildchen mit den Namen waren vergammelt. Bis auf eins. Es gehörte Doktor Hromádka, der entweder ein Pedant für solche Lappalien war oder häufig nächtlichen Besuch erwartete. Der Himmel war erblaßt, im Osten kündigte sich die Morgenröte an. „Was ist denn?“ fragte über Exners Kopf Doktor Hromádka freundlich. Exner trat aus dem Schatten. „Ach so …“, sagte Hromádka und schaute die Straße lang. Offenbar wollte er sich auch durch den Wagen überzeugen, daß ihn sein Blick nicht trog. Der Mercedes stand da und schimmerte unheilverkündend. „Moment.“ Und Doktor Hromádka schloß das Fenster. 255
Es dauerte geraume Zeit, bis das Licht im Treppenhaus anging und sich ein riesiger Schatten der Tür näherte. Bis der Schatten die Tür aufschloß und sich in sie stellte. Über den Pyjama hatte er Trainingshosen und einen Mantel gezogen. Offenbar hatte er sich entschlossen, den Besucher nicht hineinzulassen. Mein Haus – meine Burg. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Doktor“, sagte er. „Wenn wir hier plaudern werden“, bemerkte Exner trocken, „wird uns die ganze Siedlung hören. Wenn wir im Hausflur sprechen, das ganze Haus. Wollen Sie lieber mich besuchen?“ „Ist es unerläßlich? Vielleicht morgen in meinem Büro …“ „Zu spät“, erklärte Exner und trat ins Haus. Hromádka lachte verwirrt auf. „Tut mir leid, Herr Doktor …“ Sie stiegen die Treppe hoch. Exner mußte ein bißchen vorneweg gehen, denn neben Hromádka hätte er auf der Treppe nicht Platz gefunden. „Sie haben Pech“, bemerkte er. Ihm antwortete Schweigen. „Mein Arbeitszimmer ist links, bitte.“ In dem einzigen Sessel, der in der Ecke stand, machte es sich natürlich Kapitän Exner bequem, frech wie er war. Hromádka richtete ein bißchen das Bettzeug auf der Couch und setzte sich an den Schreibtisch. Er tat gesellschaftlich jovial, allerdings mit einem Anflug von Kühle, wie es sich für einen ruhigen Bürger gehört, den vor Tagesanbruch die Kriminalpolizei überfällt. „Sie haben Pech“, wiederholte Exner mit starrsinniger Giftigkeit. „Ich verstehe Sie nicht recht, Herr Doktor.“ „Ich erkläre es Ihnen“, sagte Exner und steckte sich eine Zigarette an. Hromádka beugte sich vor, um das Fenster zu öffnen. „Ich höre.“ 256
„Einerseits finden Sie bemerkenswert oft Leichen“, begann Exner, sogleich zur Sache kommend, „andererseits …“ „Ich bitte Sie, diese Angelegenheit endlich als einen Zufall zu betrachten, und ich hoffe …“ „Selbstverständlich. Der reinste Zufall. Sowohl bei der Übung inmitten des leeren Truppenübungsplatzes als auch am Rande städtischer Siedlungen. So betrachte ich das auch. Als Zufälle. Und den Herrn haben Sie gekannt.“ „Pardon … welchen Herrn?“ „Veber selbstverständlich.“ Exner lächelte nett. „Sie haben nicht nur Pech, sondern auch ein schwaches Gedächtnis.“ „Ich habe mich“, erklärte Hromádka mit einem Anflug von Verzweiflung, „wirklich nicht erinnert …“ „Und wann haben Sie sich erinnert?“ „Ich … äh … ich überhaupt nicht. Man sieht im Leben so viele Gesichter … Der Herr Václavík …“ „Mischen Sie hier nicht den Herrn Václavík ’rein.“ „Aber das muß ich. Weil gerade er mich daran erinnert hat, daß ich eigentlich diesen Herrn Veber schon früher gesehen habe.“ „Nur gesehen?“ Hromádka lächelte unsicher. „Sagen wir … gekannt. Das heißt, wir haben zusammen einen Abend und eine Nacht in Gesellschaft verlebt …“ „Bei einer Party.“ „Bitte, wenn Sie es so nennen wollen. Es handelte sich um eine kleine Feier.“ „Ich weiß“, unterbrach ihn Exner. „Eine Ausstellung und so weiter. Und Frau Berková, die kennen Sie nicht?“ „Aber natürlich, die kenne ich“, sagte Hromádka mit freudiger Bereitwilligkeit. „Selbstverständlich. Wir arbeiten sehr oft zusammen. Das ist eine sehr intelligente und schöne Frau.“ 257
„War.“ „Was?“ „Ich sagte: war.“ „Wie …“, stammelte Doktor Hromádka, „wie soll ich das bitte verstehen?“ „Frau Berková wurde gestern ermordet. – Das freut mich aber“, und Exner rieb sich unwillkürlich die Hände, „daß Sie wenigstens sie gekannt haben und sich an sie erinnern.“ Hromádkas Hand fuhr zur unteren Tischschublade. „Haben Sie dort was?“ Doktor Hromádka schüttelte den Kopf. Und seine Schultern sanken herab, und der Stuhl unter ihm knarrte, als wäre er plötzlich einen Zentner schwerer geworden. Exner stand langsam auf und trat an den Tisch heran. Energisch zog er die untere Schublade auf. Dort lag eine flache grüne Flasche Becherovka.
96 „Mhm …“, machte Kapitän Exner und setzte sich wieder in den Sessel. „Ich dachte, Sie hätten etwas mit der Galle …“ „Ja …“ Doktor Hromádka errötete fast. „Ich trinke fast nie, es gibt aber Situationen …“ „Dann genehmigen Sie sich einen, Herr Doktor“, sagte Exner herzlich. „Ich brauche Sie in bester Form.“ Hromádka zögerte. Er bot die leicht bittere Flüssigkeit Exner an, aber der lehnte ab. „Ich nehme an“, sagte der Kapitän, „daß Sie solche nächtlichen Lustbarkeiten, von denen vor einer Weile die Rede war, nicht allzuoft veranstalten.“ „Ganz ausnahmsweise!“ „Aber mir geht es nicht um die Moral von Partys. Ich 258
nehme nämlich an, daß Sie sich, wenn Sie so was schon nicht allzuoft veranstalten, um so besser daran erinnern werden. Außerdem wurde mir gesagt, daß Sie fast nicht trinken.“ Er lächelte giftig. „So daß Sie bei dieser nächtlichen Kneiptour, von der die Rede war, zweifellos einen klaren Kopf hatten. Wenigstens einigermaßen. Der Teilnehmer, mit dem ich gesprochen habe, drückte eine solche Hoffnung aus, was Sie betrifft.“ „Václavík“, sagte Hromádka ergeben. „Haben Sie sich schon besprochen?“ „Nein! Gesprochen – er hat mich an jenen Abend erinnert – haben wir nur zufällig. Im Getriebe der Tagesarbeit hatte ich es so gut wie vergessen …“ „Gut.“ Exner winkte ab. „Lassen wir die Tatsache außer acht, daß Sie es mir eigentlich verheimlicht haben. Und kommen wir zur Sache. Zuerst die Beziehung zwischen Ihnen und Veber.“ „Eine solche hat sich nie herausgebildet … Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß ich ihn völlig vergessen habe, und wäre nicht …“ „… der Herr Václavík gewesen …“ „Ich weiß“, sagte Doktor Hromádka seufzend, „aber es ist wahr. Wir wohnen zwar fast im gleichen Block, aber ich bin mir sicher, daß wir einander seit jenem Abend nicht mehr begegnet sind … Ich könnte mich nur schwerlich erinnern, wo er eigentlich wohnt. Hier sind nämlich alle Häuser so gleich … Ich erinnere mich nur gut an seine Wohnung …“ „Wie war Ihre Beziehung zu Frau Berková?“ Hromádka erstarrte und wurde abweisend wie die beleidigte Tugend. „Selbstverständlich“, sagte er kühl, „rein dienstlich.“ „Das ist wenig …“ „Um Himmels willen! Was möchten Sie denn von mir, Herr Doktor? Das ist doch im Gegenteil in völliger Ordnung.“ 259
„Je nach den Umständen. Sie behaupten, daß Sie Frau Berková gut gekannt haben …“ „Dienstlich. Sie arbeitete an einigen Aktionen unseres Instituts mit, auf Vertrag, als externe Gestalterin.“ „Da hat sie für Sie Elefanten modelliert?“ „Das … bestimmt nicht. Sie hatte viel umfassendere fachliche Interessen, wissen Sie.“ „Aha“, erklärte Exner vieldeutig, wodurch er den Doktor vollends verwirrte. „Ja … also … nämlich …“ „Also was war zwischen Ihnen?“ „Um Himmels willen, nichts!“ „Und Sie nehmen an, ich werde Ihnen das glauben und aus Liebe zu Ihnen die Tatsache vergessen, daß Sie sich einfach nicht daran erinnert haben, Veber gekannt zu haben.“ „Aber ich habe ihn wirklich nicht gekannt“, stöhnte Hromádka. „Und mit Frau Berková …“ „Was ist mit Frau Berková?“ „Das war ein rein dienstlicher Kontakt …“ Hromádka brauchte offenbar dringendst eine weitere Dosis Becherovka. Exner entschloß sich boshaft, sie ihm zu verweigern. „Na, nehmen wir’s an … Und was ist mit der Beziehung Berková – Veber?“ „Bitte … wie kann ich denn davon etwas wissen … Ich habe ihn doch seit dieser Zeit nicht mehr gesehen. Frau Berková vielleicht drei-, viermal.“ „So daß Sie nichts wissen, sich an nichts erinnern, sich nicht erinnern können. Das sind Freuden!“ „Beim besten Willen …“ „Beim besten Willen“, sagte Exner hart, „können Sie mir wenigstens sagen, wenn Sie schon behaupten, daß Sie bei dieser Party nicht bei Sinnen waren, also beim besten Willen werden Sie sich vielleicht erinnern, wie die beiden sich zueinander verhielten.“ 260
„Normal.“ „Was ist bei Ihnen normal?“ „Na, wie zwei normale Menschen …“ Er stockte plötzlich. „Was ist?“ „Da wäre ein … so ein … peinliches Detail …“ „Peinlich?“ „Also von meinem Standpunkt selbstverständlich peinlich …“ „Aber …“ „Ja, ich erinnere mich an eine Kleinigkeit … die freilich kein sehr günstiges Licht auf mich wirft … Wenn beide nicht gewissermaßen … also wenn sie noch am Leben wären, dann würde ich es niemals wagen, eine Sache, die sehr einem häßlichen Tratsch ähnelt, jemandem mitzuteilen …“ „Nur los“, ermunterte ihn Exner. „Tratsch, Herr Doktor, das ist meine Leidenschaft.“ „Als gegen Morgen diese Party zu Ende ging, da fuhren wir in einem Taxi nach Hause. Zufällig, nämlich Meister Václavík, Frau Berková und Herr Veber … Ich saß neben dem Fahrer, die drei hinten. Zuerst stieg Václavík aus, dann fuhren wir zu Frau Berková … Mir fiel es zufällig ein, in den Rückspiegel zu blicken …“ Hromádka verstummte. Seine Hand glitt wieder zur unteren Tischschublade. „Weiter“, forderte ihn Exner schroff auf. „Sie küßten sich … nicht wahr … Und nicht nur das … noch ein bißchen mehr …“ „Was haben Sie damit im Sinn?“ fragte Exner mit freundlichem Interesse. „Ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll … Kurzum, sie hatten es ganz schön miteinander.“ „Beide?“ „Ja.“ Hromádka nickte traurig. „Auch Frau Berková … Natürlich, ich zog den Alkohol in Betracht …“ 261
Michal Exner lächelte. „Jetzt nehmen Sie mal einen zur Brust, Herr Doktor“, sagte er fast freundlich. „Es tagt, ich muß an die Arbeit.“
97 Karel Buš kam sich vor wie ein Blödel. Denn, in Arbeitsklamotten, direkt vom Mischer weg mit diesem geckenhaften Bullen herumzuziehen und mit ihm fast wie mit einem Kumpel zu plaudern – das war auch deshalb verdammt peinlich, weil er, Buš, nach der miserabel verbrachten Nacht fühlte, wie ihm alles kreuz und quer im Kopf herumschwirrte. Michal Exner war frisch, als hätte er die ganze Nacht angenehm geschlafen. Geschniegelt und gebügelt, als träfe er soeben bei einem Sommerfest in der besseren Gesellschaft ein. Denn auf dem Wege von Hromádka hierher hatte er sich zwei Stunden zu Hause aufgehalten, hatte sich halbwegs in Ordnung gebracht, umgezogen, hatte gefrühstückt und sich einen Kaffee aufgebrüht, in dem der Löffel steckenblieb. „Wo schleppen Sie mich hin?“ interessierte sich Buš, als sie den steilen Weg zu den Gehegen hochklommen. „Wir schauen uns mal den Esel an, was meinen Sie dazu?“ schlug Exner vor. „Wenn Sie unbedingt wollen … Ich dachte …“ „Vorläufig strengen Sie sich mit Nachdenken nicht unnütz an“, empfahl ihm Exner. „Wenn es notwendig wird, mache ich Sie aufmerksam.“ Buš gehorchte und tat, wie ihm geheißen war. Er verstand es übrigens, souverän auf die Affereien herabzublicken, die Exner von ihm verlangte. Er mußte ins Gebüsch kriechen, wo er gesessen und die Berková beobachtet hatte, um von dort genau die Stelle zu zeigen, wo 262
sie gesessen hatte, um zu beschreiben, woher er gekommen und wohin er gegangen war. Er war ein bißchen verärgert, daß Exner ihn im Gebüsch hocken ließ und sich selber an den Platz der Berková setzte und dort eine gute halbe Stunde nachgrübelte, während er, Buš, sich im Strauch vorkam wie ein Idiot. Außerdem bemerkte er, daß an diesem Morgen ein regerer Besuch herrschte als sonst. Durch den Garten spazierten einige junge Männer mit gleichgültigen Blicken, die Jungs des Oberleutnants Vlček. Und Karel Buš begriff, und irgendwie war ihm nicht ganz wohl dabei. Schließlich schwang sich Exner über das hohe Geländer und kam auf ihn zu. „Gehen wir“, sagte er knapp, „Sie haben sich ein gutes Versteck gesucht, Sie waren so gut wie nicht zu sehen.“ Buš lag auf der Zunge, daß er nicht hineingekrochen wäre, wenn es kein gutes Versteck gewesen wäre. Sie begaben sich zum Affenpavillon. Die Menschenaffen empfingen sie dankbar, denn sie waren ihre erste Tagesunterhaltung. Die Tür stand offen, sie traten ein in den Gestank. Bei den Gorillas räumte Jan Marek auf. „Das ist er“, bemerkte Buš halblaut. Ohne stehenzubleiben, gingen sie durch den Pavillon an die frische Luft. „Sie haben sowieso gewußt, welcher das ist“, sagte Buš, „was soll also der Quatsch. Pardon.“ „Nehmen wir an“, sagte Exner, „ich habe noch eine andere Informationsquelle. Sie müssen damit rechnen, daß ich von Zeit zu Zeit was überprüfe.“ Buš sagte „Gut“ und tastete die Taschen nach Zigaretten ab. Er hatte richtig vermutet, er bekam eine von Exner. Diensteifrig gab er seinem natürlichen Gegner Feuer und dann sich. „Und ich geh’ jetzt arbeiten, ja?“ „Und das Mädchen?“ „Seins?“ „Ja.“ 263
„Damit kann ich nich dienen. Aber wir müßten noch mal ’rumspazieren. Ich hab’ so’n Eindruck, daß ich sie oben bei den Rindviechern gesehen hab’. Aber Sie haben offenbar Ihre eigenen Informationen …“ „Wissen Sie was, Herr Buš“, sagte Exner, „gehen Sie los, bauen Sie das Elefantenhaus auf.“ Selber kehrte er in den Affenpavillon zurück und stellte fest, daß der junge Mann nicht mehr im Käfig war. Er klopfte kurz an die Tür mit der Aufschrift „Eintritt streng verboten“. Er trat ein. Dort war ein kleiner Raum, übergehend in einen abgebretterten Gang zu den Käfigen. Auf einem blechbeschlagenen Tisch lagen Haufen von Möhren, Salat, Bananen und Nüssen. Der Gestank war hier schärfer, aber offenbar konnte man sich an ihn gewöhnen. Der junge Mann kam gerade mit Besen und Eimer herbei. Scheu sah er Exner an und grüßte. „Könnten wir uns nicht für ein paar Minuten hier vor den Pavillon setzen?“ fragte ihn Exner. „Ja … aber …“ Er stellte den Eimer hin und räumte den Besen weg. Wischte sich die Hände ab und lief vor Erregung rot an. „Sie haben Frau Berková gekannt?“ „Ja …“ „Also, kommen Sie …“ „Aber ich muß …“ „Nur für ein paar Minuten“, versicherte ihm Exner, der trotz seines positiven Verhältnisses zu Tieren sehr stark fühlte, daß er sich nur schwer an das Zusammenleben gerade mit den Affen gewöhnen würde. Die Morgensonne begann zu wärmen, und Michal Exner hielt ihr mit Wonne das Gesicht hin. „Wie haben Sie Frau Berková kennengelernt?“ Jan Marek saß neben ihm und drückte die Hände zwischen den Knien. „So … durch Zufall …“ 264
„Wie haben Sie ihre Bekanntschaft gemacht?“ „Beim Angeln …“ „Sie ging angeln?“ „Nein … ihr Junge … Pepík. Ich gehe schon viele Jahre zum Fluß. Etwa vor einem Jahr kam sie zum ersten Mal mit Pepík hin … Zufällig wußte sie, daß ich hier bin … bei den Affen. Sie erinnerte sich an mich. Ich kannte sie auch, vom Sehen. Und so angelte ich mit Pepík zusammen, und wir unterhielten uns …“ „Kennen Sie ihren Mann?“ „Nein, den hab’ ich nie gesehen.“ „Und außer den Fischen?“ Er errötete, lächelte unsicher und sagte: „Ich weiß nicht … was Sie meinen …“ „Doch, Sie wissen es“, sprach Exner leichthin. „Sie werden mir doch nicht einreden wollen, daß ihr Mann wegen nichts und wieder nichts auf Sie eifersüchtig war. Nur so …“ „Das weiß ich wirklich nicht …“ Jetzt rötete sich auch sein Nacken. „Ich habe niemals … Ich habe es nicht geahnt … Ich hab’ nur mit Pepík geredet … Und ich habe ein Mädchen … werde heiraten.“ Michal Exner holte aus der Brusttasche eine Fotografie von Milan Veber. „Den haben Sie gekannt?“ Marek betrachtete die Fotografie eine Weile. Dann schaute er Exner mit einem wissenden Lächeln an. „Ja … Aber ich weiß nicht, wer es ist.“ „Wie das? Sie kannten ihn und wissen nicht, wer es ist?“ „Ich hab’ ihn hier gesehen … einige Male … mit der Frau Berková …“ „Und woher wissen Sie, daß es nicht ihr Mann ist?“ Jan Marek schien völlig zu verfallen, als wäre er bei einer entsetzlichen Lumperei ertappt worden. „Sie … sie haben sich … Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll …“ „Irgendwie.“ „Sie haben sich nicht wie Eheleute verhalten.“ 265
„Hm … Was heißt das: sich nicht wie Eheleute verhalten?“ Jan Marek schwieg. „Na los!“ „Einfach … Ich weiß nicht …“ „Klar. Um was geht es?“ „Ich hab’ sie einmal gesehen …“ „Wo?“ „Dort …“ Er hielt inne. „Dort auf dem Wege … Das ist ein aufgelassener Weg unterm hinteren Restaurant, wo niemand hinkommt.“ „Ja. Und weiter?“ „Ich hab’ sie dort gesehen, wie sie sich liebten.“ „Na und?“ fragte Exner unverfroren. „Sie haben zusammen …“ „Das ist üblich bei Eheleuten.“ „Aber ich glaube, daß Eheleute nicht … daß sie nicht an solche Orte gehen müssen.“ „Romantiker. Und wie sind Sie hingekommen?“ Jan Marek rieb sich angestrengt die Hände. „Ich kam … vom Fluß kam ich, den Weg geh’ ich manchmal vom Fluß …“ „Und da konnte sie dort niemand sehen?“ „Nein … dort darf man nicht gehen … und dort ist überall dichtes Gebüsch.“ „Und dann haben Sie sie wann gesehen?“ „Ich erinnere mich nicht, aber einige Male … so, auf dem Weg. Einem normalen Weg. Zweimal oder dreimal bin ich ihnen begegnet.“ „Haben Sie darüber mit jemandem gesprochen?“ „Nein!“ erklärte mit aller Entschiedenheit Jan Marek. „Nein. Niemals. Ich hätte …“ „Auch mit Ihrem Mädchen nicht?“ „Nein.“ Michal Exner lächelte und klopfte freundschaftlich dem Jungen auf den Rücken. „Wann werdet ihr heiraten?“ 266
„Schon bald …“ „Was meinen Sie, wie konnte das der Berková passieren?“ „Das weiß ich nicht. Ein schrecklich unglücklicher Zufall …“ „Sie war schön, was?“ „Ja“, sagte Jan Marek andächtig.
98 Die Hände in den Taschen, leise und mäßig falsch pfeifend, schritt Michal Exner zu der Stelle, die ihm Jan Marek bezeichnet hatte. Bei den Bisons bog er auf einem verbotenen Weg nach links ab, nach einigen Metern entdeckte er einen Pfad, der über den Hang rechts führte. Zugewachsen und unkenntlich, niemand von den Besuchern hätte Lust, ihn einzuschlagen, dort brauchte gar kein Verbotsschild zu stehen. Nach einigen Metern machte der Pfad eine Kurve, es war nicht zu sehen, wohin, man konnte nicht ahnen, ob es nicht eine Sackgasse war, die vor einem Abhang endete oder sich in dem unübersichtlichen Gestrüpp verlor. Exner schlug diesen Pfad ein. Er entschwand der Welt zwischen den verflochtenen Zweigen der Sträucher und ihrem Laub. Links war ein Abhang, der sich in einem fast senkrechten Felsen fortsetzte. Rechts ein steiler Hang mit überhängenden Felsvorsprüngen. An einigen Stellen war der Pfad gangbarer, verbreiterte sich zu kleinen grasbewachsenen und mit welkendem Laub bedeckten Plätzchen. Und plötzlich mündete er ohne Übergang auf eine Wiese an der westlichen Seite des Zoos. Weiter entfernt, in der Mitte der Wiese, führte ein wenig benutzter Spazierweg. Hier war nichts Interessantes. Die Wiese mit 267
vereinzelten Bäumen, ein stiller Platz mit Aussicht zum Fluß, auf die Dächer einiger Lauben, deren Gärten direkt an den Zaun des Zoos grenzten. Er drehte sich um zu der Stelle, woher er gekommen war, und sah keinen Weg mehr. Dieser hatte sich in den Sträuchern in der zusammenhängenden grünen Mauer aus Gebüschen verloren. Exner setzte sich ins Gras am Rande des Spazierweges. Lange blieb er so sitzen und rieb sich in Gedanken Kinn und Bart. Als er aufstand, ging er zuerst nach links, in Richtung zum Fluß, und an der Stelle, wo sich der Weg verhältnismäßig schroff senkte, um dann weiter zum Raubtierpavillon, zum Elefantenhaus und den Hühnergänsen zu führen (das waren die einzigen aus der großen Menge der Vögel, deren Namen er sich gemerkt hatte), machte er kehrt und schritt in entgegengesetzter Richtung weiter. Dort war ein Heuschuppen und der Hintereingang in den zoologischen Garten, in dessen Nähe sich ein Gammler langweilte. Dann kamen die Gehege mit den Hirschen, Käfige mit einer Menge schläfriger Eulen, die Gehege der Wölfe, Antilopen, Hyänen, Schakale, Zebras und eines Geparden, ferner die Buchten heimischer Kaninchen oberhalb des Affenpavillons. Und Michal Exner strebte energisch zum Haupteingang des zoologischen Gartens. Dort im Restaurant, im Schatten der alten Kastanien, saß vor einem Bier Leutnant Beránek. „Wo ist Vlček“, fragte Exner ungewöhnlich energisch. „Er holt sich ein Paar Würstchen. Was werden wir tun?“ „Kennst du die Wiese am Ende des Gartens, auf dem Aussichtsweg? Dort kommt kein Schwanz hin, besonders jetzt, am Morgen.“ „Kenn’ ich.“ „Dort treffen wir uns.“ 268
99 Auf der grünen Wiese im schütteren Schatten einer alten Kiefer saßen drei Menschen. Leutnant Beránek, der sich schläfrig an den Stamm lehnte, daneben Marie Faltysová, klein, blond und feingliedrig, und Jan Marek. Sie hielt Marek an der Hand. Weiter unten, auf dem Weg einige Dutzend Meter von ihnen entfernt, gingen von Zeit zu Zeit Spaziergänger vorbei. Auch Michal Exner, der dort auftauchte, ging langsam, die Hände in den Taschen. Von den anderen unterschied er sich dadurch, daß er aussah, als begäbe er sich zu einem Nachmittagscocktail im Freien; nur ein bißchen freier, unformell, denn statt des gewöhnlich vorgeschriebenen weißen Smokings trug er einen sommerlichen Anzug mit sahnefarbener Weste. Lediglich die Schuhe glänzten weniger vorbildlich als gewöhnlich, weil sie an diesem Morgen schon etliche Schritte zurückgelegt hatten. Jetzt betraten sie das Gras und strebten zu dem dünnen Schatten der Kiefer. Beránek stand langsam auf und ging Exner entgegen. Schweigend begrüßten sie einander, und Beránek setzte sich an den Rand des Weges, Exner setzte sich zu den beiden jungen Leuten. „Guten Tag“, grüßte er Marie Faltysová. „Was wollen Sie von uns?“ fuhr sie ihn an. Er lächelte. „Mancherlei möchte ich von Ihnen, Fräulein Faltysová … Wissen Sie, wer Milan Veber war?“ „Honza hat es mir gesagt.“ „Vor zwei Tagen wurde er ermordet, nachts.“ „Davon weiß ich nichts.“ „Wo waren Sie in dieser Nacht?“ „Wir waren zusammen, Honza und ich.“ „Wo?“ „In Libeň. Im Hafen. Auf einem Boot …“ 269
„Die ganze Nacht?“ „Fast bis zum Morgen.“ „Von wann an?“ „Ungefähr … ungefähr von neun an.“ Exner schaute fragend Marek an. Dieser nickte zustimmend. „Ja, so ist es.“ „Und Sie, Honza, Sie haben diesen Veber mit Frau Berková zusammen dort auf dem Weg gesehen, als Sie vom Fluß zurückkehrten. Wie lange ist das her?“ „Etwa vier Tage.“ „Wo sind Sie gewesen?“ „Am Fluß.“ „Und was haben Sie während der Arbeitszeit am Fluß gemacht?“ „Manchmal … bin ich von der Arbeit weggegangen … zum Angeln …“ „Vormittags?“ „Manchmal auch vormittags.“ Michal Exner lächelte. „Sie irren sich. Das muß nachmittags gewesen sein. Milan Veber hat niemals am Vormittag seinen Arbeitsplatz verlassen. Wenigstens im Verlauf der letzten Woche nicht.“ „Ich erinnere mich nicht …“, und Jan Marek errötete heftig. Seine Verlobte preßte seine Hand, daß ihre Finger weiß wurden. „Warum wollen Sie ihn heiraten, Fräulein Faltysová?“ fragte Exner sie. „Weil ich ihn liebe.“ „Wie alt sind Sie?“ „Siebzehn!“ „Aber Sie wissen doch, daß er nicht ganz normal ist?“ „Er ist völlig normal!“ schrie sie. „Ihr alle seid Narren!“ „Aber Honza ist kein Narr, Fräulein Faltysová“, sagte Exner friedlich. „Da haben Sie mich mißverstanden. Er 270
ist im wesentlichen genauso normal wie Sie oder ich. Er ist nur ein bißchen sonderbar. Er ist hübsch, von rührender Jungenhaftigkeit, jungenhaft eigensinnig, kindlich grausam und männlich liebend und hassend. Wollen Sie ihn wirklich heiraten? Auch wenn Sie wissen, daß er ein Mörder ist?“
100 Die Stille dauerte einige Sekunden. Und auch wenn unten am Fluß ein Zug vorbeibrauste und die Reifen eines durch eine Kurve hinter dem Zaun des zoologischen Gartens vorbeifahrenden Autos quietschten, schien es, daß diese Stille absolut und uneingeschränkt war. Sie herrschte nämlich zwischen den dreien auf der Wiese. Und wie jedesmal, wenn es zu so einer Stille kommt, war auch diese Stille unruhig und flüchtig. „Nein“, sagte Marie Faltysová. „Das glaube ich nicht.“ Und sie fügte ganz ernst hinzu: „Er war doch …“ „Wo?“ fragte Exner rasch. „Bei seinen Affen.“ „Die ganze Nacht?“ „Aber sie ist doch …“ „Im Laufe des Tages umgekommen, natürlich“, sagte Kapitän Exner. „Aber ich habe jetzt nicht Frau Berková im Sinn.“ Unten auf dem Weg ging Beránek auf und ab, einem zufriedenen Müßiggänger ähnelnd. Er legte auch keinen Schritt zu, als Vlček auftauchte. Wechselte mit ihm nur ein paar Worte. Vlček gesellte sich Beránek zu, und beide marschierten auf dem Weg auf und ab. Exner zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche. Es war eine herausgerissene Seite aus Beráneks berühmtem Notizbuch. Es schien, daß er sich 271
nachdenklich Beráneks winzige Schrift und einige überaus sorgfältig mit Kreisen umrandete Ziffern betrachtete. Dann sah er die beiden an. Marek zwinkerte und strich sich die blonden Haare glatt. Marie Faltysová bemühte sich, gelangweilt auszusehen. Aber das gelang ihr nicht, weil sie die Lippen zu stark aufeinandergepreßt hatte. „Sie haben einen häßlichen Satz gesagt.“ „Gewiß“, stimmte Exner zu. „Ein Mord ist immer häßlich. Auch wenn die Beweggründe dazu, sagen wir, der Tat angemessen sein können.“ Er wandte sich ihr voll zu und erklärte ruhig: „Sie liebt er doch nicht“, sagte er und zeigte mit einer Kopfbewegung auf Marek. „Das wissen Sie besser als ich“, fügte er trocken hinzu. „Das ist eine Lüge!“ schrie sie. Er lächelte. „Scheint es Ihnen nicht, daß gerade das jetzt er hätte sagen müssen?“ Marek spielte mit Grashalmen. Die blauen Augen waren feucht, begannen sich mit Tränen zu füllen. „Weinen Sie nicht um sie“, sagte Exner kalt. „Hat sie sich denn das verdient?“ „Ich weiß nicht … was … sie verdient …“ Er stockte. „Aber ja doch“, sagte Exner mit einem traurigen Lächeln. „Miroslava Berková traf sich mit dem Architekten Milan Veber zufällig vor etwa zwei Jahren. Auf einer lustigen Party. Und schlagartig fanden sie aneinander Gefallen. So was kommt vor. Man nennt es abgegriffen: Liebe auf den ersten Blick. Und dann sahen sie sich lange nicht. Niemals hat jemand sie zusammen gesehen. Wir haben niemanden gefunden, der uns bezeugen könnte, daß sie regelmäßig miteinander verkehrten. Ich nehme eher an, daß sie einander nach einiger Zeit zufällig wiederbegegneten. Was damals begann, fand nun seine Fortsetzung.“ Er zeigte in der Richtung zu dem versteckten Pfad. „Ihre Zeugenaussage, Herr Marek.“ 272
Jan Marek nickte. „Und Sie kamen vom Fluß …“ „Ja.“ „Vom Angeln?“ „Ja.“ „Um wieviel Uhr?“ Marek stockte. „Ich erinnere mich nicht.“ „Mit der Angelrute?“ „Ja.“ „Woher?“ „Auf diesem Weg.“ „Ich denke, vom Fluß?“ „Unten durch ein Loch im Zaun, dann dort auf dem Weg und bis hierher und …“ „Mit der Angelrute? Und dem ganzen Angelgerät?“ „Ja.“ „Ihnen nach?“ „ja … Das heißt …“ „Ihnen nach“, sagte Exner ruhig. „Ohne Angelrute und nicht vom Fluß.“ „Doch“, sagte Jan Marek verzweifelt. Exner schaute das Mädchen an. Sie war sehr, sehr blaß. „Und können Sie mir erklären, warum Sie diesen unsinnigen Weg gewählt haben? Ganz und gar unsinnig. Wohin wollten Sie?“ „Nur so … Spazierengehen …“ „Gut“, sagte Exner fast zufrieden. „Sie hatten recht. Die beiden trafen sich hier. Wir haben auf Vebers Mantel ihre Haare gefunden, und die Analyse der Erde, die auf dem Mantel zurückgeblieben war, stimmt im wesentlichen mit der Analyse des Bodens auf diesem abgelegenen Fleckchen überein. Sie hatten recht. Sie hatten völlig recht. Aber ich bitte Sie“, fragte er, dabei Marie Faltysová anschauend, „warum haben Sie die zweite Patrone gestohlen?“ „Keine Patrone … keine Patrone … Aber warum ich? 273
Warum ziehen Sie mich überhaupt mit hinein? Warum sagen Sie, daß ich ein Mörder bin, warum lassen Sie uns nicht gehen, warum müssen wir hier sitzen, warum …“ Mareks Hände zitterten, und seine Stimme kippte über. „Warum glauben Sie, Herr Marek, daß der Kiang Frau Berková aus Zufall totgetrampelt hat?“ „Weil …“ „Sie glauben“, fiel ihm Exner ins Wort, „von Anfang an nicht daran. Sie kennen das hier. Sie wissen genau, daß das nicht möglich ist. Wir sind uns bereits völlig sicher, daß es kein Zufall gewesen ist. Sie, Marek, vielleicht noch nicht, aber wir ja. Denn während Sie sich das nur denken, ohne dafür Beweise zu haben, haben wir sie. Jemand ist in den Stall eingedrungen, wo die Verbindungstür zu dem leeren Gehege ist, jemand hat sie geöffnet, hat den Kiang gereizt. Hat ihn einfach ein paarmal in den Hintern gestochen. Und damit hat er ihn in die gewünschte Richtung gelenkt. In das leere Gehege. Damit er dort seine Aggressivität entladen konnte. An dem einzigen Lebewesen, das dort saß und malte. Aber das muß jemand gewesen sein, der den Stall, die Gehege, den Kiang kennt. Der wußte, daß dieser schöne Esel das bestimmt und mit Sicherheit tun wird. Daß er komplette Arbeit liefern wird. Wer in dieser Stadt weiß, daß gerade dieses Tier das gefährlichste aus dem ganzen Zoo ist? Ihr, die ihr hier beschäftigt seid. Und wer von denen, die hier beschäftigt sind, hatte, was glauben Sie, Marek, wer hatte einen Grund, Frau Berková umzubringen, die Sie so geliebt haben?“ „Ich habe sie nicht geliebt.“ „Aber gewiß doch. Sie haben sie geliebt. Ihre Mutter hat sich darüber bei einem meiner Bekannten beklagt. Einem gewissen Herrn Kroupa. In einem Anfall von Mitteilsamkeit. Ihre Mutter hat Frau Berková sehr gehaßt. Sehr. Aber sie hatte keine Möglichkeit, das zu tun. Wer hat sie noch gehaßt? Aus dem gleichen Grund wie Ihre 274
Mutter? Darüber brauchen Sie gar nicht nachzudenken. Und Sie brauchen auch gar nicht lange darüber nachzudenken, wer den Kiang auf Frau Berková gehetzt hat.“ Er wandte sich Marie Faltysová zu. „Leutnant Beránek hat einige Zeugenaussagen eingeholt und einen genauen Plan über Ihren Aufenthalt im Zoo am gestrigen Vormittag zusammengestellt. Gewisse Lücken …“ Er bemerkte Mareks Blick. „Ich weiß aus Erfahrung, daß alles, was ich gesagt habe, und alles, was ihr gesagt habt, vor Gericht und in den Gerichtsprotokollen ganz anders aussehen wird. Ihr werdet fachmännisch verteidigt werden, und der Staatsanwalt und wir werden die Beweise liefern. Inzwischen werdet ihr noch viele Male vernommen werden, ihr werdet einige Wochen einsam leben, das Notizbuch meines Freundes Beránek wird sich mit widersprüchlichen Zeitangaben füllen, die ihr angeben werdet, euer scheinbares Alibi wird umgestoßen werden.“ Michal Exner lächelte traurig. Jan Marek rutschte unruhig hin und her. Exner schaute das Mädchen an. Sie saß unbeweglich an den Stamm gelehnt, bleich, so daß die Sommersprossen hervortraten, die sonst in ihrem sonnengebräunten Gesicht nicht sichtbar waren. „Sie sind hier lange genug beschäftigt, Marek, um sich vorstellen zu können, was für ein unglaublicher Zufall das hätte sein müssen. Ein Esel statt einer Narkotisierungspatrone. Das war kein schlechter Einfall. Wenn … ja, wenn der Täter die Wege nicht hätte in einer bestimmten Richtung zurücklegen müssen, wenn er nicht hätte ein bestimmtes Instrument benützen müssen, an dem sich manches identifizieren läßt, wenn er nicht mit der Hand das Türchen hätten öffnen müssen, wenn in der weichen Erde nicht die Spuren der Tennisschuhe zurückgeblieben wären, die dort nicht sein sollten, wenn sich der, der diese Tennisschuhe anhatte, nicht von ei275
nem Ort an den andern hätte bewegen müssen, nur dann würde er es schaffen, sein Alibi für jeden Augenblick dieses Vormittags nachzuweisen. Und das wird nicht so leicht sein, Fräulein Faltysová.“ Sie saß da ohne eine Bewegung. Jan Marek stand langsam auf. „Unsinn“, sagte er hart. „Die Spuren von keinen Händen …“ „Aber wir wissen doch, daß Sie Handschuhe tragen. Arbeitshandschuhe.“ Michal Exner schaute das Mädchen an. Marek war ebenfalls in seinem Blickfeld, und es war nur unangenehm, daß er aufgestanden war. Er winkte ihm zu: „Setzen Sie sich wieder.“ „Du …“, stieß Marek hervor, ohne auf Exner zu achten. „Und Sie wundern sich, Marek? Sie liebt Sie doch. Sie hat einfach das gleiche getan wie Sie.“ Jan Marek richtete sich vollends auf und griff in die Tasche. Sein Atem ging heftig, und er hielt etwas in der geschlossenen Faust. „Wirklich … du …?“ „Nein“, sagte sie unruhig. „Was hast du da? Was hast du da in der Hand!“ „Sie war es!“ schrie Jan Marek mit hellseherischer Gewißheit, Die zur Faust geballte Hand zitterte. „Nein!“ rief sie. „Bring dich nicht um, Honza! Nein! Du kannst doch für nichts! Für nichts …“ Exner schnellte sich hoch. Er hatte nämlich die geringfügige Kleinigkeit bemerkt, die dem Mädchen entgangen war. Daß Jan Marek das Gewicht so auf einen Fuß verlagert hatte, daß das nur ein einziges bedeuten konnte: eine Bewegung vorwärts, gegen jemanden. Aber Michal Exner war im Nachteil. Er saß. Es konnte ihm nicht restlos gelingen. Er konnte sich nur wie ein 276
Delphin hochschnellen und die Hand packen. Etwas Metallisches in Jan Mareks Faust knackte. Und Michal Exner fühlte, wie ihm über den Ärmel des Sakkos etwas auf die Hand spritzte. Über die Wiese rannten Vlček und Beránek herbei.
101 Diesmal setzten sie Kapitän Michal Exner an die Kiefer und lehnten ihn an den Stamm. Der alte Veterinär rollte Exners Hemdsärmel hoch und betrachtete sorgfältig den Unterarm des leicht schlappen Kapitäns. „Hier“, sagte er und zeigte Beránek die Stelle, „sehen Sie diesen Kratzer?“ „Ich sehe.“ „In der Patrone war die Dosis für einen Elefanten. So daß ich glaube, daß der Herr Kapitän an die drei Stunden steif sein wird. Eine andere Gefahr droht nicht. Wegzubringen brauchen Sie ihn nicht. Lassen Sie ihn hier schön sitzen, er wird sich von selber erheben, wie jedes andere Tier.“ Michal Exner verdrehte die Augen. „Da … danke …“, sagte er mit schwerer Zunge. „Das sind Freuden …“ „Folgen“, fuhr der Veterinär fort, „wird es nicht hinterlassen. Wenigstens sind wir etwas Derartigem nie begegnet. Wenigstens bei Tieren nicht. Für alle Fälle soll sich der Herr Kapitän nachher von einem Arzt untersuchen lassen.“ Er stand schwer auf. Über die Wiese eilte Doktor Arnošt Buble herbei. Der Veterinär ging ihm entgegen. „He, Michal“, sagte Beránek, „du wirst noch mal mit deinen psychologischen Methoden auf die Fresse fallen … Servus, Doktor“, begrüßte er Buble. „Wir haben hier eine eingeschläferte Gazelle“, meldete er. „Bewache sie, bis sie sich wieder auf die Beine stellt.“ 277
102 „Ja“, sagte Eliška Libšerová ins Telefon, „ich komme, Michal, bestimmt. Um wieviel … Um sechs. Und werde ich das finden? Leicht? Prima. Was sagst du? Daß du dich aussprechen mußt? Wirklich? Soll ich was zum Abendessen kaufen? Nein?“ Sie schaute Krule an. Es schien, daß er kein Wort gehört hatte. Aber Eliška Libšerová fiel ein, daß er möglicherweise feststellen könnte, wo Michal Exner wohnte, und daß er dort hinkommen und ihm einen Stein ins Fenster werfen würde. Da wußte sie allerdings noch nicht, daß Michal Exner im fünften Stock wohnte. Mit einem zumeist nicht funktionierenden Aufzug.
103 Zuerst trank sie einen Martini mit Eis. Dann staunte sie nur und ließ es sich schmecken. „Ich koche ausgezeichnet“, sagte Michal Exner bescheiden. „Aber nur, wenn ich Lust und Laune habe oder wenn ich mich zerstreuen muß oder wenn ich lieben Besuch erwarte. Heute ist das alles auf einmal passiert, so daß du dich nicht wundern darfst, wenn meine Atzung so hervorragend ist.“ „Du gibst mächtig an, Michal“, sprach Eliška zärtlich. „Ich möchte aber gern wissen, was mit dem Mörder ist.“ „Den hab’ ich eingesperrt“, sagte Michal Exner. „Wann?“ „Heute vormittag.“ „Aber …“ „Was aber?“ „Aber Krule ist doch mit mir weggegangen.“ 278
„Den meinte ich nicht“, sagte Michal Exner und schenkte den Wein ein. „Worauf trinken wir?“ „Ich weiß nicht …“ „Dann auf nichts, wie mein Freund Doktor Soudek sagt.“ Michal Exner servierte den Kaffee. „Mehlspeisen mach’ ich nicht“, erklärte er. „Und dir kommt gar nicht in den Sinn, daß ich offenbar gern wüßte …“ „Wie das alles passiert ist? Ist mir in den Sinn gekommen. Ich mußte mich nur erst ein bißchen zerstreuen und was essen … Schau mal … das ist etwas … das ist ein Fall, der … der ein Drama der Liebe sein könnte, aber eine peinliche Sache geblieben ist. Sehr große und spannende Dramen haben immer eine gefährliche Eigenschaft: zu Karikaturen ihrer selbst zu werden“, philosophierte der Kapitän. „Eine gewisse Frau Berková war schön und wußte das. Und weil ihr bewundernde Blicke und verbale Liebeserklärungen nicht genügten, mußte sie von Zeit zu Zeit ihr Selbstbewußtsein durch eine konkrete Tat unterstützen. Einmal begegnete sie bei einem lustigen Abend zufällig dem Architekten Veber. Für ein paar Stunden überwand sie seine Schüchternheit. Dann trennten sie sich, aber dieser flüchtige Augenblick verlor sich nicht. Nichts wäre passiert, wenn sie einander niemals mehr begegnet wären. Nichts wäre passiert, wenn die Berková nicht dem zarten Jungen Jan Marek begegnet wäre. Sie konnte nicht ahnen, daß die Sache, die sie für ein bloßes Spiel hielt, ein blutrünstiger Roman würde. Sie liebte sich mit ihm wegen seiner Zärtlichkeit und ganz unernst. Er liebte sie tödlich ernst. Zu dieser Zeit bemühte sich um ihn bereits ein energisches Mädchen passenden Alters. Aber sie konnte sich mit dieser erfahrenen Schönheit nicht messen. Die Berková hatte ihr Spiel und ihre Freude, Marek seine Liebe und das Mädchen Faltysová die Sehnsucht, ihn vor der dä279
monischen Frau zu beschützen. Und sie hatte ihren Haß. Irgendwie geschah es, daß die Berková Veber ein zweites Mal begegnete. Die subjektiven und objektiven Bedingungen müssen dieses Mal günstiger gewesen sein als damals. Sie begannen sich regelmäßig zu treffen. Der zoologische Garten ist werktags wie geschaffen für unauffällige Rendezvous. Wer würde dort jemanden suchen. Das Haupttor ist zwar mit drei Schlössern verschlossen, aber der Zaun zum Fluß hin ist wie ein Sieb. Doch die Berková rechnete nicht mit der Hartnäckigkeit und kindlichen Rücksichtslosigkeit von Jan Marek. Er haßte Veber und entschloß sich, ihn zu beseitigen. Und dabei wurde er von der Faltysová beobachtet, der, wie sie vor einigen Stunden eingestand, nicht einmal geholfen hatte, daß sie sich telefonisch über die Berková bei deren Mann beklagt hatte. Marek selber griff ein. Nachdem er bei Anbruch der Nacht Zeuge einer sehr intimen Zusammenkunft der Berková mit Veber in der Sicherheit des Zoos geworden war. Es war für ihn einfach, eine Narkotisierungspatrone zu entwenden. Oder war es das nicht?“ Michal Exner dachte eine Weile nach. „Zweimal hatte er Veber am hellichten Tage verfolgt und wußte, wo er wohnte. In dieser Nacht begab er sich früher als er in die Nähe des Hauses. In jemanden die Nadel einer Narkotisierungspatrone zu stoßen ist eine Kleinigkeit. Wie ich am eigenen Leibe verspürt habe. Aber die Faltysová bewachte ihn auf Schritt und Tritt und entschloß sich, auf ganz und gar weibliche Art einzuschreiten: Weil sie Zeugin des Mordes geworden war, entschloß sie sich, ihm ein Alibi zu schaffen. Sie fuhren gemeinsam nach Libeň, waren dort in einem verlassenen Kahn im Hafen. Sie war es sogar, die die entladene Narkotisierungspatrone beseitigte. Marek hatte sie ins Gras geworfen. Sie hofften, niemand würde die Ursache für Vebers Tod herausfinden. Es war so ein sinnloser Tod. Aber 280
schließlich tauchten wir eben doch im Zoo auf. Nicht mehr als die übliche Routine. So wie Beránek im Winterquartier der Zirkusse war, so gelangte ich in den Zoo. Wo eine Patrone verschwunden sein konnte, aber nicht mußte. Sie hatten dort keinen Überblick. Die Faltysová wurde sich bewußt, daß ihr Hauptfeind nicht beseitigt war. Sie verlor den Kopf, denn die Berková war sogar gefährlicher geworden als früher. Wären wir mit der Berková ins Gespräch gekommen – und das hätte geschehen können, ihr Verhältnis mit Veber mußte letztlich für den engeren Kreis ihrer Bekannten kein Geheimnis sein –, dann wäre die ganze Sache auf Jan Marek gefallen. Und die Berková wäre weiß wie eine Lilie geblieben. Dieses zarte Mädchen hat ein sehr gefährliches Gehirn. Aber das ist oft so“, fuhr Michal Exner lächelnd fort, „daß wir es nur in solchen Grenzsituationen bemerken und zur Kenntnis nehmen. Sie empfahl also der Berková, von der sie wußte, daß sie die Känguruhs zu zeichnen bemüht war, von dem leeren Gehege Gebrauch zu machen. Das war eine Gefälligkeit. Eine unschuldige Gefälligkeit. Wer hätte die zarte Blondine einer Hinterlist verdächtigen können. Um so weniger die Berková, für die das kleine Mädchen absolut nichts bedeutete. Absolut nichts. Hör mal, das ist eigenartig, wie die Leute oft schlecht einschätzen, von wem ihnen eine wirkliche Gefahr droht. Am ersten Tag ließ sie die Berková ruhig in dem leeren Gehege malen. Sie glaubte, sie würde auch am nächsten Tag dort sein. Und so war es auch. Auf einem schmalen Weg zwischen den Gehegen gelangte sie in den Stall, wo sie das Türchen öffnete und das aggressivste Tier vom ganzen Zoo so reizte, daß es in das leere Gehege rannte, um alles Lebendige umzubringen, was ihm in den Weg kam. Ein bißchen half der Zufall, und ein bißchen half sie dem Zufall nach. Zufällen kann man oft hervorragend nachhelfen.“ 281
Er war mit seiner Darstellung am Ende und schaute auf die Decke. „Jetzt solltest du schlafen gehen“, sagte sie. „Tatsache …“ „Ja …“, sagte er und gähnte. „Dazu brauchst du mich nicht aufzufordern … das ist bei mir gang und gäbe …“ „Was?“ „Daß ich im Handumdrehen einschlafe … Nur …“ Und Michal Exner zwinkerte plötzlich und richtete sich zum Sitzen auf. „Nur …“ Er rappelte sich hoch aus dem Bett. „Was ist los?“ „Ich bitte dich, koch mir noch einen Kaffee. Gleich. Oder wenn du müde und schläfrig bist, dann sag es, ich mach’ ihn mir selber, aber jetzt brauche ich einen Kaffee. Einen starken Kaffee!“ „Du trinkst …“ „Ich weiß. Jedermann sagt mir, daß ich zuviel Kaffee trinke. Aber ich kann es mir erlauben, weil ich niedrigen Blutdruck habe. Hier geht mir was …“ Er warf sich in einen Sessel und stützte den Kopf in die Hände. Sie bereitete den Kaffee zu. „Schläfst du?“ „Ich denke nach.“ „Worüber?“ „Ich weiß nicht“, erklärte er aufrichtig. Er rührte in der Tasse. „Ich weiß es nicht, meiner Seel, Eliška … Ich weiß nicht, worüber ich eigentlich nachdenke. Aber etwas spielt hier nicht zusammen … jetzt, da ich dir alles erzählt habe … Da ist was Sonderbares dabei, mein Kind … Au, verdammt.“ Er hatte sich die Zunge verbrannt. „Siehst du, das passiert mir sonst auch nicht, daß ich mir die Zunge verbrenne. Das Telefon!“ Er stürzte an den Apparat. „Beránek? Grüß’ dich. Ja. Wart ihr schon bei der Marková? Wer hat das übernommen? Šváb? Gut. Aber der Junge hat auch einen Vater. Haben sie nicht gesagt? Nein, das nicht. Stell nur 282
fest, wo er wohnt. Und ruf mich an. Nein, nicht hingehen. Ruf einfach an. Ja, hab’ ich. Das ist Schicksal“, und Michal Exner hob die Augen hoch zu Eliška Libšerová, „wie immer.“
104 Doktor Josef Marek öffnete im Pyjama und schlaftrunken. Wäre nicht sein fast völlig kahler Schädel gewesen, hätte man sagen können, daß ihm der Sohn sehr ähnelte. Exner stellte sich vor, und Doktor Marek machte die Tür vollends auf, knipste in der Diele das Licht an und sagte ruhig: „Honza?“ „Sie wissen es schon?“ „Ich weiß nichts. Aber ich nehme an …“ „Was nehmen Sie an?“ „Setzen Sie sich. Zigarette? Nein? Mit Honza mußte ja einmal etwas passieren.“ „Warum?“ wunderte sich Exner. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er sich von seiner nachmittäglichen Starrheit noch nicht erholt hatte. „Wenn das Gericht einen nervlich labilen Jungen in der Obhut einer Hysterikerin läßt, dann wird aus dem nervlich Labilen ein Irrer.“ „Seit wann haben Sie keinen Kontakt mehr mit Ihrem Sohn?“ „Seit etwa fünf Jahren.“ „Warum?“ „Ich habe erkannt, daß ich nicht die geringste Möglichkeit habe, seine Erziehung zu beeinflussen. Übrigens erzieht das Milieu. Er ist infantil geblieben. Einige Male habe ich versucht, mit ihm zusammenzukommen. Aber das führte zu nichts. Außerdem habe ich mich wieder verheiratet und habe zwei ganz normale Kinder.“ 283
Josef Marek neigte den Kopf, offenbar in Erwartung einer Frage. „Sie haben nicht gesagt“, erinnerte ihn Exner, „warum das Zusammentreffen mit ihrem Sohn zu nichts führte.“ „Es war ein formales Zusammentreffen. Er wollte von mir Protektion für die Mittelschule. Dazu hatte ihn seine Mutter angestiftet.“ „Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“ „Etwa vor einem Jahr … oder mehr. Es werden wohl anderthalb Jahre sein. Durch Zufall. Im zoologischen Garten. Ich war mit den Kindern dort … Er war als Affenpfleger tätig.“ „Haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Ich hatte keine Lust … ihn meinen Kindern als Stiefbruder vorzustellen … Sie wissen nichts von ihm … bis jetzt.“ „Mit Jan Marek ist wirklich etwas passiert“, sagte Michal Exner nachdenklich. „Etwas sehr Ernstes …“ „Selbstmord?“ „Warum denken Sie an Selbstmord?“ „Im Hinblick auf seine nervliche Labilität … Offenbar hat er sich verliebt und so. Er war ein Schwächling, wissen Sie … Eigentlich schon von Kindheit an … Es war leicht, ihm einen fremden Willen aufzuzwingen. Aber gerade solche Menschen sind bei einer außerordentlichen Erregung … Und in seinem Alter kann so eine außerordentliche Erregung vor allem eine sexuelle Angelegenheit sein … So sagen Sie mir endlich, was ist eigentlich passiert?“ „Es war kein Selbstmord“, sagte Michal Exner trocken, „sondern Mord.“ Doktor Marek erbleichte. „Unsinn … Mein Gott, daß ist doch Unsinn. Wem könnte Honza, ausgerechnet Honza, im Wege stehen …“ 284
„Ich habe mich ungenau ausgedrückt“, entschuldigte sich Exner. „Der Ermordete war nicht Ihr Sohn …“ Es entstand eine kurze Stille. „Nein!“ Exner nickte schweigend. „Honza hat getötet?“ „Nein“, sagte Michal Exner und schüttelte den Kopf. „Er hat gemordet, Herr Doktor. Sie haben offenbar – jetzt nachts und in der Aufregung – jenen Unterschied überhört, den wir Juristen machen, wenn wir sagen: getötet – gemordet.“ Doktor Marek schwieg eine lange Weile. Er legte das Kinn auf die gefalteten Hände. „Ich beneide Sie nicht um Ihren Beruf“, sagte er leise. „Darf ich wissen, wie … wie das passiert ist?“ „Er hat eine Narkotisierungspatrone benutzt, die er im Zoo entwendet hatte. Der Betroffene ist ein Mann, der zufällig mit der Frau verkehrt, von der Ihr Sohn glaubte, sie sei allein seine Geliebte.“ Er langte nach einer Zigarette auf dem Tischchen. „Jetzt würde ich mir eine anstecken, wenn Sie erlauben.“ „Selbstverständlich“, sagte der Arzt geistesabwesend. „Streichhölzer? Ja.“ Er nahm sich auch eine Zigarette, und obwohl er sich die ganze Zeit bemüht hatte, trocken und sachlich zu sprechen, war zu sehen, wie seine Hände zitterten. „Das ist allerdings schlimm …“ „Das ist es“, stimmte Michal Exner zu. „Ein bißchen komplizierter auch in weiteren Beziehungen, aber damit werde ich Sie nicht belästigen. Ich bin nicht deshalb zu Ihnen gekommen, um Ihnen die unangenehme Nachricht von der Tat Ihres Sohnes zu überbringen, der im übrigen ja volljährig ist. Ich bin gekommen …“ Exner verstummte und sagte dann: „Schauen Sie. Es ist Nacht. Ich bin müde, und auch Sie sind nicht in der besten Verfassung. Ich werde mir keine Tricks ausdenken und an Ihnen nicht meine Geschicklichkeit ausprobieren. Falls 285
ich eine habe. In diesem Augenblick meine ich, daß ich überhaupt keine habe. Wie Sie sagten, haben Sie Ihren Sohn in den letzten Jahren wenig gesehen. Ich werde es nicht überprüfen, ich glaube es.“ „Es entspricht der Wahrheit.“ „In Ordnung. Aber Sie haben den Jungen als Kind gekannt. Als Jungen zu Beginn der Pubertät.“ „Das stimmt.“ „Sie kennen ihn besser als ich. Weil Sie auch sich und Ihre ehemalige Gattin kennen. Ich sage Ihnen ganz offen meine Ansicht über die Sache: Vor einer Weile haben Sie erklärt, daß Ihr Sohn einer unvorhersehbaren Tat fähig wäre, zum Beispiel eines Selbstmords, in einer bestimmten seelischen Verfassung.“ „Ja, das habe ich gesagt, und deshalb … deshalb hat mich eigentlich … obwohl, verzeihen Sie, vielleicht die späte Stunde oder Ihre Art zu reden … deshalb hat mich Ihre Nachricht – ich werde vielleicht peinlich aufrichtig sein – nicht allzusehr überrascht …“ „Gut, Herr Doktor, aber mir will in dem Ganzen eine Sache nicht recht stimmen. Und jetzt erlaube ich mir ganz undienstlich als Verteidiger Ihres Sohnes aufzutreten – und ich bin froh, daß Sie mir meinen persönlichen Eindruck von ihm bestätigt haben –, er ist impulsiv. Aber die Art, wie er gemordet hat, ist nicht impulsiv. Ich bin damit unzufrieden. Verstehen Sie recht, beruflich unzufrieden. Er hat gemordet. Das habe ich ihm nachgewiesen. Aber er würde …“ Exner stockte. „Der Mord war durchdacht und bedurfte recht komplizierter Vorbereitung“, fügte er trocken hinzu. „Sie wollen damit die Möglichkeit andeuten, daß er nicht der geistige … kurz, daß nicht er sich das ausgedacht hat?“ „Nehmen wir’s an.“ Doktor Josef Marek stand auf. Ging einige Male durch die Diele, vergessend, daß er barfuß und im Pyjama war. „Wenn Sie mir Einzelheiten sagen könnten …“ 286
„Das kann ich nicht, darf ich nicht und will ich nicht.“ „Verstehe. Ich gehöre in den Kreis der Verdächtigen. Von diesem Gesichtspunkt aus sollte ich versuchen, Ihren Gedanken umzustoßen, auch wenn ich vor einer Weile ganz unwillkürlich … Aber ich werde ihn nicht umstoßen. Es ist möglich, Herr, Herr …“ „Kapitän Exner.“ „Herr Exner.“ Er blieb stehen und schaute irgendwohin, durch die Wand hindurch. „Wollen Sie nicht etwas trinken?“ „Ich fahre.“ „Einen Kaffee?“ „Vor einer Weile habe ich einen von vielen getrunken.“ Josef Marek schüttelte den Kopf. „Ich muß objektiv bleiben, auch wenn das in meiner Situation und in meiner Stellung komisch klingt: Falls der Mord eine längere Vorbereitung erforderte … dann … Honza war niemals fähig, zu vollenden, was er sich vorgenommen hatte, falls das längere Zeit dauern sollte. Niemals verstand er es, systematisch zu arbeiten. Ich glaube, er ist überhaupt unfähig zu einer systematischen und geduldigen Tätigkeit. Was längere Anstrengung erforderte und mit Hindernissen verbunden war, das gab er auf. Ist das eine zu große Verteidigung?“ „Es ist das gleiche, was auch ich denke“, sagte Michal Exner aufrichtig und stand auf.
105 Sie kam öffnen und war angezogen. Sie hatte verschwollene und erstarrte Augen. Für die Mutter von Jan Marek war der Begriff der Zeit verschwunden. „Er hat nichts getan, nicht wahr? Sie werden ihn freilassen?“ 287
Michal Exner schüttelte den Kopf und trat, ohne eine Aufforderung abzuwarten, ein und schloß hinter sich die Tür. „Was wollen Sie dann? Gehen Sie zu seinem Vater!“ Exner schaute sich im Korridor um. Kleiderrechen, Schuhe, die übliche leichte Unordnung, in dem Winkel hinter der Tür Angelgeräte, zwei, drei alte Angelruten, dann ein neues Futteral, nicht ganz zugeschnallt, im Innern sah man eine ganz neue Angelrute modernster Konstruktion und mit dem höchsten Preis. „Ich habe mit ihm gesprochen.“ „Ich möchte wetten, daß er sich geradezu gefreut hat.“ „Die Wette würden Sie verlieren …“, sagte Exner trocken und ging ohne Aufforderung weiter ins Zimmer. „Aber er kann das nicht getan haben!“ schrie sie. Michal Exner zuckte die Schultern. „Er hat es getan. Das ist traurig, aber … Und gerade in der letzten Zeit hat er sich, wie ich gesehen habe, eine neue Angelrute gekauft … Wissen Sie, wieviel die kostet?“ „Nein.“ „Das ist es ja gerade, Frau Marková“, sagte Michal Exner und musterte aufmerksam ihr Gesicht. „Das ist es ja gerade, was ich vor einigen Stunden begriffen habe.“ „Ich verstehe Sie nicht.“ „Ist auch nicht nötig. Verzeihen Sie, aber es ist wirklich nicht nötig. Darf ich telefonieren?“ „He“, sagte Beránek. „Ich dachte, du schläfst, oder was anderes.“ „Oder was anderes“, sagte Exner müde. „Ich bin zu Besuch bei Frau Marková. Hast du dein Notizbuch bei der Hand?“ „Gewiß, mein Kapitän.“ „Herr Veber wollte spätabends oder in der Nacht jenes kritischen Tages noch wegfahren. Stimmt das?“ „Ja, auf die Datsche.“ „Wo ist das?“ 288
„Moment … Ja, das habe ich eruiert …“ Exner atmete mit einer gewissen Erleichterung auf. „Ich dachte es mir … Danke, mein Offizier. Třebín. Nein, mehr brauche ich nicht. Ich nehme mir jemanden von dort … Gute Nacht.“ Er legte den Hörer auf. „Verzeihen Sie … Ich erledige mit Ihrem Telefon Gespräche beinahe privaten Charakters … Bin ich etwas schuldig?“ „Aber ich bitte Sie. Wenn es Ihnen nur gelingt …“ „Ihren Sohn zu verteidigen?“ „Ja, Herr … Herr Exner.“ „Das Problem besteht darin, Frau Marková“, sagte Michal Exner seufzend, „daß ich mich nach Beendigung des Jurastudiums nicht auf die Strafverteidigung verlegt habe. Ich danke Ihnen, und falls Sie erlauben …“, er ging in den Korridor und nahm das Futteral mit der neuen Angelrute an sich, „würde ich mir das da ausleihen. Ich kann Ihnen eine Beschei …“ „Nicht nötig. Nein. Was soll ich damit. Aber … ich verstehe nicht …“ „Ich danke.“ Jedesmal, wenn er die Gabe der Beredsamkeit, verlor, war offensichtlich, daß er müde zu werden begann. Nur gut, daß die Straßen des nächtlichen Prag vor Tagesanbruch leer sind und er ungehindert fahren und sich dabei ausruhen konnte. Er lenkte den Wagen zur Brücke über den Fluß und weiter zum zoologischen Garten.
106 Karel Buš schlief auf seiner unbequemen, mehr als bescheidenen Lagerstatt im Elefantenhaus. Diesmal nicht so fest, denn er erwachte, noch bevor Exner bis zu ihm gestolpert war. 289
„Jesusmaria“, sagte er schlaftrunken, „was wollen Sie schon wieder von mir? Ich bin, Genosse Kapitän …“ „Völlig unschuldig.“ „Genau. Ich weiß nicht …“ „Dafür müßte ich noch etwas erfahren. Wissen Sie was? Wie ich sehe, sind Sie im wesentlichen angezogen. Was würden Sie zu einem kleinen Ausflug sagen? So sechzig, siebzig Kilometer.“ „Marjandjosef! Warum das?“ „Ich hab’ mich an etwas erinnert … Als Sie mir erzählten, wie Sie erwachten, dort am Zaun … da haben Sie einen Mann gesehen. Einen Angler. Sie haben sich etwa in dem Sinne über ihn ausgedrückt, daß er aussah wie ein Flitzbogen ohne Sehne …“ „Ja, das stimmt.“ „Würden Sie ihn wiedererkennen?“ „Tja … es war weit … und das Gesicht hab’ ich nicht gesehen. Ich hab’ kein Fernglas. Aber nach dem Gang … Das ist klar. So gebogen. Das kann man nicht vergessen.“ „Dann versuchen wir den Gebogenen zu finden. Was meinen Sie dazu?“ „Ich schätze, Genosse Kapitän, Sie werden auf dem Ausflug bestehen.“ „Sie schätzen richtig.“ Karel Buš langte nach seinen Schuhen. „Also fahren wir. Aber was zwischen die Zähne könnte ich brauchen.“ „Wenn wir zurückkommen und die Kneipen auf sind.“ „Fein, Genosse Kapitän.“
107 Es war kurz vor Sonnenaufgang und kühl. Exner zog das Klappdach hoch, und der Mercedes röchelte auf. 290
Buš wollte etwas über die Schönheit dieses Wagens bemerken, aber er behielt es lieber für sich. Er war verschlafen, ihm war nicht ganz klar, worum es ging, und er urteilte ganz zu Recht, daß es um so besser sein würde, je weniger Worte er machte. Übrigens schlief er ein, bevor sie noch aus der Stadt hinausfuhren, und der Kopf fiel ihm auf die Schulter. Exner wählte statt der Autobahn die alte Landstraße nach Südosten. Sie war noch leer, und außerdem hatte der Kapitän gewisse Befürchtungen, er könne einschlafen. Er zündete sich sogar eine Zigarette an. Holte aus dem nächsten Polizeirevier in Třebín einen jungen Wachtmeister und ließ sich von ihm an Ort und Stelle geleiten. Karel Buš hatte einen beneidenswert festen Schlaf. Der nicht allzu große Bungalow, einer der billigsten Typen, stand am Hang unterhalb des Waldes; das weiße steinerne Fundament spiegelte die aufgehende Sonne wider. „Sie werden dasein“, konstatierte der Wachtmeister. „Die Fensterladen sind auf.“ Sie hielten vor dem Türchen in dem niedrigen Zaun an. Michal Exner stieß recht unsanft Karel Buš an. „Auf, mein Junge.“ Karel Buš gähnte, schaute sich mit blödem Gesicht um, in diesem Augenblick einem Affen nicht unähnlich, und leckte sich die Lippen. Er langte automatisch in die Tasche nach einer Zigarette. Da war keine. „Sakra“, sagte er. Exner reichte ihm schweigend seine Schachtel. Gab ihm sogar Feuer. „Sind Sie schon ein bißchen wach?“ „Ja, bin ich. Wo sind wir?“ „In der Natur“, sagte Exner trocken und hupte. „Ich nehme an, uns kommt ein Mann aufmachen. Und Sie schauen sich ihn aufmerksam an, vielleicht wird er Sie an jemanden erinnern.“ Er hupte ein zweites Mal. Der 291
Vorhang an einem Fenster erzitterte. „Genosse Wachtmeister, steigen Sie aus. Wenn sie eine Uniform sehen, kommt bestimmt jemand heraus.“ Er hatte recht. Nach dem dritten Hupen tauchte in der Tür des Bungalows ein Mann auf, der über den Pyjama einen Sommermantel gezogen hatte, und kam, mit den Schlüsseln klirrend, zum Tor. „Klar“, sagte Karel Buš mit leichtem Erstaunen. „Das ist er.“ „Wer?“ „Der Mann, der geangelt hat. Sehen Sie, Genosse Kapitän, wie ein Flitzbogen ohne Sehne. Genauso hält er sich.“ „Danke“ sagte Michal Exner. Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloß. „Das genügt mir …“ Er legte Zigaretten und Streichhölzer auf den Sitz. „Sie können rauchen oder pennen. Nach Belieben.“ Und er stieg aus dem Wagen. Der Mann schloß gerade das Gartentürchen auf und wollte etwas zu dem jungen Wachtmeister sagen. Da erblickte er Exner. Und richtete sich auf. „Ich komme ein bißchen früh“, sagte Michal Exner. „Aber ich möchte es hinter mir haben. Machen Sie nur auf, Herr Krule.“
108 Schon zum dritten Mal binnen einiger Minuten hatte der Architekt Krule die Vermutung ausgesprochen, daß Michal Exner verrückt geworden sei. Michal Exner schwieg. Er hatte lediglich Krule aufgefordert, so freundlich zu sein und Frau Vebrová zu wecken. Damit sie sich anziehe und an dem Gespräch in dem unteren Raum des Bungalows teilnehme. 292
„Sie sind verrückt geworden“, begehrte der Architekt Krule zum vierten Mal auf. „Das ist völlig ausgeschlossen.“ „Ist es nicht“, sagte Michal Exner trocken. „Wenn es um zwei Morde geht, ist absolut nichts ausgeschlossen.“ Krule zuckte die Schultern und begab sich über die knarrende Treppe ins Dachgeschoß. Dann hörte man ein halblautes Gespräch und ein Rascheln. Zuerst erblickte Exner ihre festen, muskulösen Beine. Die Waden, die Knie, einen beträchtlichen Teil der Schenkel und schließlich die ganze Frau Vebrová in einem Sommerminikleid. Sie gebärdete sich wie ein erfahrener Feuerwehrmann, der zu seinem fünfhundertsten Jubiläumsbrand eintrifft. Auf Exners Gruß antwortete sie nicht. Sie setzte sich ihm schweigend gegenüber und legte die Arme bis zu den Ellenbogen auf den Tisch. Krule schob sich einen Stuhl herbei, um neben ihr sitzen zu können. „Bis auf ein paar undeutliche Aufschreie“, sagte Michal Exner hart, „mit denen Herr Krule mich begrüßte, ist Ihnen nicht sehr nach Reden.“ Krule hob den Kopf. „Ihre Methoden …“ „Sprechen Sie nicht von meinen Methoden, Herr Krule. Von meinen nicht! In diesem Falle. Ich habe vielleicht schlechte Methoden. Miserable.“ Er verstummte. Sie hob den Kopf. „Ich begreife absolut nicht“, sagte sie kühl, „warum Sie uns so früh am Morgen belästigen.“ „Das können Sie auch nicht begreifen; aber schon weil Sie diesen Satz gesagt haben, wissen Sie sehr gut, warum. Sie zwei, meine Verehrtesten. Wir werden das zusammenfassen. Und besser: Ich werde mir erlauben, das für Sie zusammenzufassen. Ausschließlich und speziell für Sie. Für Sie beide.“ „Das ist eine Ehre, nicht?“ Krule lächelte giftig. „Je nachdem, was wer unter diesem Begriff versteht“, entgegnete Exner trocken. „Ein gewisser Jan Marek, Tierpfleger im hiesigen zoologischen Garten, hat mit einer entwendeten Narkotisierungspatrone den Architek293
ten Veber getötet. Mord aus Eifersucht. Jan Marek ist nämlich dahintergekommen, daß besagter Architekt Veber der Liebhaber einer gewissen Frau Berková, Bildhauerin, ist, die auch seine Geliebte war. Er war sogar Zeuge einer oder mehrerer Liebesszenen zwischen ihnen, von denen sich eine im Zoo abgespielt hat. Die Fortsetzung der Geschichte: Eine gewisse Marie Faltysová, verliebt in Jan Marek, ließ mit der Absicht der schweren Körperverletzung oder Tötung in das leere Gehege, in dem Frau Berková ruhig die Känguruhs zeichnete, einen Kiang, einen ungewöhnlich aggressiven Wildesel. Durch diese Tat machte sie sich des Verbrechens des Totschlags schuldig, weil der Kiang besagte Frau Berková zu Tode stampfte. Banale Leidenschaften. Hie und da sogar mit leicht peinlichem – wie die Theaterleute sagen – Untertext. Marek war nicht auf den Mann der Frau Berková eifersüchtig, den hielt er nicht für seinen Nebenbuhler, sondern auf den zweiten Liebhaber. Die Faltysová ist auf die Berková eifersüchtig und ist sich bewußt, daß jene eigentlich die Ursache dafür ist, daß ihr Liebster zum Mörder geworden ist. Das ist in Kürze alles. Und jetzt, falls Sie erlauben, ein paar Fragen.“ „Sie haben nicht das Recht …“ Krule schickte sich offenbar zu einer längeren Rede an. Aber Exner stoppte ihn. „Das habe ich noch. Fragen kann ich stellen, oder nicht?“ wandte er sich an die Vebrová, und diese lächelte erstaunlicherweise hämisch, nickte und sagte: „Ja.“ „Wenigstens das. Danke“, sagte Exner. „Wir sind hier unter uns, wir können offen sprechen. Nichts wird protokolliert. Das hätte ohnehin keinen Zweck. Sie haben mir gesagt, Herr Krule, daß Sie nicht in den Zoo gehen.“ „Ja. Und das ist die Wahrheit.“ „Daß Sie zum Zoo angeln gehen, das haben Sie nicht für wesentlich gehalten.“ „Sie haben mich nicht danach gefragt.“ 294
„Bitte sehr“, sagte Exner. „Mein Fehler. Daß Sie Jan Marek kennen, den Tierpfleger im Zoo …“ „Ein Zufall.“ „Gewiß“, stimmte Exner zu. „Danach habe ich auch nicht gefragt. Und wenn ich Sie frage, warum Sie gerade ihm gestern abend eine funkelnagelneue und teure Angelausrüstung geschenkt haben, werden Sie mir offenbar antworten …?“ „Die habe ich ihm schon lange versprochen. Der Junge hat keinen Vater, und niemand …“ „Das genügt“, sagte Exner. „Frau Vebrová, Sie sind bemerkenswert ruhig und gefaßt geblieben, als Sie Ihren Mann verloren.“ „Ich war nicht ruhig und gefaßt, ich habe mich nur bemüht, mich zu beherrschen“, entgegnete sie. „Sie haben recht, das ist Charaktersache. Es gibt auf dieser Erdkugel Staaten“, fuhr Michal Exner mit einem Seufzer fort, „in denen der Vernehmer, selbstverständlich ohne Zeugen, dem Beschuldigten eins in die Fresse geben kann. Ich bedaure jetzt, daß ich nicht in einem solchen Staat lebe und daß ich auch nicht den Charakter dazu habe, jemandem eins in die Fresse zu geben. Mich binden die Dienstvorschriften und … einfach die Unlust, mich zu prügeln. Ich habe den Mörder an der Hand gepackt. Den wirklichen Mörder. Die psychiatrischen Sachverständigen werden sich zu seiner geistigen Potenz äußern und allgemein dazu, was im Kopf dieses Jungen vorgeht. Sein Vater weiß das genau: Er vermag niemals etwas zu beenden. Er ist infantil. Und dieser Junge verwirklicht keinen komplizierten und durchdachten Mord. Kein plötzliches Aufflammen von Leidenschaften. Kein Streit. Aber: Einbruch, Diebstahl, Belauern, Töten. Genug Anstrengung. Systematische Anstrengung. Durchdachte Anstrengung.“ „Ja“, sagte Krule und grinste. „Eine bemerkenswerte Wahrnehmung.“ 295
„Eine weniger bemerkenswerte Wahrnehmung bleibt wohl, daß Sie gerade an dem Tag nach der Ermordung des Herrn Veber diesem Jungen eine nagelneue Angelausrüstung gekauft haben.“ „Zufall.“ „Ja.“ Die Vebrová hob den Kopf und schaute Exner an wie einen systematisch durch die Prüfung rasselnden Schüler. „Bis jetzt haben Sie uns noch nicht den Zweck Ihres Besuches erklärt.“ „Hab’ ich“, sprach Michal Exner liebenswürdig. „Ein paar Fragen zu stellen.“ „Dann bitte, Herr … Herr …“ „Sie erinnern sich sehr wohl, wie ich heiße. Haben Sie gewußt, daß Ihr Mann mit Frau Berková verkehrt?“ „Nein.“ „Aber gewiß doch“, sagte Michal Exner ruhig. „Nur kann ich Ihnen das nicht beweisen, und Sie wissen das. Auch kann ich Ihnen nicht beweisen – oder nur sehr schwer –, wie und in welchem Maße Sie mit dem hier anwesenden Herrn Krule vor dem Tode Ihres Mannes verkehrt haben.“ „Freundschaftlich. Sie waren Kollegen.“ „Genau diese Antwort habe ich erwartet. Sie stimmen ihr sicherlich zu, Herr Krule?“ „Sie entspricht der Wahrheit.“ „Genauso wie es der Wahrheit entspricht, daß Sie überhaupt nichts wußten von dem Haß Jan Mareks auf den Architekten Veber.“ „Natürlich wußte ich nichts davon.“ „Und Sie haben natürlich auch nichts gewußt von seinen Beziehungen zu Frau Berková.“ „Niemals wäre mir der Gedanke gekommen …“ „Und wenn Ihnen doch der Gedanke gekommen ist? Sie haben es gewußt! Sehr gut. Ich bin mir dessen ganz sicher. Ich bin mir dessen sicher, daß Sie ihm die Ab296
sicht suggeriert haben, sich seines Rivalen zu entledigen. Daß Sie ihn in dieser Absicht unterstützt haben …“ „Das ist eine sehr schwere Anschuldigung, die, wenn sie …“ „Klagbar wäre? Aber nein. Das ist sie nicht. Aber was, wenn Marek das zu Protokoll geben wird? Wenn er das schon zu Protokoll gegeben hat?“ „Der Junge ist nicht normal. Es ist ganz einfach, ihm zu beweisen, daß schwarz weiß ist und umgekehrt. Und jeder Psychiater, der ihn untersuchen würde …“ „Und darin gerade“, sagte Michal Exner, „besteht ja, Sie zwei ehrenhafte Bürger, die ganze Schweinerei der Sache. Sie haben geahnt, was passieren wird, Sie haben es offenbar gewußt, aber keinen Finger gerührt. Gedeckt von dem Wissen, daß das Werk ein halber Narr vollbringen wird. Hart und still haben Sie gehofft, daß das alles für Sie gut ausfallen wird.“ Er schaute sich im Bungalow um. „Es ist für Sie nicht schlecht ausgefallen. Für Sie vorläufig nicht. Vorläufig sitzen ein törichter Junge und ein närrisches Mädchen, das ihn liebt, im Gefängnis. Obwohl er auch sie umbringen wollte, als er erfuhr, daß sie den Tod seiner Geliebten verursacht hat. Dieser wunderschönen Frau. Ihnen, meine Teuersten, ist es völlig schnurz, daß ein Mensch zugrunde gegangen ist, der sich wahnsinnig verliebt hat. Und daß eine schöne Frau gestorben ist. Ich habe ihre Charaktere nicht gekannt, aber sie konnten weniger kalt kalkulieren als Sie. Sie waren einfach natürlich und normal. Von ihren physischen Vorzügen ganz zu schweigen.“ Sie sprang auf. „Sie werden unverschämt, und Sie verlassen augenblicklich dieses Haus!“ „Bleiben Sie sitzen. Schon aus rein formalen Gründen kann ich Sie zu einem weiteren und noch einem weiteren Verhör vorladen. Ich weiß, Sie werden immer das gleiche aussagen. Aber ich könnte Ihnen einigermaßen das Leben vermiesen. Aber! Wenn ich Sie beide so an297
schaue … bleiben Sie nur ruhig sitzen – so. Vielleicht wärmt Sie das Bewußtsein, daß alles gut ausgefallen ist, ohne daß Sie selber einen Finger zu rühren brauchten. Oder nur ganz wenig. Fast unmerklich und deshalb nicht nachweisbar. Aber glauben Sie das nicht. Das bleibt in Ihnen. Niemals mehr werden Sie das los. Sie werden vor Gericht geladen werden, leider nur als Zeugen. Sie werden ruhig zeugen, exakt, als völlig makellose Bürger. Aber die Schatten dieser vier werden hinter Ihnen sein. Immer. Sie werden das Urteil über den Jungen und sein Mädchen anhören. Und im Geiste werden Sie sich die Hände reiben, daß nicht Sie es sind, die auf der Anklagebank sitzen. Vielleicht werden Sie sich für den Rest Ihres Lebens die Hände reiben. Aber so möchte ich mir, bei Gott, niemals die Hände reiben wollen. Wenn ich Sie mir so anschaue, dann denke ich eher, Sie werden sich innerlich verzehren. Guten Appetit“, sagte Michal Exner und stand auf. „Ich werde mich über Sie beschweren“, erklärte Krule trocken. „Kann sein. Aber wohl eher nicht. Viel Glück“, fügte Kapitän Exner hinzu und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht, als wischte er eine Spinnwebe davon ab. Und er drehte sich um zur Tür. Faßte die Klinke an und blieb noch einmal stehen. „Das neue Angelgerät stelle ich Ihnen an den Zaun. Der Junge wird es offenbar nie mehr brauchen …“ Der junge Wachtmeister schwieg korrekt und dienstlich. Er ließ sich vor dem örtlichen Polizeirevier absetzen und verabschiedete sich. Diesmal lenkte Exner den Wagen auf die Autobahn. Und erst dort bemerkte Karel Buš, aus dem, wie es schien, fast ein Denker geworden war: „Das Fenster stand offen, und Sie haben nicht gerade leise gesprochen.“ „Na und?“ 298
„Sie haben aber Nerven.“ „Warum?“ „Ich hätte denen die Fresse poliert.“ „Und wären wieder in den Knast gewandert.“ „Wo bleibt dann die Gerechtigkeit, Genosse Kapitän?“ Michal Exner seufzte. „Die Gesetze sind kompliziert“, sagte müde der Doktor beider Rechte, Michal Exner, „aber die Gerechtigkeit, Herr Buš, das wissen der liebe Gott und der heilige Wenzel, ist noch viel komplizierter.“ Und dem ehemaligen Knastologen blieb nichts übrig, als zu seufzen.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1977 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/138/77 • LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 341 0 DDR 3,- M