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Noch vor wenigen Augenblicken hatten die Strahlen der Sonne das Wasser versilbert. D...
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Seewölfe 235 1
Frank Moorfield 1.
Noch vor wenigen Augenblicken hatten die Strahlen der Sonne das Wasser versilbert. Doch jetzt zog plötzlich finsteres Gewölk auf, das dunkle Schatten auf die Wasserfläche warf. Und dann brach das Tropengewitter in all seiner Gewalt los. Wo gerade noch die Sonne erbarmungslos gebrannt und feuchte, dampfende Hitze das Atmen erschwert hatte, da tobten nun die entfesselten Elemente. Das Grollen des Donners erinnerte an die trommelnden Hufschläge eines riesigen Reiterheeres und das Krachen und Bersten der Einschläge an das Gebrüll der Culverinen bei einem gewaltigen Seegefecht. Zuckende Blitze vergossen grelle Lichtströme und schienen das schwarze Himmelsgewölbe in tausend Fetzen zerreißen zu wollen. Eine prasselnde, wolkenbruchartige Regenflut folgte und hüllte das Inferno in einen grauen, nassen Schleier. Die „Isabella VIII.“, eine schlanke, dreimastige Galeone von etwa zweihundertfünfzig Tonnen Größe, wirkte im Toben der Elemente wie ein Gespensterschiff - groß, dunkel und geheimnisvoll. Erst als das heftige Tropengewitter mit der gleichen Schnelligkeit, mit der es heraufgezogen war, aufhörte, schälte sich der schnelle Rahsegler, der vom besten Schiffsbauer Englands erbaut worden war, aus der düsteren und dampfenden Atmosphäre. Er glitt hinein in das gleißende Licht der Sonne, das die Gewitterwolken rasch wieder auflöste, so, als sei überhaupt nichts geschehen. Man schrieb den 8. März im Jahre des Herrn 1591. Die „Isabella“ segelte mit Backstagsbrise auf Nordwestkurs dem Äquator entgegen. Seit sie Parnaiba an der Atlantikküste des südamerikanischen Kontinents verlassen hatte, lief sie ihren Kurs stets in Sichtweite der Küste. Der Himmel strahlte bereits wieder im gewohnten Blau, und nur die mächtigen Wolken, die drüben an der Küste über den
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endlosen Urwäldern dampften, erinnerten an den Ausbruch der Naturgewalten. An Bord der „Isabella“ war es drückend heiß und schwül. Auch der Gewitterregen hatte keine Abkühlung gebracht. Die Hitze flimmerte und veranlaßte einen Teil der Crew, still und untätig vor sich hin zu dösen. Nur vereinzelt wurde das gleichförmige Rauschen des Wassers unterbrochen durch das Geschrei der Aluates, der Brüllaffen, das aus dem Dschungel herübertönte. Das feuchte, schweißtreibende Klima erzeugte eine gedrückte Stimmung unter den Seewölfen. Auch Philip Hasard Killigrew, dem Kapitän der „Isabella“, standen kleine Schweißperlen auf der Stirn, als er neben Ben Brighton an der Schmuckbalustrade des Achterkastells stand und seine eisblauen Augen prüfend über die Decks wandern ließ. Das kurze, heftige Tropengewitter war für ihn und seine Mannschaft nichts Neues gewesen. Sie hatten den südamerikanischen Dschungel und seine Launen und Tücken bereits kennen gelernt und wußten im großen und ganzen, wie sie sich in dieser kochenden und brodelnden Hölle zu verhalten hatten. Einigen schien jedoch die Hitze nur wenig zuzusetzen. Unermüdlich waren sie in Bewegung, um wenigstens die notwendigsten Handgriffe zu erledigen. So auch Philip und Hasard, die beiden zehnjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, die beide damit beschäftigt waren, eine Schlagputz Seewasser nach der anderen übers Schanzkleid zu hieven, um die Decksplanken zu schrubben. Die vorausgegangene kurze Regenflut konnte die regelmäßige, gründliche Reinigung natürlich nicht ersetzen. Den beiden schien die Arbeit Spaß zu bereiten, und sie schwitzten auch nicht so sehr wie Bob Grey, Matt Davies, Jeff Bowie und Luke Morgan, die noch auf der Kuhl beschäftigt waren und von Zeit zu Zeit nicht gerade schmeichelhafte Bemerkungen über die brütende Hitze von sich gaben. Der Kutscher werkte noch in der Kombüse herum und Bill, der Moses,
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hockte als Ausguck im Großmars und ließ seine flinken Augen tastend über die Wasserfläche bis zur Küste hinüberwandern. Ferris Tucker, der rothaarige Riese mit dem Kreuz, so breit wie ein Rahsegel, der Schiffszimmermann der „Isabella“, hatte sich auf dem Backbordniedergang zur Kuhl niedergelassen und war damit beschäftigt, seine gefürchtete Axt zu schärfen, die nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Waffe berüchtigt war. Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, hockte daneben und sah ihm interessiert zu. Die übrigen Männer der Crew, darunter Smoky, Blacky, Gary Andrews und Old Donegal Daniel O'Flynn, hielten sich mit Ausnahme von Pete Ballie, der am Ruder stand, an der vorderen Schmuckbalustrade der Back auf. „Die Stille trügt, ich spüre es“, sagte Old Donegal Daniel O'Flynn und setzte mit Nachdruck seine Beinprothese auf die Planken. „Der Tag wird nicht so ruhig weiterverlaufen.“ „Was heißt hier Stille?“ brummte Smoky, ein Rauhbein, das noch unter Francis Drake als Decksältester gefahren war. „Reicht dir das ständige Gebrüll der Affen nicht? Oder“, setzte er mit einem Grinsen hinzu, „hast du vielleicht während des Gewitters eine Windbraut oder gar einen Wassermann gesehen?“ Die Männer sahen sich an, und der eine oder andere konnte sich ein Augenzwinkern nicht verkneifen. Sie kannten schließlich die Ahnungen von Old O'Flynn, aber sie wußten auch, daß er manchmal recht behielt. Old O'Flynn wurde ärgerlich und legte das von vielen Stürmen gezeichnete Gesicht in Falten. „Spottet nur“, sagte er. „Eines Tages werdet ihr es schon noch selber merken, daß es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, von denen sich der Mensch nichts träumen läßt ...“ „Amen!“ unterbrach Dan O'Flynn und erntete dafür einen mißbilligenden Blick seines Vaters.
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Doch auch dem alten O'Flynn schien bei dieser Wahnsinnshitze der Sinn nicht unbedingt nach einem handfesten Streit zu stehen. Er stützte seine Hände auf die Balustrade und blickte mit kritischen Augen zur Küste hinüber. Ed Carberry, der Profos der „Isabella“, ein bulliger Riese mit einem gewaltigen Rammkinn und zernarbtem Gesicht, hatte sich gerade eine Muck Wasser geholt und ließ sich damit auf einer Taurolle nieder, die auf der Kuhl lag. Bäche von Schweiß liefen über sein kantiges Gesicht, als er die Muck neben sich abstellte und zunächst einmal — ziemlich erfolglos — versuchte, sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. „In der Hölle kann's nicht heißer sein“, murmelte er. „Und des Teufels Großmutter scheint heute eine besonders heiße und dampfende Suppe zu kochen.“ Der Profos gab es bald auf, den Schweiß loszuwerden, und wollte nach der Muck mit dem brühwarmen Wasser greifen, das bei dieser Affenhitze mehr und mehr zum lebenserhaltenden Element wurde. Aber die Muck war weg. Verdutzt wischte sich Ed Carberry über die Augen. Verdammt, gerade eben hatte er die Muck doch hier rechts neben sich gestellt. Sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Oder sollte ihm die Hitze schon ans Hirn gegangen sein? Verflixt und zugenäht, bis jetzt hatte er noch immer seine sieben Sinne beisammen gehabt. Hier und sonst nirgends hatte er die Muck mit dem Wasser hingestellt. Ed Carberry schickte einen mißtrauischen Blick zu den Zwillingen hinüber. Die beiden „Rübenschweinchen“, wie er sie oft zu nennen pflegte, holten jedoch eifrig die Leinen ein, die am jeweiligen Bügel ihrer Schlagpütz angespleißt waren, und schienen im Moment am Profos der „Isabella“ keinerlei Interesse zu haben. Außerdem waren sie auch zu weit von ihm entfernt, um ihm einen Schabernack spielen zu können. Aber wo war die Muck? Ha - endlich merkte Ed Carberry, wer ihn auf den Arm nehmen wollte. Es konnte nur Luke Morgan gewesen sein, der kleine,
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dunkelblonde Kerl mit der Messernarbe über der Stirn, der als „Hitzkopf“ der Mannschaft galt. Luke Morgan befand sich im Moment keine drei Yards von ihm entfernt. Ed Carberry blieb auf seiner Taurolle sitzen und streckte Luke Morgan fordernd die Hand entgegen. „Ich habe, verdammt noch mal, einen gewaltigen Brand in der Kehle“, sagte er. „Na und?“ gab Luke Morgan zurück. „Glaubst du vielleicht, uns geht es anders, Ed? Es soll verschiedene Flüssigkeiten geben, die da Abhilfe schaffen.“ Hinter der Stirn des Profos braute sich ein Gewitter zusammen. Sein Blick verfinsterte sich und seine rechte Hand war noch immer Luke Morgan entgegengestreckt. „Eben deshalb“, sagte Ed Carberry mit Donnerstimme, „möchte ich sofort meine Muck Wasser wiederhaben. Oder glaubst du schwindsüchtige Kakerlake vielleicht, daß du mich leimen kannst? Und wehe dir, es fehlt auch nur ein einziger Schluck.“ Luke Morgan hatte runde Augen. „Jetzt ist es soweit“, stieß er hervor. „Ich meine, es ist die Hitze, Mister Carberry“, fügte er noch hinzu und begann zu grinsen. „Ich habe die letzte Stunde noch keine Muck mit Wasser gesehen. Sicher hast du zu große Schlucke genommen und dabei die Muck ganz einfach mit runtergeschluckt.“ „Jetzt hört euch diese neunschwänzige Bilgenratte an!“ brüllte der Profos und erhob sich. Seine wütenden Augen kündigten Luke Morgan nicht gerade einen Feiertag an. „Ich werde jetzt bis drei zählen“, sagte er mit einem gefährlichen Knurren in der Stimme. „Hörst du? Genau bis drei, und wenn dann meine Muck nicht hier ist, werde ich dir die Haut in Streifen von deinem karierten Affenarsch ziehen. Aber schön langsam und mit ...“ Weiter gelangte der Profos nicht. Er bemerkte einen dunklen Schatten, der von oben sauste, dicht an ihm vorbeiflog und mit einem lauten Scheppern auf die Planken knallte. Es war seine Muck. Und sie war leer.
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Während die Männer, die mit Luke Morgan auf der Kuhl beschäftigt waren, in lautes Gelächter ausbrachen, fuhr Ed Carberry herum und richtete für einen Moment sprachlos den Blick nach oben. Dort sah er gerade noch Arwenack, den Schimpansen, der laut keckernd die Wanten hochturnte. Und schlagartig wurde ihm klar, was mit seiner Muck geschehen war. „Lausiges Affenvieh!“ brüllte der Profos und schwang drohend die Fäuste. „Wenn du dich noch einmal hier unten blicken läßt, werde ich die größte Muck aus der Kombüse holen und dich, verdammt noch eins, darin ersäufen, und danach werde ich dir ein dickes Ende über deinen Affenarsch ziehen, daß dir Hören und Sehen vergeht!“ „Du hast dich in der Reihenfolge vertan, Mister Carberry!“ rief Hasard junior, der wie sein Zwillingsbruder die Schlagpütz auf die Planken gestellt hatte und interessiert dem sich anbahnenden Schauspiel gefolgt war. „Jawohl, Mister Carberry, Sir“, ließ sich nun Philip junior vernehmen und nickte grinsend. „Zuerst das Ende und dann die Muck, anders herum geht es nicht.“ Der Profos, dem die Hitze erneut Schweißbäche übers Gesicht rinnen ließ, fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum. „Was? Wie?” brüllte er. „Natürlich wird die Reihenfolge geändert. Und als erstes werde ich das Ende euch Rübenschweinchen über den Achtersteven ziehen, und zwar so, daß ihr sämtliche Engelschöre auf einmal singen hört!“ Noch während die beiden Bürschchen sich anschickten, den günstigsten Kurs für eine rasche Flucht festzulegen und der Profos drohend wie ein Racheengel auf sie zurückte, folgte die Erlösung. Zwar nicht vom Himmel, aber doch von oben. „Deck!“ rief Bill, der Moses, aus dem Großmars. „Ich sehe ein Wrack an Backbord!“ „Wo siehst du ein Wrack?“ fragte Ben Brighton zurück, der zusammen mit dem Seewolf die Vorgänge auf der Kuhl beobachtet hatte.
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„Drüben, weit in der Bucht, die wie ein riesiger Fluß aussieht. Direkt vor dem Dschungel!“ Bills Stimme klang aufgeregt. Und auch jene Männer, die bisher an der Schmuckbalustrade der Back gedöst hatten, schienen plötzlich aus ihrer Lethargie zu erwachen. Selbst der Profos vergaß für einen Augenblick sein erzieherisches Vorhaben an den beiden „Rübenschweinchen“ und dem Schimpansen Arwenack. Auch er trat ans Backbordschanzkleid und schaute angestrengt zur Bucht hinüber. Über das faltige Gesicht des alten O'Flynn zog ein selbstzufriedenes Grinsen. „Ein Wrack“, murmelte er zu sich selbst. „Habe ich nicht gleich gesagt, daß etwas in der Luft liegt? Ein Wrack hat selten etwas Gutes zu bedeuten.“ 2. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand nach wie vor an seinem Platz. Er hatte das Spektiv ans Augegesetzt und suchte auf die Meldung Bills hin konzentriert die Küste ab. „Kannst du etwas sehen?“ fragte Ben Brighton, sein Stellvertreter und der erste Offizier der „Isabella“. „Hm“, sagte der Seewolf, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. „Es scheint eine Galeone zu sein oder vielmehr das, was von ihr übrig ist. Ich kann nur ein Gerippe erkennen. Es scheint dicht vor dem Dschungel auf dem Trockenen zu liegen. Unmittelbar daneben kann ich die Mündung eines kleinen Flusses erkennen.“ „Das Gerippe einer Galeone?“ sinnierte Ben Brighton. „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“ „Wir werden versuchen, es festzustellen“, erwiderte Hasard und nahm das Spektiv von den Augen. „Ja, wir werden uns dieses merkwürdige Wrack einmal ansehen.“ Gleich darauf gab er dem Rudergänger Pete Ballie den Befehl, nach Backbord abzufallen und ein Stück tiefer in die Baja de Marajo, in der mehrere größere und
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kleinere Urwaldflüsse zusammenströmten, zu steuern. Je weiter sie sich der Küste näherten, desto lauter drangen die Geräusche des Dschungels zu ihnen herüber. Zwischen das anhaltende Geschrei der Brüllaffen, die gewöhnlich zu dieser Jahreszeit durch die Früchte der Chonta-Palme fett und träge geworden waren, mischte sich das laute Kreischen von Vögeln. Die Männer an Bord der „Isabella“ schirmten die Augen mit der flachen Hand ab und versuchten, die Konturen der wracken Galeone zu erkennen. Selbst Sir John, der karmesinrote Aracanga-Papagei, der einst dem Profos, Ed Carberry, am Amazonas zugeflogen war und seitdem die „Isabella“ auf ihren Fahrten durch die Weltmeere begleitete, lief aufgeregt auf seinem Lieblingsplatz, der Vormarsrah, hin und her. Wahrscheinlich hatte das vielstimmige Urwaldkonzert, das pausenlos zum Schiff herüberdröhnte, heimatliche Gefühle in ihm geweckt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, einige saftige Flüche vom Stapel zu lassen, die er von seinem Herrn und Meister gelernt hatte. Endlich war es soweit. Die „Isabella“ hatte sich dem Wrack bis auf zwei Kabellängen genähert. Nachdem Smoky, der Decksälteste, bereits zweimal Tiefe gelotet hatte, gab der Seewolf den Befehl, die Segel aufzugeien und zu ankern. Der Anker faßte sofort Grund, denn die „Isabella“ lag in relativ flachem Wasser. Sie befand sich in Sichtweite der wracken Galeone, die direkt auf einer Sandbank lag. Diese zog sich von der Bucht her ein Stück in das Mündungsgebiet eines kleineren Flusses hinein und ging dann in den Dschungel über. „Sieht nicht gerade aus, als ob da noch was zu reparieren wäre“, stellte Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, mit sachkundiger Miene fest. „Weiß der Teufel, wie lange das Wrack schon dort drüben liegt und was mit seiner Besatzung geschehen ist.“ „Ja, weiß der Teufel“, wiederholte der alte O'Flynn, der den Platz neben Ferris Tucker
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eingenommen hatte. „Und das mitten in der grünen Hölle, wo hinter jedem Baumstamm eine Bestie lauert. Ob das wohl Spanier waren? Oder vielleicht Portugiesen?“ Dan O'Flynn, der die schärfsten Augen an Bord hatte, war zu Bill in den Ausguck aufgeentert. Seine erregte Stimme unterbrach plötzlich die Mutmaßungen der Männer an Deck. „Skelette!“ rief er. „Ich bin mir zwar nicht absolut sicher, aber ich glaube, es sind Skelette an Bord. Und nicht gerade wenige. Ja doch, ich sehe es jetzt deutlicher. Es sind Skelette!“ Mit einem Blick, in dem die Zukunft der nächsten tausend Jahre verborgen lag, sah der alte O'Flynn den Profos an, der neben ihn getreten war. „Skelette“, murmelte er mit ungläubigem Gesicht. „Was denn für Skelette?“ „Von Toten natürlich, du Stint“, sagte Ed Carberry. „Oder hast du schon einmal lebendige Skelette gesehen, was, wie?“ Old O'Flynn winkte beleidigt ab. „Du willst mich wohl für dumm verkaufen, was? Ich meine natürlich, ob die Skelette vielleicht von den Dons sind, wenn das in deinen Ochsenschädel hineingehen sollte, den du rein aus Versehen auf deinen Schultern trägst.“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte stieß er mit dem Holzbein gegen das Schanzkleid. Bevor der Profos zu einer passenden Erwiderung Luft holen konnte, wurde er vom Seewolf unterbrochen. „Ein Wrack mit vielen Skeletten, das ergibt auf Anhieb keinen rechten Sinn“, stellte Hasard fest. „Wir sehen uns das Ganze mal aus der Nähe an. Fiert das Beiboot ab, wir pullen rüber.“ Erwartungsvoll sahen ihn die Männer an, jeder in der Hoffnung, daß er mit von der Partie sein würde. Doch da räumte der Kapitän der „Isabella“ schon mit der Ungewißheit auf und nannte die Namen. „Du, Ed“, sagte er zu dem bulligen Profos, „und ihr, Dan und Ferris, ihr begleitet mich. Al, gib die Waffen aus.“
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„Aye, Sir“, sagte Al Conroy, der stämmige, schwarzhaarige Stückmeister der „Isabella“. Wenig später erschien er mit den Waffen. Ed Carberry erhielt eine Muskete, Dan O'Flynn und Ferris Tucker wurden mit je einer Pistole bewaffnet, und Hasard nahm seine Radschloßpistole mit. Ferris Tucker hatte zusätzlich seine frisch geschärfte Zimmermannsaxt in den breiten Ledergürtel geschoben. Das Beiboot war inzwischen abgefiert worden, und die vier Seewölfe pullten los — auf das geheimnisvolle Wrack zu, auf dem der Tod zu hausen schien. Die Sandbank, auf der es lag, mündete direkt in dem Mangrovendickicht, hinter dem tausend tödliche Gefahren lauern konnten. Hasard und seine Männer kannten die grüne Hölle und wußten, daß man ständig auf der Hut sein mußte, wenn man nicht irgendwelche böse Überraschungen erleben wollte. Ungehindert erreichten sie die Sandbank. Hasard, Ed Carberry und Ferris Tucker sprangen in das flache, blaugrüne Wasser, um das Boot auf den Sand zu ziehen. Nur Dan saß noch auf der achteren Ducht und versuchte fluchend seine Pistole hochzuzerren, die sich in der Gräting verklemmt hatte. Endlich gelang es ihm. Er wollte gerade aufstehen, um den anderen zu folgen, da ließ ihn ein lauter Warnschrei heftig zusammenfahren. * Für einen Moment saß Dan O'Flynn wie erstarrt im Boot. Was er sah, ließ ihm trotz der brütenden Hitze fast das Blut in den Adern gefrieren. Sein Blick heftete sich auf das dichte Mangrovengestrüpp, das sich weiter hinten zu einem immergrünen, verfilzten Wald verdichtete. Die Mangroven wucherten wie Unkraut, weil ihre zahlreichen Luftwurzeln die Feuchtigkeit aus der ohnehin dampfenden Luft sogen und somit für ein ständiges Wachstum sorgten. Aus dem Dickicht, das bis in das seichte Brackwasser der Flußmündung wucherte,
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schoß ein dunkler Schatten hervor und bewegte sich unheimlich schnell über den schmalen Streifen der Sandbank. Es war ein riesiger Mohrenkaiman. Dieses gefährliche Raubtier, das es sogar versteht, die blaugrüne Farbe des Wassers anzunehmen, das es durchschwimmt, gehört zu den größten Alligatoren des Amazonasgebietes und greift in seiner Gefräßigkeit alles an, was sich bewegt. Hasard hatte den dunklen Schatten, der sich aus dem Mangrovengestrüpp gelöst hatte, als erster bemerkt und den Warnruf ausgestoßen. Aber noch bevor die Männer recht begriffen, was geschah, war der Kaiman schon heran und griff sofort Ed Carberry an. Mit einem häßlichen Geräusch riß das gewaltige Tier, das aussah wie ein Koloß aus grauer Vorzeit, den Rachen auf und ließ eine Unzahl langer und scharfer Zähne erkennen. Der Profos der „Isabella“, dem absolut keine Zeit mehr verblieb, einen seiner von Herzen kommenden Flüche vom Stapel zu lassen, sprang geistesgegenwärtig zur Seite. Und das war sein Glück. Nur so gelang es ihm buchstäblich im letzten Moment, dem tödlichen Angriff auszuweichen. Die mächtigen Kiefer des Mohrenkaimans schnappten ins Leere. Doch das Ausweichmanöver Ed Carberrys war nur eine Momentlösung. Der Körper der Panzerechse schwang blitzartig herum und konzentrierte sich erneut auf sein Angriffsziel. Für einen Augenblick war selbst das kantige Gesicht des Profos aschgrau geworden, denn die Bestie hatte einen regelrechten Überraschungsangriff gestartet. Philip Hasard Killigrew erlangte als erster seine Fassung zurück. Blitzschnell riß er seine Radschloßpistole hoch und feuerte einen Schuß auf das Reptil ab. Doch das Tier bewegte sich im selben Moment, und so ging der Schuß daneben. Die Kugel fuhr, eine kleine Fontäne hoch wirbelnd, in den Sand. Hasard gab nicht auf. Sofort krachte ein zweiter Schuß aus dem Lauf der Radschloßpistole - und diesmal traf die
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Kugel. Irgendwo bohrte sie sich in den mächtigen Schuppenpanzer des Kaimans. Aber die erwartete Wirkung blieb aus. Im Gegenteil, die Echse wurde nur noch rasender, und keine Macht der Welt schien sie in diesem Zustand noch an ihrem tödlichen Vorhaben hindern zu können. Ed Carberry war bis jetzt keine Zeit verblieben, die Muskete in Anschlag zu bringen. Er war voll damit beschäftigt, dem abermals zuschnappenden Rachen des Tieres auszuweichen. Auch Dan O'Flynn, der mittlerweile das Boot verlassen hatte, riß nun die Pistole hoch und visierte den Kopf des Kaimans an. Aber die Waffe funktionierte nicht. Ein eisiger Schreck fuhr ihm durch sämtliche Glieder. Das Pulver mußte feucht geworden sein, als sich die Pistole in der Gräting verklemmt hatte. So war sie zu einem nutzlosen Instrument geworden, unbrauchbarer als ein Stein. Zähneknirschend warf er die Pistole mit einem Schwung ins Boot hinüber und riß gleichzeitig sein Entermesser aus dem Gürtel. Ed Carberry hatte gerade einen weiteren Haken geschlagen, der selbst einem Akrobaten zur Ehre gereicht hätte. Aber da geschah es. Der rechte Fuß rutschte ihm in dem lockeren Sand unter dem Körper weg, und der Profos stürzte der Länge nach auf die Sandbank. Die Muskete löste sich bei dem Sturz aus seiner Hand und flog in den Dreck. Jetzt brauchte der Profos der „Isabella“ einen guten Schutzengel. * Natürlich hatten die Männer, die auf der „Isabella“ zurückgeblieben waren, bemerkt, daß irgendetwas dort drüben auf der Sandbank nicht stimmte. Angespannt standen sie am Backbordschanzkleid der Galeone, die zwei Kabellängen von der Sandbank entfernt, im flachen Wasser vor Anker gegangen war. Die Schüsse aus Hasards
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Radschloßpistole hatten sie sofort aufgeschreckt. „Ein Krokodil“, sagte Ben Brighton, der mit flinken Fingern an der Optik des Spektivs hantierte. „Ein Krokodil scheint überraschend unseren Profos angegriffen zu haben.“ „Ist es nur eins?“ fragte Al Conroy, der Stückmeister, zurück. „Scheint so. Ich kann nur eins erkennen. Aber hoffentlich tauchen nicht noch mehr dieser Biester aus dem Mangrovendickicht auf. Es ist sicherlich nicht das einzige, das sich dort aufhält.“ Auch Philip und Hasard, die beiden Sprößlinge des Seewolfs, blickten gespannt zum Ufer hinüber, und man merkte ihnen an, daß ihnen die Abenteuerlust unter der Haut prickelte. „Mister Brighton, Sir“, ließ sich Hasard junior vernehmen. „Können wir nicht ein Boot klarmachen - ich meine, können wir nicht ...“ „Das ist gut von dir gemeint, Hasard.“ Ben Brighton lächelte. Er hatte während der Abwesenheit des Seewolfs das Kommando an Bord und setzte den Kieker ab. „Aber es würde unseren Leuten dort drüben nichts bringen. Mit einem Krokodil kann man nicht lange kämpfen. Bis wir ein Boot abgefiert haben und dort drüben sind, ist der Kampf längst entschieden, auch wenn wir uns noch so sehr in die Riemen legen.“ „Aber - aber Krokodile sind doch sehr gefährlich, nicht wahr?“ „Natürlich. Hoffen wir, daß es deinem Vater und den anderen Männern gelingt, mit diesem Biest fertig zu werden. Sie haben schon ganz andere Situationen gemeistert, meinst du nicht auch?“ „Natürlich, Sir. Gibt es hier nicht auch die gefürchtete Anaconda? Ich meine diese riesige Würgeschlange?“ Ben Brighton nickte und lächelte über die Wißbegierde der Zwillinge. „Ja“, sagte er dann. „Die gibt es hier auch, dazu noch die gefräßigen Piranhas, Zitteraale, Lamantine und natürlich auch Ameisenbären, Tapire, Wasserschweine, Affen und Faultiere. Aber die riesigen
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Mohrenkaimane sind wohl noch mit die gefährlichsten aller Tiere, die es hier gibt.“ Wieder setzte Ben Brighton das Spektiv ans Auge und blickte zur Sandbank hinüber. Und im selben Augenblick stieß er einen erschreckten Laut aus. „Ed Carberry“, sagte er, und sein Gesicht wurde sehr ernst. „Mein Gott, wenn das nur gut geht ...“ * Noch während der Kapitän der „Isabella“ geschickt reagierte und auf die Muskete zuhechtete, die dem Profos entfallen war, schnellte Ferris Tucker vor. Er hatte inzwischen seine riesige Zimmermannsaxt aus dem Gürtel gerissen und sprang den Kaiman von der Seite her an. Blitzartig schoß das Tier herum und war somit für einen Moment von Ed Carberry abgelenkt, der sich gerade vom Boden hochstemmen wollte. Im selben Augenblick blitzte die stählerne Axt im grellen Licht der Sonne und traf wuchtig den Schädel der Echse. Das Tier stieß einen brüllenden Laut aus und begann wie verrückt zu toben. Sein neuer Feind hieß jetzt Ferris Tucker. Bevor der breitschultrige Schiffszimmermann der „Isabella“ noch einmal die Axt einsetzen konnte, erwischte ihn ein gewaltiger Schwanzschlag des Reptils und schleuderte ihn mehrere Yards über die Sandbank weg. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, als wären ihm sämtliche Knochen im Leib zerschmettert worden. Doch Ferris Tucker war ein harter Brocken. So schnell brachte man ihn nicht aus dem Gefecht. Sofort raffte er sich wieder auf — und das keinen Atemzug zu spät, denn der Mohrenkaiman, der sich wohl seiner bereits angeschlagenen Beute sicher fühlte, folgte ihm sandaufwirbelnd. In dem Moment, in dem Ferris Tucker die Axt hochreißen wollte, riß die Bestie den Rachen auf. So verblieb dem rothaarigen Mann nicht mehr die Zeit, die Axt wie geplant einzusetzen.
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Bevor er zurückwich, warf er dem Kaiman in letzter Verzweiflung die große Axt in das aufgesperrte Maul. Sofort klappten die Kiefer zusammen, ein Krachen und Knirschen ertönte, und der kräftige Stiel der Axt bestand nur noch aus zertrümmerten Holzresten. „Das gibt es doch nicht!“ entfuhr es den Lippen Ferris Tuckers. Ungläubig starrte er auf das wütende Krokodil. Inzwischen hatte der Seewolf das Tier anvisiert, und die Muskete krachte, bevor es wieder auf sein jetzt wehrloses Opfer losgehen konnte. Die Kugel fuhr in den Schädel des Kaimans, durch dessen Körper plötzlich ein kurzes Zucken ging. Er klappte die mächtigen Kiefer auf und wieder zu. Für einen weiteren Augenblick rührte er sich nicht, dann fuhr er herum und kroch in das nahe Brackwasser der Flußmündung zurück. Die Seewölfe atmeten auf. Die Situation war verdammt gefährlich gewesen, aber sie hatten gemeinsam den Kampf auf Leben und Tod gewonnen. Deutlich sahen sie eine Blutspur im Sand, als das verwundete Tier in das blaugrüne Wasser eintauchte. „Das war knapp, Leute“, sagte Hasard, „verdammt knapp sogar.“ Auch dem Profos stand noch der Schrecken in seinem zernarbten Gesicht. „Und ich habe mich schon im Rachen dieses Krokodils gesehen“, sagte er, und fast konnte man einen ehrfürchtigen Gesichtsausdruck bei ihm erkennen. Dan O'Flynn, der sich nach wie vor darüber ärgerte, daß seine Pistole im entscheidenden Augenblick versagt hatte, konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. „Da hätte sich das Vieh aber schön den Magen an dir verdorben, sicherlich wäre es hinterher jämmerlich eingegangen.“ Noch bevor der Profos antworten konnte, ließ ihn, wie auch die drei anderen Männer, ein plötzliches Rauschen im Wasser herumfahren. Ganz in der Nähe der Stelle, an der der Kaiman ins Wasser geglitten war, brodelte und kochte es plötzlich. Augenblicklich
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wurde den Seewölfen klar, was sich dort abspielte. Es erfüllte sich das Gesetz des Regenwaldes: fressen und gefressen werden. Piranhas, jene kleinen stumpfgesichtigen Fische mit den rasiermesserscharfen Zähnen, hatten Blut gewittert. Ganz plötzlich waren sie da, wie aus dem Nichts herbeigezaubert. Das Wasser wurde aufgewühlt und färbte sich stellenweise rot vom Blut des Kaimans, von dem nach Minuten nicht mehr als das Skelett übrig bleiben würde. Das Reptil schlug wild um sich, als der riesige Schwarm der kleinen silbrigen Fische mit ihren scherenartigen Gebissen Stücke aus seinem Fleisch heraussägte. Aber die Kraft des Mohrenkaimans erlahmte schnell. Bald war das grausige Schauspiel vorbei, das die vier Männer auf der Sandbank wie gebannt beobachtet hatten. Jetzt konnten sie sich wieder lebhaft vorstellen, wie Jeff Bowie, der zur Besatzung der „Isabella“ gehörte, zu seiner Hakenprothese an der linken Hand gekommen war. Piranhas hatten ihm die Hand vor Jahren zerfleischt. Der gute Jeff konnte noch von Glück sagen, daß es bei der Hand geblieben war. Nachdem die Seewölfe ihre Schußwaffen nachgeladen hatten, konnten sie sich nun endlich dem Wrack der Galeone zuwenden, das hinter ihnen auf der Sandbank lag, und zwar dort, wo der Landstreifen fast nahtlos in den Mangrovendschungel überging. 3. Der Anblick, der sich ihren Augen bot, war grausig und ließ selbst hartgesottenen Männern wie Philip Hasard Killigrew, Ed Carberry, Ferris Tucker und Dan O'Flynn eine Gänsehaut über den Nacken kriechen. Der Kampf mit dem Mohrenkaiman hatte ihre Aufmerksamkeit so sehr beansprucht, daß ihnen erst jetzt die Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit des Wracks bewußt wurde. Was von der Galeone übrig geblieben war, war nur ein Gerippe. Die Beplankung
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fehlte ganz, und nur die Querspanten ragten nach allen Seiten hervor, so daß man rundum durch das Wrack blicken konnte. Aber nicht das war es, was die vier Männer von der „Isabella“ für einen Augenblick verstummen ließ, sondern der Hauch des Todes, der über dieser Stätte lag. Auf dem Kielschwein des Wracks und an den Querspanten hockten ausgebleichte, menschliche Gerippe, als warteten sie darauf, von jemandem abgeholt zu werden. Es waren mehr als ein Dutzend Skelette, die in der Sonne bleichten und dieser Stätte des Todes eine unheimliche Ausstrahlung verliehen - trotz des Lebens im Hintergrund, trotz der vielfältigen Stimmen, die aus dem Dschungeldickicht herüberdrangen. Stumm und aus leeren Augenhöhlen schienen die Toten den Männern entgegenzublicken - eine starre, unbewegliche Gesellschaft, die wie zu einer Versammlung oder einem Palaver in der wracken Galeone beisammenhockte. Hasard löste sich als erster aus dem Bann, der von dieser Stätte ausging. „Eine recht merkwürdige Besatzung“, sagte er mit nachdenklichem Gesicht. „Eigentlich ist es unmöglich, daß es sich bei diesen Skeletten um die Besatzung der Galeone handelt. Wie das Wrack aussieht, ist es uralt und muß demnach schon recht lange hier liegen. Ob es ein Sturm hierher geworfen hat, oder ob es hier angetrieben worden ist - es kann sich unmöglich um die Besatzung handeln, denn die Männer hätten sich bestimmt nicht in dieser versammlungsmäßigen Ordnung zum Sterben auf das Kielschwein gesetzt.“ „Wahrscheinlich nicht“, sagte Dan O'Flynn und legte die Stirn in Falten. „Aber könnte sie nicht eine Seuche hingerafft haben? Ich meine natürlich, nachdem das Schiff hier angetrieben wurde. Es gibt doch genug Krankheiten, die schon ganze Schiffsbesatzungen ausgelöscht haben.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Dan. Wir haben zwar schon miterlebt, was Krankheiten wie Skorbut oder das berüchtigte Wechselfieber alles anrichten können, aber in diesem Fall
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glaube ich nicht an so etwas. Wie die Männer hier sitzen, müßten sie im Fall einer Seuche , alle auf einmal gestorben sein. Und das ist sehr unwahrscheinlich.“ „So ist es“, ließ sich nun Ed Carberry vernehmen. „Das würde bedeuten, daß sich immer der Nächste, der mit dem Sterben an der Reihe war, zu den bereits Toten auf das Kielschwein gesetzt hätte, um die Schar zu vergrößern. Nein, Sir, so was gibt es nicht.“ „Warum eigentlich nicht?“ bohrte Dan O'Flynn weiter. „Wenn einer gestorben ist, kann er doch von den noch Lebenden einfach zu den Toten gesetzt worden sein.“ „Theoretisch schon“, sagte Hasard. „Aber praktisch wohl kaum. Die Überlebenden hätten mit Sicherheit die Toten begraben oder der See übergeben, statt sie in das Wrack zu setzen. Wenn man bedenkt, wie schnell in diesen feuchten und heißen Gegenden der Zerfall einer Leiche eintritt, hätten sie sich damit erst recht Seuchen auf den Hals geladen. Der Gedanke dürfte also nicht haltbar sein, Dan.“ Der junge O'Flynn wußte darauf im Moment keine Antwort. Was Hasard da sagte, klang logisch und war nicht von der Hand zu weisen. Ferris Tucker, der bis jetzt schweigsam und mit fachmännischem Blick die kläglichen Überreste der Galeone gemustert hatte, räusperte sich und fuhr sich nachdenklich durch den dichten roten Haarschopf. „Eure Überlegungen mögen ja alle mehr oder weniger richtig sein“, sagte er. „Aber es gibt noch eine weitere Version. Nehmen wir einmal an, es handelt sich bei diesen Gerippen um Schiffbrüchige. Könnten sie hier nicht von irgendwelchen Buschmännern oder Indianern überfallen worden sein? Vielleicht hat man sie mit den berüchtigten Giftpfeilen aus dem Hinterhalt getötet und dann die Leichen einfach in das Schiff gesetzt. Das wäre doch auch eine Möglichkeit.“ „Ho!“ rief der Profos. „Unser Holzwurm ist ganz schön schlau. Und ich fresse die dickste Taurolle, wenn es nicht so ist, wie er eben gesagt hat.“
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„Na, dann guten Appetit, Ed“, erwiderte Hasard lächelnd. „Meiner Meinung nach kannst du gleich damit beginnen. Schau dir doch mal die Gerippe etwas näher an. Fällt dir da nichts auf?“ Verdutzt trat der Profos näher und tastete die Skelette mit den Augen ah. „Nun ja“, sagte er dann mit wesentlich leiserer Stimme. „Die Kerle scheinen alle ein wenig klein geraten. Zumindest kleiner als wir. Aber wenn es Dons waren, dann ist es ja kein Wunder. Habe ich nicht schon immer gesagt, daß es Zwerge sind?“ „Nun bleib aber sachlich, Ed“, sagte Hasard. „Es gibt in jedem Volk kleine und große Menschen oder doch zumindest solche, die kleiner und solche, die etwas größer geraten sind. Aber sehen die hier nicht fast alle gleich groß aus?“ „Genau genommen schon“, erwiderte Ed Carberry unbehaglich und schnitt ein Gesicht, als habe er sich soeben vorgestellt, wie der Kutscher in seiner Kombüse die größte Taurolle für ihn gar kochte. „Meinst du...“ Der Kapitän der „Isabella“ nickte. „Ja, es sieht ganz danach aus, als handele es sich um die Gerippe einer kleineren Rasse. Vielleicht um Buschmänner oder Indianer. Nur fragt mich nicht, wie die in das Wrack gelangt sind. Einen tieferen Sinn kann ich auch in dieser Theorie nicht erkennen.“ Die Männer blickten sich an, und ihren braungebrannten, wettergegerbten Gesichtern war deutlich anzusehen, wie es hinter ihren Stirnen arbeitete. Aber niemand schien zur Zeit eine Patentlösung für das Rätsel zu finden, vor dem sie standen. So gingen sie daran, die nähere Umgebung des. Wracks abzusuchen. „Was mag nur mit der Beplankung geschehen sein?“ fragte Dan O'Flynn den Schiffszimmermann. Doch auch Ferris Tucker zuckte mit den Schultern. „Wir wissen nicht, in welchem Zustand das Wrack hier angetrieben worden ist“, sagte er. „Was noch übrig geblieben war, kann nach langer Zeit verrottet sein. Aber natürlich kann es auch von Indianern
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weggetragen worden sein. Eigentlich sieht es mir mehr nach dieser Möglichkeit aus.“ „Du meinst, es gibt hier in der Nähe Indianer oder Buschmänner?“ Dan hatte sich plötzlich kerzengerade aufgerichtet, als erwarte er jeden Moment einen Angriff aus dem Hinterhalt. „Weiter landeinwärts mit Sicherheit“, erwiderte Ferris Tucker. „Hasard kann schon recht haben mit seinen Überlegungen, auch wenn wir im Moment noch keinen Sinn darin sehen.“ Noch während die Männer von der „Isabella“ die Schiffsreste untersuchten, stieg die Flut und setzte die Sandbank allmählich unter Wasser. Der Wasserspiegel erhöhte sich jedoch nur um zwei Handbreit, so daß das Wrack der Galeone an seinem Platz liegen blieb. Gleichzeitig waren einige dunkle Wolken aufgezogen, die sich plötzlich schleusenartig öffneten. Ein kurzer, aber warmer Regenschauer prasselte nieder und hüllte die Umgebung in einen trüben, grauen Schleier. Die Männer konnten kaum noch die Konturen der „Isabella“ erkennen. Kaum hatte der Regen mit der in den Tropen üblichen Plötzlichkeit wieder aufgehört, begann bereits die Dämmerung hereinzubrechen. „Schluß für heute!“ rief Hasard und winkte seinen Männern zu. „Es wird bald dunkel sein. Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt zurückpullen. Es dürfte keinen großen Spaß bereiten, in der Dunkelheit von Kaimanen angegriffen zu werden. Wir können uns morgen früh die Umgebung des Wracks noch einmal näher ansehen. Vielleicht finden wir dann des Rätsels Lösung.“ Wenig später saßen die vier Männer im Beiboot und pullten zur „Isabella“ zurück, begleitet von den Geräuschen und Stimmen, die unablässig aus dem dichten Dschungel drangen. Dan O'Flynn drehte sich noch einmal um und warf einen Blick auf das Wrack, als habe er erwartet, daß sich die stumme Gesellschaft der Toten von ihren Plätzen erhebe.
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Die dickbauchige Galeone, deren Name „Esmeralda“ kaum noch zu erkennen war, steuerte eine kleine, versteckte Bucht an. Ihr Kapitän, Alfredo Fernandez, hatte auch allen Grund, vorsichtig zu sein, denn seit zwei Jahren wurde er wegen blutiger Überfälle auf spanische Handelsfahrer von den eigenen Landsleuten gejagt. Die „Esmeralda“, die auf Nordwestkurs an der südamerikanischen Atlantikküste entlanggesegelt war, fiel auf Befehl ihres Kapitäns nach Backbord ab und lief in die Bucht ein. Die Segel wurden aufgegeit. Mit der restlichen Fahrt trieb die Galeone nahe an eine langgestreckte Sandbank heran, hinter der der Dschungel wie eine grüne Mauer emporwucherte. „Fallen Anker!“ brüllte Alfredo Fernandez. Gleich darauf klatschte der Buganker in das blaugrüne Wasser der Bucht. Fernandez sah man seinen Beruf nicht auf den ersten Blick an, zumindest im Gegensatz zu seinen Männern. Er liebte es, sich wie ein reicher spanischer Kaufmann zu kleiden. Sein hageres Gesicht mit der scharfkantigen Nase und das glatte, zurückgekämmte Haar verliehen ihm tatsächlich das Aussehen eines Edelmanns. Aber der bunt zusammengewürfelte Haufen, der an Bord der „Esmeralda“ fuhr, kennzeichnete die Galeone als das, was sie tatsächlich war: ein Piratenschiff. Seit mehr als zwei Jahren war Fernandez mit der „Esmeralda“ unterwegs, um Beute zu schlagen, wo er sie traf. Seit dieser Zeit war er der Kapitän des Schiffes, das vorher seine Aufgabe als Handelsfahrer erfüllt hatte. Fernandez hatte damals unter Kapitän Pedro Morena als erster Offizier gedient. Morena war ein beispielloser Geizkragen gewesen, dessen Tun und Denken nur von dem Gedanken an einen möglichst hohen Profit beherrscht worden war. Die Besatzung seines Schiffes hatte er wie Tiere behandelt — wie rechtlose, unnütze Sklaven, die kaum zu essen, aber viel zu arbeiten hatten.
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Aber nicht nur das war es gewesen, was Alfredo Fernandez dazu veranlaßt hatte, eine Meuterei anzuzetteln. Ihm war schließlich gleichgültig, ob die Besatzung satt zu essen hatte oder nicht. Als Offizier war er von diesem Problem ohnehin nicht berührt worden. Was ihn dazu getrieben hatte, Pedro Morena ein Messer in die Brust zu stoßen, war die Gier nach Macht, Ansehen und Reichtum gewesen. Deshalb hatte er zugestoßen, als sich die Gelegenheit geboten hatte und er sich der Unterstützung einiger Getreuer sicher gewesen war. Innerhalb kürzester Zeit war aus der „Esmeralda“ ein Piratenschiff geworden, das hinterhältig auf fette Beute lauerte. In letzter Zeit hatte er vorwiegend in der Karibischen See unter den Eingeborenen geraubt, gemordet und geplündert. Dazwischen hatte er sich mit spanischen oder portugiesischen Kauffahrern angelegt. Zuweilen sogar mit kleineren spanischen Schiffen, die im Auftrage Seiner Allerkatholischsten Majestät, König Philip II., unterwegs waren, um das, was sie bei den Eingeborenen des südamerikanischen Kontinents geplündert hatten, in die Heimathäfen zu bringen. Natürlich war das alles nicht spurlos an der „Esmeralda“ vorübergegangen. Einige Schäden waren jetzt noch deutlich am Rumpf und an den Aufbauten zu erkennen, zumal sie nur flüchtig ausgebessert worden waren. Aber auch die Besatzung des Piratenschiffes sah teilweise aus, als würde sie nur noch durch Flicken zusammengehalten. Dieser Schein trog jedoch, auch wenn es sich überwiegend um verwahrlost aussehende Gestalten der verschiedensten Nationalitäten handelte. Diese Männer waren zäh wie Piranhas, und man konnte ihnen auf eine Seemeile Entfernung ansehen, daß ihnen das Messer locker im Gürtel saß. Nur drei Männer der Mannschaft stammten noch aus der Zeit, in der die „Esmeralda“ ein Handelsschiff gewesen war und unter dem Befehl des geizigen Pedro Morena
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gestanden hatte. Die sechs übrigen waren nicht mehr am Leben. Vier davon hatten bei blutigen Enterkämpfen das Zeitliche gesegnet, und zwei hatte Alfredo Fernandez, der die Galeone mit eiserner Hand regierte, kurzerhand an der Großmarsrah aufknüpfen lassen, als der leise Verdacht entstanden war, daß sie auf eigene Faust agieren wollten, und zwar auf die gleiche Art und Weise, wie dies ihr Kapitän einst getan hatte. Einer der Männer, die mit Alfredo Fernandez noch unter Pedro Morena gefahren waren, war Alfonso Casal, damals Steuermann der „Esmeralda“. Der kleine, aber sehr kräftige und gefährlich aussehende Mann, war Fernandez sklavisch ergeben. Es war schwer zu erkennen, ob aus Bewunderung oder ganz einfach aus dem Druck heraus, unter dem er sich befand. Ihm gegenüber vermochte sich Fernandez mitunter als sehr großzügig zu erweisen, wahrscheinlich in dem berechnenden Bestreben, sich wenigstens die absolute Loyalität einiger weniger Männer zu erkaufen. Alfredo Fernandez winkte Alfonso, der jetzt die Position des Zuchtmeisters innehatte und zeitweilig auch als Steuermann fungierte, zu sich aufs Achterdeck. „Du weißt, um was es geht, Alfonso“, sagte er kurz. „Wir müssen unsere Lebensmittelvorräte ergänzen, und zwar möglichst um Früchte und Frischfleisch. Wir können nicht riskieren, die halbe Besatzung durch Skorbut zu verlieren. Das würde die Kampfkraft unseres Schiffes zu sehr schwächen.“ „Natürlich, Senor Capitan“, sagte Alfonso. „Das ist völlig klar. Ich dachte mir das schon, als Sie Befehl gaben, diese Bucht anzulaufen. Wie viele Männer soll ich an Land schicken?“ „Ich denke, es genügen sechs. Wir lassen ihnen einen ganzen Tag Zeit. Es ist noch kurz nach Tagesbeginn. Bis zum Einbruch der Dunkelheit können Sie einiges heranschaffen und im Boot lagern. Dort drüben im Dschungel und etwas weiter landeinwärts gibt es genug Früchte und
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auch jagdbares Wild. Sie sollen zusehen, daß sie auch einen oder zwei Tapire erwischen, die sind im Fleisch besonders ergiebig.“ „Selbstverständlich, Senor Capitan“, erwiderte Alfonso Casal. Aus seinem Verhalten Alfredo Fernandez gegenüber hätte man schließen können, daß es sich bei diesem nicht um einen Piratenkapitän, sondern um einen echten spanischen Grande handele. „Die Kerle sollen sich gut bewaffnen“, fuhr Fernandez fort. „Wir werden sie bei Einbruch der Dunkelheit wieder an Bord nehmen. Inzwischen werden wir hier die Zeit nicht nutzlos vertrödeln, sondern einige Meilen weiter nordwestlich die große Bucht anlaufen, die Baja de Marajo genannt wird. Dort sind mehrere große und kleine Flußmündungen, und wir können einige Fässer Süßwasser aufnehmen. Vielleicht schließen wir sogar die Bekanntschaft anderer Reisender, wer weiß!“ Alfonso Casal, der Profos der „Esmeralda“ grinste unverschämt. Er wußte, was sein Kapitän damit meinte. Die Besatzung mußte schließlich auf Trab gehalten werden, denn in den letzten sieben Tagen hatten die Männer genug gefaulenzt. Es wurde Zeit, daß sie mal wieder auf Vordermann gebracht wurden. Und an Spaniern und Portugiesen gab es in dieser Gegend keinen allzu großen Mangel. Augenblicke später war die Stimme Alfonsos bis in den letzten Winkel der „Esmeralda“ zu vernehmen. „Los, hopp, hopp, ihr faulen Säcke! In den letzten Tagen habt ihr euch lange genug als nutzlose Fresser amüsiert. Jetzt geht's mal wieder an die Arbeit. Fiert das Beiboot ab, nehmt genügend Waffen mit und seht zu, daß ihr was Brauchbares auftreibt. Bei Einbruch der Dunkelheit werdet ihr wieder an Bord genommen. Miguel, du hast die Verantwortung. Entfach den fünf anderen mal ein wenig Feuer unter das verlängerte Rückgrat.“ Die fünf dafür vorgesehenen Männer unter der Führung von Miguel Camaro, einem vierschrötigen, brutalen Typ, der bereits
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sein halbes Leben auf Piratenschiffen verbracht hatte, verließen wenig später die „Esmeralda“ und pullten zur Sandbank hinüber. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet mit Musketen, Pistolen, Buschmessern und Säbeln. Und sie verstanden auch, mit diesen Waffen umzugehen, denn sie gingen nicht das erste Mal an Land, um im Dschungel die Lebensmittelvorräte ihres Schiffes zu ergänzen. Zuweilen war es ihnen sogar gelungen, andere die Hauptarbeit für sich tun zu lassen, indem sie kleinere Ansiedlungen von Indianern und Buschmännern überfallen und das mitgenommen hatten, was die Eingeborenen gesammelt und erjagt hatten. Kaum hatte der Landtrupp das Beiboot auf die Sandbank gezogen, da hörten sie wieder das Gebrüll Alfonso Casals, der den Rest der Mannschaft auf Trab brachte. Sie kannten ihren Kapitän und auch seinen Profos. Sie wußten und hatten auch schon am eigenen Leibe erfahren, daß es für gewöhnlich besser war, sich nach diesen Männern zu richten, zumal es im Endeffekt immer wieder genug Beute für alle gab. Aber auch die neunschwänzige Katze an Bord der „Esmeralda“ hatte bisher wahrhaftig nicht als Zierstück gedient. Es dauerte nicht lange, und die „Esmeralda“ hatte die kleine, verschwiegene Bucht wieder verlassen und ihren ursprünglichen Kurs aufgenommen. Eine leichte Brise aus Südost trieb sie auf die breite Baja de Marajo zu, in die sie bald darauf hineinsegelte. Alfredo Fernandez, der gerade über eine alte, zerknitterte Seekarte gebeugt war, fuhr hoch, als der Mann im Ausguck plötzlich losbrüllte. „Deck!“ schrie er. „Senor Capitan! Ich sehe ein Schiff Backbord voraus.“ „Was ist es für ein Schiff?“ rief der Kapitän zurück. „Los, verdammt, du Dreckskerl, reiß deine Augen auf!“ Gleichzeitig griff er nach dem Spektiv, um die Optik entsprechend einzustellen.
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„Noch schlecht zu erkennen“, antwortete der Mann im Großmars, „scheint aber eine Galeone zu sein.“ „Halte die Augen weiterhin offen“, befahl Alfredo Fernandez und rief augenblicklich seinen Profos, Alfonso Casal, zu sich aufs Achterdeck. Eigentlich war Casal viel mehr als nur der Profos und zeitweilige Steuermann. Er war für Fernandez das Mädchen für alles. Nicht zuletzt deshalb, weil der Kapitän diesem Mann wenigstens halbwegs trauen konnte. Fernandez hatte gerade den Kieker ans Auge gesetzt, als Alfonso das Achterdeck betrat. „Es ist eine Galeone“, sagte er. „Ein Dreimaster, sehr groß und schlank gebaut. Die Nationalität ist noch nicht zu erkennen. Wahrscheinlich ein Spanier, vermute ich wenigstens. Wenn ich das richtig sehe, ankert das Schiff in der Nähe eines merkwürdigen Wracks, das am Ufer liegt. Entweder hat den Kapitän die Neugier dorthin getrieben, oder aber sie sind ebenfalls scharf auf Vorräte und Trinkwasser.“ „Sehr schön, Senor Capitan“, sagte Alfonso Casal, und in seine kleinen, schwarzen Schweinsäuglein trat ein gefährliches Glitzern. „Wollen wir wieder ein bißchen Abwechslung in die Mannschaft bringen?“ Alfredo Fernandez nahm das Spektiv vom Bug und grinste Alfonso an. „Warum nicht?“ sagte er. „Bestimmt hat diese Galeone einiges in ihren Frachträumen, für das wir gute Verwendung haben. Also, gehen wir ans Werk. Schließlich wollen wir nicht dem lieben Gott den Tag stehlen. Sollte uns das Schiff einigermaßen unversehrt ins Netz gehen, könnten wir — wer weiß — vielleicht noch etwas damit anfangen. Es ist ein stolzes Schiff und gut gebaut. Scheint ein schneller Segler zu sein.“ „Das will nichts heißen, Senor Capitan.“ Alfonso dienerte. „Wir haben schon andere Brocken geschafft. Ich muß gestehen, es juckt mir schon in den Händen.“ „Mir auch, Alfonso“, sagte Alfredo Fernandez mit einem entschlossenen
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Gesichtsausdruck. „Außerdem sind wir in der besseren Ausgangsposition und haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Das Schiff scheint im flachen Wasser vor Anker zu liegen und dürfte damit weit weniger manövrierfähig sein als wir. Auf was warten wir noch?“ Fernandez, der Piratenkapitän, rollte die Seekarte zusammen. Gleich darauf brachte er mit Unterstützung seines Profos hektisches Leben in seine Mannschaft, die sich lebhaft ausmalen konnte, was die plötzlichen Aktivitäten zu bedeuten hatten. Wenig später klirrten Waffen, und nackte Fußsohlen trampelten über das Deck. Jeder Handgriff, den die verwegenen Gestalten taten, saß am richtigen Platz. Sie waren Piraten und verstanden schließlich ihr Handwerk. In kurzer Zeit war die dickbauchige, aber immer wieder überraschend wendige „Esmeralda“ klar zum Angriff. 4. Die Nacht hatte wenigstens einen Hauch von Abkühlung gebracht, und der neue Tag war mit einer leichten, wohltuenden Brise heraufgezogen. Wie ein glutroter Ball war die Sonne hinter der Kimm aufgetaucht. Schon wenig später hatte sie wieder damit begonnen, die Luft über der Baja de Marajo aufzuheizen. Die „Isabella VIII.“ schwoite noch immer gemächlich an der Ankertrosse - zwei Kabellängen von der Flußmündung entfernt, an der das Wrack, mit dem sie gestern auf höchst ungemütliche Art Bekanntschaft geschlossen hatten, auf einer Sandbank lag. In den Nachtstunden hatte sich manch einer der Männer an Bord, wenn er sich nicht gerade mit den lästigen Moskitos herumgeschlagen hatte, den Kopf über die Bedeutung der menschlichen Skelette zerbrochen, die dort drüben in den traurigen Schiffsresten auf dem Kielschwein hockten. Aber auch die Nacht hatte dieses Geheimnis nicht entwirren können, und so beschäftigte das ungelöste
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Rätsel nach wie vor die Mannschaft der „Isabella“. Noch während des kräftigen Frühstücks, das der Kutscher zubereitet hatte, war das Wrack Mittelpunkt der Gespräche. „Ein Wrack bedeutet nichts Gutes, Skelette schon gar nicht“, murmelte der alte O'Flynn. „Habe ich nicht gestern erst gesagt, daß es zwischen Himmel und Erde ...“ „ ... Dinge gibt, die uns ganz fürchterlich auf den Magen schlagen, wenn man darauf wie auf zähem Stiefelleder herumkauen muß“, unterbrach ihn der Profos und warf dem Kutscher einen schrägen Blick zu, als könnte der etwas dafür, daß das Brot infolge des feuchten Klimas etwas zäh geworden war. Im selben Atemzug vollzog er mit einem klatschenden Geräusch die Hinrichtung zweier Moskitos, weil sie es gewagt hatten, sich auf seinem linken Unterarm niederzulassen. Während der Kutscher vorzog, die Bemerkung des Profosses mit Mißachtung zu strafen, konnten sich einige ein Grinsen nicht verkneifen. Stenmark, der Schwede, mußte dabei den Mund wohl um einige Zoll zu weit verzogen haben. Jedenfalls verschluckte er sich und begann heftig zu husten. „Ho, jetzt grassiert auch noch die Schwindsucht an Bord“, kommentierte der Profos und hieb dem blonden Stenmark seine Pranke in gut gemeinter Weise so kräftig auf den Rücken, daß dieser beinahe mit der Nase in die Muck getaucht wäre, die er krampfhaft in der linken Hand hielt. Auf jeden Fall war der Hustenanfall sofort vorüber, und die Männer begannen schallend zu lachen. Old O'Flynn, dessen Rede so jäh unterbrochen worden war, wollte gerade wieder die Stimme erheben, aber da sorgte sein Sohn Dan, der den Moses Bill im Ausguck abgelöst hatte, dafür, daß er eine weitere tiefsinnige Bemerkung verschlucken mußte. „Deck!“ rief Dan aus dem Großmars. „Eine Galeone, dick wie eine Seekuh, segelt in die Bucht!“
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Die Männer horchten auf, und der Seewolf griff sofort zum Spektiv. „Ist es ein Don?“ fragte Ben Brighton. „Ich weiß nicht“, erwiderte Hasard. „Das Schiff ist noch etwas zu weit weg. Ein Name oder eine Flagge ist noch nicht zu sehen. Aber es hält direkt auf uns zu. Man muß uns natürlich ebenfalls gesehen haben.“ Auch Ben Brighton hatte inzwischen zum Kieker gegriffen. „Die Galeone sieht zwar nicht unbedingt nach einem Piratenschiff aus, aber das muß nichts heißen“, stellte er dann fest. „Allerdings rechne ich eher damit, daß es ein Spanier ist.“ Hasard nickte. „Wir stellen uns auf jeden Fall auf eine Begegnung ein, um keine unliebsame Überraschung zu erleben. Hievt den Anker ein und setzt die Segel!“ brüllte er dann von Achterdeck. „Und klar Schiff zum Gefecht!“ Hasard wollte so rasch wie möglich aus dem flachen Wasser heraus, in dem die „Isabella“ vor Anker gegangen war, denn hier wäre das Schiff im Ernstfall wenig manövrierfähig. Augenblicklich geriet Leben unter die Männer an Bord. Aber kein Handgriff und kein Schritt, die getan wurden, waren unnütz. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Alles, was die Männer bis zum Augenblick noch bewegt hatte, war in diesem Moment zur Nebensache geworden. Niemand interessierte sich noch für das Wrack, das dort drüben auf der Sandbank lag, und niemand dachte noch über die rätselhaften Skelette nach. Was im Moment zählte, war die Galeone, die hinter ihnen aufgetaucht war und von der man zunächst annahm, daß es sich um ein spanisches oder portugiesisches Schiff handele. Diese beiden Nationalitäten waren in dieser Gegend jedenfalls am häufigsten anzutreffen. Pete Ballie, der Rudergänger, stand bereits im Ruderhaus, um die „Isabella“ so schnell wie möglich aus den flachen Gewässern herauszusteuern. Der Waffen- und Stückmeister, Al Conroy, gab gerade den Befehl, die Stückpforten zu
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öffnen. Bill, der Moses, half dem Kutscher, die Kupferbecken mit den glühenden Holzkohlen aus der Kombüse zu holen und verteilte sie sofort auf die Geschütze. Die beiden „Rübenschweinchen“, die Söhne des Seewolfs, die sich längst zu brauchbaren Schiffsjungen entwickelt hatten, waren eifrig damit beschäftigt, Sand auf der Kuhl auszustreuen, um den Füßen der Männer festen Halt auf den Decksplanken zu geben. Während sich der Seewolf mit seinem Radschloß-Drehling und dem Schnapphahn-Revolverstutzen bewaffnete, um notfalls zahlreiche Schüsse zur Verfügung zu haben, besetzten Ben Brighton, Ed Carberry, der Kutscher und Old O'Flynn die Drehbassen. Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, wandte sich der von ihm erfundenen Schleudervorrichtung zu, die dem Abfeuern der verheerenden Flaschenbomben diente, und Batuti und Big Old Shane, der ehemalige Schmied der Feste Arwenack, spannten ihre Bogen, um damit notfalls ihre gefürchteten Brand- und Pulverpfeile auf den Gegner abzuschießen. Auch die übrigen Männer waren auf Stationen: Smoky, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies. Dan O'Flynn, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan, Will Thorne und Stenmark. Die Siebzehnpfünderculverinen waren längst ausgerannt, als die „Isabella“, die den letzten Fetzen Tuch gesetzt hatte, auf die dickbauchige Galeone zurauschte. Ben Brighton setzte für einen Augenblick das Spektiv ab. „Sie sind ebenfalls klar zum Gefecht!“ rief er. „Ihre Stückpforten sind hochgezogen, aber sie geben sich nicht zu erkennen.“ „Ist auch nicht mehr nötig“, erwiderte der Seewolf. „Schau dir mal die Kerle an Bord etwas genauer an. Ich fresse ein Pulverfaß, wenn das keine Piraten sind! Ed“, setzte er dann mit lauter Stimme hinzu, „begrüße die Schnapphähne mit einem Warnschuß !“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte der Profos zurück. „Wir werden ihnen die Haut in Streifen von ihren karierten Affenärschen ziehen!“
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Aber bevor er den Befehl des Seewolfs ausführen konnte, begann die Geschütze des Piratenschiffes Feuer und Eisen zu spucken. * Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte den Dschungel rasch in einen kochenden, dampfenden Kessel verwandelt. Das Atmen wurde den sechs Männern, die von der „Esmeralda“ an Land gesetzt worden waren, um die Lebensmittelvorräte zu ergänzen, zur Qual. Aber sie waren rauhe Burschen, die bereits einiges gewohnt waren. Die meisten von ihnen hielten sich nicht das erste Mal im Dschungel auf und wußten, wie man sich hier zu verhalten und vor was man sich in acht zu nehmen hatte. Schon seit einigen Stunden war der kleine, schwer bewaffnete Trupp unter der Führung des breitschultrigen Miguel Camaro unterwegs. Die verwegen aussehenden Männer hatten auch schon Erfolg gehabt. Sie hatten bereits ein kleines Wasserschwein erbeutet und es zusammen mit Maniok, Bananen und anderen Früchten zum Beiboot gebracht und dort mit einem Stück Segeltuch abgedeckt. Dann waren sie wieder in den Dschungel marschiert. War zwischen ihrem Kapitän, Alfredo Fernandez, und dem Profos nicht von einem oder zwei Tapiren die Rede gewesen? Sie wollten jedenfalls, soweit das möglich war, die Wünsche des Kapitäns befolgen, denn manchmal war er unberechenbar und brutal. Aber sie wußten auch seine Großzügigkeit zu schätzen, wenn fette Beute erworben worden war. Schwitzend bahnten sich die Männer einen Weg durch den stellenweise sehr dichten Dschungel. Oft mußten sie mit den großen Buschmessern einen Pfad durch das dichte Gestrüpp hauen, um voranzugelangen. Die Schläge ihrer Buschmesser gingen zumeist in dem Geschrei der Affen und Vögel unter. Schon mehrmals waren sie erschreckt zusammengefahren, als sich plötzlich ein Schwarm bunter Papageien
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über ihnen aus dem. Geäst eines Baumes erhoben und laut kreischend davongeflattert war. Man mußte schon auf der Hut sein, in dieser tiefen, unerforschten Wildnis, in der tödliche Gefahren hinter jedem Baum und jedem Strauch lauern konnten. Tausend Stimmen aus den verschiedensten Richtungen übertönten ein rechtzeitiges Wahrnehmen etwaiger Gefahren. „Können wir nicht mal eine Pause einlegen, Miguel?“ fragte Jose, ein kleiner, drahtiger Mann mit schwarzem Bart und einer breiten Narbe über dem linken Auge. „Verdammt, wir sind doch keine Sklaven! In dieser ekelhaften Hitze löst man sich ja fast auf. Dazu noch diese elenden Stechmücken.“ „Wir haben unseren Auftrag noch nicht erfüllt“, erwiderte Miguel Camaro. „Wir brauchen noch wenigstens ein bis zwei Tapire, sonst wird der Alte wild. Ausruhen könnt ihr hinterher an Bord, wenn's dort gerade nichts Besseres zu tun gibt.“ „Aber wir haben doch noch mehr als einen halben Tag vor uns.“ „Mag sein“, sagte Miguel unnachgiebig. „Aber die Beute dürfte nicht gerade leicht zu transportieren sein. Sie bis zu unserem Boot zu schaffen, wird wesentlich länger dauern, als nur ein Fußmarsch durch den Busch. Ganz davon abgesehen, daß wir bis jetzt noch gar nichts erbeutet haben. Auch das kann noch eine Weile dauern. Sollten wir vorzeitig bei unserem Boot sein, ich meine, noch vor der ,Esmeralda`, dann können wir uns immer noch auf die faule Haut legen. Aber erst ist die Arbeit dran!“ Die Männer schnitten mürrische Gesichter und zogen es vor, den Mund zu halten. Nach einer Weile ließ sich Miguel Camaro wieder vernehmen. „Wenn wir nicht auf Indianer stoßen, müssen wir die Arbeit selber erledigen. Hier in der Nähe haben wir das Wasserschwein erwischt. Also muß sich irgendwo in dieser Gegend auch Wasser befinden. Dort werden wir auch auf Tapire stoßen, denn die halten sich ja meist in Wassernähe auf. Am besten, wir teilen uns hier in zwei kleine Gruppen.
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Wer zuerst auf Wasser stößt, gibt zwei Musketenschüsse ab.“ Doch die Männer kamen nicht mehr dazu, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ein lautes Rascheln und Knacken im Gehölz, ein Trampeln und Rumoren ließ sie plötzlich zusammenfahren. Die Geräusche mußten ganz aus der Nähe stammen. Sofort verstummte das Gespräch der Piraten. Mit hastigen Griffen brachten sie ihre Musketen in Anschlag. „Kein Wort mehr“, sagte Miguel mit leiser Stimme. „Mir nach!“ Rasch folgten die Männer ihrem Anführer durch das Unterholz, bis sich nach wenigen Schritten eine große, nur mit niedrigen Büschen und Sträuchern bewachsene Lichtung vor ihnen auftat. Nur vereinzelt ragte der Stamm einer Chonta-Palme in den Himmel. Zu ihrer Rechten fiel die Lichtung etwas ab, bis hin zu einem breiten Urwaldbach, der sich weiter hinten, irgendwo im Dickicht, verlor. Aber nicht das war es, was die sechs Piraten von der „Esmeralda“ wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Es war vielmehr das Geschehen, das sich vor ihren Augen auf der Lichtung abspielte. Zwei merkwürdige Tiere liefen durch das Gestrüpp. Die Körper waren plump und außerdem hatten die Tiere lange und bewegliche Schnauzen und zierliche Füße an dünnen Beinen. Sie waren nicht viel größer als Schweine und rannten in panischer Angst durch das Gestrüpp. Es waren unverkennbar Tapire, jene Dschungelbewohner, hinter denen die Männer der „Esmeralda“ her waren. Die beiden Tapire hatten die Richtung auf den breiten Urwaldbach eingeschlagen, weil sie meist, wenn sie eine drohende Gefahr bemerkten, dem Wasser zustrebten. Und jetzt sahen die Piraten auch, was die beiden Tapire so in Panik versetzt hatte. Es waren fünf kleine, braune Gestalten mit langen blauschwarzen Haaren. die außer einer dünnen Schnur um den Leib nackt waren und von zwei Seiten auf die fliehenden Tiere zustürmten. In ihren Händen trugen sie lange Bambusrohre.
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„Halt!“ zischte Miguel Camaro. „Das sind Indianer. und die kleinen, braunen Kerle sind hinter den Tapiren her. Seid vorsichtig! Die langen Bambusdinger, die sie in den Händen haben, sind nicht so harmlos, wie sie aussehen. Es sind Blasrohre, mit denen sie ihre vergifteten Pfeile abschießen. Wenn ein solcher Pfeil auch nur die Haut ritzt, muß das Opfer qualvoll sterben.“ „Warum erzählst du das, Miguel?“ flüsterte der kleine Jose. „Hältst du uns für blöd? Wir sind doch nicht das erste Mal im Dschungel, und mit Indianern hatten wir schon einige Male zu tun. Meinst du, wir wissen nicht, wie gefährlich diese Waffe ist?“ „Sei still jetzt!“ erwiderte Miguel mit zornigem Gesicht. „Sancho und Ibrahim. der Türke, sind das erste Mal mit uns auf Jagd. Es schadet nicht, wenn sie rechtzeitig erfahren, daß sie vorsichtig sein müssen.“ Die beiden Tapire begannen Haken zu schlagen. Aber auch die fünf braunhäutigen Indianer waren flink wie Katzen. Sie verstanden es, die Tapire einzukreisen und rückten so immer näher an sie heran. Der erste stoppte bereits seine Schritte und hob das gefährliche Blasrohr an den Mund. Es war bestimmt länger als zwei Yards. Da zerschnitt die Stimme Miguels die Stille. „Los, Jose, leg die Muskete an! Du zielst auf das erste Tier und ich auf das zweite. Die kaufen wir uns rechtzeitig. Ihr anderen behaltet die Indianer im Auge. Schießt nicht auf die Tiere, sondern spart euch die Kugeln für die kleinen, braunen Teufel auf. Feuer, Jose!“ Zwei Schüsse krachten. Das Tier, das sich Miguel Camaro vorgenommen hatte, bäumte sich kurz auf und ging zu Boden. Der andere Tapir jedoch rannte unbeirrt weiter und hatte schon fast das Wasser erreicht. „Verdammt!“ zischte Miguel Camaro. „Warum hast du nicht besser gezielt? Hast du keine Augen im Kopf? Oder hast du vielleicht Schiß vor den Indianern?“ Jose sagte nichts, warf aber Miguel einen bösen Blick zu. Für einen Streit oder auch
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nur einen kurzen Wortwechsel wäre jetzt auch keine Zeit gewesen. Als die beiden Schüsse über die Lichtung gepeitscht waren, suchte eine Schar Wollaffen mit lautem Geschrei das Weite. Die kleinen, braunen Männer mit den langen, schwarzen Haaren blieben plötzlich wie angewurzelt stehen. Für einen Moment waren sie starr vor Schreck, denn sie hatten während der Tapirjagd nicht auf ihre Umgebung geachtet. Aber der Schreckmoment war nur sehr kurz. Dann geriet plötzlich wieder Leben in die nackten Gestalten. Wie auf Kommando drehten sie sich um und hetzten auf das Uferdickicht des breiten Urwaldbaches zu. „Los, Leute, nur nicht einschlafen!“ brüllte Miguel Camaro. „Kauft euch die Burschen, bevor sie dort irgendein Boot erreichen und verschwinden. Sie können uns das Fleisch des Tapirs zur Bucht tragen. Darüber wird sich mancher von euch bestimmt freuen. Auf, ihnen nach!“ Mit lauten Flüchen nahmen die sechs Piraten die Verfolgung der Indianer auf. Jose, der wohl meinte, die vorausgegangene Schlappe wieder ausgleichen zu müssen, stoppte plötzlich seine Schritte, ging in die Knie, legte erneut an und schoß. Ein Feuerstrahl fuhr aus dem Lauf der Muskete, und Pulverdampf wolkte hinterher. Im selben Augenblick begann einer der Indianer zu taumeln, stürzte zu Boden und wollte sich wieder aufrappeln, blieb dann aber still liegen. Jose hatte ihn erwischt. Der Pirat ging aus der Hocke und lief weiter. Einem seiner Kameraden drückte er noch während des Laufens die leergeschossene Muskete in die Hand. „Lade sie nach!“ rief er. „Und gib deine her!“ Er wartete gar nicht erst ab, sondern riß Ibrahim, dem Türken, die Waffe aus der Hand. „Ich werde mir den nächsten kaufen. Paß mal auf, wie man das erledigt!“
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Wieder stoppte er und riß die Muskete hoch, um zu zielen. Da trat eine unerwartete Wende ein. Die braunen Männer hatten das Ufer des Baches erreicht und zogen blitzschnell ein langes, schmales Boot aus dem Dickicht. Drei davon drehten sich plötzlich um, hoben die langen Blasrohre, und dann zischten drei tödliche Pfeile den Verfolgern entgegen – völlig still und lautlos, ohne Krachen und Pulverdampf. Zwei der kleinen Pfeile, deren Spitzen man in irgendein hochgiftiges Gebräu getaucht hatte, verfehlten ihr Ziel. Sie verloren sich irgendwo im Gebüsch. Aber einer der Pfeile traf, und zwar Jose, der gerade den Hahn der Muskete durchziehen wollte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, verdrehte die Augen und ließ die Waffe fallen. Dann kippte er langsam zur Seite. Für einen Augenblick lag er still, dann begann sich sein Körper in Krämpfen zu winden. Es war gut für die anderen, daß sie sich im Moment ganz auf die flüchtenden Indianer konzentrieren mußten, sonst wäre ihnen das Blut in den Adern erstarrt, wenn sie den Todeskampf Joses miterlebt hätten. Die Indianer hatten es inzwischen geschafft, ihr langes, aber sehr leichtes Boot in das flache Wasser zu bringen. In Windeseile tauchten sie die Riemen ein und pullten los. Gleich darauf verschwanden sie in der Dunkelheit des dichten Blätterdaches, das über dem Bach zusammenwuchs. Die Kugeln, die die Piraten noch hinterherschickten, verfehlten ihr Ziel. Miguel Camaro war wütend und ließ eine Serie der lästerlichsten Flüche vom Stapel, als sie zu jener Stelle zurückgekehrt waren, an der Jose lag. Er war inzwischen tot. Mit weit aufgerissenen Augen lag er auf dem Rücken und blickte ins Leere. Betroffen sahen sich die Männer an. Hatten sie nicht noch vor wenigen Augenblicken über die Gefährlichkeit der Giftpfeile gesprochen? Und hatte nicht gerade Jose seinen Unmut darüber geäußert? Jetzt lag er da – mit gebrochenen Augen, deren
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Blick sich in der endlosen Weite des blauen Himmels verlor. „Fernandez wird toben“, sagte Miguel, „denn Jose war ein vielseitig verwendbarer Mann. Aber wir können es nicht mehr ändern. Da hätte er eben besser aufpassen müssen. Los, sehen wir zu, daß wir ihn notdürftig begraben. Und dann wird der Tapir ausgenommen und zum Beiboot getragen, verstanden? Und beeilt euch gefälligst, sonst kann es passieren, daß wir noch die ganze Meute auf den Hals kriegen.“ Sofort gingen die vier übrigen Männer an die Arbeit, nicht ohne von Zeit zu Zeit innezuhalten und verstohlene Blicke zum Waldrand hin-. überzuwerfen. * Die schweren Eisenkugeln, die das Piratenschiff abgefeuert hatte, verfehlten ihr Ziel nur um Haaresbreite. Zwei der Kugeln klatschten unmittelbar vor der Steuerbordseite der „Isabella“ ins Wasser und rissen hohe, gischtende Fontänen auf. „Laßt uns die passende Antwort geben!“ brüllte Philip Hasard Killigrew vom Achterdeck. „Feuer?“ Augenblicklich war in der stillen und scheinbar so friedlichen Baja de Marajo, in der einige Urwaldflüsse zusammenströmten und ihre ungeheuren Wassermassen in den Atlantik ergossen, die Hölle los. Kaum hatte der Seewolf den Schießbefehl erteilt, dröhnte der vielstimmige Schlachtruf seiner Crew zu dem angreifenden Piratenschiff hinüber. „Ar-we-nack–Ar-we-nack!“ tönte es aus rauhen Männerkehlen. Und im selben Atemzug sollten die Angreifer zu spüren kriegen, was dieser Schlachtruf zu bedeuten hatte. Die acht Siebzehnpfünderculverinen auf der Steuerbordseite der „Isabella“ brüllten los und stießen mit ungeheurer Wucht ihre Ladungen aus den Rohren. Die Culverinen rollten zurück, und grauschwarze Wolken von Pulverdampf zogen über die Kuhl.
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Während eine Kugel die Schmuckbalustrade auf dem Achterdeck des Piratenschiffes wegfegte und einen Trümmerregen auf das Wasser der Bucht niedergehen ließ, zerfetzte eine weitere Kugel den Besanmast und ließ den Angreifern die Holzsplitter um die Ohren fliegen. Ein drittes Geschoß schlug der Galeone, deren Name „Esmeralda“ nur mit Mühe zu entziffern war, ein Loch in die Bordwand, und zwar direkt unterhalb eines Geschützes. Laute Flüche und Wutgeschrei drang zu den Seewölfen herüber. Dazwischen ertönte ein erschreckter Ausruf, der an Bord der „Isabella“ deutlich zu verstehen war. „El Lobo del Mar! Das ist El Lobo de Mar, Senor Capitan“, brüllte eine Stimme auf Spanisch. Die Piraten mußten also begriffen haben, mit wem sie sich da angelegt hatten. Aber es blieb ihnen nur wenig Zeit, darüber weiter nachzudenken, denn Ed Carberry und der Kutscher hatten inzwischen die Lunten in die Zündlöcher je einer der beiden vorderen und achteren Drehbassen gestoßen. Unmittelbar darauf prasselte ein verheerender Regen aus Eisenstücken zu der dickbauchigen Galeone hinüber. Als Folge wies das Focksegel der „Esmeralda“ ein wüstes Lochmuster auf, und zwei Gestalten mit Stirnbinde und zerlumpten Leinenhosen schrien auf und gingen hinter dem Schanzkleid auf die Planken. Aber auch die Piraten waren inzwischen nicht untätig gewesen. Offensichtlich hatten sie ihre Geschütze inzwischen nachgeladen. Seit der überraschte Ausruf „El Lobo del Mar!“ die Besatzung des Piratenschiffes aufgeschreckt hatte, erreichten die Aktivitäten an Bord der „Esmeralda“ einen Zustand der Hektik. Dazu trugen sicherlich auch die geballten Ladungen bei, die ihnen die Seewölfe bis jetzt verpaßt hatten. Eine solch rasche und verheerende Reaktion hatten sie von der „Isabella“, die sie wahrscheinlich für ein spanisches
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Handelsschiff gehalten hatten, nicht erwartet. Trotzdem schienen sie nach wie vor entschlossen zu sein, den Kampf für sich zu entscheiden. Zum zweiten Male krachten die Geschütze des Piratenschiffes und schickten ihre Ladung zur „Isabella“ herüber. Diesmal zerfetzte eine Kugel teilweise die Balustrade, die die Back zum Galionsdeck hin abgrenzte. Eine weitere Kugel ließ den Profos der „Isabella“, der an einer achteren Drehbasse auf Station war, rasch den Kopf einziehen. Und diese Reflexbewegung war es wohl auch, die ihn vor ernsterem Schaden bewahrte. Die übrigen Geschosse waren zu kurz gesetzt und peitschten das Wasser in unmittelbarer Nähe der „Isabella“ auf. Noch während die Culverinen der „Isabella“ ausgewischt und nachgeladen wurden, begannen wieder die Drehbassen auf dem Vorder- und Achterdeck, die außer von Ed Carberry und dem Kutscher noch von Old O'Flynn und Ben Brighton bedient wurden, Feuerstöße zur „Esmeralda“ hinüberzuschicken. „Jawohl, zeigt es ihnen!“ schrie der Profos, der um Haaresbreite dem Verhängnis entgangen war. „Zeigt diesen Bilgengespenstern, was passiert, wenn man mit Eisenbröckchen nach uns wirft. Ho, Leute, drauf auf diese Kanalratten!“ Wenig später entlud sich auch seine Drehbasse wieder mit heftigem Krachen und einer Wolke von Pulverdampf. Schreie, die von dem Piratenschiff herüberdrangen, zeigten, daß der Feuerregen nicht ohne Folgen geblieben war. Die Löcher im Focksegel hatten sich inzwischen reichlich vermehrt. Ein wüstes Gebrüll in mehreren Sprachen war die Antwort. Gleich darauf gingen die Seewölfe in Deckung, um dem Metallsegen der beiden Piraten-Drehbassen zu entgehen. Die Geschosse richteten jedoch außer einigen geringfügigen Schäden am Besansegel nicht viel an. Der wilde Haufen an Bord der „Esmeralda“ mußte inzwischen nervös und hektisch geworden sein. Man nahm sich kaum noch die Zeit, ein Ziel anzuvisieren
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und brachte sich damit in eine Gefechtssituation, die den Seewölfen absolut fremd war. Die Männer an Bord der „Isabella“ kannten keine Kopflosigkeit. Jeder Handgriff, den sie taten, war überlegt, erprobt und sorgfältig abgewogen. Das war es, was sie ihren Gegnern voraushatten. Auch Big Old Shane und Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, hatten nur auf ein Zeichen des Seewolfs gewartet. Sofort schnellten die ersten beiden Pulverpfeile von den Sehnen ihrer Bogen und zogen eine Rauchspur hinter sich her. Die Wirkung blieb nicht aus. Augenblicke später bereits waren die Detonationen zu hören, gleich darauf züngelten an vielen Stellen der „Esmeralda“ kleine Flammen hoch. Aus der Hektik an Bord des Piratenschiffes entstand Wuhling. Erstaunte Rufe tönten über das Deck, und eine hohe Stimme brüllte nach Wasser. Gleich darauf konnte man beobachten, wie einige Männer über die Kuhl rannten und eine Pütz Wasser nach der anderen anschleppten, um das auflodernde Feuer zu löschen. Eine Entscheidung stand dicht bevor. Philip Hasard Killigrew rechnete damit, daß die Piraten, sobald sie das Feuer unter Kontrolle hätten, gewissermaßen in einem letzten Aufbäumen versuchen würden, die Isabella zu entern. Aber dem wollte er rechtzeitig einen Riegel vorschieben. „Feuer!“ tönte wieder die Stimme des Seewolfs über die Decks der „Isabella“. Der schwarzhaarige, fast sechs Fuß große Mann stand wuchtig wie ein Denkmal auf seinem Platz und beherrschte souverän die Lage. Nicht zuletzt diese eiserne Ruhe und Besonnenheit waren es, die immer wieder auf seine Männer übergriffen und sie selbst in den kniffligsten Situationen veranlaßten, Ruhe zu bewahren und mit Verstand vorzugehen. Seine sachkundige Führung und die Ergebenheit seiner Leute war es, was die Crew der „Isabella“ zu einer Mannschaft zusammengeschweißt hatte, die weder Tod noch Teufel fürchtete. Es war nicht von ungefähr, daß die englische Königin Elisabeth I. diesen
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Mann, der über einen Kaperbrief verfügte, zum Ritter geschlagen hatte. Philip Hasard Killigrew wußte diese Geste zwar zu schätzen, legte aber keinerlei Wert darauf, Sir Hasard genannt zu werden. Was er von seinen Männern erwartete, war keine kriecherische Ergebenheit, sondern eine aufrichtige Partnerschaft. Und die war stets auf der „Isabella“ zu finden, bis hin zum letzten Mannschaftsglied. Noch während eine Breitseite der „Isabella“ zu dem Piratenschiff hinüberbrüllte und verheerende Schäden anrichtete, gab der Seewolf den Befehl, hart nach Steuerbord abzulaufen, bis nur noch das Heck der „Isabella“ den Angreifern zugewandt war. Dann traten auf sein Zeichen hin noch einmal die achteren Drehbassen in Aktion, und das schien die Piraten wohl endgültig davon zu überzeugen, daß sie sich etwas zu viel vorgenommen hatten, als sie den schlanken Rahsegler in der Bucht von Marajo erblickt hatten. Weitere Schlappen konnten sie sich jedenfalls nicht mehr leisten. Gegen dieses englische Schiff, das – wie sie wohl erkannt hatten – unter dem Befehl des legendären „Lobo del Mar“, des Seewolfs, stand, konnten sie sich im Moment keinerlei Chancen mehr ausrechnen. Deshalb zögerten die verwegenen Gestalten an Bord der „Esmeralda“ auch keinen Augenblick, die Befehle ihres Kapitäns zu befolgen. „Heißt Blinde und Marssegel!“ brüllte eine Stimme so laut, daß sie auf der „Isabella“ zu hören war. Und die Seewölfe wußten sehr wohl, was dieser Befehl zu bedeuten hatte: Die Piraten gaben auf und suchten jetzt schleunigst ihr Heil in der Flucht. Wahrscheinlich befürchteten sie für ihr schwer angeschlagenes Schiff das Schlimmste. Ein zufriedenes Grinsen zog über die verschwitzten Gesichter der Männer an Bord der „Isabella“. Bis jetzt hatten sie im Eifer des Gefechtes die brütende Hitze, die über der Bucht und dem Dschungel lag, kaum wahrgenommen. Erst jetzt, da die
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Piratengaleone die Flucht ergriff und sie sich wieder etwas mehr auf sich selbst konzentrieren konnten, merkten sie, daß der Schweiß nicht nur in Rinnsalen und Bächen über ihre Körper lief, sondern in Strömen. Trotzdem hielten sie sich nicht zurück, dem fliehenden Seeräuberschiff noch ein lautes „Ar-we-nack“ hinterher zubrüllen. Nur hörte sich dieser Schlachtruf diesmal wie eine Trompete des Sieges an. Auch Ed Carberry, der bullige Profos der „Isabella“, zog ein zufriedenes Gesicht. „Ho, war das etwa nichts, Männer?“ rief er. „Der fetten ,Esmeralda` haben wir doch anständig was auf den Achtersteven gegeben. Diese verlausten Kakerlaken werden sich bestimmt nicht mehr in unserer Nähe blicken lassen. Wenn sie es trotzdem tun, dann werde ich jedem einzelnen von ihnen eigenhändig die Haut in ganz schmalen Streifen ...“ Der Rest der vom Profos angekündigten Zeremonie ging im Lachen der Seewölfe unter, die sofort damit begannen, auf der „Isabella“ die Spuren des kurzen Kampfes zu beseitigen. 5. Die Mittagszeit war nicht mehr fern, und die Sonne würde bald ihren höchsten Stand erreichen. Unbarmherzig verwandelte sie das Land, das nur achtzig Seemeilen südlich des Äquators liegt, in eine schwüle Dunstglocke. Auf der „Isabella“, der ranken Galeone der Seewölfe, war bereits kurze Zeit nach dem Gefecht mit den Piraten wieder Ruhe eingekehrt. Die meisten Schäden waren belanglos und würden sich rasch beseitigen lassen. Die Männer hatten sofort damit begonnen, nachdem die „Esmeralda“ schwer angeschlagen aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war. Es wäre ein Leichtes für den Seewolf gewesen, das fliehende Seeräuberschiff zu verfolgen und auf Grund zu schicken, aber gemäß seiner Auffassung hätte ein solches
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Verhalten, wenn kein zwingender Grund vorlag, den Regeln der Fairneß widersprochen. Die Piranhas hatten angegriffen, und ihr Angriff war kräftig zurückgeschlagen worden. Allein die panische Flucht der dickbauchigen Galeone war ein Beweis dafür, daß den Schnapphähnen vorerst jegliche Angriffslust vergangen war. Sofort nach dem Verschwinden der „Esmeralda“ hatte Hasard Befehl gegeben, zum ursprünglichen Ankerplatz zurückzukehren. Die Mannschaft der „Isabella“ wollte schließlich noch ein Rätsel lösen, das die Männer, nachdem das kurze Gefecht vorbei war, erneut zu beschäftigen begann – das Rätsel um die menschlichen Skelette in der wracken Galeone. Mittlerweile sahen sie eine Aufgabe darin, dieses Geheimnis zu lüften. Und davon wollten sie sich auch von der sengenden Hitze nicht abhalten lassen. Hasard ließ das Beiboot abfieren. Als Sir John, der Aracanga-Papagei, das sah, verließ er sofort die Vormarsrah und schwang sich zur Kuhl hinunter. Sein Ziel war die linke Schulter Ed Carberrys, mit dem ihn eine besonders enge, wenn auch manchmal rauhe Freundschaft verband. „An die Brassen!“ krächzte der Vogel. „Hopp, hopp, ihr lahmen Säcke!“ Dabei äugte er neugierig zu den Männern hinüber, die das Beiboot ins Wasser brachten. Da ihm die Arbeit offensichtlich zu langsam vonstatten ging, setzte er noch ein wütendes „Affenärsche! Rübeschweine!“ hinzu, bis ihn Ed Carberry von seinem Landeplatz vertrieb. Aber auch Sir John war von der harten Sorte, und der Profos mußte sich von der Großrah herunter klipp und klar sagen lassen, daß er „backbrassen“ solle. Als Ed Carberry drohend die Fäuste nach oben schwang, zog es der karmesinrote Papagei vor, auf seinen Lieblingsplatz, hoch oben auf der Vormarsrah, zurückzukehren. Hasard benannte inzwischen den kleinen Landtrupp, der unter seiner Führung zur Sandbank hinüberpullen sollte.
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Außer Ed Carberry waren diesmal Stenmark, Matt Davies und der schwarze Herkules Batuti mit dabei. Ferris Tucker, der sich während des gestrigen Landausfluges ebenfalls mit dem gefährlichen Mohrenkaiman herumgeschlagen hatte, wurde noch an Bord der „Isabella“ gebraucht, um die Holzschäden auszubessern, die während des Piratenangriffs an der Balustrade zwischen Back und Galionsdeck entstanden waren. Philip und Hasard, die Zwillinge, hatten sich inzwischen an ihren Vater herangepirscht. „Dad“, sagte Philip junior mit hoffnungsvollem Blick, „hast du nicht einmal gesagt, daß es nicht genügt, seinen Kopf nur mit vielen Theorien voll zu stopfen, sondern daß man vor allem auch die Praxis kennenlernen muß?“ Für einen Moment sah der Seewolf seinen Sprößling irritiert an. „Ja- ja, natürlich, du hast recht. Aber was bezweckst du mit dieser Frage?“ „Nun ja“, erklärte Philip junior, „Mister Brighton hat uns gestern erzählt, daß es hier viele Tiere gibt. Ich meine, außer dem riesigen Krokodil, mit dem ihr gekämpft habt. Und da dachten wir, daß wir - nun ja, wir könnten uns natürlich entsprechend bewaffnen ...“ „Aha!“ sagte Hasard. „Daher also weht der Wind, von wegen Theorie und Praxis. Tut mir leid, ihr beiden, auf die Praxis werdet ihr heute noch mal verzichten müssen. Die werdet ihr noch früh genug kennenlernen. Wenn wir da rüberpullen, dann ist das eine Fahrt ins Ungewisse. Wir haben keine Ahnung, was dort drüben geschehen ist und was uns dort erwartet. Vorerst brauchen wir zwei starke Männer wie euch noch dringend hier an Bord. Was ist, wenn noch einmal ein Piratenschiff hier auftaucht? Mister Brighton ist dann auf jeden Mann an Bord angewiesen, auch auf euch, zumal er euch schon einmal an den Drehbassen eingesetzt hat.“ Im ersten Augenblick zeigten die beiden Zehnjährigen ein enttäuschtes Gesicht. Aber dann, als sie die Worte ihres Vaters,
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der von starken Männern und von Drehbassen sprach, verdaut hatten, blickten sie plötzlich stolz in die Runde. Daß sie auch nicht eher darauf gekommen waren! Klar, daß sie an Bord der „Isabella“ gebraucht wurden. Völlig logisch, was sollte sonst Mister Brighton ohne sie nur anfangen? „Aye, aye, Sir!“ sagten die beiden wie aus einem Munde, und damit war der Fall vorerst erledigt. Philip Hasard Killigrew nahm als Bootsführer auf der achteren Ducht des Beibootes Platz, nachdem der kleine Trupp von der „Isabella“ abgeentert war. Die übrigen Männer legten sich kräftig in die Riemen. „Ob wir heute wohl mehr Glück haben als gestern?“ fragte Ed Carberry. Seine Augen glitten dabei über die glitzernde Wasserfläche. „Auf den ersten Anhieb wohl kaum“, meinte Hasard. „Aber heute steht uns wesentlich mehr Zeit zur Verfügung, in der wir uns auch die weitere Umgebung des Wracks etwas näher ansehen können.“ Auch der blonde Stenmark und Matt Davies, ein kräftiger Mann, dessen Haare durch ein schreckliches Erlebnis mit Haien vorzeitig ergraut waren, brannten darauf, die mysteriöse Stätte dort drüben auf der Sandbank kennen zu lernen. Gleich ihrem Kapitän und dem Profos waren auch sie schwer bewaffnet. Der gestrige Angriff des Mohrenkaimans war für alle ein Warnsignal gewesen, das in höchst gefährlicher Weise daran erinnert hatte, wie ernst die vielfältigen Überraschungen und Gefahren des Dschungels genommen werden mußten. Matt Davies, dessen fehlende rechte Hand durch eine von Ferris Tucker angefertigte Spezialmanschette ersetzt worden war, die unten in einem Metallring mit spitzgeschliffenem Haken auslief, sah dadurch furchterregend aus. Und gar mancher, der im Nahkampf mit dieser recht vielseitig verwendbaren Prothese Bekanntschaft geschlossen hatte, konnte bestätigen, daß dieser Eindruck nicht fehl am Platze war.
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In gleichmäßigem Rhythmus tauchten die Riemen ins Wasser und brachten das Beiboot der „Isabella“ immer näher an die Sandbank heran. Deutlich war bereits das Mangrovendickicht zu erkennen, das sich im Hintergrund fast bis an das Wrack heranschob. In unmittelbarer Nähe des Wracks mündete ein kleiner Fluß, der höchstens eine. Kabellänge, also zweihundert Yards, breit war. Das war nicht viel im Vergleich zu den gewaltigen Strömen, die sich, wie beispielsweise der noch etliche Seemeilen entfernte Rio Tocantins, in die Baja de Marajo ergossen. Hasard blickte als erster wie erstarrt zu der Galeone hinüber, von der nur noch das Spantengerippe übrig geblieben war. Ed Carberry, Batuti, Matt Davies und Stenmark folgten seinem Blick, dann huschte ein erstaunter Ausdruck über ihre Gesichter. Vergeblich versuchten sie, die Skelette durch das Gerippe des Wracks, dessen Beplankung vollständig fehlte, zu entdecken. Sie waren verschwunden, ganz einfach weg, als wären sie nie da gewesen. Der Profos fand als erster die Sprache wieder. „Ich weiß genau“, sagte er, „daß ich heute noch keinen einzigen Schluck Rum getrunken habe. Und ich werde auf der Stelle des Teufels Großmutter heiraten, wenn dort drüben auch nur noch ein einziger Knochenmann auf dem Kielschwein hockt.“ Nachdem die erste Verblüffung vorbei war, sagte der blonde Stenmark: „Schade, Ed, daß aus dieser Hochzeit nichts wird. Ich hätte zu gern als Brautjungfer teilgenommen. Aber dort drüben ist wirklich kein einziges Skelett zu sehen.“ Das Boot war inzwischen an der flachen Sandbank angelangt. Nachdem sich die Männer vergewissert hatten, daß im Moment zumindest keiner der gefährlichen Mohrenkaimane zu sehen war, sprangen sie in das niedrige Wasser und zogen das Boot ein Stück auf den Sand. Wenig später standen sie, Musketen in der Hand und Pistolen und Entermesser im
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Gürtel, vor dem Gerippe, das einmal eine Galeone zusammengehalten hatte. Es war tatsächlich kein einziger Knochen mehr zu sehen. Dort, wo am Vortag noch ein gutes Dutzend Skelette, die alle ziemlich klein gewesen waren, auf dem Kielschwein gesessen hatte, herrschte jetzt gähnende Leere. „Die können doch nicht von selber weggelaufen sein“, ließ sich der grauhaarige Matt Davis vernehmen. „Vielleicht hat sie das Wasser fortgespült?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich, dazu ist es viel zu flach. Selbst die Flut hat gestern das Wrack nur zwei Handbreiten unter Wasser gesetzt. Das reicht natürlich nicht aus, um die Skelette oder gar das Wrack wegzutragen. Die Reste der Galeone müssen deshalb schon sehr lange am selben Platz liegen, und auch die Skelette waren sicherlich schon längere Zeit hier.“ „Also müssen die Skelette geholt worden sein“, stellte der Profos fest. „Aber von wem?“ „Es bleibt nur die Schlußfolgerung, daß sie in der Nacht von Indianern oder Buschmännern abgeholt worden sind“, sagte Hasard und legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Es müssen Skelette von Eingeborenen gewesen sein“, setzte er noch hinzu, „zumindest wenn man die Größe in Betracht zieht. Vielleicht hat man uns gestern beobachtet und befürchtet, daß wir die Ruhe der Toten stören könnten, wer weiß.“ Stenmark blickte sich unwillkürlich um. „Das heißt also, daß wir hier mit Indianern oder Buschmännern rechnen müssen.“ Hasard nickte. „Ich nehme es an. Übrigens, Sten und Matt, ihr beide habt doch in der vergangenen Nacht Wache gehabt. Ist euch da nichts aufgefallen?“ Die beiden Männer blickten sich einen Moment fragend an und schüttelten dann die Köpfe. „Nein“, sagte Stenmark, „mir ist absolut nichts aufgefallen. Es war zwar nicht gerade stockfinster, aber trotzdem habe ich bei der Entfernung keine einzige
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Bewegung hier auf der Sandbank bemerkt.“ „Ja, und hören konnte man natürlich auch nichts“, pflichtete ihm Matt Davies bei. „Denn gerade nachts ist der ganze Klamauk, der vom Urwald bis zum Schiff herüberdringt, ohrenbetäubend.“ Gesehen hatte auch er nichts. „Wie dem auch sei“, sagte Hasard, „die Kerle müssen es fertig gebracht haben, während der Nacht die Skelette abzutransportieren, ohne daß etwas aufgefallen ist.“ Irgendwie gefiel ihm die ganze Sache nicht, und manchmal hatte er das Gefühl, als würden sie von tausend unsichtbaren Augen belauert. Er kannte schließlich die Indianer und deren Einstellung zu den Weißen, die immer wieder versuchten, ihnen das aufzudrängen, was sie unter „Zivilisation“ verstanden. Besonders die Spanier und Konquistadoren hatten daran den Hauptanteil. Die „Zivilisation“, die sie den Eingeborenen bis jetzt gebracht hatten, bestand größtenteils aus Bekehrungen und üblen Krankheiten, an denen zum Teil ganze Volksstämme zugrunde gingen. Kein Wunder also, daß die meisten Indianer immer wieder Weiße mordlustig angriffen und dabei ihren aufgestauten Haß ins Spiel brachten. „Wenn es hier Eingeborene gibt“, unterbrach Ed Carberry die Überlegungen Hasards, „dann haben die uns natürlich längst bemerkt. Die verschwundenen Skelette beweisen das ja. Aber das bedeutet für uns auch, daß wir unsere Augen verdammt offen halten müssen, wenn unsere Schädel nicht als Schrumpfköpfe an irgendeinem Hütteneingang baumeln sollen. Die kleinen, braunen Kerle verstehen sich darauf.“ Die rauhen Männer konnten nicht verhindern, daß ihnen bei dieser Bemerkung des Profosses ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie waren bereits früher den Tsantas, den oft nur faustgroßen Schrumpfköpfen, begegnet,
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die die Indianer durch ein besonderes Verfahren aus den Köpfen besiegter Feinde herstellten. Selbst jene Eingeborenen, die durch die verschiedenen Ansiedlungen häufigen Kontakt zu Weißen hatten, waren nach wie vor auf Tsantas mindestens genauso verrückt wie auf den Schnaps und die Waffen der weißen Siedler und Abenteurer. „Bis jetzt haben wir unsere Köpfe noch“, unterbrach Hasard das betretene Schweigen, „und zwar in altgewohnter Größe. Nur sollten wir tatsächlich darauf achten, daß wir sie auch behalten.“ Unwillkürlich schlossen sich die Hände der Männer fester um die Waffen, die sie bei sich trugen. Batuti hatte während des Gespräches damit begonnen, das Gerippe der Galeone zu umrunden. Er versuchte, Fußspuren im Sand zu entdecken. Seinen scharfen Augen entging kein Zoll der Sandbank, vom Wasser bis hinüber zum beginnenden Mangrovendickicht. Aber die Mühe war vergebens, es war kein Anzeichen einer Spur zu finden. So blieb nur der Schluß, daß die Flut inzwischen alle Spuren verwischt haben mußte. Schulterzuckend kehrte der schwarze Herkules, der vor Jahren in einer Mission gebrochen Englisch gelernt und bis zu seiner Befreiung durch den Seewolf als Sklave unter Spaniern gelebt hatte, zu den übrigen Männern zurück. „Keine Spuren“, sagte er. „Batuti nichts finden. Buschmänner müssen Flügel haben wie Sir John.“ Mit beiden Armen ahmte er die Flugbewegungen des AracangaPapageis nach und verzog sein knochiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. Doch seine Gesichtszüge wurden jäh wieder ernst. „Da!“ sagte er und deutete zum Dschungelrand hinüber. „Batuti hat etwas gesehen.“ Seine muskulöse Gestalt straffte sich, und in diesem Moment glich er einem sprungbereiten Löwen, der seine Beute ins Auge gefaßt hat. „Was hast du gesehen?“ knurrte Ed Carberry. „Ein Bilgengespenst vielleicht?“
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„Nix Gespenst“, sagte Batuti, der unverwandt zu der scheinbar undurchdringlichen grünen Mauer hinüberstarrte. „Es war kleines, braunes Mann. Es hat uns gesehen, dann schnell wieder weg. Batuti hat gute Augen. Sieht nix Gespenster. Da — wieder braunes Gestalt“, setzte er hinzu. Noch während die übrigen Männer angestrengt zum Waldrand hinübersahen, ohne etwas Auffälliges wahrzunehmen, geriet Leben in die schwarze Gestalt Batutis. Ohne noch ein Wort zu sagen, schnellte der Mann aus Gambia wie ein Pfeil von der Sehne los und jagte mit langen Sprüngen auf das Mangrovendickicht zu. * Der kleine Piratentrupp unter der Führung Miguel Camaros hatte den Tapir, den sie den Indianern abgejagt hatten, fachgerecht ausgenommen. Nun banden sie dem Tier die Füße zusammen und hängten es an ein langes, kräftiges Aststück. Ibrahim, der Türke, und ein Araber namens Abdullah packten die Last und legten sich die Stangen über die Schultern. Die übrigen Männer sicherten' mit ihren Waffen den Transport, der sich rasch in Bewegung setzte, und zwar in Richtung Küste, wo in ihrem Beiboot bereits ein erlegtes Wasserschwein und verschiedene Früchte auf sie warteten. Obwohl der Weg beschwerlich war und den Piraten der Schweiß in Strömen über den Körper rann, versuchten sie, so rasch wie möglich ihr Ziel zu erreichen. Sie achteten kaum auf die Scharen von lästigen Insekten, die ihnen brennende und juckende Bißwunden beibrachten und auch nicht auf die Zweige, die ihnen blutige Striemen ins Gesicht schlugen. Der Grund für ihre Eile war nicht schwer zu erraten. Er lag bei den kleinen, nackten Gestalten, denen sie den Tapir abgejagt hatten. Und Jose, einer der brauchbarsten Männer an Bord der „Esmeralda“, hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Er war einen harten, grausamen Tod gestorben,
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verursacht durch einen vergifteten Pfeil, der ihm in die rechte Schulter gefahren war. Obwohl auch Jose einen Indianer durch einen Musketenschuß getötet hatte, war Miguel Camaro davon überzeugt, einen schlechten Tausch abgewickelt zu haben. Sie hatten zwar weisungsgemäß einen Tapir erbeutet, aber dafür war ein Mann auf der Strecke geblieben. Was würde wohl ihr Kapitän, Alfredo Fernandez, dazu sagen? Diese Frage schwebte, wenn auch unausgesprochen, über ihm. Nicht etwa, daß der Senor Capitan am Kummer und Gram über den Tod Joses zerbrechen würde, o nein, aber an Bord der „Esmeralda“ zählte nach wie vor jeder Mann, der mit seinen Waffen umzugehen verstand. Und so marschierte der kleine Trupp von fünf Männern mit gemischten Gefühlen seinem Ziel entgegen. Miguel Camaro führte die Gruppe an. Fernando und Manuel, zwei Landsleute bildeten die Nachhut. Dazwischen marschierten Ibrahim und Abdullah mit dem erlegten Tapir. Miguel Camaro schätzte, daß sie bereits die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten, als ihn plötzlich ein markerschütternder Schrei herumfahren ließ. Es war Fernando, der diesen Schrei ausgestoßen hatte, und die Ursache war ganz offensichtlich. Der große, breitschultrige Mann taumelte, versuchte dann, sich an einem Ast festzuhalten, aber seine Hände griffen vorbei. Dann sank er langsam, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck, zu Boden und rührte sich nicht mehr. Aus seinem Rücken ragte der Schaft eines Pfeils. Nicht eines kleinen Giftpfeils, sondern eines Pfeils, der mit einem Bogen abgeschossen worden war. „Bei Allah, das waren Indianer!“ stieß Abdullah, der Araber, hervor. Wie auf Kommando ließen die beiden Träger den ausgenommenen Tapir auf den Boden fallen. In Windeseile drückten sich die
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Männer ins Dickicht, die Musketen schußbereit in den Händen. Aber sie sahen und hörten nichts, außer den Geräuschen des Dschungels, an die sich ihre Ohren bereits gewöhnt hatten. Trotzdem wußten sie, daß irgendwo hinter ihnen im dichten Gestrüpp kleine, aber muskulöse Gestalten lauerten - jederzeit bereit, den lautlosen Tod zu ihnen zu schicken. „Verdammt, die Buschmänner werden immer angriffslustiger“, zischte Miguel Camaro den anderen Piraten zu. „Vor einiger Zeit sind sie über einen einzigen Musketenschuß noch so erschrocken, daß sie sich nie mehr blicken ließen. Jetzt wollen sie wohl den offenen Kampf. Sie haben anscheinend Verstärkung geholt und sind uns gefolgt.“ „Allah sei uns gnädig“, flüsterte Abdullah, der Araber, und die Züge seines Gesichtes verrieten nackte Angst. „Ein Seegefecht wäre mir zehnmal lieber. Da sieht man wenigstens seinen Feind vor sich. Aber hier - hier lauert ein unsichtbarer Tod in unserem Rücken.“ „Nun laß nicht gleich deine Hosen flattern, du Ratte“, gab Miguel Camaro mit leiser Stimme zurück. „Sieh lieber zu, daß du deinen Eierkopf auf den Schultern behältst, statt hier vor Angst zu schlottern.“ Im selben Augenblick sah Camaro ungefähr dreißig Yards entfernt eine kleine, nackte Gestalt hinter dem Stamm einer Chonta-Palme verschwinden. Sofort riß er seine Muskete hoch, und gleich darauf krachte der Schuß. Aber zu spät, von dem Indianer war nichts mehr zu sehen. Die Kugel mußte den Stamm der Palme gestreift haben, denn man konnte sehen, wie einige Holzsplitter zur Erde geschleudert wurden. Ein Papageienschwarm war durch den Schuß aufgescheucht worden. Laut schnatternd und kreischend stoben die Vögel aus dem Geäst über den Piraten und hoben sich in den Himmel. Auch das Gebrüll der Affen klang plötzlich lauter und aufgeregter. Aber sonst rührte sich nichts. Trotzdem waren die Indianer da. Niemand zweifelte
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daran, und es war ein nerven zerfressendes Gefühl, sich aus vielen Augen beobachtet zu fühlen, ohne selbst jemanden zu sehen. „Los!“ sagte Miguel, der Anführer. „Pirschen wir uns vorsichtig etwas näher an sie heran. Wir müssen sie erwischen oder in die Flucht schlagen, sonst werden wir sie nicht mehr los. Sie folgen uns unter Umständen wie unsichtbare Schatten bis zur Küste. Bevor wir uns versehen, haben wir wie Fernando einen Pfeil im Rücken oder, was noch schlimmer ist, einen dieser kleinen Giftpfeile irgendwo im Fleisch.“ Abdullah murmelte irgendetwas in einer Sprache, von der Miguel Camaro kein Wort verstand. Es mußte wohl Arabisch sein, und mit ziemlicher Sicherheit mußte er wiederum Allah beschworen haben, sich seiner doch endlich zu erbarmen. Aber die für himmlisches Erbarmen zuständige Stelle mußte bei dieser Affenhitze wohl auch geschlossen haben, denn nichts ließ darauf schließen, daß sich an der bestehenden Lage etwas veränderte. Vorsichtig krochen die vier übrig gebliebenen Piraten durch das Dickicht. Dann verhielten sie wieder einen Moment lauschend. Da plötzlich schnellte sich die braune Gestalt wieder hinter dem Stamm der Palme hervor und schoß flink wie eine Katze auf das dichte Gestrüpp zu seiner Linken zu. Ibrahim, der Türke, der die ganze Zeit über recht schweigsam gewesen war, reagierte als erster. Ein Schuß aus seiner Muskete krachte, und die Kugel traf. Die braune Gestalt stürzte zu Boden, raffte sich aber sofort wieder auf und verschwand hinkend im Gebüsch. Miguel Camaro stieß einen langen Fluch aus. „Warum hast du nicht besser gezielt? Der Kerl ist nur angeschossen. Selbst in diesem Zustand sind die Burschen noch gefährlich.“ Doch Ibrahim konnte ihm auf diesen Vorwurf nicht mehr antworten. Irgendetwas zischte durch die Luft, unheimlich und fast lautlos, und der Türke brach mit einem Aufstöhnen zusammen. Seine Augen starrten Miguel Camaro an,
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aber es war ein Blick, der alles und nichts zu sehen schien. Ibrahim war tot. Ein ellenlanger spanischer Fluch tönte durch das Dickicht. Die drei übrigen Piraten schienen die Nerven zu verlieren. Miguel Camaro, Manuel und Abdullah schossen blindlings ihre Musketen ab, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Dann rissen sie noch die Pistolen aus den Gürteln und feuerten blindwütig in die Richtung, aus der man den Pfeil wahrscheinlich abgefeuert hatte. Aber kein Laut, kein Aufschrei verriet, daß eine ihrer Kugeln ein lebendes Ziel gefunden hatte. Die Piraten waren sich darüber im klaren, daß sie zu dritt keinen Kampf mehr gewinnen konnten. Deshalb begannen sie sofort, sich zurückzuziehen, und zwar so schnell sie konnten. Sie dachten nicht mehr an den Tapir, der auf der Erde lag. Nachdem sie sich ins Dickicht zurückgezogen hatten, begannen sie zu laufen, so rasch ihre Beine sie zu tragen vermochten. Doch sie konnten keinen Verfolger wahrnehmen. Die Indianer schienen mit ihrer Rache zufrieden zu sein und mit ihrer „Beute“ ebenfalls. Die drei fliehenden Piraten wußten sehr wohl, was mit ihren beiden Kameraden, Fernando und Ibrahim, die sie nicht einmal hatten begraben können, geschehen würde. Tsantas - das war das Wort, das ihnen trotz der Hitze eiskalte Schauer über die Rücken jagte. Allein der Gedanke daran ließ sie ihre Schritte immer wieder beschleunigen. Sie achteten nicht mehr auf Zweige, die ihnen das Gesicht zerkratzten und auf Lianen, deren Geschling sie schon mehrmals zu Fall gebracht hatte. Immer wieder rafften sie sich auf, um so rasch wie möglich die Küste zu erreichen. Dabei hofften sie inbrünstig, daß die „Esmeralda“ schon auf sie warten würde. Anderenfalls würden sie mit dem Beiboot ein Stück in die Bucht hinauspullen, um aus der Reichweite der tödlichen Pfeile der Indianer zu gelangen. Endlich war es so weit.
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In der feuchten Luft lag bereits der salzige Geruch des Wassers. Jeden Moment mußte die Bucht vor den Augen der Piraten auftauchen. Schon wenige Augenblicke später betraten sie den Sand, der leicht abschüssig ins Wasser mündete. Dann sahen sie ihr Schiff, die „Esmeralda“. Aber was war mit der Galeone geschehen? War das noch dieselbe „Esmeralda“, auf der sie seit Monaten durch die See gefahren waren? Oder war es ein Geisterschiff, das da als halbes Wrack eine Kabellänge vom Ufer entfernt vor Anker gegangen war? Der Schreck fuhr ihnen durch alle Glieder, als sie die schwer angeschlagene Galeone mit den Augen abtasteten. Sie schien im Kampf mit irgendeinem Gegner eine kräftige Abfuhr erhalten zu haben. Allein der zerfetzte Besanmast war dafür ein trauriger Beweis. Einige Männer an Bord begannen zu winken. Da schoben die drei Schnapphähne in Windeseile das Beiboot ins seichte Wasser und pullten wie die Besessenen zu ihrem Schiff hinüber. * Wie ein Wirbelwind raste Batuti in das hoch aufspritzende Wasser. Wenn er den Waldrand, der dicht an der nahen Flußmündung begann, erreichen wollte, mußte er ein Stück durch das von Mangroven durchwucherte Wasser waten. „Nix Bilgengespenst!“ rief er mit grimmigem Gesicht. „Batuti hat echtes Buschmann gesehen. Dort drüben am Flußufer, wo Wald beginnt.“ Noch bevor jemand den schwarzen Herkules zurückrufen konnte, arbeitete er sich bereits durch das flache Wasser, das die Wurzeln des Dickichts umspülte. Die Muskete hielt er fest in der Hand, immer darauf bedacht, die Waffe nicht feucht werden zu lassen. Batuti wollte beweisen, daß er sich nicht irrte. Schließlich hatte er sich stets auf seine Augen verlassen können. Es waren zwei nackte, muskulöse Gestalten mit gedrungenen Oberkörpern, die dort drüben
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hinter der grünen Mauer des Urwaldes verschwunden waren. Er selbst war ein Mann des Dschungels. Kaum jemand kannte wie er die Gefahren und Tücken der grünen Hölle, und kaum jemand verstand es wie er, Spuren, Bewegungen und Geräusche wahrzunehmen und zu deuten. Er war im Dschungel Gambias, an der Westküste des schwarzen Kontinents, aufgewachsen und schon als Kind stolz gewesen auf sein ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen. So war es nichts Außergewöhnliches, daß er dort etwas sah, wo andere nur das Wogen des Blätterdaches oder das leichte Schwingen der Lianen registrierten. Batuti, der wie die anderen Mannschaftsmitglieder der „Isabella“ dem Seewolf als zuverlässiger Partner zur Seite stand, war schnell und wendig wie eine Katze. Und er war ein Kämpfer, dem man besser nicht unter die kräftigen Fäuste geriet. Schon in vielen brenzligen Situationen hatte er unter Beweis gestellt, daß er absolut in Form war und es verstand, wie ein Löwe zu kämpfen. So rasch es ging, durchwatete der schwarze Mann das tiefer werdende Wasser, in dem sich das grelle Sonnenlicht spiegelte. Wurzeln und Zweige des dichten Gestrüpps peitschten dabei an seinen Körper und zerkratzten ihm stellenweise die Haut. Aber Batuti maß dem nicht mehr Bedeutung bei als einem lästigen Moskitostich. Er sah ein Ziel vor Augen, und um das zu erreichen, gab es nur diesen unbequemen und gefährlichen Weg. Er mußte ihn gehen, wenn er jenseits der Mangroven in die Nähe des Flußufers den Wald erreichen wollte, in dem die beiden Gestalten verschwunden waren. Batuti war davon überzeugt, daß sich die Indianer noch dort drüben aufhielten — versteckt und lauernd im dichtwuchernden Gebüsch. Er mußte deshalb vorsichtig sein, um nicht in eine Falle zu tappen oder von einem der gefürchteten Giftpfeile erwischt zu werden, die die Eingeborenen dieses riesigen Kontinents so geschickt aus ihren Blasrohren abzuschießen verstanden.
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Der schwarze Mann aus Gambia vermutete, daß die Eingeborenen, die er für einen winzigen Augenblick gesehen hatte, eng mit dem Geheimnis verknüpft waren, das das Wrack hinter ihm auf der Sandbank umgab. Nichts tat er lieber, als zur Lösung dieses Rätsels beizutragen. Die Indianer dort drüben im Wald durften deshalb nicht entwischen. Sonst wäre es unmöglich, sie in der Tiefe der Urwälder aufzuspüren. Das sumpfige Wasser reichte Batuti jetzt fast bis zur Brust. Vorsichtig hob er die Muskete hoch über den Kopf. In unmittelbarer Nähe bemerkte er plötzlich einen Schwarm winziger Fische, die er wohl durch seine raschen Bewegungen aufgeschreckt hatte. Sie stoben für einen Moment scheinbar in alle Richtungen auseinander und verschwanden dann blitzschnell im tieferen Wasser. Batutis Augen waren hellwach. Seine Blicke tasteten nicht nur den Waldrand ab, sondern auch die nähere Umgebung. Er war nicht scharf darauf, plötzlich auf einen Kaiman zu stoßen. Es war höchst gefährlich, sich im Wasser auf einen Kampf mit diesen gefräßigen Räubern einzulassen. Der Gambia-Neger hatte gerade die tiefste Stelle im sumpfigen Brackwasser hinter sich gebracht, da ließ ihn plötzlich ein dunkler Schatten im Wasser heftig zusammenzucken. Es war jedoch kein Kaiman, was da blitzschnell, keine zwei Yards von ihm entfernt, hinter einigen Mangrovenwurzeln hervorschoß. Es war vielmehr ein mindestens eineinhalb Yards langer, schlangenähnlicher Fisch, der wohl von ihm in seinem Versteck aufgeschreckt worden war. Die rechte Hand Batutis zuckte zum Gürtel, um das Entermesser hervorzuholen. Aber er schaffte es nicht mehr. Der merkwürdige Fisch erreichte ihn in diesem Moment. Noch bevor der schwarze Mann einen weiteren Schritt tun oder seine Waffe zum Einsatz bringen konnte, erhielt er einen gewaltigen Schlag gegen die Beine.
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Batuti, der bis zur Brust im Wasser stand, war plötzlich unfähig, sich zu bewegen. Der Schlag, der eine geheimnisvolle Kraft auf seinen Körper übertrug, durchzuckte ihn wie ein Blitz. Ein furchtbarer Schmerz durchraste ihn, ein heftiges Stechen und Brennen tobte durch seine Glieder. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden, als hätte er eine ganze Ladung Pulver verschluckt und gezündet. Ein Schütteln wogte durch seinen Körper und entrang seinen Lippen ein lang gezogenes Stöhnen. Er konnte sich nicht mehr bewegen, sein ganzer Körper schien steif wie eine Decksplanke zu werden. Vor seinen Augen wurde es für kurze Augenblicke dunkel. Dann wurde die schwarze Wand, die sich vor ihm aufgetan hatte, wieder zerrissen, wich aber gleich darauf neuen schwarzen Wolken. Es war eine Ohnmacht, die den riesigen Neger zu überwältigen drohte. Doch der Mann aus Gambia bäumte sich mit aller Kraft, die seinem Körper verblieben war, gegen diese Ohnmacht auf. Er wußte, daß sie hier im brusthohen Wasser den Tod bedeutete. Er würde unweigerlich hilflos ertrinken. Die Muskete, die er hoch über dem Kopf gehalten hatte, war seiner Hand längst entglitten und mit einem Klatschen, das er kaum noch wahrgenommen hatte, im Wasser versunken. Wieder brauste eine schwarze Woge über ihn weg. Batuti versuchte, die Augen weit aufzureißen, um wenigstens noch einen Fetzen Licht zu erhaschen, aber es sollte ihm nicht mehr gelingen. Vor seinen Augen wurde es dunkler und dunkler, und er hatte plötzlich das Gefühl, als ziehe ihn eine ungeheure Kraft in die dunkelsten Tiefen des Wassers. * Kaum war der Gambia-Neger zwischen den Mangroven verschwunden, setzte Philip Hasard Killigrew mit langen Sätzen hinterher. Das war auch für Stenmark, Ed Carberry und Matt Davies ein Zeichen.
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Nach wenigen Augenblicken wateten auch sie durch das sumpfige Wasser, das hoch hinter Batuti und dem Kapitän der „Isabella“ aufgespritzt war. „Ob Batuti nun was gesehen hat oder nicht!“ rief der Profos. „Wir können ihn schließlich nicht allein dort rüberlassen. Wenn tatsächlich Indianer in der Nähe sind, ist es für einen viel zu gefährlich.“ Das Wasser schäumte auf unter ihren raschen Schritten, die sich jedoch durch den Widerstand des nassen Elements zwangsläufig verlangsamten. Ed Carberry wollte gerade eine Bemerkung über das brühwarme, sumpfige Wasser von sich geben, da ließ sie ein plötzlicher Ruf Hasards, der ihnen vorausgeeilt war, aufhorchen. Sie sahen ihn im brusthohen Wasser stehen und winken, sobald sie einen dichten, fast mannshohen Mangrovenbusch umrundet hatten. Und sie sahen Batuti. Hasard hatte ihn gerade erreicht, und Batuti schien hilflos, ja besinnungslos im Wasser zu hängen. Allmächtiger, hoffentlich hat er noch nicht zuviel Wasser geschluckt“, sagte Stenmark mit ernstem Gesicht. „Was ist nur passiert? Batuti ist doch sonst nicht so leicht unterzukriegen.“ So schnell es nur ging, wateten sie auf Hasard zu, der Batuti bereits unterfangen und auf die Beine gestellt hatte. Sein rechter Arm war um die Schultern des Gambia-Negers geklammert, um seinen Kopf über Wasser zu halten. „Hier Ed, nimm meine Muskete!“ rief Hasard, sobald die Männer bei ihm angelangt waren. Wortlos griff der Profos nach der Waffe, damit Hasard die Hände frei hatte. Der Kapitän der „Isabella“ versetzte Batuti sofort zwei schallende Ohrfeigen und klopfte dann mit seiner rechten Hand kräftig auf dessen Rücken. Das Wasser spritzte dabei in alle Richtungen, aber die gewünschte Wirkung blieb nicht aus. Batuti blinzelte und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Dann straffte sich sein Körper urplötzlich,
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und er schien wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Sprachlos sah er die Männer an, die rund um ihn im Wasser standen. „Was war los, Batuti?“ fragte der Seewolf. Aber Batuti konnte noch nicht antworten. Ein starker Husten begann seinen Körper zu schütteln, denn er mußte, wie der Profos sofort mit Kennermiene feststellte, wenigstens fünf Mucks Wasser geschluckt haben. Aber der schwarze Herkules war hart im Nehmen. Es dauerte nur Augenblicke, und er war wieder der alte. Er schüttelte sich und wischte sich über die Augen, als könne er sie mit seinen nassen Händen trocken reiben. „Nun, was war, Batuti?“ wiederholte Hasard seine Fragen. „Ja, was war los?“ fügte Ed Carberry hinzu. „Hat dich vielleicht die Sonne niedergeknüppelt oder dich ein Wassermann an den Beinen gezogen, oder hast du gar des Teufels Großmutter gesehen und bist vor Schreck ohnmächtig geworden?“ Batuti grinste und schüttelte den Kopf. „Nix Großmutter, nix Sonne und nix Wassermann“, berichtete er, „sondern sehr langes, magisches Fisch. Sieht aus wie eine Schlange.“ Er beschrieb mit entsprechenden Armbewegungen die ungefähre Länge und den Umfang des „magischen“ Fisches. Die Männer sahen sich für einen Moment ungläubig an. „Und was hat der Fisch mit dir getan?“ fragte Hasard. „Bist du verletzt? Los, sag schon, ob du verwundet bist, sonst müssen wir jeden Moment mit den Piranhas rechnen. Wenn die Biester Blut wittern, ist hier gleich der Teufel los. Denkt an den Kaiman, mit dem wir gestern die Ehre hatten.“ „Batuti nicht verletzt“, erwiderte der schwarze Mann. „Der Fisch hat nur geschlagen.“ „Geschlagen?“ fragte der Profos mit entgeistertem Gesicht. „Du willst uns wohl auf den Arm nehmen, du Stint. Nun erzähl
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bloß noch, daß er einen Belegnagel dabei hatte und dich damit verprügelt hat ...“ „Nix Belegnagel, Mister Carberry“, sagte Batuti. „Ganzes Fisch hat geschlagen. Viel schlimmer als Belegnagel. Ganzes Körper steif, nix mehr bewegen und dann alles dunkel. Wie ein Zauber. Es war magischer Fisch. Hat viel Kraft in Körper wie großes Feuer.“ Die Männer sahen sich mit skeptischen Blicken an. Das war ihnen doch nicht ganz geheuer, was Batuti da von einem Zauber und von einem magischen Fisch erzählte. Sollte vielleicht doch die Hitze schuld sein? Aber sie kannten Batuti schließlich. Er war so schnell nicht klein zu kriegen. Sie konnten sich andererseits auch nicht vorstellen, daß er sich plötzlich einen so gefährlichen Ort, wie hier in den Mangroven, aussuchen würde, um Seemannsgarn zu spinnen. Schließlich konnten hier jeden Moment die gefährlichen Mohrenkaimane auftauchen. „Laßt uns später darüber reden“, unterbrach Hasard die Stille. „Wenn dort drüben Indianer waren, dann sind sie wahrscheinlich längst untergetaucht, und es wäre jetzt sinnlos, dort im Wald nach ihnen zu suchen. Kehren wir zunächst um, es ist nicht ratsam, zu lange in diesem Wasser zu bleiben.“ Sofort watete der kleine Trupp durch das Brackwasser zurück zur Sandbank. Den Profos schien die ganze Sache noch sehr zu beschäftigen. „Also so was“, knurrte er. „Fische, die hexen können und dabei noch ausgewachsene Männer bewußtlos prügeln, das habe ich auch noch nicht erlebt. Wehe, du Hering hast uns einen Bären aufgebunden. dann werde ich dir nämlich eigenhändig... „...nein, Profos“, unterbrach Batuti. „Haut bleibt dran an Affenarsch. Batuti hat keinen Bären aufgebunden. Es war ein magischer Fisch. Schade, daß nun Indianer fort sind. Batuti hat sie deutlich gesehen.“ Er schnitt ein ärgerliches Gesicht. „Wir werden uns später noch darum kümmern“, sagte Hasard. „Ich zweifle nicht daran, daß du Eingeborene gesehen
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hast, Batuti. Alles deutet darauf hin, daß sie auf irgendeine Weise auch an uns interessiert sind. Wir werden bestimmt noch Kontakt zu ihnen kriegen. Darin wird sicherlich auch das Geheimnis um die verschwundenen Skelette gelüftet werden.“ Kurz danach bestiegen die Seewölfe ihr Boot und pullten zur „Isabella“ zurück. Obwohl sie auch dabei die Augen offen hielten, war kein Eingeborener mehr zu entdecken. Wahrscheinlich hatten sich die mysteriösen Gestalten vorerst zurückgezogen. Trotzdem konnten sich die Männer des Gefühls nicht erwehren, von vielen Augen beobachtet zu werden, als sie, begleitet von einem vielstimmigen Urwaldkonzert, an Bord ihres Schiffes zurückkehrten. 6. Es war bereits Nachmittag. Die feuchte Hitze überlagerte nach wie vor den Dschungel und die silbrig schimmernde Wasserfläche der Baja de Marajo. Es war nur natürlich, daß der Trinkwasserverbrauch bei dieser drückenden Schwüle enorm stieg. Hasard ließ deshalb die „Isabella“ ein Stück in den Fluß hineinsegeln, um dort die Wasservorräte zu ergänzen. Nachdem Smoky, der Decksälteste, mehrmals Tiefe gelotet hatte, ging die Galeone in der Nähe des linken Flußufers vor Anker. Der einzige an Bord, der in den Genuß eines Landurlaubs gelangte, war Sir John, der karmesinrote Aracanga. Natürlich dachte er nicht im entferntesten daran, den Kapitän um Erlaubnis zu bitten. „Eine Muck Rum! Land ho!“ schrie er zusammenhanglos, nachdem er auf der Schmuckbalustrade des Achterkastells eine Zwischenlandung vorgenommen hatte. Dann hob er sich in die Luft und flog in einer kunstvollen Schleife zum Waldrand hinüber. In wenigen Augenblicken war er im dichten Blätterdach verschwunden. „Sir John wurde wohl vom großen Heimweh gepackt.“ Hasard lachte.
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„Mag sein“, knurrte der Profos, „endlich sind wir diese rotzfreche Nebelkrähe los. Soll sie nur drüben im Dschungel bleiben, wo sie hingehört.“ Die Männer, die die Worte Edwin Carberrys gehört hatten, begannen zu grinsen, denn sie wußten nur zu genau, daß dieser rauhe Mann mit dem gewaltigen Rammkinn und dem zernarbten Gesicht im stillen inbrünstig auf die Rückkehr Sir Johns hoffte. Gerade er war es, der sich auf seine Weise besonders gut mit dem bunten Vogel verstand. Aber natürlich hätte Ed Carberry, der im Grunde genommen einen recht weichen Kern hatte, das niemals zugegeben. Lediglich Batuti fühlte sich veranlaßt, dem Profos einige tröstende Worte zu spenden. „Schlimmes Vogel kehrt bestimmt zurück, Profos“, sagte er. „Wird bestimmt von anderen Vögeln verjagt, weil es so frech ist.“ Ed Carberrys Gesicht verzog sich zu einem breiten Lachen. „Da kannst du recht haben“, sagte er, „spätestens, wenn das freche Stück beginnt, mit seinem Wortschatz anzugeben, werden sie es jagen, daß die Federn fliegen.“ Batuti stimmte in das Lachen des Profos' ein. Der Gambia-Mann war wieder bester Laune, seit die anderen damit aufgehört hatten, ihn wegen der „Prügel“, die er von dem „magischen Fisch“ bezogen hatte, auf die Schippe zu nehmen. Einige sehr gelehrt klingende Sätze des Kutschers, der seinerzeit bei Sir Freemont, dem Arzt in Plymouth, vieles aufgeschnappt hatte, waren schließlich auch den Spöttern – wie der Profos es ausdrückte – „ins Hirn gedrungen“. Der Kutscher wußte sogar, wie jene merkwürdigen, schlangenartigen Fische genannt wurden. Er hatte von Zitteraalen gesprochen, die eine geheimnisvolle, unbekannte Kraft auszustrahlen vermochten, die Mensch und Tier die Besinnung rauben konnte.
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Noch nie hatte der schwarze Herkules den Kutscher mit so dankbaren Augen angesehen wie in diesem Augenblick. Jetzt ging die Crew an die Arbeit, und es dauerte nicht lange, bis sämtliche Wasserfässer gut gefüllt an Bord gehievt und auf ihrem Platz verstaut waren. Da ließ plötzlich Hasards Stimme die Männer aufhorchen. „Das gibt's doch wohl nicht!“ sagte er und blickte prüfend auf den Fluß, der sich, ungefähr zehn Kabellängen entfernt, durch eine Rechtsbiegung im Dschungel verlor. „Wir balgen uns mit ‚magischen' Fischen im Wasser herum, um den Indianern nachzulaufen, und jetzt sieht es ganz so aus, als erhielten wir Besuch von ihnen.“ Auch die Mannschaft hatte inzwischen das lange, schmale Boot bemerkt, das in rascher Fahrt den Fluß hinunterglitt und auf die „Isabella“ zuhielt. Die beiden nackten Gestalten, die bereits deutlich zu erkennen waren, brauchten sich nicht besonders mit dem Paddeln anzustrengen, weil das leichte Boot durch die Strömung vorangetragen wurde. „Da tanzen doch gleich die Kakerlaken im Reigen“, entfuhr es dem Profos. „Da kreuzen doch tatsächlich Indianer bei uns auf, gerade so, als ob wir sie zu einer Muck Rum eingeladen hätten.“ Mit diesen Worten traf Ed Carberry den Nagel auf den Kopf, denn die beiden Indianer mit ihren bemalten Gesichtern steuerten unbekümmert auf die „Isabella“ zu, ohne das geringste Anzeichen von Scheu oder Furcht. Sie wirkten tatsächlich so, als erwarte man sie mit aller Selbstverständlichkeit. „Ob das nicht ein Trick ist?“ fragte der alte O'Flynn. „Vielleicht wollen die beiden nur einen harmlosen Eindruck schinden, und wenn ihnen das gelungen ist, tauchen plötzlich Scharen von Booten auf. Dann sieht die Sache schon gleich nicht mehr so einfach aus.“ Damit hatte Old Donegal Daniel O'Flynn das ausgesprochen, was die Mehrheit er Männer an Bord, einschließlich Hasards, dachte. Es war schließlich nicht das erste
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Mal, daß man mit raffinierten Tricks versuchte, die „Isabella“ zu überrumpeln. „Wir werden die Augen offen halten“, sagte Hasard. „Im Moment sieht das Ganze zwar eher komisch als gefährlich aus, aber du kannst durchaus recht haben, Donegal. Sorgt auf alle Fälle dafür, daß die Drehbassen einsatzbereit sind und holt einige Musketen und Pistolen. Vorsicht ist die Mutter der Weisheit.“ Dieser Anweisung wurde sofort Folge geleistet, und es dauerte nur sehr kurze Zeit, bis die „Isabella“ zumindest gegen einen ersten Ansturm gewappnet war. Aber es geschah nichts, außer daß das schmale Boot jetzt die „Isabella“ erreichte und an der Steuerbordseite längschor. Die beiden kleinen Männer mit den gedrungenen, muskulösen Oberkörpern waren nur mit einem winzigen Lendenschurz bekleidet, was darauf schließen ließ, daß sie nicht das erste Mal mit Weißen Kontakte aufnahmen. Die meisten Völker dieses Kontinents hatten in unbekümmerter Nacktheit gelebt, bis die Missionare der Weißen erschienen waren, um sie auf ihren „unschicklichen Wandel“ hinzuweisen. Die Mannschaft der „Isabella“ sollte sich darin nicht getäuscht haben. Die beiden Indianer legten mit aller Selbstverständlichkeit die Paddel binnenbords und erhoben sich in ihrem Boot. Jedoch nicht, ohne vorher nach ihren langen Blasrohren gegriffen zu haben. Einer der beiden vollführte eine unmißverständliche Geste. „Wir auf Schiff steigen!“ rief er in einem schauderhaften Spanisch, das er wohl in irgendeiner Hafenkneipe zwischen dem dritten und vierten Schnaps gelernt hatte. Er sah dabei die Männer, die sich über das Schanzkleid gebeugt hatten, herausfordernd an. „Was wollt ihr, und woher seid ihr?“ rief Hasard zurück. „Wir Icoraci“, sagte der Wortführer der beiden und deutete in die Richtung, aus der sie herangepaddelt waren. „Icoraci?“ fragte der Seewolf zurück.
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„Si, Senor“, erwiderte der Indianer und nickte. „Icoraci“. „Hm“, sagte der Seewolf und zuckte mit den Schultern. „Entweder meint er mit ,Icoraci` seinen Stamm oder aber irgendein kleines Nest, in dem sich Weiße angesiedelt haben.“ Zu den Indianern gewandt, wiederholte er seine Frage: „Und was wollt ihr?“ „Auf Schiff“, lautete die Antwort. „Mit Capitan sprechen.“ „Die gehen aber ran an den Speck“, sagte der Profos. „Außerdem sind die kleinen Kerle ziemlich leichtsinnig. Wir könnten ja auch Schnapphähne sein und sie ...“ „Klettert an Bord!“ rief Hasard und unterbrach damit die Überlegungen Ed Carberrys. Gleich darauf wurde die Jakobsleiter hinuntergelassen, und die beiden braunen Kerle turnten flink daran hoch. Wenig später standen sie auf der Kuhl und sahen auch jetzt nicht im entferntesten scheu oder ängstlich aus. Ganz im Gegenteil. Sie schienen sich als diejenigen zu betrachten, die hier Forderungen zu stellen hatten. Und mit diesen Forderungen rückten sie auch ohne Umschweife heraus. „Wir wollen Pulver haben“, sagte der Wortführer in seinem holprigen Spanisch. „Einige Fässer voll, por favor!“ Die Männer der „Isabella“, die halb gespannt und halb belustigt einen Halbkreis um die beiden Indianer gebildet hatten, sahen sich verblüfft an. „Einige Fässer Pulver?“ fragte Hasard mit ungläubigem Gesicht. „Was wollt ihr denn mit dem Pulver?” „Schießen“, wurde prompt erwidert. „Wir haben Waffen von weißen Männern. Espanoles sagen dazu ‚Musketen' und ‚Pistolen'. Aber wir brauchen Pulver, sonst Waffen still, sagen keinen Ton.“ Ed Carberry atmete rasselnd durch. „Jetzt hört euch diese Kerlchen an“, sagte er und verzog dabei sein Gesicht zu einem fürchterlichen Grinsen. „Klettern an Bord und wollen Pulver, als wären wir hier ein Krämerladen, der das Zeug faßweise zu verkaufen hätte. Heiliges Kanonenrohr, was man hier doch so alles erleben kann!
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Wollen die Gentlemen sonst noch was? Vielleicht ein Culverinchen, um damit die Bananen von den Bäumen zu schießen, was, wie?“ „Nun mal langsam, Ed“, sagte der Seewolf. „Wir wollen ihren Forderungen nicht gleich gezielte Schüsse vor den Bug setzen. Unterhalten wir uns doch erst einmal mit ihnen, vielleicht können sie uns so manche Frage beantworten, die uns seit kurzem Kopfzerbrechen bereitet.“ „Du meinst wegen des Wracks?“ fragte der Profos. „Genau, Ed. Es würde mich wundern, wenn unsere Besucher darüber nichts wüßten.“ „Da kannst du auch wieder recht haben“, brummte der Profos und versuchte, die Narben in seinem Gesicht wieder zu glätten. Hasard wandte sich den beiden Indianern zu. Ohne zunächst auf ihre Forderungen einzugehen, sagte er: „Da unten an der Flußmündung liegt ein Wrack, die Überreste eines Schiffes. Darin befanden sich noch gestern viele menschliche Skelette. Ich nehme an, daß es sich dabei um Indianer handelte. Heute waren sie weg, verschwunden. Was ist damit geschehen?“ Für einen Augenblick sahen sich die beiden Indianer an und wechselten schnell einige Worte in einer kehlig klingenden Sprache. Dann blickte der Wortführer Hasard wieder an, und seine dunklen Augen blitzten dabei. „Pulver“, sagte er, ohne auf die Frage des Seewolfs einzugehen. „Einige Fässer.“ Er beschrieb dabei mit ausladenden Gesten, wie groß die Fässer zu sein hätten. „Ich habe euch etwas gefragt“, erklärte Hasard, und seine Stimme war um einen Ton schärfer geworden. „Was ist das für ein Wrack, und was ist mit den Skeletten geschehen? Wenn ihr mir nicht antworten wollt, dann verfaßt bitte sofort das Schiff!“ Er unterstrich seine Worte mit einer unmißverständlichen Handbewegung. Wieder wechselten die beiden Indianer einige rasche Worte, dann sagte der Sprecher in seinem gebrochenen Spanisch:
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„Reste von Schiff liegen schon lange da. Wasser hat sie gebracht. Schiff ganz kaputt. Zwei weiße Männer, Espanoles, lebten noch. Sie haben geschossen.“ „Er meint wohl, daß das Wrack vor langer Zeit hier gestrandet ist“, sagte Hasard. „Und an Bord waren noch zwei überlebende Spanier, die sich offenbar mit den Indianern angelegt haben.“ Zu den beiden Besuchern sagte er dann; „Die weißen Männer haben auf euch geschossen. Was ist mit ihnen geschehen?“ „Tsantas“, erwiderte der Indianer und legte dabei die Kante seiner flachen Hand gegen die Kehle. Er sagte das, als hätte er soeben eine Frage nach dem Wetter beantwortet. Die Männer der „Isabella“, die dem Gespräch interessiert folgten, blickten sich betroffen an. Bill, der Moses, faßte sich unwillkürlich an den Kopf, als wolle er prüfen, ob sich der noch an seinem Platz befand. Hasard ging jedoch nicht näher auf die Antwort der Indianer ein, sondern setzte seine Befragung fort. „Was waren das für Skelette, die sich in dem Wrack befanden, und wo sind sie jetzt?“ Wenn nicht unablässig die Stimmen des Dschungels von den nahen Flußufern die Umgebung mit schrillem Kreischen, mit Brüllen, Pfeifen und Zirpen erfüllt hätten, dann hätte man jetzt, bei dieser Frage des Seewolfs, die berühmten zu Boden fallenden Stecknadeln hören können. Hasard hatte damit gewissermaßen die Rätselfrage gestellt, die sie alle seit Tagen beschäftigte. Und sie brauchten nicht lange auf die Lösung zu warten. „Skelette Tote unseres Stammes“, berichtete der Indianer. „Wir schon lange die Reste von Schiff benutzen für unsere Ahnen. Wir legen Tote in Schiff ab, mit Gesicht zu Sonne und Wasser. Wenn Gebeine gebleicht, wir holen sie. Auch in der Nacht wir haben Gebeine geholt, als wir dieses Schiff gesehen haben. Es war noch nicht Zeit, aber Ahnen sollen in Sicherheit sein.“
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„Was tut ihr mit den Gebeinen, wenn sie in der Sonne gebleicht worden sind?“ „Wenn ganz gebleicht, werden zu Staub zerrieben wie Pulver“, erklärte der Indio und beschrieb dabei mit zahlreichen Armbewegungen, wie die Gerippe im Mörser zerstampft wurden. „Wenn Staub, dann mit Bananenbrei vermischt. Götter wollen, daß Ahnen so gegessen werden. Sind dann eins mit uns.“ Für einen Moment herrschte Totenstille. Die Männer sahen sich mit starren Gesichtern an, und Bill, der Moses, verfärbte sich allmählich grün im Gesicht. Auch den anderen konnte man ansehen, daß sie auf die Kochkünste des Kutschers am heutigen Tag wohl keinen großen Wert mehr legen würden. Dan O'Flynn preßte sich die rechte Hand auf die Magengegend und kniff die Lippen zusammen. Die Stirn Ed Carberrys legte sich in Falten, und sein zernarbtes Gesicht verwandelte sich augenblicklich in eine furchterregende Grimasse. „Was? Wie?“ fragte er. „Die beiden Stinte wollen hier wohl Witze erzählen? Leider kann ich darüber gar nicht lachen. Man sollte ihnen ein Stück Tau über den Achtersteven ziehen, wenn sie sich einbilden, daß wir ihnen solchen Unsinn abkaufen. Oder soll ich ihnen vielleicht eigenhändig die Haut in ganz schmalen Streifen von ihren karierten ...“ „Schon gut, Ed“, stoppte Hasard die unchristlichen Pläne seines grimmig dreinblickenden Profos'. „Was die beiden Burschen eben erzählt haben, ist kein Witz, auch wenn es sich im ersten Moment so anhört. Ich habe schon einige Male davon gehört, daß es Volksstämme gibt, zu deren Religion es gehört, ihre Ahnen in pulverisierter Form zu verspeisen. Ich habe es zunächst auch für Unsinn gehalten, aber jetzt, da unsere beiden Besucher in aller Selbstverständlichkeit darüber berichten, zweifle ich nicht mehr daran. Außerdem wissen wir nun auch, zu welchem Zweck man die vielen Gerippe in das Wrack gebracht hat.“
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Ed Carberry blickte Hasard entgeistert an. „Es ist wirklich kein Witz?“ „Nein, Ed.“ „Na, wenn du es sagst, will ich es glauben. Aber – pfui Teufel — ich rühre in meinem ganzen Leben keine Banane mehr an. Und wehe, wenn ich den Kutscher einmal dabei erwische, daß er irgendetwas in seine Bratpfannen streut, was wie Pulver aussieht, dann ...“ Die weiteren Worte des Profos' gingen im Gelächter der Männer unter, die sich inzwischen von ihrem Schock erholt hatten. Das also war das Geheimnis der wracken Galeone! Mit Sicherheit würden ihnen das Schiffsgerippe und der Ahnenkult der Eingeborenen noch lange Zeit Gesprächsstoff während einsamer Deckswachen bieten. Doch die beiden braunen Männer fanden hier absolut nichts zum Lachen. Ihre Forderung lautete nach wie vor: „Pulver!“ Aber Hasard schüttelte energisch den Kopf. „Nein!“ sagte er. „Das Pulver ist für euch zu gefährlich. Wenn ihr tatsächlich über Schußwaffen verfügt, dann würdet ihr euch damit gegenseitig ausrotten. Ich bin gern bereit, euch einige nützliche Werkzeuge wie Äxte und Messer zu überlassen, das ist sinnvoller.“ Hasard vertrat seinen Entschluß mit absoluter Bestimmtheit, und allein seine Stimme ließ erkennen, daß es daran nichts, aber auch gar nichts zu ändern gab. Das schien jedoch die beiden Indianer aus der Ruhe zu bringen. Sie begannen augenblicklich in ihrer kehligen Sprache zu brüllen und zu toben, schwangen drohend die Fäuste und fuchtelten mit ihren langen Blasrohren herum. Unwillkürlich schlossen die Seewölfe einen Kreis uni die beiden, um eingreifen zu können, falls einer auf dumme Gedanken verfallen sollte. Schließlich war die verheerende Wirkung der Blasrohre mit ihrem todbringenden Inhalt nicht zu unterschätzen. Immer wieder fiel das spanische Wort für Pulver, und schließlich erklärte der
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Wortführer der beiden frank und frei, daß man sich viele Tsantas holen würde, falls sie kein Pulver erhielten. Er unterstrich diese Drohung mit eindeutigen Handbewegungen. Das wurde nun dem Profos endgültig zu viel. „So eine Frechheit!“ brüllte er. „Was glaubt ihr beiden Sumpfhühner wohl, was ihr euch bei uns an Bord alles erlauben könnt, was, wie?“ Ehe sich die beiden versahen, hatte sie der bullige Profos gepackt und hievte sie wie zappelnde Puppen über das Schanzkleid. Augenblicklich landeten beide in ihrem schaukelnden Boot. „So, ihr Knochenfresser“, setzte der Profos noch hinzu, „wenn ihr euch noch einmal hier blicken laßt, werde ich aus euch beiden Pulver herstellen, und zwar so viel, daß ihr damit gegenseitig eure Affenärsche wegschießen könnt.“ Die beiden Indianer bedachten die Männer an Bord der „Isabella“ mit haßvollen Blicken und wüsten Drohungen, als sie mit ihrem Boot davon paddelten. Doch sie fuhren nicht in die Richtung, aus der sie erschienen waren, sondern hielten direkt auf das nahe Ufer zu. Dort verschwanden sie für kurze Zeit im Gebüsch, schleppten eine Unmenge große Steine in ihr Boot und paddelten wieder den verwundert dreinblickenden Seewölfen entgegen. „Jetzt wollen die uns wohl mit Steinen bewerfen“, bemerkte Ben Brighton und setzte den Kieker ab. „Das ist doch wohl der Gipfel der Dreistigkeit!“ „Ha! Dann werfe ich mit Kanonenkugeln zurück“, prophezeite der Profos. Doch es sollte nicht zu diesem wunderlichen Kampf kommen, denn wie die plötzlichen Aktivitäten der beiden Eingeborenen bewiesen, sollten die Steine ganz anderen Zwecken dienen, Zwecken, die der Crew der „Isabella“ vorerst noch völlig rätselhaft und unerklärlich blieben. Die beiden braunen Burschen schleuderten zwar einige Steine zur „Isabella“ hinüber, warfen sie dann jedoch lediglich ins flache Wasser und steuerten dabei ihr Boot zum Ufer zurück.
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Niemand konnte sich erklären, was das zu bedeuten hatte. Manche hielten die beiden Eingeborenen für verrückt, weil sie Steine ins Wasser fallen ließen, bis sie am Ufer angelangt waren. Wenig später paddelten sie flußaufwärts und verschwanden bald aus den Augen der Seewölfe. „Hoffentlich haben sie sich jetzt durch die Steinwerferei abreagiert“, bemerkte Ferris Tucker. Hasard beschloß, jetzt, da die Dunkelheit mit tropischer Geschwindigkeit hereinzubrechen begann, die Nacht hier zu verbringen. Am nächsten Morgen sollte das Schiff den Fluß verlassen, um über die Baja de Marajo ins offene Meer zu segeln. Noch ahnten die Männer an Bord der „Isabella“ nicht, daß sich ihre Abreise verzögern würde. 7. Auch in der Nacht ließ die feuchte, schwüle Luft, die auf dem Fluß und dem Dschungel lastete, das Atmen zur Qual werden. Die meisten Männer der „Isabella“-Crew verfielen in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie in kurzen Abständen immer wieder schweißgebadet erwachten. An das Geschrei der Brüllaffen und die unzähligen anderen Geräusche, die aus dem nahen Dschungel herüberdrangen, hatten sie sich längst gewöhnt. Nur die dicke, schwüle Luft, die man fast in Scheiben schneiden konnte, und die wie eine Decke aus Blei über dem Regenwald lag, setzte ihnen zu. Erst ein kurzes, aber heftiges Tropengewitter, das plötzlich heraufgezogen war, brachte durch seine Regenschauer einen Hauch von Abkühlung, der aber so schnell wieder verschwand wie der grollende Donner und die zuckenden Blitze, die zeitweise die „Isabella“ und ihre nähere Umgebung in grelles, gespenstisches Licht tauchten. Mitternacht war vorüber, und das Tropengewitter hatte sich wieder verzogen. Nur noch vereinzelt war ein kraftloses Donnern aus der Ferne zu hören.
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Bald war wieder Ruhe eingekehrt. Die Nacht, die über dem Fluß und den riesigen Urwäldern des südamerikanischen Kontinents lag, nahm ihren Verlauf wie wohl seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden. Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Obwohl die Wachen wegen des Vorfalls mit den Indianern ihre Aufgaben sehr genau nahmen, gab es nichts Auffallendes zu entdecken. Auf dem Fluß blieb alles still. Auch an den nahen Waldrändern, die sich bis zu den Ufern des Flusses hinzogen, ereignete sich nichts. Alles schien völlig normal zu sein. Lange Zeit nach Mitternacht glaubten jedoch einige Männer, die sich unruhig im Schlaf hin und her wälzten, ein Knistern und Knacken zu hören. Es schien aus allen Richtungen zu ertönen, als lebe das Schiff. Es hörte sich nicht an wie das Knacken im Rumpf, an das wohl jedes Seemannsohr gewohnt war, sondern ganz anders, viel merkwürdiger. Doch die Männer, die die Nacht im Mannschaftslogis verbrachten, schenkten diesen Geräuschen im Schlaf oder Halbschlaf keine besondere Aufmerksamkeit, zumal es zeitweise kaum noch zu hören war, weil es vom Gebrüll der Aluates übertönt wurde. Sam Roskill, Bob Grey und Dan O'Flynn, die Deckswachen, die es zeitweilig hören konnten und das Schiff und seine Umgebung im Auge behielten, vermochten jedoch nichts zu entdecken. „Ich glaube, unter dieser Höllenhitze leidet sogar unsere Lady“, sagte Bob Gray flüsternd zu Sam Roskill. „Ich bin froh, wenn wir morgen wieder hinaussegeln. Da gibt es wenigstens ab und zu eine frische Brise.“ An das merkwürdige Knistern und Knacken, das die „Isabella“ umgab, hatten sich die Wachen bereits gewöhnt, als der erste graue Schimmer den neuen Tag ankündigte. Man gewöhnte sich an alles, an die lästigen Moskitos, an die Geräusche des Regenwaldes und selbst an die fürchterliche, drückende Hitze. Was war
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dagegen schon ein leises Knistern und Raunen! Erst am nächsten Morgen sollten die Männer an Bord der „Isabella“ bemerken, daß man sich niemals voreilig an etwas gewöhnen durfte. * „Heiliger Bimbam”, stöhnte der Kutscher und schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. „Das darf doch nicht wahr sein, nein, o nein ...“ Das Gesicht des Kochs und Feldschers der „Isabella“ wurde augenblicklich blaß. Dann fuhr der dunkelblonde, etwas schmalbrüstige Mann herum und jagte an Deck, als seien tausend Teufel hinter ihm her. „Sir!“ schrie er verstört. „Sir! Schnell, hierher! In der Kombüse und im Vorratsraum ist der Teufel los.“ Hasard sah den Kutscher verwundert an. Was war los mit ihm? Was hatte ihn so aus der Fassung gebracht? Er war doch sonst ein so ruhiger, eher zurückhaltender Mann. Jetzt schien er total aufgelöst zu sein, und das wollte bei dem Kutscher schon etwas heißen. Mit raschen Schritten folgte er ihm. Dann blieb auch er wie angewurzelt stehen, als er die Bescherung sah. Im ersten Moment glaubte Hasard, ihm sträubten sich die Haare, als er einen Blick in die Kombüse und den Vorratsraum warf, deren Schotten offen waren. Was er dort erblickte, schien die Armee des Teufels zu sein! Augenblicklich fiel ihm das merkwürdige Knistern und Knacken ein, das ihnen während der vergangenen Nacht Rätsel aufgegeben hatte. Jetzt sah er die Ursache jener mysteriösen Geräusche vor Augen. Riesige rote Feuerameisen waren in Millionenscharen über die Vorräte der „Isabella“ hergefallen. Die gesamte Kombüseneinrichtung sowie die Vorräte waren kaum noch zu sehen unter den Myriaden von krabbelnden und nagenden Insektenleibern, die einen wogenden Teppich bildeten, der alles überlagerte.
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„Großer Gott, unsere Vorräte“, murmelte Hasard. „Die lassen keinen Krümel mehr übrig, und haben sie erst alles aufgefressen, werden sie auch noch das Schiff zerkleinern! Wie mögen diese Biester nur plötzlich an Bord gelangt sein?“ Der Kutscher zuckte hilflos mit den Schultern und versuchte mit einer raschen Bewegung einen Teil dieser knisternden und fressenden Insekten von einem Kombüsenregal zu streifen. Blitzschnell zog er jedoch seine Hand zurück. Die Ameisen hatten ihn sofort angegriffen und äußerst schmerzhaft in die Haut gezwackt. Der Kutscher begann seine rechte Hand wie irr zu schütteln. Die Bisse brannten teuflisch, und das Jucken, das darauf folgte, war auch nicht gerade angenehmer. Völlig am Boden zerstört sah er Hasard an, während diese Bordplage unermüdlich weiterfraß. Beiden Männern war längst klar geworden, daß damit nicht nur sämtlicher Proviant ungenießbar geworden war, sondern daß nichts, aber auch gar nichts, übrig bleiben würde. Im Nu hatte sich die ganze Crew der „Isabella“ versammelt, um die Plagegeister in Augenschein zu nehmen. Und immer wieder tauchte die Frage auf, wie die Ameisen wohl an Bord gelangt sein könnten. Während der alte O'Flynn seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, daß das alles nicht mit rechten Dingen zugehen könne, erwog der Profos die Möglichkeit, daß diese „elenden und gefräßigen Krabbeldinger wohl auf Kakerlaken durch die Luft geritten“ sein mußten, um an Bord zu kommen. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Männer hatten entdeckt, daß die roten Feuerameisen auf einem durchaus erklärbaren Weg auf ihr Schiff gelangt waren. In diesem Zusammenhang wurde ihnen auch plötzlich klar, warum die Indianer, die gestern auf sehr nachdrückliche Weise Pulver von ihnen hatten haben wollen, bei ihrem Rückzug Steine ins Wasser geworfen hatten. Was
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man gestern noch für eine Verrücktheit der Eingeborenen gehalten hatte, erhielt jetzt einen - wenn auch makaberen - Sinn. Die Männer starrten immer wieder entgeistert auf das Bild, das sich ihnen an der Bordwand der „Isabella“ und auch außerhalb im Wasser bot. Die Indios hatten durch die Steine, die sie ins flache Wasser geworfen hatten, Überbrückungspunkte für die Ameisen geschaffen, die noch jetzt für weitere Myriaden dieser emsigen Tierchen die Möglichkeit boten, die „Isabella“ zu entern. Wo die Steine nicht ausreichten, bildeten die Tiere durch Hunderttausende von Leibern Brücken, über die ihre Artgenossen schwimmend und krabbelnd ihr Ziel erreichen konnten. Vermutlich hatten die Indianer auch Köder ausgelegt, um dieses teuflische Heer anzulocken. Jetzt wurde die Mannschaft lebendig. Hasard gab sofort Befehl, den Anker zu hieven und die „Isabella“ ein Stück weiter in den Fluß zu segeln, um zumindest den noch weiter anrückenden Ameisenscharen die Möglichkeit zu nehmen, noch an Bord zu gelangen. Sobald einige Kabellängen weiter flußaufwärts der Anker wieder geworfen worden war, überlegten die Männer fieberhaft, wie sie diese ungebetenen Gäste wieder loswerden könnten. Aber es wollte ihnen absolut nichts Brauchbares einfallen. Einige Männer hatten sich breitflächige Holzstücke aus der Werkstatt Ferris Tuckers geholt und begannen, damit auf die Insekten einzuschlagen, aber sie gaben das bald wieder auf. Auf diese Weise würden sie es nie schaffen, das wurde ihnen rasch klar. Die Biester waren nicht nur sehr verfressen, sondern auch angriffslustig. Etliche rieben sich schon die schmerzende Haut, die dann durch die Bisse höllisch zu jucken begann. Das Jagdergebnis, das c sie mit den Plankenstücken erzielt hatten, stand dazu in keinem Verhältnis. Trotzdem überlegten sie fieberhaft weiter, wie sie dieser Plage Herr werden konnten, während die Ameisen längst auch über den
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Notproviant, den harten Zwieback, herfielen. „Wenn diese Teufelsflöhe so Weiterfressen“, stellte der Profos mit grimmigem Gesicht fest, „dann wird die ,Isabella` bald so ähnlich aussehen wie das Wrack da unten an der Flußmündung.“ Noch während die verschiedensten Vorschläge von den Männern vorgebracht wurden, stellte Hasard fest, daß eine Gruppe an Land gehen mußte, um neue Vorräte zu beschaffen. Denn bereits jetzt schon gab es an Bord der „Isabella“ nichts mehr, was genießbar war. Während der Kutscher und einige weitere Männer sich anschickten, ihr Glück mit Ausräuchern zu versuchen, ließ Hasard ein Boot abfieren, um zusammen mit Ed Carberry, Dan O'Flynn, Batuti, Jeff Bowie, Ferris Tucker und Stenmark im nahen Dschungel neue Vorräte zu holen. Der Rest der Mannschaft würde inzwischen nichts unversucht lassen, um das Millionenheer der roten Feuerameisen wieder loszuwerden. 8. Die Sonne war längst wie ein glutroter Ball am Horizont aufgetaucht und überschüttete den Fluß mit gleißendem Licht. Hasard und seine sechs Begleiter pullten ihre Jolle ein Stück flußaufwärts. Später, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß sich keine Kaimane in der Nähe aufhielten, gingen sie an Land und vertäuten das Boot an einer kräftigen Astgabel, die bis dicht ans Ufer reichte. Dann begannen die Seewölfe, sich einen Weg durch das Uferdickicht zu bahnen, das sich bis zur Wasserfläche hinzog. Dahinter erhob sich wie eine lebendige Mauer der tropische Urwald. Riesige Bäume, deren oberste Spitzen farbenprächtige Blumen trugen, sowie Zedern und Mahagonistämme mit seltsam geformten Blüten lösten das Gestrüpp ab, das etwas weiter landeinwärts von riesigen Chonta-Palmen überragt wurde. Ein Gewirr von Lianen umrankte die Baumstämme. Stellenweise wirkten sie wie
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Schiffstaue, die hernieder hingen. Das dichte, oft mannshohe Gestrüpp trotz der bereits aufgegangenen Sonne den Urwald noch etwas dunkel erscheinen. Bis jetzt waren nur wenige Sonnenstrahlen durch das Gewirr von riesigen Farnen und stachligen Sträuchern und durch das Netz von Wurzeln und Streben gedrungen. Unermüdlich schlugen sich die Männer mit ihren Busch- und Entermessern einen Weg durch die üppig wuchernde Wildnis. Immer wieder schreckten sie Scharen von Dschungelbewohnern aus ihren Verstecken. Ganze Sippen von Brüllaffen und den etwas kleineren, dickfelligen Wollaffen schwangen sich laut keckernd durch das Geäst. Bunte Papageien und Schwärme kleinerer tropischer Vögel stoben kreischend in die Luft. Auch die Tukane mit ihren riesigen Schnäbeln stießen hoch oben im dichten Blätterdach des Urwaldes Warnrufe aus, als sie die ungewohnten Eindringlinge bemerkten. Etliche Male ließ ein gefährlich klingendes Rascheln im Gebüsch die Männer anhalten und zu den Waffen greifen. Aber es handelte sich lediglich um einige Steißhühner, die am Urwaldboden nach Nahrung suchten, oder um einige Schnurrvögel, die sich gern in Bodennähe aufhielten, um ihre akrobatisch anmutenden Hochzeitstänze aufzuführen. Entschlossen kämpften sich die Männer durch den Dschungel, während ihnen der Schweiß in Strömen über den Körper rann und ihnen stachlige Zweige die Haut aufritzten. „Am besten, wir achten auf Wasserschweine, Tapire und Früchte“, sagte Hasard. „Besonders brauchbar sind Maniok und natürlich auch Bananen. Auf dem Rückweg können wir im Fluß vielleicht noch einige Fische erbeuten, vielleicht sogar einen riesigen Arapaima.“ Der Profos warf ihm einen schrägen Blick zu, als er etwas von Bananen hörte, die wie sie gestern erfahren hatten - eine nicht unbedeutende Rolle im Ahnenkult der Eingeborenen spielten.
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Dem Stand der Sonne nach mußte bereits die Mittagszeit herangerückt sein. Es war inzwischen heißer geworden, trotz des dichten Blätterdaches, das die Wirkung der sengenden Sonnenstrahlen etwas abbremste. Plötzlich tat sich unmittelbar vor den Männern eine Lichtung auf. Abrupt blieb Hasard, der die Gruppe anführte, stehen und hob die Hand. Niemand ging mehr einen Schritt weiter. Die Männer hatten mit allem gerechnet. Sie hatten sich innerlich auf den Kampf mit Kaimanen, riesigen Würgeschlangen und auf einen Indianerüberfall eingestellt nicht aber auf das Bild, das sich ihnen jetzt auf der Lichtung ganz unvermittelt bot. Sie waren. auf ein Indianerdorf gestoßen, vielleicht sogar auf jenes Dorf, aus dem die beiden Indios gestern erschienen waren, um Pulver zu fordern. Die Seewölfe sahen ein gutes Dutzend Hütten, die aus Zweigen und Blättern bestanden. In der Mitte des Dorfes stand die Maloca, die Gemeinschaftshütte, die im Vergleich zu den übrigen Behausungen ungeheuer groß war. Die Männer schätzten das ovale Gebilde auf einen Durchmesser von fast hundert Yards und die Höhe auf mehr als zwanzig Yards. Die Maloca bestand aus Palmfasern und trockenen Blättern, mit denen ein gewaltiges Gerüst aus Pfosten abgedichtet worden war, und endete in einer gewaltigen Kuppel. Die Seewölfe staunten, denn ein solches Bauwerk mitten auf einer Dschungellichtung stellte eine ungeheuerliche Leistung dar, besonders wenn man in Betracht zog, welch kümmerliche Werkzeuge den Eingeborenen zur Verfügung standen. Natürlich war der Landtrupp, der die „Isabella“ mit frischen Vorräten versorgen sollte, längst von den Indianern bemerkt worden. Kaum hatten sich die Männer von ihrem ersten Erstaunen erholt, waren sie bereits von einer großen Schar brauner, nackter Gestalten mit grell bemalten Gesichtern umzingelt. Reflexartig wollten sie zu den Waffen greifen, aber der Seewolf gebot ihnen
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sofort Einhalt, als er die zahlreichen Blasrohre sah, die auf sie gerichtet waren. Die Situation war, wie wohl alle empfanden, nicht gerade begeisternd, denn wohin die Männer auch blickten -- sie sahen in finstere, haßerfüllte Gesichter. * Die Indianer, die sich um die sieben Männer der „Isabella“ geschart hatten, standen starr wie Marionetten. Im Hintergrund befanden sich zahlreiche Frauen und Kinder, die aber eilig zwischen den Hütten verschwanden. Wahrscheinlich hatten sie Angst vor den fremden weißen Männern, die plötzlich aus dem Urwalddickicht aufgetaucht waren. Für die Seewölfe gab es im Moment weder ein Vor noch ein Zurück. Es bedurfte nur eines geringen Luftstoßes, um die kleinen und wahrscheinlich auch absolut tödlichen Pfeile aus den langen Blasrohren zu pusten. Die Folge wäre ein grausamer Tod. Die Männer hüteten sich deshalb, mit einer raschen, unbedachten Bewegung zu den Waffen zu greifen. Sie waren sich sehr wohl im klaren darüber, daß sie im Augenblick keine großen Chancen hatten. Nichts lag Hasard - selbst in diesem Moment - ferner als der Wunsch, ein Blutbad anzurichten, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Er konnte den Haß der Indianer auf die Weißen sogar verstehen, denn zumeist war es bisher alles andere als Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, was man ihnen von dieser Seite entgegengebracht hatte. Er entschloß sich deshalb zu einem Kompromiß, um den bewegungslos lauernden Gestalten zu beweisen, daß es auch Vertreter der weißen Rasse gab, mit denen man sich auf friedliche Weise einigen konnte. Hasard trat einen Schritt vor, um eine Geste zu vollführen, die seine Absicht zum Ausdruck bringen sollte. Aber zu dieser gut gemeinten Geste sollte es nicht mehr kommen! Kaum hatte der Fuß Hasards den Boden berührt, da erfüllte ein leises, fast lautloses
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Zischen die Luft, und der Kapitän der „Isabella“ preßte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand gegen die linke Schulter. Ein kleiner Pfeil ragte aus dem Hemd, das sich rasch blutrot verfärbte. Die Seewölfe standen einen Moment wie erstarrt. Das Blut drohte den sechs Männern in den Adern zu gefrieren. Man hatte einen jener gefährlichen Pfeile, die — wie man annahm — mit tödlichem Gift getränkt worden waren, auf ihren Kapitän abgeschossen — und man hatte ihn getroffen! Die Gesichter der Männer verfärbten sich augenblicklich kalkweiß. Es schien ihnen unfaßbar, was da geschehen war. Der Mann, für den sie durchs Feuer gehen würden, stand da, die Hand auf die Schulterwunde gepreßt und erwartete seinen Tod. Und sie waren hilflos und konnten nicht mehr für ihn tun. Niemand von den Männern der „Isabella“ dachte jetzt noch an die eigene Sicherheit. Niemand dachte mehr an den Unterschied zwischen Leben und Tod. Die Männer drehten ganz einfach durch. Ein wildes, ohrenbetäubendes “Ar-wenack!“ dröhnte wie auf Kommando über die Dschungellichtung, die mittlerweile wie ausgestorben wirkte. Noch bevor die Indianer weitere Pfeile abschießen konnten, verwandelten sich die feindlichen Fronten, die sich bis jetzt lautlos gegenübergestanden hatten, in eine tobende Hölle. Die Seewölfe nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre Waffen in Anschlag zu bringen. In einem wilden, letzten Aufbäumen warfen sie sich den nackten Gestalten entgegen und schlugen zu. Wenn schon Hasard, ihr Kapitän, sein Leben lassen sollte und sie wahrscheinlich auch, dann wollten sie es wenigstens so teuer wie möglich verkaufen. Schreie tönten über die Lichtung, Blasrohre wirbelten durch die Luft und landeten irgendwo auf der Erde. Dazwischen klatschten harte Fäuste auf nackte Körper. Es war das reinste Inferno, was da plötzlich über die Lichtung tobte.
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Auch die Indianer stimmten ein lautes Wutgeheul an und setzten sich augenblicklich mit einer ungeheuren Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit zur Wehr. Worte in einer lauten, kehligen Sprache drangen an die Ohren der Seewölfe, vermischt mit den kräftigen Flüchen Ed Carberrys, der sich gerade mit drei braunen Gestalten am Boden wälzte. Aber auch die anderen Mannschaftsmitglieder der „Isabella“ klotzten mächtig ran, denn ihrer Meinung nach ging es hier um das nackte Überleben. Und sie wollten leben, sie dachten nicht daran, sich hier, mitten im Dschungel, kaltblütig das Lebenslicht auspusten zu lassen. Allein der Gedanke an Hasard ließ die harten Männer rasend werden. Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, ließ die mächtigen Fäuste kreisen, und wo sie trafen, rührte sich nichts mehr. Auch Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, der die Gestalt eines Kleiderschrankes hatte, hieb rein, daß fast die Funken stoben. Dan O'Flynn und Stenmark, der Schwede, beide flink und geschmeidig wie Raubkatzen, wichen geschickt ihren Gegnern aus und schossen die Fäuste wie Siebzehnpfünder in die quirlende, tobende und schreiende Menge. Jeff Bowie, der stämmige Liverpooler mit den grauen Augen und der Hakenprothese an der linken Hand, wütete furchtbar mit diesem künstlichen Körperteil. Die Indianer waren ohne Zweifel in der Überzahl, zumal weitere Bewohner des Urwalddorfes heranstürmten, um sich ins Kampfgetümmel zu stürzen. Die letzten Frauen und Kinder der Eingeborenen, die sich noch an den Feuerstellen des Dorfes aufgehalten hatten, waren längst kreischend und schreiend in den Hütten oder im nahen Dschungel verschwunden. Aber fast zwei Dutzend braune Männer, die ihre Kampfkraft unter Beweis stellen wollten, waren eine harte Nuß, die auch die Seewölfe nicht so ohne weiteres knacken konnten.
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Trotzdem legten die Männer ihre ganze Schlagkraft in diesen Kampf. Sie konnten sich lebhaft vorstellen, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie als Besiegte aus dieser fürchterlichen Prügelei hervorgehen würden. Wiederholt dröhnte der Schlachtruf der Seewölfe über die Dschungellichtung. Dazwischen erklangen laute Schmerzensschreie, obwohl der Kampf waffenlos über die Bühne ging. Weder die Seewölfe noch die Eingeborenen hatten bisher Zeit und Gelegenheit gehabt, zu den Waffen zu greifen, was den Männern der „Isabella“ auch gar nicht eingefallen wäre. Niemals hätten sie auf einen waffenlosen Gegner geschossen, und sie wußten, daß auch ihr Kapitän, Philip Hasard Killigrew, das niemals getan hätte. Aber ihre Fäuste waren auch nicht zu verachten, und wer diese fürchterlichen harten Pranken erst einmal kennengelernt hatte, würde es in Zukunft unbedingt vermeiden, nochmals damit Bekanntschaft zu schließen. Während sich Stenmark und Batuti mit einem ganzen Knäuel brauner, nackter Leiber auf dem von vielen Füßen zerstampften Boden der Lichtung wälzten, war Ed Carberry dabei, die Lichtung von Indianern zu säubern. Erstaunlicherweise wurden die Indios immer weniger, zumindest dort, wo die riesigen Pranken des Profos' am Werk waren. Blitzschnell flogen die braunen Gestalten kreuz und quer durch die Gegend. Einige landeten laut schreiend im nahen Dickicht, andere fanden sich einige Yards weiter oben auf dicken Astgabeln wieder, und weitere krachten wie Kanonenkugeln durch die Blätterwände der nächstgelegenen Hütten. Niemand fand die Gelegenheit, nach Waffen zu greifen. Indianer wie Seewölfe hatten „alle Hände voll zu tun“. „Hopp, hopp, ihr Bilgenratten!“ röhrte der Profos. „Ich werde euch mal handfest die kleinen, braunen Affenärsche verdreschen. Und noch in den nächsten Jahrzehnten sollen eure Enkel und Urenkel von der
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Handschrift Edwin Carberrys erzählen. Hoho, ihr triefäugigen Waldameisen!“ Die Lichtung begann sich zu leeren. Diejenigen der Eingeborenen, die nicht durch die Fäuste der Seewölfe vertrieben worden waren, begannen von sich aus das Weite zu suchen. Wahrscheinlich sahen sie ein, daß diese Gegner eine Nummer zu groß für sie waren. Selbst Hasard, dessen Verletzung die Ursache der wilden Prügelei war, hatte inzwischen den kleinen Pfeil aus der Wunde gezogen und sich, so. gut es ging, am Kampf beteiligt. Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, griff er mit dem gesunden Arm zum Gürtel und zog die Pistole. Dann krachte ein Schuß in die Luft, und ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen dröhnte über die Lichtung und verlor sich in den Baumwipfeln. Augenblicklich kehrte Stille ein. Die Seewölfe, deren Brustkästen sich schwer atmend hoben und senkten, hielten plötzlich inne und starrten mit Verwunderung auf ihren Kapitän, der bei einer Verletzung durch Pfeilgift eigentlich schon hätte tot sein müssen. Auch die Indianer stoppten plötzlich das laute Geschrei und Wutgeheul, mit dem sie die Gegner angesprungen hatten. Ein muskulöser Mann mit bunt bemaltem Gesicht, den die Seewölfe sofort als jenen erkannten, der gestern auf der „Isabella“ kaltschnäuzig und frech einige Fässer Pulver verlangt hatte und dem sie wahrscheinlich auch die Invasion der roten Feuerameisen zu verdanken hatten, rappelte sich vorn Boden hoch. Sein Gesicht war verschwollen und um einige Farben reicher geworden. Die ersten Schritte legte er hinkend zurück. Und plötzlich lag eine gewisse Scheu und Furcht in der Art, wie er sich den Männern der „Isabella“ näherte. „Wir Frieden mit weißen Männern“, erklärte er in seinem verdrehten Spanisch. Offensichtlich hatte er, gleich seinen Stammesgenossen, begriffen, daß sie keine Chance mehr gegen diese rauhen Kerle hatten, daß sie sang- und klanglos
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untergehen mußten, wenn sie nicht klein beigeben würden. „Bitte, aufhören mit Prügel“, setzte er noch hinzu, „Wollen Frieden. Weißer Mann wird nicht sterben.“ Er deutete bei diesen Worten auf Hasard, dessen Hemd an der linken Schulter blutdurchtränkt war. „Pfeil war nicht giftig!“ Als .Hasard dazu nickte und feststellte, daß es sich wohl nur um eine kleinere Fleischwunde handeln könne und er keinerlei Anzeichen einer Vergiftung verspüre, da ging ein Aufatmen durch die Reihe der Seewölfe. Wo Gesichter eben noch grimmig und wild entschlossen dreingeblickt hatten, zeigte sich plötzlich wieder ein Grinsen. Die Männer fühlten sich sichtlich erleichtert darüber, daß ihrem Kapitän, dessen Schritt nach vorn von den Eingeborenen wohl falsch verstanden worden war, nichts Ernsthaftes geschehen war. Verschreckte und lädierte Indianer krabbelten wieder auf die Beine und warfen ängstliche Blicke auf die sieben Männer, die vor ihnen standen. Sie hielten sich in respektvoller Entfernung. Keiner wagte sich mehr in die unmittelbare Nähe dieser weißen Teufel. Zwei braune Männer ließen sich gerade mit verstörten Gesichtern an einem Baum hinunter, in dessen Geäst sie der Profos katapultartig hinaufgeschleudert hatte. Samt und sonders schienen sie die Nase endgültig voll zu haben und einzusehen, daß hier keine Tsantas zu holen waren. Aufgeregt und mit gedämpften Stimmen begannen die Indios aufeinander einzureden, während die ersten Frauen und Kinder scheu und ängstlich aus den Hütteneingängen lugten. „Wir haben friedliche Absichten“, sagte der Seewolf auf Spanisch. „Nur der Zufall hat uns in euer Dorf geführt.“ Inzwischen waren zwei weitere Männer zu jenem braunen Burschen getreten, der wenigstens etwas Spanisch sprach. Rasch wurden einige Worte gewechselt. Dann sagte der Dolmetscher: „Auch wir wollen Frieden. Wir sind keine bösen Menschen, aber vorsichtig. Viele weißen
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Männer haben schon Tod zu uns gebracht. Haben alles weggenommen, unsere Hütten zerstört. Aber ihr habt nicht mit Feuerwaffen auf uns geschossen, habt niemand von uns getötet.“ Wieder betonte Hasard, daß sie nicht erschienen seien, um zu töten. Sie seien lediglich auf der Suche nach neuen Lebensmittelvorräten, weil viele große Ameisen auf ihrem Schiff alle Vorräte auffressen würden. Betroffen blickten sich bei diesen Worten der Dolmetscher und die beiden anderen Indianer an, die wohl zu den führenden Häuptern des Dorfes zählten. Irgendetwas, das auf ein schlechtes Gewissen hindeutete, ließ sie für einen Moment die Augen zu Boden senken. 9. Auch die übrigen Bewohner des Indianerdorfes, die Frauen, die Kinder und die Alten, schienen inzwischen begriffen zu haben, daß man im Interesse des allgemeinen Friedens bestrebt war, eine Einigung zu erzielen. Neugierig rückten sie näher, um die weißen Männer mit den feuerspeienden Waffen zu bestaunen. Eine gewisse Furcht und Zurückhaltung war jedoch unverkennbar. Die Seewölfe mußten den Eingeborenen auf alle Fälle einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. Wenig später wurde Hasard, den man als Anführer der Weißen betrachtete, verarztet und zu der großen Feuerstelle vor der Maloca, dem großen Gemeinschaftshaus, geleitet. Während einige Frauen sofort an die Arbeit gingen, um ein Essen zuzubereiten, begann das Palaver, an dem die Dorfältesten und der Dolmetscher teilnahmen. Von der „Isabella“-Crew waren es Hasard und Ed Carberry, die sich mit verschränkten Beinen niedergelassen hatten, um einen Kompromiß mit den Indianern auszuhandeln. Die übrigen Seewölfe waren ein Stück abseits mit Händen und Füßen ins Gespräch mit den Eingeborenen vertieft,
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jedoch nicht, ohne dabei die Augen offenzuhalten, denn ein gewisses Mißtrauen existierte nach wie vor auf beiden Seiten. Besonders Batuti, dessen Hautfarbe sich von jener der weißen Männer so sehr unterschied, schien ihr Interesse zu gelten. „Ihr habt gestern Pulver von uns verlangt“, eröffnete Hasard die Unterredung. „Weil wir nicht verantworten konnten, euch diesen Wunsch zu erfüllen, habt ihr uns die roten Feuerameisen geschickt. Ihr habt Köder ausgelegt, damit sie auf unser Schiff gelangen konnten, um alle Vorräte zu fressen. Kennt ihr ein Mittel, um diese Ameisen zu vertreiben oder zu vernichten?“ Die braunen Männer nickten eifrig, und nach einem kurzen Wortaustausch in der kehligen Eingeborenensprache sagte der Dolmetscher mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit: „Pulver!“ Hasard stieß hörbar die Luft durch die Nase. „Mein Gott, diesen Burschen muß aber wirklich viel an dem Zeug liegen“, sagte er auf Englisch zu Ed Carberry. Dann nickte er den Indianern zu. „Gut“, fuhr er auf Spanisch fort. „Ich werde euch ein Faß Pulver geben, wenn ihr dafür sorgt, daß die Ameisen von unserem Schiff verschwinden.“ Diese Worte mußten für die Indianer wohl eine gute Botschaft bedeuten, denn sofort begannen sie mit einem lebhaften Geschnatter, das sie mit freundlichem Kopfnicken unterstrichen. Trotz allem behagte die Sache Hasard gar nicht. Wenn die Kerle wirklich Schußwaffen hatten, dann würden sie damit nur Unheil anrichten. Fast bereute Hasard schon dieses Versprechen, da schaltete sich Dan O'Flynn ein, der hinzugetreten war und die letzten Sätze der Unterredung gehört hatte. „Du kannst den Burschen ruhig auch zwei Fässer Pulver versprechen, Sir“, sagte er und grinste. „Ich habe gerade die Musketen und Pistolen gesehen, die im Gemeinschaftshaus aufbewahrt werden. Damit kann niemand mehr einen Krieg
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gewinnen. Die Dinger funktionieren ganz gewiß nicht mehr, denn die Schlösser und Hähne sind total eingerostet und durch die feuchte Dschungelluft völlig verdorben.“ „Gut, Dan“, sagte Hasard und atmete innerlich auf, ohne das jedoch die Eingeborenen merken zu lassen. Jetzt meldete sich der Dolmetscher, der offensichtlich recht stolz auf seine spanischen Sprachkenntnisse war, zu Wort. „Wir sind einverstanden“, erklärte er. „Ein Faß Pulver, und wir sagen, wie Ameisen tot.“ Hasard vollführte eine erfreute Geste. Dann erwiderte er: „Noch ein Faß Pulver, wenn ihr uns helft, die Vorräte zu ersetzen, die durch die Ameisen zerstört worden sind.“ Die Mitteilung Dan O'Flynns hatte ihn großzügig werden lassen, obwohl er sich bewußt war, daß dieses Angebot im Hinblick auf die unbrauchbar gewordenen Waffen der Indianer nicht unbedingt seriösen kaufmännischen Gepflogenheiten entsprach. Gleichzeitig sagte er sich jedoch, daß die Burschen mit funktionsfähigen Waffen und dem dazugehörigen Pulver doch nur Probleme heraufbeschworen hätten. Er bereitete sich deshalb auch keine Gewissensbisse über sein Angebot und versprach gleichzeitig noch einige Werkzeuge sowie ein paar Beile und Messer. Die Indianer brachen in ein wildes Freudengeheul aus. Wie der Dolmetscher sogleich übersetzte, war man mit diesem Angebot auch vollauf zufrieden. Die gute Stimmung war augenblicklich wiederhergestellt. Einer der Dorfältesten rief sofort den Frauen an der Feuerstelle einige Worte im Befehlston zu. Wahrscheinlich hatte er sie aufgefordert, sich mit dem Braten des Wasserschweins zu beeilen. Trotz der erfreulichen Entwicklung der Verhandlungen vergaß der Profos der „Isabella“ nicht, ab und zu einen schrägen Blick zu den Frauen hinüberzuwerfen, die am Feuer hantierten. „Und wenn ich auf einem wilden Wasserschwein zur ,Isabella` zurückreiten
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muß“, bemerkte er entschlossen, „ich werde auf jeden Fall keinen Bananenbrei anrühren. Lieber lasse ich mich von des Teufels Großmutter zum Abendessen einladen.“ Derselbe Mann, der die Frauen zu größerer Eile aufgefordert hatte, wandte sich an einige seiner Stammesgenossen, die sich vorsichtig genähert hatten. Offensichtlich erteilte er irgendwelche Befehle, denn unmittelbar danach sagte der Dolmetscher: „Wir werden euer Boot beladen. Es gibt viele Früchte und auch viel Fleisch. Wir haben getrockneten Fisch, Wasserschweine, entgiftete Maniokwurzeln und Bananen.“ Der Seewolf nickte zufrieden, und die Eingeborenen, die soeben ihre Anweisungen erhalten hatten, stoben in Windeseile auseinander, um die Nahrungsmittel herbeizuschaffen. Hasard wies auf sein Hauptanliegen. „Wann werdet ihr uns zeigen, wie wir die Ameisen vernichten können?“ Der Wortführer wandte sich sofort an den Häuptling, einen alten Mann mit faltigem Körper und langem, ergrautem Haar. Einige Sätze wurden ausgetauscht, dann sagte er: „Die Nacht ist nicht mehr weit. Wenn sie vorbei ist und die Sonne über dem Fluß steht, bringen wir Pflanzen, und Ameisen sind bald tot. Diese Worte sind Wahrheit. Wenn ihr wollt, werden zwei Männer von uns euch zum Schiff begleiten.“ Hasard begriff sofort. Man wollte zwei Männer als Pfand mitschicken, um zu zeigen, daß man seine Versprechungen auch einhalten würde. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nicht nötig“, sagte er. „Ich glaube euch. Ich halte euch für Männer, die ihr Wort halten – wie auch ich mein Versprechen halten werde. Wenn ihr morgen in der Frühe erscheint und uns helft, die Ameisen zu vertreiben, dann werden wir euch das Pulver und die anderen Sachen übergeben.“ Diese Worte lösten abermals ein erregtes, aber sichtlich zufriedenes Gespräch unter den Eingeborenen aus. Sie nickten immer
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wieder eifrig, um ihr Einverständnis zu zeigen. Ein wenig schienen sie auch über das ungewohnte Vertrauen erstaunt zu sein, daß die fremden weißen Männer ihren Versprechungen entgegenbrachten. Gleich darauf begann das Mahl. Große Stücke des gebratenen Wasserschweins wurden auf Pflanzenblätter gelegt und den Seewölfen gereicht. Bananenbrei war zur allergrößten Zufriedenheit des Profos' nicht dabei. Somit hielten sich die Männer auch nicht zurück, ordentlich zuzugreifen. Die Atmosphäre wirkte entspannt, und beide Seiten - die Indianer wie auch die Seewölfe - sammelten erneut die Erfahrung, daß Mißverständnisse nicht unbedingt mit Waffengewalt bereinigt werden müssen, sondern sich auch durch Gespräche beseitigen lassen - auch wenn es Gespräche mit „Händen und Füßen“ sind. Noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit verließen die Seewölfe die Indianer, die zum Stamm der Tupinamba gehörten. Das Dorf, das die Eingeborenen „Icoraci“ nannten, lag nicht sehr weit vom Fluß entfernt, und die Männer stiegen schon bald in ihr vollbeladenes Boot. Als sie die „Isabella“ erreicht hatten, vertäuten sie es so, daß die gefräßigen Insekten, die sich noch immer an Bord ihres Schiffes aufhielten, nicht an den neuen Proviant herankonnten. 10. Als der neue Tag anbrach, atmeten die Seewölfe auf, denn eine lange, qualvolle Nacht lag hinter ihnen. Sie würden das unaufhörliche Knistern und Knacken an Bord der „Isabella“ wohl bis zum Ende ihrer Tage nicht mehr vergessen. Wie ihnen eine kurze Inspektion bewies, hatten sich die Feuerameisen in den Nachtstunden bemüht, auch noch die allerletzten Lebensmittelreste zu fressen. Nichts, was die Männer an Bord bisher versucht hatten, war geeignet gewesen, diese gefräßigen Biester zu vertreiben. Hasard ertappte sich immer wieder dabei, daß er den Flußlauf hinaufblickte. Noch
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nie hatte er Indianer so sehnlich erwartet wie an diesem Tag. Obwohl sich von Zeit zu Zeit geringe Zweifel einstellten, war er dennoch davon überzeugt, daß die Eingeborenen, mit denen sie sich nach einer wilden Prügelei am gestrigen Spätnachmittag geeinigt hatten, ihr Wort halten würden. Er hatte bisher nie den Fehler begangen, fremde Völker mit anderen Sitten und Gebräuchen als unzivilisierte Wilde anzusehen. Er behandelte sie, wo es ging, als Partner, und die Resultate gaben ihm immer wieder recht. Die Seewölfe wurden auch diesmal nicht enttäuscht. Die Sonne stand noch keine Stunde am Himmel, da tauchten zwei der langen, schmalen Boote der Indianer an der Flußbiegung auf und hielten auf die „Isabella“ zu. „Na endlich“, sagte Ben Brighton, der neben Hasard auf dem Achterdeck stand, und seine Stimme klang erleichtert. Der Profos, der gerade mit dem längst von seinem Landausflug zurückgekehrten Sir John auf der linken Schulter von der Kuhl zum Achterdeck auf enterte, blickte ebenfalls erwartungsvoll den Booten entgegen. „Hoffentlich hilft das versprochene Zeug auch“, sagte er, „sonst fallen die Biester noch über uns her oder fressen gar noch unsere Lady.“ „Ich bin zuversichtlich“, erwiderte Hasard. „Wenn die Indianer es verstehen, diese Insekten auf eine so raffinierte Art und Weise auf unser Schiff zu locken, dann sollte es mich sehr wundern, wenn sie nicht auch ein wirksames Gegenmittel kennen. Lassen wir uns überraschen, Ed. Gleich werden sie hier sein.“ Wenig später hatten die beiden Boote, die mit je drei Indios besetzt waren, die „Isabella“ erreicht. Nachdem die Eingeborenen an Bord geklettert waren, zeigte ihnen Hasard die beiden versprochenen Pulverfässer sowie einige Beile, Messer und andere Werkzeuge, die sie bereits auf der Kuhl bereitgelegt hatten.
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Die braunen Männer nickten sehr zufrieden. „Gut!“ sagte der Dolmetscher. Er umrundete neugierig die Fässer und wiederholte dabei immer wieder das spanische Wort für „gut“. „Nun zu den Ameisen“, sagte Hasard und sah die Indianer erwartungsvoll an. Der Wortführer nickte und winkte einen seiner Begleiter heran. Sofort begann dieser, aus zwei kleinen Körben, die sie mitgebracht hatten, halbgetrocknete Lianen auszupacken. „Feuer“, sagte der Dolmetscher. „Viel Rauch, und Ameisen sind schnell tot.“ Die Seewölfe staunten über diese simple Methode. Ein ganz klein wenig Skepsis ließ sich aber nicht von der Hand weisen. Ferris Tucker und der Kutscher holten sofort einige Messingbecken mit glühender Holzkohle, die sie bereits vorbereitet hatten, und augenblicklich begann man mit der Ausräucherung der gefährlichen Insekten Ed Carberry, der die ganze Zeremonie mit zweifelndem Gesichtsausdruck verfolgte, rümpfte bald die Nase. „Jetzt ist unsere Lady nur noch ein verräucherter und stinkender Kasten“, stellte er fest. „Nicht einmal in der Hölle kann es so fürchterlich stinken und qualmen.“ Die übrigen Männer waren ganz seiner Meinung, aber gleichzeitig registrierten sie, daß wohl auch die lästigen und gefräßigen Ameisen nicht sonderlich von den dicken, schwarzen Rauchschwaden erbaut waren. Schon bald begannen sie nämlich, ihren Geist aufzugeben. Das Knistern wurde immer leiser, und es dauerte nicht lange, und auch die letzte Ameise rührte sich nicht mehr. Sie waren ausgerottet, und zwar absolut gründlich, wie die Crew mit Erstaunen und Erleichterung feststellte. Als die Prozedur zu Ende war und Hasard sich davon überzeugt hatte, daß sie nur noch die toten Ameisen wegzufegen brauchten, erhielten die Indianer das versprochene Schießpulver sowie die Werkzeuge samt Beilen und Messern. Weil
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sie Wort gehalten hatten, brachte der Kutscher auf Geheiß Hasards noch einige Blöcke Steinsalz herbei, über das die kleinen Kerle mit den langen, blauschwarzen Haaren sofort gierig herfielen. Es schien ihnen noch wertvoller als das Pulver zu sein. Die Männer konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie die Gesichter von Philip und Hasard, den Zwillingssöhnen des Seewolfs, sahen, die mit essigsaurer Miene und Augen, rund wie Ankerklüsen, den Heißhunger der Indianer auf Salz miterlebten. Als dann noch Sir John über die Kuhl flatterte und etwas von „hinkenden Kanalratten“ und „triefäugigen Heringen“ krächzte, fühlten sie, daß „ihre“ Welt wieder in Ordnung war.
Das Wrack von Icoraci *
Wie es schien, hatten die Seewölfe neue Freunde gefunden. Als die beiden Boote mit den winkenden Indianern hinter der Flußbiegung verschwunden waren, gab Philip Hasard Killigrew Befehl, den Anker zu hieven und die Segel zu setzen. Dann nahm die „Isabella VIII.“ Fahrt auf, damit „der stinkende Kahn“, wie der Profos sich ausdrückte, „endlich mal wieder frische Luft holen“ konnte. Bald lag der Urwaldfluß weit hinter ihnen. Nachdem der schlanke Rahsegler die Baja de Marajo verlassen und das offene Meer erreicht hatte, fiel er nach Backbord ab und ging, wie ursprünglich geplant, auf Nordwestkurs - dem nahen Äquator entgegen...
ENDE