Seewölfe 60 1
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Seewölfe 60 1
Burt Frederick 1.
Die Bewegungen des Schiffes waren von einschläfernder Monotonie. Es herrschte nur schwacher Wellengang, und der Bug der Karavelle hob und senkte sich in entsprechend trägem Rhythmus. Das stete Knarren und Ächzen der Takelage begleitete diesen Rhythmus als gleichbleibendes Geräusch. Die Männer dösten vor sich hin. Sie sahen das Tageslicht nicht. Die Luft im Halbdunkel der Vorpiek war stickig und mit Schweißgeruch angereichert. Nur hin und wieder bewegte sich einer der Männer, und dann war das leise Klirren von Ketten zu hören. Insgesamt vierzehn Männer waren es, die in der britischen Kriegskaravelle „War Song“ in Ketten lagen. Lediglich einer von ihnen war hellwach. Sir John Killigrew starrte mit weit offenen Augen in die Düsternis der Vorpiek. Seine Gedanken waren nicht minder düster wie seine Umgebung. Von blindwütigen Rachegefühlen geprägt, kehrten diese Gedanken immer wieder auf den einen Punkt zurück: Es mußte ihm gelingen, sich und seine Männer aus dieser elenden Lage zu befreien. Wie, das wußte er allerdings beim besten Willen nicht. Seit einer halben Ewigkeit dachte er darüber nach. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wußte nicht mehr genau, wie viele Tage vergangen waren, seit dieser Dreckskerl von einem Bootsmann sich erdreistet hatte, ihn und die Überlebenden aus seiner Mannschaft anzuketten — ausgerechnet ihn, der er kein Geringerer war als der Generalkapitän von Cornwall. Sir John hatte inzwischen die Erinnerung daran verdrängt, daß dieser selbe Bootsmann ihn erbarmungslos zusammengeschlagen und ihm damit die schlimmste Demütigung seines Lebens zugefügt hatte. Nein, die gewohnte Selbstherrlichkeit des alten Killigrew war in vollem Umfang zurückgekehrt. Vergessen waren die Schmerzen, die noch bis vor kurzem in
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ihm getobt hatten, und mit den Schmerzen hatte er auch die Schmach der erlittenen Niederlage abgeschüttelt. Mit geradezu unbändiger Willenskraft fieberte er danach, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden. Polternde Schritte näherten sich dem Schott der Vorpiek und rissen Sir John unverhofft aus seinen Gedanken. Auch die übrigen Männer seiner Crew wurden wach, hoben die Köpfe, blinzelten und klirrten mit den Ketten, als sie sich den Schlaf aus den Augen rieben. Sir Johns hellblaue Augen blitzten. Seine Knollennase dehnte sich in die Breite, während sich ein Grinsen in seine derben Gesichtszüge kerbte. Kettenrasselnd fuhr er sich mit der Linken durch das rote Haar. Draußen vor dem Schott endeten die Schritte. Ein harter, dumpfer Laut folgte. Dann flutete grelles Tageslicht herein, als das Schott geöffnet wurde. Sekundenlang schlossen die Männer geblendet die Augen. Sir John kniff die Lider indessen nur einen winzigen Moment zusammen. Angestrengt starrte er in die ungewohnte Helligkeit. Hölle und Teufel, sollte es tatsächlich gefruchtet haben, daß er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Chance? War es ihm etwa gelungen, die Reaktionen dieser Bastarde da draußen an Deck durch seine Gedankenkraft zu beeinflussen? Hm, schon möglich. Wenn es so etwas wie übersinnliche Kräfte gab, dann war es eigentlich nicht verwunderlich, wenn er, Sir John Killigrew, auch über solche Fähigkeiten verfügte. Gegen ihn war eben kein Kraut gewachsen, auch wenn es manchmal schlecht für ihn aussah. Er war immer wieder ans Tageslicht gekrochen. Und dann hatte er denjenigen, die ihn ins Dunkel gestoßen hatten, derartig Feuer unter dem Hintern gemacht, daß sie auf allen vieren vor ihm gekrochen waren. Allerdings - ob dies die passende Gelegenheit war, mußte man abwarten. Sir John hatte nicht mehr vor, sich zu Unbedachtheiten verleiten zu lassen. Seine
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Männer waren instruiert. Sie wußten, unter welchen Voraussetzungen sie zu handeln hatten. Der klotzige Schattenriß eines Mannes schob sich durch das helle Rechteck des offenen Schotts. Er blickte in die Runde, nickte beruhigt, brummelte etwas und schleppte einen gußeisernen Kübel herein, den er im Mittelgang zwischen den beiden Reihen der Angeketteten abstellte. „Eigentlich sollte man euch vor die Hunde gehen lassen“, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf die Gefangenen in seiner unmittelbaren Nähe. „Aber unser Bootsmann ist nun mal ein Mensch. Durch und durch. Wenn’s nach mir ginge, könntet ihr verhungern. Aber, na ja ...“ Er zog die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken und trottete hinaus. Mit einer Schöpfkelle und Blechnäpfen, die an einem Lederseil baumelten, kehrte er kurz darauf zurück. Sir John blieb äußerlich völlig ruhig. Innerlich vibrierte er. O verdammt, besser konnte es nicht kommen. Keiner seiner Männer antwortete auf die Bemerkungen des Bulligen. Sie alle empfanden die gleiche innere Anspannung. Denn jeder von ihnen wußte, was jetzt bevorstand. Der Mann hieß Sharkey und war Koch an Bord der „War Song“. Die Tatsache, daß eine Steinschloßpistole unter dem handtellerbreiten ledernen Hüftgurt des Kochs steckte, störte niemanden aus der Killigrew-Meute. Sharkey sollte keine Gelegenheit mehr haben, die Waffe noch einzusetzen. Die Blechnäpfe schepperten bei jedem Schritt, als er ohne sonderliche Eile auf den Kübel zuging. Deutlich war an Sharkeys Miene abzulesen, daß es ihm wenig Freude bereitete, diesen wilden Haufen mit Essen zu versorgen — diese Halunken, die dem Bootsmann Sullivan und seiner Stammcrew unendliche Schwierigkeiten bereitet hatten. Der narbengesichtige Corduroy und Hanks, ein Mann mit kantigem Schädel und blaßgrauem Stoppelhaar, hockten
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nebeneinander in unmittelbarer Nähe des Kübels. Sir John verständigte sich mit den beiden Männern durch einen Blick. Corduroy und Hanks waren die Verläßlichsten in der zusammengeschmolzenen KilligrewMannschaft. Fanatische Kämpfernaturen, die ihrem Herrn ebenso blind ergeben waren wie die anderen. Ihre Gesichter blieben unbewegt und ausdruckslos, als Sharkey heranschlurfte. Blitzartig streckte Corduroy das rechte Bein aus. Die Kette ermöglichte ihm nur einen knappen Bewegungsspielraum. Aber es reichte. Sharkey hakte mit dem linken Fuß hinter Corduroys Knöchel. Der Schiffskoch stieß einen erschrockenen Knurrlaut aus. Er stürzte vornüber, ruderte mit den Armen und versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu behalten. Blechnäpfe und Kelle wirbelten durch die Luft und landeten scheppernd auf den Planken. Im letzten Moment versuchte Sharkey noch, sich abzustützen. Aber er reagierte nicht schnell genug und schaffte es nicht mehr. Mit der Stirn schlug er auf den scharfkantigen oberen Rand des heißen Kübels. Ein Zucken lief durch den bulligen Körper des Mannes. Der Schrei, den er hatte ausstoßen wollen, verstummte im Ansatz. Er rollte auf den Rücken, Hanks vor die Füße. Nur noch ein Stöhnen drang aus Sharkeys Kehle. Seine hochgekippten Augen und das hervorquellende Weiße seiner Augäpfel zeigten, daß er mit der aufwallenden Bewußtlosigkeit kämpfte. Hanks brauchte sich nur vorzubeugen. Tückisch grinsend hob er beide Hände mit den schweren eisernen Manschetten, an denen die Ketten befestigt waren. Und erbarmungslos, immer noch grinsend, ließ Hanks die Eisenschellen herabsausen. Einmal, zweimal, dreimal. Der Körper des Kochs streckte sich und erschlaffte. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Keiner der Männer brauchte zweimal hinzusehen, um zu erkennen, daß Sharkey die furchtbaren Hiebe nicht überlebt hatte.
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Aufgeregtes Gemurmel setzte ein. Die Gesichter der Männer leuchteten in wilder Freude. „Ruhe halten!“ mahnte Sir John leise. „Und jetzt her mit dem Kerl, damit er vom Schott aus nicht zu sehen ist.“ Behutsam, um die Ketten nicht übermäßig klirren zu lassen, packten die Männer zu. Stück für Stück schoben sie den Toten in den dunkleren Teil der Vorpiek, wo Simon Llewellyn Killigrew neben seinem Vater ein ungeniertes, lautstarkes Gähnen von sich gab. Sir Johns Kopf ruckte herum. „Halt den Rand!“ sagte er zischend. „Radau veranstalten kannst du später, du Trottel.“ Simon Llewellyn zog beleidigt die Stirn in Falten, klappte den Mund zu und schmatzte mit seinen wulstigen, aufgeworfenen Lippen, die seiner unteren Gesichtspartie - zusammen mit der platten Nase - das Aussehen einer Ferkelschnauze gaben. Die Haut Simon Llewellyns war ständig leicht gerötet. Seine Statur war bullig wie die seines Vaters, und seine struppigen Haare hatten das gleiche leuchtende Rot. Sir John packte den toten Schiffskoch am Kragen, knapp unterhalb der blutigen Masse, die einmal das Gesicht des Mannes gewesen war, und zog ihn zu sich heran. Er riß die Pistole aus Sharkeys ledernem Hüftgurt, überprüfte die Ladung und das Pfannenpulver der Waffe und nickte zufrieden. „In Ordnung“, sagte der alte Killigrew halblaut. „Warten wir ab, was passiert. Und absolute Ruhe, verstanden? Irgendwann müssen die Hurensöhne sich rühren.“ Sir John grinste tückisch und richtete den Lauf der schweren Steinschloßpistole probeweise auf das offene Schott der Vorpiek. * Sullivan, breitschultrig und stämmig, spähte vom Deck des Achterkastells über das Vorschiff weg zur Küste. Der Wind
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wühlte in den rotblonden Haaren des Mannes, der an Bord der Kriegskaravelle mit eiserner Faust aufgeräumt und der habgierigen Killigrew-Brut die entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Die „War Song“ segelte bei rauhem Wind auf Nordostkurs. Es war der Nachmittag des 25. Februar 1580. Sullivan hob das Okular des Spektivs ans Auge. Die messerscharfe Optik zeichnete den rauhen Küstenverlauf mit seinen Klippen und der gischtenden Brandung wie ein stimmungsvolles Ölgemälde. Ablandiger Wind trieb Wolkenbänke auf das Meer hinaus, und wie blaue Farbtupfer zeigte sich zwischen diesen Wolken der Himmel. Dort hinter den Klippen und der Steilküste begann Cornwall, das rauhe und reizvolle Land im Südwesten Englands. Sullivan ließ das Spektiv wieder sinken. Tintagel, im Norden der Port Isaac Bay gelegen, war höchstens noch drei oder vier Seemeilen entfernt. Und wahrscheinlich also, daß sich die Crew des Seewolfs ausgerechnet hier, in der Nähe einer größeren menschlichen Ansiedlung, verborgen haben sollte. Nein, Sullivan vermutete die Galeone „Isabella“ weiter nördlich, in irgend einem der unzähligen Küsteneinschnitte der Bude Bay. Die „Isabella“ hatte den Bauch voll mit Gold und Edelsteinen aus der Neuen Welt. Ein unermeßlicher Beuteschatz, den der Seewolf Philipp Hasard Killigrew drüben vor den Küsten Amerikas und in der Karibik den Dons abgeknöpft hatte. Nach der Heimkehr der „Isabella“ hatte sich die Kunde von diesem Beuteschatz in Cornwall, vielleicht sogar in ganz England herumgesprochen. Allen hellhörig gewordenen Habgierigen. voraus war Sir John Killigrew mit seiner Meute aufgebrochen, um dem Bastard Hasard, wie er ihn zu bezeichnen pflegte, den Schatz abzujagen. Die Crew der „Isabella“ mußte unterdessen ohne den Seewolf fertig werden, denn der lag mit einer schweren Kopfverletzung in Plymouth, wo er von seiner Ehefrau Gwen gepflegt wurde.
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In Plymouth hatte sich der alte Killigrew die Karavelle „War Song“ mit einem fadenscheinigen Vorwand buchstäblich unter den Nagel gerissen, um die Verfolgung der „Isabella“ aufzunehmen. Erst später, fast zu spät, waren Sullivan die Augen aufgegangen. Aber dann hatten er und seine Männer dem alten Schlitzohr Zunder gegeben, daß ihm Hören und Sehen vergangen war. Das Ergebnis war der klägliche Haufen. der jetzt angekettet in der Vorpiek hockte. Sullivan hoffte, daß es ihm in ein oder zwei Tagen gelingen würde, die „Isabella“ aufzuspüren. Er beabsichtigte, sich der Galeone und ihrer Crew als Begleitschutz zur Verfügung zu stellen, damit das Eigentum der königlichen Lissy vor weiteren Halunken sicher war. „He, Bootsmann, Sir!“ rief Mahoney, der Rudergänger, vom Kolderstock her. „Was ist mit Sharkey los? Hält er mit den Bastarden einen Schwatz? Freundet er sich etwa mit denen an?“ Sullivan stutzte. „Weiß der Teufel“, sagte er stirnrunzelnd. Mahoney hatte recht. Sharkey blieb auffällig lange in der Vorpiek. Die Essenausgabe pflegte er sonst im Handumdrehen zu erledigen. Die Männer, die auf dem Deck der Kuhl mit dem Aufschießen von Tauen und dem Flicken von Ersatzsegeln beschäftigt waren, wurden ebenfalls aufmerksam. Wie es seine Art war, traf Sullivan eine schnelle Entscheidung. „Hornblow!“ „Sir?“ „Sieh nach dem Rechten!“ „Aye, aye, Sir.“ Hornblow rückte seine Pistole im Gurt zurecht und lief los. Er war ein großer breitschultriger Mann mit leuchtenden strohblonden Haaren. Unter dem derben Leinenhemd, das er trug, zeichneten sich seine mächtigen Muskelpakete ab. *
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Hornblow mahnte sich selbst instinktiv zur Vorsicht, als er sich dem offenen Schott der Vorpiek näherte. Diese totale Stille war verdächtig. Kein Klappern von Blechnäpfen, keine Eßgeräusche, kein Gemurmel: Hornblow zog seine Pistole und spannte den Hahn. Langsam, alle Muskeln angespannt, ging er auf das offene Schott zu. Er wußte, daß er nicht unbemerkt eindringen und den ganzen Laden auseinandernehmen konnte. Nein, er war gezwungen, sich wie auf dem Präsentierteller in die Höhle des Löwen zu begeben. Höhle des Löwen? Der blonde Hüne lachte innerlich über sich selbst. Zum Teufel, die Kerle da drinnen waren angekettet und hatten bestenfalls genügend Bewegungsfreiheit, um sich in der Nase zu bohren. Vielleicht war Sharkey zur Galion geschlichen, weil er aus der Hose mußte. Meistens gab es für merkwürdige Dinge immer eine ziemlich einfache Erklärung. Hornblow unterdrückte daher seine Bedenken und trat in das offene Rechteck des Vorpiekschotts. Sein Blick fiel auf den dampfenden gußeisernen Kübel und auf die Blechnäpfe und die Schöpfkelle, die im Mittelgang lagen. Sharkey war nicht zu sehen. Die Gefangenen hockten in ihren Ketten und taten völlig teilnahmslos. Das Tageslicht reichte nur etwa zur Hälfte in die Vorpiek. Der hintere Teil lag im Halbdunkel. Hornblow kniff die Augen zusammen. . „Was geht hier vor?“ sagte er energisch. Er hob die Pistole ein Stück höher. „Wo ist der Koch? Redet, ihr Bastarde!“ „Das dürfte wohl nicht mehr nötig sein“, erwiderte die hohntriefende Stimme des alten Killigrew aus dem dunkleren Teil der Vorpiek. Für Hornblow blieb keine Zeit mehr, zu reagieren. Seine letzten Wahrnehmungen waren das Klicken des Flints, das Zischen des Pfannenpulvers und die glühend rote
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Mündungslanze, die aus der Dunkelheit auf ihn zu stach. Das Donnern des Schusses, der sich ohrenbetäubend in der engen Vorpiek brach, hörte er nicht mehr. Die Kugel zerschmetterte Hornblows Stirn und blieb tief in seinem Schädel stecken. Der hünenhafte Mann war bereits tot, als er noch von der Wucht des Einschusses rückwärts geschleudert wurde. Im offenstehenden Schott schlug sein lebloser Körper der Länge nach hin. Sir John Killigrew, dessen Augen sich hervorragend an das Halbdunkel gewöhnt hatten, blieb völlig gelassen. Sein Sohn Simon Llewellyn fuhr sich unablässig mit der Zungenspitze über die wulstigen Lippen. Seine ferkelhaften Gesichtszüge waren angespannt, während er mit vorgerecktem Kinn unentwegt zum offenen Schott starrte. Auch die übrigen Männer verharrten schweigend in atemloser Spannung, ohne daß der alte Killigrew sie noch einmal zur Ruhe bringen mußte. Sir John nahm Pulverflasche und Kugelbeutel vom Gurt des toten Kochs und lud die Steinschloßpistole nach. Das bekannte tückische Grinsen lag in seinen Mundwinkeln. Dieser Sullivan und seine Affenärsche verstanden garantiert die Welt nicht mehr. Und wenn sie gleich aufkreuzten, würden sie erst recht nichts mehr kapieren. * Sullivan schwang sich über die vordere Balustrade des Achterkastells. Federnd landete er auf den Decksplanken der Kuhl und zog seine Radschloßpistole. Die unterarmlange Waffe war ein Beutestück, von einem Büchsenmacher in Nürnberg mit höchster Präzision angefertigt. Harte Furchen lagen in Sullivans wettergegerbtem Gesicht, seine Stimme klirrte vor Zorn. „Rufus! Canter! Walker!“ Die drei Männer waren sofort zur Stelle, und alle drei hielten ihre Pistolen schußbereit.
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Rufus, der drahtige Mann mit der Katzenhaften körperlichen Gewandtheit, war schneeweiß im Gesicht. Er konnte ein Zittern nicht unterdrücken, seine aufeinandergepressten Lippen bildeten einen Strich. Sullivan legte ihm die Hand auf die Schulter. Es genügte. Er brauchte nichts zu sagen. Rufus wurde ruhiger. Sein Zittern schwand. Was jedoch blieb, war die grenzenlose Wut, die in ihm loderte. Sullivan bedauerte es, daß er ausgerechnet Hornblow losgeschickt hatte. Aber als sie mit langen Schritten zur Vorpiek eilten, unterdrückte er diese Selbstvorwürfe. Jeden von ihnen konnte es immer und irgendwann erwischen. Allerdings waren Hornblow und Rufus die besten Freunde und Partner, die man sich vorstellen konnte. Ein hervorragend aufeinander eingespieltes Zweier-Team, das sich in allen Situationen bestens ergänzte. Vor allem in den zahllosen Gefechten, die sie gemeinsam durchgestanden hatten, hatte sich die Partnerschaft von Hornblow und Rufus glänzend bewährt. Sollte es jetzt damit vorbei sein? Unwillkürlich prallten sie zurück, als sie den Toten in dem offenstehenden Schott der Vorpiek erblickten. Rufus stieß einen heiseren Schrei aus. Die Vorsicht verließ ihn. Er sprang vor, wiederum zitternd vor Rachedurst, und wollte mit blinder Gewalt in die Vorpiek stürmen. Sullivan erwischte ihn im letzten Moment am linken Oberarm und riß ihn zurück. „Verdammt, laß mich!“ sagte Rufus keuchend. Schweiß rann über seine Stirn. „Ich werde diese dreckigen Bastarde mit Blei vollpumpen. Ich werde diesem elenden Killigrew den Kopf abhacken. Ich werde …“ „Gar nichts wirst du“, unterbrach ihn der Bootsmann. „Ich verstehe, daß du durchdrehst. Sie haben deinen besten Freund erschossen. Aber womit haben sie das getan?“ Rufus blinzelte und runzelte die Stirn. Es war, als erwache er aus einem Traum.
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„Teufel, ja, sie müssen eine Waffe haben“, murmelte er niedergeschmettert. „Ich würde jetzt auch daliegen, wenn ich ...“ „Gut, daß du das begreifst“, sagte Sullivan und klopfte ihm auf die Schulter. „Vorwärts jetzt.“ Unmittelbar neben dem offenen Schott blieben sie stehen. „Killigrew!“ rief der Bootsmann schneidend. „Du hast noch eine kleine Chance. Wirf die Pistole heraus! Wenn nicht, schießen wir euch zusammen. Hoffentlich kapierst du, daß das für uns ein Kinderspiel ist. Also her mit der Pistole! Ich zähle bis drei. Eins ...“ „He, du Hurenbock von einem Bootsmann!“ tönte eine schrille, sich überschlagende Stimme aus der Vorpiek. Es war Llewellyn Killigrew. „Du hältst dich wie immer für mächtig schlau. Aber diesmal begehst du einen verdammten Fehler. Mein Vater hat nämlich euren Koch vor dem Lauf! Und wenn ihr nicht pariert, kriegt der Kerl auf der Stelle ein Stück Blei in den Strohkopf!“ Sullivan wechselte einen fassungslosen Blick mit den anderen. „Das ist Schwindel!“ rief er dann. „Solche Tricks zieht ihr mit uns nicht durch, Killigrew!“ „Zeigt euch!“ schrie Simon Llewellyn zurück. „Aber ohne Waffen! Dann werden wir euch beweisen, daß es kein Trick ist. Los, los, beeilt euch! Unsere Geduld dauert nicht ewig. Wir haben nichts zu verlieren. Für uns steht nichts auf dem Spiel. Und wenn ihr meint, daß ihn euren Koch draufgehen lassen könnt, dann ist das eure Entscheidung. Auf jeden Fall warten wir nicht länger als zwei Minuten.“ Sullivan sah seine Begleiter an. „Wir haben keine andere Wahl“, sagte er gepreßt. Thomas Canter, der riesenhafte schwarzbärtige Schiffszimmermann, legte zweifelnd den Kopf. schief. „Ich weiß nicht recht“, entgegnete er leise. „Vielleicht ist es doch ein Trick. Woher wissen wir denn, ob Sharkey überhaupt noch lebt?“ Sullivan zog die Augenbrauen hoch.
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„Das, Canter, werden wir sehr schnell herausfinden.“ „Was ist jetzt, ihr Bastarde?“ meldete sich wieder Simon Llewellyns schrille Stimme aus der Vorpiek. „Was lange wollt ihr noch überlegen? Ihr werdet uns diese verdammten Ketten abnehmen und dann meinem Vater die Karavelle übergeben!“ Sullivan wußte, daß er in einer höllischen Zwickmühle steckte, sofern es sich nicht um einen Trick handelte. Er gehörte nicht zu der gleichen Sorte Mensch. wie der alte Killigrew. Er, Sullivan, war nicht so, daß er einen Mann über die Klinge springen ließ, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber sicherlich hatte Thomas Canter mit seinen Zweifeln recht. Sullivan war selbst mißtrauisch genug. Zuviel hatte er schon mit dem alten Halunken erlebt, als daß er ihm jetzt noch trauen konnte. Der ehrenwerte Sir John hatte nicht gezögert, das Leben seines eigenen Sohnes in die Waagschale zu werfen, als an Bord der „War Song“ das entscheidende Gefecht zwischen der Killigrew-Meute und der Stammcrew stattgefunden hatte. Deshalb war es dem Schlitzohr ohne weiteres zuzurauen, daß er jetzt eiskalt zum Mord übergegangen war, um sein Ziel doch noch zu erreichen. Aber Sullivan wollte es genau wissen. „Wir stellen eine Bedingung?“ „Sharkey soll sich melden. Ich will wissen, ob er wirklich noch lebt.“ „Du bist nicht ganz richtig im Kopf, Drecks-Bootsmann! Die einzigen, die hier Bedingungen stellen, sind wir!“ Eine dumpfe Reibeisenstimme war unvermittelt aus dem Hintergrund zu hören. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber Sullivan und seine Gefährten erkannten sofort, daß es sich um das Organ des alten Killigrew handelte. „Also gut!“ schrie Simon Llewellyn kurz darauf. „Mein Vater ist einverstanden. Wir sind schließlich keine Unmenschen. Los, du Mistkoch! Sag was!“ Mehrere Sekunden verstrichen in beklemmender Stille. Dann ertönte eine dunkle, etwas heisere Stimme.
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„Ja, ich bin’s, Sharkey. Mit mir ist alles in Ordnung. Macht um Himmels willen keinen Unsinn!“ Sullivan und seine Begleiter wechselten erstaunte Blicke. Ohne Zweifel war es tatsächlich Sharkey, der da redete. Also doch kein Trick von Sir John? Sullivan ahnte nicht, daß einer der Männer aus der Crew des alten Killigrew die Stimme des Schiffskochs täuschend echt imitierte. Sullivan konnte indessen jenes tiefe Mißtrauen nicht überwinden, das in ihm wurzelte, seit er begriffen hatte, zu welchen Raffinessen Sir John fähig war. Deshalb ließ sich der Bootsmann der „War Song“ nicht so ohne weiteres überzeugen. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus schloß er eine Frage ab. „He, Sharkey! Sag mir, wie deine Frau heißt!“ Einen Moment blieb es still. Rufus, Canter und Walker nickten anerkennend. Sie hatten begriffen, daß Sullivan diesmal nicht im Traum daran dachte, dem alten Killigrew auf den Leim zu gehen. Aus der Vorpiek erscholl ein Lachen. „Soll das ein Witz sein, Bootsmann? Du weißt verdammt genau, daß ich nicht verheiratet bin.“ Sullivan wußte nicht sofort eine Antwort. „Hm ...“ Plötzlich tippte David Walker ihm auf die Schulter. Sullivan drehte sich um. Er war drauf und dran, aufzugeben, denn er kam nicht darauf, daß der Mann in der Vorpiek genau wußte, daß Sharkey unverheiratet gewesen war. Schließlich fuhren Sir Johns und Sullivans Leute seit Plymouth zusammen auf der „War Song“, und sie hatten des öfteren Gelegenheit gehabt, sich über persönliche Dinge zu unterhalten. „Mir fällt da was ein“, flüsterte David Walker. „Ich habe heute morgen mit Sharkey geredet. Und zwar über den alten Halunken und sein feines Söhnchen. Er müßte also noch genau wissen, was er gesagt hat.“ „Gut“, gab Sullivan ebenso leise zurück. „Dann frag ihn.“ „Hör mal, Sharkey, alter Junge!“ rief Walker. „Erinnerst du dich, über was wir
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heute morgen gesprochen haben? Weißt du noch, wie du Sir John genannt hast?“ Wieder blieb es sekundenlang still. Sullivan, Canter und Rufus blickten Walker fragend an. „Der größte Hurenbock von Cornwall“, flüsterte Walker augenzwinkernd. „So hat Sharkey ihn genannt.“ Die Antwort aus der Vorpiek ließ diesmal länger auf sich warten. „Ich — ich habe gesagt“, stotterte der angebliche Koch schließlich, „daß — daß Sir John ein feiner Kerl sei.“ Die Erkenntnis traf Sullivan und seine Begleiter wie ein Faustschlag. „Los jetzt!“ rief der Bootsmann zischend, und im nächsten Moment stürmte er auch schon auf das offene Schott zu. Canter, Rufus und Walker folgten ihm mit nur zwei Schritten Abstand. Sullivan schnellte mit einem Sprung voraus und hechtete flach in den Mittelgang zwischen den angeketteten Gefangenen. Ein lästerlicher Fluch scholl ihm entgegen. „Verdammter Bastard!“ brüllte Sir John. Er feuerte seine Pistole in dem Moment ab, als Sullivan vor dem Bußeisernen Suppenkübel in die Waagerechte ging. Die drei Gefährten des Bootsmannes reagierten schnell genug und wichen blitzartig von dem offenen Schott zurück. Die Kugel richtete keinen Schaden an. Noch im Nachhall des donnernden Schusses schnellte Sullivan wieder hoch, sprang über den Kübel und sah die schattenhaften Umrisse Sir Johns im dunkleren Teil der Vorpiek. Der alte Killigrew stieß einen Wutschrei aus und schleuderte dem Bootsmann die leergeschossene ‘Pistole entgegen. Sullivan spürte, wie die Waffe haarscharf an seinem rechten Ohr vorbeizischte, und das stachelte seinen Zorn nur noch mehr an. Hinter sich hörte er die polternden Schritte von Canter, Rufus und Walker. Sie würden die Gefangenen unter Kontrolle halten, kein Zweifel. Wahrscheinlich hatten sie auch ihre Pistolen klar, um die Lage mit dem nötigen Nachdruck in Ordnung zu bringen. Sullivan konnte sich
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also ausschließlich auf den alten und den jungen Killigrew konzentrieren. Und hol’s der Teufel, das hatten die beiden Strolche mehr als verdient. Sir John versuchte, sich trotz seiner Ketten zur Wehr zu setzen. Mit beiden Füßen trat er nach dem Bootsmann, der wie ein Ungewitter auf ihn losging. Aber Sullivan ließ sich nicht beirren. Wie eine Eiche im Wind trotzte er der verzweifelten Gegenwehr des alten Killigrew und verpaßte ihm mit seinen harten Fäusten den Denkzettel, den er wieder einmal so dringend brauchte. Die Niederlage und die Prügel, die er erst vor wenigen Tagen bezogen hatte, schien Sir John schon wieder vergessen zu haben. Sullivan gelangte zu der Überzeugung, daß der alte Halunke immer von neuem und regelmäßig mit der Nase ins Fett gestoßen werden mußte, damit er endlich begriff, daß er nicht unbesiegbar war. Sir John Killigrew schrie unter den Fausthieben des stämmigen Bootsmannes, der ihn schon einmal so sehr gedemütigt hatte. In den Schreien Sir Johns paarten sich ohnmächtige Wut und unendliche Verzweiflung. Neben ihm kauerte Simon Llewellyn angstschlotternd unter seinen Ketten. Sein Ferkelgesicht bebte, er verfolgte das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen. Sullivan hörte nicht eher auf, bis der alte Killigrew unter seinen Hieben erschlaffte. Das heisere Geschrei Sir Johns versiegte, als ihn die Bewußtlosigkeit wegraffte. „Nein, nein!“ schrie Simon Llewellyn. „Hau ab, du verdammter Hurenbock! Du wirst es nicht wagen, dich an mir zu vergreifen! Ich schwöre dir, du wirst dafür büßen! Ich werde dafür sorgen, daß du zur Rechenschaft gezogen ...“ Seine Worte gingen in einem Gurgeln unter, als Sullivan sich vorbeugte, ihn am Kragen packte und zu sich heranzog, so weit es die Ketten erlaubten. „Selbst wenn dir noch mehr nette Worte einfallen“, sagte der Bootsmann mit gespielter Freundlichkeit, „behalt sie besser für dich. Ich bin ein verständnisloser Mensch, Söhnchen. Allerdings nur, wenn
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es sich um Leute von deiner dreckigen Sorte handelt.“ Simon Llewellyn ächzte, zappelte und wand sich, aber es gelang ihm nicht, auch nur den Versuch einer Gegenwehr zu unternehmen. Den Bärenkräften des stämmigen Sullivan hatte er nicht das Geringste entgegenzusetzen. Sullivan stieß ihn von sich weg, daß er mit dem Rücken auf die Planken krachte. Und bevor Simon Llewellyn sich aufrappeln konnte, beförderte er ihn mit einem einzigen gut gezielten Hieb ins finsterste Traumland. Mit einem letzten Seufzer sank der Ferkelgesichtige in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Sullivan drehte sich angewidert um und wischte sich die Hände an der Lederweste ab. Canter, Rufus und Walker standen im Mittelgang und hielten die Angeketteten mit den Pistolen in Schach. „Besser, ihr seid vernünftig“, sagte Sullivan und nickte. „Es würde euch sonst nicht anders ergehen als diesen beiden Halunken, die eure Anführer sind.“ Keiner der Gefangenen gab eine Antwort. Sie senkten die Köpfe, als der Bootsmann herausfordernd in die Runde blickte. Sullivan sah den toten Koch im Halbdunkel, und seine Kehle schnürte sich zusammen. Himmel, er hatte eine Menge Tote gesehen in seinem Leben. Aber was sie Sharkey angetan hatten, das war einfach grauenhaft. Im ersten Moment verspürte Sullivan den Drang, die Kerle allesamt kielholen zu lassen – und zwar so lange, bis sie damit herausrückten, wer Sharkey totgeschlagen und wer Hornblow erschossen hatte. Aber der Bootsmann entschloß sich, darauf zu verzichten. Es würde zuviel Zeit dabei draufgehen. Gewiß, er hatte zwei seiner besten Männer verloren, und die Stammcrew war damit auf elf Mann zusammengeschmolzen. Aber Hornblow und Sharkey wurden durch eine Vergeltungsmaßnahme nicht wieder lebendig. Deshalb war es wichtiger, die Suche nach der „Isabella“ umgehend
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fortzusetzen. Wer wußte denn, welche Horden von habgierigem Pöbel bereits auf der Spur des Beuteschiffes waren? 3. „Was passiert jetzt mit dieser elenden Mörderbrut?“ rief Rufus aufgebracht. „Es ist doch wohl klar, daß wir sie allesamt an der Rahnock aufhängen! Oder?“ „Verdient haben sie es“, sagte Thomas Canter und nickte. „Verdammt, sie haben es wirklich verdient, wenn ihr mich fragt.“ Ein beifälliges Leuchten glitt über Rufus’ verbitterte Gesichtszüge. „Also los! Auf was warten wir noch? Holen wir die anderen, und dann ...“ Er brach ab und blickte Sullivan fragend an. David Walker schwieg. An seiner zweifelnden Miene war abzulesen, daß er bereits ahnte, welche Entscheidung der Bootsmann treffen würde. Und die Gesichter der Gefangenen spiegelten unverkennbare Todesangst. Ihre Blicke hefteten sich wie gebannt auf die Lippen Sullivans, dieses rauhbeinigen Mannes, der den alten Killigrew das Fürchten gelehrt hatte. Sullivan schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er hart. „Wir haben kein Recht dazu.“ Rufus zog die Augenbrauen zusammen. Die Enttäuschung ließ seine Mundwinkel herabsinken. Thomas Canter zuckte lediglich mit den Schultern, desgleichen David Walker. Sie respektierten die Entscheidung des Bootsmanns, denn sie kannten sein aufrechtes Wesen und seine Geradlinigkeit. Trotz allen Schmerzes über den Tod von Hornblow und Sharkey mußte man Vernunft bewahren. Man konnte nicht wissen, welche Konsequenzen sich daraus ergaben, wenn man Sir John Killigrew, den Generalkapitän von Cornwall, mitsamt seinem Sohn und seiner Mannschaft aufknüpfte. Obwohl sie durchaus im Recht gewesen wären, hatte der alte Killigrew doch derart großen Einfluß in Cornwall, daß sie selbst
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nach seinem Tod noch mit beträchtlichen Schwierigkeiten rechnen mußten. „Nein“, wiederholte Sullivan. „Wir können uns das nicht leisten.“ „Und warum nicht?“ entgegnete Rufus trotzig. „Was, zum Teufel, spricht dagegen?“ „Eine Menge“, sagte Sullivan. „Das alte Schlitzohr kann uns selbst dann noch Verdruß bereiten, wenn er seinen Geist schon aufgegeben hat. Wir müssen an unsere eigene Zukunft denken. Und an die Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Das ist wichtiger, als alles andere.“ Rufus schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich begreife das nicht“, murmelte er. „Sie haben Sharkey abgeschlachtet wie ein Tier. Und sie haben Hornblow ...“ Seine Stimme erstickte. Deutlich war ihm anzusehen, daß er mit Alen Tränen kämpfte - er, dieser drahtige und stahlharte Mann, der in unzähligen Kämpfen immer wieder dem Tod ins Auge gesehen hatte. Thomas Canter wechselte einen Blick mit Sullivan. Der Bootsmann nickte. Canter nahm Rufus bei der Schulter und führte ihn hinaus. Rufus ließ es widerstandslos geschehen. In seinem Inneren begriff er, daß Sullivan recht hatte. Nur, der grenzenlose Schmerz um den Tod seines Freundes war stärker als seine Vernunft. Die Tatsache, daß es keine Rache geben würde, ließ ihn teilnahmslos werden. Wie eine willenlose Gliederpuppe ließ er sich von Canter hinausbringen. „Walker“; sagte Sullivan, „du bleibst als Wache hier. Wir werden ein Boot abfieren und die ganze Bande an Land bringen. Ich denke, dann haben wir endgültig Ruhe.“ „Hoffentlich“, sagte Walker pessimistisch. Sullivan blies die Luft durch die Nase. „Diesmal hat der alte Halunke endgültig die Schnauze voll. Darauf kannst du Gift nehmen.“ Mit schweren Schritten ging er hinaus. Wenig später hörte Walker die energische Befehlsstimme Sullivans. „Beiboot ausbringen! Sechs Mann in die Vorpiek! Nehmt den Bastarden die Ketten ab und fesselt sie! Dann ins Boot mit
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ihnen! Los, los, bewegt euch! Ich will, daß wir die ganze Sache in einer Stunde vergessen haben.“ Auf dem Deck der Kuhl entstand hektische Betriebsamkeit. Männer mit aufgeschossenen Leinen polterten in die Vorpiek. David Walker übernahm es, die Aktion zu leiten. Mit knappen Kommandos teilte er die Männer ein. Er selbst kümmerte sich um die beiden Killigrews, die immer noch bewußtlos waren. Sie brauchten nicht mehr als eine Viertelstunde, um die ganze Meute von den Ketten zu befreien und mit den Leinen zu verschnüren. Die Gefangenen leisteten keinen Widerstand. Sie dachten nicht daran, die Gelegenheit zu einem neuen Ausbruchsversuch zu nutzen. Ohne die Befehlsgewalt des alten Killigrew waren sie ohnehin nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Und überdies steckte ihnen der Respekt vor der harten, kampferprobten Crew der „War Song“ so tief in den Knochen, daß sie nicht die geringste Neigung verspürten, es noch einmal darauf ankommen zu lassen. Sie alle waren froh, überhaupt am Leben zu bleiben. Gefesselt an der menschenleeren Küste ausgesetzt zu werden, war immerhin ein sehr kleines übel, verglichen mit der Vorstellung, an der Rahnock zu baumeln. Walker und die anderen scheuchten die Gefangenen hinaus an Deck. Sir John Killigrew und sein Sohn Simon Llewellyn hatten das Bewußtsein wiedererlangt, waren aber noch zu benommen, um die Situation überhaupt zu erfassen. Die ohnmächtige Wut, die in dem alten Killigrew brodelte, hatte sein Gesicht aschgrau verfärbt. Doch an seinen trüben Augen war zu erkennen, daß sein Selbstbewußtsein ziemlich zerschlagen war. Dieses Mal würde er längere Zeit brauchen, um die Niederlage zu überwinden. Simon Llewellyn starrte aus glasigen Augen vor sich hin. Er schien nicht einmal im Ansatz zu begreifen, was mit ihm geschah.
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„Ins Boot mit den Kerlen!“ befahl Sullivan schneidend. Harte Fäuste stießen zu. Über das Steuerbordschanzkleid der ankernden Karavelle stürzten die einzelnen Männer der Killigrew-Meute nacheinander ziemlich unsanft in das Beiboot, das Sullivan bereits mit sechs Mann zum Pullen besetzt hatte. Er selbst stieg als letzter hinein und setzte sich auf die Ruderbank. „Rufus!“ rief er zum Schanzkleid hinauf. „Sir?“ Der Drahtige beugte sich vor. Er schien sich wieder einigermaßen gefangen zu haben. „Du übernimmst während meiner Abwesenheit das Kommando. Sorge dafür, daß die Toten der See übergeben werden, wie es sich gehört. Wir wollen keine Zeit verlieren.“ „Aye, aye, Sir.“ Rufus strahlte bereits wieder die gewohnte Entschlossenheit aus. Die Aufgabe, die ihm Sullivan anvertraut hatte, half ihm über den seelischen Schmerz weg, auch wenn es eine Aufgabe war, die ihm an die Nieren gehen würde. Auf Sullivans Kommando legte das Beiboot ab. Die Männer stemmten sich in die Riemen und pullten mit kräftigen Schlägen auf die Küste zu. Geschickt lavierte Sullivan um die vorgelagerten Klippen herum. Zwanzig Minuten, nachdem sie die Karavelle verlassen hatten, knirschte dunkler Sand unter dem Kiel des Bootes. Der schmale Strand vor der Steilküste war mit Muscheln und Steinen übersät. Klumpen von glitschigem Tang lagen weit verstreut: Auf einem Felsbrocken in fünfzig Yards Entfernung hockte eine Gruppe von wohlgenährten Möwen, die das Geschehen mit scharfen, wachsamen Augen beobachteten. Doch die Seevögel stellten sehr bald fest, daß keine freßbaren Brocken für sie abfallen würden. Sullivan und seine Männer holten die Riemen ein und sprangen in das seichte Wasser. Sie zogen ihre Pistolen aus den Gurten und richteten die Laufmündungen drohend auf die Gefangenen.
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„Raus mit euch!“ sagte Sullivan kalt. „Die beiden Killigrew-Bastarde zuletzt. Hoffentlich bewegt ihr euch bald! Oder braucht ihr eine schriftliche Einladung?“ Sir John schluckte die Demütigung, ohne ein Wort von sich zu geben. Doch seine aufeinandergepreßten Lippen und die zuckenden Wangenmuskeln zeigten, wie wenig er es verdauen konnte. Die Männer der Killigrew-Meute stolperten aus dem Boot ins Uferwasser und überschlugen sich fast, als sie vor den drohenden Pistolenmündungen an Land hasteten. „Und jetzt ihr beiden“, befahl Sullivan, als Vater und Sohn wie das sprichwörtliche Häufchen Elend allein im Boot hockten. Sir John knirschte mit den Zähnen. Seine Blicke waren wie tödliche Dolche. „Du elender Drecksack“, sagte er leise, und seine Stimme vibrierte dabei vor Wut. „Dafür wirst du eines Tages bezahlen. Das schwöre ich dir.“ Sullivan war mit einem blitzschnellen Schritt bei ihm. holte mit der freien Hand aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Es war nicht allein der Schmerz, der den alten Killigrew zusammenzucken ließ. Es war vor allem auch die Gewißheit, daß er diesen eisenharten Bootsmann niemals mehr bezwingen würde. Alles Gegenteilige war pures Wunschdenken. Sir John wußte das, doch er wollte es nicht wahrhaben. Zitternd vor Zorn stolperte er an Land. Simon Llewellyn folgte ihm wie ein treuer Hund. Wegen der auf dem Rücken gefesselten Hände hatte er Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu bewahren. Er schwankte hinter seinem Vater her wie ein Mehlsack auf einer Schubkarre. Auf dem Strand ließ Sullivan die Gefangenen in Reih und Glied antreten. Sie standen mit hängenden Schultern da, hatten die Köpfe eingezogen und waren voll hündischer Ergebenheit, alles Weitere über sich ergehen zu lassen. „Hinsetzen!“ befahl Sullivan. Nicht alle gehorchten sofort. Es lag weniger an mangelnder Bereitwilligkeit als
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vielmehr daran, daß sie nicht begriffen, was das Kommando zu bedeuten hatte. Sullivans Männer halfen nach. Auch den beiden Killigrews mußten sie derbe Stöße versetzen. Dann hockte die gesamte Meute auf dem steinigen Strand. „Zieht ihnen die Schuhe aus und nehmt ihnen die Gürtel ab“, befahl Sullivan. „Wir wollen es ihnen nicht zu leicht machen.“ Die Männer von der Stammcrew der „War Song“ grinsten breit und gingen mit Feuereifer an die Arbeit. Auch diesmal leistete keiner der Gefangenen Widerstand. „Wohin mit dem Krempel?“ fragte Mahoney, der Rudergänger, als sich Schuhe und Gürtel zu einem Haufen türmten. „Ins Boot“, entgegnete Sullivan. Wir werfen das Zeug nachher über Bord, wenn wir weit genug draußen sind.“ Mahoney und die anderen nickten. Lachend schleppten sie die Sachen zum Beiboot. Sullivan gab ihnen einen Wink, und sie nahmen wieder ihre Plätze an den Riemen ein, nachdem sie das Boot freigeschoben hatten. Sullivan stieg als letzter in das Boot und ließ sich achtern nieder. Er blickte sich lächelnd um. Es war ein erbärmliches Bild, das die Killigrews und ihre Strolche jetzt boten. * Sir John erwachte aus seinem zornigen Schweigen, als das Boot bereits hundert Yards entfernt war. Sein Kopf bewegte sich ruckartig nach beiden Seiten. Keiner der Männer wagte es, ihm in die Augen zu sehen. Sie hatten die Köpfe gesenkt, einige von ihnen bewegten die Zehenspitzen, denn die Kälte begann über ihre bestrumpften Füße in die Beine hinaufzukriechen. Simon Llewellyn, der neben seinem Vater hockte, atmete schnaufend. Sein Ferkelgesicht war wie immer gerötet, und auch er wagte es nicht, den Alten auch nur anzusehen.
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Sir Johns Gesichtszüge verzerrten sich. Erst jetzt, schlagartig, wurde ihm das Deprimierende seiner Lage bewußt. Die Aussichtslosigkeit brachte ihn fast um. Keine Hoffnung mehr. Es war nicht damit zu rechnen, die Karavelle jemals wiederzusehen. Die Wut kochte in ihm über. Er sprang auf, wobei er sich mit den gefesselten Händen abstützte. „Dreckige Hurensöhne!“ brüllte er mit sich überschlagender Stimme. Er schüttelte die Fäuste zur See hin. „Noch könnt ihr triumphieren, ihr Bastarde! Aber ihr entwischt mir nicht! Ich werde euch kriegen, und dann reiße ich euch den Arsch auf, daß ihr nicht mehr wißt, ob ihr Männchen oder Weibchen seid. Ihr werdet ...“ Er brach ab. Brüllendes Gelächter ertönte vom Beiboot der „War Song“ herüber. Sullivans Männer hatten aufgehört zu pullen und hielten sich die Bäuche vor Vergnügen. Ihre Lachsalve wollte kein Ende nehmen. Sir John blickte irritiert an sich hinunter, und im selben Augenblick färbte sich sein Gesicht puterrot. Die gürtellose Hose hing auf seinen Fußknöcheln. Das Weiß seiner knielangen Unterhose mußte selbst drüben auf der Karavelle noch wie ein Flaggensignal zu sehen sein. Sir John bemerkte nicht, daß sich auch Corduroy, Hanks und ein paar andere ein Grinsen nicht verkneifen konnten. „Paß auf, daß du dir nicht deine edelsten Körperteile erkältest, Killigrew !“ brüllte Sullivan vom Beiboot herüber. Die Männer der „War Song“ brachen abermals in schallendes Gelächter aus. Sir John bückte sich hastig, zitternd vor übermächtiger Wut. Er raffte seine Hose hoch und hielt sie sich mit beiden Händen vor dem Bauch zusammen. „Und wenn ich euch bis ans Ende der Welt jagen muß!“ schrie er und heulte dabei fast vor Wut. „Ich kriege euch! Jedem einzelnen von euch werde ich die Kehle durchschneiden! Ich mache euch fertig,
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bevor ihr überhaupt wißt, was los ist!“ Er krächzte heiser und rang nach Atem. „Vorher solltest du dir deine Hosen zubinden!“ rief Sullivan zurück. „Ein Generalkapitän in Unterhosen sieht verdammt nicht gut aus!“ Mohoney und die fünf anderen glucksten und kicherten. Sir John ballte die Hände, mit denen er den Hosenbund hielt. Er preßte die Lippen aufeinander und brachte kein Wort mehr hervor. Sullivan und seine Männer erholten sich von ihrer zwerchfellerschütternden Heiterkeit und pullten weiter auf die „War Song“ zu. Schweratmend ließ sich der alte Killigrew zu Boden sinken. Er wußte, daß er eine Weile brauchen würde, um diese neue Demütigung zu überwinden. Im Sitzen mußte er wenigstens die Hose nicht festhalten. Und verdammt noch mal, er dachte nicht daran, aufzugeben. Jetzt erst recht nicht. Blanke Mordlust glühte in seinen Augen, als er beobachtete, wie die Karavelle ankerauf ging und weiter nach Nordosten segelte. 4. Der junge Mann war schlank und hochgewachsen. Ein Hauch von Schlaksigkeit lag noch in seiner Statur, doch zeigte seine angespannte Körperhaltung, welche unbändige Energie und Muskelkraft in ihm schlummerten. Der Wind fächerte sein blondes Haar, und die blassen Sommersprossen, die sich um seine Nase gruppierten, gaben seinem schmalen Gesicht etwas Herausforderndes, Angriffslustiges. Er trug eine braune Lederjacke, darunter ein hellblaues Leinenhemd, derbe graue Hosen und Stulpenstiefel, die aus butterweichem Schweinsleder gefertigt waren. Donegal Daniel O’Flynn wischte sich ein letztes Mal über die Augen. Vollends hatte er sein Staunen noch immer nicht überwunden. Aber das Bild, das er vor sich sah, das Geschehen, das sich vor ihm
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abgespielt hatte, war Wirklichkeit und keine Sinnestäuschung gewesen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, und ein amüsiertes Lächeln flog über seine jungenhaften Gesichtszüge. Er hatte sich hinter einem knapp mannshohen Felsbrocken am oberen Rand der an dieser Stelle etwa fünfzehn Fuß hohen Steilküste verborgen. Er konnte sich sicher fühlen, denn die Burschen dort unten hatten im Moment garantiert andere Sorgen, als mit heimlichen Beobachtern zu rechnen. Auf der Suche nach der „Isabella“ war er dem Verlauf der Küste gefolgt. Deshalb hatte er die Karavelle, die in Küstennähe segelte, schon seit geraumer Zeit beobachtet. Und er hatte das Schiff sofort wiedererkannt. Es handelte sich um jene Kriegskaravelle der britischen Krone, die er in einer Bucht bei Pentire Point auf die unfreiwillige Reise geschickt hatte, indem er die Ankertrossen kappte. Die gesamte Mannschaft hatte sich in einem Whiskyrausch befunden und deshalb nichts mitgekriegt. Es fehlte indessen die Schaluppe, deren Ankertrosse Dan O’Flynn seinerzeit ebenfalls gekappt hatte. Die Tatsache jedoch, daß sich Simon Llewellyn Killigrew dort unten bei seinem Vater und den anderen Männern befand, ließ darauf schließen, daß die Schaluppe über den Jordan gegangen sein mußte. Im übrigen vermutete Dan, daß dieser klägliche Haufen dort am Strand der Rest von Sir Johns ehedem zahlenstarker Mannschaft war. Die Reihen hatten sich also stark gelichtet. Entscheidende Dinge mußten vorgefallen sein. Dieser stämmige Mann, unter dessen Kommando die vierzehn Gefangenen an Land gebracht worden waren, hatte keinen üblen Eindruck auf Dan O’Flynn gemacht. Überdies—die Idee, den Kerlen die Schuhe und die Gürtel abzunehmen, war erstklassig gewesen. Dan hatte anfangs gezögert, ob er sich dem stämmigen Mann, der offenbar auch auf der Karavelle das Kommando führte, hätte
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zu erkennen geben sollen. Jetzt war es für eine solche Entscheidung zu spät. Die Karavelle hatte sich bereits auf gut fünfhundert Yards von der, Küste entfernt. Dan O’Flynn beschloß daher, sein Augenmerk auf die Killigrews und ihre zusammengeschmolzene Mannschaft zu richten. Er ahnte instinktiv, daß es sich lohnen würde und er einiges tun konnte, um die habgierigen Halunken von ihrem Ziel abzubringen, den Beuteschatz der „Isabella“ aufzuspüren. * Simon Llewellyn blickte zur Seite und dann abwärts — wie, um sich zu vergewissern, ob sein Vater die Hosen wieder anhätte. Der Ansatz eines Grinsens huschte über die aufgeworfenen Ferkellippen des jungen Killigrew. Ruckhaft wandte er den Kopf wieder nach vorn, als er spürte, daß der Alte den Blick bemerkte. Sir John fuhr schlagartig aus seiner Lethargie hoch. „Was gaffst du so dämlich!“ brüllte er, und seine Schläfenadern schwollen an. „Fällt dir nichts Besseres ein, als nur herumzusitzen und zu gaffen?“ Simon Llewellyn zog die Schultern hoch, blickte zu Boden und gab ein unschlüssiges „Hm“ von sich. „Das sieht dir ähnlich!“ schrie Sir John. „Wenn man euch nicht dauernd vorbetet, was ihr zu tun habt, benehmt ihr euch wie die Blödmänner. Als ob ihr nicht eine Unze Grips im Schädel hättet. Aber wahrscheinlich ist das auch so. Nicht eine Unze! Es ist zum Kotzen.“ Simon Llewellyns Ferkelgesicht flog herum. „Jetzt reicht’s mir!“ schrie er schrill. „Ich habe endgültig die Schnauze voll davon, daß du mich wie einen Idioten behandelst!“ „Dann beweise, daß du keiner bist!“ brüllte Sir John zurück. „Hölle und Teufel, wir können doch nichts tun!“ Simon Llewellyn stampfte mit den bestrumpften Füßen in den Sand.
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„Ach nein?“ entgegnete Sir John höhnisch. „Wirklich nicht? Sind wir den hilflos wie die Wickelkinder’?“ „Es sieht verdammt danach aus“, sagte sein Sohn maulend. In Sir John brannte von neuem die Lunte durch. Seine Donnerstimme hallte weit über den Strand. „Dämlicher Trottel! Daß so was wie du den Namen Killigrew trägt, begreife ich in hundert Jahren noch nicht! Wie wär’s, wenn wir uns gegenseitig die verdammten Fesseln lösen würden?“ Simon Llewellyns fleischiges Kinn klappte herunter. „Wie das n den?“ fragte er mit offenem Mund. „Können wir unsere Hände bewegen oder nicht?“ „Ja, schon, aber ...“ „Hoffentlich steht ihr bald auf und fangt an!“ brüllte Sir John. „Oder wollt ihr noch bis morgen früh hier rumsitzen?“ Die Männer sprangen auf, und eine Hose nach der anderen rutschte in die Kniekehlen oder bis zu den Knöcheln. Schnaufend rappelte sich Simon Llewellyn als letzter auf. Sir John stand bereits, und abermals leuchtete seine weiße Unterhose. Sein Sohn, den ebenfalls leuchtendes Weiß zierte, bot einen Anblick, der mehr als bei allen anderen zum Lachen reizte. Sir John drehte ihm den Rücken zu. „Fang schon an!“ rief er bellend. „Ich hoffe, du bist nicht zu dämlich, wenigstens das zu schaffen!“ Simon Llewellyn gehorchte murrend. Auch die übrigen Männer hantierten bereits eifrig an ihren Fesseln. Es war keine leichte Sache. Rücken an Rücken, mußten sie sich dabei auf den Tastsinn ihrer Finger verlassen. Aber für die groben Stricke, die ihnen Sullivans Männer verpaßt hatten, war keine besondere Feinfühligkeit erforderlich. Corduroy und Hanks hatten sich als erste von den Fesseln befreit. Sie schenkten sich die Mühe, ihre Hosen hochzuziehen. Mit watschelndem Gang bewegten sie sich auf die anderen zu und halfen ihnen.
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Auch Simon Llewellyn gelang es schließlich, seinem Vater die Stricke zu entknoten. Aufatmend drehte sich Sir John um, rieb sich die schmerzenden Handgelenke und sah, daß noch nicht alle Männer mit der mühsamen Entfesselung fertig waren. „Hoffentlich beeilt ihr euch!“ brüllte er. „Oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“ Keiner der Männer wagte es, aufzumucken. „Und was ist mit mir?“ fragte Simon Llewellyn, der noch immer gefesselt war, kleinlaut. „Corduroy!“ rief Sir John. Der Narbige wirbelte herum und nahm Hab-Acht-Stellung ein. „Sir?“ „Kümmre dich um meinen Sohn.“ „Aye, aye, Sir.“ Corduroy zog sich die Hosen hoch, hielt sie mit der einen Hand fest und beeilte sich, den Killigrew-Sproß von seinen Stricken zu erlösen. Sir John hatte ebenfalls seine Hosen hochgezogen und hielt sie mit beiden Händen vor dem Bauch zusammen. „Verdammter Mist“, murmelte er zähneknirschend. „Wenn die Bastarde uns wenigstens die Gürtel gelassen hätten ...“ Ein Leuchten trat in Simon Llewellyns rosiges Ferkelgesicht. „Ich habe eine Idee!“ rief er. Sir John gab einen verächtlichen Laut von sich und grinste. „Da bin ich mal gespannt, du Einfaltspinsel.“ „Es ist eine gute Idee“, entgegnete Simon Llewellyn mit dem trotzigen Stolz eines Zehnjährigen, der seinen älteren Bruder beim Murmeln spielen überlistet hat. „Wir nehmen die Stricke, mit denen sie uns gefesselt haben. Damit binden wir uns die Hosen fest.“ Sir John starrte ihn mit großen Augen an. Sekundenlang brachte er keine Antwort hervor. „Donnerwetter!“ entfuhr es ihm dann. „Ist dir das wirklich selbst eingefallen? Oder hat Corduroy es dir zugeflüstert?“ „Nein, Sir!“ rief der Narbige. „Ich habe nicht geflüstert.“
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Simon Llewellyn warf sich in die Brust, hob seinen Strick auf und gab das Beispiel, indem er ihn sich als erster um den Hosenbund schlang und verknotete. Er hüpfte zweimal auf und ab. „Hält“, stellte er fest. „Rutscht nicht.“ „Himmel“, sagte Sir John leise und fast andächtig. „Vielleicht wird aus dir doch noch mal ein Killigrew.“ Er sah, daß die übrigen Männer noch untätig dastanden. „Beeilt euch gefälligst! Oder muß ich extra wiederholen, was Simon Llewellyn angeordnet hat?“ Die Männer gerieten in Bewegung. Auch Sir John folgte dem Beispiel, das sein Sohn durch einen so unerwarteten Geistesblitz gegeben hatte. Fünf Minuten später waren sie abmarschbereit. Einziges Hindernis waren jetzt nur noch die fehlenden Stiefel. „Vorwärts!“ kommandierte Sir John und stieß die rechte Faust zweimal hintereinander in die Luft. „Diesen Kurs!“ Er deutet nach Norden. „Irgendwo werden wir menschliche Behausungen finden.“ Mit wilder Entschlossenheit stapfte er voran, verlangsamte jedoch schon im nächsten Moment sein Tempo. Denn es zeigte sich, daß die scharfkantigen Steine und Muscheln, die den Strand bedeckten, alles andere als eine geeignete Unterlage für einen barfüßigen Marsch waren. So setzten die Männer vorsichtig einen Fuß vor den anderen und gelangten auf diese Weise nur sehr langsam voran. Nicht nur der steinige Strand setzte ihnen zu. Auch die Tatsache, daß die meisten von ihnen es gewohnt waren, in Stiefeln auf Schiffsplanken zu stehen, spielte mit. * Dan O’Flynn wartete, bis die fluchende und humpelnde Kolonne der Männer ungefähr zweihundert Yards entfernt war. Dann verließ er sein sicheres Versteck hinter dem Felsbrocken und folgte der Killigrew-Meute auf leisen Sohlen, wobei er jeden sich bietenden Sichtschutz ausnutzte.
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Etwa dreihundert Yards weiter senkte sich die Steilküste. Die Felsen verliefen wie ein plattgedrücktes Stück granitfarbene Torte auf den Strand zu und endeten dort im weichen Boden. Dan O’Flynn verharrte hinter einem brusthohen Felskegel. Er hatte ohnehin aufgeholt. Die Männer befanden sich fast auf gleicher Höhe mit ihm. Dan verhielt sich absolut ruhig, spähte zum Strand hinüber und ließ dabei so wenig wie möglich von seinem blonden Haar sehen. In sechzig bis siebzig Yards Entfernung zogen die Männer vorüber. Den, der am Schluß der Kolonne humpelte, erkannte Dan, ohne zweimal hinsehen zu müssen. Die füllige Statur, das rote Haar und das schweißnasse, gerötete Gesicht waren Simon Llewellyns unveränderliche Merkmale. Sir John marschierte immer noch an der Spitze der Gruppe. Er und auch die anderen Männer hatten sich inzwischen so weit mit der ungewohnten Art des Gehens zurechtgefunden, daß sie immerhin ein stetes, wenn auch langsames Tempo vorlegten. Simon Llewellyn humpelte indessen immer stärker. Sein ständiges unverständliches Zetern interessierte niemanden mehr. Keiner der Männer wandte sich nach ihm um. Unvermittelt zuckte Simon Llewellyn zusammen, blieb schwankend stehen und versuchte, seine Zehen mit den Händen zu erreichen. Es bereitete ihm erhebliche Mühe. Deshalb setzte er sich hin und fingerte zwischen seinen Zehen herum. Da der Killigrew-Sohn ihm den Rücken zuwandte, konnte Dan O’Flynn nicht erkennen, welche Schwierigkeiten Simon Llewellyn hatte. Anzunehmen war aber, daß er sich an einer Muschel geschnitten hatte. Der Rest der Killigrew-Mannschaft zog weiter, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Ein Gedanke durchzuckte Dan. Er lächelte verschmitzt, und der Gedanke packte ihn so sehr, daß er es einfach tun mußte. Er wurde förmlich vom Teufel geritten, als er
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sein Versteck verließ, die Pistole unter dem Gürtel hervorzog und lautlos auf den Ferkelgesichtigen zuschlich. Auf dem nackten Felsen war es für Dan O’Flynn ein Kinderspiel, sich ohne das leiseste Geräusch heranzupirschen. Die Bewegungen seines schlanken Körpers waren von raubtierhafter Geschmeidigkeit. Als er bis auf wenige Schritte heran war, hörte er, daß Simon Llewellyn pausenlos leise Flüche brabbelte. Sein Vorrat an unflätigen Worten schien unerschöpflich. Dan packte die Pistole am Lauf; vergewisserte sich ein letztes Mal, daß die marschierende Kolonne außer Sichtweite war und schnellte dann mit zwei lautlosen Sätzen auf den Killigrew-Sohn zu. Simon Llewellyn registrierte nicht einmal das Zischen des herabsausenden Pistolenknaufs. Das Messing traf seinen Hinterkopf und verursachte einen unschönen trockenen Laut. Simon Llewellyn sackte in sich zusammen, ohne auch noch einen Seufzer von sich zu geben. Sofort wirbelte Dan O’Flynn herum und lief zurück zu den schützenden Felsbrocken. Er verharrte minutenlang und spähte zum Strand. Der ferkelgesichtige Killigrew lag regungslos da. Von Sir John und seinen Männern war nichts mehr zu sehen. Zweifellos hatten sie noch nicht spitzgekriegt, welches unangenehme Geschick den Sproß des Herrn von Arwenack ereilt hatte. Dan O’Flynn verlor keine Zeit mehr. Er lief los und kehrte zu dem Ort zurück, wo er seinen ersten Beobachtungsposten gehabt hatte. Ganz in der Nähe, nur wenige Yards landeinwärts, hatte er sein Pferd angepflockt. Er schwang sich in den Sattel und ritt weiter landeinwärts. Dan wußte, auf was es jetzt ankam. Tintagel war die nächste menschliche Ansiedlung im Norden. Auf jeden Fall mußte er den Ort vor Killigrew und seinen Leuten erreichen, um dort weiter zu beobachten und nach Möglichkeit zu
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verhindern, daß das alte Schlitzohr wieder Land zu gewinnen begann. Es war ohne weiteres denkbar, daß Sir John sich in Tintagel als der große Generalkapitän von Cornwall aufspielte und aufgrund seiner Autorität verlangte, daß ihm ein Schiff zur Verfügung gestellt wurde. Mit Sicherheit würde der alte Killigrew für ein solches Ansinnen die passende Erklärungen bereit haben. Wenn er etwa vorgab, Verbrecher zu jagen oder gar das Eigentum der Königin zu schützen, dann paßte das durchaus zu seinem üblichen durchtriebenen Gebaren. Bei Sir John mußte man mit allen nur denkbaren und undenkbaren Möglichkeiten rechnen. Dan ritt landeinwärts in das menschenleere Gebiet an der Nordküste von Cornwall, schlug einen weiten Bogen und jagte dann auf Tintagel zu. 5. Humpelnd und fluchend bewegte sich die Kolonne der Männer auf dem steinigen Strand entlang. Der ablandige Wind trug eisige Kälte über die Klippen, und die Februarsonne, die ihre Strahlen durch weiße Wolkenformationen schickte, spendete keine nennenswerte Wärme. Dennoch rann den Männern der Schweiß in Strömen über die Gesichter. Der alte Killigrew mußte geradezu besessen sein, daß er diese Energie an den Tag legte. Wie es aussah, würde er dieses zügige Tempo noch stundenlang durchhalten. Dabei mußten seine Füße genauso zerschunden sein, wie es bei jedem einzelnen seiner Mannschaft der Fall war. Doch keiner riskierte es, auch nur ein paar Schritte zurückzufallen oder sich gar eine unerlaubte Pause zu gönnen. Sie alle wußten zur Genüge, zu welchen Wutausbrüchen Sir John selbst in den schlimmsten Miseren imstande war. Ihre einzigen Begleiter waren kreischende Möwenschwärme, die ihnen folgten und sich stets in angemessenem Abstand hielten. Das Tosen der Brandung bildete eine unveränderte Geräuschkulisse, die von
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den Männern bald nur noch im Unterbewußtsein wahrgenommen wurde. Morse, ein blaßhäutiger, hagerer Mann mit rostrotem Kraushaar, stolperte am Ende der Gruppe dahin. Schon seit einer halben Stunde spürte er, daß seine Fußsohlen aufgerissen und zerschunden, die Strümpfe durchgescheuert waren. Er biß die Zähne zusammen, um die wachsenden Schmerzen zu unterdrücken. Sein Blick war unentwegt nach vorn gerichtet, denn er bemühte sich verbissen, nicht den Anschluß zu verlieren. Irgendwann in diesen endlos scheinenden Minuten der Schinderei spürte Morse plötzlich, daß der Strick nachgab, mit dem er seine Hose festgeknotet hatte. Er bemühte sich, den Strick fester zusammenzuschnüren, ohne sein Marschtempo zu verringern. Doch während er die Knoten löste, verlor er einen Moment die Kontrolle über seine zitternden Finger, und die Hose rutschte ihm endgültig in die Kniekehlen. „Scheißdreck“, knurrte er, blieb schwankend stehen, raffte die Hose wieder hoch und beeilte sich, den Strick neu zusammenzuschlingen. Mit jeder Sekunde entfernte sich die dahinhumpelnde Kolonne. Morse wurde von Nervosität gepackt. Er hatte das beklemmende Gefühl, den sich rasch vergrößernden Abstand nie wieder aufholen zu können. Noch während er an seinem Hosenstrick nestelte, stutzte er plötzlich. Verdammt, er war doch nicht der Letzte gewesen! Simon Llewellyn… Morses Kopf flog herum. Der Strand hinter ihm gähnte vor Leere. Morse vergaß seine Hose und alles Mißgeschick, daß ihn eben noch zum Flattern gebracht hatte. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, spähte wieder nach vorn, wo die Männer schon in zwanzig Yards Entfernung dahinschlurften. Aber nein, auch dort war Simon Llewellyn nicht zu entdecken. Morse wußte, daß seine Sinne noch halbwegs funktionierten, trotz aller Schinderei. Er hätte es bemerken
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müssen, wenn der junge Killigrew ihn überholt hätte. Morse faßte den einzig richtigen Entschluß, obwohl ihm dabei keineswegs wohl in seiner Haut war. Er riß den Mund auf, formte die Hände zu einem Trichter vor den Lippen und brüllte aus Leibeskräften. „Sir John! He, anhalten! Bleibt stehen! Sir John!“ Die Kolonne der Männer geriet ins Stocken. Einzelne drehten sich um, blieben tatsächlich stehen und wurden von den anderen angerempelt, die nicht sofort begriffen, was los war. Der alte Killigrew verließ die Spitze der Marschformation, baute sich zwei Schritte seitlich davon auf und starrte mit vorgerecktem Kopf zurück. Selbst auf die Entfernung konnte Morse sehen, daß Sir John krebsrot im Gesicht wurde. Unwillkürlich duckte sich der blaßhäutige Mann. Er wußte, daß der Alte seine ganze Wut auf ihn abladen würde. „Was, zum Teufel, ist los?“ schrie Sir John. Ein Möwenschwarm, der sich in der Nähe auf einer Klippe niedergelassen hatte, flatterte mit erschrockenem Kreischen davon. Morse nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Simon Llewellyn fehlt!“ rief er zurück. „Ich habe es eben gerade ...“ Der alte Killigrew unterbrach ihn mit Donnerstimme. „Bin ich denn nur von Vollidioten umgeben? Ihr verdammten Hunde! Wenn ich nicht selbst auf alles aufpasse, bin ich verraten und verkauft! Wozu habt ihr Augen im Kopf, he? Wenn dieser Stinkstiefel schlappmacht, ist es eure verdammte Pflicht und Schuldigkeit, ihn mitzuschleifen! Muß ich euch demnächst noch Befehl geben, wann ihr in der Nase bohren sollt und wann nicht?“ Mit energischen Schritten stapfte Sir John an der Front seiner Mannschaft vorbei auf Morse zu. Die Muscheln und Steine, die dabei schmerzhaft in seine arg
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mitgenommenen Füße schnitten, interessierten den Alten nicht. Morse wurde einen Kopf kleiner, als sich Sir John breitbeinig vor ihm aufbaute, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Heraus mit der Sprache!“ fauchte Sir John. „Wann hast du es gemerkt? Seit wann fehlt Simon Llewellyn?“ Er spähte den Strand entlang und konnte selbst ebenfalls keine Spur von seinem ferkelgesichtigen Sprößling entdecken. „Gerade eben, Sir“, antwortete Morse kleinlaut. „Ich habe dauernd aufgepaßt, daß ich den Anschluß nicht verliere. Da rutschte mir die Hose weg. Ich mußte stehenbleiben —ja, und dabei habe ich gemerkt, daß Ihr Sohn nicht mehr hinter mir war.“ „Arschloch“, knurrte der alte Killigrew. Morse blinzelte verwirrt. Hatte der Alte ihn oder Simon Llewellyn gemeint? Aber er schwieg, um den Alten nicht noch mehr zu reizen. Sir John wandte sich halb um. „Corduroy! Hanks!“ Die beiden eilten herbei und bauten sich mit unterwürfiger Haltung vor ihrem Dienstherrn auf. „Sir?“ sagte Corduroy devot. Killigrew preßte einen Moment die Lippen aufeinander, bevor er die Worte förmlich von sich schleuderte. „Ihr beide bringt mir diesen Einfaltspinsel her, verstanden? Und gnade euch Gott, wenn ihr ihn nicht findet. Los, los, auf was wartet ihr noch? Bewegt euch, bevor ich euch einen Tritt in den Hintern verpasse!“. Corduroy und Hanks rannten los. Sie legten ein Tempo vor, das ihnen bei der elenden Schinderei vor wenigen Augenblicken noch schwergefallen wäre. Aber die Autorität des alten Killigrew, der seine Untergebenen stets wie Leibeigene zu halten pflegte, steckte ihnen tiefer in den Knochen als jede andere Empfindung. „Pause!“ rief Sir John den anderen zu. „Ausruhen! Hinsetzen!“ Sie gehorchten bereitwillig, bemühten sich jedoch, ihre Freude nicht zu zeigen, denn jede derartige Gefühlsäußerung konnte einen neuen Wutausbruch bei dem alten
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Killigrew hervorrufen. Morse gesellte sich eilends zu seinen Gefährten, und allesamt waren sie dem jungen Simon Llewellyn für diese unverhoffte Schnaufpause zutiefst dankbar. Sir John hockte auf einem flachen Felsbrocken, die Ellenbogen auf den Knien und das Gesicht in die Hände gestützt. Mit finsterem Blick starrte er auf die heranrollende Brandung, die sich mit hohen Gischtfontänen an den Klippen brach. Die Minuten verstrichen in nervtötender Zähflüssigkeit. Sir John schaffte es nicht, sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Mit jeder Minute steigerte sich seine Wut auf dieses Mißratene Söhnchen. Seit sie aus Falmouth mit der „War, Song“ und der Schaluppe ausgelaufen waren, um die „Isabella“ zu Verfolgen, hatte ihm Simon Llewellyn nichts als Scherereien bereitet. Trotzdem hatte er auf die Begleitung seines Sohnes nicht Verzichten können, denn bereits zuvor hatte Sir John schmerzhaft erfahren, daß er allein mit der Karavelle der „Isabella“ und ihrer hartgesottenen Crew nicht gewachsen war. Es war zum Verrücktwerden. Sir John begann sich in den Gedanken zu verbohren, daß sein Sohn an allem Mißerfolg schuld sei. O verdammt, wenn dieser Nichtsnutz nicht ab sofort zeigte, was wirklich in ihm steckte, dann würde er, Sir John, ihn mit seinen eigenen Fäusten so lange windelweich schlagen, bis er endlich kapierte, was es hieß, ein Killigrew zu sein. Die Wartezeit betrug ungefähr eine Viertelstunde. Sir John hob ruckartig den Kopf, als Corduroy und Hanks in Sichtweite hinter einer Klippe auftauchten. Im selben Atemzug sprang der alte Killigrew auf. Die beiden Männer schleiften eine schlaffe Gestalt heran. Beide hatten sie ihn unter den Oberarmen gepackt und sichtliche Mühe, die Masse seines Lebendgewichts zu bewältigen. Simon Llewellyn!
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Auch die übrigen Mitglieder der Crew rappelten sich jetzt auf und harrten voller Spannung darauf, welche Erklärung es für die Bewußtlosigkeit des jungen Killigrew geben würde. Möglich, daß er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Aber daran wollte keiner so recht glauben. Sir John schwieg, als Corduroy und Hanks den Bewußtlosen vor seinen Füßen auf den steinigen Strand betteten. Es war ein zorniges Schweigen, und der Narbige spürte, daß er sehr schnell einen Bericht liefern mußte, wenn er nicht einen neuen Tobsuchtsanfall hervorrufen wollte. Aber wahrscheinlich ließ sich das ohnehin nicht vermeiden. „Er lag am Strand“, sagte Corduroy. „Ungefähr fünfhundert Yards von hier entfernt. Wir. haben die Umgebung gründlich abgesucht, aber wir konnten keine Spur entdecken. Einfach nichts. Es ist völlig ausgeschlossen, daß jemand in der Nähe gewesen ist, von dem wir nichts wissen. Und trotzdem ...“ Corduroy zögerte. „Was trotzdem?“ fauchte Sir John. „Zeig es“, sagte Corduroy zu Hanks. Der Stoppelhaarige bückte sich und drehte Simon Llewellyns Kopf auf die Seite. Eine mächtige Beule war auf dem hinteren Schädel des jungen Killigrew gewachsen. Sir Johns Kinn schob sich ruckartig vor. „Glaubt ihr, ich spinne!“ brüllte er. „Wollt ihr mir vielleicht noch erzählen, daß ihm ein Stein auf seine weiche Birne gefallen sei?“ „Es ist so, wie ich berichtet habe, Sir John“, entgegnete Corduroy mit mühsam erzwungener Festigkeit in der Stimme. „Keine Spuren. Niemand, der in der Nähe gewesen sein könnte.“ Sir John ballte die Hände. „Verdammt noch -mal, irgendwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Oder bin ich etwa verrückt? Fest steht jedenfalls, daß er diese Beule noch nicht hatte, als wir ihn das letztemal gesehen haben. Oder ist jemand anderer Meinung?“ Die Männer schüttelten verwirrt die Köpfe. Einige von ihnen blickten sich ängstlich
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um, als fühlten sie sich von unsichtbaren Wesen beobachtet. Morse, von Natur aus blaß, war so weiß geworden wie die gekalkten Wände von Cornwalls Farmhäusern. „Also woher hat er die verdammte Beule?“ schrie Sir John aufgebracht. „Vielleicht kann er es erklären, wenn er wieder bei Bewußtsein ist“, sagte Corduroy leise. „Hm.“ Sir John nickte grimmig. „Holt Wasser her und bringt ihn auf die Beine.“ Die Männer, die noch Mützen hatten, liefen los, füllten ihre Kopfbedeckungen im seichten Uferwasser und schütteten es dann über Simon Llewellyns rosiges Ferkelgesicht. Die Prozedur mußte etliche Minuten fortgesetzt werden, ehe der junge Killigrew die Augen aufschlug. Er blinzelte, starrte in den Himmel, und dann war es am Ausdruck seiner Augen abzulesen, daß er seinen Vater erkannte. „Los, steh auf“, befahl Sir John knurrend. „Ich kann nicht“, entgegnete Simon Llewellyn ächzend. „Himmel, ich bin völlig fertig. Ich kann nicht.“ „Waschlappen! Hast du wenigstens deine fünf Sinne beisammen? Vielleicht bist du so freundlich, uns zu erklären, woher du diese verdammte Beule hast!“ Simon Llewellyn mußte angestrengt nachdenken, bis er sein Erinnerungsbild zusammengefügt hatte. „Ich weiß nicht“, sagte er mit einem schmerzerfüllten Stöhnen. „Ich - ich kann es wirklich nicht sagen.“ „Was heißt das?“ brüllte der alte Killigrew, und es sah so aus, als würde er sich jeden Moment mit den Fäusten auf seinen so jämmerlich daliegenden Sohn stürzen. Simon Llewellyn gab einen Laut von sich, der wie ein verzweifeltes und trotziges Heulen klang. „Verdammt noch mal, ich weiß es doch wirklich nicht! Ich habe nur auf dem Sand gehockt, weil ich mir mit einer Muschel die Zehen aufgeschnitten hatte. Um mich herum war nichts, gar nichts! So wahr ich ein Killigrew bin, das ist die Wahrheit. Und dann, plötzlich, kriegte ich dieses Ding auf den Schädel. Wie aus dem Nichts ...“
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Sir John, der zu einer wütenden Antwort ansetzen wollte, wurde jäh abgelenkt. Morse stieß einen spitzen Schrei aus und schlug beide Hände vor das kalkweiße Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper, als würde er von einem Fieberschauer geschüttelt. Die anderen sahen ihn erschrocken an, und in mehreren Gesichtern malte sich eine unerklärliche Angst. Einen Moment blickte Sir John den Zitternden mit offenem Mund an. Dann ging er mit zwei, drei energischen Schritten auf ihn zu und packte ihn am Kragen. „Fangt ihr langsam alle an, durchzudrehen?“ schrie er. „Habe ich es etwa nur noch mit Waschweibern zu tun? Was soll das verdammte Theater, Morse? Rede!“ Morse mußte alle Kraft aufwenden, um seinen flackernden Blick zu heben. Seine Lippen vibrierten, und seine Wangenmuskeln zuckten. „Rede!“ wiederholte Sir John wütend. „Es ist - wir sind ...“ stammelte Morse, „wir - wir sind hier in seinem Reich. Dies ist das - das geheimnisvolle Reich des König Artus. Und wir - wir sind in sein Reich eingedrungen. Deshalb - bestimmt deshalb hat der Geist des Königs zugeschlagen. Wir haben kein Recht, ihn in seiner Ruhe zu stören. Wir - wir haben ihn herausgefordert, und da hat er zugeschlagen.“ Einige der Männer wurden gleichfalls blaß. Sir John war minutenlang sprachlos. Dann brannte die berühmte Lunte in ihm durch. Seine Schläfenadern schwollen zu Strängen an. „Verdammter hirnrissiger Bastard!“ brüllte er mit sich überschlagender Stimme. „Glaubst du, du kannst mit solchen Märchen Unruhe stiften? Ich werde dir zeigen, wer hier zuschlägt! Nicht dein dämlicher König Artus!. Das Recht, zuzuschlagen, hat hier nur einer: ich, der Generalkapitän von Cornwall!“ Ehe Morse in seiner selbstgeschürten Angst auch nur reagieren konnte, zuckten Sir Johns Fäuste von unten herauf.
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Mit zwei brutalen Hieben fällte er den zitternden Mann, der hintenüber kippte wie ein vom Blitzschlag gefällter Baum. Morse rührte sich nicht mehr. Herausfordernd blickte Sir John in die Runde. „Sonst noch einer, der mehr Schiß vor König Artus hat als vor mir?“ Keiner der Männer wagte es, auch nur eine Silbe von sich zu geben. Eine düstere Stimmung breitete sich aus. Bis auf Corduroy und Hanks, die härtesten Burschen unter ihnen, gab es nur wenige, die sich dem Bann von Morses unheilvollen Ahnungen zu entziehen vermochten. Sir John knurrte grimmig. „Wenn noch einer solchen Blödsinn quatscht, gibt es ein heiliges Donnerwetter, darauf könnt ihr Gift nehmen. Ich will, daß wir heute abend in Tintagel sind. Und wenn wir das nicht schaffen, reiße ich euch der Reihe nach den Arsch auf.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf den immer noch am Boden liegenden Simon Llewellyn. „Bringt ihn hoch! In zehn Minuten soll er wieder laufen wie ein junges Reh. Wenn nicht ...“ Sir John ließ die unausgesprochenen Worte als finstere Drohung im Bewußtsein seiner Untergebenen schweben. Und diese Drohung wirkte mehr als jeder Fußtritt oder jeder Fausthieb. * Die Dunkelheit brach bereits herein, als Simon Llewellyn Killigrew endlich wieder auf beiden Beinen stehen konnte und auch imstande war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Diesmal jedoch übernahm er die Spitze der Kolonne - zwangsweise. Sein Vater trieb ihn vor sich her. Jedesmal wenn Simon Llewellyn zurückfiel, sein Tempo verlangsamte, rammte ihm der alte Killigrew das Knie ins verlängerte Rückgrat. Und jedesmal begleitete Sir John diese Prozedur mit wilden Verwünschungen.
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„Der Teufel soll dich holen, wenn du dich nicht in Bewegung setzt, du Witzfigur! Noch einmal lasse ich mir von dir nicht alles vermasseln!“ Simon Llewellyn stolperte vorwärts, ruderte haltsuchend mit den Armen und schaffte es mit letzter Anstrengung, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sofort anschließend stelzte er mit kurzen, gezierten Schritten voran, ignorierte die stechenden Muscheln und Steine und bemühte sich krampfhaft, dem Knie seines Vaters durch die geforderte Schnelligkeit zu entgehen. Doch regelmäßig erlahmte Simon Llewellyns Willenskraft sehr rasch wieder, und ehe er sich versah, erhielt er einen neuen Rammstoß in die Kehrseite. „Schwächling!“ brüllte Sir John. „Dir werde ich noch beibringen, was ein Killigrew durchstehen kann! Ich werde dir zeigen ...“ Die Männer am Ende der Marschkolonne hörten schon nicht mehr hin. Die Flüche und das Geschrei des alten Killigrew waren zu sehr Gewohnheit für sie, als daß es in diesen Stunden der Schinderei noch vollends in ihr Bewußtsein drang. Geduldig schleppten sie sich voran, ertrugen die Schmerzen in den Füßen und waren froh, daß nicht sie das Ziel der Beschimpfungen des Alten waren. Morse und Luke Corbett humpelten am Schluß der Reihe dahin. Corbett war ein Mann von gedrungenem Körperbau, mit einem faltigen Gesicht, das ihn wie einen Greis wirken ließ. Doch der Schein trog. Corbett hatte sein wahres Alter durch ein lasterhaftes Leben zumindest äußerlich übertüncht. Und unter denjenigen, die ihn kannten, kursierte die Vermutung, daß auch sein Verstand unter seinem alkoholseligen Lebenswandel beträchtlich gelitten hatte. „Sag mal“, krächzte Corbett. Auch seine Stimme klang greisenhaft, wie welkes Herbstlaub, das im Wind raschelt. „Was ist?“ entgegnete Morse gepreßt. Geistesabwesend rieb er sich das Kinn, das von den Hieben Sir Johns angeschwollen war. Das Unbehagen hockte noch immer
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wie ein feuchtkaltes Fabeltier auf seinem Rückgrat und ließ ständig neue Schauer durch seinen Körper rinnen. Es wurde jetzt rasch vollends dunkel. Der Himmel hatte sich aufgeklart und die Sterne funkelten wie glitzernde Diamanten. Doch es war für Morse kein Bild mehr, das seine Gedanken zu dem schon sagenumwobenen Beuteschatz der „Isabella“ wandern ließ. Furcht packte ihn jedesmal, wenn milchige Wolkenfetzen am blassen Halbrund des zunehmenden Mondes vorbeizogen und die abendliche Küstenlandschaft weiter verdunkelten. Und auch die Gischt der Brandung, die in der Finsternis hell schimmerte, erschien ihm wie Irrlichter, die über der endlosen Weite der See tanzten. Corbetts Krächzen riß ihn wieder aus seiner angstvollen Stimmung. „Was du da vorhin erzählt hast ...“ „Ja ?“ „Die Sache mit König Artus...“ „Hör auf damit, Mann. Ich will nicht mehr daran denken. Mich macht es verrückt, wenn ich mir vorstelle, was uns blüht. Man darf die Mächte der Finsternis nicht herausfordern. Und wenn wir seinen Zorn erwecken ...“ Morse atmete tief durch. „Zorn? Bei wem?“ fragte Corbett begriffsstutzig. „Beim Geist des König Artus, verdammt noch mal.“ „Richtig! Genau das wollte ich doch sagen. Ich meine, daß du recht hast. Zum Teufel, ich weiß es sogar ziemlich genau.“ „Hä?“ Morse starrte den anderen verblüfft von der Seite an, obwohl er in der Dunkelheit nur das Weiße von dessen Augen erkennen konnte. „Ich kenne diese Geschichte, Morse. Ich kenne sie sogar verdammt genau. Weil ich nämlich Verwandte in der Nähe von Tintagel habe. Eine Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie. Rechtschaffene Leute, sage ich dir. Rechtschaffen und gottesfürchtig. Aber ihnen allen sitzt die heilige Angst im Nacken, wenn nur von König Artus die Rede ist. Es sollen hier Dinge geschehen sein ... Himmel, es sind Menschen spurlos verschwunden, und es
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sind Menschen tot umgefallen, die eine Minute vorher noch das blühende Leben waren. Aber alle haben sie sich irgendwas zuschulden kommen lassen. Weiß der Teufel, was es war. Jeder hier in der Gegend weiß, daß der Geist des König Artus nicht tatenlos zusieht, wenn in seinem Reich krumme Sachen gedreht werden.“ Unwillkürlich blieb Morse stehen. Erschüttert starrte er den anderen an, der nun ebenfalls seine Schritte stoppte. „Mein Gott, dann weißt du mehr als ich. Ich habe nur drüben in einer Schenke. in Bude von diesen Geschichten gehört. Und das hat mir wahrhaftig gereicht.“ Corbett trat auf Morse zu, drehte sich kurz zu der weiterhumpelnden Kolonne um und flüsterte dann: „Es ist die beste Gelegenheit, Morse. Der alte Killigrew führt uns ins Verderben. Er weiß nicht, was er tut. Wenn wir jetzt verschwinden, merkt er es nicht. Und wenn sie in Tintagel ankommen, sind wir längst über alle Berge.“ „Verdammt, ja, du hast recht“, sagte Morse ebenso leise. Minutenlang blickte er den Silhouetten der Männer nach, die schon bald von der Dunkelheit verschluckt wurden. Nur noch die unablässigen Flüche Sir Johns waren zu hören, doch kurz darauf wurde auch das vom Rauschen des Windes übertönt. „Also, was ist?“ fragte Corbett drängend. „Wir hauen ab“, entgegnete Morse entschlossen. „Es ist das Vernünftigste, was wir überhaupt noch tun können.“ Sie hasteten hinter eine der schützenden Klippen und verharrten dort, bis sie absolut sicher waren, daß ihr Fehlen nicht bemerkt wurde. Dann verließen sie das Versteck und schlichen landeinwärts. Irgendwo würden sie auf eine menschliche Behausung stoßen - möglichst weit von Tintagel entfernt. Denn die Angst vor dem Geist des König Artus steckte ihnen tiefer in den Knochen als die Angst vor Sir John Killigrew. *
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Es waren noch zehn Gefolgsleute, mit denen Sir John und Simon Llewellyn etwa zwei Stunden später in Tintagel einzogen. Vor den Schenken brannten Pechfackeln auf über mannshohen Eisenstangen. Doch sie erhellten die Straße nur unzureichend. Die Fenster der flachen, gedrungen aussehenden Häuser waren fast ausnahmslos dunkel. Der ehrbare Teil der Bevölkerung von Tintagel hatte sich bereits dem Schlaf zugewandt, wie es der inneren Einstellung dieser rechtschaffenen Leute entsprach. Sobald die dahinhumpelnden Männer die erste Schenke passierten, wurden sie von einem späten Zecher bemerkt, der mit glasigen Augen ins Freie torkelte und sich an einem der Stützbalken des Vordaches festhielt. Der Mann kniff die Augen zusammen, öffnete sie und wiederholte dies mehrmals, bis er trotz seiner getrübten Sinne überzeugt war, keine Halluzination zu haben. „Holla, Freunde!“ lallte er lautstark, drehte sich einmal um den Stützbalken, ohne jedoch den Halt zu verlieren. „Kommt ‘raus, ihr Kakerlaken! Seht euch das an, wenn ihr noch ein bißchen Spaß haben wollt! Das ist der gottverdammteste lächerliche Haufen, der mir jemals unter die Augen gekommen ist! Die sehen allesamt aus, als ob sie von König Artus persönlich durch den Schlamm im Bodmin Moor gezogen worden sind. Was für ein elender Haufen von Jammerlappen! O Mann, o Mann ! Ha-ha-ha ...“ Er brach in schallendes Gelächter aus, verschluckte sich, würgte, rang nach Atem und erbrach sich. Die Männer der Killigrew-Meute preßten die Lippen aufeinander. Sie waren zu entkräftet, um auch nur daran zu denken, diesem whiskyseligen Schreihals das Maul zu stopfen. „Vorwärts!“ brüllte Sir John und rammte seinem Sprößling zum soundsovielten Male das Knie in den Hintern. Simon Llewellyn flog mit ausgebreiteten Armen voraus, und diesmal fehlte: ihm endgültig die Kraft, um sein Gleichgewicht
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noch einzufangen. Mit dem Ferkelgesicht voran landete er im Morast der Hauptstraße von Tintagel. Sir John packte ihn wütend am Kragen und zog ihn hoch. Doch er kam nicht dazu, eine Schimpfkanonade auf seinen mißratenen Sohn herabprasseln zu lassen. Und der stolpernde Marschrhythmus der Männer geriet ins Stocken. Sie schafften es nicht mehr rechtzeitig, sich aus dem Lichtkreis der Pechfackeln zu entfernen. Eine johlende Meute quoll aus der Schenke hervor. Männer schwenkten Bierkrüge und Whiskyflaschen. Frauen stießen schrilles Gelächter aus. Die ganze Horde tanzte auf dem Gehsteig entlang und bedachte die zerschundene Killigrew-Mannschaft mit höhnischen Schimpfworten und der albernen Schadenfreude Betrunkener. Sir John baute sich breitbeinig neben seinem Sohn auf, der - wenn auch noch schwankend - immerhin wieder auf den Beinen stand. Beide Fäuste in die Hüften gestemmt, schmetterte der alte Killigrew der johlenden Schar seine Stentorstimme entgegen. „Dreckiges Pack ! Wenn ihr nicht gleich verschwindet, schlagen wir euch in Stücke! Aber vorher sagt ihr mir, wo wir den Bürgermeister in diesem lausigen Nest finden!“ Das Gelächter steigerte sich nur noch. Männer hielten sich die Bäuche vor Vergnügen, und Frauen, deren Leben sich ausnahmslos in den Schenken abspielte, bedachten den alten Killigrew mit eindeutig zweideutigen Gesten. Mit der Energie eines gereizten Stiers stapfte Sir John auf die grölende Schar zu. Schon in diesen Minuten flammten in mehreren Häusern der Nachbarschaft Lichter auf. Der spätabendliche Lärm blieb nicht unbemerkt, und im einsam gelegenen Tintagel war eine kleine Sensation zu jeder Tages- und Nachtzeit willkommene Abwechslung. Obwohl er keine Waffe hatte, verfehlte Sir Johns unverhohlene Wut ihre Wirkung nicht. Einige der Schreihälse verstummten. Nur die Frauen kicherten weiter.
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„Wo wohnt der Bürgermeister?“ brüllte Sir John. Leicht vornübergebeugt, blieb er drei Schritte von der Meute entfernt stehen. „Am Ende der Straße“, antwortete einer der Betrunkenen mit schwerer Zunge. „Direkt neben der Pfarrkirche, Mister.“ Die jäh anschwellende Adern des alten Killigrew ließen befürchten, daß seine Schädel jeden Augenblick zerplatzen würde. „Mein Name ist John Killigrew! Ich bin Generalkapitän von Cornwall, du Wanze! Wenn sich noch einer in diesem Kaff erdreistet, mir nicht den nötigen Respekt zu zollen, machen wir euch Dampf, daß euch das Wasser im Hintern kocht!“ Die alkoholisierten Gröler wurden endgültig still. Doch der Spott wich nicht aus ihren Mienen. Sir John wandte sich abrupt um und kehrte zu seinen Männern zurück. „Weiter!“ befahl er schneidend. „Los, los!“ Simon Llewellyn mußte sich einen erneuten Rammstoß gefallen lassen. Diesmal setzte Sir John jedoch weniger Wucht dahinter, um seinen Sprößling nicht abermals aus dem Dreck ziehen zu müssen. Während sich die Männer stöhnend und leise murrend voranschleppten, wurden die ersten Türen der Bürgerhäuser geöffnet. Männer und Frauen erschienen im blakenden Lampenlicht, spähten mit offenkundiger Neugier in die Dunkelheit und begriffen sehr schnell, welche Art von Abwechslung sich ihnen hier bot. Zweifellos handelte es sich um einen Haufen, der von einem überlegenen Gegner so hoffnungslos zusammengeknüppelt worden war, daß er fast nur noch kriechen konnte. Diese stolpernden und stöhnenden Kerle mußten geradewegs aus der Hölle entronnen sein so, wie sie aussahen. Es lohnte sich also, die Dinge weiter zu beobachten. So schloß sich der humpelnden KilligrewMannschaft - eine rasch wachsende Schar von Neugierigen an: Betrunkene aus den Schenken und verschlafene. Bürger, die jedoch mit jedem Schritt wacher wurden.
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Das Haus des Bürgermeisters duckte sich neben der düster aufragenden Silhouette der Pfarrkirche von Tintagel. Alle Fenster des eingeschossigen Hauses mit seinen weißgekalkten Mauern waren dunkel. Das Stadtoberhaupt von Tintagel hatte den Trubel offenbar noch nicht bemerkt. Sir John ließ seine Männer vor dem Zaun des Vorgartens warten. Er kümmerte sich nicht um die Menschenmenge, die sich in angemessenem Abstand drängte und das Geschehen aufgeregt murmelnd verfolgte. Ohne sich der Lächerlichkeit seines Aussehens bewußt zu sein — auf durchgescheuerten Strümpfen und mit Hosen, die von einem Strick gehalten wurden —, stieß er die Pforte auf und stürmte auf die Eingangstür des Hauses zu. Energisch betätigte er den Messingtürklopfer. Dumpf hallten die Schläge durch die Straße. „Aufmachen!“ brüllte Sir John. „Kommen Sie ‘raus, Bürgermeister! Hier ist der Generalkapitän von Cornwall!“ Er setzte sein Klopfen und Brüllen fort, bis hinter einem Fenster rechts neben der Tür endlich Licht aufflackerte. Kurz darauf waren aus dem Inneren des Hauses schlurfende Schritte zu hören, die von einer verschlafen heiseren Stimme begleitet wurden. „Ja, ja, ich komme ja schon! Um Himmels willen, was ist denn passiert?“ Drinnen wurde der Riegel zurückgezogen, und dann schwang die Tür mit leisem Knarren auf. Der Bürgermeister war ein beleibter Mann von bestimmt zwei Zentnern. Er trug ein graues Nachthemd, das bis auf den Boden reichte. Unter seiner Zipfelmütze war kein Haaransatz zu erkennen. Anzunehmen also, daß er eine Glatze hatte. Schützend hob er die freie Hand vor der Flamme der Öllampe, die er in der Rechten hielt. * Dan O’Flynn kauerte regungslos hinter der brusthohen Mauer des Friedhofes, der unmittelbar an die Pfarrkirche grenzte. Da das Haus des Bürgermeisters der Kirche
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schräg vorgelagert war, konnte Dan die Szenerie mühelos überblicken. Dank der ungewöhnlichen Schärfe seiner Augen vermochte er trotz des schwachen Lampenlichts jede Einzelheit zu erkennen. Der Vorgarten des Bürgermeister-Hauses war etwa dreißig Yards von Dans Versteck entfernt. Aus schmalen Augen glitt sein Blick über die Szenerie. Da war die schweigende Menschenmenge, die sich auf der Straße drängte — weit genug entfernt, um jederzeit einem möglichen Wutausbruch des alten Killigrew zu weichen. Da waren die Männer Sir Johns, die sich an den Gartenzaun lehnten, weil sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Ein belustigtes Lächeln flog über Dans schmales Gesicht, als er Simon Llewellyn erblickte, der sich schweißtriefend und schweratmend an den Zaunpfählen festklammerte. Und da war Sir John selbst, der vor dem nur mit einem Nachthemd bekleideten Bürgermeister sein Schauspiel aufführte. Dan brauchte sein Gehör nicht einmal sonderlich anzustrengen, um jedes Wort zu verstehen. „Sie sind der Bürgermeister in diesem Nest?“ erkundigte sich Sir John herrisch. „Aber Sir, ich muß doch sehr bitten“, entgegnete der Mann im Nachthemd und schluckte. „Tintagel ist ...“ „Sind Sie der Bürgermeister oder nicht?“ „Selbstverständlich, Sir. Mein Name ist Garmont. James Baldwin Garmont. Ich stehe zu Ihren Diensten, Sir.“ „Das will ich hoffen. Sie haben begriffen, wen Sie vor sich haben?“ Der Bürgermeister verneigte sich. „O ja, Sir. Ich bin sofort wach geworden. Sie sind Sir John Killigrew, Generalkapitän von Cornwall. Ich habe viel von Ihnen gehört, Sir. Ihr Name ist auch in unserer Stadt ein Begriff.” Grinsend sah Dan O’Flynn, wie sich der alte Killigrew in die Brust warf. „Gut, gut, Mann“, sagte Sir John und nickte. „Sie können sich vorstellen, daß ich mit meiner Mannschaft nicht ohne Grund in diesem erbärmlichen Zustand hier auftauche ...“
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„Äh, ja, Sir, ich—ich verstehe ...“ „Gar nichts verstehen Sie. Nur eins ist wichtig, was Ihre Person betrifft, Mister Garmont. Sie werden uns jede Hilfe und Unterstützung zuteil werden lassen, die ich für erforderlich halte. Habe ich mich klär genug ausgedrückt?“ Abermals verneigte sich der Bürgermeister. Mit seinem Nachthemd war es eine grotesk wirkende Geste. „Durchaus, Sir. Selbstverständlich, Sir. Ich werde für Sie und Ihre Männer alles tun, was in meinen Kräften steht. Wenn Sie mir bitte sagen, welche Wünsche ...“ Dan O’Flynn hörte dem Wortwechsel nicht weiter zu. Der Gedanke war schon vor Minuten in seinem Kopf gereift, als die Killigrew-Meute und die Gaffer gerade erst vor dem Haus des Bürgermeisters eingetroffen waren. Jetzt zögerte Dan keine Sekunde mehr, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Er nahm sein dunkelblaues Halstuch ab und straffte es, indem er an beiden Enden zog. Dann tastete er mit der Linken über den Erdboden und entdeckte nach kurzem Suchen einen etwas mehr als haselnußgroßen runden Stein, der für seine Absicht hervorragend geeignet war; Er nahm beide Enden des Halstuches in die Rechte und bettete den Stein in die Mulde des Stoffes. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel, daß er diese Technik noch beherrschte. Als Junge hatte er mit einer solchen primitiven Schleuder Vögel im Flug getroffen. Während er begann, die Steinschleuder über seinem Kopf kreisen zu lassen, richtete er sich langsam hinter der Friedhofsmauer auf. * „Haben Sie keine Augen im Kopf, Mann?“ schnauzte Sir John den Bürgermeister an. „Es dürfte Ihnen doch wohl klar sein, was wir am dringendsten brau ...“ Die letzte Silbe brachte er nicht mehr hervor.
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Niemand hatte das leise Sirren gehört. Es schien, als würde Sir Johns massiger Körper von einem Blitzschlag getroffen. Er zuckte zusammen, stand noch sekundenlang kerzengerade und sank dann langsam nach vorn. Simon Llewellyn stieß einen erschrockenen Laut aus, reagierte unerwartet schnell, rannte trotz seiner lädierten Füße durch die Gartenpforte und war gerade rechtzeitig zur Stelle, um seinen Vater aufzufangen, bevor dieser hart auf den Boden schlug. Lähmende Stille breitete sich aus. Die Männer der Killigrew -Meute starrten mit weit aufgerissenen Augen auf ihren bewußtlosen Dienstherrn. Der Bürgermeister eilte mit entsetzter Miene herbei, beugte sich nieder und hielt die freie Hand schützend vor der Flamme der Öllampe. Simon Llewellyn, immer noch schwitzend und schnaufend, drehte seinen Vater behutsam auf den Rücken. Ein Ausdruck grenzenlosen Staunens stand im wettergegerbten Gesicht des. alten Killigrew. „Sehen Sie, da!“ rief Bürgermeister Garmont plötzlich. „W — wo? W — was?“ stotterte Simon Llewellyn. „Da, an seiner linken Schläfe! Eine Beule!“ „Tatsächlich“, sagte Simon Llewellyn und tastete mit zitternden Fingern über die Stelle, an der die Beule anzuschwellen begann. Aufgeregtes Stimmengewirr wurde vor dem Gartenzaun laut. „Der Geist des König Artus!“ brüllt einer der Männer. „Er hat wieder zugeschlagen „Morse hat recht gehabt!“ schrie ein anderer. „Himmel hilf, wir geraten alle ins Verderben!“ „Der Geist des Königs zeigt seine Macht!“ „Sir John hat ihn herausgefordert!“ „Wir sind alle des Todes!“ „Gegen die Mächte der Finsternis können wir nichts ausrichten!“ Simon Llewellyn drehte sich entsetzt um. Sein Gesicht war schneeweiß und von
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Schweiß bedeckt. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er etwas tun mußte. Aber so sehr er seine durcheinanderwirbelnden Gedanken unter Kontrolle zu bringen versuchte, es gelang ihm nicht, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Wie, in drei Teufels Namen, sollte man einen Gegner bekämpfen, der unsichtbar war? Das erregte Stimmengewirr der Männer schwoll an. Wild gestikulierend und schreiend steigerten sie sich zu wahrer Panikstimmung. Die Bürger der Stadt verfolgten das Geschehen mit Fassungslosigkeit und wachsendem Unbehagen —auch die Betrunkenen. * Einen Augenblick lang vergaß Dan O’Flynn alle Vorsicht und stand aufrecht hinter der Friedhofsmauer. Ungläubig beobachtete er, welche unerwartete Reaktion seine Attacke mit der Steinschleuder hervorgerufen hatte. Und schlagartig begriff er, woher die geradezu lächerlichen Ängste von Sir Johns Mannen rührten. Sie hatten es sich nicht erklären können, wieso Simon Llewellyn am Strand bewußtlos geschlagen worden war. Es fiel Dan wie Schuppen von den Augen: In dieser Gegend kannte jedes Kind die Sage vom Geist des König Artus. Auch die Tatsache, daß bereits zwei Männer in der Crew des alten Killigrew fehlten, ließ darauf schließen, daß die Angst vor dem Unheimlichen, vor dem Unerklärlichen ihre Wirkung nicht verfehlte. Während die Männer noch herumschrien und gestikulierten, während Simon Llewellyn und der Bürgermeister ratlos neben dem Bewußtlosen hockten, gewann. Dan O’Flynn blitzartig Klarheit darüber, in welche Kerbe er schlagen mußte, um seinem einsamen Feldzug zu weiterem Erfolg zu verhelfen.
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Er duckte sich, huschte lautlos von der Mauer weg und ging in zehn Yards Entfernung hinter einem der Grabkreuze in Deckung. Mit beiden Händen formte er vor den Lippen einen Trichter. Und dann imitierte er in höchster Vollendung den langgezogenen, schaurig hohlen Schrei einer Eule. Noch während er den Schrei ausklingen ließ, registrierte er, daß auf der Straße vor dem Haus des Bürgermeisters jähe Stille einsetzte. Dan ließ den Trichter seiner Hände noch vor den Lippen und schickte ein höhnisches, schrilles Kichern in diese Stille. Sofort danach wich er weiter zurück, erreichte einen Baumstamm und richtete sich dahinter auf. Killigrews Männer waren starr vor Entsetzen. Es schien, als hätte sie eine unsichtbare Macht dort festgenagelt, wo sie gerade gestanden hatten. Niemand wagte es, ein Wort zu sprechen. Alles lauschte atemlos, und sämtliche Augenpaare waren mit flackernder Angst auf den stockdunklen Friedhof gerichtet. Dan O’Flynn grinste, als er sah, daß einige der Bürger sich hastig bekreuzigten, abwandten und in ihren Häusern verschwanden. Immer mehr Männer und Frauen folgten diesem Beispiel. Für sie, die sie im Zentrum jenes vermeintlichen Reiches lebten, das man dem Geist des König Artus zuschrieb, hatte die Legende mehr als nur einen Funken Wahrheitsgehalt. Schon nach kurzer Zeit waren der Bürgermeister und die Mannschaft des alten Killigrew allein. „Holen Sie Wasser!“ schrie Simon Llewellyn das Stadtoberhaupt an. „Wir müssen ihn wieder zu Bewußtsein bringen, verdammt noch mal!“ Der Bürgermeister sprang auf und stürzte mit wehendem Nachthemd ins Haus. Dan O’Flynn, der das Geschehen noch immer beobachtete, mußte ein Lachen Unterdrücken. Simon Llewellyn, dieses einfältige Ferkelgesicht, brachte es wieder
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einmal nicht fertig, einen Entschluß zu fassen, der Hand und Fuß hatte. Dan wartete nicht, bis der Bürgermeister aus dem Haus zurückkehrte. Ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, zog sich der schlanke junge Mann zur rückwärtigen Mauer des Friedhofes zurück, packte die Mauerkrone und schwang sich mit einem Satz hinüber. Er lief durch das angrenzende Brachland und tauchte in einem nahegelegenen Wäldchen unter. * Kälte umgab ihn, als sei er in die eisige See getaucht. Sir John prustete, schluckte Wasser und hatte das Gefühl, schleunigst wieder an die Oberfläche zurückkehren zu müssen, um seine Lungen mit Atemluft vollzupumpen. Im nächsten Moment schwand die Kälte des Wassers. Er röchelte, hustete, spie aus und begann zu blinzeln. Er sah einen großen irdenen Krug, den ein Mann im Nachthemd von ihm wegzog und beiseite stellte. Dann erst registrierte Sir John die stechenden Schmerzen, die seinen Schädel auseinanderzutreiben schienen. Er ächzte, wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Dabei fühlte er die schwellende Beule an seiner linken Schläfe. Ruckartig setzte er sich auf. Jäh aufwallender Schmerz durchzuckte ihn mit einer übermächtigen Woge, die ihn an den Rand einer neuen Bewußtlosigkeit spülte. Er spürte Hände, die ihn stützten. Er wandte den Kopf nach rechts und erblickte das schweißüberströmte Ferkelgesicht seines Sohnes, dessen Wangenmuskeln unkontrolliert zuckten. Sir John riß den Mund auf, wollte losbrüllen, aber die Schmerzen zwangen ihn, seine Stimme zu dämpfen. „Was, verflucht, ist passiert? Wer hat sich erdreistet, mir dieses Ding zu verpassen? Los, rede!“
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Simon Llewellyn nagte auf seiner Unterlippe, ehe er eine Antwort hervorbrachte. „Der Geist des König Artus“, flüsterte er angsterfüllt. In seinen Augen flackerte es. „Auf dem Friedhof, Vater. Wir haben ihn alle gehört. Es stimmt, was Morse sagte. König Artus läßt sich nicht herausfordern. Er hat von neuem zugeschlagen, um uns zu zeigen ...“ „Bist du verrückt?“ unterbrach ihn der Alte fauchend. Er preßte die flache Linke gegen seine Beule. „Hast du jetzt endgültig dein bißchen Verstand verloren?“ „Aber - aber es ist so, wie ich sage, Vater.“ „Dreckskerl!“ brüllte Sir John. Die aufkeimende Wut ließ ihn zu seiner gewohnten Stimmgewalt zurückfinden, und es gelang ihm, die Schmerzen zu ignorieren. „Elender Strohkopf! Wann wirst du jemals begreifen, auf welche Dinge es in deinem nichtsnutzigen Leben ankommt!“ „Ich -ich habe doch nur ...“ Sir John stieß ihn beiseite und rappelte sich aus eigener Kraft .auf. Die Wut verlieh ihm neue Energie. Drohend baute er sich vor seinem Sohn auf. Der Bürgermeister wich vorsorglich zur Eingangstür seines Hauses zurück. Die Männer gerieten in erneute Furcht. Steckte ihnen auch das Grauen noch in allen Knochen, so wußten sie doch, daß ihnen die Folgen eines neuen Tobsuchtsanfalls ihres Dienstherrn drohten. „Hast du Spuren auf dem Friedhof gefunden?“ schrie Sir John. Simon Llewellyn biß sich von neuem auf die Unterlippe. „Wieso? Ich -ich ...“ „Ja oder nein?“ „Aber ich weiß es doch nicht“, heulte Simon Llewellyn verzweifelt. „Wie soll ich das wissen?“ Sir John zog die Brauen zusammen, und drohend beugte er sich vor, beide Fäuste in die Hüften gestemmt. „Du weißt es nicht?“ sagte er gefährlich leise. „Soll das etwa heißen, du hast den Friedhof nicht absuchen lassen?“
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„Wie kann man denn hach einem Geist suchen?” entgegnete Simon Llewellyn trotzig. Sir John holte blitzartig mit der Rechten aus. Sein Sohn erkannte die plötzliche Bewegung nicht früh genug. Er konnte nicht mehr ausweichen. Die schallende Ohrfeige klatschte auf seine rechte Wange, und die Wucht des Schlages brachte ihn ins Taumeln. Er torkelte rückwärts, bis er am Gartenzaun Halt fand. „Es gibt keine Geister!“ brüllte Sir John und wandte den Blick zu seiner Mannschaft. „Merkt euch das! Wenn ich noch einen von euch solchen Unsinn faseln höre, drehe ich ihm auf der Stelle den Hals um!“ Er machte auf dem Hacken kehrt. „Mister Garmont !“ „Ja, Sir John?“ Die Stimme des Bürgermeisters zitterte, als er sich verneigte. „Haben Sie Fackeln im Haus?“ „Aber ja, Sir John. Genug für jeden Ihrer Männer.“ Der alte Killigrew nickte grimmig. „Auf was wartet ihr noch?“ schrie er seiner Crew zu. „Holt euch die Fackeln und dann sucht den verdammten Friedhof ab! Jeden Zoll, verstanden? Ich will diesen Geist hier vor mir sehen und mit meinen eigenen Fäusten windelweich schlagen! Los, los, bewegt euch! Du auch, du Einfaltspinsel, der meinen Namen trägt!“ Simon Llewellyn humpelte hinter den Männern her, die dem Bürgermeister hastig ins Haus folgten. Sir John blieb draußen vor dem Gartenzaun stehen und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie sich wenige Minuten später die Reihe der Fackeln auf den Friedhof zubewegte und dann hinter der Einfriedungsmauer auseinanderzog. Die blakenden, tanzenden Lichter, die die Grabkreuze mit einem unwirklichen Lichtschein erhellten, gaben der Szenerie noch immer etwas Unheilvolles. Doch das war nichts, was den alten Killigrew beeindruckte. Die Geschichten über diesen lächerlichen Geist
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des König Artus hielt er für nichts weiter als Altweibergeschwätz. Unglaublich, daß ausgewachsene Männer sich davon einschüchtern ließen. Aber er würde ihnen einheizen, daß sie nicht einmal mehr im Traum daran denken sollten, welche blödsinnigen Spukgeschichten in dieser Gegend kursierten. Unerklärlich war für Sir John allerdings, was ihn bewußtlos geschlagen hatte. Doch er verscheuchte diesen Gedanken aus seinem Bewußtsein. Es gab für alles eine vernünftige Erklärung. Irgendwann würde er es herausfinden. Im Augenblick gab es Wichtigeres zu tun, als herumzugrübeln. Nach einer knappen halben Stunde kehrten die Männer zurück, angeführt von Simon Llewellyn. Der Fackelschein erhellte ihre niedergeschlagenen Gesichter. „Nichts“, sagte der Ferkelgesichtige zaghaft. „Keine Spuren, nichts. Der Erdboden auf dem Friedhof ist hartgetrocknet. Wir konnten beim besten Willen nichts finden;“ Überraschenderweise reagierte Sir John diesmal nicht mit einem seiner gefürchteten Wutausbrüche. „Das war zu erwarten“, sagte er stattdessen erstaunlich ruhig. „Wir werden uns ab sofort nicht mehr mit Nebensächlichem aufhalten. Noch haben wir nicht zuviel Zeit verloren.“ * Im Schutz des Wäldchens hatte Dan O’Flynn beobachtet, wie die Männer zitternd und zähneklappernd den Friedhof absuchten. Allesamt waren sie fast am Ende ihrer Kräfte — sowohl körperlich als auch seelisch. Hatte der schweißtreibende Marsch entlang der Küste ihre Körperkräfte aufgezehrt, so war es jetzt die Angst vor dem vermeintlichen Geist des König Artus einerseits und die Angst vor Sir John andererseits, die sie seelisch restlos aus dem Gleichgewicht brachte. Dan O’Flynn konnte für diese Halunken im Grunde nur Verachtung empfinden. Sie
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waren nichts Weiter als hirnlose Befehlsempfänger. Sie ließen mit sich umspringen wie willenlose Werkzeuge und gestatteten es dem alten Schlitzohr widerspruchslos, daß er sie als Leibeigene betrachtete. Respekt konnte man bestenfalls den beiden Burschen zollen, die sich bei einbrechender Dunkelheit noch am Strand rechtzeitig abgesetzt hatten. Dennoch unterschätzte Dan keineswegs die Gefährlichkeit dieser Männer. Wenn sie in die Bahnen gelenkt wurde, die der alte Killigrew zusammenspann, dann konnten sie sich zu reißenden Bestien entwickeln. Aber Dan hatte jetzt ihre Schwächen erkannt. Und er war eisern entschlossen, diesen Umstand auszunutzen. Denn er war überzeugt davon. daß es ihm gelingen würde, die drohende Gefahr von der „Isabella“ abzuwenden, die vermutlich irgendwo weiter nördlich in einer versteckten Bucht ankerte. Sobald die Männer sich mit ihren Fackeln vom Friedhof zurückzogen, verließ Dan sein Versteck in dem Wäldchen, huschte mit katzenhafter Lautlosigkeit über das Brachland und schwang sich mit einem federnden Satz über die rückwärtige Mauer des Kirchhofs. Geduckt pirschte er sich im Schutz der Grabhügel voran, bis er wieder die vordere Mauer erreichte. Regungslos verharrte er und lugte vorsichtig über die Mauerkrone. Er war sicher, daß sein blonder Haarschopf nicht zu erkennen war, denn der Lichtschein der Fackeln reichte nicht bis hierher. Die Männer hatten sich wieder vor dem Haus des Bürgermeisters versammelt. Schaulustige gab es nicht mehr. Das Unheilvolle, das sie miterlebt hatten, reichte ihnen offenbar, um sich nicht mehr blicken zu lassen. Bürgermeister Garmont hatte sich inzwischen einen grob gewirkten dunklen Mantel übergezogen. Die Zipfelmütze hatte er im Haus zurückgelassen, sein kahler Schädel schimmerte im Licht der Fackeln. „Wir kümmern uns nicht weiter um diesen blödsinnigen Spuk“, sagte Sir John
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energisch. „Es gibt nichts, wodurch wir uns einschüchtern lassen, Mr. Garmont. Ich denke, auch Sie sollten sich daran halten und uns die Unterstützung gewähren, die uns zusteht. Als Generalkapitän von Cornwall ist es für mich das Mindeste, was ich erwarten kann.“ „Ich stehe selbstverständlich zu Ihren Diensten, Sir John“, sagte Garmont mit vibrierender Stimme und der soundsovielten Verbeugung an diesem Abend. Sir John nickte. „Es freut mich; daß Sie ein so verständiger Mann sind. Was wir vor allem brauchen, sind Schuhwerk und Gürtel, außerdem eine kräftige Mahlzeit und eine Unterkunft für die Nacht. Wie schnell werden Sie das alles für uns beschaffen?“ Der Bürgermeister strich sich mit der Hand über die Glatze. „Die Frage der Unterkunft wird sich am leichtesten lösen lassen, Sir John. Wenn Sie einverstanden sind, schlage ich vor, daß Ihre Männer im Versammlungssaal des Rathauses übernachten. Wir haben den Saal sowieso als Notunterkunft für Katastrophenfälle vorgesehen. Decken stehen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Wenn ich Sie und Ihren Sohn bitten darf, in meinem Haus zu Gast zu sein ...“ „Einverstanden“, sagte Sir John herablassend. „Und weiter?“ „Eine Mahlzeit werde ich für Sie und Ihre Männer ebenfalls sehr schnell beschaffen können. Unsere größte Schenke im Ort, die ‘Three Lions`, ist darauf eingerichtet, selbst zu später Stunde noch größere Mannschaften zu verköstigen. Ich werde dafür sorgen, daß das Essen ins Rathaus gebracht wird. Was allerdings Schuhwerk und Gürtel betrifft - nun, ich fürchte, damit werden Sie sich bis zur frühen Morgenstunde gedulden müssen. Ich werde zwar unseren Schuhmacher und den Sattler noch heute abend verständigen, aber ich glaube nicht daß sie es im Handumdrehen schaffen, eine solche große Zahl ...“
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„Schon gut“, unterbrach ihn der alte Killigrew mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Morgen vormittag ist es früh genug, Mister Garmont. Dann noch etwas: In meiner Eigenschaft als Generalkapitän beschlagnahme ich hiermit alle verfügbaren Blankwaffen sowie Faustund Handfeuerwaffen, die sich in Ihrem Arsenal befinden. Dazu selbstverständlich Pulver und Kugeln in ausreichender Menge. Die Waffen und die Munition lassen Sie ebenfalls morgen früh ins Rathaus bringen.“ „A - aber - ich weiß nicht ...“ stammelte der Bürgermeister. „Was gibt es da zu überlegen?“ schnauzte Sir John. „Das ist ein Befehl, Mann! Wollen Sie sich etwa gegen die behördliche Autorität von Cornwall auflehnen? Sind Sie sich darüber im klaren, was Sie das kosten kann?“ Garmont atmete tief durch. „Ich stehe selbstverständlich zu Ihren Diensten“, sagte er gepreßt. „Es wird Ihr Vorteil sein“, sagte Sir John und grinste hinterhältig. „Wir befinden uns auf der Jagd nach gemeinen Verbrechern, die der britischen Krone ihr Eigentum vorenthalten wollen. Ich und meine Männer erfüllen einen Auftrag von größter Bedeutung für Ihre königliche Majestät. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?“ Garmont straffte unwillkürlich die Schultern. „Jawohl, aber selbstverständlich, Sir John.“ „Gut. Dann weiter: Welches ist das größte Schiff im Hafen von Tintagel? Und wer ist der Eigentümer?“ Trotz der Entfernung sah Dan O’Flynn, wie der Bürgermeister krampfhaft schluckte. „Es — es ist meine Schaluppe, Sir John. Ich habe das größte Schiff hier in Tintagel. Mein Geschäft ist der Küstenhandel.“ „Das Schiff ist beschlagnahmt“, sagte SW’ John schnarrend. „Wir übernehmen die Schaluppe morgen früh. Selbstverständlich erhalten Sie sie zurück, sobald wir unseren Auftrag ausgeführt haben.“ Der Bürgermeister war bleich geworden. Aber er wagte nicht, sich gegen die
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Anordnung des alten Killigrew aufzulehnen. Dan O’Flynn hatte genug gehört. Was das alte Schlitzohr und seine Mannschaft betraf, würde sich in dieser Nacht nichts Bedeutendes mehr abspielen. Dan verließ seinen Beobachtungsposten und zog sich in das Wäldchen zurück, wo er auch sein Pferd auf einer Lichtung angeleint hatte. Er versorgte das Tier aus Hafersack und Wasserschlauch und dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Sein Plan stand nach wenigen Minuten fest. Er würde seinen Krieg gegen die Killigrew-Mannschaft mit zäher Verbissenheit fortsetzen. Die Chancen dafür standen jetzt günstiger als je zuvor. Denn er kannte die Absichten Sir Johns, und er konnte seine Taktik darauf einstellen. Dan beschloß, mehrere Stunden verstreichen zu lassen. Vor Mitternacht würde er auf keinen Fall zu weiteren Aktionen schreiten. Er nahm dem Pferd Sattel und Decke ab und legte sich in das weiche Gras der Lichtung. Er wußte, daß er sich auf seine Willenskraft verlassen konnte. Er würde genau zu dem Zeitpunkt aufwachen, den er sich vorgenommen hatte. 6. Die Schläge der Kirchturmglocke hallten durch die Straßen und Gassen von Tintagel. Dan O’Flynn, der sofort hellwach war, zählte zwölf Schläge. Mit einem Satz sprang er auf die Beine, rieb sich den Schlaf aus den Augen und lief zum westlichen Waldrand. Tintagel lag im Dunkeln. Die Bürger der Stadt hatten sich offenbar endgültig zur Ruhe begeben. Desgleichen mit Sicherheit Sir John und seine Halunken, die sich vor Entkräftung ohnehin kaum noch auf den Beinen hatten halten können. Dan verschwendete keine Zeit. Er zog seine Pistole, überprüfte die Ladung und schob die Waffe dann wieder unter seinen
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Gürtel. Das Messer befand sich noch in der Lederscheide an seiner linken Hüfte. Er verließ das Wäldchen, umrundete den Friedhof im Laufschritt und erreichte die ersten Gassen am nördlichen Stadtrand. Er .wußte nicht, wo sich der Hafen befand. Aber das stellte kein Problem dar. Selbst in dem Gewirr der engen und winkligen Gassen verlor er die Orientierung nicht und behielt die Richtung zur Küste bei. Seine weichen Lederstiefel und seine körperliche Geschmeidigkeit ermöglichten es ihm, sich völlig geräuschlos über das holprige Steinpflaster der Gassen zu bewegen. Alle Wohnhäuser, die er auf seinem Weg passierte, waren verdunkelt. Kurze Zeit später erreichte er die Einmündung zur Hauptstraße. Ein rascher Blick nach beiden Seiten zeigte ihm, daß auch hier keine Lichter mehr brannten. Selbst die Pechfackeln vor den Schenken waren erloschen. Mit wenigen langen Sätzen überquerte Dan die Hauptstraße und tauchte in einer gegenüberliegenden Gasse unter. Der Geruch von Salzwasser und Tang verstärkte sich. Er wurde durch einen handigen auflandigen Wind in die Stadt getragen. Dan hielt sich dicht an den Hauswänden, während er seinen lautlosen Weg fortsetzte. Falls ihm unerwartet eine Menschenseele begegnen sollte, war er jede Sekunde bereit, in einem der Hauseingänge unterzuschlüpfen. Aber nichts dergleichen geschah. Unbehelligt erreichte er eine Reihe von langgestreckten flachen Holzschuppen, die ihm den Blick auf das Meer versperrten. Er schlich an den durchdringend nach Fisch und Tran riechenden Holzwänden entlang, bis er auf einen schmalen, seewärts führenden Durchgang stieß. Am anderen Ende des Gangs verharrte er. Er hatte sich nicht getäuscht. Vor ihm lag das Hafenbecken von Tintagel - eine natürliche Bucht mit einer knapp hundert Yards breiten Einmündung zur See hin. Die Ufer der Bucht waren durch Bohlen befestigt worden. Unmittelbar vor
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den Lagerschuppen erstreckte sich der etwa zweihundert Yards lange Kai. Für Dan reichte das schwache Mondlicht aus, um jede Einzelheit zu erkennen. Fuhrwerke standen auf dem Kai und warteten offenbar darauf, am nächsten Morgen beladen zu werden. Im Hafenbecken dümpelten gedrungen aussehende Fischerboote, die in Päckchen am Kai vertäut lagen. Schräg zur Rechten erblickte Dan eine Holzpier, an der eine Reihe von Pinassen und Ruderbooten vertäut waren. Am äußersten Ende der Pier lag eine einmastige Schaluppe - die einzige Schaluppe hier im Hafen. Mit fachmännischem Blick stellte Dan fest, daß der Segler als Kauffahrer diente. Die Decksaufbauten und die zusammengerollten Planen deuteten darauf hin. Die Culverine auf dem Vordeck sah eher danach aus, als diene sie zur Dekoration, aber nicht zu einer wirksamen Verteidigung gegen etwaige Angriffe. Kein Zweifel, daß es sich um das Schiff des Bürgermeisters handelte. Sichernd sah sich Dan nach allen Seiten um. Bis auf das Knarren der Takelage der vertäuten Fischerboote waren keine Geräusche zu hören. Die Pechfackeln, die in stählernen Gitterkörben auf Eisenstangen am Kai steckten, waren längst erloschen. Der hochgewachsene junge Mann vergeudete keine Zeit mehr. Er verließ den schützenden Durchgang und schlich an der Fassade des Lagerschuppens zur Rechten entlang. In Höhe der Pier überquerte er das Kopfsteinpflaster des Kais und verharrte minutenlang zusammengekrümmt hinter einem Pollen Die Entfernung zur Schaluppe betrug noch etwa fünfzig Yards. Weder auf dem Schiff des Bürgermeisters noch auf den Pinassen war Lichtschein zu sehen. Sollte die Schaluppe tatsächlich unbewacht sein? Fest stand jedenfalls, daß sich an Deck kein Mensch aufhielt. Dan vermochte dies mit seinen ungewöhnlich scharfen Augen zweifelsfrei zu erkennen. Selbst wenn
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jemand unter Deck schlafen sollte, würde ihn das nicht stören. Er richtete sich auf und schlich zügig über die glitschigen Holzbohlen der Pier. Unbehelligt erreichte er das Backbordschanzkleid der Schaluppe, ging davor in die Knie und horchte angestrengt. Außer dem Rauschen des Windes und dem Knarren der Takelage war noch immer nichts zu hören, was Dans Argwohn erregt hätte. Daß sich an Deck niemand befand, war jetzt endgültig sicher. Behände schwang er sich über das Schanzkleid und landete federnd auf den Decksplanken, ohne dabei das leiseste Geräusch zu verursachen. Immerhin mußte er aber damit rechnen, daß auf dem einen oder anderen Fischerboot Wache gehalten wurde. Deshalb schlich er geduckt auf den Mast zu. Die Schaluppe fuhr eine Fock und ein Lateinersegel mit langer Rahrute. Dan betrachtete eingehend den Mast und stellte fest, daß dieser nicht an Deck stand, sondern durch die Decksplanken hindurchführte und demzufolge auf dem Kielbalken im Mastfuß ruhte. Gut so, dachte er mit einem grimmigen Lächeln. Für sein weiteres Vorgehen bedurfte es keiner langen Überlegungen. Er zog sein Messer aus der Lederscheide und nahm sich zunächst die Wanten an Backbord Und an Steuerbord vor. Mühelos brachte er mit der scharfen Klinge die Schnitte an, die nach seinen Berechnungen dazu führen mußten, daß bei .einer kräftigen Bö oder auch bei leichten bis mittleren Wind der Mast baden ging. Einen weiteren Schnitt brachte Dan am Vorstag an – wie bei den beiden Wanten so, daß dieser Schnitt über Augenhöhe lag und daher auf Anhieb nicht zu erkennen war. Bevor er sein Messer wieder im Leder verstaute, überprüfte Dan noch einmal die drei Schnitte. Er gelangte zu der Überzeugung, daß sie ausreichend waren, um das beabsichtigte Ergebnis zu erzielen. Niemand kam Dan O’Flynn in die Quere, als er den Hafen verließ und durch das
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Gewirr der Gassen von Tintagel zu jenem Wäldchen außerhalb der Stadt zurückkehrte, wo er sein Pferd angeleint hatte. Schon bei Tageslicht, lange bevor die Killigrew-Manschaft in Tintagel eingetroffen war, hatte Dan die Örtlichkeiten ausgekundschaftet. Deshalb bereitete es ihm keine Mühe, den Unterschlupf zu finden, den er für den Rest der Nacht vorgesehen hatte. „Merlin’s Grotte“ war eine Felsenhöhle oberhalb von Tintagel. Dan brachte sein Pferd in der Grotte unter und schlug sein Nachtlager neben dem Vierbeiner auf, der ihm in den vergangenen Tagen zu einem treuen Gefährten geworden war. Dieses Versteck bot zwei entscheidende Vorteile. Zum einen war es eine hervorragende Deckung, und zum anderen hatte man bei Tageslicht eine erstklassige Sicht über Hafen und See. Dan schlief mit der Gewißheit ein, daß er bei der ersten Helligkeit des neuen Tages reflexartig aufwachen würde. Auf keinen Fall wollte er sich das Schauspiel entgehen lassen, für dessen Inszenierung er alle Vorbereitungen getroffen hatte. 7. 26. Februar 1580. Morgens um sechs Uhr herrschte im Hafen von Tintagel bereits rege Betriebsamkeit. Die ersten Fischerboote hatten Segel gesetzt und liefen aus. Fuhrleute schirrten mit derben Flüchen ihre Gespannpferde an, während Lagerarbeiter damit beschäftigt waren, Kisten und Ballen aus den Schuppen zu schleppen und auf die Wagen zu hieven. Der handige Westwind, der bereits in der vorangegangenen Nacht eingesetzt hatte, wehte auf die Nordküste von Cornwall zu. Heftiger Wellenschlag brachte die Segelpinassen und die kleineren Ruderboote im Hafenbecken in unruhige Bewegungen.
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Sir John Killigrew, sein Sohn Simon Llewellyn und Bürgermeister Garmont standen vor der Pier, an deren Ende die Schaluppe vertäut lag. Sir John und auch Simon Llewellyn trugen erstklassige Stulpenstiefel – das Beste, was der Schuhmacher von Tintagel .auf Lager gehabt hatte. Und auch die breiten Ledergürtel, die sie sich um den Hosenbund geschlungen hatten, waren Qualitätsware. Die beiden Killigrews beobachteten mit zufriedenem Lächeln, wie die am Kai gestapelten Ausrüstungsgegenstände auf die Schaluppe gemannt wurden. In unablässiger Folge zogen die Männer der Crew vorüber, beladen mit den Waffen aus dem städtischen Arsenal und Pulverfässern sowie Kisten und Fässern mit Proviant. Die Männer hatten sich von den Strapazen des Marsches an der Küste weitgehend erholt, doch ihre Gesichter waren mürrisch. Sie wußten, daß ihnen neue Schindereien bevorstanden. Dazu kannten sie den alten Killigrew gut genug. Bürgermeister Garmont verfolgte das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Noch am gestrigen Abend, während sich die Killigrew-Mannschaft zur Ruhe begeben hatte, hatte er sich mit seinen Freunden beraten. Und sie waren zu der Überzeugung gelangt, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen die unverschämten Anordnungen des alten Killigrew aufzulehnen. In ganz Cornwall war bekannt, zu welchen durchtriebenen Winkelzügen Sir John fähig war, wenn er es darauf anlegte, seinen Willen durchzusetzen. Es gab zahllose Geschichten über das Schicksal jener Männer, die es gewagt hatten, sich seinen Befehlen zu widersetzen. Männer, die selbst nicht mehr darüber berichten konnten, weil sie nicht mehr unter den Lebenden weilten. Folglich duldete James Baldwin Garmont ergeben diese Unverfrorenheit, die sein Innerstes rebellieren ließ. Die Schaluppe gehörte zu seinen wertvollsten Besitztümern. Aber er sagte. sich, daß es eher zu ertragen sein würde, nur die
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Schaluppe zu verlieren als sein gesamtes Hab und Gut oder gar sein Leben. Sir John klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Der Dank Ihrer Majestät wird Ihnen gewiß sein, Mister Garmont. Die Verbrecher, die wir jagen, werden uns kein zweites Mal entwischen. Und selbstverständlich werde ich in meinem Bericht erwähnen, daß unsere erfolgreiche Jagd nur durch Ihre großzügige Unterstützung möglich war.“ Garmont verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Miene. „Können Sie mir einen ungefähren Zeitpunkt nennen?“ fragte er zaghaft. „Ich meine, wann werde ich meine Schaluppe zurückerhalten? Sie verstehen, meine Geschäfte...“ „Keine Sorge“, sagte Sir John dröhnend. „Ich denke, daß Sie spätestens in einer Woche Ihr Geschäft wieder in vollem Umfang aufnehmen können. Natürlich erhalten Sie auch eine Entschädigung aus der Staatskasse, wenn wir Ihnen die Schaluppe zurückbringen.“ „Dann bin ich beruhigt“, entgegnete Garmont lahm, obwohl das Gegenteil der Fall war. Er glaubte nicht an das, was Sir John so großspurig versprach. Und im Stillen wünschte er ihm die Pest an den Hals. Denn zuviel war in Cornwall über den schlitzohrigen General-Kapitän bekannt. In keiner der Geschichten, die über ihn kursierten, war eine Begebenheit enthalten, bei der er jemals ein Versprechen gehalten hatte. Der Stapel der Kisten und Fässer auf dem Kai schmolz rasch zusammen. Die Männer der Killigrew-Crew beeilten sich, das Verladen zügig hinter sich zu bringen, denn sie hatten kein Verlangen, gleich am frühen Morgen einen erneuten Wutausbruch des Alten über sich ergehen zu lassen. Bürgermeister Garmont verfiel in betretenes Schweigen. Ein weiterer Wortwechsel mit dem arroganten und selbstherrlichen Generalkapitän erschien ihm sinnlos. Auf der einen Seite wünschte er sich, daß dieser Killigrew mit seinen
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Halunken so schnell wie möglich verschwinden möge. Zum anderen jedoch dachte er voller Seelenschmerz an seine Schaluppe und an den geschäftlichen Verlust, den ihm das Fehlen des Schiffes einbringen würde. Tief in seinem Inneren hoffte er, daß Sir John den Einmaster tatsächlich zurückbringen würde. Doch er wußte, daß es eine mehr als vage Hoffnung war. Nur, es fiel ihm schwer, in diesem Punkt ehrlich gegen sich selbst zu sein. Sir John trug eine doppelläufige Steinschloßpistole unter seinem Gürtel. Es handelte sich um die funktionssicherste und wertvollste Waffe, die im städtischen Arsenal von Tintagel vorhanden. gewesen war. Und der alte Killigrew hatte keinen Augenblick gezögert, sich ausgerechnet diese Pistole anzueignen. Simon Llewellyn und die übrigen Mitglieder der Crew mußten sich mit einfacheren Pistolen begnügen. Überdies standen zehn Musketen und drei Arkebusen zur Verfügung, die bereits zusammen mit der Munition auf das Schiff gemannt worden waren. Ungeduldig blickte Sir John zu den dahintreibenden Wolkenbänken auf. Der handige Westwind war genau daß, was er sich wünschte. Und die Bauweise der Schaluppe machte einen recht guten Eindruck. Möglich also, daß sie rasch genug vorankommen würden, um wenigstens einen Teil des Zeitverlustes einzuholen, den ihnen dieser Bastard von einem Bootsmann namens Sullivan eingebrockt hatte. Simon Llewellyn stand mit ausdruckslosem Ferkelgesicht neben seinem Vater. „Schneller, ihr faulen Hunde!“ schrie der junge Killigrew von Zeit zu Zeit, wenn die Männer mit Kisten oder Fässern auf dem Rücken vorüberhasteten. „Bewegt euch gefälligst, oder ihr kriegt Zunder, dass euch das Wasser im Hintern kocht!“ Dabei wippte er auf den Zehenspitzen und stemmte die Fäuste in die schwammigen Hüften. Sir John betrachtete ihn von der Seite her mit einem wohlgefälligen Grinsen. Dieser
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Einfaltspinsel, der sein Sohn war, schien allmählich zu begreifen, wie man die Leute anpacken mußte. Und Wenn das Vorhaben erst einmal geglückt war, den Beuteschatz der „Isabella“ auf Nummer Sicher zu bringen, dann würde Simon Llewellyn vermutlich soviel an Erfahrung gewonnen haben, daß er sich nicht mehr schämen mußte, den Namen Killigrew zu tragen. Für Sir John war die Jagd auf die „Isabella“ und die gottverdammte Crew des Bastards Hasard zur bedeutendsten Aufgabe seines Lebens geworden. Und, hol’s der Teufel, er durfte nicht Killigrew heißen, wenn er an dieser Aufgabe scheitern sollte. Ganz am Rande würde dabei eine gehörige Lektion für Simon Llewellyn abfallen, der nach dem Tod seines älteren Bruders Malcolm schließlich eine bedeutungsvolle Position im Clan derer von Arwenack einnahm. Gegen halb sieben Uhr waren sämtliche Ausrüstungsgegenstände an Bord der Schaluppe gemannt. Die Crew blieb an Deck, und Corduroy, der Mann mit dem Narbengesicht, lief über die Pier auf Sir John zu und baute sich vor ihm auf. „Fertig zum Auslaufen, Sir“, meldete Corduroy stramm. Der alte Killigrew nickte gnädig. „Danke, Corduroy. Gehen Sie zurück an Bord und lassen Sie Segel setzen. Ich will, daß wir in fünf Minuten die Leinen loswerfen und ablegen.“ „Aye, aye, Sir.“ Corduroy wirbelte herum und lief zur Schaluppe zurück. Sir John Killigrew streckte dem Bürgermeister von Tintagel mit einem jovialen Lächeln die rechte Hand entgegen. „Seien Sie noch einmal bedankt für Ihr uneigennütziges Entgegenkommen, Mister Garmont. Es wird Ihr Schaden nicht sein. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort als Generalkapitän von Cornwall.“ Garmont ergriff die Pranke Sir Johns und bemühte sich dabei, seinen gequälten Gesichtsausdruck nicht allzu deutlich werden zu lassen. „Es war meine Pflicht, zu tun, was in meinen Kräften stand, Sir John“, sagte er. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und ich
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wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir meine Schaluppe ...“ Sir John unterbrach ihn mit einem dröhnenden Lachen und klopfte ihm abermals auf die Schulter. „Sie denken zuviel nach, Mister Garmont. Hören Sie auf damit. Ich habe mein Wort noch immer gehalten. Und Männern gegenüber, die sich für mich einsetzen, fühle ich mich stets verpflichtet. Das sollten Sie sich vor Augen halten.“ „J — ja, natürlich.“ Der Bürgermeister nickte verstehend, aber es sah wenig überzeugt aus. Der alte Killigrew wandte sich ab, und auch Simon Llewellyn reichte dem Bürgermeister seine fleischige Hand. Der Killigrew-Sproß bemühte sich dabei, das gleiche joviale Lächeln aufzusetzen wie sein Vater. James Baldwin Garmont stand mit zusammengepreßten Lippen da, als die beiden Killigrews mit eiligen Schritten über die Bohlen der Pier stapften. Der Bürgermeister von Garmont konnte die quälende Ahnung nicht loswerden, daß dies die letzten Minuten waren, in denen er seine teure Schaluppe sah. * Aus seinem Versteck in Merlin’s Grotte beobachtete Dan O’Flynn, was sich unten im Hafen von Tintagel abspielte. Die Entfernung betrug in Luftlinie nicht mehr als eine Dreiviertelmeile, und die scharfen Augen des schlanken jungen Mannes waren imstande, jedes winzigste Detail der Szenerie deutlich zu erkennen. Er benötigte keinen Kieker, um festzustellen, wie hervorragend Sir John und seine Halunken inzwischen wieder ausgerüstet waren. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Das alte Schlitzohr hatte sich wieder einmal alles unter den Nagel gerissen, was er nur kriegen konnte. Daß er sich nicht mit minderwertigen Dingen begnügte, stand ohnehin fest. Dan hatte sein Pferd gleich nach dem Aufwachen versorgt, und das Tier stand fertig gesattelt im hinteren Teil der Höhle.
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Er selbst hatte sich mit einem kargen Frühstück begnügen müssen: trockenes Brot und ein paar Schlucke aus dem Wasserschlauch. Aber sein leibliches Wohl stand vorläufig im Hintergrund. Mit seiner ganzen unbändigen Willenskraft fieberte er darauf, dem alten Killigrew die Suppe zu versalzen. Er war sicher, alles getan zu haben, was in seinen Kräften stand. Dennoch konnte er es nicht verhindern, daß leise Zweifel in ihm aufkeimten. Würden die Schnitte ausreichen, die er an den Wanten und am Vorstag angebracht hatte? Gewiß, es herrschte ein prächtiger Wind mit genau der richtigen Stärke, um das beabsichtigte Chaos an Bord der Schaluppe hervorzurufen. Aber noch sah es verdammt so aus, als ob alles in bester Ordnung sei. Dan versuchte, seine innere Unrast zu bekämpfen. Zum Teufel, schließlich konnte er nicht erwarten, daß sein Plan schon jetzt, von einer Minute zur anderen, die erwarteten Früchte trug. Immerhin schien es sicher, daß die Kerle noch nichts bemerkt hatten. Er beobachtete sie, seit sie in der frühen Morgenstunde im Hafen von Tintagel aufgetaucht waren. Und nichts an ihrem Verhalten deutete darauf hin, daß sie auch nur den geringsten Verdacht geschöpft hatten. Denn wenn das so gewesen wäre, hätte der alte Killigrew mit Sicherheit ein fürchterliches Donnerwetter über sie hereinbrechen lassen. Dans Gedanken wurden abgelenkt, als er sah, wie sich Sir John und sein ferkelgesichtiger Sohn von dem Bürgermeister verabschiedeten. An Bord der Schaluppe waren die zehn Männer derweil damit beschäftigt, Fock und Großsegel zu setzen. Sir John und Simon Llewellyn stiegen über das Schanzkleid an Bord und begaben sich auf das Achterdeck. Der Rudergänger hatte seinen Platz, eingenommen, und zwei Mann standen bereit, um die Leinen loszuwerfen. „Klar zum Ablegen!“
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Die Donnerstimme des alten Killigrew war selbst in Dans Versteck hoch über Tintagel noch deutlich zu verstehen. Mit geringer Fahrt verließ die Schaluppe die Bucht, die der Stadt als Hafenbecken diente. Eine halbe Seemeile von der Küste entfernt ging der Einmaster bei auflandigem Wind auf Nordostkurs. Dan wußte jetzt, was der alte Killigrew vorhatte. Er würde in etwa parallel zum Küstenverlauf der langgestreckten Bude Bay segeln und dabei hoffen, das Versteck der „Isabella“ in einer der zahlreichen Buchten oder Flußmündungen zu finden. Der schlanke junge Mann führte sein Pferd am Zügel aus dem felsigen Ausguckposten, schwang sich in den Sattel und ritt in einem weiten Bogen nordöstlich um die Stadt herum. Er konnte absolut sicher sein, daß ihn keiner der Einwohner von Tintagel dabei entdeckte, denn er hielt sich weit außerhalb der Sichtweite vom Stadtrand entfernt. Eine Meile nördlich von Tintagel stieß er schließlich wieder auf die Steilküste mit dem schmalen steinigen Strand und den vorgelagerten Klippen, zwischen denen die aufgewühlten Wassermassen brodelten und gischteten. Dan zügelte das Pferd im Schutz eines mehr als mannshohen Felsbrockens und spähte zur See hinaus. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Schaluppe stand schräg voraus, hielt ihren Abstand zum Küstenverlauf und rauschte weiterhin über Steuerbordbug auf Nordostkurs. Die Entfernung betrug etwa eine halbe Meile. Dan kniff die Augen zusammen und stellte fest, daß an Bord des Einmasters alles ruhig war. Die Männer an Deck hatten wenig Arbeit und gönnten sich die Verschnaufpause, auf die sie so verdammt lange gewartet hatten. Sir John und Simon Llewellyn standen nach wie vor auf dem Achterdeck. Der alte Killigrew hielt ein funkelndes Messingspektiv vor dem Auge und suchte die zerklüftete Küste ab. Dan war sich darüber im klaren, daß er höllisch auf der Hut sein mußte. Wenn er
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nicht aufpaßte und nicht jede Deckung nutzte, konnte es verdammt schnell passieren, daß das alte Schlitzohr ihn entdeckte. Seit dem Auslaufen der Schaluppe war ungefähr eine Stunde vergangen. Besorgnis keimte in Dan O’Flynn auf. Im Grunde war die Windstärke haargenau richtig, um einen Mastbruch zu verursachen. Und bei den Vorkehrungen, die er getroffen hatte, mußte es im Grunde jeden Moment passieren. Die Segel der Schaluppe standen voll, und die Krängung nach Steuerbord war beträchtlich. Trotzdem segelte der Einmaster so zügig dahin, als hätte er nicht die geringsten Schwächen aufzuweisen. Dans Zweifel wurden stärker. Hatten die Kerle womöglich doch die Schnittstellen entdeckt? Hatten sie diesmal überlegt gehandelt und Wanten und Stag abgesichert? Wenn das so war, dann mußte ihnen Sir John endgültig die Furcht vor dem Geist des König Artus ausgetrieben haben. Aber gegen diese Vermutung sprach indessen die absolute Ruhe an Bord der Schaluppe. Hätte es tatsächlich einen Zwischenfall gegeben, dann würde der alte Killigrew nicht so völlig gelassen auf dem Achterdeck stehen. Dann hätte er längst einen Mordszauber inszeniert, daß die Decksplanken erbebten. Dan O’Flynn zwang sich, weiterhin Geduld zu üben. Das Pferd hatte sich in den vergangenen Tagen an seinen Reiter gewöhnt. Ein leichter Schenkeldruck Dans genügte, und das Tier setzte sich willig ein Bewegung. In mäßigem Trab lenkte Dan es durch das Gewirr der bizarren Felsformationen oberhalb der Steilküste. Er hielt einen ausreichenden Abstand zur Küste und achtete gleichzeitig darauf, daß er durch die Gesteinsmassen ständig vor Blicken von der Schaluppe geschützt war. In unregelmäßigen Abständen von fünfzehn bis zwanzig Minuten zügelte er das Pferd und spähte zu dem Einmaster, der sich jetzt auf gleicher Höhe mit ihm befand.
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Die Lage blieb unverändert. Die Schaluppe leistete ihre Dienste mit einer geradezu nervtötenden Zuverlässigkeit. Dan setzte seinen Weg fort, ohne daß das .geschah, worauf er immer drängender hoffte. Tintagel lag bereits mehrere Meilen hinter ihm, und das Küstengebiet, das er jetzt durchritt, war öde und menschenleer. Etwa drei Stunden vergingen, ohne daß Dans Hoffnung in Erfüllung ging. Er war nahe daran, zu resignieren. Er begann, an seiner eigenen Zuverlässigkeit zu zweifeln und fluchte auf sich selbst, weil er annehmen mußte, daß er die Schnittstellen an Wanten und Stag nicht mit der genügenden Sorgfalt angebracht hatte. Kurze Zeit später geschah das, was ihm am allerwenigsten in den Kram paßte. Unerwartet unternahm die Schaluppe einen Schlag seewärts, und kurz darauf hatte Dan das Schiff aus den Augen verloren. Aber er zwang sich zur Ruhe. Wenn er vernünftig überlegte, war es sicher, daß der alte Killigrew sich nicht allzu weit von der Küste entfernen würde. Denn damit schnitt er sich ins eigene Fleisch, weil er auf diese Weise die Suche nach der „Isabella“ zwangsläufig unterbrechen mußte. Dan richtete sich im Sattel auf, hob den Kopf und stellte fest, daß der Wind etwas auf Nordwest gedreht hatte. Das Manöver der Schaluppe wurde damit also erklärlich. Dan dachte nicht daran, die Hoffnung schon aufzugeben. Er setzte seinen Weg an der Küste entlang fort und rechnete fest damit, daß er irgendwann in den nächsten Stunden den Einmaster wieder sehen würde. 8. Sir Johns anfängliche Zufriedenheit war erneut aufkeimender Wut gewichen. Das Drehen des Windes gefiel ihm absolut nicht. Aber er war gezwungen gewesen, den Kurs zu ändern, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, zu sehr in die Nähe der tückischen Riffs zu geraten, die der Küste vorgelagert waren.
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Simon Llewellyn hatte sich in respektvollen Abstand zur Heckbalustrade zurückgezogen. Er hatte’ verdammt keine Neigung, für einen erneuten Tobsuchtsanfall des Alten als Zielscheibe herzuhalten. „Hanks!“ brüllte Sir John. „Ja, Sir?“ rief der Stoppelhaarige zurück, der am Ruder stand. „Zum Teufel, hast du keinen Grips im Schädel? Du gehst zu hoch an den Wind! Abfallen, verdammt noch mal!“ „Aye, aye, Sir. Abfallen“, wiederholte Hanks und legte Ruder. Die Schaluppe legte sich noch mehr nach Steuerbord über. Die Takelage ächzte und knarrte bedrohlich. Der Bug hob und senkte sich, tauchte tief in die Wellentäler und hob sich auf den Schaumkronen der Wellenberge dem Himmel entgegen. Mit zorniger Miene starrte Sir John zu den Wolken hoch. Hölle und Teufel, wenn der Wind weiter drehte, waren sie gezwungen, die Suche vorläufig abzubrechen. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als zur Küste zurückzukehren, sobald es durch eine neue Wetterlage ermöglicht wurde. Und verdammt, das konnte wertvolle Stunden kosten. Ohnehin waren seit dem Auslaufen aus Tintagel bereits vier Stunden vergangen. Vier Stunden, die nicht das geringste Ergebnis gezeitigt hatten. Außer Möwen und anderen Seevögeln waren an der zerklüfteten Küste der Bude Bay keine Lebewesen zu entdecken gewesen, ganz zu schweigen von einem geeigneten Küsteneinschnitt, der als Versteck für die Beutegaleone des Bastards Hasard hätte dienen können. Der Nordwest wurde von Minute zu Minute handiger. Hanks versuchte vergeblich, die Böen auszunutzen und die Schaluppe darin mitlaufen zu lassen. Seine Fähigkeiten als Rudergänger waren nicht überragend. Aber es gab niemanden in der zusammengewürfelten KilligrewMannschaft, der das Handwerk am Kolderstock besser beherrschte.
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Es geschah, als eine mörderische Bö etwas raumer als bisher fegte. Ein urgewaltiges Splittern und Bersten übertönte das Heulen des Windes. Erschrocken sprangen die Männer an Deck auf und begriffen nicht sofort, was passierte. Sir John erstarrte. Er war unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Das Bersten schwoll. zu einem ohrenbetäubenden Krachen an. „Der Mast!“ schrie Simon Llewellyn schrill. „O Gott, der Mast!“ Fassungslos vor Entsetzen sah Sir John, daß die Backbordwanten gebrochen waren. Anfangs langsam, dann zusehends schneller neigte sich der Mast nach Steuerbord. Die Männer an Deck quirlten schreiend durcheinander und versuchten sich in Sicherheit zu bringen, ohne jedoch einen Ort auf den Decksplanken zu finden, wo es diese Sicherheit gab. Hanks versuchte verzweifelt, das Ruder unter Kontrolle zu halten. Doch es half nicht das Geringste. Noch während der Mast fiel, begann die Schaluppe wie eine steuerlose Nußschale auf den Wellenbergen zu tanzen und zu kreiseln. Im nächsten Moment donnerte der Mast über das Steuerbordschanzkleid weg, knickte unmittelbar über den Decksplanken ab und klatschte in die brodelnde See. Sir John und Simon Llewellyn hielten sich krampfhaft an der Balustrade des Achterdecks fest. Das Spektiv rollte über die Planken und fiel außenbords. Das Großsegel samt Gaffelrute hing zum Teil im Wasser oder lag noch an Deck. Durch den Fall des Mastes zischten die Backbordwanten wie eine riesige Peitsche durch die Luft. Einer der Männer wurde davon erwischt. Es war wie der Hieb eines Giganten, der ihn traf, emporwirbelte und wie eine leblose Stoff puppe durch die Luft schleuderte. Der markerschütternde Schrei des Mannes erstarb, als er weit vor dem Bug ins Wasser schlug. Für einen Moment tauchte er
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wieder auf, die Arme emporgereckt. Sein in Todesangst verzerrtes Gesicht war jedoch nur noch sekundenlang über der Wasseroberfläche zu sehen. Dann versank der Mann, ohne noch einmal aufzutauchen. Die Schaluppe drehte sich quer zu den heranrollenden Wellenbergen. Donnernde Brecher spülten über das Vordeck. Die Männer, die sich mit knapper Mühe aus dem Gewirr von Segel, Takelage und Gaffelrute befreit hatten, mußten jetzt alle Kraft aufwenden, um nicht nach außenbords geschleudert zu werden. Mit jedem Wellenberg, den die Schaluppe längsseits nahm, wuchs die gefährliche Schlagseite, und die Gefahr des Kenterns wurde übermächtig. Der auflandige Wind packte das manövrierunfähige Schiff mit einer Gewalt, die den Männern als teuflisch und boshaft erschien. Hanks’ verzweifelte Bemühungen am Kolderstock wirkten lächerlich angesichts der Naturgewalten, die über die Schaluppe herfielen und sie zu einem Spielball machten. Ein dumpfes Krachen lief durch den Schiffsrumpf. Sir John erwachte aus seiner Fassungslosigkeit, als er begriff, daß es der außen steuerbords mittreibende Mast war, der von der Takelage gehalten wurde und gegen die Bordwand donnerte. Der alte Killigrew schrie, was seine Kehle hergab. „Laufendes und stehendes Gut kappen! Verdammt noch mal, reißt euch zusammen, ihr Hurensöhne! Wir müssen den ...“ Die Worte wurden ihm von den Lippen abgeschnitten, als der Mast erneut gegen die Bordwand krachte. Wiederholte sich das noch öfter, be- - stand die Gefahr, daß die Planken eingerammt wurden. „Wir müssen den verdammten Mast loswerden!“ brüllte Sir John. „Los, macht schon, ihr Drecksäcke! Wollt ihr wohl parieren! Oder habt ihr etwa die Hosen voll von dem bißchen Seegang?“ Unter Corduroys Führung fanden sich zwei, drei Männer, die ihren ganzen Mut
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zusammennahmen, sich über das schräggeneigte Deck voranarbeiteten und mit ihren Messern ein Tau nach dem anderen kappten. Wieder krachte der Mast gegen die Bordwand. Obwohl Wind und Wellen ohnehin ihr teuflisches Spiel mit dem Schiff trieben, war das Zittern, das durch den Rumpf lief, deutlich zu spüren. „Beeilt euch, ihr Mistkerle!“ brüllte der alte Killigrew. Die Männer, die verzweifelt an Deck herumkrochen, taten ihr Äußerstes. Es ging an die Grenze ihrer Kräfte. Deshalb hörten sie nicht hin, sie konnten es gar nicht. Doch alle wurden sie von dem gleichen Gedanken gepackt: Wenn sie in diesen Minuten der tödlichen Gefahr auch nur eine Hand frei gehabt hätten, dann hätten sie diese Hand benutzt, um dem alten Killigrew auf der Stelle den Hals umzudrehen. Aber vordringlich war es, ihr eigenes Leben zu retten. An die Backbordbalustrade geklammert, drehte sich Sir John ruckartig zu seinem Sohn um. Simon Llewellyn war kreidebleich, was, gemessen an seiner sonst ferkelhaft rosigen Gesichtshaut, überdeutlich seine panische Todesangst bewies. „Häng nicht herum wie ein Jammerlappen!“ schrie Sir John mit überkippender Stimme. „Wir stecken bis zum Hals im Dreck, und alle tun was dagegen! Nur du nicht, du ...“ Er brach ab, als ihm bewußt wurde, daß Simon Llewellyns Blick starr vor Entsetzen nach Steuerbord gerichtet war. Sir John nahm es nur noch im Unterbewußtsein wahr, daß es Corduroy und den anderen endlich gelungen war, das laufende und stehende Gut zu kappen. Der Mast trieb achteraus von der Schaluppe weg. Das, was den ferkelgesichtigen Killigrew Sohn zum Entsetzen trieb, bewirkte auch bei Sir John, daß sich ihm die Haare sträubten. Die Küste war in Sicht.
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Brodelnde und kochende Brandung tobte weißschäumend zwischen bizarr geformten Klippen und Riffs, die hier den Küstenstreifen säumten. Da war kein flacher Sandstrand, nur die mörderisch scharfkantigen Gesteinsformationen, die in kurzen Zeitabständen zu erkennen waren, wenn sich die haushoch aufstiebenden Gischtfontänen senkten. Sir John kannte jeden Winkel von Cornwall, und er wußte, daß dies die felsige Landzunge von Cambeak war, auf die sie zutrieben. Doch was nutzte ihm diese Erkenntnis in einer so aussichtslosen Lage? Die Schaluppe tanzte immer heftiger auf der ruppigen See. Der Bug hob und senkte sich ruckartig und beschrieb zunehmend wirrere Bewegungen abwechselnd nach Steuerbord und nach Backbord. Die Entfernung zur Küste schmolz rasend schnell zusammen. Die dem Land vorgelagerten Gesteinsmassen wuchsen förmlich auf den entmasteten Segler zu. Sir John verließ seinen sicheren Platz an der Balustrade, hastete mit Todesverachtung auf den Kolderstock zu und stieß Hanks beiseite. Der Stoppelhaarige verlor das Gleichgewicht, schlidderte schräg nach Steuerbord über die Decksplanken und fand am Schanzkleid Halt. Er blieb liegen, klammerte sich an einer der Klumpen fest und starrte den alten Killigrew aus haßerfüllten Augen an. Mit brutaler Kraft versuchte Sir John, mit dem Ruder noch etwas auszurichten. Doch sehr rasch mußte er feststellen, daß dieses Unterfangen angesichts der entfesselten Naturgewalten völlig sinnlos war. Die Schaluppe war steuerlos, sie reagierte auf keine Ruderlage. Der mörderische Küstenstreifen von Cambeak rückte unaufhaltsam näher. Hanks, der noch immer am Schanzkleid lag, schrie sich seine Wut aus der Kehle. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. In diesen Minuten der tödlichen Gefahr spielte es keine Rolle mehr, wenn er seinen
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aufgestauten Zorn hinausbrüllte. Und all die anderen, die sich verzweifelt an Deck festklammerten, empfanden das Gleiche wie er. „Fahr zur Hölle, elender Leuteschinder! Ich wünsche dir, daß du draufgehst dabei! Du und dein dämlicher Sprößling! Fahrt zur Hölle! Alle beide!“ Sir John Killigrew wurde kreideweiß vor Wut. Sein Kopf ruckte herum. Einen Moment paßte er nicht auf, und der Kolderstock wurde ihm aus den Fäusten geschlagen. Das Tosen der Brandung schwoll zu infernalischem Lärm an. Sir John wollte auf Hanks zustürzen, um ihn mit seinen Fäusten zur Räson zu bringen. Aber jäh krängte die Schaluppe so heftig nach Backbord, daß der alte Killigrew das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf die Decksplanken schlug. Er war nahe daran; das Bewußtsein zu verlieren. Deshalb schaffte er es nicht sofort, sich aufzurappeln. Deshalb sah er auch nicht, daß die Klippen schon zum Greifen nahe waren. Brüllend und orgelnd tobte die Brandung zwischen den scharfkantigen, hoch aufragenden Gesteinsformationen. Es schien jetzt, als würde die Schaluppe förmlich davon angezogen. Keine Macht der Welt konnte das Verhängnis mehr aufhalten. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrten die Männer dem Inferno entgegen. Eine aufkommende Bö und ein Wellenberg, der das steuerlose Schiff packte, führten das Ende herbei. Ein Donnern, das die Welt aus den Fugen zu heben schien, lief durch den Rumpf der Schaluppe. Spanten und Planken brachen wie die dürren Äste eines abgestorbenen Baums, als der entmastete Segler auf das Riff geschmettert wurde. Die gellenden Schreie der Männer gingen im Höllenlärm der Brandung unter. Zersplitterte Holzteile, Kisten und Fässer, und Taurollen wirbelten durch die Luft,
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wurden von der Gischt ummantelt und versanken. Und auch menschliche Körper wirbelten durch das Inferno, von den Urgewalten gepackt und zur Hilflosigkeit verurteilt. Die Schaluppe brach auseinander. In Minutenschnelle versank das Wrack im brodelnden und kochenden Wasser zwischen den Riffs. Zersplitterte Fragmente von Spanten und Planken tanzten auf der wildbewegten Wasseroberfläche. Dazwischen waren die Köpfe und Arme jener Männer zu sehen, die in panischer Todesangst versuchten, der Mörderischen Macht der gepeitschten Wassermassen zu trotzen. Sir John Killigrew verlor seine Benommenheit, als er in das eisige Wasser geschleudert wurde. Schlagartig setzte sein Überlebenswille ein. Mit wilden Schwimmzügen brachte er seinen massigen Körper an die Oberfläche zurück. Keuchend rang er nach Atem. Es war ein Bild des Grauens, das sich ihm bot. In seiner unmittelbaren Nähe wurde der Körper eines Mannes gegen ein Felsenriff geschmettert. Der Mann erschlaffte und versank augenblicklich in den tobenden Fluten. Sir John wandte alle Kraft auf, um den Naturgewalten zu trotzen. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, sich durch die tosende Brandung in Richtung Küste voranzuarbeiten. Und es grenzte ebenfalls an ein Wunder, daß er plötzlich den krebsroten Kopf seines Sohnes neben sich in der weißen Gischt auftauchen sah. Simon Llewellyn schaffte es, Luft zu holen, dann schrie er seine Todesangst mit schriller Stimme hinaus. Sir John schwamm auf ihn zu. Seine Gefühle schwankten zwischen Verachtung und Familiensinn. Dies war sein Fleisch und Blut. Ein erbärmliches Häufchen Elend zwar, doch es war sein Sohn, von dem der Fortbestand des Namens Killigrew entscheidend abhängen würde.
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Inmitten der wilden Brandung versetzte Sir John dem Schreienden eine schallende Ohrfeige. Simon Llewellyn verstummte, tauchte sekundenlang unter, schluckte Wasser und kam im nächsten Moment prustend wieder hoch. Sein Vater packte ihn unter den Oberarmen und kämpfte sich durch Strudel und Brandung voran. Simon Llewellyn schrie nicht mehr. Die Todesangst trieb ihn an den Rand der Bewußtlosigkeit, und immer wieder schluckte er Wasser. Hustend und schnaufend hing er im eisenharten Griff seines Vaters, der eine fast übermenschliche Leistung vollbrachte. Doch es waren keine edlen Motive, die Sir John diese enorme Kraft verliehen. Es war seine grenzenlose Gier nach dem erhofften Reichtum. Jene Gier, die er selbst angesichts des Todes nicht abschütteln konnte. Und es war sein geradezu wahnwitziges Bestreben, das Aussterben der Killigrew-Sippe zu verhindern. Minuten, die wie Ewigkeiten waren, verstrichen. In dem brüllenden Hexenkessel, der sie umgab, verloren Vater und Sohn jeglichen Zeitbegriff. Wodurch er es geschafft hatte, wußte Sir John anschließend selbst nicht zu sagen. Er registrierte es nicht einmal sofort, daß sie plötzlich felsigen Boden unter den Füßen hatten. Mechanisch, ohne daß ihre Sinne daran Anteil hatten, krochen Sir John und Simon Llewellyn auf das steinige, vom Wasser glattgewaschene Ufer. Erschöpft blieben sie liegen. Die Ausläufer der heranrollenden Wogen spülten noch über die Schäfte ihrer durchtränkten Lederstiefel. Simon Llewellyn schaffte es nicht, sich aufzurichten. Die Grenze seiner Widerstandskraft war überschritten. Sir John richtete sich indessen schon nach wenigen Minuten auf. Er rieb sich das Salzwasser aus den brennenden Augen, starrte auf die. Riffs hinaus und konnte nichts mehr von der Schaluppe entdecken.
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Als er den Kopf nach rechts wandte, erblickte er die Männer, die restlos ausgepumpt an Land krochen. Fünf Männer waren es, die sich keuchend auf den steinigen Uferstreifen sinken ließen und regungslos liegenblieben. Unter ihnen auch Corduroy und Hanks. Wenig später wurden weitere Körper angeschwemmt. Leblose Körper. Vier Tote. Im seichten Uferwasser wurden sie vom auslaufenden Wellengang in grotesk aussehende Bewegungen versetzt. Sir John Killigrew knirschte’ mit den Zähnen. Noch einmal spähte er auf die Riffs hinaus, und hinter einer zusammensinkenden Gischtfontäne erblickte er plötzlich etwas, das seine Sinne schlagartig zu neuer Wachheit aufpeitschte. Nur wenige Wards von der Stelle entfernt, an der die Schaluppe auseinandergebrochen und gesunken war, lag das Beiboot auf einer Klippe — offensichtlich unbeschädigt. Der Anblick der Nußschale genügte für Sir John, uni abermals neue Hoffnung zu schöpfen. Solange er noch lebte, solange es auch nur eine winzige Chance gab — so lange war für ihn noch nichts verloren. Das Beiboot symbolisierte für ihn den Anfang einer neuen Willensanstrengung. Er begriff nicht, daß es kaum mehr als ein Strohhalm war, an den er sich wie ein Ertrinkender klammerte. Zu oft hatte er sich durch List und Tücke aus ausweglosen Situationen befreit. Deshalb war er felsenfest überzeugt, daß er auch diesmal wieder triumphieren würde, obwohl er gerade erst dem nassen Tod ins Auge geblickt hatte. Sein krankhaftes Hirn war nicht mehr imstande, die Lage klar zu erfassen. Es drang nicht mehr in sein Bewußtsein, daß diesmal der erhoffte Ausweg weit außerhalb jeder Realität lag. 9.
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Er war nicht fähig, auch nur einen Hauch von Mitleid zu empfinden. Dan O’Flynn lag oberhalb der Steilküste hinter einem hüfthohen Felsbrocken in sicherem Versteck. Aber selbst wenn die Kerle da unten ihn jetzt entdeckt hätten, wäre er hart und entschlossen genug gewesen, sie nach allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen. Während seines Rittes an der Küste hatte er ununterbrochen Ausschau nach der Schaluppe gehalten. Die eine Stunde, die verstrichen war, seit er den Einmaster aus den Augen verloren hatte, war ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Und dann, urplötzlich, waren die Umrisse der Schaluppe wieder über der Kimm aufgetaucht. Dans scharfe Augen hatten sofort erkannt, daß seine Rechnung nun doch noch aufgegangen war. Nein, er hatte kein Mitleid empfunden, als der entmastete Segler auf dem Riff zerschellt war. Diese Männer, die sich selbst zu willenlosen Werkzeugen des alten Killigrew degradiert hatten, hatten sinnlos gemordet und geplündert, ohne über ihr Tun nachzudenken. Sie hatten es mehr als hundertfach verdient, daß sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden. Daß ausgerechnet der alte Killigrew und sein ferkelgesichtiges Söhnchen am Leben geblieben waren, konnte Dan O’Flynn beim besten Willen nicht begreifen. Zum Teufel, welcher irrsinnige Schutzengel wachte über diese beiden Erzhalunken, von denen Sir John zweifellos der Schlimmere und Gefährlichere war? Den übrigen fünf Männern, die lebend an Land gekrochen waren, wünschte Dan, daß sie zur Einsicht gelangten. Vielleicht besannen sie sich eines Besseren: Vielleicht begriffen sie endlich, in welchen Teufelskreis sie dieses elende Schlitzohr hineingezogen hatte, das es durch seine durchtriebenen Machenschaften geschafft hatte, zum Generalkapitän von Cornwall aufzusteigen. Dans Gedanken wurden abgelenkt, als er sah, in welche Richtung der alte Killigrew spähte.
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Und nun erkannte auch der hochgewachsene junge Mann das Beiboot, das dort offensichtlich unversehrt auf einem Riff festgeklemmt war. Dan zerbiß einen Fluch auf den Lippen. Wie er Sir John kannte, würde der mit aller Macht versuchen, auch noch diese winzige Chance zu nutzen, die sich ihm bot. Und richtig. Mühsam zwar, doch immerhin ohne zu schwanken, richtete sich der alte Killigrew auf. * Er warf einen verächtlichen Blick auf Simon Llewellyn, der immer noch dalag und nichts weiter fertigbrachte als schnaufend nach Atem zu ringen. Sir John wandte den Kopf nach rechts. Corduroy und Hanks waren die ersten, die ihren Oberkörper halb aufrichteten und die Benommenheit abschüttelten. Die anderen waren erst noch im Begriff, wieder zur Besinnung zu gelangen. Und dann sahen die beiden hartgesottenen Männer die Toten, die ans Ufer geschwemmt worden waren und im seichten Wasser vom verebbenden Wellengang bewegt wurden. Das Donnern der Brandung klang für Corduroy und Hanks nur noch wie ein fernes Rauschen. Zu vordergründig und zu schmerzhaft stand in ihrem Bewußtsein die grausame Gewißheit. in welche Hölle sie der alte Killigrew geführt hatte. Daß sie selbst dem grinsenden Tod entronnen waren, konnten sie nicht begreifen. Auch die drei anderen, die sich jetzt stöhnend aufrichteten, starrten mit weit aufgerissenen Augen ihre Umgebung an. Sie begriffen nicht, daß es die Wirklichkeit war, in die sie zurückgekehrt waren. Sie blickten an sich selbst hinunter, wie um sich selbst neu zu erkennen. „Corduroy!“ Sir Johns Stentorstimme übertönte das Tosen der Brandung. Der Narbengesichtige ruckte herum. Auch Hanks und die anderen drehten sich langsam zur Seite.
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Corduroy schwieg. Sir John Killigrew, naß bis auf die Haut, stand in seiner gewohnten Herrscherpose da — breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt, das Kinn vorgereckt. Hinter ihm, zu seinen Füßen, lag der Jammerlappen, den er seinen Sohn nannte. Sir John furchte die Brauen. „Verdammt nochmal, bist du schwerhörig, Corduroy?“ Der Narbige stand auf, langsam, unendlich langsam. Nur Hanks, der neben ihm hockte, konnte erkennen, daß Corduroy am ganzen Körper zitterte. Es war ein kaum merkliches Zittern. Doch nur Hanks, der Corduroy am besten kannte, wußte, daß es nicht durch Angst hervorgerufen wurde. Es war die unbändige Wut, die in dem Narbigen zu sieden begann. Er schwieg noch immer, preßte die Lippen zu einem Strich zusammen und ballte die Hände neben den Hüften, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sir John stieß einen wütenden Knurrlaut aus. „Hölle und Teufel! Ich verstehe, wenn euch die verdammte Geschichte an die Nieren gegangen ist. Aber das ist kein Grund, jetzt den Verstand zu verlieren und sich wie ein Idiot aufzuführen. Oder willst du behaupten, du wärst plötzlich taub geworden, Corduroy, he?“ Hanks und die drei anderen rappelten sich: nun ebenfalls langsam auf und bildeten eine Front hinter dem Narbigen. Doch Sir John war mit seinen umnebelten Sinnen nicht fähig, das Drohende an dieser Front zu erkennen: „Nein, ich bin keinesfalls taub“, sagte Corduroy. „Na also.“ Sir John nickte zufrieden. „Und was dich betrifft, Hanks, so will ich vergessen, was ich vorhin gehört habe. Wenn es aussieht, als ob man dem Sensenmann über die Klinge springt, rutscht einem schon mal was raus. Also Schwamm drüber.“ Hanks verzog sein breites Gesicht zu einem bösen Grinsen.
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„Ja, es rutscht einem schon mal was raus“, wiederholte er spöttisch. „Meistens das, was man wirklich ehrlich meint.“ Der alte Killigrew überhörte den Sinn dieser Worte. Seine Gedankengänge waren ausschließlich auf das Beiboot und die sich damit bietende Chance konzentriert. „Herhören, Männer“, sagte er und gab seiner Stimme den üblichen herrischen Ton. „Ihr seht das Beiboot draußen auf dem Riff.“ Er deutete mit ausgestrecktem linken Arm auf die kochende und brodelnde Brandung, in der etwa vierzig Yards vom Ufer entfernt das kleine Boot wie ein verirrter Fremdkörper festhing. Corduroy und die anderen blickten nur kurz in die angezeigte Richtung. „Ja, wir sehen das Boot“, sagte der Narbige mit mühsam erzwungener Ruhe. „Sehr gut.“ Sir John nickte abermals. „Wir befinden uns hier bei Cambeak. Ich kenne die Gegend. Kein Haus, keine Ansiedlung, kein Dorf. Absolut nichts. Wir müßten stundenlang marschieren, wenn wir auf jemanden stoßen wollten, der uns weiterhilft. Deshalb werden wir das Boot nehmen und nach Tintagel zurückrudern.“ Corduroy lachte leise und bissig. „So, werden wir das?“ Sir John begriff noch immer nicht, welcher gefährliche Stimmungsumschwung seine ehedem folgsamen Männer gepackt hatte. „Was denn sonst!“ schrie er in aufwallendem Zorn. „Verdammt noch mal, ihr seid doch sonst nicht so begriffsstutzig! Ihr werdet jetzt das Boot holen, und dann wird gepullt, was das Zeug hält. Wenn wir uns ranhalten, sind wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Tintagel. Klar?“ Corduroy schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er metallisch. Mehr nicht. Sir Johns Kinnlade sank nach unten. Mit offenem Mund starrte er den Narbigen an. „Wie war das, Mann?“ „Ich sagte nein, Killigrew.“ Von einer Sekunde zur anderen sah es aus, als würde Sir Johns Schädel zerspringen. Seine Adern schwollen an, und seine Gesichtshaut färbte sich scharlachrot. „Ist das euer Ernst?“ brüllte er. „Klar“, erwiderte Corduroy.
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Sir John stampfte mit dem linken Fuß auf. „Das ist Meuterei!“ schrie er. „Dafür werdet ihr ...“ „Nichts werden wir“, unterbrach ihn der Narbige scharf. „Es ist endgültig Schluß, Killigrew. Mit uns machst du nicht mehr, was du willst. Es reicht uns. Wir haben die Schnauze voll. Schluß, aus. Kapiert?“ Sir John schluckte. Für Sekunden versagten seine Stimmbänder den Dienst. Im nächsten Moment stapfte er wie ein gereizter Stier auf die Männer los. Hinter ihm wurde Simon Llewellyn wach, richtete sich ächzend halb auf und beobachtete das Geschehen aus verdutzten, weit geöffneten Augen. Vor der Front der ruhig dastehenden Männer stoppte Sir John seine Schritte. „So!“ brüllte er. „Seid ihr immer noch der gleichen Meinung? Oder wartet ihr darauf, daß ich euch diese wirren Gedanken aus den Schädel prügele?“ „Darauf warten wir“, entgegnete Corduroy mit kaltem Lächeln. Sir John Killigrew explodierte. Mit schwingenden Fäusten warf er sich auf den Narbigen, der so unverschämt herausfordernd und ruhig dastand. Corduroy wich dem Ansturm mit spielerischer Leichtigkeit aus. Hinter ihm bildeten die anderen blitzschnell eine Gasse. Präzise im richtigen Sekundenbruchteil streckte Corduroy den rechten Fuß vor. Sir Johns Schienbein prallte dagegen. Er verlor das Gleichgewicht, stürzte durch den eigenen Schwung getrieben vornüber, ruderte noch einen Moment mit den Armen und schlug dann der Länge nach auf den felsigen Boden. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle. Aber er war hart im Nehmen, warf sich herum und war sofort wieder auf den Beinen. Wie ein nasser Hund das Wasser, so schüttelte er Schmerz und Benommenheit ab. Mit blutunterlaufenden Augen stierte er die Männer an, die für ihn nichts weiter als dreckige Meuterer waren. „Dafür werdet ihr büßen“, zischte er, „dafür werdet ihr mit eurem Leben
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bezahlen. So wahr ich John Killigrew bin, dafür werdet ihr ...“ Seine Worte wurden abgeschnitten, als Corduroy mit einem blitzschnellen Schritt auf ihn zutrat und ihm nacheinander zwei schallende Ohrfeigen versetzte. Der Kopf des alten Killigrew flog hin und her. Er heulte vor Wut. Diese Demütigung war zuviel für ihn. Blindwütig stürmte er vor und lief in die eisenharten Fäuste von Corduroy und Hanks. Die drei anderen konnten sich damit begnügen, zuzuschauen. Sie zerschlugen Sir John nach allen Regeln der Kampfeskunst, die sie in unzähligen Seegefechten und in ebenso zahlreichen Wirtshausprügeleien gelernt hatten. Die mörderischen Hiebe schienen geeignet, dem alten Killigrew jeden Knochen einzeln im Leib zu brechen. Aber noch nach zehn Minuten eines wahren Trommelfeuers von Fausthieben stand er auf den Beinen, schwankend wie eine Eiche im Sturm. Sein Gesicht war verquollen und an mehreren Stellen aufgeplatzt. Blut rann aus seinen Mundwinkeln, und in seinen Pupillen glomm ein irres Flackern. Corduroy rammte ihm das Knie in die Magengrube. Doch bevor der alte Killigrew zusammenklappte, schmetterte Hanks ihm die brettharte Faust unter das Kinn. Brüllend vor Schmerzen flog Sir John hintenüber. Es gab einen häßlichen trockenen Laut, als er mit dem Schädel auf den Felsen schlug. Der Generalkapitän von Cornwall streckte alle viere von sich und rührte sich nicht mehr. „Drecksau“, sagte Corduroy angewidert und spie aus. Hanks und die anderen nickten grimmig und zustimmend. Im nächsten Moment war es Simon Llewellyn, der ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Schreiend sprang der Ferkelgesichtige auf und rannte auf sie zu. „Ihr Bastarde! Ihr elenden Hurensöhne! Was habt ihr mit meinem Vater gemacht? Ihr verdammten
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dreckigen Halunken! Ich werde euch eigenhändig ...“ Er konnte seinen Ansturm nicht mehr aufhalten. Und ein Ausdruck ungläubigen Staunens trat in sein Gesicht, als er geradewegs in die eisenharte Faust von Hanks rannte. Dieser eine Hieb genügte, um Simon Llewellyn von den Füßen zu heben. Er kippte zur Seite, gab noch einen Ächzer von sich und sank dann regungslos auf dem felsigen Boden in sich zusammen. Corduroy und Hanks wechselten einen Blick. Hanks packte den Griff des Messers, das er in einer Lederscheide am Gürtel trug. „Machen wir Schluß mit den Schweinen“, sagte er zornig. „Sie haben es nicht besser verdient.“ Corduroy legte ihm seine Hand auf den Unterarm. „Laß es. Sie haben ihre Lektion gekriegt. Wir sind frei. Wenn wir sie abschlachten, werden wir gejagt. Vielleicht bis ans Ende der Welt. So haben wir eine Chance, uns zu verkriechen und irgendwo neu anzufangen, wo der Generalkapitän von Cornwall nichts zu sagen hat.“ Hanks dachte minutenlang nach. Dann löste er die Hand vom Messergriff und nickte. „Du hast recht. Verschwinden wir und vergessen wir diesen Irrsinn.“ *
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Dan O’Flynn hatte das Geschehen lächelnd und voller Anerkennung beobachtet. Diese Männer hatten zu guter letzt doch noch gezeigt, daß sie einen vernünftigen Kern in sich hatten. Er schaute ihnen nach, wie sie einen Aufstieg zur Steilküste suchten und schließlich in gut zweihundert Yards Entfernung landeinwärts davonzogen. Schon kurze Zeit später waren sie außer Sichtweite. Unten am Felsenufer lagen Sir John und sein Sohn - endgültig geschlagen, blutend, bewußtlos, mehr tot als lebendig. Dan hatte jetzt absolute Gewißheit. Für den alten Halunken War der Traum von Reichtum, von Gold- und Silberbarren, von Diamanten, Perlen, Edelsteinen und Schmuck endgültig ausgeträumt. Von dieser Niederlage würde sich der alte Killigrew nicht mehr erholen. Er konnte froh sein, daß er mit dem Leben davongekommen war. Aber wahrscheinlich war mit seinem krankhaften Hirn nicht einmal in der Lage, darüber Freude zu empfinden. Dan O’Flynn hielt sich nicht länger an der Steilküste von Cambeak auf. Er mußte die wertvolle Zeit, die er durch seine einsamen Kampfaktionen gewonnen hatte, nutzen. Er lief zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt in scharfem Galopp an die Küste der Bude Bay entlang. Weiter nach Norden, auf Bude zu ...
ENDE